Strafprozessuale Rechte des Verletzten in der Europäischen Union: Eine rechtsvergleichende Analyse sowie der Vorschlag eines Alternativmodells für die Befriedigung des individuellen Genugtuungsinteresses [1 ed.] 9783428557134, 9783428157136

Gesetzesreformen zur Stärkung der strafprozessualen Rechte von Verletzten und insbesondere zur Befriedigung eines privat

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Strafprozessuale Rechte des Verletzten in der Europäischen Union: Eine rechtsvergleichende Analyse sowie der Vorschlag eines Alternativmodells für die Befriedigung des individuellen Genugtuungsinteresses [1 ed.]
 9783428557134, 9783428157136

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 40

Strafprozessuale Rechte des Verletzten in der Europäischen Union Eine rechtsvergleichende Analyse sowie der Vorschlag eines Alternativmodells für die Befriedigung des individuellen Genugtuungsinteresses

Von

Johanna Maria Göhler

Duncker & Humblot · Berlin

JOHANNA MARIA GÖHLER

Strafprozessuale Rechte des Verletzten in der Europäischen Union

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Kosovo Sondertribunal Berater (amicus curiae) Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, Bogotá, Kolumbien

Band / Volume 40

Strafprozessuale Rechte des Verletzten in der Europäischen Union Eine rechtsvergleichende Analyse sowie der Vorschlag eines Alternativmodells für die Befriedigung des individuellen Genugtuungsinteresses

Von

Johanna Maria Göhler

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort. Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster hat diese Arbeit im Sommersemester 2018 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-15713-6 (Print) ISBN 978-3-428-55713-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-85713-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2018 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Die vorliegende aktualisierte Fassung befindet sich auf dem Stand von November 2018, vereinzelt konnten noch im Jahr 2019 erschienene Werke Berücksichtigung finden. Mein erster Dank gilt meiner Doktormutter Frau Professorin Dr. Bettina Weißer, von der ich als Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin unheimlich viel gelernt habe und die mich stets mit großem Engagement gefördert hat. Sie hat die Entstehung dieser Arbeit mit Interesse und wertvollen Anregungen kontinuierlich begleitet. Dabei hat sie mir nicht nur das beständige Gefühl ihrer Wertschätzung und ihres Vertrauens vermittelt und mir viel Freiraum gewährt, sondern sie hat mich zugleich mit kritischen Fragen immer wieder herausgefordert und angespornt; für beides bin ich ihr unendlich dankbar. Ihre Betreuung in jeder Hinsicht hätte ich mir nicht besser wünschen können. Ein herzlicher Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Michael Heghmanns, der nicht nur das Zweitgutachten zu dieser Arbeit erstellt, sondern mein Verständnis vom Strafrecht in meinen ersten Strafrechtsvorlesungen maßgeblich geprägt und mich in der Folgezeit stets wohlwollend unterstützt hat. Zudem danke ich Herrn Professor Dr. Kai Ambos für die Aufnahme meiner Dissertation in die Schriftenreihe „Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht“ sowie dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT und der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg, für die großzügige Förderung der Drucklegung dieser Arbeit. Besonders dankbar bin ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Gewährung eines Promotionsstipendiums und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Gewährung eines ERP-Stipendiums. Diese beiden Stipendien haben mir insbesondere die Realisierung der für den Rechtsvergleich notwendigen Forschungsaufenthalte an der University of Cambridge, UK, und der Yale University, USA, ermöglicht, denen ich für ihre akademische Gastfreundschaft herzlich danke. Die vorliegende Arbeit analysiert die strafprozessualen Rechte des Verletzten rechtsvergleichend. Ohne die zahlreichen erhellenden Gespräche, die ich mit Vertretern des anglo-amerikanischen Rechtskreises führen durfte, hätte mir diese rechtsvergleichende Analyse nicht gelingen können. Mein herzlichster Dank gilt daher allen, die so enthusiastisch mit mir diskutiert haben, ganz besonders Herrn Professor John R. Spencer, der sich engagiert und warmherzig meiner akademischen

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Vorwort

Betreuung in England angenommen hat, Frau Dr. Antje du Bois-Pedain für ihre Einladung an die University of Cambridge, Staatsanwalt Richard Crowely und Richter Haworth für die interessanten Einblicke in die englische Justizpraxis und Frau Professorin Susan Herman und Frau Professorin Kate Stith für den fruchtbaren Austausch über das System „parallel justice“ in den USA. Auch dem gesamten Team am Institut für Kriminalwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und am Institut für ausländisches und internationales Strafrecht der Universität zu Köln danke ich für die konstruktiven Diskussionen sowie für die gute Zusammenarbeit und die schöne gemeinsame Zeit. Insbesondere meinen Kollegen Herrn Dr. Tobias Kampmann und Frau Patricia Kitten danke ich zudem herzlichst für ihre freundschaftliche Unterstützung und die stets aufmunternden Worte. Ganz entscheidend zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben schließlich meine Familie und Freunde, allen voran meine Geschwister, auf deren Rat und Unterstützung ich stets zählen konnte, und mein Ehemann Marc. Ihm und unserem wunderbaren Sohn gilt mein tiefster Dank für den unermüdlichen Zuspruch, das Verständnis und die ebenso wichtige Zerstreuung. Mein innigster Dank gilt meinen Eltern, die meinen Weg in liebevoller Anteilnahme begleitet, mich in meinen Vorhaben stets ermutigt und gefördert und mir so alles erst ermöglicht haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Münster, im Mai 2019

Johanna Maria Göhler

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Kapitel 1 Entwicklung und Problemfelder des legislativen Engagements für Opfer von Straftaten in der EU

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A. Internationaler Kontext der EU-Gesetzgebung zu Opferrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Ideologische Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Legislative Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Problemfeld 1: Kohärenz der nationalen Strafjustizsysteme . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 I. Entstehung des legislativen Engagements für Straftatopfer auf EU-Ebene . . . . . . 30 II. Kompetenz zur Harmonisierung von Opferrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 III. Der Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren . . . . . . . . . 35 1. Inhalt und Ziele des RB 2001/220/JI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Umsetzung des RB 2001/220/JI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IV. Problemfeld 1: Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme . . . . . . . . . . 40 V. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 C. Phase der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Primärrechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Der Regelungskontext des Art. 82 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Mindestvorschriften betreffend die Rechte von Straftatopfern . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Das Opfer einer Straftat im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Rechte eines Straftatopfers im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 aa) Begrenzung auf Rechte im Strafverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 bb) Begrenzung auf genuine Opferinteressen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 cc) Unbeschränkte Abweichungskompetenz der Mitgliedstaaten? . . . . . . . . 55

8

Inhaltsverzeichnis c) (K)ein normatives Konzept zu Opferrechten im Primärrecht . . . . . . . . . . . . 56 3. Erforderlichkeit zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung und Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Förderung gegenseitigen Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 aa) Das Vertrauensmotiv in den Unionsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 bb) Fördern einheitliche Opferrechte gegenseitiges Vertrauen? . . . . . . . . . . 60 (1) Vertrauensträger und Vertrauensgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (2) Relevanz von Opferrechten für das gegenseitige Vertrauen . . . . . . . 62 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Schaffung einheitlicher menschenrechtlicher Mindeststandards . . . . . . . . . . 66 c) Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4. Restriktion der Regelungskompetenz auf Opferrechte in transnationalen Verfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Begrenzung auf transnationale Sachverhalte aus dem Subsidiaritätsprinzip 72 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5. Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 a) Relevanz der Unterschiede für die inhaltliche Ausgestaltung der Mindestvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Materielle Gegenstände der Berücksichtigungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 aa) Unterschiede im materiellen Recht und bei der Rechtsgebietszuordnung 77 bb) Gemeinsamkeiten der Rechtsordnungen und -traditionen . . . . . . . . . . . . 78 c) Absolute Grenze der Angleichungskompetenz aus Art. 82 Abs. 3 AEUV 79 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 6. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 7. Zusammenfassende Bewertung der Kompetenzgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Opferrechte als wiederentdeckte Priorität in der Unionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Politische Vorbereitung und Verhandlung der RL 2012/29/EU . . . . . . . . . . . . . 85 2. Problemfeld 1: Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme . . . . . . . . 88 3. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 III. Offizielle und unbenannte Motive des EU-Einsatzes für Opferrechte . . . . . . . . . . 92 1. Offizielle Begründung für die Regelung von Opferrechten . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Bedeutung von Opferbedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Notwendigkeit von Aktivitäten auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Stärkung des gegenseitigen Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 bb) Grenzüberschreitende Dimension der Viktimisierung . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Kostensenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Politischer Opfer-Imperativ als unbenanntes Motiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Inhaltsverzeichnis

9

E. Bewertung und daraus resultierende weitere Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Kapitel 2 Die Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für Opferrechte

112

A. Inhaltliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 I. Ziele der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Opferkonzept und Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Opferkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Feststehender Opferstatus versus Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Einschränkungen des Geltungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 III. Information und Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Materielle Informationsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Vorgaben zur Informationsübermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 IV. Teilnahme am Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1. Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Normative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Telos des Gehörsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 aa) Informationsgewinnung für den Prozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Verwirklichung eines Interesses am Strafverfahrensausgang? . . . . . . . . 138 cc) Förderung der Tatverarbeitung und Steigerung der Zufriedenheit mit dem Verfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Rechte bei Verzicht auf die Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Normative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Telos des Überprüfungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 aa) Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafverfolgung? . . . . . . . . . . . . . 157 bb) Durchsetzung eines Opferinteresses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (1) Schutzinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (2) Genugtuungsinteresse als Bedürfnis nach offizieller Unrechtfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (a) Anerkennung des Genugtuungsinteresses auf Unionsebene . . . . 168 (b) Befriedigung des Genugtuungsinteresses mit Art. 11 . . . . . . . . . 173 (aa) Das Genugtuungsinteresse als spezifisches Opferbedürfnis 173 (bb) Erfüllbarkeit des Genugtuungsinteresses im Strafverfahren

176

cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Service-Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4. Übergeordnetes Teilnahmekonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

10

Inhaltsverzeichnis V. Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Universelle Schutzansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2. Vorgaben für Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

B. Problemfeld 1: Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme . . . . . . . . . . . . . . 194 I. Durchsetzung mitgliedstaatlicher Interessen in der Richtliniengestaltung . . . . . . . 196 1. Protektion der mitgliedstaatlichen Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Kostenreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Schutz nationalstaatlicher Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 II. Kompetenzrechtliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Übergeordnete Betrachtung und verbleibende Problempunkte . . . . . . . . . . . . . . . . 206 C. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 I. Problembeschreibung und Bewertungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 II. Herangehensweise des Unionsgesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Schutzrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Materielle Schutzvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Begutachtungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 c) Prioritätenumkehr im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Offensivrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Recht auf Gehör und Beweisbeibringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 aa) Beiträge zur Sachverhaltsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 bb) Beiträge zur Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 cc) Bewertung und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Überprüfung des Verzichts auf Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 III. Kritik der Richtlinienlösung und verbleibende Problempunkte . . . . . . . . . . . . . . . 235 D. Bewertung der Richtlinie: Das Genugtuungsinteresse des Opfers als neuralgischer Punkt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Kapitel 3 Das Genugtuungsinteresse des Opfers im deutschen und englischen Strafjustizsystem

242

A. Rechtsvergleich: Befriedigung des Genugtuungsinteresses im deutschen und englischen Strafverfahren de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 I. Konstruktive Elemente strafrechtlichen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 2. Englisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Inhaltsverzeichnis

11

b) Konstruktive Elemente strafrechtlichen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 II. Ziel(e) des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Ermittlung der materiellen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 b) Verwirklichung des materiellen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) (Wieder-)Herstellung von Rechtsfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 d) Beilegung eines sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer . . . . . . . . . . . 266 e) Weitere Verfahrenszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 f) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Englisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 a) Convicting the guilty and acquitting the innocent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 b) Reformtendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 III. Träger des Verfolgungsinteresses und Verfolgungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 a) Öffentliche Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 aa) Interessen in und Struktur der öffentlichen Strafverfolgung . . . . . . . . . . 277 (1) Offizialprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 (2) Legalitäts- und Opportunitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 (3) Akkusationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 (4) Instruktionsmaxime und freie richterliche Beweiswürdigung . . . . . . 282 (5) Besondere Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 (6) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 bb) Strafantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 cc) Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . 288 (1) Klageerzwingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 (2) Weitere Anfechtungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 dd) Nebenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 ee) Sonstige Rechte des Opfers zur Durchsetzung eigener Interessen im Rahmen der öffentlichen Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 b) Privatklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 c) Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Englisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Öffentliche Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 aa) Entstehung der öffentlichen Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 bb) Interessen in und Struktur der öffentlichen Strafverfolgung . . . . . . . . . . 310 (1) Der Staatsanwalt als Minister of Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 (2) Anklageentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

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Inhaltsverzeichnis cc) Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . 317 (1) Judicial review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 (a) Die traditionelle Rolle des Opfers im Rahmen der judicial review 318 (aa) Locus standi und Zweck der judicial review . . . . . . . . . . . . . 318 (bb) Inhaltliche Überprüfung und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . 322 (cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 (b) Die Entscheidung R v Killick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 (2) Victims Right to Review Scheme (VRRS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 (a) Verfahrensrechtliche Ausgestaltung des VRRS . . . . . . . . . . . . . . 328 (b) Bedeutung des VRRS für die Rolle des Opfers bei der Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 dd) Victim Personal Statements (VPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 ee) Sonstige Rechte des Opfers zur Durchsetzung eigener Interessen im Rahmen der öffentlichen Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 (1) Code of Practice for Victims of Crime (CPVC) . . . . . . . . . . . . . . . . 339 (a) Inhaltliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 (b) Rechtlicher Status der Opfer„rechte“ und Reformpläne . . . . . . . 341 (2) Sonstige Mitwirkungsrechte im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 b) Private Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 aa) Ablauf der privaten Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 bb) Die Privatstrafklage als Instrument zur Durchsetzung eines privaten Strafanspruchs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 (1) Theoretische Konzeption der Privatstrafklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 (2) Bedeutung und Zweck der Privatstrafklage im Kontext der staatlichen Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 c) Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 IV. Horizontal-vergleichende Querschnittbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 1. Konstruktive Elemente strafrechtlichen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 2. Ziel(e) des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 3. Träger des Verfolgungsinteresses und Verfolgungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 361 a) Verfolgungsinteresse und Verfolgungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 b) Spezifische Opferrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 V. Wertende Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

B. Konsequenzen der Anerkennung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 I. Opferposition im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 II. Tripolare Verfolgungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Inhaltsverzeichnis

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C. Die Konzentration auf das Strafverfahren aus der Opferperspektive . . . . . . . . . . . . . . 377 I. Notwendiger Inhalt der Unrechtfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 II. Befriedigung des Genugtuungsinteresses mit dem Strafurteil . . . . . . . . . . . . . . . . 381 III. Selektive (hypothetische) Befriedigung des Genugtuungsinteresses . . . . . . . . . . . 383 IV. Täterzentrierung des Strafjustizsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 V. Beschränkung auf das Hellfeld der Devianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 D. Exkurs: Befriedigung des Genugtuungsinteresses mit privat-rechtlichen und Restorative Justice- Instrumenten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 I. Das Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 II. Restorative Justice-Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 E. Fazit: Alternativen für die Befriedigung des Genugtuungsinteresses? . . . . . . . . . . . . . 391

Kapitel 4 Normatives Fundament der staatlichen Verantwortung zur (alternativen) Befriedigung des Genugtuungsinteresses von Straftatopfern

393

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 I. Unrechtfeststellung als Inhalt einer Schutzpflicht aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 1. EGMR-Rechtsprechung zu staatlichen Ermittlungs- und Strafverfolgungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 2. Konsequenzen der EGMR-Rechtsprechung für die Ansprüche von Straftatopfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 3. Würdigung der Unrechtfeststellung als Inhalt einer Schutzpflicht aufgrund von Menschenrechtsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 a) Dogmatische Einwände gegen die Begründung des EGMR . . . . . . . . . . . . . 403 b) Schlussfolgerungen aus der Genese der Judikatur des EGMR zu staatlichen Ermittlungs- und Verfolgungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 c) Hilfsweise Heranziehung von Argumenten aus der bundesverfassungsgerichtlichen Begründung eines Strafverfolgungsanspruchs? . . . . . . . . . . . . . . 415 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 II. Unrechtfeststellung als Inhalt einer Schutzpflicht zur Abwendung eines Normvertrauensschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Staatliche Folgenbeseitigungspflicht als Inhalt einer grundrechtlichen Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 2. Staatliche Schadensbegrenzungspflicht als Inhalt einer grundrechtlichen Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 III. Unrechtfeststellung als Inhalt eines abwehrrechtlichen Anspruchs . . . . . . . . . . . . 430 IV. Pflicht zur Unrechtfeststellung aus dem Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

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Inhaltsverzeichnis V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

B. Staatstheoretischer Ansatz: Gewaltmonopol und Opferwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 C. Straftheoretischer Ansatz: Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 D. Entwicklungshistorischer Ansatz: Surrogat für das verlorene Selbstheilungsrecht des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 E. Kompensatorischer Ansatz: Ausgleich für Sonderopfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 F. Normtheoretisch-soziologische Begründung: Konstitutive Wirkung der staatlichen Kriminalisierungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 I. Herleitung der Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 II. Anwendung der Begründung im EU-Mehrebenen-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 G. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466

Kapitel 5 Additives Betroffenenforum – ein Alternativmodell für die Befriedigung des Genugtuungsinteresses von Straftatopfern und ihre Unterstützung? 469 A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 I. Lüderssen: nicht-strafrechtliches Ausgleichsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 II. Herman: Parallel Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 III. Gräfin von Galen: opferorientiertes Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 IV. Pfeiffer: Parallel Justice im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 V. Erkenntnisse aus den bisherigen Vorschlägen für ein opferzentriertes Parallelsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 B. Mögliche praktische Ausgestaltung eines additiven Betroffenenforums . . . . . . . . . . . 489 I. Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 1. „Genugtuungsfunktion“: Unrechtfeststellung zur Selbststabilisierung . . . . . . . 491 a) Feststellungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 b) Feststellungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 c) Bedeutung der Feststellung für Betroffene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 2. Kathartische Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 a) Praktische Ausgestaltung der Kommunikationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . 504 b) Empirische Belege für die positive Wirkung kathartischer Kommunikation in strafverfahrensunabhängigen Foren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 3. Informationsvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 4. Lotsen- und Koordinationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 II. Institutionelle Verfassung und organisatorische Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 516

Inhaltsverzeichnis

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III. Zugang zu einem additiven Betroffenenforum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 C. Abwägung: Additives Betroffenenforum und Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570

Abkürzungsverzeichnis AC Admin LR All ER Am. J. Comp. L. APAV Australian & New Zealand J. Criminol. Brit. J. Criminol. Buffalo Crim. L. Rev. Cambridge L. J. Canadian J. L. Jurisprudence CCBE CCP CELS ch. CJ CJA 2003 Common Market L. Rev. Contemporary Just. Rev. CPS CPVC Cr App R Cr App R (S) Crim. Just. Crim. L. F. Crim. L. Quarterly Crim. L. Rev. Criminol. & Crim. Just. CrimPR 2015 Deakin L. Rev. DPP DVCVA ECBA ENCJ Env LR EU Crim. Pro. Policy Europ. Crim. L. Rev. Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. Europ. J. Crim. Pol. Res.

Appeal Cases (Law Reports) Administrative Law Reports All England Reports American Journal of Comparative Law Associação Portuguesa de Apoio à Vítima Australian & New Zealand Journal of Criminology The British Journal of Criminology Buffalo Criminal Law Review Cambridge Law Journal The Canadian Journal of Law & Jurisprudence Conseil des barreux européens Code for Crown Prosecutors Center for European Legal Studies chapter Chief Justice Criminal Justice Act 2003 Common Market Law Review Contemporary Justice Review Crown Prosecution Service Code of Practice for Victims of Crime Criminal Appeal Reports Criminal Appeal Reports (Sentencing) Criminal Justice Criminal Law Forum Criminal Law Quarterly Criminal Law Review Criminology and Criminal Justice Criminal Procedure Rules 2015 Deakin Law Review Director of Public Prosecution Domestic Violence, Crime and Victims Act 2004 European Criminal Bar Association European Network of Councils for the Judiciary Environmental Law Reports EU Criminal Procedure Policy European Criminal Law Review European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice European Journal of Criminal Policy and Research

Abkürzungsverzeichnis Europ. J. Internat. L. Europ. L. J. Europ. L. Reporter EWCA EWHC FRA GB Georgetown L. J. German L. J. Griffith L. Rev. HL Howard J. Crim. Just. Internat. Comp. L. Quarterly Internat. J. Evidence & Proof Internat. Rev. Victimology INTERVICT Isr. L. Rev. J. Crim. L. J. Crim. L. & Criminol. J. Europ. Public Policy J. Internat. Crim. Just. J. L. Society J. Politics & L. J. Victimology JP KB L. & Contemp. Probs. L. Quarterly Rev. Modern L. Rev. N. L. J. Netherlands Yearbook of Internat. L. New Crim. L. Rev. New J. Europ. Crim. L. North East L. Rev. Nottingham L. J. Ohio St. J. Crim. L. Oxford J. Legal Stud. PACE Pace L. Rev. PoOA 1985 Pub. L. QB sec. University of Pennsylvania L. Rev. UK

European Journal of International Law European Law Journal European Law Reporter England and Wales Court of Appeal High Court of England and Wales European Union Agency for Fundamental Rights Großbritannien The Georgetown Law Journal German Law Journal Griffith Law Review House of Lords The Howard Journal of Criminal Justice International & Comparative Law Quarterly The International Journal of Evidence & Proof International Review of Victimology International Victimology Institute Tilburg Israel Law Review The Journal of Criminal Law Journal of Criminal Law and Criminology Journal of European Public Policy Journal of International Criminal Justice Journal of Law and Society Journal of Politics and Law Journal of Victimology Justice of the Peace Law Reports King’s Bench (Law Reports) Law and Contemporary Problems Law Quarterly Review Modern Law Review New Law Journal Netherlands Yearbook of International Law New Criminal Law Review New Journal of European Criminal Law North East Law Review Nottingham Law Journal Ohio State Journal of Criminal Law Oxford Journal of Legal Studies Police and Criminal Evidence Act 1984 Pace Law Review Prosecution of Offences Act 1985 Public Law Queen’s Bench (Law Reports) section University of Pennsylvania Law Review United Kingdom

17

18

Abkürzungsverzeichnis

UKHL UKSC Utrecht L. Rev. VIS VPS VSE Wayne L. Rev. WLR Wm. & Mary L. Rev. Yearbook of Europ. L

United Kingdom House of Lords Supreme Court of the United Kingdom Utrecht Law Review Victim Impact Statement Victim Personal Statement Victim Support Europe The Wayne Law Review Weekly Law Report William and Mary Law Review Yearbook of European Law

Spezifische Abkürzungen im Kontext des Unionsrechts AEUV

Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, EU-ABl. C 115/47 vom 9. 5. 2008 Bull. EU Bulletin der Europäischen Union EG Erwägungsgrund (im Kontext von Rechtsakten der EU, wie z. B. Rahmenbeschlüssen und Richtlinien) EGV Vertrag zur Gründung der Euro-päischen Gemeinschaften in der Fassung des Vertrages von Amsterdam, EG-ABl. C 340/173 vom 10. 11. 1997 EUV Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union, EU-ABl. C 115/ 13 vom 9. 5. 2008 EUV a. F. Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrages von Amsterdam, EG-ABl. C 340/145 vom 10. 11. 1997 EVV Vertrag über eine Verfassung für Europa, EU-ABl. C 310/1 vom 16. 12. 2004 EVV-KonvE Konventsentwurf für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa, abgedruckt bei Fischer, Klemens: Konvent zur Zukunft Europas, Baden-Baden 2003. GA Generalanwältin/Generalanwalt beim EuGH (im Kontext von EuGH-Entscheidungen, ansonsten: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht) PJZS Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen RB Rahmenbeschluss RFSR Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts RL Richtlinie

Das Abkürzungsverzeichnis umfasst vornehmlich die in der Arbeit verwendeten Abkürzungen für fremdsprachige Begriffe und Bezeichnungen im Kontext des Unionsrechts. Für die übrigen in der Arbeit verwendeten Abkürzungen wird verwiesen auf Kirchner, Hildebert/Pannier, Dietrich: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Aufl., Berlin 2015, sowie auf Duden – die deutsche Rechtschreibung, 27. Aufl., Berlin 2017.

Einleitung Die Bedürfnisse von Personen, die Opfer einer Straftat geworden sind, stehen seit den 1970er Jahren im Fokus von politischen Entscheidungsträgern und Gesetzesreformen auf nationaler und internationaler Ebene. Während zunächst die heute im Grundsatz konsentierten Themen Opferentschädigung und, etwas später, Schutz und Unterstützung vulnerabler Opferzeugen die Diskussion prägten, rückte um den Jahrtausendwechsel die Befriedigung eines privaten Genugtuungsinteresses des Verletzten im Strafjustizsystem (wieder) stärker in das Zentrum der Debatte.1 Dass verletzte Personen bei der Bewältigung der Folgen einer Straftat Unterstützung erfahren und im Strafverfahren in den Grenzen des rechtsstaatlich Möglichen geschützt werden, ist Inhalt einer staatlichen Fürsorgeverantwortung und grundrechtlich geboten. Die Diskussion um die Verwirklichung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafprozess hingegen wirft Grundsatzfragen auf in Bezug auf die Struktur und das Fundament staatlicher Strafverfolgung und die menschenrechtlich fundierten Rechte des Beschuldigten. Selten diskutiert, aber doch zu hinterfragen ist zudem, ob die Konzentration auf das Strafjustizsystem zur Befriedigung der Bedürfnisse von Straftatopfern aus Perspektive der Straftatopfer selbst überzeugt. Ab Mitte der 1990er Jahre begann auch die Europäische Union (EU), sich an der Diskussion um die Rechte von Straftatopfern zu beteiligen und sich für Opferbelange einzusetzen. Im Jahr 2012 mündeten diese Aktivitäten in den Erlass des bisher umfassendsten unionsrechtlichen Instruments zu Opferrechten, der Richtlinie 2012/ 29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI.2 Politisches Leitmotiv für den Erlass der Opferrechterichtlinie war, Straftatopfer und ihre Belange in den Mittelpunkt der europäischen Strafjustizsysteme zu rücken. Insofern propagierte die damalige EU-Justizministerin Reding: „Our criminal justice systems focus on catching criminals and punishing the offenders. In the process they 1

Ein maßgeblicher Auslöser der (wieder erwachten) rechtspolitischen, rechtsdogmatischen und rechtstheoretischen Diskussion um ein „Recht des Opfers auf Bestrafung ,seines‘ Täters“ waren zumindest im deutschen Rechtsraum die Überlegungen des prominenten Entführungsopfers Jan Philipp Reemtsma, insbes. in ders., Recht auf Bestrafung, passim. Reemtsma wurde auch im Ausland rezipiert, siehe z. B. Dubber, Victims, S. 189 f.; Sautner, Opferinteressen, S. 262, 295 f.; Silva Sánchez, Pace L. Rev. 28 (2007), 865 ff.; ausführlich Kap. 2 A 2 b) bb) (2). Die Diskussion um die Befriedigung des Genugtuungsinteresses des Opfers im Strafprozess bzw. als Strafzweck ist damit kein allein deutsches Phänomen, siehe insofern z. B. zu Österreich Jesionek, in: Sautner/ders., Opferrechte, S. 177 f. 2 EU-Abl. L 315/57 v. 14. 11. 2012 (im Folgenden: RL 2012/29/EU oder Opferrechterichtlinie).

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Einleitung

end up neglecting victims. […] This is why we need to rebalance justice in Europe […]. In other words we must put victims first.“3 Dieser unionsrechtliche Ansatz bringt einige Neuerungen. Insbesondere enthält die Richtlinie die ersten supranationalen, für Common und Civil Law-Staaten gleichermaßen verbindlichen Vorgaben zu Opferrechten. Auf diese Weise konfrontiert die supranationale Entwicklung auf Unionsebene die hergebrachte Diskussion um Opferrechte im Strafjustizsystem mit neuen wichtigen und komplexen Fragen. Die alles überspannende Problematik ist, ob der unionsrechtliche Ansatz, sich für die Unterstützung von Straftatopfern auf das Strafjustizsystem zu konzentrieren und dieses System auf Opferbelange auszurichten, aus Perspektive aller beteiligten Akteure – der Rechtsgemeinschaft, des Beschuldigten/Täters und des Verletzten – zu überzeugen vermag. Die vorliegende Arbeit untersucht diese Fragestellung bzw. die strafprozessualen Rechte des Verletzten in der EU in drei strukturell aufeinander aufbauenden, an den Anforderungen des EU-Mehrebenensystems orientierten Schritten. Kapitel 1 und 2 widmen sich dazu im ersten Schritt der supranationalen Ebene. Diese Analyse legt das Fundament für die rechtsvergleichende Betrachtung der mitgliedstaatlichen Ebene im zweiten Schritt. Kapitel 3 unterzieht entsprechend ausgesuchte, supranational vorgegebene Opferrechte einem vertikalen und horizontalen Rechtsvergleich. Kapitel 4 und 5 schließlich führen die Ergebnisse des Rechtsvergleichs und der Analyse der supranationalen Ebene zusammen und ziehen Lehren daraus. Ziel des letzten Schrittes ist es, einen neuen Lösungsvorschlag zu entwickeln, der die Erkenntnisse aus dem Rechtsvergleich aufnimmt und die in der Arbeit identifizierten Probleme supranationaler Versuche zur Befriedigung von Opferinteressen löst. Konkret beleuchtet das erste Kapitel die Entwicklung der Opferrechtegesetzgebung auf Unionsebene und ordnet das legislative Engagement der EU in seinen internationalen Kontext ein. Diese Betrachtung soll offenlegen, welche besonderen Herausforderungen sich bei der Vorgabe von Opferrechten in internationalen und supranationalen Mehrebenen-Strukturen stellen. Weil sich der Unionsgesetzgeber bemühen müsste, solche Problemfelder zu lösen, definiert diese Analyse zugleich den Rahmen für die Untersuchung des EU-Sekundärrechts zu Opferrechten und zeigt, welche Punkte hierbei besonders beachtet werden müssen. Außerdem lassen sich so vergleichende Erkenntnisse gewinnen über die Dynamiken und Motive der Opferrechtegesetzgebung auf nationaler, internationaler und supranationaler Ebene. In diesem Zusammenhang analysiert das erste Kapitel auch die primärrechtlichen Rahmenbedingungen zur Vorgabe von Opferrechtemindeststandards durch die EU. Im Mittelpunkt steht dabei Art. 82 Abs. 2 AEUV. Diese Analyse zeigt Grund und Grenzen der Unionsgesetzgebung zu Opferrechten auf und stellt das Rüstzeug für die normative Bewertung des Sekundärrechts bereit. Schließlich wird untersucht, welche politischen Beweggründe das Unionsengagement für Straftatopfer motivieren. Denn nur so lässt sich bewerten, welche Ziele die EU mit den Opferrechtevorgaben er3 Reding, Putting Victims first – Speech 11/424, S. 2; ähnlich Mitteilung der Kommission, Stärkung der Opferrechte in der EU, KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 3.

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reichen will und ob sie diese Ziele mit den unternommenen Maßnahmen erreichen kann. Das wiederum legt die Grundlage für die Ausarbeitung eines Lösungsvorschlags im letzten Teil der Arbeit. Insgesamt steckt das erste Kapitel so den Bewertungsrahmen für die gesamte Untersuchung. Das zweite Kapitel analysiert das von der EU zu Opferrechten erlassene Sekundärrecht und bewertet die RL 2012/29/EU umfassend anhand der im ersten Kapitel erarbeiteten Kriterien. So soll zum einen aufgezeigt werden, welche Umsetzungsverpflichtungen die Opferrechterichtlinie für die Mitgliedstaaten begründet. Vor dem Hintergrund der aktuellen rechtswissenschaftlichen Diskussion liegt dabei ein besonderes Augenmerk auf der Frage, ob die EU der Tendenz folgt, ein privates Genugtuungsinteresse des Opfers im Strafjustizsystem anzuerkennen. Zum anderen soll so herausgearbeitet werden, ob bzw. welche konkreten Unionsvorgaben zu Opferrechten aus Perspektive der Mitgliedstaaten und des Beschuldigten besonders problematisch erscheinen und deshalb einer ausführlichen rechtsvergleichenden Untersuchung bedürfen. Das dritte Kapitel schwenkt sodann in Reaktion auf die Ergebnisse der Untersuchung des Sekundärrechts den Blick von der supranationalen zur mitgliedstaatlichen Ebene. Der RL 2012/29/EU liegt, soweit sei aus Erläuterungsgründen vorgegriffen, die kontroverse Forderung zugrunde, ein privates Genugtuungs- bzw. Unrechtfeststellungsinteresse des konkreten Opfers anzuerkennen und im Strafverfahren zu berücksichtigen. Deshalb untersucht das dritte Kapitel vertikal und horizontal rechtsvergleichend, ob die Berücksichtigung eines privaten Genugtuungsinteresses des Verletzten mit den normativen Prämissen der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme vereinbar ist, bzw. welche Konsequenzen die Integration eines solchen Interesses in die nationalen Systeme de lege ferenda hätte. Der Rechtsvergleich gestattet dabei zugleich eine kritische Überprüfung der im ersten Abschnitt der Arbeit aufgedeckten These, Common Law-Strafjustizsysteme hätten per se größere Schwierigkeiten mit der Integration von Opferrechten in das Strafverfahren als Civil Law-Strafjustizsysteme. Insgesamt soll so die Forderung nach der Berücksichtigung des Genugtuungsinteresses des Opfers im Strafprozess aus normativer Perspektive rechtstraditionsübergreifend bewertet werden. Abschließend erhellt das dritte Kapitel zudem, ob die Konzentration auf das Strafjustizsystem, wie bisher weitläufig schlicht unterstellt, zur Erfüllung des privaten Genugtuungsinteresses aus Perspektive des Opfers in den nationalen Systemen tatsächlich überzeugt. Damit legt das dritte Kapitel das Fundament für die Bewertung, ob der gegenwärtige legislative Ansatz der EU ihre rechtspolitischen Ziele im Bereich der Opferrechte normativ konfliktfrei und faktisch effektiv erreichen kann. Kapitel 4 und 5 führen die aus der Studie des supranationalen und nationalen Rechts gewonnenen Erkenntnisse zusammen und loten Optionen für eine konfliktfreiere und effektivere Befriedigung von Opferinteressen aus. Das vierte Kapitel analysiert dafür zunächst mögliche normative Begründungen für den besonderen staatlichen Ressourceneinsatz zur Unterstützung von Straftatopfern. Insbesondere

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Einleitung

Verfechter der These, das Opfer habe einen Anspruch auf Genugtuung im Strafprozess, lassen häufig eine Begründung für die Existenz dieses Rechts und korrespondierend für den staatlichen Einsatz für dessen Erfüllung vermissen. Um diese Lücke zu schließen, werden mögliche normativ-theoretische Begründungen für die staatliche Verantwortung zur alternativen Unterstützung von Straftatopfern erörtert. Inzident wird dabei auch überprüft, ob Straftatopfer – wie oft propagiert – einen verfassungsrechtlich oder anderweitig fundierten Anspruch gegen den Staat auf strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung „ihres“ Straftäters geltend machen können. Anschließend diskutiert das fünfte Kapitel konkrete Ideen für ein mögliches neues Instrument, mit dem ein Staat seine Verantwortung gegenüber Opfern erfüllen, sie wie von der EU gefordert in den Mittelpunkt rücken und zugleich die im Rechtsvergleich sowie bei der Analyse der inter- und supranationalen Bemühungen um Straftatopferrechte festgestellten Probleme lösen könnte. Die Überlegungen im Abschlusskapitel sollen insofern einen bescheidenen Beitrag zu einer notwendigen Neuorientierung der Diskussion leisten, wie die Rechtsgemeinschaft ihrer Verantwortung gegenüber Straftatopfern rechtsstaatlich konfliktfreier und effektiver nachkommen könnte. Schließlich kann die Arbeit im Rahmen des Rechtsvergleichs freilich nicht die Rechtsordnungen aller EU-Mitgliedstaaten betrachten, sondern muss sich auf eine Auswahl beschränken. Insofern wird das deutsche Rechtssystem stellvertretend für den Civil Law-Rechtskreis und das englische Rechtssystem als Repräsentant des Common Law-Rechtskreises untersucht. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit steht zu befürchten, dass das Vereinigte Königreich die EU verlassen wird.4 Auch ein solcher Austritt würde die hiesige Untersuchung indes aus mehreren Gründen nicht angreifen. Insbesondere bezieht sich der Rechtsvergleich an vielen grundlegenden Punkten auf rechtstheoretische Annahmen und Streitstände, die für den Common Law-Rechtskreis allgemein und nicht spezifisch für England aufgestellt werden. Die englische Rechtsordnung wird dementsprechend auch primär in der Funktion eines Beispiels für den Common Law-Rechtskreis betrachtet und nicht allein aus einem Erkenntnisinteresse bzgl. des nationalen Rechts per se. In der Konsequenz lassen sich die rechtsvergleichenden Ergebnisse verallgemeinern. Da weitere EU-Mitgliedsstaaten über einen Common Law-Hintergrund verfügen, darunter z. B. Irland und Malta, blieben die rechtsvergleichenden Ergebnisse für die EU zudem auch bei Austritt des Vereinigten Königreichs von Relevanz. Davon abgesehen, geben bereits die Ergebnisse der Untersuchung allein des deutschen Rechts als Vertreter des Civil Law-Rechtskreises Anlass zur Reflexion über die bisherige EUOpferrechtepolitik. Weiterhin legt der Rechtsvergleich ganz grundsätzliche Er4 Im Juni 2016 hielt GB ein Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (Brexit) ab. Das positiv beschiedene Referendum hat die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs indes nicht unmittelbar beendet. Dazu bedarf es vielmehr noch des Abschlusses des formalen Austrittprozesses. Siehe zu den Folgen des Referendums und des (möglichen) zukünftigen Brexits für die Geltung von EU-Regeln zur PJZS in GB Spencer, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 761, 770.

Einleitung

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kenntnisse offen über die Position des Verletzten in Common und Civil Law-Strafjustizsystemen. Dieser übergeordnete Erkenntnisgewinn wird durch einen möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht berührt. Schließlich wird der Vorschlag zu einem Alternativmodell zur Befriedigung von Opferinteressen im letzten Schritt unabhängig von etwaigen Regulierungsaktivitäten der EU entwickelt. Er richtet sich damit gerade auch unmittelbar an die nationalen Gesetzgeber, ungeachtet einer eventuellen Mitgliedschaft in der EU.

Kapitel 1

Entwicklung und Problemfelder des legislativen Engagements für Opfer von Straftaten in der EU Seit den 1970er Jahren stehen die Bedürfnisse von Straftatopfern im Fokus von politischen Entscheidungsträgern und Gesetzesreformen. Mitte der 1990er Jahre erreichte diese Entwicklung auch die EU und führte 2012 zum Erlass der Opferrechterichtlinie 2012/29/EU.1 Dieser beinahe zwei Dekaden umfassende Verlauf auf EU-Ebene lässt sich in drei Phasen unterteilen: prae Lissabon, Reflexion und post Lissabon. Im Folgenden wird die politische und legislative Entwicklung der Regulierung von Opferrechten auf Unionsebene in ihren internationalen Kontext eingeordnet und sodann nachgezeichnet. Diese Betrachtung zeigt Parallelen im politischen Prozess und wichtige wiederkehrende Problemfelder auf, mit denen sich die Opferrechtegesetzgebung auf supranationaler Ebene konfrontiert sieht. Damit legt die Betrachtung das Fundament für die Analyse des EU-Sekundärrechts zu Opferrechten.

A. Internationaler Kontext der EU-Gesetzgebung zu Opferrechten Historisch waren der Verletzte bzw. seine Sippe für die Lösung von Konflikten zuständig, die heute als Straftat qualifiziert werden.2 Im Zuge der Herausbildung staatlicher Macht und damit staatlicher Strafverfolgung verlor der Verletzte jedoch seinen Einfluss.3 Diese Entwicklung von einer ursprünglich privat geprägten Konfliktbewältigung zur staatlichen Strafverfolgung, bei der der Verletzte eine – je nach nationaler Ausgestaltung – nur untergeordnete Rolle spielt, vollzog sich in allen

1 EU-Abl. L 315/57 v. 14. 11. 2012 (im Folgenden: RL 2012/29/EU oder Opferrechterichtlinie). 2 Rössner, in: AK-StPO, Vor § 374 f. Rn. 1; ders., in: Schädler et al., Kriminalitätsopfer, S. 7 ff. 3 Rössner, in: Schädler et al., Kriminalitätsopfer, S. 7 ff.; Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil 1, S. 34 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 24 ff., bes. S. 27; zum englischen Recht Doak, Victims’ Rights, S. 2 ff.

A. Internationaler Kontext der EU-Gesetzgebung zu Opferrechten

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europäischen Strafrechtssystemen in vergleichbarer Weise.4 Zugleich verpflichteten die modernen Strafverfolgungssysteme den Verletzten als Anzeigeerstatter und Zeugen.5 Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Situation des Verletzten zunehmend kritisiert und Gegenstand einer ideologisch geprägten, reformpolitischen Debatte.6 Die EU ließ sich später von dieser Debatte motivieren und gestaltete ihre Harmonisierungsvorgaben zu Opferrechten in Anlehnung an die bis dahin erlassenen internationalen Regeln zu Opferrechten.7

I. Ideologische Wegbereiter Das Ziel, die Stellung des Verletzten im Strafverfahren zu verbessern, eroberte ab Anfang der 1980er Jahre international die kriminalpolitischen Agenden. Eine Allianz verschiedener Interessenvertreter trat hierfür zusammen.8 Die seit Mitte der 1960er Jahre international aufstrebende Disziplin der Viktimologie9 machte die 4 Schünemann, Buffalo Crim. L. Rev. 3 (1999), 33, 40 f. In den Details entwickelten sich die Landesrechte allerdings unterschiedlich. So hat England z. B. eine deutlich ausgeprägtere Privatklagetradition als viele kontinentaleuropäische Rechtsordnungen, siehe Shapland/Willmore/Duff, Victims, S. 174; im Detail Kap. 3 A III 2. Für eine umfassende historische Darstellung siehe z. B. Weigend, Deliktsopfer, S. 24 ff.; kürzer Rössner, in: Schädler et al., Kriminalitätsopfer, S. 7, 8 ff. 5 Shapland/Willmore/Duff, Victims, S. 175; Krauß, in: FS Lüderssen (2002), S. 269, 273. 6 Siehe nur Christie, Brit. J. Criminol. 17 (1977), 1, 3, 7. 7 In der Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission über Opfer von Straftaten in der Europäischen Union – Überlegungen zu Grundsätzen und Maßnahmen (KOM(1999)349 – C5 – 0119/1999 – 1999/2122(COS)), A5 – 0126/2000, bezieht sich das Parlament z. B. auf UN, Res. A/RES/40/34 v. 29. 11. 1985 und Europarat Rec No. R (87) 21. 8 Die Darstellung ist auf die einflussreichsten Wegbereiter begrenzt, dazu z. B. Jung, ZRP 2000, 159, 160; ähnlich Ellison, Adversarial Process, S. 2 – 4; Sebba, Criminol. & Crim. Just. 1 (2001), 27, 35. Zur Bedeutung der Entwicklung hin zu einer Sicherheitsgesellschaft in diesem Kontext Barton, in: ders./ Kölbel, Ambivalenzen, S. 111, 113 ff. Diskutiert wird auch, ob Opferbelange nur instrumentalisiert werden, um repressivere Strafrechtspolitiken durchzusetzen, zustimmend für die USA und England Garland, The Culture of Control, S. 11, 144; ähnlich Doak, Victims’ Rights, S. 11; Dubber, Victims, S. 6., 13 ff. Ablehnend für die ältere deutsche Opferrechtegesetzgebung Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 103 f.; siehe aber zur jüngeren deutschen Reformen Kölbel, in: Barton/ders., Ambivalenzen, S. 213, 228. Zu dieser Thematik auf EU-Ebene siehe unten Kap. 1 D III 2. 9 Ob die Viktimologie Mit-Auslöser oder bloße Reaktion auf die aus anderen Gründen wachsende Beachtung des Verletzten war, ist umstritten. Joutsen, The Role of the Victim, S. 277 und Jung, ZRP 2000, 159, 160 bescheinigen ihr anstoßende Kraft. Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 100 hingegen attestieren der empirischen Opferforschung im Zeitraum von 1975 – 1985 aufgrund der erst geringen Entwicklung einen marginalen Einfluss. Sie habe sich erst im Gefolge und auf Initiative der Opferpolitik herausgebildet (S. 100), würde in der aktuellen Diskussion jedoch über einen starken Einfluss verfügen (S. 103 Fn. 157). Sebba, Criminol. & Crim. Just. 1 (2001), 27, 35 f., betont, dass Law and Order- und OpferrechteIdeologien sowie gesellschaftliche Interessengruppen mehr zum wachsenden Interesse am Opfer beigetragen hätten als empirische viktimologische Studien.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Bedürfnisse von Verbrechensopfern anschaulicher und motivierte die Gründung von Lobbygruppen, die jeweils für verschiedene Opfergruppen eintraten.10 Dazu kamen eine stärkere Sensibilität für sozial Schwache11 – besonders in Form neuer feministischer Bewegungen – und aufstrebende Law and Order-Politik. Nach Ernüchterung der Resozialisierungsidee in den 1970er Jahren durch entmutigende Ergebnisse empirischer Studien („nothing works“12) suchten Vertreter der Law and OrderPolitik in der Hinwendung zu Opferinteressen teils eine Rechtfertigung für neopunitive Bewegungen, teils eine neue sozialkonstruktive Komponente für die Kriminalpolitik. Dazu gesellten sich (autoritätskritische) Verfechter alternativer Streitbeilegungsmodelle. So mannigfaltig die treibenden Kräfte auch waren, einte sie das gemeinsame Ziel, das Straftatopfer in den Mittelpunkt der kriminalpolitischen Aufmerksamkeit zu rücken. Die oft emotional geführte Diskussion widmete sich dabei weniger der dogmatischen Begründung einer neuen Rolle für das Opfer im staatlich geführten Strafverfahren. Im Fokus stand vielmehr die praktische, moralisch unanfechtbare Forderung, sekundäre Viktimisierung zu verhindern und das Leid der Verletzten zu mindern. Der Einsatz für Opferschutz und stärkere Opferrechte war politisch opportun geworden.13

II. Legislative Vorbilder National wie international führten diese ideologischen Überlegungen zu legislativen Reformbestrebungen.14 Besonders prägend für die spätere EU-Gesetzgebung zu Opferrechten waren Initiativen der Vereinten Nationen (UN) und des Europarats. Ebenso wie auf nationaler Ebene stand international zunächst die staatliche Ent-

10 Ellison, Adversarial Process, S. 2 f., weist auf diesen Aspekt für die englische Entwicklung hin. Besonders aktiv seien feministische Bewegungen gewesen. 11 Diesen Aspekt betont Doak, Victims’ Rights, S. 7 f. besonders für die englische Entwicklung. 12 Das schon zur Ideologie erstarkte „nothing works“ hat seinen Ursprung in dem Essay von Martinson, The Public Interest 35 (1974), 22 ff. 13 Garland, The Culture of Control, S. 11; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 13; Hörnle, ZStW 117 (2006), 801, 828. 14 In Deutschland mündete die Diskussion um eine Stärkung der Opferrechte in eine Reformwelle, beginnend 1986 mit Erlass des Opferschutzgesetzes, BGBl. I 1986, S. 2496; gefolgt von: Zeugenschutzgesetz, BGBl. I 1998, S. 820; 1. Opferrechtsreformgesetz, BGBl. I 2004, S. 1354; 2. Opferrechtsreformgesetz, BGBl. 2009, S. 1354 (das einen Streit entfachte, ob der Ausbau von Verletztenrechten zu einem Paradigmenwechsel im Strafprozess geführt habe, statt vieler: Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 947 ff.); StORMG, BGBl. I 2013, S. 1805. Zuletzt hat das 3. Opferrechtsreformgesetz, BGBl. I 2015, S. 2525, die Vorgaben der RL 2012/29/EU in deutsches Recht transformiert und die psychosoziale Prozessbegleitung auf Bundesebene verankert. Auch in England widmeten sich Politik und Gesetzgebung dem Verletzten verstärkt ab Anfang der 1980er Jahre, Spencer, Isr. L. Rev. 31 (1997), 286, 295, siehe im Detail zum nationalen Recht unten Kap. 3 A.

A. Internationaler Kontext der EU-Gesetzgebung zu Opferrechten

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schädigung von Opfern im Vordergrund,15 bevor Vorgaben zur Stellung des Verletzten im eigentlichen Strafverfahren folgten.16 Am einflussreichsten ist in diesem Zusammenhang die Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power der UN von 198517, die als Magna Charta der Opferrechte gilt und die Standards für zahlreiche spätere Gesetzgebungsvorhaben zu Opferrechten definiert und inspiriert hat.18 Sie stellt Grundsätze auf zu respektvoller Behandlung, Information, Beteiligung, Unterstützung, Schutz und Entschädigung von Straftatopfern sowie für die Einrichtung informeller Verfahren zur Konfliktlösung.19

1. Problemfeld 1: Kohärenz der nationalen Strafjustizsysteme Bei dem Bestreben in den 1980er Jahren, Vorgaben zu Opferrechten im Strafverfahren auf internationaler Ebene zu verankern, war ein Konsens über die Rolle und den Einfluss des Verletzten im Strafverfahren nicht zu erzielen. Grund dafür war u. a. die Annahme der Nationalstaaten, dass die verschiedenen nationalen Strafjustizsysteme den Verletzten nicht in gleicher Weise integrieren könnten.20 Die schließlich erzielten Einigungen blieben dementsprechend vage und ließen den Vertragsstaaten einen weiten Spielraum zur Berücksichtigung der Besonderheiten ihrer jeweiligen nationalen Rechtsordnung. Besonders deutlich wird dies an 15

England setzte 1976 das Criminal Injuries Compensation Board ein, das Opfern von Gewalttaten staatliche Entschädigung gewähren kann. Deutschland erließ 1976 das OEG. Der Europarat erließ 1977 Resolution (77) 27 On the Compensation of Victims of Crime und 1983 die European Convention on the Compensation of Victims of Violent Crimes, ETS Nr. 116 v. 24. 11. 1983. 16 UN General Assembly, Res. 40/34 v. 29. 11. 1985, Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power. Recommendation No. R (85) 11 des Europarates v. 28. 6. 1985 (On the Position of the Victim in the Framework of Criminal Law and Procedure) rät vor allem Maßnahmen im Bereich der staatlichen Strafverfolgung an, Recommendation No. R (87) 21 des Europarates v. 17. 9. 1987 (On assistance to victims and the prevention of victimization) betont die Kooperation mit nicht-staatlichen Akteuren bei der Opferunterstützung. Recommendation Rec(2006)8 des Europarates v. 14. 6. 2006 (On assistance to Crime Victims) ersetzt letztere, qualifiziert Opferrechte als Menschenrechte, regelt aber keine Rechte im eigentlichen Verfahren. Auch vor dem IStGH erhalten Opfer Rechte in der Selection of the Rules of Procedure and Evidence, relating to victims and witnesses. Umfassend zu Opferrechten im internationalen Recht de Casadevante Romani, International Law of Victims, S. 133 ff., zur Stellung im Strafverfahren insbes. S. 159 f.; für einen Überblick zu internationalen Opferschutzinstrumenten siehe Albrecht, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 87, 91 ff.; Buczma, ERA Forum 2013, 235, 236 ff. 17 GA, Res. 40/34 v. 29. 11. 1985. 18 Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 33; Letschert/Groenhuijsen, in: dies./ van Dijk, New Faces of Victimhood, S. 15, 18; van Genugten et al., Netherlands Yearbook of Internat. L. 37 (2006), 109, 114. 19 Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 95, folgert aus ihren Vorgaben sogar ein Recht des Opfers auf die Durchführung eines Strafverfahrens. 20 Joutsen, The Role of the Victim, S. 215 f.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Art. 6 lit. b der UN-Deklaration von 1985. Der erste Entwurf des Artikels hatte Opfern noch das Recht eingeräumt, die Strafverfolgung zu beginnen, fortzuführen und in jedem Verfahrensstadium gehört zu werden. Die schließlich erlassene Version lautet hingegen: „Allowing the views and concerns of victims to be presented and considered at appropriate stages of the proceedings where their personal interests are affected, without prejudice to the accused and consistent with the relevant national criminal justice system.“21 Die zunächst geplante führende Rolle für Opfer im Strafverfahren wurde folglich nicht eingeführt, die Opferperspektive ist in weniger Verfahrensstadien zu beachten und dem Opfer muss nicht gestattet werden, persönlich vor Gericht aufzutreten. Stattdessen sind seine Belange nur insoweit zu berücksichtigen, wie es mit dem jeweiligen nationalen Rechtssystem vereinbar ist. Diese Einschränkungen sollen vornehmlich auf dem Betreiben angloamerikanischer Staaten beruhen.22 2. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten Neben der Zurückhaltung gegenüber stärkeren Verletztenrechten zur Protektion der eigenen Rechtsordnungen spielte auf internationalem Parkett die Befürchtung eine Rolle, die Stärkung der Opferrechte könne die Verfahrensrechte des Beschuldigten verletzen.23 Deshalb enthielt ein Entwurf der UN-Deklaration von 1985 noch die eigenständige übergreifende Vorgabe, dass die dem Verletzten im Verfahren zugestandenen Rechte nicht so ausgelegt werden dürften, dass sie den mutmaßlichen Täter in seinen Rechten beeinträchtigen.24 Die endgültige Version normiert allerdings nur noch einen Vorbehalt zugunsten der Beschuldigtenrechte in einem Nebensatz, der sich auf die Vorgabe zum Gehörsrecht beschränkt, vgl. oben Art. 6 lit. b UN-Deklaration. 3. Ergebnis Trotz der grundsätzlichen Einwände gegen die Vorgabe einheitlicher Opferrechte im Strafverfahren erfolgte der Gesetzgebungsprozess der UN-Deklaration von 1985 überraschend zügig, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass 121 Na21 Hervorhebungen nicht im Original. Zum Ganzen Joutsen, The Role of the Victim, S. 215 f., 308 f. 22 Joutsen, The Role of the Victim, S. 215, 309. 23 Doak, Victims’ Rights, S. 116; Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 34. 24 Art. 7 (11) Draft Declaration on Justice and Assistance to Victims, A/CONF.121/IPM/4, Annex I (Report of the interregional preparatory meeting for the seventh united nations congress on the prevention of crime and the treatment of offenders on topic III: „victims of crime“, Ottawa, 9. – 13. 7. 1984): „None of the above-mentioned rights should be so construed as to infringe upon the rights of the alleged offender.“

A. Internationaler Kontext der EU-Gesetzgebung zu Opferrechten

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tionalstaaten beteiligt waren und die Deklaration einstimmig verabschiedet wurde. Es vergingen nur drei Jahre von der Entscheidung, das geplante Instrument auch auf Kriminalitätsopfer zu erstrecken, bis zu seiner Annahme.25 Dies und die weiteren zahlreichen internationalen Vorgaben zu Opferrechten sind Ausdruck eines internationalen Konsenses, dass Opfer von Straftaten im Strafjustizsystem grds. Beachtung finden müssen und insbesondere über einen Anspruch auf Schutz verfügen. Noch keine Übereinkunft besteht hingegen darüber, welche Rolle dem Verletzten in Bezug auf den Strafanspruch und eine Teilnahme am Strafverfahren zukommen soll.26 Zugleich wird deutlich, dass die Regelung von Opferrechten auf internationaler Ebene zwei primäre Herausforderungen lösen muss: die Sorge der Nationalstaaten um die Kohärenz ihrer Strafjustizsysteme und die Wahrung der Beschuldigtenrechte. Die dargestellten internationalen Instrumente sind für die teilnehmenden Staaten weder verbindlich noch können Betroffene daraus unmittelbar Rechte ableiten.27 Die Umsetzung erfolgte entsprechend verhalten, weshalb auf internationaler Ebene nach rechtlich verbindlicheren Alternativen gesucht wird.28 Zumindest auf Unionsebene schien die Antwort auf diese Herausforderung gefunden, als die EU beschloss, Vorgaben zu Opferrechten zu erlassen.

25 Siehe hierzu die Procedural History der UN-Declaration A/RES/40/34, in: Codification Division, Office of Legal Affairs, UN, Audiovisual Library of International Law. 26 Zu dieser Einschätzung kommt auch Doak, Victims’ Rights, S. 33, 243 f. 27 Joutsen, The Role of the Victim, S. 290. 28 Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 34. In England z. B. reagierte die innerstaatliche Politik nicht auf die UN-Deklaration, Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 509. Um die mangelhafte Implementierung in nationales Recht zu verbessern, wird seit 1997 von der World Society of Victimology der Erlass einer für die Beitrittsstaaten bindenden UN Convention on Justice and Support for Victims of Crime and Abuse of Power propagiert, die seit 2005 im Entwurf vorliegt. Die aktuellste Entwurfsfassung ist jeweils auf der Internetseite von INTERVICT abrufbar. Allerdings wird der Entwurf trotz umfassender Bemühungen der Verfasser bisher von keinem Staat unterstützt, Dussich, in: Morosawa et al., New Horizons, S. 525, 530, dort auch zur Entwicklung des Konventionsvorhabens. Umfassend und kritisch zu einer solchen Konvention und ihren Alternativen van Genugten u. a., Netherlands Yearbook of Internat. L. 37 (2006), 109 ff.; in der Sache positiver, der Konvention aber keine realen Erfolgschancen einräumend Letschert/Groenhuijsen, in: dies./van Dijk, New Faces of Victimhood, S. 15, 18 – 20; Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 34 f.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon I. Entstehung des legislativen Engagements für Straftatopfer auf EU-Ebene Das Interesse der EU für die Belange von Straftatopfern erwachte bereits 1989. In dem Jahr erging das erste Urteil des EuGH zu Ansprüchen von Straftatopfern. Darin stellte der EuGH fest, dass das in Art. 7 EWG-Vertrag normierte Diskriminierungsverbot auch insoweit gelte, als der Schutz vor möglichen Gewalttaten und, falls eine Gewalttat verübt worden sei, der im nationalen Recht vorgesehene Anspruch des Straftatopfers auf staatliche Entschädigung in Frage stünden.29 Damit verbot das Urteil die Diskriminierung von Touristen in Bezug auf Opferentschädigungsansprüche und markierte so den Auftakt des supranationalen Engagements für die Belange von Straftatopfern. In Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelungskompetenz im Bereich der Strafrechtspflege, zu der auch Regelungen zu Opferrechten gezählt wurden, beschränkten sich die Aktivitäten jedoch zunächst auf dieses Urteil.30 Einen Wendepunkt markierte der 1997 beschlossene Vertrag von Amsterdam. Zum einen führte er in Art. 2 EUVa.F. das Unionsziel ein, die EU zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) weiterzuentwickeln und so die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit der Bürger zu fördern.31 Diese Ausweitung der Unionsziele ebnete den Weg für ein Tätigwerden auch im Bereich der Opferrechte. Zum anderen schuf der Vertrag von Amsterdam aus Sicht des Rates erstmals eine rechtliche Grundlage für die Regelung von Opferrechten. Zur gleichen Zeit lenkte das European Forum for Victims Services32 die politische Aufmerksamkeit auf die Belange von Straftatopfern, indem es sich mit dem Grundsatzpapier „The rights of victims in criminal justice“ an die damalige Kommissarin für Justiz, Sicherheit und Freiheit Gardin wandte.33 In Reaktion darauf 29 EuGH, 2. 2. 1989, Rs. C-186/87 (Ian William Cowan), Slg. 1989 I-195 Rn. 17, stellte fest, dass das Straf- und Strafverfahrensrecht zwar nicht unter die EU-Kompetenz falle, dass aber das nationale Recht trotzdem nicht gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 7 EWG-Vertrag verstoßen dürfe. 30 Groenhuijsen/Pemberton, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim Just. 17 (2009), 43, 44; Pemberton/Rasquete, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 6, 7. 31 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, EU-ABl. C 340/1 v. 10. 11. 1997. 32 Das European Forum for Victim Services wurde 1990 als Netzwerk aller nationalen Opferschutzorganisationen in Europa gegründet. 2007 änderte es seinen Namen zu Victim Support Europe (VSE) und hat als solches Beraterstatus beim Europarat und der UN. 33 Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 510 f.

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon

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ernannte die Kommission wenig später die Förderung von Opferbelangen zu einem Ziel gemeinschaftlicher Maßnahmen im neuen RFSR34 und der Wiener Aktionsplan thematisierte Entschädigungsbelange von Straftatopfern.35 Diese Vorbereitungen mündeten in die bis heute wegweisende Kommissionsmitteilung zu Opfern von Straftaten.36 Sie diente als Diskussionsgrundlage für die erste Sondertagung des Europäischen Rates zum RFSR und betonte, dass die Behandlung von Entschädigungsfragen allein nicht ausreiche. Vielmehr müssten auch Maßnahmen zur besseren Prävention von Straftaten, der Unterstützung und Betreuung von Opfern, des Zugangs und der Stellung von Opfern zu bzw. im Strafverfahren, ihrer Klagebefugnis im Strafprozess, der Opferentschädigung und der Ausbildung von Personen, die Kontakt zu Straftatopfern haben, erwogen werden. Die Mitteilung dehnte so die gemeinschaftliche Initiative auf den gesamten Verarbeitungsprozess einer Straftat aus. Bis heute definieren die genannten Themenbereiche den Rahmen der Unionsgesetzgebung zu Opferrechten. Die Staats- und Regierungschefs folgten der Kommissionsmitteilung bei der Sondertagung des Europäischen Rates in Tampere 1999 und proklamierten die Aufgabe, Mindeststandards für den Schutz von Verbrechensopfern – insbesondere bzgl. ihres Zugangs zum Recht – zu schaffen.37 Auch das Europäische Parlament begrüßte die Kommissionsinitiative und forderte eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Verbrechensopfern, darunter den Zugang von Opfern zum Strafverfahren und ihre Klagebefugnis.38 Bemerkenswert dabei sind nicht nur das Ausmaß der geforderten Rechte, das Drängen auf zügigeres Vorgehen und das Insistieren auf EU-eigenen Maßnahmen,39 sondern vor allem die Kritik, dass nach dem damaligen Vertragsrecht der Erfolg der Initiative aufgrund des gem. Art. 34 Abs. 2 S. 2 EUV a.F. geltenden Einstimmigkeitsprinzips vom Gutdünken der Mitgliedstaaten abhinge. Die Verträge sollten insoweit dringend geändert werden. Hierin zeigte sich bereits der spätere Konflikt zwischen dem Parlament, das weitgehende Unionsvorgaben zu Opferrechten forcierte, und den insofern zurückhaltenden Mitgliedstaaten.

34 Mitteilung der Kommission, Auf dem Weg zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, KOM(1998)495 endg. v. 14. 7. 1998, S. 10, in der die Angleichung von Verfahrensrechten von Opfern in Erwägung gezogen wird. 35 Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Anwendung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Punkte 19 und 51 c), EU-ABl. C 19/1 v. 23. 1. 1999. 36 Mitteilung der Kommission zu Opfer von Straftaten in der Europäischen Union: Überlegungen zu Grundsätzen und Maßnahmen, KOM(1999)349 endg v. 14. 7. 1999. 37 Europäischer Rat von Tampere, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Bull. EU 10-1999, S. 7 ff. (11) – Nr. 32. 38 Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission: Opfer von Straftaten in der Europäischen Union – Überlegungen zu Grundsätzen und Maßnahmen, EU-ABl. C 67/304 v. 1. 3. 2001, Vorbemerkung F u. Punkt 1. 39 Die Alternative wäre gewesen, die Mitgliedstaaten zunächst zur Kooperation anzuhalten.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Schließlich trug eine Personalentscheidung Portugals bei Übernahme der EURatspräsidentschaft im Januar 2000 wesentlich zur Priorisierung der Opferrechte in der Unionspolitik bei. Portugal übertrug die Vorbereitung seiner Präsidentschaft in Bezug auf Justice und Home Affairs und den Vorsitz in der European Judicial Cooperation Working Group, die für die Beratung strafverfahrensbezogener Rahmenbeschlüsse zuständig war, Luis Miranda Pereira. Er war Vorsitzender der portugiesischen Opferschutzorganisation APAV und zugleich eng mit dem European Forum for Victims Services verbunden. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Pereira seine Position nutzte, um sich federführend für den Erlass eines Rahmenbeschlusses über Opferrechte einzusetzen und den politischen Willen auf EUEbene zur Regelung von Opferrechten zu stärken.40 Im August 2000 unterbreitete Portugal daraufhin eine Initiative zum Erlass eines Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren,41 die im Gesetzgebungsprozess aktiv durch verschiedene europäische Opferschutzorganisationen unterstützt wurde.42

II. Kompetenz zur Harmonisierung von Opferrechten Im Zuge der Vorbereitungen des Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren wurden Zweifel geäußert, ob die Union kompetenzrechtlich zur Angleichung von Opferrechten befugt sei. Der Amsterdamer Vertrag hatte die ehemals für die Zusammenarbeit in Strafsachen geltende Handlungsform der gemeinsamen Maßnahme durch die neue Handlungsform des Rahmenbeschlusses ersetzt. Damit war es dem Rat erstmals möglich, auch im Politikbereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) Rechtsakte zu erlassen, die für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des Ziels unmittelbar verbindlich waren. Während Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV a.F. die Handlungsform als solche definierte, normierte Art. 31 Abs. 1 EUV a.F., welche inhaltlichen Felder im Bereich der PJZS mittels Rahmenbeschlusses geregelt werden konnten. Danach umfasste das gemeinsame Vorgehen im Bereich der PJZS: die Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen (lit. a), die Erleichterung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten (lit. b), die Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander, soweit dies zur Verbesserung dieser Zusammenarbeit erforderlich sei (lit. c), die Vermeidung von Kompetenzkonflikten zwischen Mitgliedstaaten (lit. d) sowie die Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in einigen Kriminalitätsbereichen (lit. e). Die Gegner 40

Zu dem Einsatz Pereiras für den RB 2001/220/JI Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 513 f. 41 Initiative der Portugiesischen Republik im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, EU-ABl. C 243/2 v. 24. 8. 2000. 42 Vgl. Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 515 f. zur Rolle der Opfer-Lobbygruppen.

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon

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des Rahmenbeschlussvorschlags machten geltend, die Angleichung des Strafverfahrensrechts zugunsten von Straftatopfern diene weder der verbesserten Zusammenarbeit bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen, noch der Erleichterung der Auslieferung oder der Vermeidung von Kompetenzkonflikten. Art. 31 Abs. 1 lit. e EUV a.F. decke nur die Harmonisierung bestimmter Straftatbestände, nicht aber die Angleichung formellen Strafrechts.43 Schließlich seien gemeinsame Standards zum Opferschutz nicht für die Verbesserung der Zusammenarbeit erforderlich, sodass auch Art. 31 Abs. 1 lit. c EUV als Ermächtigungsgrundlage ausscheide.44 Weil Vorgaben zu Opferrechten damit unter keinen der in Art. 31 Abs. 1 EUV a.F. aufgeführten Bereiche fielen, sei der Vorschlag eine ultra vires Maßnahme.45 Die Befürworter der Maßnahme setzten sich jedoch unter Berufung auf den Wortlaut der französischen Vertragsfassung durch.46 Danach sei die Aufzählung der einzelnen Politikfelder in Art. 31 Abs. 1 EUVa.F. nicht abschließend und auf Art. 31 EUV a.F. könne deshalb auch die Vorgabe von Opferrechten gestützt werden.47 Entsprechend zitiert der RB 2001/220/JI Art. 31 EUV a.F. auch nur generisch neben Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV a.F. als Kompetenzgrundlage ohne Verweis auf einen der dort explizit genannten Bereiche. Zusätzlich lenkten die Verfechter der unionsrechtlichen Vorgabe von Opferrechten die Aufmerksamkeit auf Personen, die in einem anderen als ihrem Heimatstaat Opfer einer Straftat geworden waren (transnational Betroffene).48 Solche Personen seien der Verfahrenssprache nicht mächtig, fänden sich im fremden Verfahrenssystem nicht zurecht und hätten oft das Land vor Beginn des Strafprozesses schon wieder verlassen. Diese Situation könne das unionsrechtlich verbürgte Freizügigkeitsrecht beeinträchtigen, dessen Gewährleistung der Vertrag von Amsterdam gerade zur Priorität erklärt habe. Gemeinsame Regelungen für diese Sondersituation vorzusehen, falle daher unter Art. 31 EUV a.F. Teilweise wird vorgebracht, das Schicksal gerade von transnational Betroffenen sei der eigentliche Motor der Unionsinitiativen im Bereich der Opferrechte gewesen 43

A.A. Dehing, Victims’ Rights, S. 13 f.; Wasmeier, in: von der Groeben/Schwarze, EU/ EG-Vertrag, Art. 34 EUV Rn. 7. 44 So z. B. GA Kokott, Schlussantrag v. 11. 11. 2004 zu RS. C-105/03 (Pupino) Rn. 48 f. u. Schlussantrag v. 12. 5. 2011 zu RS. C-483/09 u. C1/10 (Gueye u. Salmerón Sánchez) Rn. 73. 45 Kritisch z. B. Salditt, StV 2002, 273, 274; retrospektiv auch Mitsilegas, After Lisbon, S. 197. Umfassend zur Argumentation der Gegner Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 512. 46 Während die deutsche Fassung von Art. 31 EUV a.F. „schließt ein“ und die englische Fassung „shall include“ lauten, enthält die französische Fassung stattdessen die weitere Formulierung „viser entre autres“. 47 Vgl. Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 513. So z. B. GA Kokott, Schlussantrag v. 11. 11. 2004 zu RS. C-105/03 (Pupino) Rn. 50 f., die allerdings zusätzlich geltend macht, das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat verhindere jedenfalls, dass ein Mitgliedstaat ohne seine Zustimmung einem Rahmenbeschluss unterworfen werde. Dies legt nahe, dass die GAvon ihrer Argumentation zum Bestehen einer Kompetenzgrundlage zumindest nicht abschließend überzeugt war. 48 Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 513.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

und die Geltung der Unionsregelungen sei erst später auf alle Opfer ausgeweitet worden, um eine negative Diskriminierung von Opfern in rein nationalen Sachverhalten zu vermeiden.49 Dem ist jedoch eine frühe Mitteilung der Kommission entgegen zu halten. Darin beschränkt sie ihre Vorschläge zwar unter Hinweis auf den Subsidiaritätsgrundsatz auf die Situation von transnational Betroffenen, betont allerdings bereits im selben Satz, dass der Ansatz auch auf einheimische Opfer anwendbar sei.50 Schon zu Beginn des EU-Engagements für Opferrechte zeichnete sich damit ab, dass umfassende Regelungen getroffen werden sollten. Dies legt den Schluss nahe, dass das Schicksal von transnational Betroffenen primär deshalb argumentativ in den Mittelpunkt gestellt worden ist, um die Maßnahmen zu Opferrechten auf Unionsebene unter Kompetenzgesichtspunkten salonfähig zu machen.51 Obwohl sich die Verfechter einer Unionskompetenz zur Regelung von Opferrechten praktisch durchsetzten, bleibt die Kompetenzfrage prae Lissabon zweifelhaft. Nach seinem Wortlaut enthielt Art. 31 EUV a.F. keine Grundlage für die Angleichung von Opferrechten. Der Kunstgriff, die Regelung zu Opferrechten in den Kontext der Personenfreizügigkeit zu stellen, änderte dieses Ergebnis nicht grundlegend. Jedenfalls ließen sich damit nicht die zahlreichen Vorgaben begründen, die für rein nationale Sachverhalte erlassen wurden.52 Kompetenzrechtlich hätte daher eine Empfehlung der Kommission zu Opferrechten näher gelegen. Wieso die Verfechter sich dennoch durchzusetzen vermochten, lässt sich vor allem mit politischen Erwägungen erklären. Der Erlass eines Rahmenbeschlusses auf Grundlage des Art. 34 Abs. 2 lit b EUV a.F. setzte Einstimmigkeit im Rat voraus. Die Mitgliedstaaten konnten also sicherstellen, dass sie keine Unionsvorgaben würden umsetzen müssen, denen sie nicht ausdrücklich zugestimmt hatten.53 Das Fehlen einer Regelungskompetenz erschien deshalb weniger relevant.54 Vor allem aber hatte sich der Europäische Rat in den Schlussfolgerungen von Tampere öffentlich zur Stärkung der 49 Groenhuijsen/Pemberton, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 17 (2009), 43, 44 f.; dies., in: Moro-sawa et al., Victimology, S. 535, 537; Letschert/Groenhuijsen, in: dies./von Dijk, The New Faces of Victimhood, S. 15, 21; Letschert/Rijken, N. J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 228; Pemberton/Rasquete, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 6, 7; dies., in: Hartmann/ ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 100; zust. Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 15. 50 KOM(1999)349 endg., Punkt I. 51 Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 513. 52 Die Einigung über einen Rahmenbeschlussvorschlag für Verfahrensrechte für den Beschuldigten war 2007 an der gleichen Frage gescheitert. Da einige Delegationen die Auffassung vertraten, die EU könne nur Vorgaben für grenzüberschreitende Sachverhalte erlassen, wurde der gem. Art. 34 Abs. 2 EUV a.F. notwendige einstimmige Beschluss über den auch auf rein nationale Fälle anzuwendenden Vorschlag nicht erzielt, siehe Ratsprotokoll 0267/05 des 2807. Treffens des Rates Justiz und Inneres am 12. – 13. 6. 2007, S. 37. Dieses Messen mit zweierlei Maß in Bezug auf Opfer- und Beschuldigtenrechte ist alarmierend, ähnlich Bárd, New J. Europ. Crim. L. 1 (2011), 9, 13; Van Puyenbroeck/ Vermeulen, Internat. Comp. L. Quarterly 60 (2011), 1017, 1036. 53 GA Kokott, Schlussantrag v. 11. 11. 2004 zu RS. C-105/03 (Pupino) Rn. 51 f. 54 So Dehing, Victims’ Rights, S. 20.

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon

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Rechte von Straftatopfern bekannt. Kein Mitgliedstaat hätte danach in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken wollen, die Stärkung von Opferrechten abzulehnen, indem er die Regelungskompetenz der Union in Frage gestellt hätte.55 Die politische Opportunität des Eintritts für Opferrechte spielte damit auf EU-Ebene wie bereits auf internationaler und nationaler Ebene eine bedeutende Rolle.56 Pragmatisch-politische Erwägungen überwogen kompetenzrechtliche Bedenken: Am 15. 3. 2001 wurde der RB 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren erlassen.57

III. Der Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren Der RB 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren war in mehrfacher Hinsicht eine Premiere: Er war die erste (erfolgreiche) Initiative der EU zur Angleichung des Strafverfahrensrechts58 und gab dem EuGH erstmals Anlass, die Reichweite der Bindungswirkung eines auf Grundlage von Artt. 31, 34 Abs. 2 lit. b EUV a.F. erlassenen Rahmenbeschlusses festzulegen59. Auch hinsichtlich des Regelungsgegenstandes unterschied sich der RB 2001/220/JI von den bis dahin erlassenen Rahmenbeschlüssen im Bereich der Strafrechtspflege. Denn er enthielt Vorgaben, die sich auf das ganze Strafverfahrenssystem auswirkten.60 Der RB 2001/220/JI war zudem das erste für die Mitgliedstaaten bindende Instrument zu Opferrechten auf internationaler Ebene. Weil er Mindestvorschriften normierte, stand es den nationalen Gesetzgebern allerdings frei, im nationalen Recht ein höheres Schutzniveau vorzusehen. Die mitgliedstaatlichen Gerichte waren zwar zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet. Den EuGH mussten sie gem. Art. 35 Abs. 1 EUV a.F. jedoch nur dann zur Entscheidung 55

Siehe Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 515. Zur politischen Popularität der Regelung von Rechten für Straftatopfer, die kritische Stimmen häufig überwiegt, Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 512 ff. 57 EU-ABl. L 82/1 v. 22. 3. 2001 (im Folgenden: RB 2001/220/JI). Nach Erlass des Lissaboner Vertrags galt er zunächst gem. Art. 9 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, EU-ABl. C 115/322 v. 9. 5. 2008, fort, bis er am 15. 11. 2012 für alle Mitgliedstaaten außer Dänemark durch die RL 2012/29/EU ersetzt wurde. Für Dänemark gilt weiterhin der RB, vgl. EG 71, Art. 30 Abs. 1 RL 2012/29/EU. 58 Zeder, EuR 2012, 34, 39. 59 Siehe das kontrovers diskutierte Grundsatzurteil des EuGH, 16. 6. 2005, Rs. C-105/03 (Pupino), Slg. 2005 I-5285, in dem dieser die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des Unionsrechts statuierte, id. Rn. 43 ff. Dazu Wasmeier, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG-Vertrag, Art. 34 EUV Rn. 12; Hecker, EuStrR, § 10 Rn. 79 ff. mwN. Tatsächlich erlangte der RB 2002/220/JI vor allem durch dieses Urteil Berühmtheit, Zeder, EuR 2012, 34, 39. 60 Ebenso Groenhuijsen/Pemberton, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim Just. 17 (2009), 43, 51; Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 104. Zugleich blieb der RB mit 12 Erwägungsgründen und 19 Artikeln allerdings deutlich hinter dem Umfang der post Lissabon erlassenen Opferrechterichtlinie zurück. 56

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

über die Gültigkeit und Auslegung der Rahmenbeschlussvorgaben im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anrufen, wenn der betreffende Mitgliedstaat zuvor eine Unterwerfungserklärung gem. Art. 35 Abs. 2 EUV a.F. abgegeben hatte.61 Lag eine solche nicht vor, war das nationale Gericht allein für die Auslegung des Rahmenbeschlusses verantwortlich und entschied in der Folge unabhängig über die Rahmenbeschlusskonformität des nationalen Rechts. Nichtigkeitsklagen Privater und Vertragsverletzungsverfahren waren unzulässig.62 Obwohl die Mitgliedstaaten gesetzlich zur Umsetzung der Rahmenbeschlussvorgaben verpflichtet waren, konnten sie damit weder von der Kommission noch von Bürgern hierzu gezwungen werden. Insgesamt verfügten sie trotz der unionsrechtlichen Vorgabe von Opferrechten unter Geltung der Rechtslage prae Lissabon somit noch über recht viel Gestaltungsfreiraum. 1. Inhalt und Ziele des RB 2001/220/JI Der Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses reichte weiter als im Gesetzgebungsprozess zunächst propagiert worden war. Ausschließlich Art. 11 widmete sich den besonderen Bedürfnissen von transnational Betroffenen. Alle weiteren Vorgaben konzentrierten sich auf die Situation aller Verbrechensopfer auch in rein nationalen Sachverhalten. Im Ergebnis wurde die Situation gerade der transnational Betroffenen deshalb durch den Rahmenbeschluss nicht nennenswert verbessert.63 Dies unterstützt die oben aufgestellte These, dass grenzüberschreitende Viktimisierung und daraus folgende Sonderbelange keine entscheidende Rolle bei der Vorgabe von Opferrechten auf Unionsebene gespielt haben - außer zur Kompetenzbegründung.64 Der Inhalt des RB 2001/220/JI wird prägnant durch seinen achten Erwägungsgrund zusammengefasst:65 „Es bedarf einer Angleichung der die Stellung und die wichtigsten Rechte des Opfers betreffenden Vorschriften und Praktiken, darunter insbesondere das Recht auf eine Behandlung unter Achtung der Würde des Opfers, das Recht Informationen zu erteilen und zu erhalten, das Recht zu verstehen und 61

GB z. B. hatte keine solche Unterwerfungserklärung abgegeben. Everling, EuR 2009, Beiheft 1, 71, 79. Allerdings galt das vom EuGH in seiner Judikatur entwickelte Staatshaftungsrecht auch für die PJZS. Soweit ein Rahmenbeschluss darauf abzielte, Rechte einzelner zu begründen, konnten die Mitgliedstaaten bei Verletzung ihrer Umsetzungspflicht staatshaftungsrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, Röben, in: Grabitz/ Hilf, EUV/EGV, Art. 34 EUV Rn. 22; krit. Wasmeier, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EGVertrag, Art. 34 EUV Rn. 13. 63 Fichera, eucrim 2011, 79, 80; Groenhuijsen/Pemberton, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 17 (2009), 43, 46. Empirische Ergebnisse dazu präsentieren Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 109 f. 64 Siehe hierzu auch im weiteren Verlauf Kap. 1 D I 4, III 1 b) bb). 65 Sekundärrechtliche Erwägungsgründe sind unverbindlich, aber bei der Auslegung des Rechtsinstruments heranzuziehen, EuGH, 25. 2. 2010, Rs. C- 562/08 (Müller Fleisch), Slg. 2010 I-1391 Rn. 40. 62

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon

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verstanden zu werden, das Recht in den verschiedenen Phasen des Verfahrens geschützt zu werden, das Recht auf Berücksichtigung der Schwierigkeiten infolge des Wohnsitzes in einem anderen Mitgliedstaat als jenem, in dem die Straftat begangen wurde.“ Die im Rahmenbeschluss geforderten Rechte und Interessen entsprachen damit weitgehend denen in bereits existierenden internationalen Resolutionen, die den europäischen Gesetzgeber inspiriert hatten.66 Thematisch betrafen die Vorgaben Information, Schutz, Unterstützung, Entschädigung und Kostenersatz des Opfers im Strafverfahren sowie in den Phasen davor und danach.67 Aktivrechte im Strafverfahren wurden dem Opfer bis auf ein Recht auf Gehör in Art. 3 nicht zuerkannt.68 In Bezug auf die in den nationalen Rechtsordnungen kontrovers diskutierte Frage, welche Position dem Opfer im Strafverfahren zukommen solle, bezog der Rahmenbeschluss keine Stellung.69 EG 9 betonte nur, dass die Mitgliedstaaten gerade nicht verpflichtet seien, dem Opfer eine Parteistellung im Strafverfahren einzuräumen. Insgesamt stand nicht die aktive Teilnahme des Opfers am Strafverfahren im Vordergrund, sondern sein Schutz vor sekundärer Viktimisierung.70 Ein Urteil des EuGH unterstützt diese Interpretation des RB 2001/220/JI: In einem nationalen Strafverfahren wollte sich ein Opfer gegen die Bestrafung des Täters aussprechen. In seinem Urteil befasste sich der EuGH daraufhin damit, welche Bedeutung der Meinung des Verletzten im Strafverfahren zukomme und ob dem Verletzten Einfluss auf die Strafzumessung eingeräumt werden müsse. Der Gerichtshof entschied, dass Art. 2 Abs. 1 RB 2001/220/JI zwar garantiere, dass sich ein Opfer tatsächlich angemessen am Strafverfahren beteiligen könne (wie, ließ er offen), der Rahmenbeschluss ihm jedoch keine Rechte hinsichtlich der Entscheidung

66 Pemberton/Rasquete, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 6, 7; dies., in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 100. 67 Siehe Art. 4 zum Recht auf Erhalt von Informationen, Art. 5 zur Unterstützung bei Kommunikations- und Verständigungsschwierigkeiten, Art. 6 zum Anspruch auf Rechtsbeistand und Art. 13 zum Zugang zu Opferhilfeorganisationen, Art. 8 zum Schutz der Privatsphäre und körperlichen Unversehrtheit und Art. 3 zum Schutz bei Befragung. Zu materiellen Bedürfnissen siehe den Anspruch auf Ausgabenerstattung in Art. 7 und auf Entschädigung durch den Täter sowie die Rückgabe sichergestellter Gegenstände in Art. 9. Für einen Überblick über den Rahmenbeschluss und die dazu ergangenen EuGH-Entscheidungen siehe Peers, EU Justice and Home Affairs Law, S. 153 ff. 68 Verfahren bedeutet gem. der Legaldefinition in Art. 1 lit. d RB 2001/220/JI: das Verfahren im weitesten Sinne, das abgesehen vom Strafverfahren alle Kontakte umfasst, die das Opfer als solches mit Behörden, öffentlichen Stellen oder Opferhilfe-Organisationen vor dem Strafverfahren, während des Strafverfahrens oder nach dem Strafverfahren unterhält. Die Studie des Europäischen Parlaments „Standing up for your right(s) in Europe“, PE 462.478, 2012, S. 121, schlussfolgert daraus, dass das Opfer auch außerhalb des eigentlichen Strafverfahrens gehört werden könne und der RB dem Opfer damit kein Aktivstellung (locus standei) im Strafverfahren einräume. 69 Ebenso Novokmet, Utrecht L. Rev. 12 (2016), 86, 90. 70 Siehe auch EG 4, 5, 6, die sich dem Ziel des RB, das Schutzniveau für Opfer zu erhöhen, widmen.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

über die Art und Höhe der Strafe einräume.71 Auch Schutz gewährleiste der Rahmenbeschluss nur vor Gefahren im Verfahren (z. B. durch das Zusammentreffen mit dem Beschuldigten am Verhandlungstag), nicht jedoch vor mittelbaren Folgen der Strafverhängung (z. B. vor negativen Folgen eines Abstandsgebots, das gegen den Täter verhängt wird).72 In der Konsequenz konnte der Verletzte seinen Wunsch nach Straferlass für den Täter nicht gegen das öffentliche Interesse an dessen Bestrafung durchsetzen. Im Grundsatz differenzierte der EuGH damit zwischen einem Recht auf Schutz im Strafverfahren, das von RB 2001/220/JI geregelt werde, und Wünschen des Verletzten bezogen auf das materielle Strafrecht, insbesondere die Sanktionierung des Täters, die nach dem Rahmenbeschluss keine Beachtung finden müssten.73 Ob Interessen des Verletzten an der Bestrafung des Täters im Strafverfahren anerkannt werden, überließ der Gerichtshof vielmehr den Mitgliedstaaten.74 Der RB 2001/220/JI verfolgte somit das Ziel, Schädigungen des Verletzten durch das Verfahren selbst (sekundäre Viktimisierung) zu verhindern. Opferinteressen an Schutz und einer schonenden Behandlung im Verfahren standen im Vordergrund.75 Ein Interesse des Verletzten an der Durchführung von Ermittlungen/der Strafverfolgung und dem Ausgang des Strafverfahrens hingegen sollten mit dem Rahmenbeschluss weder anerkannt noch verwirklicht werden76 und auch eine „impulsgebende Funktion“77 für das Opfer im Strafprozess wurde nicht eingeführt. 2. Umsetzung des RB 2001/220/JI Gemäß Art. 17 RB 2001/220/JI waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Rahmenbeschluss größtenteils innerhalb eines Jahres in nationales Recht umzu71

EuGH, 15. 9. 2011,verb. Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 56, 60. 72 EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 66 f. 73 Dazu positiv Lamont, Common Market L. Rev. 49 (2012), 1443, 1453 f. 74 EuGH, 15. 9. 2011,verb. Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 61. 75 So auch Bericht der Kommission v. 16. 2. 2004, KOM(2004)54 endg/2, S. 4: der RB diene der Schaffung eines einheitlichen und hohen Schutzniveaus für Opfer. Übereinstimmend DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 45; ebenso aufgrund einer Analyse der Gesetzgebungsgeschichte Hanloser, Gehör, S. 74 – 77; ähnlich Herlin-Karnell, in: Bergström/Cornell, European Cooperation, S. 21, 29. In diese Richtung auch EuGH, 21. 11. 2011, Rs. C-507/10 (X), Slg. 2011 I-14241 Rn. 43, der feststellt, der RB verschaffe dem Straftatopfer kein Recht, die Strafverfolgung eines Dritten herbeizuführen, um seine Verurteilung zu erreichen. Vereinzelt wird vorgebracht, der RB 2001/220/JI ziele primär auf die Verbesserung der Kooperation des Opfers mit den Strafverfolgungsbehörden, Wieczorek, New J. Europ. Crim. L. 2 (2011), 343, 344; zust. Dehing, Victims Rights, S. 23. 76 Im Ergebnis ebenso Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 95; Kuhn, ZRP 2005, 125, 126. A.A. Gaede, in: Böse, EnzEuR Bd. 9, § 3 Rn. 93. 77 GA Cruz Villaón, Schlussantrag v. 20. 10. 2011 zu der Rs. C-507/10 (X v. Y.) Rn. 53.

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon

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setzen. Die Kommission stellte indes in zwei Berichten in 2004 und 2009 fest, dass die Umsetzung unbefriedigend, teils in nur unverbindlichen Empfehlungen und lückenhaft erfolgt und eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Verfahrensvorschriften insgesamt nicht gelungen sei.78 Auch zwei externe Studien stellten den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Umsetzung des RB 2001/220/JI kein gutes Zeugnis aus. Die Studie Project Victims in Europe ergab, dass sich vor allem Vorgaben, deren praktische Einführung kostspielig ist oder die allgemeine Verfahrensgrundsätze oder Rechte des Beschuldigten tangieren könnten, nicht durchgesetzt hätten.79 Die im Auftrag der Kommission durchgeführte Erhebung des Centre for the Study of Democracy verzeichnete, dass in den meisten Mitgliedstaaten noch Handlungsbedarf bestünde und es in vielen Staaten an der praktischen Anwendung der gesetzlichen Vorgaben mangele.80 Deshalb wird reklamiert, der RB 2001/220/JI habe, obwohl von der Natur her ein hard law Instrument, nicht mehr bewirkt als die vorherigen soft law Instrumente auf internationaler Ebene.81 Verschiedene Faktoren werden als Ursache für die mangelhafte Umsetzung des RB 2001/220/JI diskutiert. Die Kommission führt als Begründung an, der Rahmenbeschluss sei zu vage formuliert gewesen und habe den Mitgliedstaaten zu viel Ermessen bei der Verwirklichung seiner Zielvorgaben eingeräumt.82 Das habe die korrekte Umsetzung erschwert und zu Untätigkeit der nationalen Gesetzgeber geführt. Ein weiterer Grund sei gewesen, dass sie die Umsetzung gegenüber untätigen

78

KOM(2009)166 endg. v. 20. 4. 2009, S. 11; KOM(2004)54 endg./2 v. 3. 3. 2004, S. 18. Allerdings wird die Evaluation der Kommission teilweise kritisiert. Ihre Bewertung beruhe oft auf unvollständigen, ungeprüften Länderberichten und sie könne die tatsächliche Übung in den Nationalstaaten nicht mit in die Bewertung einbeziehen, Pemberton/Rasquete, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 6, 9. Gerade die tatsächliche Übung sei aber bei einigen Vorgaben relevanter als die rechtliche Umsetzung, Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 104. Dies birgt die Gefahr falscher Ergebnisse. Entsprechend monierten mehrere Mitgliedstaaten, die Kommission nähme zu Unrecht an, sie hätten die Vorgaben mangelhaft implementiert. Siehe z. B. Ministery of Justice of England and Wales, Stellungnahme im öffentlichen Konsultationsprozess zum Erlass der RL 2012/29/EU, S. 5 (abrufbar unter goo.gl/a6XX6d, 2. 2. 2018); zu weiteren Ländern Pemberton/Rasquete, in: VSE, Project Victims in Europe S. 6, 9. 79 Um die Erhebungen der Kommission zur Umsetzung des RB 2001/220/JI zu komplementieren, führten die portugiesische Opferschutzorganisation APAV und das dänische INTERVICT im Auftrag von VSE eine eigene Untersuchung zur Implementierung des RB durch, siehe APAV, Victims in Europe, 2009. Zu den Ergebnissen Pemberton/Rasquete, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 6, 11. 80 Centre for the Study of Democracy, Final Study, S. 125. Zu der Studie Sanders, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 104. 81 VSE, Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Konsultation zur Vorbereitung eines neuen Opferschutzinstruments, S. 9 (goo.gl/qT2wNE, 2. 2. 2018); van Genugten u. a., Netherlands Yearbook of Internat. L. 37 (2006), 109, 151. 82 Diese Gründe nennt die Kommission in Impact Assessment, S. 7. Verhalten zustimmend Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 104.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Mitgliedstaaten nicht habe erzwingen können.83 Der Kommission ist insoweit zuzustimmen, dass der RB 2001/220/JI vage formuliert war und einen erheblichen Ermessensspielraum ließ. Eine solche Gesetzestechnik führt vorhersehbar nicht zu einer umfassenden Gleichausrichtung der nationalen Rechtslagen. Außerdem betraf der Rahmenbeschluss eine erhebliche Bandbreite verschiedener Rechtsfragen, was die Umsetzung zusätzlich komplizierte. In der Literatur wird zudem die These aufgestellt, die Mitgliedstaaten seien überzeugt gewesen, die Vorgaben des RB 2001/ 220/JI bereits zu erfüllen, und hätten außerdem schlicht keine Veränderung gewollt.84 Ergänzend sollen finanzielle Belange und Einstellungen im Justizsektor eine Rolle gespielt haben.85 Schließlich wird argumentiert, es sei aufgrund der starken Unterschiede zwischen den verschiedenen mitgliedstaatlichen Strafverfahrenssystemen unausweichlich, dass die Rechte von Verletzten in Strafverfahren differierten.86 Wegen der Systemunterschiede, der jeweiligen geschichtlichen Entwicklungen sowie der divergenten rechtlichen und politischen Kulturen in den Mitgliedstaaten sei es grds. weder möglich noch erstrebenswert, einheitliche Verfahrensrechte vorzugeben. Damit übereinstimmend stellten Pemberton/Rasquete fest, dass besonders solche Rahmenbeschlussvorgaben nicht umgesetzt wurden, die in Konflikt geraten könnten mit alt hergebrachten Prinzipien der Strafjustizsysteme.87 Dass keiner der Mitgliedstaaten die Vorgaben des RB 2001/220/JI zufriedenstellend umgesetzt hat, deutet jedenfalls auf grundlegende Schwierigkeiten mit der supranationalen Vorgabe von Opferrechten hin.88

IV. Problemfeld 1: Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme Bemühungen, Opferrechte auf internationaler Ebene zu verankern, stießen, wie gezeigt, insbesondere deshalb auf Widerstand der Nationalstaaten, weil sie befürchteten, die Vorgabe einheitlicher Opferrechte im Strafverfahren könne mit 83 Ähnlich Groenhuijsen/Pemberton, in: Morosawa et al., Victimology, S. 535, 537; Rasquete/Ferreira/ Marques, ERA Forum 2014, 119, 120 halten die fehlende Erzwingbarkeit sogar für den relevantesten Faktor für die mangelnde Umsetzung. 84 Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 36. 85 Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 111. 86 Centre for the Study of Democracy, Final Study, S. 118 f. 87 Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 111. 88 Ob Erzwingungsmöglichkeiten der Kommission solche tieferliegenden Probleme hätten lösen können, wie von der Kommission in ihren Umsetzungsberichten implizit unterstellt, ist zweifelhaft. Zumindest erscheint es wenig praktikabel, Zwangsmaßnahmen gegen alle Mitgliedstaaten zu verhängen, ebenso Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 36 Fn. 33.

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon

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Grundstrukturen ihrer Strafjustizsysteme konfligieren.89 Dieselbe Befürchtung prägte auch die Opferrechtegesetzgebung auf supranationaler Ebene: Die Frage, ob Opferrechte in den verschiedenen nationalen Systemen gleichermaßen verankert werden könnten, war einer der größten Streitpunkte in den Verhandlungen des RB 2001/220/JI.90 Zu beobachten ist dies insbesondere anhand der Gestaltung der Rahmenbeschlussvorgaben. Im Bereich der PJZS galt die Regierungsform des sog. intensiven Transgouvernementalismus.91 Gesetzgeber von Rahmenbeschlüssen war allein der Rat. Er setzte sich gem. Art. 203 Abs. 1 EGV aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene zusammen, repräsentierte also die Mitgliedstaaten. Das Initiativrecht lag ebenfalls bei letzteren oder alternativ bei der Kommission, Art. 34 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 EUV a.F.92 Erlassen werden konnten Rahmenbeschlüsse ausschließlich durch einstimmigen Beschluss aller Mitgliedstaaten, Art. 34 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 EUV a.F.93 Diese Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens gewährte den Nationalstaaten erheblichen Einfluss auf die Verfassung des RB 2001/220/JI. Im Gesetzgebungsprozess nutzten die Nationalstaatenvertreter ihre starke Verhandlungsposition vor allem, um den Inhalt des RB 2001/220/JI so zu gestalten, dass er mit ihren nationalen Rechtsordnungen bestmöglich vereinbar war und wenig Anpassungsbedarf begründete.94 Diese Bemühungen werden am prägnantesten in EG 9 offenbar. Er enthält die bereits genannte Klarstellung, dass Opfer nicht Prozessparteien gleichgestellt werden müssten. Zugleich verbürgten Artt. 5 – 7 RB 2001/ 220/JI Rechte nur für den Fall, dass das Opfer Zeuge oder Prozesspartei im Strafverfahren war. Nach dem englischen Verfahrensrecht können Verletzte jedoch nicht als Partei im Strafverfahren auftreten.95 Wurden Verletzte dort nicht als Zeugen beigezogen, waren sie von der Wahrnehmung der in Artt. 5 – 7 RB 2001/220/JI verbürgten Rechte ausgeschlossen. England selbst bestand auf dieser Fassung, um die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen seines nationalen Rechts zu verhindern.96 Darüber hinaus zeugen weitere Formulierungen des RB 2001/220/JI von 89

Siehe oben Kap. 1 A II 1. Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 510. Siehe auch Mitsilegas, After Lisbon, S. 191. 91 Lavenex, J. Europ. Public Policy 14 (2007), 762, 769 mwN. 92 Wasmeier, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG-Vertrag, Art. 34 EUV Rn. 30. 93 Die Stimmenthaltung anwesender oder ordnungsgemäß vertretener Staaten war allerdings unschädlich, Art. 41 Abs. 1 EUV a.F. i.V.m. Art. 205 Abs. 3 EGV. 94 Zum politischen Diskussionsprozess Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 516 – 518. Er berichtet auch von taktischem Vorgehen der Verhandlungsführer. Sie hätten z. B. die Entschädigung von Opfern in den ersten Rahmenbeschlussentwurf nur aufgenommen, um sie später ggf. als „Bargaining Chip“ einlösen zu können, S. 516. 95 Siehe ausführlich Kap. 3 A III 2. 96 Groenhuijsen/Pemberton, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 17 (2009), 43, 46; Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 101. Zu den Bedenken der britischen Regierung bzgl. der Integration von Opferrechten in ihre Verfahrensstruktur und ihren Bemühungen, die Einführung einer Stellung des Verletzten im Verfahren zu verhindern Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 516 ff. 90

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

einer Ablehnung verbindlicher Vorgaben. Art. 2 Abs. 1 z. B. gab den Nationalstaaten z. B. lediglich vor, sich zu bemühen, die Rechte des Opfers zu achten, gemäß Art. 10 Abs. 1 war für die Förderung von Schlichtungen nur Sorge zu tragen, wenn sie von den Mitgliedstaaten für die Straftaten als geeignet erachtet wurden, und nach Art. 13 Abs. 1 war die Einschaltung von Opferhilfestellen nur zu fördern. Gleich mehrere ausfüllungsbedürftige Begriffe enthielt Art. 2 Abs. 2. Danach stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass besonders gefährdete Opfer eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung erfahren. Vorgaben dazu, wie die Formulierungen auszulegen waren, existierten nicht. Die Mitgliedstaaten verfassten den Rahmenbeschluss folglich so, dass er ihnen bei Umsetzung und Anwendung der Vorgaben viel Auslegungsspielraum gewährte und möglichst wenig verbindlichen Änderungsbedarf begründete.97 Kritiker bemängeln deshalb, bei seiner Verhandlung sei die antizipierte Übereinstimmung von bestehender nationaler Rechtslage und Rahmenbeschlussvorgaben wesentlicher gewesen als die Verbesserung der Opferrechte.98 Andere betonen, die offenen Formulierungen der Vorgaben seien notwendig gewesen, um ihre Kompatibilität mit den divergierenden rechtlichen Kulturen sicherzustellen.99 Jedenfalls spiegelt sich hierin, dass die Nationalvertreter wie schon bei dem Versuch, Opferrechte auf internationaler Ebene vorzusehen, verbindlichen Vorgaben zu Opferrechten, die Änderungen ihrer nationalen Strafjustizsysteme hätten erforderlich machen können, kritisch gegenüber standen. Während der Einsatz für Opferbelange nach außen politisch begrüßt wurde, war das gemeinsame Handeln von Zurückhaltung geprägt. Dies manifestiert sich auch in der aufgezeigten schleppenden Umsetzung des RB 2001/ 220/JI.

97 Das weite Ermessen unterstreicht auch der EuGH, 21. 11. 2011, Rs. C-507/10 (X), Slg. 2011 I-14241 Rn. 33; 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 82; 21. 10. 2010, Rs. C-205/09 (Eredics), Slg. 2010 I-10231 Rn. 38; 9. 10. 2008, Rs. C-404/07 (Katz), Slg. 2008 I-07607 Rn. 46; 16. 6. 2005, Rs. C-105/03 (Pupino), Slg. 2005 I-05285 Rn. 54. Zu Vorgaben, die Umsetzungsbedarf begründeten Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 102. - Dazu, dass die intergouvernementale Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens dazu geführt habe, dass viele Rahmenbeschlüsse vage verfasst gewesen seien und den nationalen Gesetzgebern weites Ermessen bei der Umsetzung und Anwendung der Vorgaben gelassen hätten Lavenex, J. Europ. Public Policy 14 (2007), 762, 770. 98 Letschert/Rijken, N. J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 237. Ähnlich Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 36; Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 100 f. 99 Doak, Victims’ Rights, S. 33.

B. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten prae Lissabon

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V. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten Neben dem Schutz der eigenen Rechtsordnungen vor Veränderungen spielte auf internationalem Parkett, wie gezeigt, bei der Vorgabe von Opferrechten die Befürchtung eine tragende Rolle, die Position des Beschuldigten im Strafverfahren könne durch die Stärkung der Opferrechte beeinträchtigt werden. Auf EU-Ebene blieb eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Umsetzung von Unionsvorgaben zu Opferrechten die Position des Beschuldigten im Strafverfahren unangemessen beeinträchtigen könnte, zwar zunächst im politischen Verhandlungsprozess des RB 2001/220/JI weitgehend aus.100 In der begleitenden wissenschaftlichen Diskussion wurde jedoch bereits auf diese Problematik aufmerksam gemacht.101 Zudem wurden insbesondere solche Rahmenbeschlussvorgaben auf nationaler Ebene nicht oder nur eingeschränkt umgesetzt, die in Konflikt geraten können mit den Rechten des Beschuldigten, wie z. B. das Recht des Opfers, über die Entlassung des Verdächtigen aus der Untersuchungshaft informiert zu werden, Art. 4 Abs. 3 RB 2001/220/JI.102 Außerdem stellte der EuGH im Jahr 2005 bei der Auslegung des RB 2001/220/JI klar, dass der fair trial-Grundsatz gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK zugunsten des Beschuldigten bei der Gewährung von Opferrechten im Strafverfahren zu beachten ist.103 Auch bei Erlass, Umsetzung und Anwendung des RB 2001/220/JI spielte damit dieses bereits auf internationaler Ebene beobachtete Spannungsfeld eine Rolle.

VI. Ergebnis Die Regelung von Opferrechten erlebte auf Unionsebene einen bemerkenswert rasanten Popularitätsgewinn. Opferlobby-Organisationen ebenso wie politische Opportunitätsüberlegungen hatten daran wesentlichen Anteil.104 Obwohl die Regelung von Opferrechten auf Unionsebene unter Kompetenzgesichtspunkten unge100

Fichera, eucrim 2011, 79, 81; Zeder, EuR 2012, 34, 59. Siehe nur Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 290. 102 Pemberton/Rasquete, in: Hartmann/ado e.V., Perspektiven professioneller Opferhilfe, S. 99, 110 f. 103 EuGH, 16. 6. 2005, Rs. C-105/03 (Pupino), Slg. 2005 I-5285 Rn. 59. 104 Der Einfluss von Lobbygruppen auf den Gesetzgeber ist nicht per se negativ zu beurteilen. Opferschutzorganisationen können wichtige Informationen beitragen. Das Brüsseler Verfahren, Grün- und Weißbücher sowie Impact Assessments zu veröffentlichen, bemüht sich zudem um die notwendige Transparenz bzgl. der Einflussnahme. Problematisch ist dieser Einfluss allerdings, wenn die Macht der Lobbyverbände nicht gleich verteilt ist. So verfügen Opfer über durchsetzungsstarke Repräsentanten. Dem Beschuldigten hingegen, dessen Interessen durch die Regelungen gleichermaßen tangiert werden können, steht, soweit ersichtlich, auf EU-Ebene kein gleichermaßen durchsetzungsstarker Verfechter zur Seite. Dieses Ungleichgewicht birgt die Gefahr nicht ausbalanciertr Gesetzgebungsakte. 101

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

lösten Schwierigkeiten begegnete, überwogen insofern pragmatisch-politische Erwägungen kompetenzrechtliche Bedenken. Die auf Unionsebene erlassenen Vorgaben zu Opferrechten waren von Beginn an breit und mit wenig Augenmerk für den Subsidiaritätsgrundsatz angelegt. Die Situation von transnational betroffenen Opfern wurde zwar zur Herleitung einer Regelungskompetenz bemüht, bildete aber nie den primären Regelungsgegenstand der Rahmenbeschlussvorgaben. Von Beginn an bestand zudem eine erhebliche Dissonanz zwischen den Vorstellungen der Unionsorgane und der Mitgliedstaaten. Während insbesondere das Europäische Parlament umfassende Regelungen zu Opferrechten forcierte, favorisierten die Mitgliedstaaten zurückhaltende Vorgaben. Hierin spiegelt sich, dass auf Unionsebene die gleichen Haupteinwände gegen die harmonisierende Vorgabe von Opferrechten im Strafverfahren vorgebracht wurden wie bereits auf internationaler Ebene. Zum einen fürchteten die Mitgliedstaaten um die Kohärenz ihrer nationalen Strafjustizsysteme. Zum anderen wurde – in geringerem Umfang – die Balance zu den Beschuldigtenrechten diskutiert. Insgesamt liegt dem Engagement für Opfer prae Lissabon allerdings nicht die Ratio zugrunde, ein Interesse des Opfers an der Verfolgung des Täters mit darauf ausgerichteter aktiver Verfahrensposition anzuerkennen, sondern das Bestreben, den Opferschutz im Strafverfahren zu verbessern. Eine bestimmte Rolle im Strafverfahren wies der RB 2001/220/JI dem Opfer nicht zu. Die Umsetzung seiner Vorgaben durch die Mitgliedstaaten erfolgte gleichwohl schleppend.

C. Phase der Reflexion Nach dem Erlass des RB 2001/220/JI wurde es zunächst politisch ruhiger um die Opfer von Straftaten. Die EU bemühte sich zwar, das allgemeine Regelwerk für Straftatopfer um einige spezielle Regelungen für Opfer ausgewählter Straftaten, wie z. B. Terrorismus, Menschenhandel und Kinderpornographie, zu ergänzen.105 Zudem widmete sie sich seit 2001 der Verbesserung staatlicher Opferentschädigung.106 Das Haager-Programm107 aber, das die Unionspolitik im Bereich Justiz und Inneres für die Jahre 2005 bis 2010 festlegte, enthielt keine Ausführungen zu Opferrechten. Dies 105 Z. B. RB 2002/475/JHA zur Terrorismusbekämpfung, EU-ABl. L 164/3 v. 22. 6. 2002; RB 2002/629/JHA zur Bekämpfung von Menschenhandel, EU-ABl. L 203/1 v. 1. 8. 2002; RB 2004/68/JHA zur Bekämpfung von Kinderpornographie, EU-ABl. L 13/44 v. 20. 1. 2004. Diese Rahmenbeschlüsse sind zum Teil ersetzt und verändert worden, vgl. z. B. RL 2011/36/EU zum Schutz von Opfern von Menschenhandel, EU-ABl. L 101/1 v. 15. 4. 2011. Siehe auch Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13; Letschert/Rijken, N. J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 229. 106 Grünbuch über die Entschädigung von Opfern von Straftaten, KOM(2001)536 endg. v. 28. 9. 2001; RL 2004/80/EG zur Entschädigung von Opfern von Straftaten, EU-ABl. L 261/15 v. 6. 8. 2004. 107 Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, EU-ABl. C 53/1 v. 3. 3. 2005.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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ist deshalb verwunderlich, weil die Kommission 2004 evaluiert hatte, inwieweit die Ziele des Tampere-Programms erreicht worden seien. Dabei hatte sie konstatiert, dass die Stärkung des Opferschutzes zur Gewährleistung einer auf gemeinsamen Werten basierenden, qualitativ hochwertigen Justiz für alle Unionsbürger zukünftig eine der vorrangigen Aufgaben der Union im Strafrecht sei.108 Dies spiegelte sich im Haager Programm indes nicht wider. Victim Support Europe monierte deshalb, dass während der Laufzeit des Haager Programms der Fokus auf Opferrechte verloren gegangen sei und sich dies nachteilig auf die Opferrechte in Europa ausgewirkt habe.109 Letztlich war diese Entwicklung aber konsequent angesichts der bereits vorgenommenen Initiativen in diesem Bereich, deren Wirkung zunächst evaluiert werden sollte. Zudem rückten in dieser Periode aus der Trias Freiheit, Sicherheit und Recht vorrangig Sicherheitsbelange in das Zentrum des Interesses.110 Ein weiterer Grund dafür, dass Opferbelange zwischenzeitlich von der politischen Agenda verschwanden, soll das Fehlen effektiver Lobbyarbeit durch Opferverbände gewesen sein.111 Für etwa fünf Jahre erfolgten so jedenfalls weder politische noch legislative Vorstöße der EU zu allgemeinen Opferrechten.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon I. Primärrechtliche Rahmenbedingungen Die EU wird bei dem Erlass von Rechtsvorschriften gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung tätig.112 Auch post Lissabon benötigt sie für den Erlass von Vorgaben zu Opferrechten folglich eine Kompetenzgrundlage. Diese legt Grund und Grenzen der Harmonisierung fest und gibt die Kriterien für deren Bewertung vor. Bei Erlass des RB 2001/220/JI bestand, wie gezeigt, noch Uneinigkeit darüber, ob die EU über die notwendige Anweisungskompetenz zur Regelung von strafprozessualen Opferrechten im Allgemeinen und von Rechten in rein nationalen Sachverhalten ohne grenzüberschreitenden Bezug im Besonderen verfügte.113 Gestützt wurde der Rahmenbeschluss schließlich auf Artt. 31 Abs. 1, 34 Abs. 2 lit. b EUV a.F. Zehn Jahre später scheint dieses Problem gelöst. Ihren Vorschlag zum Erlass der RL 2012/29/EU kommentiert die Kommission mit der Bemerkung, dass die EU durch den Vertrag von Lissabon eine 108

KOM(2004)401 endg. v. 2. 6. 2004, Punkt 2.8. VSE, Mainfesto 2009, S. 4. 110 Kommission, Anhörungsfragebogen, S. 2: Opferinitiativen zählen zu „Recht“. 111 Ausführlich zu diesem Grund und seinen Hintergründen Hall, Victims and Policy Making, S. 80 f. 112 Streinz, Europarecht, Rn. 135. 113 Siehe Kap. 1 B II. 109

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

klare Rechtsgrundlage für die Festlegung von Mindestvorschriften für die Rechte von Straftatopfern erhalten habe:114 Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV.115 1. Der Regelungskontext des Art. 82 Abs. 2 AEUV Mit dem Vertrag von Lissabon ist durch die Auflösung der Säulenstruktur die vormals intergouvernemental organisierte PJZS „vergemeinschaftet“ und der supranationalen Methode unterstellt worden.116 Die Kompetenzgrundlage der EU zur Regelung von Opferrechten, Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV, bildet einen Teil des hierfür neu formulierten Regelwerkes. Die Norm befindet sich im dritten Teil, Titel V des AEUV, der dem Politikbereich des RFSR gewidmet ist, und bildet dort die Eingangsnorm des vierten Kapitels, in dem die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen geregelt wird. Systematisch ist die Kompetenz zur Regelung von Opferrechten damit dem Politikkonzept eines RFSR zugeordnet. Bereits im EG XII der Präambel des EUV findet dieses Konzept Erwähnung. EG XII normiert, dass durch den Aufbau eines RFSR die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit gefördert werden soll. Eine prominente Position erhält das Konzept auch in Art. 3 EUV, der die Ziele der Union umschreibt. Darin wird die Gewährleistung des RFSR in Abs. 2 noch vor den Zielen der Errichtung eines Binnenmarktes (Abs. 3) und einer Wirtschafts- und Währungsunion (Abs. 4) genannt. Diese zentrale Verortung im Primärrecht unterstreicht die wesentliche Rolle, die diesem Politikbereich für die europäischen Integrationsbemühungen zukommen soll.117 Übergeordnetes Ziel der Schaffung eines RFSR ist die Gewährleistung des kontrollfreien Personenverkehrs, Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 Abs. 2 AEUV. Wie dieses übergeordnete Ziel erreicht werden soll, gibt Art. 67 AEUV, die Eingangsnorm zum Politikbereich des RFSR, vor. Ein notwendiger Parameter ist danach die Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit im RFSR, Art. 67 114 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Stärkung der Opferrechte, KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 4. 115 Für die – fernliegende – Argumentation, dass einige der Vorgaben in der RL 2012/29/EU zu Opferrechten, die sich nicht unter Art. 82 Abs. 2 AEUV subsumieren lassen, stattdessen auf Artt. 67, 114, 115 AEUV gestützt werden sollen, siehe Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 253 f. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass auf diese Weise illegitim die explizit für die Vorgabe von Opferrechten primärrechtlich aufgestellten Schranken umgangen würden. Außerdem ist es inhaltlich wenig überzeugend, Artt. 114 f. AEUV für die Angleichung von Opferrechten heranzuziehen, und auch die unbegründete Behauptung, bei Art. 67 AEUV handele es sich um eine Kompetenzgrundlage, überzeugt nicht. 116 Heger, ZIS 2009, 406, 407; Streinz/Ohler/Hermann, Vertrag von Lissabon, S. 158; für eine detaillierte Darstellung der Entwicklung der strafrechtlichen Zusammenarbeit in der EU siehe Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 67 AEUV Rn. 1 – 8; Vogel, in: id., Art. 82 AEUV Rn. 1 – 9. 117 So auch Craig/de Búrca, EU Law, S. 932; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 33.

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Abs. 3 AEUV. Denn die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts soll insbesondere nicht dadurch behindert werden, dass sich die Unionsbürger in Teilen der EU unsicher fühlen oder die offenen Grenzen zur Straftatbegehung missbraucht werden.118 Dieses Zwischenziel der Sicherheitsgewährung wiederum soll unter anderem durch die strafjustizielle Zusammenarbeit befördert werden. Darunter ist die gegenseitige Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Strafverfolgung und Strafvollstreckung einer in einem Mitgliedstaat anhängigen konkreten Strafsache zu verstehen.119 Diese Zusammenarbeit ihrerseits basiert – seit dem Lissaboner Vertrag auch primärrechtlich und nicht nur politisch angeordnet120 – vorrangig auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, Artt. 67 Abs. 3, 82 Abs. 1 Uabs. 1 AEUV. Nach diesem Rechtsprinzip muss der Vollstreckungsstaat eine vom Anordnungsstaat übermittelte Entscheidung ohne weitere Überprüfungen als solche anerkennen und ihr zur Geltung verhelfen.121 Nur sekundär – vgl. Artt. 67 Abs. 3 (erforderlichenfalls), 82 Abs. 2 Uabs. 1 AEUV (soweit erforderlich) – soll auch die Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften für die strafjustizielle Zusammenarbeit fruchtbar gemacht werden. Dafür soll die Angleichung der nationalstaatlichen Normen gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtsstaatlichkeit der Strafverfolgungssysteme und -tätigkeiten der jeweils anderen Mitgliedstaaten schaffen. Auf Grundlage dieses Vertrauens soll sodann die Zusammenarbeit nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung erfolgen. Die Vorgabe von Mindeststandards in den in Art. 82 Abs. 2 AEUV genannten Bereichen soll folglich die Anwendung des Anerkennungsrundsatzes erleichtern.122 Insofern dient die auf Teilbereiche begrenzte unionsrechtliche Harmonisierung des nationalen Rechts als Hilfsmittel der gegenseitigen Anerkennung und Zusammenarbeit.123 In diesen Kontext ist auch die Kompetenznorm in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV zum Erlass von Mindestvorschriften für Opferrechte einzuordnen. Danach muss die Angleichung der Rechte von Straftatopfern zur Erleichterung der gegenseitigen 118

Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 67 AEUV Rn. 111. Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 7; Vogel/Eisele, in: Grabitz/ Hilf/Nettes-heim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 14. 120 Als kriminalpolitisches Postulat war dieser für die Errichtung des Binnenmarktes entwickelte Grundsatz bereits seit dem Europäischen Rat von Tampere 1999 der Eckstein der PJZS, vgl. die Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Bull. EU 10-1999, S. 7, 12 – Nr. 33. Der Vertrag von Lissabon hat ihn in Artt. 67 Abs. 3, 82 Abs. 1 Uabs. 1 AEUV zum Rechtsprinzip erhoben, Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 13 f.; Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 9 f. 121 Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 9; Zerdick, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 82 AEUV Rn. 3. 122 Sie dient nicht wie die in Art. 82 Abs. 1 Uabs. 2 AEUV aufgezählten Instrumente der Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, Böse, in: Ambos, EuStrR postLissabon, S. 57, 65. 123 Böse, in: Ambos, EuStrR post-Lissabon, S. 57, 65; Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 10; Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 47. 119

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Anerkennung und der Zusammenarbeit erforderlich sein. Ihre Harmonisierung ist also weder Regelfall noch Selbstzweck, sondern ist einzig – worauf im Detail zurückzukommen sein wird – im Dienste des unionsrechtlich vorgegebenen Ziels zulässig, die Anerkennung und strafjustizielle Zusammenarbeit abzusichern. In den Primärverträgen ist damit eine „gestufte“ Zweckverfolgung angelegt: Die Rechtsangleichung dient der Vertrauensbildung, diese wiederum der gegenseitigen Anerkennung, die Mittel der strafjustiziellen Zusammenarbeit ist, welche als übergeordnetes Ziel Sicherheit im RFSR schaffen soll, sodass schlussendlich das ultimative Integrationsziel des freien Personenverkehrs erreicht werden kann. Diese gestufte Verfolgung von Zwischenzielen ist bei der Auslegung der Kompetenznorm zu berücksichtigen.124 2. Mindestvorschriften betreffend die Rechte von Straftatopfern Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV ermächtigt die EU, durch Richtlinien Mindestvorschriften für Rechte von Straftatopfern vorzugeben. Dass anders als im Fall des Art. 82 Abs. 1 Uabs. 2 AEUV nur Richtlinien und keine Verordnungen erlassen werden können, zeigt die Sensibilität des Regelungsbereichs und die Notwendigkeit, die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu achten. Die Voraussetzung der Mindestvorschrift beschränkt die EU allerdings nicht auf die Vorgabe eines möglichst niedrigen Schutzniveaus. Grenzen können sich insofern nur aus den anderen Schranken der Kompetenzgrundlage ergeben. Zugleich kann die EU durch eine Minimalharmonisierung die ihr übertragene Kompetenz an die Mitgliedstaaten zurückgeben.125 Sie ist also nicht verpflichtet, von der Kompetenz in größerer Detaildichte Gebrauch zu machen. a) Das Opfer einer Straftat im Primärrecht Profiteur der gem. Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV erlassenen Mindeststandards sind Opfer von Straftaten. Diese Herausstellung des Opfers in einer eigenen Kompetenznorm ist aufgrund des systematischen Kontextes der Norm zumindest bemerkenswert. Art. 82 Abs. 2 AEUV eröffnet vier unterschiedliche Themenbereiche der unionsrechtlichen Harmonisierung: die Zulässigkeit von Beweisen (lit. a), die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren (lit. b), die Rechte der Opfer von Straftaten (lit. c) und sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens. Auf Grundlage des 124 Zur teleologischen Auslegung unionsrechtlichen Primärrechts anhand der Vertragsziele siehe Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 7 Rn. 28 f. 125 So geschehen z. B. in Bezug auf die Vorgabe in der RL 2012/29/EU, welche Opfer als besonders schutzbedürftig zu klassifizieren seien. Nachdem sich Parlament und Rat im Gesetzgebungsprozess hierüber nicht einigen konnten, wurde die Aufzählungsliste gestrichen und die nähere Regelung des Anerkennungsverfahrens den Mitgliedstaaten überlassen, krit. Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90 ff.

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Art. 82 Abs. 2 lit. b AEUV können also die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren angeglichen werden. Einzelner ist neben dem Beschuldigten auch ein am Strafverfahren beteiligter Dritter, z. B. ein Zeuge.126 Zur Gruppe der Dritten würde an sich auch das Straftatopfer zählen. Seine strafprozessualen Rechte hätten damit problemlos unter „Rechte des Einzelnen“ subsumiert und gem. Art. 82 Abs. 2 lit. b AEUV harmonisiert werden können.127 Stattdessen haben sich die Vertragsparteien dazu entschieden, von allen möglichen Verfahrensbeteiligten einzig die Straftatopfer als besondere Gruppe in Artikel 82 Abs. 2 AEUV gesondert hervorzuheben und der Vorgabe ihrer Rechte eine eigene Kompetenznorm zu widmen. Zudem folgt aus dem Zusammenspiel von Art. 82 Abs. 2 AEUV mit Art. 82 Abs. 1 Uabs. 1 AEUV und Art. 83 AEUV, dass Art. 82 Abs. 2 AEUV grundsätzlich die Angleichung des Strafverfahrensrechts regelt.128 Bekräftigt wird dieser Befund durch Art. 82 Abs. 2 lit. d AEUV, der als Auffangnorm sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens zur Angleichung freigibt und damit impliziert, dass auch die Kompetenzen in lit. a-c strafverfahrensrechtliche Aspekte betreffen. Maßnahmen gegenseitiger Anerkennung im Kontext des Strafverfahrens betreffen jedoch primär die Rechtsstellung des Beschuldigten und nicht die des Opfers. Die Kompetenz zur Angleichung der Opferrechte ist deshalb sogar als „Fremdkörper“ in Art. 82 Abs. 2 AEUV bezeichnet worden.129 Dies wirft die Frage auf, weshalb gerade die Opfer von Straftaten im Katalog des Art. 82 Abs. 2 AEUV eine explizite Hervorhebung erfahren haben. Der „Vorgänger“ des Art. 82 Abs. 2 AEUV, Art. 31 Abs. 1 lit. c EUVa.F. enthielt noch keine Referenz zu Opferrechten. Erwähnung fand die Opferrechtekompetenz vielmehr zum ersten Mal in den Verhandlungen um einen Verfassungsvertrag für Europa und mündete in Art. III-171 EVV-KonvE. Als solche überdauerte sie über Art. III-270 EVV bis zu Art. 82 Abs. 2 AEUVabgesehen von redaktionellen Verweisungen wortidentisch alle folgenden Reformdiskussionen.130 Eine Begründung dafür, die Kompetenz zur Regelung von Opferrechten in den Kontext der Angleichung des Strafverfahrensrechts aufzunehmen und Opfer explizit herauszuheben, findet sich nicht. Die Beweggründe des Verfassungskonvents bzw. der Vertragsparteien hinter dieser Gestaltung der Kompetenznorm lassen sich deshalb nur mutmaßen. Vermutlich sollte mit der Norm 126 Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 46; Satzger, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 51; Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 Rn. 103. 127 Ebenso Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 Rn. 103, die davon ausgehen, der Anwendungsbereiche von lit. b und lit. c überschnitten sich. Genauer ist es bei der gegenwärtigen Rechtslage aber, die Kompetenz in lit. c als lex specialis gegenüber der in lit. b einzuordnen. 128 I. E. ebenso Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 2; Vogel/Eisele, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 84. Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 247, gehen ähnlich davon aus, dass Art. 82 Abs. 2 AEUV zumindest suggeriere, dass auf seiner Grundlage nur formelles Recht angeglichen werden könne. 129 Schünemann, Europäisierung, S. 331; ders., ERA Forum 2011, 445, 455. 130 Hassemer, ZStW 116 (2004), 304, 307 f.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

auf die Erfahrungen mit dem Streit über die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des RB 2001/220/JI reagiert werden. Mit einer ausdrücklichen Kompetenznorm konnte allen potentiellen Einwänden, Opferrechte zu regeln unterfiele keiner EUKompetenz, zuvorgekommen werden. Opferrechte vorgeben zu können, stand zudem schon lange im Mittelpunkt des politischen Interesses. Sowohl bei Erlass des RB 2001/220/JI als auch bei Erlass der Richtlinie zur staatlichen Entschädigung von Opfern auf Grundlage des Art. 308 EGV waren Zweifel an der Ermächtigungsgrundlage laut geworden.131 Schon kurz nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wurde von der neuen Kompetenz Gebrauch gemacht und eine Richtlinie zu Opferrechten erlassen, unter explizitem Hinweis auf die jetzt bestehende „klare[n] gesetzliche[n] Grundlage“132. Dies alles legt den Schluss nahe, dass die Anordnungskompetenz bzgl. der Opferrechte weniger deshalb in die Verträge aufgenommen wurde, weil einheitliche Opferrechte nach Ansicht der EU die Zusammenarbeit verbessern würden oder weil die EU ein bestimmtes Konzept zur Verortung von Opferrechten in den Strafverfahrenskontext verfolgt hätte, sondern vielmehr aufgrund des politischen Willens, diesen Bereich regeln zu können. Jedenfalls unterstreicht diese singuläre Hervorhebung des Opfers in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV die Bedeutung, die die EU dem Straftatopfer beimisst. Denn dem Primärrecht ist so die ausdrückliche Wertung zu entnehmen, dass ihm ein angestammter Platz im Strafjustizsystem zukomme. Relevanz entfaltet diese unionsrechtliche Wertung für die Auslegung des Art. 82 AEUV sowie des auf seiner Grundlage erlassenen Sekundärrechts. Beschränkungen des Personenkreises – z. B. in Bezug auf die Staatsbürgerschaft oder die rechtliche Persönlichkeit – sind in dem primärrechtlichen Opferbegriff nicht angelegt. Die im Sekundärrecht zu findende Limitierung des Anwendungsbereichs von Opferrechten auf natürliche Personen ist damit primärrechtlich nicht gefordert.133 Theoretisch könnte der Unionsgesetzgeber den Forderungen, die von ihm normierten Rechte auch auf von Straftaten betroffene juristische Personen zu erstrecken,134 folglich nachkommen. Eine Beschränkung des Personenkreises, für den unionsrechtlich Opferrechte normiert werden kann, folgt allerdings aus der Voraussetzung, dass die harmonisierten Rechte die Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU erleichtern müssen. Ein Recht auf Unterstützung für Opfer außerhalb der

131

Siehe z. B. BR-Drucks. 801/1/02 v. 3. 2. 2003, S. 1 f. KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 4. Zur RL 2012/29/EU siehe ausführlich Kap. 2. 133 Siehe Art. 2 Nr. 1 lit. a RL 2012/29/EU; Art. 1 lit. a RB 2001/220/JI. Auch in den hierzu ergangenen Urteilen des EuGH wurde die Beschränkung auf natürliche Personen stets dem Wortlaut und Regelungszusammenhang des Sekundärrechts entnommen, nicht dem Primärrecht, vgl. EuGH, 28. 6. 2007, RS. C-467/05 (Dell’Orto), Slg. 2007 I-05557 Rn. 53 – 56, bestätigt EuGH, 21. 10. 2010, RS. C-205/09 (Eredics), Slg. 2010 I-10231 Rn. 25. 134 So z. B. Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme, EU-ABl. C 43/ 41 v. 15. 2. 2012, Punkt 4.3.3; Peers, EU Justice and Home Affairs Law, Vol. II, S. 159. 132

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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Union und unabhängig von einem in der EU geführten Strafverfahren ließe sich damit z. B. nicht auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV assimilieren.135 b) Rechte eines Straftatopfers im Primärrecht Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV normiert, der Unionsgesetzgeber könne Rechte der Opfer von Straftaten vorgeben. Dies wirft die Frage auf, welche konkreten Rechte auf Grundlage dieser Kompetenz angeglichen werden dürfen. aa) Begrenzung auf Rechte im Strafverfahren? Die Abfassung der Kompetenznorm sticht mit der Formulierung „die Rechte der Opfer von Straftaten“ aus der Aufzählung in Art. 82 Abs. 2 Uabs. 2 AEUV heraus. Anders als die Kompetenz in lit. b, die ausdrücklich auf die Vorgabe von Rechten des Einzelnen „im Strafverfahren“ beschränkt ist, und die Kompetenz in lit. d, die „sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens“ der Angleichung anheimstellt, enthält lit. c keinen bereichsbeschränkenden Zusatz. Die Interpretation dieser differierenden Formulierung wirkt sich erheblich auf die Reichweite der Kompetenznorm aus. Wäre sie so auszulegen, dass auch lit. c nur die Vereinheitlichung von Rechten im Strafverfahren deckt,136 wäre der Umfang der Kompetenz je nach Auslegung des Begriffs „Strafverfahren“ zeitlich wie inhaltlich begrenzt. Die Angleichung von Opferrechten, die zum Strafverfahren gegen den Beschuldigten keine unmittelbare Verbindung aufweisen, wäre auf ihrer Grundlage jedenfalls nicht möglich. Ausgeschlossen wäre damit beispielsweise die Harmonisierung eines Rechts auf Zugang zu Unterstützungsdiensten außerhalb des Strafprozesses oder auf präventiven Schutz vor wiederholter Viktimisierung unabhängig von einem anhängigen Strafverfahren. Mittels Auslegung ist daher zu ermitteln, ob Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV nur dazu ermächtigt, Rechte des Verletzten im Strafverfahren oder auch Rechte über den Prozesszusammenhang hinaus anzugleichen. Der Wortlaut der Norm begrenzt die Angleichungsbefugnis gerade nicht auf Verfahrensrechte und legt damit ein weites Verständnis nahe. Dieses Ergebnis wird bekräftigt durch einen Vergleich der Normtexte der Kompetenzen in lit. c und b. Denn letzterer gibt ausdrücklich nur die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren zur Angleichung frei. Eingewendet werden könnte zwar, dass diese Differenzierung im Wortlaut keine inhaltliche Bedeutung habe, sondern nur dazu diene, in unterschiedlicher Weise zu spezifizieren, die Rechte welcher Personen gemeint sind – im Fall von lit. b also etwa die des Einzelnen gerade im Strafverfahren statt im Zivilverfahren, und im Fall von lit. c die des Opfers einer Straftat anstatt z. B. einer Unwetterkatastrophe. Dieser strafrechtliche Bezug ergibt sich allerdings bereits aus 135 Siehe auch Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 386; EG 13 RL 2012/ 29/EU. 136 In diese Richtung Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 247.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

dem allgemeinen Regelungskontext von Art. 82 AEUV, der die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen betrifft. Wäre es den Mitgliedstaaten bei der Formulierung des Vertragstextes lediglich um eine solche personelle Klarstellung gegangen, hätte zudem die Verwendung der parallelen Formulierung „Rechte der Opfer im Strafverfahren“ näher gelegen. Die grammatische Auslegung unterstützt daher die Annahme, dass die Kompetenz bzgl. der Opferrechte gerade nicht auf die Vorgabe von Rechten im Strafverfahren beschränkt sein soll, sondern auch die Harmonisierung von Rechten außerhalb des Strafverfahrens abdeckt.137 Allerdings könnten systematische Argumente dafür sprechen, dass die Norm verengend auszulegen ist und nur Verfahrensrechte auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUVangeglichen werden können. Erläutert wurde bereits, dass Art. 82 Abs. 2 AEUV speziell der Angleichung formellen Strafrechts gewidmet ist.138 Außerdem regelt Art. 82 AEUV insgesamt die Zusammenarbeit in Strafsachen. Strafsachen im unionsrechtlichen Sinne sind Verfahren, in denen Straftaten ermittelt, verfolgt und abgeurteilt oder Strafen vollstreckt werden, nicht aber Zivil- oder Sozialsachen, selbst wenn diese ausnahmsweise eine Straftat zum Gegenstand haben.139 Könnten auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV Opferrechte außerhalb des Strafverfahrens angeglichen werden, würden auch Themengebiete der potentiellen Vereinheitlichung unterstellt, die zwar im Sachzusammenhang mit Opferinteressen, aber außerhalb des strafrechtlichen Regelungskontextes stünden. Dies betrifft z. B. Unterstützungsmaßnahmen psychologischer, medizinischer oder rein praktischer Art für Opfer außerhalb des Strafverfahrens. Staatlichen Regelungen in diesen Bereichen liegt der Gedanke der sozialen Unterstützung zugrunde; ihrer Natur nach betreffen sie damit das Sozial-, und nicht das Strafrecht.140 Es wäre systematisch wenig überzeugend, eine Kompetenz zur Regelung sozialrechtlicher Fragestellungen in einem Kapitel zur strafjustiziellen Zusammenarbeit zu verorten. Einer Auslegung, nach der auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 AEUV auch Opferrechte außerhalb des strafprozessualen Kontextes angeglichen werden könnten, könnte damit entgegen gehalten werden, dass sie die Kompetenz aus ihrem Regelungskontext isolieren würde. Dagegen ist indes einzuwenden, dass das Ziel, nur Rechte im strafrechtlichen 137

So auch (ohne Begründung) Böse, in: ders., Enz EuR Bd. 9, § 4 Rn. 44; ders., in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 49; Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 110. 138 Siehe oben Kap. 1 D I 2 a). 139 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 12 f.; a.A. Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 49, der aufgrund eines extensiven Verständnisses der strafrechtlichen Zusammenarbeit auch die Unterstützung von Opfern darunter fasst. 140 Vergleichbar, zu nationalen Opfer-Servicerechten Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 282; ähnlich Kleinert, Mitwirkung, S. 351. Gleiches gilt für die staatliche Opferentschädigung. Deshalb wurde z. B. auch die RL 2004/80/EG zur Entschädigung der Opfer von Straftaten, EUAbl. L 261/15 v. 6. 8. 2004, nicht auf Art. 31 EUV a.F., sondern auf Art. 308 EGV gestützt, und nicht mit einer Verbesserung der Zusammenarbeit begründet, sondern damit, dass der freie, diskriminierungsfreie Personenverkehr gewährleistet werden solle, EG 1, 2 RL 2004/80/EG.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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Kontext anzugleichen, durch eine andere Schranke der Kompetenznorm garantiert ist, und zwar durch die Voraussetzung der Erforderlichkeit zur Erleichterung der strafjustiziellen Zusammenarbeit. Außerdem ergibt sich eine Begrenzung der Regelungsmacht aus Art. 82 AEUV aus der Binnensystematik der Primärverträge und dem Nebeneinander der verschiedenen Politikbereiche.141 Denn eine Angleichung von Opferrechten insbesondere aus dem sozialrechtlichen Bereich auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV würde Konflikte mit den Kompetenzbeschränkungen in anderen Politikbereichen heraufbeschwören. Würde bspw. die einheitliche medizinisch-psychologische Betreuung eines Verletzten auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV geregelt, könnten dadurch die engen Grenzen der Unionskompetenz im Bereich des Gesundheitswesens in Art. 168 AEUV ausgehebelt werden.142 Die EU muss Art. 82 Abs. 2 AEUV deshalb ohnehin in einer Weise zur Anwendung bringen, mit der Restriktionen in anderen Politikbereichen nicht unterlaufen werden.143 Dafür und zur Erhaltung der systematischen Kohärenz ist es damit zumindest nicht notwendig, den Begriff des Rechts in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV verengend auszulegen. Für eine einschränkende Auslegung könnte allerdings der strafrechtsspezifische Schonungsgrundsatz sprechen.144 Nach diesem Grundsatz sind übermäßige Eingriffe in die nationalen Strafrechtssysteme zu vermeiden. Würde die Kompetenz zur Angleichung der Opferrechte so ausgelegt, dass sie nicht auf Verfahrensrechte beschränkt ist, würde eine wesentliche Begrenzung der Befugnis der Union im Vergleich zu den anderen drei Regelungsbereichen in Art. 82 Abs. 2 AEUV eliminiert. Dies entspricht nicht dem allgemeinen Grundsatz, die Strafjustizsysteme besonders zu schonen. Allerdings enthält Art. 82 Abs. 2 AEUV noch weitere Schranken, die gerade dazu dienen, die Mitgliedstaaten vor unverhältnismäßigen Eingriffen in ihre

141

Siehe auch Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 391. Beim Erlass der RL 2012/29/EU wurde dieses Problem praktisch relevant. Art. 7 Abs. 2 lit. c des Vorschlags für eine Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe, KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011 hatte vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten Opferunterstützungsdienste garantieren sollten, zu deren Mindestangebot psychologische Unterstützung gehören müsse. Während die Mitgliedstaaten die Vorgabe vollständig zu streichen versuchten, siehe Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 8 Abs. 1 lit c, stellt Art. 9 Abs. 1 lit. c RL 2012/29/EU die Verfügbarkeit psychologischer Unterstützung nun in das Ermessen der Mitgliedstaaten. Eine zwingende Vorgabe zu diesem medizinischen Bereich auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 AEUV wäre in Konflikt geraten mit Art. 168 Abs. 7 AEUV; siehe dazu Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 391. 143 Ebenso Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 391. 144 Diesen Begriff hat Satzger, Europäisierung des Strafrechts, S. 166 – 174 geprägt. Nach diesem Grundsatz, der in der Verpflichtung zur Achtung der nationalen Identitäten wurzelt, sind übermäßige Eingriffe in die nationalen Strafrechtssysteme zu vermeiden. Die Einflussnahme auf nationale Strafrechtsordnungen steht unter einem besonderen Verhältnismäßigkeitsvorbehalt, id. S. 170. Satzger greift ihn auch in Bezug auf die neuen Regelungen auf in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 3; ebenso zum neuen Recht Heger, ZIS 2009, 406, 408. 142

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Strafjustizsysteme zu schützen, sodass der strafrechtsspezifische Schonungsgrundsatz nicht zwingend eine zusätzliche verengende Auslegung des Wortlauts erfordert. Ein wichtiges teleologisches Argument spricht schließlich gerade dafür, Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV so auszulegen, dass er grds. alle Rechte von Straftatopfern zur Harmonisierung freigibt. Auf Grundlage des Art 82 Abs. 2 Uabs. 2 lit. b AEUV können die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren angeglichen werden. Zu dem Einzelnen würde an sich – wie dargelegt – auch das Opfer zählen. Opferrechte im Strafverfahren hätten damit problemlos unter „Rechte des Einzelnen“ im Sinne des Art. 82 Abs. 2 lit. b AEUV subsumiert und unter den gleichen Bedingungen harmonisiert werden können.145 Würde Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV so ausgelegt, dass er nur die Rechte des Opfers im Strafverfahren erfasst, würde die Kompetenznorm bedeutungslos. Denn die identischen Regelungen könnten auch auf Grundlage von lit. b erlassen werden. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass eine überflüssige Norm in die Primärverträge aufgenommen werden sollte. Soll die Norm nicht jeglichen Zwecks beraubt werden, darf sie folglich nicht verengend ausgelegt werden. Zusammenfassend ergibt die grammatische und teleologische Auslegung von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV, dass auf seiner Grundlage nicht nur strafprozessuale Rechte harmonisiert werden können. Der systematische Zusammenhang der Norm ist ambivalent. Soweit er nahe zu legen scheint, dass auf ihrer Grundlage nur Verfahrensrecht angeglichen werden kann, würde diese Auslegung die Norm leerlaufen lassen. Dies widerspräche dem Grundsatz des unionsrechtlichen effet utile. Deshalb ist davon auszugehen, dass Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV nicht auf die Angleichung von Rechten im Strafverfahren beschränkt ist. bb) Begrenzung auf genuine Opferinteressen? Die Rechte, die auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV vereinheitlicht werden können, sind damit zwar nicht auf Verfahrensrechte beschränkt, könnten aber einer anderen inhaltlichen Grenze unterliegen. Angleichungsobjekt sind ausdrücklich die Rechte der Opfer von Straftaten. Dies legt nahe, dass es sich um Rechte handeln muss, die genuine Opferinteressen betreffen. Unterstützt wird diese Annahme vom binnensystematischen Regelungskontext des Art. 82 Abs. 2 AEUV. Art. 82 Abs. 2 lit. d AEUV gestattet, dass sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens angeglichen werden können, wenn dies zuvor durch einen einstimmigen Ratsbeschluss mit Parlamentszustimmung bestimmt wurde. Damit gibt die Norm Aspekte zur Angleichung frei, die nicht bereits unter lit. a-c fallen, und unterstellt deren Harmonisierung besonderen Voraussetzungen. Daraus folgt, dass lit. a-c nicht so ausgelegt werden dürfen, dass auf ihrer Grundlage sonstige Aspekte des Strafverfahrens ohne Einhaltung der besonderen Anforderungen des lit. d – also ohne vorherigen einstimmigen Ratsbeschluss mit Parlamentszustimmung – angeglichen 145

Siehe schon oben Kap. 1 D I 2 a).

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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werden können. Konkret darf die Kompetenz zur Angleichung von Opferrechten nicht so angewendet werden, dass unter dem Deckmantel der Opferrechte andere Aspekte des Strafverfahrens harmonisiert werden. Stattdessen dürfen nur echte Opferrechte mit der Intention, die Position des Opfers zu regeln, angeglichen werden. Diese Auslegung wird bekräftigt durch die besondere Stellung des Opfers, die die Vertragsväter ihm durch den Erlass einer eigenen Kompetenznorm neben den sonstigen Beteiligten im Strafverfahren zuerkannt haben. Ein hypothetisches Beispiel mag diese Einschränkung verdeutlichen. Die EU könnte nicht auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV vorgeben, dass Opfer das Recht erhalten sollen, an der Wahl der Geschworenen im Strafverfahren mitzuwirken, um so indirekt in allen Mitgliedstaaten ein Geschworenensystem einzuführen. Wollte die Union ein Geschworenensystem einführen, müsste sie diese Vereinheitlichung als sonstigen Aspekt des Strafverfahrens auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. d AEUV angehen, anstatt die Befugnis zur Geschworenenwahl als Opferrecht auszugeben und so über lit. c flächendeckend ein solches System zu implementieren. Diese Begrenzung auf die Angleichung genuiner Opferinteressen wirkt sich u. U. selten äußerlich aus. Die Intention, mit der die Angleichung geschehen muss, ist aber für die primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts relevant. Denn sie bedingt, dass auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV erlassenes Sekundärrecht so interpretiert wird, dass die vorgegebenen Rechte stets dem Zweck dienen, genuine Opferinteressen zu befriedigen und nicht anderweitige Ziele im Verfahrensrecht umzusetzen.146 cc) Unbeschränkte Abweichungskompetenz der Mitgliedstaaten? In engem Zusammenhang mit der Voraussetzung, Mindestrechte für Straftatopfer vorzugeben, steht die Regelung des Art. 82 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV. Sie gestattet den Mitgliedstaaten, über die Unionsregelungen hinaus ein höheres Schutzniveau für den Einzelnen vorzusehen. Was im Rahmen von Mindestvorschriften wie eine reine Klarstellung daherkommt,147 entpuppt sich bei näherem Hinsehen in manchen Konstellationen als konfliktträchtig. Denn der Begriff des Einzelnen in Uabs. 3 umfasst unterschiedliche Akteure, wie Beschuldigte, Zeugen und Opfer, die antagonistische Schutzinteressen haben können. Erhöht ein nationaler Gesetzgeber das Schutzniveau zugunsten des einen Beteiligten, kann dies implizit das Schutzniveau für einen anderen reduzieren. Gerade im Spannungsfeld von Beschuldigten- und Opferinteressen wird dies akut. Auch wenn dieses Phänomen zumeist aus der Perspektive des Opfers erörtert wird, dessen Rechte durch einen ausgedehnten nationalen Beschuldigtenschutz bedroht werden können,148 kann es ebenso mit entge146

Siehe hierzu konkret Kap. 2 A IV 2 b) aa). Rosenau/Petrus, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Unionsrecht, Art. 82 AEUV Rn. 21. 148 Siehe etwa Böse, in: Ambos, EuStrR post-Lissabon, S. 57, 69. 147

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

gengesetzten Vorzeichen auftreten, z. B. wenn stärkerer Opferschutz Mindestrechte des Beschuldigten konterkariert. Durch nationale Abweichungen kann somit zum einen die unionsrechtlich anvisierte Harmonisierung und damit Vertrauensbildung behindert werden, zum anderen kann die Verfahrensbalance gestört werden. Diskussionsbedürftig ist daher, wie weit die Mitgliedstaaten von den Mindestvorschriften abweichen dürfen. Insofern wird zum Teil vorgetragen, der Unionsgesetzgeber müsse in Konfliktsituationen bereits durch die Mindestvorgaben die gegenläufigen Interessen im Sinne praktischer Konkordanz vollständig ausgleichen, weshalb den Mitgliedstaaten in der Folge ausnahmsweise die Abweichung untersagt sei.149 Allerdings würde Art. 82 Abs. 2 Uabs. 3 AEUV so in einigen Fällen vollständig leer laufen, was schwer vereinbar wäre mit dem Grundsatz, dass nur Mindestvorschriften ergehen dürfen, und damit, dass Art. 82 Abs. 2 Uabs. 3 AEUV Ausdruck des strafrechtlichen Schonungsgrundsatzes ist.150 Zum anderen wird vorgeschlagen, die EU sei verpflichtet, Mindeststandards nur in einem Rahmen vorzugeben, der den Mitgliedstaaten ausreichend Raum lasse, nach ihrem Ermessen innerhalb des nationalen Rechts die Schutzinteressen zum Ausgleich zu bringen.151 Diese Interpretation würde allerdings die Unionskompetenz erheblich einschränken. Stattdessen ist die Reichweite der Abweichungskompetenz im Lichte des sonstigen Unionsrechts zu bestimmen. Die Treuepflicht gem. Art. 4 Abs. 3 Uabs. 3 EUV untersagt den Mitgliedstaaten, die Verwirklichung der Unionsziele zu gefährden. Soll durch Mindeststandards das gegenseitige Vertrauen gefördert werden, ist es den Mitgliedstaaten schon unter diesem Aspekt verboten, durch die Normierung gegenläufiger Rechte diese Mindeststandards vollständig zu entkräften und so die Vertrauensbildung zu gefährden. Damit werden dem Abweichungsrecht aus Art. 82 Abs. 2 Uabs. 3 AEUV Grenzen gesetzt. Die EU und die Mitgliedstaaten sind zudem im gemeinsamen Interesse an einer rechtsstaatlich gebotenen ausbalancierten Strafrechtspflege gefordert, keinen Beteiligten ungerecht zu bevorzugen. Innerhalb dieses Rahmens ist in jedem Einzelfall zu beurteilen, wie weit Mitgliedstaaten über den Unionsstandard hinausgehen dürfen. c) (K)ein normatives Konzept zu Opferrechten im Primärrecht Über die Vorgabe hinaus, dass es sich um genuine Rechte von Straftatopfern handeln muss, konkretisiert die Voraussetzung „Rechte der Opfer von Straftaten“ in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV nicht näher, welche Opferrechte harmonisiert werden können. Auch übergeordnete Maßstäbe dazu, wie die Rolle des Verletzten im Strafverfahrensgefüge durch die Harmonisierungsvorschriften ausgestaltet werden 149 Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 45; zust. Hauck, in: Böse, Enz EuR Bd. 9, § 11 Rn. 56; Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 93. 150 Ebenso Böse, in: Ambos, EuStrR post-Lissabon, S. 57, 70; ders., in: Schwarze, EUKommentar, Art. 82 AEUV Rn. 54. 151 So Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 54.

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soll, stellt Art. 82 AEUV nicht auf. Speziell für die Opferrechte wird die mögliche Regelungspalette zusätzlich dadurch erweitert, dass die Begrenzung auf Rechte im Strafverfahren im Gegensatz zu den anderen in Art. 82 Abs. 2 AEUV genannten Bereichen fehlt. Grenzen ergeben sich nur aus den weiteren Voraussetzungen der Kompetenzgrundlage. Zum Teil wird diese Offenheit der Kompetenznorm kritisiert.152 Jedenfalls büßt Art. 82 Abs. 2 AEUV durch die weite Fassung von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV seine strafverfahrensrechtliche Ausrichtung partiell ein und verliert damit an Kontur.153 Auf der anderen Seite wird der Offenheit der Kompetenznorm zugute gehalten, dass eine primärvertraglich fixierte Vorgabe konkreter Einzelheiten Gefahr liefe, mit fundamentalen (nationalen) Regeln zu konfligieren.154 Die Ausgestaltung von Einzelheiten solle einer gesetzlichen Ebene unterhalb der Unionsverträge vorbehalten bleiben. Dem ist insofern zuzustimmen, als auf sekundärrechtlicher Ebene einfacher und zügiger Bewertungsveränderungen einer demokratischen155 Diskussion unterworfen werden können und ggf. das Regelungsgefüge neu justiert werden kann. Faktisch wird dem Unionsgesetzgeber jedenfalls ein weiter Entscheidungsspielraum eröffnet, welche Rechte des Straftatopfers er angleicht und welche Position er ihm im Verfahrensgefüge zuerkennt. Ein normatives Konzept – etwa ausgerichtet an einem retributiven oder restorativen Verfahrensmodell –, das die Union bei der Angleichung der Opferrechte verfolgen müsste, wird durch die Formulierung „Rechte der Opfer von Straftaten“ nicht vorgegeben. 3. Erforderlichkeit zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung und Zusammenarbeit Art. 82 Abs. 2 AEUV knüpft die Kompetenz zur Harmonisierung der Rechte von Straftatopfern an eine Erforderlichkeitsklausel. Der Erlass von Mindestvorschriften ist nur gestattet, soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist. 152

Noltenius, ZStW 122 (2010), 604, 609; Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 290, noch zu dem wortidentischen Art. III-270 Abs. 2 EVV. 153 Ebenfalls krit. Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 110. 154 Hassemer, ZStW 116 (2004), 304, 309 f., bezieht sich zwar noch auf den EVV als verfassungsähnliches Konstrukt. Allerdings sind der EUV und AEUV in gleicher Weise als Grundsatzverträge ausgestaltet, die über dem sekundären Unionsrecht stehend allgemeine Vorgaben treffen, sodass das Verhältnis vergleichbar ist; in diese Richtung ebenso Safferling, IStrR, § 10 Rn. 2 155 Im seit dem Lissaboner Vertrag anzuwendenden ordentlichen Gesetzgebungsverfahren üben Rat und Parlament die Gesetzgebungskompetenz gemeinschaftlich aus. Bedenken ob der demokratischen Legitimation von Gemeinschaftsakten in diesem Politikereich sind somit erheblich entschärft, Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 1; kritischer Noltenius, ZStW 122 (2010), 604, 610 f.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Die Angleichung der Opferrechte hat damit nach Konzeption des Primärrechts eine dienende Funktion.156 Die PJZS soll grds. auf Grundlage gegenseitiger Anerkennung gerade ohne Vereinheitlichung der nationalen Vorgaben erfolgen. Nur wenn die Zusammenarbeit ansonsten zu scheitern droht, darf als ultima ratio157 das nationale Recht harmonisiert werden. Das Primärrecht akzeptiert damit die Verschiedenartigkeit der Strafverfahrensmodelle und lässt deren Angleichung entsprechend dem strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz nur als subsidiäre Ausnahme zu.158 Damit die Harmonisierung eines Opferrechts auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 AEUV zulässig ist, muss der Unionsgesetzgeber deshalb eine Verbindung zwischen der einheitlichen Vorgabe des konkreten Rechts und der Förderung der Anerkennung bzw. Zusammenarbeit herstellen.159 Vereinzelt wird insofern gefordert, der Unionsgesetzgeber müsse stets explizit darlegen, inwiefern die Harmonisierung einer Verfahrensregel die Anwendung eines speziellen Anerkennungsinstruments, wie z. B. des Europäischen Haftbefehls, vereinfache.160 Dies sei notwendig, weil der EuGH verlange, dass die Union eine Kompetenzgrundlage nach objektiven, justiziablen Kriterien auswähle.161 Das wiederum sei nur gewährleistet, wenn eine klare Verbindung zwischen der Vereinheitlichung und einem spezifischen Instrument gegenseitiger Anerkennung hergestellt werde. Es ist allerdings schwierig, eine solche Verbindung von Opferrechten zu einem konkreten Instrument gegenseitiger Anerkennung herzustellen.162 Denn bisher existiert außer der Europäischen Schutzanordnung kein Instrument gegenseitiger Anerkennung speziell für Opfer im Strafjustizsystem, dessen Anwendung durch harmonisierte Opferrechte spezifisch gefördert werden könnte.163 Alternativ soll es aber auch genügen, wenn der Unionsgesetzgeber konkret zeigt, dass die Harmonisierung einer verfahrensrechtlichen Regelung tatsächlich eine positive Auswirkung auf die gegenseitige Anerkennung oder Zusammenarbeit hat.164 Der Unionsgesetzgeber soll also z. B. anhand empirischer Belege demonstrieren, dass sich einige Mitgliedstaaten aufgrund des Fehlens eines bestimmten Opferrechts in anderen Mitgliedstaaten weigern, Instrumente 156 Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 36; Mitsilegas, EU Criminal Law, S. 157; Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 10. 157 Satzger, IEuStrR, § 10 Rn. 79; zust. Safferling, IStrR, § 10 Rn. 82. 158 Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 3; Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 Rn. 84. 159 Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 107; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 29, 33. 160 Mitsilegas, After Lisbon, S. 198; ders., in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 107 f. 161 Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 108. 162 Siehe auch Mitsilegas, After Lisbon, S. 198; ders., in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 109. 163 RL 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung v. 13. 12. 2011, EU-Abl. L 338/ 2 v. 21. 12. 2011. 164 Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 29, 33. Wohl auch Mitsilegas, in: HL EU SubCommittee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 111. In diese Richtung auch Bock, ZIS 2013, 201, 204.

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gegenseitiger Anerkennung auszuführen, oder dass das Fehlen sonst ein spürbares Hindernis für die Zusammenarbeit begründet.165 Dabei muss der Unionsgesetzgeber die Erforderlichkeit der Angleichung eines bestimmten Opferrechts für die Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung und justiziellen Zusammenarbeit stets konkret und für jede zu harmonisierende Regelung spezifisch begründen. a) Förderung gegenseitigen Vertrauens aa) Das Vertrauensmotiv in den Unionsmaterialien Die EU argumentiert, die Harmonisierung von Opferrechten sei primär wegen ihrer vertrauensfördernden Wirkung zur Erleichterung der Zusammenarbeit in Strafsachen erforderlich. Einheitliche Opferrechte stärkten das gegenseitige Vertrauen in die nationalen Strafjustizsysteme und auf Grundlage dieses größeren Vertrauens wären die Mitgliedstaaten offener für Kooperation und gegenseitige Anerkennung.166 Dementsprechend hat die Kommission den Vorschlag zum Erlass der Opferrechterichtlinie 2012/29/EU mit folgenden Ausführungen begründet: „Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen. Die gegenseitige Anerkennung kann ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie sich auf Vertrauen stützt: nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an einem Strafrechtsprozess Beteiligten sowie andere Personen mit berechtigtem Interesse müssen darauf vertrauen können, dass die Regeln aller Mitgliedstaaten angemessen sind und ordnungsgemäß angewandt werden. Wenn nicht EU-weit einheitliche Mindeststandards für Verbrechensopfer gelten und wenn daher Ungewissheit über die Behandlung von Opfern besteht oder die Verfahrensregeln unterschiedlich sind, kann das Vertrauen schwinden. Gemeinsame Mindestvorschriften schaffen daher Vertrauen in die Strafjustiz aller Mitgliedstaaten, was wiederum zu einer wirksameren justiziellen Zusammenarbeit in einem Klima gegenseitigen Vertrauens und einer solideren Grundrechtskultur in der Europäischen Union führen wird.“167 Sie ergänzt dies um den Gedanken, dass es auch speziell auf das Vertrauen der Bürger ankomme: „Gegenseitiges Vertrauen ist ohne eine wirksame, EU-weite Anwendung eines Mindestsockels an Opferrechten nicht möglich. Die Justizbehörden sollten Vertrauen in das Justizsystem der anderen Mitgliedstaaten haben, und die Unionsbürger sollten – auch wenn sie auf Reisen sind oder im Ausland leben – darauf vertrauen können,

165 Ähnlich auch Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 95. 166 Siehe EG 1 f. RL 2012/29/EU; KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3; KOM(2011) 274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 4; Kommission, Impact Assessment, S. 6, 18 f.; Reding, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 118. Zust. Buczma, ERA Forum 2013, 235, 249. 167 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

dass für sie dieselben Mindeststandards gelten.“168 Die Gesetzgebungsmaterialien betonen darüber hinaus die Bedeutung von Opferrechten für die Beurteilung eines Strafjustizsystems im Ganzen. Die angemessene Berücksichtigung des Verletzten im Strafverfahren sei ein Indikator für die Ausgewogenheit des Strafjustizsystems insgesamt, stärke so das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des jeweils anderen Verfahrens im Ganzen und erleichtere deshalb die Anerkennung und Zusammenarbeit allgemein und nicht nur in Bezug auf Opferrechte.169 EG 1 und 2 der RL 2012/ 29/EU wiederholen diese Argumentation. Die EU nennt diese Begründung pauschal für alle unterschiedlichen Vorgaben der Opferrechterichtlinie und konkretisiert nicht, wie jede einzelne das Vertrauen und so die Zusammenarbeit fördern könnte. Die Union stellt die Vereinheitlichung der einzelnen Rechte somit weder in den Kontext eines konkreten Anerkennungsinstruments, noch zeigt sie entsprechend dem weiteren Begründungsansatz, dass die Harmonisierung der einzelnen Regelungen jeweils eine konkrete positive Wirkung auf die gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit hätte.170 Damit erfüllt die Union in Bezug auf die RL 2012/29/EU zumindest nicht die formellen Anforderungen an die Begründung der Erforderlichkeit. Diskussionsbedürftig ist zudem, ob die Argumentation, Opferrechte bildeten gegenseitiges, für die Anerkennung und Zusammenarbeit relevantes Vertrauen, in dieser Pauschalität materiell zu überzeugen vermag.171 bb) Fördern einheitliche Opferrechte gegenseitiges Vertrauen? In den Primärverträgen ist zwar konzeptionell angelegt, dass die Angleichung des nationalen Rechts gem. Art. 82 Abs. 2 AEUV entsprechend einer gestuften Zwecksetzung dazu dienen soll, Vertrauen der Mitgliedstaaten in die jeweils anderen Rechtssysteme zu schaffen. Dieses Vertrauen soll die Grundlage für die Anerkennung und Zusammenarbeit bilden.172 Es ist aber zweifelhaft, ob diese Argumentation

168

KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 4. Kommission, Impact Assessment, S. 6, 18 f. Begründet wird die Indikatorwirkung der Stellung des Opfers damit, dass der Ausbau von Opferrechten in der Regel eine geringere Priorität habe als der Ausbau der Rechte des Beschuldigten – eine Behauptung, die im gegenwärtigen kriminalpolitischen Klima faktisch kaum trägt. 170 Zu den Standards siehe oben Kap. 1 D I 3. 171 Kritisch zur Erforderlichkeit der Harmonisierung von Opferrechten auch z. B. Peers, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 140; ähnlich Mitsilegas, in: id., S. 109, 111. 172 Siehe oben Kap. 1 D I 1 mit entsprechenden Nachweisen. – Das Konzept der Vertrauensförderung wird allerdings auch angezweifelt, siehe Mitsilegas, Yearbook of Europ. L., 31 (2012), 319, 366; ders., Common Market L. Rev. 43 (2006), 1277 ff.: Vertrauen sei ein subjektiver Geisteszustand, dessen Herstellung nicht Ziel einer rechtlichen Maßnahme sein könne und dessen Erreichung auch nicht objektiv messbar und damit nicht justiziabel sei. Kritisch zu dem Konzept gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigen Vertrauens in Bezug auf die Förderung von Opferrechten grds. Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 244. 169

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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tatsächlich, wie von der Union unterstellt, auch die Erforderlichkeit der Harmonisierung von Opferrechten zu tragen vermag. (1) Vertrauensträger und Vertrauensgegenstand Die Kommission argumentiert in der Begründung der Opferrechterichtlinie, dass nicht nur die Justizbehörden, sondern alle am Verfahren Beteiligten sowie alle Unionsbürger allgemein darauf vertrauen können müssten, dass die in den Mitgliedstaaten geltenden und angewandten Standards zu Opferrechten gleichwertig seien.173 Zweifelhaft ist allerdings, ob das Vertrauen aller Verfahrensbeteiligten und der Unionsbürger der korrekte Referenzpunkt ist. Strafjustizielle Zusammenarbeit leisten und Entscheidungen anerkennen und ausführen müssen die Mitgliedstaaten bzw. ihre Rechtspflegeorgane und nicht die Parteien eines Verfahrens, die Opfer einer Straftat oder allgemein der Unionsbürger. Das Bürgervertrauen mag für die sorgenfreie Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts und damit für die Verwirklichung des Ziels, einen RFSR zu schaffen, relevant sein, nicht aber für die polizeiliche oder justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In Art. 82 Abs. 2 AEUV ist die Harmonisierung des nationalen Rechts indes gerade allein zur Förderung der Zusammenarbeit vorgesehen. Auch wenn die Zusammenarbeit im Endeffekt im Dienste der Gewährleistung eines RFSR steht, geht es auf der vorgelagerten Stufe der Harmonisierung nicht um die Förderung der vertrauensvollen Freizügigkeit des Unionsbürgers im RFSR, sondern um die Förderung der vertrauensvollen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung. Hierin kommt zum Ausdruck, dass die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten im Bereich des RFSR nach Artt. 67 Abs. 2, 82 Abs. 2 AEUV besonders zu wahren sind und die Harmonisierung der nationalen Verfahrensordnungen dementsprechend nur ein nachgeordnetes Instrument ist, dessen Nutzung unionsrechtlich an ein eng umgrenztes Ziel in Art. 82 Abs. 2 AEUV rückgebunden wird. Im Kontext des Anerkennungsprinzips und der Kompetenzgrundlage in Art. 82 Abs. 2 AEUV kommt es damit – anders als die Begründung der Opferrechterichtlinie nahe legt – nicht vordergründig auf das Bürgervertrauen an. Vielmehr steht das Vertrauen der nationalen Rechtspflegeorgane im Mittelpunkt.174 Dieses müsste durch die Vorgabe einheitlicher Opferrechte gesteigert werden. Der Gegenstand der Anerkennung bzw. Zusammenarbeit bestimmt, worauf das notwendige Vertrauen gerichtet sein muss. Primär werden gerichtliche Urteile und Entscheidungen anerkannt. Diesem Akt eines nationalen Justizorgans liegen das Recht des Mitgliedstaates sowie dessen Interpretation und Anwendung im konkreten Fall zugrunde.175 Das Vertrauen muss folglich die Rechtsstaatlichkeit der nationalen Strafverfahrenssysteme sowie die ordnungsgemäße Anwendung ihrer Vorgaben 173 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3 f., 11; i.E. auch Vogel, in: Böse, Enz EuR Bd. 9, § 7 Rn. 23. 174 Kaufhold, EuR 2012, 408, 424. 175 Lavenex, J. Europ. Public Policy 14 (2007), 762, 766.

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durch die nationalen Organe umfassen.176 Eine Harmonisierung soll weiterhin nur dort erfolgen, wo die Nichterfüllung bestimmter Mindeststandards bzw. die Unsicherheit über ihre Erfüllung die Anerkennung und Zusammenarbeit ausbremsen oder verhindern würde. Deshalb muss die zu harmonisierende Vorgabe bedeutsam sein für die Beurteilung der Rechtsstaatlichkeit einer Maßnahme durch ein nationales Rechtspflegeorgan im Rahmen der Zusammenarbeit in Strafsachen. (2) Relevanz von Opferrechten für das gegenseitige Vertrauen Aus den Überlegungen zum Vertrauensträger und Vertrauensgegenstand folgt für die Begründung, wann die Harmonisierung eines bestimmten Opferrechts nach der Vertrauensargumentation erforderlich ist, der folgende Grundsatz: Ein Unterschied bzgl. eines konkreten Opferrechts zwischen den nationalen Strafjustizsystemen muss das Vertrauen der nationalen Rechtspflegeorgane in die Systeme der jeweils anderen Mitgliedstaaten mindern, und einige Mitgliedstaaten müssen sich in der Folge weigern, ein Instrument gegenseitiger Anerkennung anzuwenden oder sonst in Strafsachen zusammen zu arbeiten.177 Dafür muss das zu vereinheitlichende Opferrecht tatsächlich dazu beitragen können, die Qualität einer ggf. anzuerkennenden Entscheidung zu verbessern. Nur wenn die Qualität der Entscheidung aus Sicht der nationalen Rechtspflegeorgane durch den einheitlichen Opferrechtestandard beeinflusst werden kann, können sie gerade durch seine Vereinheitlichung motiviert werden, die Entscheidung anzuerkennen bzw. zusammenzuarbeiten. Kann sich das zu harmonisierende Opferrecht hingegen nicht auf die Qualität einer anzuerkennenden Entscheidung auswirken, kann es auch nicht die Anerkennung oder Zusammenarbeit erleichtern und in der Folge das Kriterium der Erforderlichkeit nicht erfüllen.178 Primär unterliegen Entscheidungen, die unmittelbar mit der Strafverfolgung zusammenhängen, der gegenseitigen Anerkennung im Rahmen der strafjustiziellen Zusammenarbeit innerhalb der EU, wie z. B. der die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung betreffende Europäische Haftbefehl.179 Nur eine anzuerkennende Entscheidung bezieht sich unmittelbar auf das (potentielle) Opfer einer Straftat: die europäische Schutzanordnung.180 Dieses Instrument regelt die grenzüberschreitende Anwendung von nationalen Maßnahmen, die zum Schutz einer gefährdeten Person vor einer strafbaren Handlung durch eine gefährdende Person verhängt werden, wie z. B. ein Kontakt- oder Näherungsverbot. Die europäische Schutzanordnung betrifft damit nur einen kleinen, sehr spezifischen Bereich strafjustizieller Zusammenarbeit. Deshalb stellt sich die Frage, ob Opferrechte überhaupt auf die Qualität von Ent176

Kaufhold, EuR 2012, 408, 425. Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 40. 178 Ähnlich Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 385. 179 Statt vieler siehe Hecker, EuStrR, § 12 Rn. 21 ff. 180 Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung v. 13. 12. 2011, EU-Abl. L 338/2 v. 21. 12. 2011. Siehe dazu z. B. Mitsilegas, After Lisbon, S. 189 f. 177

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scheidungen, die primär mit der Strafverfolgung zusammenhängen und für die PJZS relevant sind, durchschlagen können. Die EU unterstellt dies pauschal: Wie Opfer behandelt würden, sei für die Mitgliedstaaten ein starker Indikator für die Qualität des Strafjustizsystems als Ganzes, weil der Einräumung von Opferrechten allgemein eine geringere Priorität zuerkannt würde als den Rechten des Beschuldigten. Opferrechte auf Unionsebene vorzugeben sei daher eine effektive Maßnahme, um allgemein das Vertrauen in fremde Strafjustizsysteme zu erhöhen.181 Dem wird jedoch zu Recht entgegen gehalten, dass Belege für die Unterstellung, gerade Opferrechte seien ein Indikator für die Qualität eines Strafjustizsystems im Ganzen, fehlen.182 Zudem tangieren die anzuerkennenden Entscheidungen, die primär mit der Strafverfolgung zusammenhängen, vornehmlich die Rechtsstellung des Beschuldigten bzw. Täters und allenfalls mittelbar die Position des (vermeintlichen) Opfers.183 Insofern liegt nahe, dass Zweifel über die Rechtsstaatlichkeit eines fremden Systems in Bezug auf die Rechte des Beschuldigten bzw. Täters die gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit behindern können. Die Erforderlichkeit, Mindestverteidigungsrechte vorzugeben, lässt sich entsprechend begründen.184 Ob Unsicherheit über den Standard an Opferrechten in einem anderen System die gleichen, die Zusammenarbeit hemmenden Zweifel auslösen kann, ist hingegen fragwürdig.185 So wird bspw. die Qualität eines Strafurteils, das ein anderer Mitgliedstaat anerkennen und vollstrecken soll, nicht davon beeinflusst, ob das Opfer der verurteilten Straftat bei seinem ersten Kontakt mit einer Polizeibehörde von einer Vertrauensperson begleitet werden durfte, eine schriftliche Bestätigung seiner Anzeige erhalten hat oder über medizinische und psychologische Unterstützungsmöglichkeiten informiert worden ist.186 Ähnlich dürfte die Zustimmung eines Mitgliedstaates, eine verdächtige Person an einen anderen Mitgliedstaat zwecks Strafverfolgung auszuliefern, nicht nachhaltig davon bestimmt werden, ob dem mutmaßlichen Opfer der verfolgten Straftat im Rahmen des Strafverfahrens in dem ersuchenden Mitgliedstaat die Gründe für das Strafurteil mitgeteilt werden oder ob es über Ansprüche auf Kostenerstattung für eine Teilnahme am Strafverfahren, auf Schadensersatz oder auf Rückgabe seiner Vermögensgegenstände nach Beendigung des Strafverfahrens verfügt.187 Gleichfalls unberührt dürfte die Qualität der ggf. anzuerkennenden Ent181

Kommission, Impact Assessment, S. 6, 19. Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 40. 183 Dies gilt jedenfalls, wenn man von dem in der EU herrschenden Verständnis einer öffentlichen, vom Staat im Interesse der Allgemeinheit durchgeführten Strafverfolgung ausgeht. 184 Ebenso Peers, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 140. 185 Ebenso Peers, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 140; ähnlich Mitsilegas, in: id., S. 109, 111. 186 Vgl. zu diesen Rechten, die nichtsdestotrotz auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV vereinheitlicht wurden: Art. 3 Abs. 3, Art. 5 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 lit. a RL 2012/29/EU; dazu Kap. 2 A III. 187 Vgl. zu diesen Rechten, die die Union nichtsdestotrotz auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV vereinheitlicht hat: Art. 6 Abs. 3, Artt. 14, 16, 15 RL 2012/29/EU; ausführlich Kap. 2 A III 1, IV 3. Ähnlich krit. Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 385. 182

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scheidungen im Kontext der Strafverfolgung davon bleiben, ob das Opfer außerhalb des Strafverfahrens praktische, psychologische oder medizinische Unterstützung erhält oder vor wiederholter Viktimisierung geschützt wird.188 Der größte Teil der Rechte, deren Gewährung für Straftatopfer im Kontext des Strafjustizsystems diskutiert wird und die die EU vorgibt,189 tangiert damit die Qualität von Entscheidungen, die im Rahmen der strafjustiziellen Zusammenarbeit ergehen und ggf. unionsweit anerkannt werden müssen, allenfalls peripher. Dies heißt nicht, dass die Gewährung derartiger Opferrechte nicht wünschenswert sein kann. Es bedeutet aber, dass ihre Gewährleistung für das Vertrauen, das für die strafjustizielle Zusammenarbeit in der EU notwendig ist, irrelevant ist. Damit aber können sie das Kriterium, für die Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung und Zusammenarbeit erforderlich zu sein, nicht erfüllen. Eine andere Beurteilung könnte in Bezug auf Vorgaben gerechtfertigt sein, die das mutmaßliche Opfer im Strafverfahren schützen sollen. Bei der Strafverfolgung geht es um das Finden und die Vollstreckung eines schuldangemessenen Urteils. Dazu ist die Ermittlung des Sachverhalts unter Heranziehung von Beweismitteln notwendig. Häufig sind mutmaßliche Opfer zugleich (die einzigen) Zeugen in einem Strafverfahren und können wesentlich zur Aufklärung beitragen. Das Verfahren im Ganzen sowie die konkrete Aussagesituation können für sie allerdings so belastend sein, dass darunter ihre Fähigkeit zur erinnerungsgemäßen Wiedergabe der Geschehnisse leidet, was auf die Qualität der Wahrheitsfindung durchschlagen kann. Mindeststandards zu ihrem Schutz bei Zeugenaussagen können dazu beitragen, ihr Unbehagen bei der Aussage abzubauen, und so ihre Aussagefähigkeit und ihren Suggestionswiderstand fördern.190 Die Qualität des Beweismittels kann verbessert und so die Wahrheitsermittlung begünstigt werden. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein gerechtes Urteil ergeht. In der Folge wäre mehr Vertrauen in die Urteilsfindung des jeweiligen Mitgliedstaates berechtigt und die Anerkennung seiner Entscheidungen durch andere Staaten würde befördert. Mindeststandards zum Opferschutz bei Zeugenaussagen im Strafverfahren können damit unter Umständen das für die Anerkennung und Zusammenarbeit relevante Vertrauen zumindest mittelbar fördern.191 Nur einige der zahlreichen Opferrechte, die genuinen Opferinteressen entsprechen würden, sind also geeignet, die Qualität von Entscheidungen zu beeinflussen, die im Rahmen strafjustizieller Zusammenarbeit relevant werden können. Nur diese können sich auf das gegenseitige, für die justizielle Zusammenarbeit relevante 188 Ähnlich krit. Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 391. Vgl. zur strafverfahrensunabhängigen Unterstützung und zum Schutz vor wiederholter Viktimisierung, die trotzdem gem. Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV vereinheitlicht wurden, Artt. 8, 9, 18 RL 2012/29/ EU; Kap. 2 A III 3, V 1. 189 Siehe zu den auf Unionsebene vorgegebenen Rechten ausführlich unten Kap. 2 A. 190 Zu den positiven Effekten des Opferschutzes auf die Wahrheitsfindung Kintzi, DRiZ 1998, 65, 67. 191 Vgl. auch Kommission, Impact Assessment, S. 18.

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Vertrauen auswirken. Zudem gehört gerade die Position des Verletzten im Strafverfahren zu einer der umstrittensten Fragen des Prozessrechts, sodass jeder Vertrauensträger im Rahmen seines nationalen Systems ganz unterschiedlicher Auffassung darüber sein kann, welche Opferrechte „angemessen“ und damit vertrauensfördernd sind – dabei muss er nicht unbedingt etwaige unionsrechtliche Wertungen teilen.192 Dies kann die vertrauensfördernde Wirkung unionsrechtlich vorgegebener Opferrechtemindeststandards weiter schmälern. Schließlich wird, nicht ganz zu Unrecht, bezweifelt, ob ausgerechnet das sehr diffizile Verhältnis zwischen den Rechten des Beschuldigten und des Opfers allein durch Mindeststandards so ausgewogen geregelt werden kann, dass dadurch das gegenseitige Vertrauen befördert wird.193 cc) Ergebnis Die Argumentation, dass einheitliche Opferrechtemindeststandards das gegenseitige Vertrauen stärken und deshalb für die gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit in Strafsachen erforderlich sind, überzeugt nur bedingt. Erstens kommt es für diese Argumentation allein auf das Vertrauen der mitgliedstaatlichen Rechtspflegeorgane an und nicht – wie die EU partiell argumentiert – auf das Vertrauen der Unionsbürger allgemein. Zweitens muss ein Unterschied bzgl. eines konkreten Opferrechts zwischen den nationalen Strafjustizsystemen das Vertrauen der nationalen Rechtspflegeorgane in die Systeme der anderen Mitgliedstaaten mindern und nationale Rechtspflegeorgane müssen sich in der Folge weigern, ein Instrument gegenseitiger Anerkennung anzuwenden oder sonst zusammen zu arbeiten. Das zu vereinheitlichende Opferrecht muss sich dazu auf die Qualität einer ggf. anzuerkennenden Entscheidung auswirken. Weil die Anerkennung und Zusammenarbeit im strafjustiziellen Bereich primär die Rechtsstellung des Beschuldigten bzw. Täters tangiert und das (mutmaßliche) Opfer nur mittelbar berührt wird, lässt sich ein solcher Zusammenhang nur für vereinzelte Opferrechte begründen. Nicht alle Opferrechte, deren Vereinheitlichung aus der Perspektive genuiner Opferinteressen erstrebenswert sein mag, können damit unter Beachtung der Erforderlichkeitsklausel harmonisiert werden. Formell muss die EU für jedes zu harmonisierende Opferrecht einzeln darlegen, inwiefern es das relevante Vertrauen steigert. Eine solche Begründung dürfte eher gelingen, wenn untersucht wird, ob die Harmonisierung eines einzelnen Rechts das Vertrauen in einen bestimmten Aspekt des Strafjustizsystems verbessert, und nicht – wie von der EU bisher unterstellt – in das System als Ganzes. Denn die Vereinheitlichung eines einzelnen Rechts dürfte nur im Ausnahmefall – wenn überhaupt – einen Rückschluss auf die Qualität des gesamten Verfahrens zulassen.

192 193

Siehe auch Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 43. Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 290.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

b) Schaffung einheitlicher menschenrechtlicher Mindeststandards Die Angleichung von Opferrechten hat allenfalls einen geringen Bezug zur Förderung gegenseitigen Vertrauens und darüber zur Erleichterung strafjustizieller Zusammenarbeit. Deshalb stellt sich die Frage, ob ein anderer Beweggrund für das EU-Engagement für Opferrechte auf primär- wie sekundärrechtlicher Ebene existiert und dieser die Erforderlichkeit gem. Art. 82 Abs. 2 AEUV zu begründen vermag. Als zentrales Argument für ihre Kompetenz zur Angleichung von Opferrechten bringt die Union – neben den bereits dargelegten Erwägungen – vor, dass einheitliche Mindestrechte für Opfer sowie ihre Gleichbehandlung mit dem Angeklagten im Strafverfahren den Gerechtigkeitsstandard in der Union erhöhten.194 Ohne einheitliche Unionsvorgaben zu Opferrechten würden die Standards zu Opferrechten innerhalb der EU hinter anderen internationalen Standards und der Rechtsprechung des EGMR zu Opferrechten zurückbleiben. Dies sei in einem RFSR nicht hinnehmbar. Damit auf einer Linie führte die damalige Justizministerin Reding in einer öffentlichen Anhörung auf die Frage, warum einheitliche Opferrechte auf Unionsebene vorgeschlagen worden seien, aus: „I think that was our inspiration. How can we proceed so that victims are simply respected, so that they are cared for and so that their basic needs are fulfilled? I believe that this is a question of human rights. This is a question of what political, responsible people are standing for. […] In my head it is very clear that, if you have minimum rules for the suspect in the course of the proceeding, you also need to have minimum rules for the victim in the course of the proceeding. That is the balance you must have in all justice systems between the perpetrator and the victim of the crime.“195 Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl die Verortung der Kompetenz zur Regulierung von Opferrechten in Art. 82 Abs. 2 AEUV als auch der Gebrauch dieser Kompetenz primär von der Intention getragen sind, die Rechte von Straftatopfern per se zu verbessern, um so in den Worten der EU Gerechtigkeit herstellen zu können – unabhängig von einer etwaigen Bedeutung der Opferrechte für die grenzüberschreitende justizielle Zusammenarbeit. Redings Wortwahl weist zudem darauf hin, dass diese Intention nicht unerheblich auch von der politischen Opportunität der Regelung von Opferbelangen im Strafjustizsystem motiviert scheint. Diese auf Gerechtigkeits- und Menschenrechtserwägungen basierende Argumentation veranlasst die Prüfung, ob die Erforderlichkeitsklausel in Art. 82 Abs. 2 AEUV nicht auch in dem Sinne interpretiert werden kann, dass sie dem Unionsgesetzgeber gestattet, menschenrechtliche Mindeststandards um ihrer selbst willen für das Strafverfahren aufzustellen. Dies wird zumindest vereinzelt mit folgender Begründung bejaht: Wenn die EU die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten erleichtere und auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung stelle, 194 Kommission, Impact Assessment, S. 19, 46. Ebenso Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 42. 195 Reding, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 123 f.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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müsse sie auch dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Mindeststandards für Individualrechte einhielten. Es treffe sie eine Gewährleistungsverantwortung, menschenrechtliche Mindeststandards vorzugeben.196 Bejaht man eine solche Gewährleistungsverantwortung, ließe sich darunter auch die Vorgabe von einigen Opferrechten auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV subsumieren. Einer solchen Gewährleistungsverantwortung wird jedoch entgegen gehalten, dass ihre Konstruktion über Art. 82 Abs. 2 AEUV für den Schutz der beteiligten Unionsbürger unnötig sei.197 Denn die EU könne gem. Art. 82 Abs. 1 lit. a AEUV Regeln für die Anerkennung von justiziellen Entscheidungen innerhalb der Union festlegen. In diesen Regeln könne sie Standards vorgeben, deren Einhaltung für die Anerkennung einer Entscheidung durch einen ersuchten Staat erforderlich seien, und auch obligatorische Anerkennungshindernisse normieren, für den Fall, dass der ersuchende Staat bestimmte Mindeststandards nicht befolge.198 Auf diese Weise könne bereits eine etwaige Gewährleistungsverantwortung für Individualrechte im Rahmen der Zusammenarbeit erfüllt und unter Schonung der nationalstaatlichen Souveränität indirekt ein Anpassungsdruck auf Mitgliedstaaten mit geringeren Schutzstandards ausgeübt werden. Unabhängig davon, ob ein Schutz von Individualrechten bereits ausreichend über entsprechende Vorgaben in Regeln zu Anerkennungsverfahren gem. Art. 82 Abs. 1 lit. a AEUVerreicht werden kann oder nicht, ist zweifelhaft, ob sich eine Kompetenz zur Erfüllung einer Gewährleistungsverantwortung aus Art. 82 Abs. 2 AEUV konstruieren lässt. Mit Erlass des Vertrags von Lissabon wurde als Fundament der Strafrechtsintegration bewusst der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gewählt und zugleich die Möglichkeit einer europaweiten, echten Strafrechtsharmonisierung verworfen.199 Art. 82 Abs. 2 AEUV stellt die Harmonisierung des Strafverfahrensrechts entsprechend in den Dienst der gegenseitigen Zusammenarbeit. Dem Unionsgesetzgeber ist in den Verträgen nicht die Kompetenz übertragen worden, grds. zu entscheiden und zu regulieren, welche Opferrechte allgemeine Gerechtigkeitsstandards anheben mögen,200 sondern nur die Kompetenz, solche Rechte zu regeln, deren Einheitlichkeit für die Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit erforderlich ist. Diese Grundentscheidung darf nicht durch die Annahme einer – grenzenlosen – Harmonisierungskompetenz zur Erfüllung einer etwaigen Gewährleistungsverantwortung unterlaufen werden. 196

Siehe Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 86. Vogel hat den Begriff geprägt. 197 Den folgenden Vorschlag erörtert Böse, in: Ambos, EuStrR post-Lissabon, S. 57, 61; ders., in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 22. 198 Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 22. 199 Mandsdörfer, HRRS 2010, 11, 19; bedauernd Spencer, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 761, 790. Vgl. auf Grundlage des Subsidiaritätsprinzips Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 42 f. 200 Krit. darüber hinaus bzgl. der Fähigkeit des Unionsgesetzgebers, Gerechtigkeitsstandards zu definieren, Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 43.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Unabhängig von der moralischen oder politischen Erwünschtheit unionsweit geltender Opferrechte verbürgt Art. 82 Abs. 2 AEUV damit nicht die Kompetenz der EU, die nationalstaatlichen Verfahrenssysteme nur deshalb anzugleichen, um bestimmte menschenrechtliche Standards oder Gerechtigkeitsvorstellungen der Union durchzusetzen. Dies mag man bedauern. Um das Gerechtigkeitsmotiv primärrechtskonform umzusetzen, bedürfte es jedoch einer Änderung der Primärverträge.201 c) Zusammenfassende Bewertung Die Erforderlichkeitsklausel setzt der Unionskompetenz zur Harmonisierung von Opferrechten eine deutliche Grenze: Nur für einige Opferrechte ist plausibel begründbar, dass ihre Harmonisierung zur Erleichterung der Anerkennung und Zusammenarbeit im strafjustiziellen Bereich erforderlich ist.202 Aufgrund dieser Zweckbindung der Kompetenzgrundlage ist es der EU nicht gestattet, Rechte von Opfern anzugleichen, nur weil sie genuinen Opferinteressen entsprechen und moralisch wünschenswert sein mögen. Vielmehr muss die fehlende Gewährleistung eines bestimmten Opferrechts bzw. die Unsicherheit über seine Gewährleistung die Anerkennung und Zusammenarbeit der nationalen Justizbehörden bremsen oder verhindern. Diese Voraussetzung ist für jedes Recht einzeln und konkret zu begründen. Die praktische Durchschlagskraft dieser Kompetenzschranke ist allerdings verhalten zu beurteilen. Bisherige unionsrechtliche Begründungen der Erforderlichkeit von einheitlichen Opferrechten stellen partiell auf das notwendige Vertrauen der Bürger in gleiche Standards ab; dies ist im Zusammenhang mit der strafjustiziellen Zusammenarbeit jedoch der falsche Anknüpfungspunkt. Soweit auf das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtsstaatlichkeit der Strafverfolgungssysteme im Allgemeinen rekurriert wird, geschieht dies oft in Form politischer Rhetorik, die sich nicht in der notwendigen Tiefe mit den einzelnen Regelungen auseinandersetzt. Unbeantwortet bleibt stets, warum das Vertrauen gerade bzgl. der einzelnen, von der Union vorgegebenen Opferrechte für die Zusammenarbeit wesentlich sein soll; nach den pauschalen Unionsaussagen sind jegliche Mindeststandards als vertrauensförderlich einzustufen.203 Die Erforderlichkeitsklausel in Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 AEUV bleibt so weitgehend wirkungslos. Letztlich zeigt dies, dass die EU die Auswahl der zu harmonisierenden Rechte offenbar nicht daran orientiert, ob sie die Zusam201

Ebenso Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 44. Auch nach GA Kokott, Schlussantrag v. 11. 11. 2004 zu RS. C-105/03 (Pupino, Slg. 2005 I-5285), Rn. 49, sind Opferschutzmindeststandards für eine Verbesserung der Zusammenarbeit nicht zwingend erforderlich. Angenommen werden kann die Erforderlichkeit allerdings für Schutzrechte, die zu einer besseren Wahrheitsfindung und damit zur Vertrauensbildung beitragen können. 203 Ebenso krit. Bock, ZIS 2013, 201, 204; Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 109. 202

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menarbeit verbessern, sondern daran, welche Vorgaben aus Individualsicht wünschenswert sein könnten. Das aber missachtet die Vorgaben der Kompetenzgrundlage und damit die Souveränität der Mitgliedstaaten: Eine Angleichung der Opferrechte mit der primären Zielsetzung, menschenrechtliche Mindeststandards ohne Bezug zur Förderung der Zusammenarbeit anzuheben, ist – auch wenn das Ziel, Verbrechensopfer allgemein zu unterstützen, ein hehres ist – auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 AEUV kompetenzrechtlich unzulässig. Die politische Opportunität der Regelung von Opferrechten vermag dieses Vorgehen zu erklären, aber nicht zu rechtfertigen. 4. Restriktion der Regelungskompetenz auf Opferrechte in transnationalen Verfahren? Umstritten ist, für welche Strafverfahren die EU gem. Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV Opferrechte vorgeben darf. Nach einer engen Auslegung soll ihr lediglich gestattet sein, Opferrechte für Verfahren zu harmonisieren, die eine transnationale Komponente aufweisen.204 Nach einer weiteren Auffassung darf sie grds. – das Vorliegen aller sonstigen Kompetenzvoraussetzungen unterstellt – Opferrechte umfassend angleichen und so auch Mindeststandards vorgeben, die in national geführten Strafverfahren ohne transnationalen Aspekt anzuwenden wären.205 Bereits unter der Rechtslage vor Erlass des Lissaboner Vertrages bestand Streit darüber, ob die Union auf Grundlage der Artt. 31 Abs. 1 lit. c, 34 Abs. 2 lit. b EUV a.F. nur Opferrechte in grenzüberschreitenden Strafverfahren regeln durfte.206 Um den unionsrechtlichen Kompetenzschranken gerecht zu werden, hatte die Kommission ihre ersten Vorschläge für Vorgaben zum Opferschutz deshalb auf transnationale Sachverhalte beschränkt.207 Während der Verhandlungen wurde der Regelungsbereich des RB 2001/220/JI jedoch kritischen Stimmen zum Trotz ausgedehnt und enthielt schließlich nur in Art. 11 Rechte, die auf die besonderen Bedürfnisse von Opfern in grenzüberschreitenden Verfahren zugeschnitten waren.208 Alle weiteren Rahmenbeschlussvorgaben bezogen sich auf jegliche Verbrechensopfer und Belange in rein nationalen Verfahren. In Bezug auf die Opferrechterichtlinie entbrannte eine inhaltlich gleiche Diskussion.209 Zu erörtern ist daher, für welche Sachverhalte die EU Opferrechte vorgeben darf.

204

Siehe z. B. Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 24, 38. Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 228; Peers, Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 514. 206 Siehe Kap. 1 B II. 207 Siehe KOM(1999)349 endg., Punkt I. 208 Siehe ausführlich Kap. 1 B III 1. 209 Vgl. HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy. Siehe zur RL 2012/29/EU auch Kap. 2 B II. Krit. in dieser Hinsicht Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90, 94. 205

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

a) Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension Die Rechtslage unter Geltung des AEUV könnte denjenigen Recht geben, die davon ausgehen, die EU dürfe nur Opferrechte für Strafverfahren mit transnationaler Komponente vorgeben und die Regelung von Opferrechten in rein nationalen Verfahren müsse den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben.210 Denn Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 AEUV lässt die Harmonisierung nur zu, „soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist“211. Daraus könnte zu schließen sein, dass Mindestvorschriften nur für transnationale Strafsachen vorgegeben werden dürfen.212 Ein solches enges Verständnis würde auch die Souveränität der Mitgliedstaaten achten und so dem strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz Rechnung tragen. Gegen diese Auslegung wird vorgebracht, eine Beschränkung der Angleichungskompetenz auf Rechte in transnationalen Verfahren verursache eine illegitime inverse Diskriminierung. Denn die Beschränkung könne dazu führen, dass Opfern in rein national geführten Verfahren weniger Rechte zustünden als Opfern in grenzüberschreitenden Sachverhalten.213 Um eine inverse Diskriminierung zu verhindern, müsse die EU über die Kompetenz verfügen, auch Rechte für rein nationale Sachverhalte vorzugeben. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, Inländer-Diskriminierungen durch nationale Gesetzgebung zu beseitigen.214 Danach wäre es allein Aufgabe der nationalen Gesetzgeber, die unionsrechtlich vorgegebenen Opferrechte auch auf nationale Sachverhalte zu erstrecken.215 Andere, tragfähigere Einwände könnten allerdings dagegen sprechen, dass die Angleichungskompetenz in Art. 82 Abs. 2 AEUV aufgrund des Zusatzes in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension auf die Vorgabe von Opferrechten für Strafverfahren mit grenzüberschreitender Komponente limitiert ist. Zunächst bezieht 210

38. 211

Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90, 94; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 24,

Hervorhebung durch die Verfasserin. Siehe de Bondt/Vermeulen, eucrim 2011, 163, 164. Mitsilegas, EU Criminal Law, S. 109 Fn. 269; ders., in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 109; Peers, Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 513 f., halten diese Auslegung für möglich, verwerfen sie aber. – In diese Richtung auch Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 235, die davon auszugehen scheinen, dass die Mindestvorgaben eine grenzüberschreitende Dimension aufweisen müssen. 213 Siehe Kommission, Impact Assessment, S. 18; Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 228; Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 114. So auch schon zur Harmonisierungskompetenz der EU prae Lissabon Groenhuijsen/Pemberton, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 17 (2009), 43, 44 f. 214 Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 28, 30; Streinz, Europarecht, Rn. 847. 215 Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 38 f. 212

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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sich der Zusatz in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension dem Wortlaut nach auf „Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit“. Er unterstreicht damit lediglich als Teil der Erforderlichkeitsklausel, dass die Mindestvorschrift gerade die grenzüberschreitende Anerkennung bzw. Zusammenarbeit in Strafsachen fördern muss. Das zu harmonisierende Opferrecht muss grds. Relevanz entfalten können für die transnationale Interaktion zweier Mitgliedstaaten in Strafsachen.216 Daraus folgt aber nicht die zusätzliche Aussage, dass Opferrechte, auf die diese Voraussetzung zutrifft, nur für transnationale, nicht aber für nationale Verfahren harmonisiert werden dürften. Außerdem weist Peers auf die unterschiedliche Formulierung in Art. 81 Abs. 1 und Art. 82 Abs. 2 AEUV hin.217 Die Kompetenz zur Regulierung der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen sei schon immer enger ausgelegt worden als die Kompetenz zur Regulierung der Zusammenarbeit in Strafsachen. Zur Verdeutlichung dieses Unterschieds seien in Art. 81 Abs. 1 AEUV die Formulierung „grenzüberschreitender Bezug“ und in Art. 82 Abs. 2 die weitere Formulierung „grenzüberschreitende Dimension“ aufgenommen worden. Der Zusatz sei also nur deklaratorisch und bedeute nicht, dass die EU nur Regeln für Strafverfahren mit grenzüberschreitender Komponente regeln dürfe. Zudem würde die Angleichungskompetenz in Art. 82 Abs. 2 AEUV bei einer Begrenzung auf transnationale Sachverhalte bedeutungslos.218 Schließlich wäre es praktisch kaum möglich, den Anwendungsbereich der harmonisierten Mindestvorschriften auf Strafverfahren mit grenzüberschreitendem Bezug zu beschränken.219 Dafür müsste nämlich zunächst festgelegt werden, wann ein solcher Bezug anzunehmen wäre. Mögliche Anknüpfungspunkte dafür sind mannigfaltig – etwa eine grenzüberschreitende Begehungsweise, ein Erfolgseintritt in einem anderen Mitgliedstaat, eine vom Verfolgungsstaat abweichende Nationalität oder Staatsangehörigkeit eines Beschuldigten bzw. Täters, eines Zeugen oder eines Opfers oder die grenzüberschreitende Belegenheit von Beweismitteln. Selbst wenn für den Anknüpfungspunkt eine überzeugende Lösung gefunden würde,220 bliebe ein weiteres, noch wesentlicheres Problem: Der für die grenzüberschreitende Dimension relevante Anknüpfungspunkt könnte erst im Laufe des Verfahrens offenbar werden bzw. hinzukommen oder auch wegfallen, etwa durch Verlegung des Verfahrens oder den Umzug des Angeklagten bzw. Opfers. Es bestünde stete Unsicherheit, welche Regeln – die für transnationale oder die für rein nationale

216

Ähnlich Peers, Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 514. Peers, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 136; ders., Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 514. 218 Peers, Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 514; zust. Letschert/Groenhuijsen, in: dies./van Djik, The New Faces of Victimhood, S. 15, 25. 219 Ebenso Peers, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 135 f.; ders., Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 514. 220 Zu verschiedenen Vorschlägen siehe z. B. Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 25 f. 217

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Sachverhalte – einzuhalten wären.221 Auch Fragen der Rückwirkung eines später auftretenden Bezuges wären zu lösen. Dies ist nicht nur impraktikabel,222 sondern führt zu einer gerade im Strafverfahren zu vermeidenden Rechtsunsicherheit.223 Das gegenseitige Vertrauen würde durch eine solche in der jeweiligen Anwendbarkeit unsicheren, zweigleisigen Regelungsstruktur kaum befördert.224 Dass die Vertragsväter dieses Ergebnis bei Abfassung der Kompetenzgrundlage intendiert hätten, ist fernliegend. Bei dem Zusatz in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension handelt es sich folglich nicht um eine separate Kompetenzschranke mit der Bedeutung, dass die EU nur Opferrechte in Strafverfahren mit transnationaler Komponente harmonisieren dürfte.225 Vielmehr ist er eine deklaratorische Ergänzung der Erforderlichkeitsklausel. Er unterstreicht, dass nur Opferrechte angeglichen werden dürfen, die in einem grenzüberschreitenden Sachverhalt für die Anerkennung bzw. Zusammenarbeit in Strafsachen relevant sind. Er schließt nicht aus, dass Opferrechte, die dieses Kriterium erfüllen, darüber hinaus auch für rein nationale Sachverhalte normiert werden. b) Begrenzung auf transnationale Sachverhalte aus dem Subsidiaritätsprinzip Dass die EU nur Opferrechte in Strafverfahren harmonisieren darf, die eine transnationale Komponente aufweisen, könnte allerdings aus dem Subsidiaritätsprinzip folgen.226 Es ist in Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV verankert und bei der Vorgabe von Opferrechtemindeststandards zu beachten, weil die Gesetzgebungskompetenz des Art. 82 Abs. 2 AEUV gem. Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV zu den geteilten Unionskompetenzen zählt.227 Nach dem Subsidiaritätsprinzip darf der Unionsge221

Ähnlich Peers, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 136. Ebenso Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 36; Vogel, in: Grabitz/ Hilf/Net-tesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 83. 223 Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 114. 224 Ebenso Wehnert, in: FS AG StrafR DAV (2009), S. 1090, 1095. 225 Im Ergebnis ebenso Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 113; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 23; Peers, Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 514. 226 So Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90, 94; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 26 f. – Um dem Subsidiaritätsprinzip gerecht zu werden, hatte die Kommission ihre ersten Vorschläge für Vorgaben zum Opferschutz ebenfalls auf transnationale Sachverhalte beschränkt, KOM(1999)349 endg., Punkt I. Damals war allerding auch das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, nach dem der zu regelnde Bereich transnationale Züge aufweisen musste, noch rechtsverbindlich, vgl. EU-ABl. C 340/105 v. 2. 10. 1997. 227 Vereinzelt wird vorgebracht, das Subsidiaritätsprinzip ginge in der Erforderlichkeitsklausel des Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 1 AEUV auf, vgl. Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 9; ähnlich Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 46. Indes haben beide Kompetenzschranken unterschiedliche Blickwinkel. Während die Erforderlich222

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setzgeber nur regulierend tätig werden, soweit zum einen die Mitgliedstaaten das konkrete, durch die Maßnahme zu regelnde Ziel nicht ausreichend erreichen können (Negativ- oder Effizienzkriterium) und dieses Ziel zum anderen besser auf Unionsebene zu erreichen ist (Positiv- oder Mehrwertkriterium).228 Insbesondere aus dem Negativkriterium könnte folgen, dass das zu regelnde Sachgebiet transnationale Aspekte aufweisen muss, die Union also nur Opferrechte für transnationale Strafverfahren vorgeben darf. Die materiellen Kriterien des Subsidiaritätsprinzips galten lange als verschwommen.229 Erstmals konkretisiert wurden sie durch die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh im Jahr 1992.230 Durch das Protokoll (Nr. 2) zum Amsterdamer Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erhielten sie später Rechtsverbindlichkeit.231 Eine wesentliche, in den Edinburgh-Schlussfolgerungen festgelegte Voraussetzung für die Erfüllung des Negativkriteriums ist, dass das zu regelnde Sachgebiet transnationale Aspekte aufweist, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können.232 Dieses Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezuges war lange Zeit ein Schlüsselelement, um die Unionskompetenz im Bereich des Strafrechts zu begrenzen und zu rechtfertigen.233 Für die Harmonisierung von Opferrechten wird daraus gefolgert, dass diese nur für Verfahren vorgegeben werden dürften, die einen transnationalen Aspekt aufweisen.234 Die Regulierung von Opferrechten in rein national geführten Verfahren müsse in der Folge den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Allerdings ist seit dem Vertrag von Lissabon das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit aus dem Jahr 2010

keitsklausel danach fragt, ob für die Verbesserung der Zusammenarbeit ein bestimmter Standard notwendig ist, beleuchtet die Subsidiaritätsklausel auf einer zweiten Stufe, auf welcher Regelungsebene dieser Standard besser erreicht werden kann, siehe auch Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 109, 114; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 21; Streinz, in: ders., EUV/AEUV, Art. 5 EUV Rn. 28. 228 Langguth, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 5 EUV Rn. 30 – 35; Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 17 f. 229 Vgl. nur Herlin-Karnell, Europ. L. J. 15 (2009), 351, 353. 230 Europäischer Rat von Edinburgh, 11. – 12. 12. 1992, DOC/92/8 13/12/1992 Teil A, Anlage 1. 231 EU-ABl. C 340/1 v. 10. 11. 1997. Zu den Vorgängerregelungen siehe Streinz, in: ders., EUV/AEUV, Art. 5 EUV Rn. 19 f. 232 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, 11.-12. 12. 1992, DOC/92/8 13/12/1992 Teil A, Anlage 1 II ii; Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll, EU-Abl. C 340/130 v. 2. 10. 1997. 233 Auch das BVerfG hält die sachliche Notwendigkeit, grenzüberschreitende Sachverhalte zu koordinieren, für ein besonders geeignetes Kriterium, um die Ausübung von Hoheitsrechten durch die EU gem. dem Subsidiaritätsprinzip zu begrenzen, BVerfG NJW 2009, 2267, 2274. 234 Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 23, 26; i.E. Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90, 94.

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maßgebend für die praktische Handhabung des Subsidiaritätsprinzips.235 Zwar enthält dieses fast ausschließlich Angaben zum prozeduralen Vorgehen und konkretisiert die materiellen Anforderungen nur sehr eingeschränkt. Deshalb soll für die Konkretisierung der inhaltlichen Anforderungen ergänzend auf das Subsidiaritätsprotokoll von Amsterdam zurückgegriffen werden können.236 Dieses Subsidiaritätsprotokoll ist aber nicht mehr rechtsverbindlich.237 Damit zählt das Erfordernis des grenzüberschreitenden Aspekts seit dem Lissaboner Vertrag unionsrechtlich nicht mehr zu den gesetzlich zwingend vorgegebenen Kriterien. Dass der zu regelnde Sachverhalt eine transnationale Komponente aufweist, ist deshalb nur noch ein Indiz dafür, dass das Negativkriterium erfüllt ist und die Mitgliedstaaten das Sachproblem nicht ohne Unionsintervention lösen können. Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten den Problembereich nicht allein bewältigen können, kann sich aber auch aus anderen Indizien als der grenzüberschreitenden Dimension des Sachverhalts ergeben.238 Auch wenn im Einzelfall aus dem Subsidiaritätsprinzip folgen kann, dass eine Unionsregelung für rein nationale Sachverhalte nicht erforderlich ist, folgt aus ihm also nicht zwingend, dass die EU nur Opferrechte in Strafverfahren harmonisieren dürfte, die eine transnationale Komponente aufweisen.239 Nichtsdestotrotz muss der Unionsgesetzgeber freilich das Subsidiaritätsprinzip bei der Harmonisierung von Opferrechten beachten.240 c) Ergebnis Weder aus dem Kriterium der Strafsache mit grenzüberschreitender Dimension noch aus dem Subsidiaritätsprinzip folgt zwingend, dass die EU nur Opferrechte für grenzüberschreitende Verfahren vorgeben dürfte. Deshalb können die unter Einhaltung der sonstigen Voraussetzungen harmonisierten Rechte auf nationale Verfahren erstreckt werden und Opfer können sich in jeglichen Verfahren auf die Rechte berufen.

235 Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit, EUABl. C 83/206 v. 30. 3. 2010; siehe hierzu Langguth, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 5 EUV Rn. 9. 236 Krit. zu dieser neuen „rückschrittlichen Entwicklung“, Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 5 EUV Rn. 32; Langguth, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 5 Rn. 21; Streinz, in: ders., EUV/AEUV, Art. 5 EUV Rn. 26 f. An diesen Kriterien orientierte sich auch die Kommission bei Entwicklung der RL 2012/29/EU, Impact Assessment, S. 19 f. 237 Es wurde mit Wirkung zum 1. 12. 2009 aufgehoben. 238 Vgl. Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 28 ff. 239 Im Ergebnis so auch Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 Rn. 35; Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 114; Peers, Europ. L. R. 33 (2008), 507, 514. A.A. Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 26 f. 240 Siehe hierzu im Kontext der RL 2012/29/EU Kap. 2 B II.

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5. Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten Die Unionskompetenz zur Harmonisierung von Opferrechten wird weiterhin durch Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV begrenzt, der normiert, dass die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten bei der Richtliniensetzung zu berücksichtigen sind. Die allgemeine Verpflichtung der EU aus Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV, die Identitäten der Mitgliedstaaten zu achten, wird so bereichsspezifisch konkretisiert und bekräftigt. Diese Verpflichtung findet sich in Bezug auf den Aufbau eines RFSR bereits in Art. 67 Abs. 1 AEUV. Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV befördert sie von einem allgemeinen Grundsatz zur expliziten Voraussetzung der Assimilierungsvorschrift.241 Damit bringt das Primärrecht einmal mehr zum Ausdruck, dass in diesem Rechtsbereich entsprechend dem strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz bei der Rechtssetzung Zurückhaltung geboten ist.242 Der Zusatz wurde auf Drängen der Mitgliedstaaten in Art. 82 Abs. 2 AEUV aufgenommen.243 a) Relevanz der Unterschiede für die inhaltliche Ausgestaltung der Mindestvorgaben Die Frage, welche konkreten inhaltlichen Anforderungen sich aus der Pflicht zur Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen für den Unionsgesetzgeber ergeben, hat bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Zum Teil wird die Pflicht so interpretiert, dass keine unionsweite Angleichung tradierter Prozessstrukturen und -maximen erfolgen dürfe und Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen nicht nur als störendes Hindernis in einem einheitlichen Rechtsraum, sondern als Bereicherung aufzufassen seien.244 Die Tatsache, dass keine Vollharmonisierung erfolgen, sondern die Strafverfahrensordnungen so weit wie möglich unangetastet bleiben sollen, folgt allerdings bereits daraus, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Primärinstrument der Zusammenarbeit erhoben und die Rechtsangleichung nur als komplementäres Hilfsmittel 241

Dies entspricht dem allgemeinen Trend im Vertrag von Lissabon, die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten zu beachten. Bereits im Europäischen Verfassungsvertrag war die strikte Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten einer der Politikgrundsätze bei dem Ausbau des RFSR, vgl. Fischer, Verfassungsvertrag, S. 373. 242 Die rechtstatsächliche Begrenzungswirkung auf die Unionsgesetzgebung wird aber bezweifelt, vgl. Kretschmer, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, Art. III-270 EVV Rn. 2, 25; Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 280 f. 243 Kretschmer, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, Art. III-270 EVV Rn. 2, der die Entwicklung vom EVV-KonvE zum EVV nachvollzieht. In der Vorgängernorm Art. III-171 II EVV-KonvE war der Zusatz noch nicht enthalten, sondern wurde erst in Art. III-270 EVV hinzugefügt, welcher Art. 82 AEUV entspricht. 244 So Satzger, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 3; Vogel/Eisele, in: Grabitz/ Hilf/Nettes-heim, Recht der EU, Art. 82 Rn. 91.

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ausgestaltet worden ist. Auf der Voraussetzungsebene des Art. 82 Abs. 2 AEUV ergibt sich diese Restriktion außerdem aus der Erforderlichkeitsklausel. Soll die Verpflichtung zur Beachtung der Unterschiede nicht nur redundante Wiederholung sein, muss sie daher eine darüber hinausgehende Aussage enthalten.245 Sie könnte darin bestehen, dass die Klausel nicht die Reichweite der Angleichung im Sinne eines „Ob“ betrifft, sondern die konkrete Ausgestaltung der Harmonisierungsvorschriften, also das „Wie“. Untermauert wird diese Annahme durch einen Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen des Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV. Die deutsche Formulierung „Bei diesen Mindestvorschriften werden die Unterschiede […] berücksichtigt“ lässt noch den Schluss zu, die Pflicht zur Berücksichtigung sei nur auf die vorgeschaltete Gesetzgeberentscheidung über das Für und Wider einer Harmonisierung überhaupt bezogen. Die englische, französische sowie italienische Fassung hingegen sind so gestaltet, dass die Mindestvorschriften selbst den Unterschieden Rechnung zu tragen haben, vgl. „[s]uch rules shall take into account the differences […]“ / [c]es règles minimales tiennent compte des différences […]“ / „[q] ueste tengono conto delle differenze […]“. Daraus wird deutlich, dass es um die innere Ausgestaltung der Mindestvorschriften geht, und nicht um die Frage, ob sie überhaupt zu erlassen sind. Ein solches Verständnis garantiert auch die bestmögliche Förderung des mit den Angleichungsvorschriften verfolgten Ziels. Durch die Angleichung soll das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtsstaatlichkeit der jeweils anderen Rechtsordnungen befördert werden. Eine fragmentarische Angleichung birgt allerdings die Gefahr, innerhalb der Systeme unerwünschte Nebenwirkungen hervorzurufen. Denn die mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen sind komplexe, aufeinander abgestimmte Systeme, die durch punktuelle Veränderungen aus dem Lot gebracht werden können. Um solche vertrauensabträglichen Nebenwirkungen zu vermeiden, müssen die Unterschiede bei der inhaltlichen Gestaltung der Harmonisierungsvorgaben berücksichtigt werden. Inhaltlich sind die Mindeststandards folglich mit Blick auf die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen so zu verfassen, dass sie in alle unterschiedlichen Rechtsordnungen ohne größere Friktionen integriert werden können. Schon während des Gesetzgebungsprozesses ist zu antizipieren, wie sich ein Mindeststandard in einem bestimmten verfahrensrechtlichen Kontext auswirken kann, auch in Bezug auf mögliche Widersprüche zu Regelungstraditionen, die thematisch einen anderen Bereich betreffen als die in Frage stehende Mindestvorschrift. Sodann sind mögliche Friktionen nicht abzutun als ein Problem nationaler Eitelkeit, dem die betreffenden Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 3 Uabs. 2 EUV, Art. 288 AEUV durch Anpassung ihres gesamten konfligierenden Rechts abzuhelfen verpflichtet wären. Vielmehr sind solche Besonderheiten schon auf Erlassebene, z. B. mittels Ausnahmeregelungen, zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung des Unionsgesetzgebers wirkt sich auch auf die Harmonisierung von Opferrechten aus. So 245 So auch Peers, Europ. L. Rev. 33 (2008), 507, 513, der deshalb folgert, die EU dürfe nicht nur die nationalen Systeme nicht beschädigen, sondern müsse die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen in den Harmonisierungsvorgaben spiegeln.

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haben z. B. Mitgliedstaaten, die über ein Geschworenensystem verfügen, der im Kommissionvorschlag für die RL 2012/29/EU enthaltene Verpflichtung widersprochen, dem Opfer die Urteilsbegründung mitzuteilen.246 Nach ihrer Verfahrenstradition würden Geschworenensprüche nie begründet. Obwohl die Mitteilungsverpflichtung als grds. erforderlich zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung angesehen wurde, war die EU gem. Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV verpflichtet, auf den aufgezeigten Konflikt bei der inhaltlichen Gestaltung der Angleichungsvorgabe Rücksicht zu nehmen. Dazu wurde eine Ausnahme von der Mitteilungspflicht erlassen für den Fall, dass nach nationalem Recht keine Urteilsbegründung ergeht. Die Mitgliedstaaten müssen in der Folge zwar eine Mitteilungspflicht für ergangene Urteilsbegründungen, nicht aber weitergehend eine umfassende Begründungspflicht einführen. b) Materielle Gegenstände der Berücksichtigungspflicht Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV erklärt die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten zum Gegenstand der Berücksichtigungspflicht. Unproblematisch darunter zu fassen sind tradierte Verfahrensstrukturen und -maximen in den Strafverfahrenssystemen.247 Gerade im Hinblick auf die Vorgabe von Mindeststandards zu Opferrechten ist aber zudem relevant, ob auch Unterschiede im materiellen Strafrecht und in der Zuordnung zu Rechtsgebieten und schließlich, ob auch Gemeinsamkeiten zwischen den Systemen und Traditionen zu berücksichtigen sind. aa) Unterschiede im materiellen Recht und bei der Rechtsgebietszuordnung Art. 82 Abs. 2 AEUV regelt die Angleichung des mitgliedstaatlichen Strafverfahrensrechts. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, dass nur Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen, die das Strafverfahrensrecht betreffen, zu berücksichtigen wären. Dem Wortlaut nach ist die Klausel hierauf aber ausdrücklich – anders als die Formulierung in Art. 82 Abs. 3 AEUV – nicht beschränkt. Außerdem stehen formelles und materielles Strafrecht nicht beziehungslos nebeneinander. Weil die Verhängung einer Strafe in der Regel an ein vorangehendes Strafverfahren geknüpft ist, ist selbiges Voraussetzung für die Erreichung der mit der Strafe verfolgten Zwecke. Aufgrund dieser wechselbezüglichen Beziehung sind bei der Vorgabe von verfahrensrechtlichen Mindeststandards zwingend auch Unterschiede im materiellen Recht einzubeziehen. Diese weite Auslegung entspricht auch dem Zweck der Norm, die mitgliedstaatliche Souveränität möglichst umfassend zu schonen. Aus demselben Grund kann auch die unterschiedliche nationale Verortung eines Sachproblems im Zivil- statt im 246

Siehe hierzu und zum Folgenden ausführlich Kap. 2 A III 1, B I 1. Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 91; zust. Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 36. 247

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Straf(verfahrens)recht die EU nicht von ihrer Berücksichtigungspflicht entbinden. Jegliche Unterschiede im materiellen wie im formellen Recht, auch rechtsgebietsübergreifend, sind folglich zu beachten. In Bezug auf die Vorgabe von Opferrechten entfaltet dies beispielsweise Relevanz in Bezug auf die Entschädigung des Opfers durch den Täter, die teilweise im Straf-, teilweise im Zivilverfahrensrecht behandelt wird. bb) Gemeinsamkeiten der Rechtsordnungen und -traditionen Der Erlass von Mindeststandards setzt gem. Art. 82 Abs. 2 nicht voraus, dass die betroffene Sachmaterie zuvor von den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt worden wäre. Vielmehr könnte grds. auch ein Bereich, der unionsweit im nationalen Recht einheitlich geregelt ist, unionsrechtlich davon abweichend reguliert werden. Dem Wortlaut nach verpflichtet Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV den Unionsgesetzgeber weiterhin lediglich zur Achtung von Unterschieden zwischen den Rechtsordnungen. Argumentum e contrario müsste ein für die Erleichterung der Zusammenarbeit für erforderlich erachteter Mindeststandard eine allen Mitgliedstaaten gemeinsame Regel oder Tradition demnach ohne Rücksicht ändern können. Hypothetisch müsste die EU somit beispielsweise vorgeben können, dass dem Opfer aufgrund seiner besonderen Nähe zur Straftat der Strafanspruch zukomme, obwohl sich im Zuge historischer Entwicklung in allen Mitgliedstaaten ein öffentliches Strafverfolgungssystem mit dem Staat als Inhaber des Strafanspruchs herausgebildet hat. Hierbei sei nur zum Zweck der Veranschaulichung unterstellt, dass eine solche Veränderung für die Zusammenarbeit zuträglich wäre. Fraglich ist aber, ob dieses prima facie-Ergebnis trägt. Es ist kaum zu begründen, warum eine allen Mitgliedstaaten gemeinsame Tradition – beispielsweise die Anerkennung des staatlichen Strafverfolgungssystems – weniger Schutz genießen sollte vor unionsrechtlicher Abänderung als voneinander abweichende nationale Traditionen. Auch hinge die Berücksichtigungspflicht wenig einleuchtend davon ab, ob eine abweichende nationale Vorgabe existiert bzw. wann ein Mitgliedstaat autonom eine nationale Regelung angleichend oder erstmals abweichend neu regelt. Näher liegend ist daher, dass die gesetzliche Hervorhebung der Unterschiede schlicht darauf zurückzuführen ist, dass sich im Zusammenhang mit der harmonisierenden Vorgabe von Mindestvorschriften mögliche Friktionen aufgrund von Unterschieden zwischen den Rechtsordnungen mehr aufgedrängt haben. Für die Berücksichtigungspflicht auch von tradierten Gemeinsamkeiten spricht zudem, dass die Norm eingefügt worden ist, um den mitgliedstaatlichen Bedenken bzgl. ihrer Souveränität abzuhelfen.248 Die nationale Souveränität wird bei tradierten Unterschieden wie Gemeinsamkeiten gleichermaßen durch abweichende Mindestvorschriften tangiert. Schließlich kann das Vetorecht der Mitgliedstaaten aus Art. 82 Abs. 3 AEUV, das in engem Zusammenhang mit der Berücksichtigungspflicht steht, bei der Berührung aller grundlegenden Aspekte der Strafrechtsordnungen eingelegt werden, nicht bloß bei As248

Siehe oben Kap. 1 D I 5.

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pekten, die anders als in den anderen Mitgliedstaaten geregelt werden. Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV ist folglich erweiternd so zu verstehen, dass die EU auch tradierte Gemeinsamkeiten der Rechtsordnungen und Rechtstraditionen zu berücksichtigen hat. Der hypothetischen Einsetzung des Opfers als Inhaber des Strafanspruchs könnte folglich auch die allen Mitgliedstaaten gemeinsame Tradition des staatlichen Strafanspruchs entgegen gehalten werden. c) Absolute Grenze der Angleichungskompetenz aus Art. 82 Abs. 3 AEUV Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 1 und S. 2 ziehen der Unionskompetenz Schranken bezüglich der Dichte von Harmonisierungsnormen und deren inhaltlichen Regelungsintensität, wobei beide Aspekte sich nicht immer strikt trennen lassen, sondern vielmehr miteinander wechselwirken. Weder die Erforderlichkeit- noch die Rücksichtnahme-klausel enthalten allerdings eine absolute Harmonisierungsgrenze. Soweit ein Opferrecht als erforderlich zur Verbesserung der Zusammenarbeit eingestuft werden kann, wäre seine Vorgabe grds. auch entgegen nationalen Grundprinzipien zulässig. Und auch der Begriff „berücksichtigen“ fordert zunächst nur ein „in Rechnung stellen“ der nationalen Traditionen, nicht aber, dass sie zwingend zu erhalten wären. Eine absolute Harmonisierungsgrenze kann allerdings gem. Art. 82 Abs. 3 AEUV im Ausnahmefall geltend gemacht werden. Diese Norm gestattet jedem Ratsmitglied, den Europäischen Rat mit einem Richtlinienvorschlag zu befassen, wenn es meint, der Vorschlag tangiere grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung. Dieses auf einem politischen Kompromiss249 beruhende suspensive Vetorecht trägt den Souveränitätsvorbehalten der Mitgliedstaaten Rechnung.250 Zugleich markiert es die äußerste Grenze der Angleichung, die Mitgliedstaaten durch die EU hinzunehmen verpflichtet sind. Auch wenn ein Mindeststandard noch so erforderlich sein mag für die bessere Zusammenarbeit, darf er nicht gegen den Willen der Mitgliedstaaten deren strafverfahrensrechtliche Grundfesten verändern. Je nach Ausgestaltung ist es möglich, dass auch Mindeststandards zu Opferrechten in Konflikt geraten mit solchen grundlegenden Aspekten. Das englische Justizministerium hat insofern vorgebracht, dass es die Rolle des Opfers im Strafverfahren zu 249 Zum Kompromiss, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen mit einem „Notbremse“Recht vorzusehen anstatt Einstimmigkeit, Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 114. 250 Rosenau/Petrus, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Unionsrecht, Art. 82 AEUV Rn. 22; Streinz/Ohler/Hermann, Vertrag von Lissabon, S. 158. – Durch die Ziehung der Notbremse droht dem interferierenden Mitgliedstaat der Verlust erheblichen politischen Kapitals, weshalb in Frage gezogen wird, ob die Notbremse in der Praxis tatsächlich je zur Anwendung kommen wird, skeptisch Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 119; Shaw (ehem. engl. Justizminis-ter), in: HL EU Committee, The Treaty of Lissabon, HL Paper 62-II, E 8. Unabhängig davon, ob ein Veto eingelegt wird, stellt allerdings allein die Möglichkeit, die Notbremse zu ziehen, ein wirkungsvolles Druckmittel im Verhandlungsprozess dar. Als solche negotiating card sollte sie von englischer Seite genutzt werden, Blackwell, in: HL EU Committee, The Treaty of Lissabon, HL Paper 62-II, E 116.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

den grundlegenden Elementen des Strafjustizsystems zähle, über das die Mitgliedstaaten selbst zu entscheiden hätten.251 d) Ergebnis Wünschenswert wäre, wenn nicht ein Flickenteppich gerade politisch konsensfähiger Opferrechte unionsrechtlich normiert würde, sondern ein kohärentes Konzept Grundlage der unionsrechtlichen Vorgabe eines Mindeststandards von Opferrechten wäre. Ein solches Konzept wird allerdings beeinflusst bzw. nimmt bei einer neuen unionsrechtlichen Gestaltung seinerseits unter Umständen Einfluss auf Grundfragen der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme, wie z. B. die Konturierung des Verbrechensbegriffs, den Zweck des Strafverfahrens und die Strafverfolgungsstruktur.252 Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 AEUV verpflichtet die EU, bei der Positionierung des Opfers durch Mindeststandards die mitgliedstaatlichen Antworten auf diese Fragen zu beachten. Dies gilt unabhängig davon, ob die nationalen Antworten gleich oder unterschiedlich ausfallen. Der Unionsgesetzgeber muss sich also mit einer eventuellen Sorge der Mitgliedstaaten um die Kohärenz ihrer nationalen Strafjustizsysteme bei der supranationalen Vorgabe von Opferrechten auseinander setzen. 6. Grundrechte Schließlich ist die EU bei der Vorgabe von Opferrechten an die Grundrechte gebunden. Gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EUV gehört die EU-Grundrechtecharta (im Folgenden: GRC) seit Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags zu dem die Union unmittelbar bindenden Primärrecht. Die in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleisteten Grundrechte sind gem. Art. 6 Abs. 3 EUVals allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts, und die Unionsorgane sind zumindest zu ihrer Achtung verpflichtet.253 Die GRC enthält zudem in Art. 52 Abs. 3 eine Transfer- und Inkorporationsklausel. Danach haben die in der GRC enthaltenen Rechte, soweit sie den in der EMRK verbürgten Garantien entsprechen, mindestens die gleiche Tragweite und Bedeutung, die ihnen auch in der EMRK verliehen werden.254 An die GRC in dieser Auslegung sind alle Organe der EU gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EUV gebunden, auch und gerade bei Erlass von Richtlinien. Art. 67 Abs. 1 AEUV betont diese Verpflichtung für den RFSR aufgrund der erheblichen Grundrechtsrelevanz dieses Politikbereiches zusätzlich. Für die nationalen Gesetzgeber gilt eine vergleichbare 251

Ministry of Justice of England and Wales, Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Konsultation zum Opferschutzpaket der Kommission, S. 14 (abrufbar unter http://goo.gl/e3 XcKf, 10.8.16). 252 Siehe Kap. 3 A, B. 253 Paeffgen, in: SK-StPO, Bd. X Einl. Rn. 85. 254 Schädler/Jakobs, in: KK-StPO, MRK Vorb. Rn. 18.

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Grundrechtsbindung. Da die Mitgliedstaaten ausnahmslos Vertragsstaaten der EMRK sind, unterliegen sie ohnehin deren Gewährleistungsverpflichtungen. Soweit Mitgliedstaaten Richtlinienvorgaben in nationales Recht umsetzen, sind sie zudem ebenfalls an die GRC gem. Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC gebunden. Bei Erlass von Mindestvorschriften zu Opferrechten ist diese Grundrechtsbindung insbesondere aus zwei Perspektiven zu beachten. Auf der einen Seite können die Grundrechte aus Perspektive des Opfers unter Schutzgesichtspunkten relevant sein. Das mutmaßliche Opfer muss oft aufgrund staatlicher Mitwirkungspflichten als Zeuge am Strafverfahren teilnehmen. Gerade die Zeugenaussage kann für das vermeintliche Opfer mit besonderen Gefahren für seine Grundrechte – zumindest für seine allgemeine Handlungsfreiheit, aber ggf. auch z. B. für seine körperliche und/oder psychische Unversehrtheit, sein Leben oder seine Privatsphäre – verbunden sein.255 Deshalb entspricht es allgemeiner Überzeugung, dass das vermeintliche Opfer als Zeuge im Strafverfahren im Einzelfall über einen grundrechtlichen Schutzanspruch gegen den Staat verfügt – freilich stets unter dem Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten.256 Dieser Schutzanspruch kann bei der Vorgabe von Mindestopferrechten relevant werden. Zwar erklären Art. 6 Abs. 1 S. 2 EUV, Art. 51 Abs. 2 GRC deklaratorisch, dass die GRC keine neuen Zuständigkeiten oder Aufgaben für die EU begründet und auch nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben ändert. Diese Kompetenzschutzklauseln bestätigen, dass die GRC das bestehende Kompetenzgefüge nicht verändert und insbesondere das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 2 EUV, und das Subsidiaritätsprinzip, Art. 5 Abs. 3 EUV, Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC, nicht unter Berufung auf die GRC ausgehebelt werden dürfen.257 Bedeutsam wird dies gerade dort, wo aus einer möglichen Schutzpflichtdimension der Grundrechte positive staatliche Handlungspflichten abgeleitet werden sollen.258 Die EU könnte folglich nicht allein gestützt auf eine etwaige aus den Garantien der GRC resultierende positive Schutzpflicht ihre originäre Kompetenz begründen, Schutzansprüche von Straftatopfern zu normieren. Der Ausschluss einer kompetenzbegründenden Wirkung von grundrechtlichen Schutzpflichten aktualisiert sich im Kontext der Gesetzgebung zu Opferrechten jedoch nicht unmittelbar, weil Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV eine originäre Kompetenz der EU verbürgt, Rechte von Straftatopfern zu harmonisieren. Die Union kann und muss 255

Ebenso Weigend, Deliktsopfer, S. 424; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 49. So im Kontext der Schutzvorschriften des RB 2001/220/JI EuGH, 16. 6. 2005, Rs. C105/03 (Pupino), Slg. 2005 I-5309 Rn. 59 f.; EuGH, 9. 10. 2008, Rs. C-404/07 (Katz), Slg. 2008 I-07607 Rn. 48 f.; dazu Königs/Wahedi/Waterbolk, J. Politics & L. 6 (2013), 14, 18 f. Auch der EGMR vertritt diesen Ansatz, siehe nur Urt. v. 26. 6. 1996, App. No. 20524/92, § 70 (Doorson/ Niederlande). Siehe auch Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 656; Gaede, in: Böse, Enz EuR Bd. 9, § 3 Rn. 93 f.; von Galen, StV 2015, 171, 172; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 90; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 38 ff.; verhalten zust. Weigend, Deliktsopfer, S. 423. 257 Ausführlich Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 51 Rn. 37 ff.; Streinz, EUV/AEUV, Art. 51 GRC Rn. 22, Art. 6 EUV Rn. 5. 258 Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 51 Rn. 37; Jarass, EU-GRC, Art. 51 Rn. 11. 256

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GRC im Rahmen der Ausübung dieser Kompetenz durch den Erlass von Richtlinienvorgaben zu Opferrechten die Vorgaben der GRC beachten. Dabei unterliegt sie freilich den in der Anweisungskompetenz selbst normierten Grenzen. Diese Grenzen können allerdings ihrerseits wiederum im Lichte der GRC auszulegen sein, die Kompetenzschutzklauseln stehen insoweit nicht entgegen.259 Ergäbe sich folglich aus den Menschenrechten z. B. ein Anspruch von Straftatopfern gegen den Staat auf Schutz ihrer Privatsphäre im Strafverfahren, und bewegte sich die Normierung eines solchen Anspruchs innerhalb der von der Anweisungskompetenz in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV gesteckten Grenzen, die ggf. ihrerseits im Lichte der Grundrechte auszulegen sind, müsste die EU dies im Rahmen ihrer Richtliniengesetzgebung beachten. Auf der anderen Seite ist die Grundrechtsbindung mit Blick auf die Rechte des Beschuldigten zu beachten. Ihm stehen gem. Artt. 47 Abs. 2, 48 GRC und Art. 6 EMRK besondere Garantien im Strafverfahren zu. Rechte von mutmaßlichen Straftatopfern im Strafprozess können die Gefahr bergen, Verteidigungsrechte des Angeklagten unverhältnismäßig zu beschränken und die Gewährleistung der Garantie eines fairen Verfahrens zu konterkarieren. Bei der Ausgestaltung der Mindestrechte für Straftatopfer muss die Union deshalb eine Balance herstellen und darf keine Opferrechte vorgeben, die Grundrechte des Angeklagten verletzen würden.260 Gleichsam müssen die Mitgliedstaaten die Mindestvorgaben unter Ausschöpfung ihres Umsetzungsspielraums so in das nationale Recht implementieren, dass die Rechte des Angeklagten gewahrt bleiben. Insofern spiegelt sich in der Grundrechtsbindung auch die Verpflichtung, das zweite der beiden identifizierten Problemfelder – die Herstellung einer Balance zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechten im Strafverfahren – einer Lösung zuzuführen. 7. Zusammenfassende Bewertung der Kompetenzgrundlage Der frühere Streit um die Kompetenz der EU, Opferrechte vorzugeben, ist mit Erlass des Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUVobsolet geworden. Diese Norm verleiht der EU die Kompetenz, Mindeststandards für die Rechte von Straftatopfern zu erlassen. Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV normiert ein relativ komplexes Schrankenregime. Zwar ist die Kompetenz weder auf die Angleichung strafprozessualer Rechte beschränkt, noch folgt aus ihr zwingend, dass die EU nur Opferrechte für grenzüberschreitende Strafverfahren normieren dürfte. Allerdings darf die EU nur Rechte vorgeben, die genuine Opferinteressen repräsentieren. Daraus folgt, dass auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV erlassenes Sekundärrecht primärrechtskonform so auszulegen ist, dass die vorgegebenen Rechte dem Zweck dienen, genuine Opferinteressen zu befriedigen. Außerdem muss das jeweilige Recht erfor259 Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Unionsrecht, Art. 6 EUV Rn. 4; Jarass, EUGRC, Art. 51 Rn. 10. 260 Siehe hierzu unten Kap. 2 C.

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derlich sein, um das Vertrauen der nationalen Rechtspflegeorgane in die Strafjustizsysteme der anderen Mitgliedstaaten zu stärken, was der Unionsgesetzgeber für jedes einzelne Recht konkret darlegen muss. Ein solcher Zusammenhang ist nur für einzelne Opferrechte begründbar. Unzulässig ist es, auf Grundlage des Art. 82 Abs. 2 AEUV Opferrechte vorzugeben, um menschenrechtliche Standards ohne Bezug zur Förderung der strafjustiziellen Zusammenarbeit durchzusetzen. Weiterhin ist den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der nationalen Rechtsordnungen und der Rolle des (vermeintlichen) Opfers darin bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Mindestvorgaben Rechnung zu tragen. Die Mitgliedstaaten können zudem zum Schutz grundlegender Aspekte ihrer Verfahrensordnungen gem. Art. 82 Abs. 3 AEUV ein suspensives Veto einlegen. Schließlich sind die EU beim Erlass der Mindestvorschriften und die nationalen Gesetzgeber bei ihrer Implementierung in nationales Recht an die Grundrechte gebunden. Damit bietet die Kompetenzgrundlage die Voraussetzungen, um die beiden im Kontext inter- und supranationaler Opferrechtegesetzgebung identifizierten Problemfelder auf Unionseben zu lösen. Sie normiert eine Reihe von Kriterien, die den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen Rechnung tragen: die Begrenzung auf die Vorgabe von Richtlinienmindeststandards, die Erforderlichkeitsklausel, die Verpflichtung zur Beachtung der nationalen Rechtsordnungen und -traditionen, das suspensive Vetorecht sowie den allgemeinen Grundsatz, dass die Angleichung nationalen Rechts nur sekundäres Mittel der Zusammenarbeit ist.261 Das Primärrecht akzeptiert somit die nationalen Strafjustizsysteme und fordert den Unionsgesetzgeber dazu auf, ihre Kohärenz bei der Vorgabe von Opferrechten zu wahren. Außerdem ist der Unionsgesetzgeber bei dem Erlass von Opferrechtemindestvorgaben an die Grundrechte und damit auch an Artt. 47 Abs. 2, 48 GRC, Art. 6 EMRK gebunden. Dies verpflichtet ihn, sich auch der Lösung des zweiten Problemfelds zu widmen und eine Balance zwischen den Beschuldigten- und den Opferrechten herzustellen. Zugleich stellt die Ausgestaltung der Kompetenzgrundlage den Unionsgesetzgeber vor ein Dilemma. Bei der Opferrechtegesetzgebung will er einen umfassenden und integrierten Ansatz verfolgen.262 Dazu sollen die Bedürfnisse von Opfern in ganz verschiedenen Bereichen erfüllt werden. Aufgrund der strikten Erforderlichkeitsklausel und des Subsidiaritätsprinzips ist es der EU jedoch kompetenzrechtlich nicht gestattet, die Bedürfnisse von Straftatbetroffenen umfassend zu regulieren, vor allem nicht in vom eigentlichen Strafverfahren unabhängigen, sozialrechtlichen Bereichen.263 Sinnvoll wäre es zudem, wenn die EU bei der Vorgabe von Mindestopfer261

So auch Craig/de Búrca, EU Law, S. 943; Mitsilegas, EU Criminal Law, S. 42 f. Siehe Kap. 2 A II. 263 A.A. Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 244, 253: der Konflikt zwischen dem Ziel, einen integrierten Ansatz zu verfolgen, und der engen Kompetenzgrundlage sei kein Dilemma. Der RB 2001/220/JI habe auch die Grenzen des Art. 31 EUV a.F. überschritten, gleichsam müsse jetzt Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV weit – offenbar contra legem – 262

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

rechten ein kohärentes Konzept zur Rolle des (vermeintlichen) Opfers im Strafverfahren verfolgen würde. Das Primärrecht lässt dem Unionsgesetzgeber auch Freiraum und determiniert nicht, wie die Rolle des Verletzten im Strafverfahren rechtsdogmatisch auszugestalten ist. Allerdings macht es das umfassende Schrankenregime der Kompetenzgrundlage quasi unmöglich, die Position des Opfers im Strafjustizsystem einem umfassenden Konzept folgend auszugestalten. Aufgrund der Schranken ist es der EU vielmehr nur möglich, singulär Rechte zu normieren. Ob mit einem solchen schmalspurigen Ansatz das gegenseitige Vertrauen in Bezug auf den komplexen und mit anderen Aspekten des Strafverfahrens verwobenen, potentiell konfliktträchtigen Themenkomplex der Stellung des (vermeintlich) Verletzten im Strafverfahren nachhaltig gefördert werden kann, bleibt abzuwarten.264 Insgesamt zeugt die Ausgestaltung der im Katalog des Art. 82 Abs. 2 AEUV exponierten Kompetenz zur Regulierung von Opferrechten von der Bedeutung, die die EU diesem Bereich beimisst, und symbolisiert die Wertung, dass dem Opfer ein angestammter Platz im Strafjustizsystem zukomme. Die politische Priorisierung des Straftatopfers schlägt sich damit in der Abfassung des Primärrechts nieder. Dies steht in einem Spannungsverhältnis dazu, dass die Ermächtigungsgrundlage nicht unerheblichen Beschränkungen unterliegt und die Fortführung des auf Unionsebene bisher favorisierten wohlfahrtstaatlichen Ansatzes bei der Vorgabe von Opferrechten nicht zulässt. Die Ausführungen der Unionsvertreter deuten darauf hin, dass die Aufnahme der Kompetenz zur Regulierung von Opferrechten in Art. 82 Abs. 2 AEUV weniger von der Überzeugung getragen wurde, dass einheitliche Opferrechte für die Zusammenarbeit notwendig wären.265 Vielmehr scheint der Wunsch, das politisch opportune Feld der Opferrechte auch unionsrechtlich bewirtschaften zu können, die Gestaltung und Aufnahme der Kompetenz zur Vorgabe von Mindestopferrechten motiviert zu haben. Beim Design der Kompetenzgrundlage hat man deshalb versucht, einen Kompromiss zu schließen. Auf der einen Seite sollte der politische Wunsch, Opferrechte umfassend regeln zu können, erfüllt werden. Auf der anderen Seite sollte den Bedenken der Mitgliedstaaten, die souveräne Entscheidungsgewalt über die Ausgestaltung ihrer Strafjustizsysteme einzubüßen, abgeholfen werden. Außerdem musste die Kompetenz in einen systematischen Kontext innerhalb des Primärrechts verortet werden. Zumindest auf dem Papier ist den Bedenken der Mitgliedstaaten umfassend Rechnung getragen worden. Ob sich praktisch der politische Wunsch zur umfassenden Normierung von Opferrechten durchsetzt, muss eine Betrachtung der auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV erlassenen Richtlinienvorgaben zeigen.266 Die systematische Verortung der Komausgelegt und angewendet werden. Diese Argumentation kann indes unter föderalen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht überzeugen. 264 Krit. Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 290. Siehe auch European Criminal Policy Initiative, ZIS 2013, 412, 413, 422. 265 Siehe z. B. die Ausführungen von Reding, wiedergegeben oben Kap. 1 D I 3 b). 266 Bereits im Gesetzgebungsprozess ist bezweifelt worden, ob die Kompetenzschranken, insbesondere die Erforderlichkeitsklausel, in der Praxis kompetenzbeschneidend wirken

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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petenz ist zwar angesichts der auf Unionsebene vertretenen Prämisse, dem Opfer komme ein angestammter Platz im Strafjustizsystem zu, konsequent. Ob diese Prämisse praktisch allen beteiligten Interessen gerecht wird, ist allerdings noch zu beantworten.267

II. Opferrechte als wiederentdeckte Priorität in der Unionspolitik 1. Politische Vorbereitung und Verhandlung der RL 2012/29/EU Die Regelung von Opferrechten avancierte bereits nach kurzer Reflexionsphase auch post Lissabon zur politischen Priorität der EU. Denn schon im Jahr 2009 rückten Verbrechensopfer wieder in das Zentrum des kriminalpolitischen Interesses auf Unionsebene. Das Europäische Parlament forderte den Rat wenige Wochen nach Erscheinen des zweiten Berichts der Kommission zur Umsetzung des RB 2001/220/ JI auf, einen umfassenden Rechtsrahmen zu beschließen, der Opfern den bestmöglichen Schutz in der Strafgerichtsbarkeit in der EU biete.268 Die Ratsformation Justiz und Inneres reagierte auf diese Empfehlung und die Umsetzungsberichte der Kommission im September 2009 mit einer Schlussfolgerung über eine Strategie für die Verwirklichung der Rechte und eine bessere Unterstützung von Personen, die in der EU Opfer einer Straftat geworden sind.269 In seinen Forderungen bleibt der Rat zurückhaltend. Insbesondere betont er, dass eine gemeinsame Strategie im Bereich der Opferrechte die verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtssysteme und die unterschiedlichen Rollen des Opfers darin respektieren müsse – eine Forderung, die angesichts der Besetzung des Rates nicht überrascht. Außerdem mahnt er die Beachtung der Beschuldigtenrechte an. Auch der Rat spricht sich allerdings für die Ausarbeitung eines neuen Rechtsinstruments aus und fordert, in dem künftigen Stockholmer Programm – dem Nachfolger des zu Opferrechten schweigenden Haager Programms – der gemeinsamen Opferschutzstrategie genügend Aufmerksamwürden, Kretschmer, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, Art. III-270 EVV Rn. 2, 25. Tatsächlich ist z. B. die staatliche Opferentschädigung partiell auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV geregelt worden, siehe Art. 17 RL 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer, EU-ABl. L 101/1 v. 15. 4. 2011. Nach altem Recht war die RL 2004/80/EG zur staatlichen Opferentschädigung, EU-Abl. L 261/1 v. 6. 8. 2004, noch aufgrund fehlenden Bezugs zur strafjustiziellen Zusammenarbeit auf Grundlage des Art. 308 EGV a.F. erlassen worden. Auch die RL 2012/29/ EU enthält zahlreiche Vorgaben, die unter Beachtung des Schrankenregimes in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV nicht hätten erlassen werden dürfen, siehe Kap. 2 A, B II. 267 Siehe hierzu Kap. 3 B, C. 268 Empfehlung des Europäischen Parlaments vom 7. 5. 2009 an den Rat zur Entwicklung eines Raums der Strafgerichtsbarkeit in der EU, EU-ABl. C 212 E/116 v. 5. 8. 2010, EG F und Empfehlung Nr. 1a. 269 2969. Tagung des Rates „Justiz und Inneres“ v. 23. 10. 2009, 1436/09 (siehe zum Text der Schlussfolgerung goo.gl/zn28JX, 6. 2. 2108).

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

keit zu widmen. Diesem Appell folgend enthält das kurz darauf vom Europäischen Rat verabschiedete Stockholmer Programm die Maßgabe, bei der Regelung von Opferrechten einen integrierten und koordinierten Ansatz zu verfolgen und den Erlass eines neuen umfassenden Rechtsinstruments zu prüfen.270 Die Kommission erklärte daraufhin im Jahr 2010 den Schutz von Verbrechensopfern zur strategischen Priorität und kündigte ein umfassendes Maßnahme-Paket zur Verbesserung des Opferschutzes an.271 Nach Durchführung einer öffentlichen Konsultation zur Vorbereitung des Gesetzespakets, an der sich zahlreiche Opferrechte-Lobbygruppen beteiligten,272 und Beiziehung weiterer externer Beiträge273 präsentierte sie im Mai 2011 den Vorschlag für das zweite umfassende Opferrechteinstrument auf EU-Ebene: den Vorschlag für eine Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe274. Den ursprünglichen Plan, den RB 2001/220/JI und die Opferentschädigungsrichtlinie 2004/80/EG in einem gemeinsamen Rechtsinstrument zusammen zu führen und zu reformieren,275 hatte sie aufgegeben. Zusammen mit dem Richtlinienvorschlag veröffentlichte sie eine Mitteilung zur Stärkung der Opferrechte276 und einen Vor270 Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, EU-ABl. C 115/1 v. 4. 5. 2010, Unterpunkt 2.3.4. 271 Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM(2010)171 endg. v. 20. 4. 2010, Maßnahmen im Bereich „Schutz der Grundrechte“; Arbeitsprogramm der Kommission für 2011, KOM(2010)623 endg. v. 27. 10. 2010, Anhang I; Bericht über die Unionsbürgerschaft 2010, KOM(2010)603 endg. v. 27. 10. 2010, Punkt 2.1.3. 272 Neben 24 Bürgern und 7 Regierungsvertretern lieferten 29 Nichtregierungsorganisationen die meisten Antworten. Stark vertreten waren Opferschutzverbände. Sie attestierten dem Verletzten – auf schwindender tatsächlicher Grundlage – die Rolle der vergessenen Figur in Recht und Politik, siehe nur VSE, Stellungnahme, S. 1; Victim Support Czech Republic, Stellungnahme, S. 1, und forderten, das Opfer müsse eine dominantere Rolle im Strafverfahren erhalten, seine Belange müssten im Rahmen des öffentlichen Interesses stärkere Berücksichtigung finden und die Staatsanwaltschaft müsse eine Fürsorgepflicht ihnen gegenüber übernehmen, siehe VSE, Stellungnahme, S. 1, 5, 18. Die Stellungnahmen der öffentlichen Konsultation sind abrufbar unter goo.gl/7dV3mo (30. 6. 2016). 273 Dazu gehören die Studie des Centre for the Study of Democracy, Final Study, die Studie der APAV, Victims in Europe, Ergebnisse zweier Expertentreffen im Februar und April 2010 und die Studie von Matrix Insight, Final Report, die insbes. die Kosten der verschiedenen politischen Optionen abschätzte, siehe zusammenfassend KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 5 f. Die einbezogenen externen Studien wurden mit EU-Geldern finanziert. Im Bereich der Kriminologie und Viktimologie wird die politisch finanzierte Forschung teils sehr kritisch gesehen, vgl. nur Sebba, Criminol. & Crim. Just 1 (2001), 27, 30. Bemerkenswert ist, dass die Vergleichsstudien alle von (vermeintlichen und nur zum Teil empirisch belegten) Bedürfnissen der Verletzten ausgehen und deren Adressierung in den Strafjustizsystemen untersuchen. Je nach Befriedigungsstand werden weitere rechtliche Institute gefordert. Die Grundstrukturen der Verfahrensordnungen oder deren (straf)theoretischen Hintergründe werden nicht näher untersucht bzgl. der nötigen Kompatibilität mit den geforderten Neuerungen. 274 KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011. 275 So noch z. B. das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, EU-ABl. C 115/1 v. 4. 5. 2010, Unterpunkt 2.3.4. 276 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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schlag für eine Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen277. Zudem kündigte die Kommission weitere Maßnahmen an, um das Opfer in den Mittelpunkt der Strafjustiz-Agenda der EU zu rücken.278 Der Rat reagierte auf den Richtlinienvorschlag mit einem Fahrplan zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern von Straftaten.279 Darin begrüßte er das Maßnahmenpaket und versprach, die mit Opferrechten zusammenhängenden Vorschläge prioritär zu prüfen und vollumfänglich mit dem Europäischen Parlament zusammenzuarbeiten.280 Diesem Versprechen folgend traten Rat und Europäisches Parlament in ein zügiges Gesetzgebungsverfahren ein.281 Das Parlament beauftragte seine Ausschüsse für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter, das Beschlussdokument vorzubereiten.282 Den Bericht der Ausschüsse debattierte das Parlamentsplenum an nur einem Tag und segnete ihn bereits am folgenden Tag mit 611 Ja- zu 9 Neinstimmen und 13 Enthaltungen als abgeänderten Vorschlag für die Richtlinie ab. Der Rat stimmte dem Standpunkt des Parlaments, der dem bereits im Juni zwischen Parlament und Rat in informellen Vorverhandlungen gefundenen Kompromiss entsprach, ohne Änderungen einstimmig zu.283 Die Opferrechterichtlinie wurde so gem. Art. 294 Abs. 4 AEUV in erster Lesung erlassen. Der vollständige Gesetzgebungsprozess von der Veröffentlichung des Kommissionsvorschlags bis zum Inkrafttreten der RL 2012/29/ EU dauerte 18 Monate. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Möglichkeit, das Gesetzgebungsverfahren zügig und in der 1. Lesung abzuschließen, 277 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen, KOM(2011)276 endg. v. 18. 5. 2011. 278 KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 11. 279 Entschließung des Rates vom 10. Juni 2011 über einen Fahrplan zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern, insbesondere in Strafverfahren, EU-ABl. C 187/01 v. 28. 06. 2011. 280 Id., Entschließungen 2, 4, 5, Maßnahme A. Der Fahrplan fasst die geplanten Maßnahmen der EU zur Verbesserung der Position von Verbrechensopfern zusammen, neue Elemente enthält er nicht. 281 Siehe zu den einzelnen Schritten und Ergebnissen in dem Gesetzgebungsverfahren http://eur-lex.europa.eu/procedure/EN/2011_129 (6. 2. 2018). 282 Insbesondere der Frauenrechteausschuss prägte die Richtlinie stark. Siehe hierzu unten Kap. 1 D III 1 a). Der Rechtsausschuss hingegen äußerte sich nur in einer Stellungnahme ohne viel Durchschlagskraft, Europäisches Parlament, Plenarsitzungsdokument A7-0244/2012 v. 18. 07. 2012, S. 64 ff. Er forderte u. a. eine Parteistellung und ein Akteneinsichtsrecht für Opfer im Strafverfahren, die besondere Berücksichtigung von Opfern organisierter Verbrechen und die stärkere Beachtung der Wünsche des Opfers bei Anwendung der Institute zum Opferschutz in Artt. 18 ff. RL 2012/29/EU. Möglichen Auswirkungen der Gesetzesinitiative auf die Stellung des Beschuldigten widmete er sich nicht. 283 Zu den informellen Verhandlungen (Trilog der Organe) zwischen Vertretern von Rat, Parlament und Kommission im Gesetzgebungsprozess siehe Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 294 AEUV Rn. 26.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

ausgenutzt werden soll und die Organe zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind,284 war dies schnell.285 Praktisch befördert hat dieses Ergebnis unter anderem das Engagement der dänischen Präsidentschaft, die einen Abschluss noch unter ihrem Vorsitz erreichen wollte und daher auf informelle Vorverhandlungen und eine sehr früh terminierte Abstimmung drängte.286 Diese Vorgehensweise wird kritisiert, da so weder eine ausführliche Beratung zwischen den Organen habe stattfinden noch Impulse aus der Öffentlichkeit in den eigentlichen Entscheidungsprozess hätten einbezogen werden können.287 Das Ergebnis überrascht jedoch nicht. Zügige Gesetzgebungsverfahren im Bereich der Opferrechte sind kein Novum, sondern entsprechen dem Zeitgeist288. 2. Problemfeld 1: Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme Auch bei den Verhandlungen der RL 2012/29/EU war das schon bekannte Problemfeld inter- und supranationaler Opferrechtegesetzgebung einer der wichtigsten Diskussionspunkte: Die Wahrung der Kohärenz der nationalen Strafjustizsysteme. Unter Geltung der Rechtslage post Lissabon ist gem. Art. 82 Abs. 2 S. 1 AEUV bei Erlass von Mindeststandards für die Rechte von Straftatopfern das ordentliche Gesetzgebungsverfahren anzuwenden. Gleichberechtigte Rechtssetzungsorgane sind der Rat und das Parlament.289 Beide müssen dem Rechtsinstrument zustimmen. Im Parlament genügt gem. Art. 231 S. 2 AEUV die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen, im Rat ist grds. die qualifizierte Mehrheit erforderlich, Art. 16 Abs. 3 EUV.290 Anders als noch bei Erlass des RB 2001/220/JI verfügen die Mitgliedstaaten damit nicht mehr über die alleinige Hoheit im Gesetzgebungsverfahren 284

Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 294 Rn. 28. Eine Studie der Kommission ermittelte, dass Einigungen in erster Lesung 2006 durchschnittlich 17 Monate mit eindeutig steigender Tendenz dauerten (goo.gl/gXSzro, S. 3, 29. 1. 2018). Beachtet man, dass das Mitentscheidungsverfahren für Akte der früher 3. Säule erst 2009 eingeführt wurde, noch keine Erfahrung mit diesem Verfahren in Bezug auf Rechtsakte des RFSR bestand und dem Trend nach die Verfahrensdauer anstieg, muss der Erlass der RL 2012/29/EU als zügig bezeichnet werden. I. E. ebenso, allerdings ohne Begründung Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 17. 286 Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90; Maple/Lang, N. J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 208, 220. Dieses Verhalten entspricht allerdings der häufigen Vorgehensweise von Ratspräsidentschaften, die im Laufe ihrer Vorsitzperiode rasch eine Einigung erzielen wollen, siehe Europäisches Parlament, Tätigkeitsbericht der Delegationen im Vermittlungsausschuss (6. Wahlperiode), PE 427.162v01-00, S. 12. 287 Maple/Lang, N. J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 208, 220. Allgemein kritisch zu den informellen Verhandlungen Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 294 AEUV Rn. 26. 288 Maple/Lang, N. J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 208, 221. 289 Siehe Art. 294 AEUV; Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 294 AEUV Rn. 14. 290 Siehe aber Art. 293 Abs. 1 AEUV; Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 294 AEUV Rn. 36. 285

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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durch ihre ministerialen Vertreter im Rat.291 Einzelne Staaten können Vorschläge nicht mehr durch ein einfaches Veto blockieren, sondern können vielmehr auch gegen ihren Willen an Vorgaben gebunden werden.292 Die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, den Inhalt der supranationalen Vorgaben zu Opferrechten zu beeinflussen, waren damit geringer als noch im Verfahren zum Erlass des RB 2001/220/JI. Gleichwohl verschafften die Mitgliedstaaten ihren Bedenken während der politischen Vorbereitungen der RL 2012/29/EU durch Stellungnahmen und auch im Gesetzgebungsverfahren über ihre ministerialen Vertreter im Rat Gehör.293 Vertreter von Mitgliedstaaten, die dem Common Law-Rechtskreis angehören, machten geltend, dass ein Opfer mit Beteiligungsrechten nicht in die adversatorische Struktur ihres Strafverfahrens integriert werden könne. Der für EU-Sachen zuständige Ausschuss des britischen Parlaments betonte bspw., dass die besondere Position des Verletzten im britischen Strafverfahren bei der Abfassung der Richtlinie beachtet werden müsse.294 Das Opfer könne darin nicht als Partei mit eigenen Rechten auftreten und zudem dürfe die Unabhängigkeit des Strafgerichts nicht durch Rechte des Opfers beschnitten werden. Außerdem sei zu überprüfen, ob der Ausbau der Opferrechte verhältnismäßig sei. Ähnlich äußerte sich das englische Justizministerium in der öffentlichen Konsultation zur Vorbereitung des Vorschlags für die RL 2012/29/ EU.295 In seiner Stellungnahme stellte es das Strafverfahrenssystem des Common Law den kontinental-europäischen Systemen gegenüber und betonte, das Common Law nähme eine Sonderstellung ein, weil es für Opfer keine (Partei-)Stellung im Strafverfahren vorsehe.296 Dies müssten die Richtlinienvorgaben berücksichtigen. Außerdem ermahnte das Justizministerium die EU, ihre Kompetenzen einzuhalten. Eine der Hauptbefürchtungen von Mitgliedstaaten mit Common Law-Hintergrund war somit, dass die EU ihnen oktroyieren könnte, eine Parteiposition für das Opfer im Strafprozess einzuführen. Dem lag die Ansicht zugrunde, dass dem (vermeintlich) Verletzten zwar unproblematisch eine einflussreiche (Partei-)Position in den inquisitorisch ausgestalteten kontinentalen Verfahrenssystemen eingeräumt werden könne und auch praktisch eingeräumt werde. Die Integration des (vermeintlich) Verletzten in die adversatorische Verfahrensstruktur hingegen scheitere an Grundprämissen des Common Law-Justizsystems. Diese Vorstellung deckte sich mit 291 Zur Zusammensetzung des Rates siehe Art. 16 Abs. 2 EUV; zur Eigenschaft des Rates als Gesetzgebungsorgan im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren siehe Art. 289 Abs. 1 AEUV. 292 Siehe aber das Instrument der sog. Notbremse in Art. 82 Abs. 3 AEUV. 293 Zu dem Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Abfassung der RL 2012/29/EU siehe Kap. 2 B. 294 European Scrutiny Committee, report MOJ (32804) v. 8. 6. 2011, 4.32, 4.41, 4.45, 4.62, abrufbar unter goo.gl/5DVbeS (29. 1. 2018). 295 Die Stellungnahmen sollten Eingang finden in das Maßnahmepaket zum Opferschutz, sie sind abrufbar unter goo.gl/nFC5Rj (31. 8. 2016). 296 Ministry of Justice of England and Wales, Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Konsultation zum Opferschutzpaket der Kommission, S. 1 (abrufbar unter http://goo.gl/e3 XcKf, 31. 8. 2016).

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Auffassungen in der Literatur zu Opferrechten in Common Law-Staaten.297 Darin wird geltend gemacht, dass das Opfer strukturell nicht mit eigenen Rechten in ein adversatorisch ausgestaltetes Strafverfahren integriert werden könne. In inquisitorisch gestalteten Strafverfahrenssystemen hingegen sei es unproblematisch, dem Opfer Teilnahmerechte und eine starke Stellung einzuräumen. Soweit dies praktisch in kontinental-europäischen Systemen nicht geschehe, läge dies einzig an der überkommenen Annahme, dass das Opfer ein Außenseiter im Strafjustizsystem sei.298 Allerdings meldeten sich auch Vertreter von Staaten, in deren Rechtsordnung eine inquisitorisch ausgestaltete Verfahrensstruktur verwendet wird, kritisch zu Wort. Sie machten u. a. geltend, die Vorgabe einiger Opferrechte auf Unionsebene könne auch mit Verfahrensprinzipien ihrer Systeme kollidieren, wie etwa dem Unmittelbarkeitsgrundsatz und dem Beschleunigungsgrundsatz, und einige der antizipierten Opferrechte seien für sie systemfremd.299 Außerdem müssten sich Unionsvorgaben zu Opferrechten an der festgeschriebenen Rolle des Opfers in den jeweiligen nationalen Prozessordnungen orientieren.300 Die Rolle könne nicht unionsweit vereinheitlicht werden, sondern den Mitgliedstaaten müsse genug Freiraum belassen werden, um die Opferrechte in Einklang mit ihrem nationalen Recht auszugestalten.301 Übergreifend prägte die staatlichen Stellungnahmen zum Erlass des Opfermaßnahmenpakets zudem eine positive Beurteilung der jeweiligen nationalen Vorschriften. Weitere legislative Vorstöße durch die EU wurden überwiegend – etwa von dem österreichischen, englischen und hessischen Justizministerium – abgelehnt.302 Die Stellungnahme des bundesdeutschen Justizministeriums machte in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Zwar unterbreitete das Ministerium umfangreiche Vorschläge für mögliche Inhalte einer neuen Richtlinie zu Opferrechten; diese entsprachen indes dem bereits geltenden deutschen Recht.303 EU-Vorgaben, die neue Verpflichtungen für Deutschland hätten begründen können, wurden zurückgewiesen. Im Ergebnis 297

Doak, Victims’ Rights, S. 245, 249; ders., J. L. Society 32 (2005), 294, 313 f.; Sanders, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 97, 108; ders., in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 222. Ellison, Adversarial Process, S. 160 hält jedenfalls für die Umsetzung von Schutzrechten das adversatorische Verfahrenssystem für ungeeigneter als das Inquisitorische. Siehe aber auch krit. dazu Hall, Victims of Crime, S. 18; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 156 f. 298 Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 297 f., 310, 313 f. 299 BR-Drucks. 278/11 v. 23. 9. 2012, S. 3 f. 300 DRiB, RiStA 6/2011, 8. 301 DRiB, RiStA 6/2011, 8. Ähnlich Centre for the Study of Democracy, Final Study, S. 118 f. 302 Die Stellungnahmen sind abrufbar unter goo.gl/nFC5Rj (31. 8. 2016). 303 Bezug genommen wurde in der Stellungnahme (goo.gl/APMvCH, 31. 8. 2016) auf die Inhalte der Vorschriften in §§ 24 Abs. 1 Nr. 3, 172 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Nr. 5 GVG und §§ 68a Abs. 1, 2, 68b, 241a Abs. 1, 247 S. 2, 247a, 255a Abs. 2, 406d Abs. 2 Nr. 2, 406e Abs. 1, 406 f Abs. 1, 406 h StPO.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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suggerierten die Stellungnahmen der Regierungsvertreter so zwar alle Aufgeschlossenheit gegenüber der supranationalen Vorgabe von Opferrechten. Dominiert wurden sie aber letztlich von einer protektionistischen Einstellung gegenüber EUrechtlichen Änderungsvorgaben. Auch bei der EU-Opferrechtegesetzgebung post Lissabon war somit Widerstand der Nationalstaaten zu beobachten, weil sie befürchteten, die Vorgabe einheitlicher Opferrechte im Strafverfahren könne mit ihren nationalen Strafjustizsystemen konfligieren. Insbesondere Vertreter von Common Law-Systemen suchten den Grund dafür in dem Unterschied zwischen adversatorischer und inquisitorischer Verfahrensstruktur. Der Mitgliedstaaten-übergreifende Protest und die flächendeckende Zurückhaltung gegenüber grundlegenden Änderungsvorgaben durch die EU legt jedoch nahe, dass die Integration einer starken Rolle für das Opfer im Strafverfahren eine alle nationalen Strafjustizsysteme übergreifende Herausforderung darstellt.304 Unter Geltung des Art. 82 Abs. 2 AEUV muss die EU bei Erlass von Opferrechtemindeststandards diesen Sorgen der nationalen Vertreter jedenfalls Rechnung tragen.305 3. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten Während die Frage, ob die Umsetzung supranationaler Vorgaben zu Opferrechten die Position des Beschuldigten im Strafverfahren unangemessen beeinträchtigen könnte, bei der Vorbereitung des RB 2001/220/JI wenig diskutiert worden war, wurde sie während der Vorbereitungen der RL 2012/29/EU zu einem Brennpunktthema. Zwar beteuerte die Kommission, dass der Ausbau der Opferrechte im Richtlinienvorschlag die Verteidigungsposition des Beschuldigten unangetastet lasse.306 Dem widersprachen jedoch zahlreiche Interessenvertreter aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen mit dem Argument, die Vorgaben im Richtlinienvorschlag zur Stärkung der Opferrechte liefen Gefahr, Beschuldigtenrechte zu verletzen.307 Auch Vertreter der Mitgliedstaaten forderten in ihren Stellungnahmen vermehrt, dass Beschuldigtenrechte und der Grundsatz eines fairen Verfahrens durch die EU-Vorgaben zu Opferrechten nicht beeinträchtigt werden dürften.308 Dabei äußerten Vertreter von Civil und Common Law-Staaten gleicher304

Zu den theoretischen Hintergründen siehe Kap. 3 A. Siehe oben Kap. 1 D I 5. 306 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 5. 307 Amnesty International, Comments, S. 2, 9; CCBE, Response, S. 3; DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.1, 3.4; ECBA, Statement on the Draft Directive, S. 2 f.; Fichera, eucrim 2011, S. 79, 81; StrafVV, Stellungnahme, passim. Die grds. Priorisierung von Opferbelangen vor Beschuldigtenrechten auf EU-Ebene kritisiert Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 456 f. 308 BR-Drucks. 278/11 v. 23. 9. 2011, S. 4; European Scrutiny Committee, report MOJ (32804) v. 8. 6. 2011, 4.62 (abrufbar unter http://www.publications.parliament.uk/pa/cm201012/ 305

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

maßen Bedenken. Inhaltlich wurde insbesondere kritisiert, die Gewährung einiger der vorgeschlagenen Rechte könnte zu einer Verlängerung des Verfahrens führen, die Verteidigungsrechte des Angeklagten, wie z. B. sein Konfrontationsrecht, beschränken und insgesamt die Gewährleistung eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK vereiteln.309 Außerdem würden die Vorgaben mit der Unschuldsvermutung kollidieren.310 Bei dem Erlass von Mindeststandards zu Opferrechten sind die Unionsorgane an die Grundrechte gebunden und müssen dabei auch die Rechte des Beschuldigten aus Artt. 47 Abs. 2, 48 GRC und Art. 6 EMRK beachten.311 Primärrechtlich war der Unionsgesetzgeber somit verpflichtet, bei dem Erlass von Opferrechten auf Unionsebene auch dieses Problemfeld aufzulösen.

III. Offizielle und unbenannte Motive des EU-Einsatzes für Opferrechte Die politische Diskussion sowie das legislative Engagement auf Unionsebene sind geprägt von dem Konsens, dass die Bedürfnisse von Straftatopfern auf Unionsebene stärker beachtet werden müssen. Als politisches Leitmotiv des Unionsengagements für Opferrechte post Lissabon propagierte die ehemalige EU-Justizkommissarin Reding deshalb: „Our criminal justice systems focus on catching criminals and punishing the offenders. In the process they end up neglecting victims. […] This is why we need to rebalance justice in Europe […]. In other words we must put victims first.“312 Die mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme sollen also neu cmselect/cmeuleg/428-xxix/42806.htm, 29. 1. 2018). Siehe auch Ausschuss der Regionen, Stellungnahme Legislativpaket Opferrechte, EU-ABl. C 113/56 v. 18. 4. 2012, I. 6. 309 Siehe ausführlich Kap. 2 C II 1. 310 DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 1., 2.; StrafVV, Stellungnahme, S. 2 f.; Kap. 2 A II 2, C I. 311 Siehe oben Kap. 1 D I 6. 312 Reding, Putting Victims first – Speech 11/424, S. 2; ähnlich KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 3. Nach dem Leitmotiv sollen die Interesen des Opfers im Strafverfahren gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Verfolgung und den Interessen des Beschuldigten priorisiert werden. Diese Rhetorik ist aus mehreren Gründen zu kritisieren. Erstens ist es rechtsstaatlich nicht vertretbar und auch unionspolitisch wohl nicht ernsthaft intendiert, die Interessen des Opfers umfassend denen des Beschuldigten im Strafverfahren überzuordnen und das Opfer so zur Hauptfigur im Strafverfahren zu machen, vgl. unten Kap. 2 C, kritisch auch Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 457. Zweitens suggeriert das Bild einer Waage, dass die Position des einen nur zu Lasten der Position des anderen gestärkt werden könne. Dem entgegen sind jedoch einige der Interessen von Beschuldigtem, Opfer und Allgemeinheit kongruent, z. B. das Interesse an einem zügigen Verfahren. Andere Opferbedürfnisse, z. B. Unterstützung, können außerhalb und ohne Auswirkungen auf den Strafprozess befriedigt werden. Ein Nullsummenspiel ist folglich zur Befriedigung der meisten Interessen nicht erforderlich. Schließlich unterstellt das Leitmotiv, zur Verbesserung der Position des Opfers bedürfe es zwingend einer Neujustierung des Strafverfahrens. Alternativen zur Befriedigung von Opfer-

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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austariert und die Bedürfnisse von Opfern sollen in den Mittelpunkt gerückt werden. Bereits 2001 war allerdings der noch nicht einmal vollständig umgesetzte Rahmenbeschluss zu Opferrechten erlassen worden. Dies wirft die Frage auf, welche Motive die EU bewogen haben, Opferrechte bereits wenig später erneut zur Priorität zu erklären und eine weitere umfassende Maßnahme zu erlassen. Nur anhand dieser Motive lässt sich zudem das Sekundärrecht unter Zielaspekten bewerten und ggf. eine Alternative entwerfen. 1. Offizielle Begründung für die Regelung von Opferrechten Die EU begründet den Erlass der RL 2012/29/EU zweistufig. Zuerst stellt sie dar, warum die Regelung von Opferrechten allgemein von Belang sei, und erläutert dann, warum es einer neuen Maßnahme zu Opferrechten auf Unionsebene bedürfe.313 a) Bedeutung von Opferbedürfnissen Die Kommission statuierte zunächst, dass die Regelung von Opferrechten notwendig sei, weil Straftaten „jeden von uns“ treffen können.314 Pro Jahr gäbe es über 75 Millionen direkte Straftatopfer in der Union; diese Zahl allein zeige, wie wichtig es sei, Opfer von Straftaten zu unterstützen. Außerdem sei die Stärkung der Rechte von Straftatopfern zur strategischen Priorität auf Unionsebene erklärt worden.315 Unterstützend beruft sich die EU auf die geschlechtsspezifische Dimension des Themas.316 Frauen seien verdeckten Formen von Gewalt besonders ausgesetzt und die Vorgabe von Opferrechten sei notwendig, um die Rechte der Frauen zu stärken und körperliche, häusliche sowie sexuelle Gewalt gegen Frauen zu reduzieren. Diese Argumentation führt die bereits mehrjährigen Bestrebungen des Europäischen Parlaments fort, die Bekämpfung geschlechtsbezogener, häuslicher sowie sexueller

bedürfnissen außerhalb des strafprozessualen Kontextes werden damit a priori ausgeschlossen. Dabei könnten Verbesserungen für den von der Straftat Betroffenen wirksam auch außerhalb des Strafjustizsystems erreicht werden, siehe Kap. 5 B. Neu ist diese medienwirksame Rhetorik indes nicht. Bereits vor zehn Jahre wurde sie beinahe wortidentisch von der englischen New Labour Regierung in dem White Paper „Justice for all“ bemüht. Danach war es Ziel der politischen Initiative zur Reform des englischen Strafjustizsystems „to rebalance the system in favour of victims“, GB Home Office, Justice for All, CM 5563, 2002, Vorwort; siehe auch Doak, Victims’ Rights, S. 11. Schon damals wurde die Rhetorik mit ähnlichen Argumenten kritisiert, siehe Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 43 – 45; Jackson, in: Cape, Reconcilable rights?, S. 65 ff.; ders., J. L. Society 30 (2003), 309 ff. 313 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 1 ff. 314 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 1. 315 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3; KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 2. 316 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 1 f.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

Gewalt gegen Frauen zur politischen Priorität auf Unionsebene zu erheben.317 Sie spiegelt sich auch in der späteren Wahl des zuständigen Ausschusses im Europäischen Parlament. Parlamentsausschüsse bereiten im Gesetzgebungsverfahren das Beschlussdokument für das Plenum vor. Welcher Ausschuss inhaltlich zuständig ist, richtet sich nach dem Schwerpunkt der zu regelnden Materie.318 Der politische Austausch in den Fachausschüssen prägt die Willensbildung im Plenum erheblich,319 sodass deren Auswahl große praktische Relevanz zukommt. Der Vorschlag zur RL 2012/29/EU wurde zunächst an den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres übermittelt, der insbesondere für Maßnahmen im Zusammenhang mit der PJZS zuständig ist.320 Kurz darauf wurde zudem der Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter mit der Beratung des Vorschlags befasst. Dessen Vertreter warben für die Anerkennung der geschlechtsspezifischen Dimension von Opferrechten mit dem Argument, dass geschlechtsbezogene Gewalt ein Ausdruck der Chancenungleichheit von Männern und Frauen sei und Gewalt gegen Frauen als Form der Diskriminierung umfassender anerkannt und bekämpft werden müsse.321 Der Einfluss des Frauenrechteausschusses spiegelt sich in dem von beiden Ausschüssen gemeinsam erlassenen Beschlussdokument und in der Richtlinie erheblich.322 Dass sich die EU auf die geschlechtsspezifische Dimension des Themas zur Begründung ihrer Opferrechtevorgaben beruft und den Ausschuss für Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung mit der Gestaltung der Opferrechte317

Siehe die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. April 2011 zu den Prioritäten und Grundzügen einer neuen EU-Politik zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, EU-ABl. C 296 E v. 2. 10. 2012, S. 26 sowie die dort in Bezug genommenen Unionsdokumente. 318 Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 294 AEUV Rn. 22. 319 Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 294 AEUV Rn. 22. 320 Siehe zum Gesetzgebungsprozess der RL 2012/29/EU http://eur-lex.europa.eu/procedu re/EN/2011_129 (7. 2. 2018). 321 Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter, Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe, COM(2011)275, A7 – 0244/2012, S. 60 f. 322 EG 5 und 6 RL 2012/29/EU informieren über EU-Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, EG 17 und 18 erläutern die Phänomene geschlechtsbezogener Gewalt und Gewalt in engen Beziehungen sowie die Bedürfnissen davon Betroffener. Ursgl. hatte das Europäische Parlament diese Gewaltarten in Art. 2 der Richtlinie legal definieren wollen, scheiterte jedoch am Widerstand der Mitgliedstaaten, Buczema, ERA Forum 2013, 235, 244 f. Zudem erhalten Opfer geschlechtsbezogener Gewalt besondere Schutzvorkehrungen, Artt. 22 Abs. 3, 23 Abs. 2 lit. d) und spezialisierte Opferunterstützungsdienste müssen gem. Art. 9 Abs. 3 gezielte Unterstützung für Opfer von sexueller, geschlechtsbezogener und in engen Beziehungen erfolgender Gewalt vorhalten. Kooperationsmaßnahmen der Mitgliedstaaten zur Verringerung des Risikos sekundärer und wiederholter Viktimisierung gem. Art. 26 Abs. 2 sollen besonders Opfer geschlechtsbezogener Gewalt und von Gewalt in engen Beziehungen in den Blick nehmen. Die European Women’s Lobby bemängelt trotzdem, die RL 2012/29/EU berücksichtige Frauenrechte nicht ausreichend, vgl. „EC Victims’ Package falls short of expectations: where is the EU strategy on violence against women?“ (goo.gl/KRuzv3, 7. 2. 2018).

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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richtlinie beauftragte, erinnert an die ideologischen Wegbereiter der ersten Opferrechtebewegungen. Mit den gleichen Argumenten, die auf EU-Ebene vorgebracht werden, hatten sich bereits in den 1980er Jahren feministische Gruppen für die Verbesserung der Stellung der Verletzten im Strafverfahren eingesetzt.323 Schließlich erwähnt die EU, dass sie bereits 2001 den RB 2001/220/JI zur Stärkung der Rechte von Straftatopfern erlassen habe und alle Mitgliedstaaten Schutz und Unterstützung für Opfer gewährleisteten.324 Allerdings sei das Gesamtniveau an Opferrechten unionsweit nach wie vor zu niedrig und differiere zwischen den Mitgliedstaaten.325 Die Ziele des RB 2001/220/JI seien nicht vollständig erreicht worden, weil seine Vorgaben zu vage und ihre Einhaltung nicht erzwingbar gewesen seien.326 Außerdem habe sich der Blick der Gesellschaft auf Opfer weiterentwickelt, weshalb neue Aspekte berücksichtigt werden müssten.327 Daher müsse das bisherige Instrument durch eine neue Richtlinie verbessert und ergänzt und die Vorgaben müssten verbindlicher gestaltet werden.328 Post Lissabon verfüge die EU schließlich auch über eine klare Rechtsgrundlage zur verbindlichen Regelung von Opferrechten.329 Diese allgemeinen Ausführungen zur empirischen Relevanz und geschlechtsspezifischen Komponente von Viktimisierung und dem unionsweiten Gesamtniveau an Opferrechten330 begründen indes nicht, warum die Unterstützung von Straftatopfern, wie vom Leitmotiv vorgegeben, im Strafjustizsystem erfolgen sollte bzw. müsste. b) Notwendigkeit von Aktivitäten auf Unionsebene In einem zweiten Schritt nennt die Kommission Argumente dafür, warum Opferrechte erneut auf Unionsebene geregelt werden müssten. Dazu weist sie zunächst ohne weitere Erläuterungen darauf hin, dass die EU-Charta und die EMRK eine Anhebung der Opferrechtestandards geböten.331

323 Siehe oben Kap. 1 A I. Siehe zum Einfluss feministischer Theorien und Motive auf die Opferrechtsgesetzgebung in zahlreichen Ländern Hall, Victims and Policy Making, S. 111 ff. 324 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3. 325 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3; KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 2. 326 Kommission, Impact Assessment, S. 7; KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3 f.; KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 2. 327 Kommission, Impact Assessment, S. 7. 328 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 4. 329 KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 4. 330 Krit. dazu Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 187. 331 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 5.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

aa) Stärkung des gegenseitigen Vertrauens Außerdem argumentiert die EU, die unionsweit einheitliche Vorgabe eines Kanons an Opferrechten sei notwendig, um das gegenseitige Vertrauen der Justizbehörden und Bürger in die Strafjustizsysteme der jeweils anderen Mitgliedstaaten zum Zweck der strafjustiziellen Zusammenarbeit zu steigern.332 Damit wird die Notwendigkeit der Sekundärrechtsgesetzgebung zu Opferrechten ausdrücklich mit der Förderung der strafjustiziellen Zusammenarbeit begründet. Prae Lissabon dominierte hingegen ein wohlfahrtsstaatliches Argumentationsmuster die Diskussion um die Vorgabe von Opferrechten auf Unionsebene. Es wurde argumentiert, dass unionsweite Opferrechte vor sekundärer Viktimisierung im Prozess schützen und den besonderen Schwierigkeiten abhelfen würden, mit denen transnational betroffene Opfer konfrontiert seien.333 Besonders letzteres fördere die Freizügigkeit der Unionsbürger. Die Steigerung des gegenseitigen Vertrauens und die Erforderlichkeit von Opferrechten für die strafjustizielle Zusammenarbeit spielte hingegen bei der Begründung von Unionsaktivitäten im Bereich der Opferrechte kaum eine Rolle.334 Insgesamt verliefen die bisherigen politischen Maßnahmen der EU in den Bereichen der Vertrauensbildung und der Verbesserung der Opferrechte mehr parallel als verzahnt. So bildeten die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere den politischen Auftakt für die Bemühungen sowohl um die gegenseitige Anerkennung in Strafsachen als auch um die Verbesserung der Opferrechte. Der Opferschutz wurde jedoch unter V. – besserer Zugang zum Recht – und der Anerkennungsgrundsatz unter VI. – gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen – thematisiert.335 In Bezug zueinander gesetzt wurden sie nicht. Das Haager Programm, in dem der Europäische Rat die strategischen Leitlinien für den Politikbereich des RFSR in den Jahren 2005 – 10 festlegte, betonte ebenfalls, dass die Angleichung der Verfahrensrechte für die gegenseitige Anerkennung wichtig sei, jedoch nicht in Bezug auf Opfer, sondern auf den Beschuldigten.336 Das gleiche Bild zeigte sich in dem für die Jahre 2010 – 14 aufgestellten Stockholmer Programm. Hier wurden Opferbelange unter dem Oberthema Freizügigkeit, Schutz der Schutzbedürftigsten thematisiert, nicht aber als relevant für die Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung oder des Ausbaus gegenseitigen Vertrauens für die strafjustizielle Zusammenarbeit eingestuft – im Gegensatz zu den Rechten des Beschuldigten.337 332

KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 4; KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 3. Siehe ausführlich Kap. 1 D I 3 a) aa), Kap. 2 B II. 333 Siehe z. B. KOM(1999)349 endg. v. 14. 07. 1999. 334 Das Vertrauensargument wurde im Kontext von Opferrechten nur sehr vereinzelt genannt, z. B. in der Mitteilung der Kommission zur Bilanz des Tampere-Programms und Perspektiven, KOM(2004)401 endg. v. 2. 6. 2004, Punkt 2.8, und wird erst seit 2009 deutlich häufiger vorgebracht. 335 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Bull. EU 10-1999, S. 7 ff. (11 f.) – Nr. 32 bzw. 33. 336 EU-ABl. C 53/12 v. 3. 3. 2005, Punkt 3.3.1. 337 EU-ABl. C 115/01 v. 4. 5. 2010, Punkte 2.3.4 zu den Opfern, bzw. 2.4 zu den Beschuldigtenrechten und 3.1.1. zur gegenseitigen Anerkennung.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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Erst als die Ermächtigungsgrundlage in Art. 82 Abs. 2 Uabs. 2 lit. c AEUV ausdrücklich verlangt, dass die zu harmonisierenden Opferrechte zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen und der strafjustiziellen Zusammenarbeit erforderlich sind, taucht das Vertrauensargument auch in Begründungen zum Erlass von Sekundärrecht in diesem Kontext vermehrt auf.338 Das Argumentationsmuster, einheitliche Opferrechtestandards stärkten das gegenseitige Vertrauen, findet damit erst dann flächendeckend Eingang in die Darstellungen der Unionsorgane, als sich abzeichnet, dass die Ermächtigungsgrundlage in Art. 82 Abs. 2 Uabs. 2 lit. c AEUV dies verlangt. Zugleich unterstellt die Union pauschal eine Vertrauen steigernde Wirkung von Unionsvorgaben zu Opferrechten.339 Eine fundierte Begründung dieser Prämisse – gar für jedes einzelne zu harmonisierende Opferrecht – erfolgt nicht. Ohnehin überzeugt die Argumentation, die einheitliche Vorgabe eines Opferrechts steigere das für die strafjustizielle Zusammenarbeit erforderliche Vertrauen, nur bei wenigen Vorgaben.340 Deshalb überrascht schon die in Art. 82 Abs. 2 AEUV vorausgesetzte Verbindung von strafjustizieller Zusammenarbeit und Opferrechten.341 Die äußerst dünne Begründungsbasis für die Eignung zur Vertrauensförderung sowie die zeitliche Koinzidenz des Erscheinens dieses Motivs im Primärrecht sowie in Erörterungen zum Sekundärrecht legen nahe, dass das Argument der Vertrauensförderung schlicht der Darlegung dient, dass die Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage erfüllt wären. Die Berufung auf das Vertrauensargument scheint hingegen nicht von der gewandelten Überzeugung motiviert zu sein, dass anders als prae Lissabon die Bedeutung von Opferrechten nicht mehr primär in wohlfahrtstaatlichen Gründen gesehen würde, sondern in ihrer Notwendigkeit für die strafjustizielle Zusammenarbeit.342 Die Verortung der Kompetenzgrundlage in den Kontext der Vertrauensförderung und die Anpassung der Begründung der Sekundärrechtsgesetzgebung scheinen schlicht der besseren politischen Durchsetzbarkeit geschuldet. Obwohl die Stärkung von Opferrechten offiziell primär- wie sekundärrechtlich in den Dienst der Strafverfolgung gestellt wird, ist die Sekundärrechtssetzung faktisch zudem nicht auf Vorgaben beschränkt, die für die Vertrauenssteigerung erforderlich wären.343 338 Siehe z. B. Schlussfolgerung über eine Strategie für die Verwirklichung der Rechte und eine bessere Unterstützung von Personen, die in der EU Opfer einer Straftat geworden sind, 2969. Tagung des Rates „Justiz und Inneres“ v. 23. 10. 2009, 1436/09 (der Text der Schlussfolgerung ist abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/ en/jha/110726.pdf, 29. 1. 2018); daraufhin: KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3; KOM(2011) 75 endg. v. 18. 5. 2011, S. 2. 339 Kap. 1 D I 3 a) aa). 340 Kap. 1 D I 3 a) aa), Kap. 2 B II. 341 Kap. 1 D I 3a). 342 Wohlfahrtstaatliche Gründe werden zudem weiterhin genannt, siehe Kap. 1 D III 1 a), b) bb). 343 Siehe hierzu Kap. 2 B II.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

bb) Grenzüberschreitende Dimension der Viktimisierung Zusätzlich beruft sich die EU wie bereits in der Diskussion zum Erlass des RB 2001/220/JI auf die grenzüberschreitende Dimension der Viktimisierung.344 Zum einen werden die besonderen Schwierigkeiten veranschaulicht, mit denen Opfer in grenzüberschreitenden Sachverhalten konfrontiert sind, und es wird aufzeigt, wie Unionsvorgaben diesen besonderen Problemen abhelfen könnten.345 Zum anderen wird dargelegt, dass gemeinsame Mindestvorschriften Vertrauen der Bürger in die Systeme der anderen Mitgliedstaaten schaffen und Hindernisse für die Freizügigkeit reduzieren würden, was insgesamt zur Stärkung des RFSR beitrage.346 Die notwendigen Belege für die grenzüberschreitende Dimension des Problems bleiben jedoch ungenau. Es wird angeführt, wie viele Reisebewegungen jährlich innerhalb der EU stattfinden, wie viele Menschen in einem anderen als ihrem Heimatmitgliedstaat leben und wie viele Straftaten sich geschätzt im Jahr innerhalb der EU ereignen. Ohne eine Beziehung zwischen den statistisch unabhängigen Werten der innereuropäischen Mobilität und der Kriminalitätsrate herzustellen, wird auf Basis dieser Zahlen unterstellt, es müsse jedenfalls mehrere Millionen EU-Bürger geben, die im Ausland Opfer einer Straftat würden.347 Dies sind allerdings nicht weiter belegte Schätzungen.348 Daraus auf einen wichtigen grenzüberschreitenden Aspekt zu schließen, ist zumindest keine fundiert belegte Annahme. Dies gilt vor allem, weil die EU selbst 1999 anhand ähnlicher Zahlenwerte festgestellt hat, dass die Zahl derer, die im Ausland Opfer einer Straftat würden, überaus gering sei.349 Schließlich werden die spezifischen Probleme von transnational Betroffenen auch in der Gesetzgebung post Lissabon trotz der Bezugnahme auf den transnationalen Bezug nicht besonders adressiert.350 cc) Kostensenkung Als weiteres Argument für die Vorgabe von Opferrechten auf Unionsebene trägt die Kommission vor, der Erlass von Opferrechten trüge dazu bei, Kosten zu reduzieren.351 Durch die Viktimisierung entstünden dem Verletzten und der Gesellschaft erhebliche finanzielle Belastungen etwa durch medizinische Behandlungen und 344

KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 1. Siehe KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6. 346 KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 3. 347 Kommission, Impact Assessment, S. 18; KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 1. Krit. auch Bock, ZIS 2013, 201, 204 f. 348 Zudem werden die Zahlen in Kommission, Impact Assessment, S. 18 und KOM(2011) 274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 1 mit derselben nicht verfolgbaren widersprüchlichen Quellenangabe „belegt“ und sind damit kaum belastbar. 349 KOM(1999)349 endg. v. 16. 07. 1999, S. 1. 350 Siehe Kap. 2 A IV 3. 351 KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 5; Kommission, Impact Assessment, S. 14 f. 345

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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Produktivitätsminderung. Neben den Kurz- und Langzeitaufwendungen im Wirtschafts- und Gesundheitssektor müsse die Gesellschaft die Durchführung der Strafrechtspflege finanzieren. Würden die Bedürfnisse des Verletzten vor, während und nach dem Strafverfahren befriedigt, könne er sich physisch wie psychisch zügiger erholen und die Folgekosten für die Wirtschaft und das Gesundheitssystem könnten so reduziert werden. Eine gute Behandlung des Opfers würde es zudem motivieren, aktiver am Verfahren teilzunehmen. Erfolgreiche Verfolgungen und Verurteilungen würden so wahrscheinlicher und in der Folge würden Wiederholungstaten und Straflosigkeit reduziert,352 was dann offenbar auch die Aufwendungen für die Strafrechtspflege reduzieren soll. Diese Argumentation sollte vermutlich kritische Vertreter der Nationalstaaten milde stimmen. Sie hatten dem Ausbau der Opferrechte auf Unionsebene in der Vergangenheit und auch bei den Verhandlungen der RL 2012/29/EU Kostenerwägungen entgegengehalten und deshalb den Erlass einheitlicher Opferrechtevorgaben abgelehnt.353 Allerdings basiert die Kostenanalyse der EU auf der Annahme, dass ein opfergerechtes Strafverfahren einen therapeutischen Effekt beim Verletzten zeitige. Diese These wird aber weder theoretisch substantiiert noch empirisch belegt, weshalb ihre Tragfähigkeit angezweifelt wird.354 Außerdem wird die praktische Umsetzung vieler Richtlinienvorgaben selbst erhebliche Kosten verursachen, die eventuelle Einsparungen aufzehren können.355 c) Bewertung Die EU unterstellt die Notwendigkeit und Legitimation der Vorgabe von Opferrechten als evident. Ihre These, die Bedürfnisse von Straftatopfern könnten ausschließlich befriedigt werden, indem sie in den Mittelpunkt des Strafjustizsystems gerückt werden, begründet sie nicht. Die Argumente, die die EU für die Notwendigkeit der Regelung von Opferrechten auf Unionsebene vorbringt, stellen sich bei näherer Betrachtung größtenteils als wenig tragfähig heraus. Die Annahme, dass einheitliche Opferrechte das für die Zusammenarbeit erforderliche Vertrauen stärkten, scheint vor allem den Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage geschuldet und bleibt oberflächlich. Die Ausführungen zur grenzüberschreitenden Dimension der Viktimisierung beruhen auf kaum belastbarem Zahlenmaterial. Zudem vermögen sie nicht die Vorgabe von Opferrechten auf Unionsebene für rein nationale Sachverhalte zu begründen. Das Argument einer kostenreduzierenden Wirkung von Opferrechten schließlich basiert auf nicht belegten Annahmen zu therapeutischen Effekten des Strafverfahrens und ignoriert die mit der Implementierung der Vorgaben verbundenen Kosten. Zu überzeugen vermag einzig die These, 352

KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 5. Siehe z. B. BR-Drucks. 278/11 v. 23. 09. 2011, Rn. 11. Zum Streit um die Kosten bei der Opferrechtegesetzgebung auf EU-Ebene Pemberton/Groenhuijsen, in: Morosawa et al., Victimology, S. 535, 546 f. Zu den Auswirkungen auf die RL 2012/29/EU siehe Kap. 2 B I 2. 354 Ausführlich und krit. Bock, ZIS 2013, 201, 202 f. 355 Siehe auch unten Kap. 2 B I 2. 353

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

dass grundrechtliche Standards Rücksichtnahme und Unterstützung von Straftatopfern gebieten. Gerade dieses Argument wird allerdings nicht in den Vordergrund gestellt. Dies dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass Art. 82 Abs. 2 AEUV die EU nicht berechtigt, allein zur Steigerung menschenrechtlicher Mindeststandards tätig zu werden.356 Insgesamt fehlen damit tragfähige offizielle Argumente für das Tätigwerden der EU. 2. Politischer Opfer-Imperativ als unbenanntes Motiv? Die von der EU genannten Argumente für ihre Regelung von Opferrechten vermögen nicht vollständig zu überzeugen und können das Unionsengagement in diesem Bereich nicht abschließend erklären. Dies wirft die Frage nach unbenannten Motiven für das Opferrechteengagement der EU auf. Auf nationaler Ebene ist beschrieben worden, dass die Belange von Verbrechensopfern politisch-rhetorisch instrumentalisiert würden, um kriminalpolitische Anliegen konsensfähig zu machen und durchzusetzen.357 Gesetzgeber beriefen sich vordergründig auf die Bedürfnisse von Straftatopfern, um Reformmaßnahmen durchzusetzen, die in Wirklichkeit primär andere Ziele als die Verbesserung der Situation von Verbrechensopfern verfolgten.358 Den Kontext dafür bilde die moderne Sicherheitsgesellschaft, die von einer verzehrten Kriminalitätswahrnehmung und einem wachsenden Sicherheitsbedürfnis geprägt sei. Sie ermögliche der Politik, sich gewinnbringend zur Legitimierung ihrer Vorhaben auf eine fiktive Opferfigur zu berufen. Das argumentativ bemühte fiktive Opfer sei verletzlich, schutzwürdig, meist 356

Siehe oben Kap. 1 D I 3 b). Diese Debatte angestoßen hat Garland, Culture of Control, S. 11, 121 f., 143 f. Die Konzentration auf Verbrechensopfer sei Teilelement einer sich insgesamt wandelnden Devianzkontrollpolitik, id., S. 121 f. In der modernen Sicherheitsgesellschaft sei die Strafrechtspolitik mit sich verändernden, gegenseitig verstärkenden gesellschaftlichen Bedingungen konfrontiert, u. a. einem steigenden Kriminalitätsaufkommen, aber auch einer verzehrten Kriminalitätswahrnehmung und einem wachsenden Sicherheitsbedürfnis sowie der Zunahme straf- und vergeltungsorientierter Einstellungen und der Ablehnung der wohlfahrtstaatlichen Devianzkontrollpolitik. Als Reaktion auf diese Faktoren habe sich die Strafrechtspolitik auf die Verwaltung der Kriminalitätsfolgen – anstatt der Bekämpfung der Kriminalitätsursachen – und auf expressive Härte zur Durchsetzung des Rechts (punitive Segregation) verlegt. Durch die Konzentration auf die Folgen der Kriminalität rücke das Tatopfer mehr in den Fokus, dessen Bedürfnisse als Argumente für verstärkte punitive Segregation bemüht würden. 358 Insbes. würden Opferbelange instrumentalisiert, um punitivere Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu rechtfertigen. Siehe hierzu insgesamt Albrecht, Kriminologie, S. 400; Ashworth, in: Crawford/ Goodey, Integrating, S. 185, 186; Doak, Victims’ Rights, S. 11; Dubber, Victims, S. 6, 13 ff.; Frommel, NK 2011, 45; Garland, Culture of Control, S. 11 f., 143 f.; aus vergleichender Perspektive Hall, Victims and Policy Making, S. 106 f.; Hoyle, in: Magurie et al., Handbook of Criminology, S. 399, 406 mit Beispielen zur gängigen Praxis in England, repressive Gesetze nach Opfern zu benennen; Kunz, Kriminologie, § 31 Rn. 53 ff.; Jackson, J. L. Society 30 (2003), 309, 311; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 83 ff.; Kölbel, in: Barton/ders., Ambivalenzen, S. 213, 224 ff.; Salditt, StV 2002, 273, 277. 357

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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weiblich und trage keine Schuld an dem Tatgeschehen.359 Das rhetorisch instrumentalisierte Opfer entspricht also nicht der Personengruppe, die statistisch tatsächlich das höchste Viktimisierungsrisiko trägt: junge Männer aus ökonomisch und sozial benachteiligten Segmenten der Gesellschaft.360 Stattdessen verkörpert es das von Christie identifizierte „ideale Opfer“: eine schwache Person, die an einem moralisch ansehnlichen Verhalten mitwirkt, keine Schuld für ihren Aufenthalt am Ort des Verbrechens trägt und keine persönliche Beziehung zu dem großen, bösen, unbekannten Angreifer hat.361 Zu argumentativen Zwecken würde die kriminelle Viktimisierung zudem als weit verbreitet präsentiert,362 und es würden Formen von Delinquenz in den Mittelpunkt gestellt, die hohes Erregungspotential haben und jeden treffen können, wie z. B. Straßen- oder sexuelle Gewalt.363 Auf diese Weise werde das Opfer als repräsentative Figur konstruiert, deren Erlebnisse nicht individuell und atypisch seien, sondern vielmehr etwas verkörperten, das jedem jederzeit widerfahren könne.364 So erwecke die Argumentation den Eindruck, jeder Bürger könne jederzeit das Schicksal der rhetorisch bemühten Opferfigur teilen. Diese verzerrte Darstellung der kriminellen Viktimisierung bewirke, dass sich alle Bürger mit der fiktiv-konstruierten Opferfigur identifizierten. In der Folge werde derjenige, der im Namen dieser Opferfigur auftrete, so wahrgenommen, als spreche er zugleich im Namen jedes einzelnen Mitglieds der (Sicherheits-)Gesellschaft.365 Weiterhin würden der fiktiven Opferfigur nicht die Bedürfnisse zugeschrieben, die der empirischen Realität entsprächen. Vielmehr würde die Politik die Opferbedürfnisse jeweils so konstruieren, dass sie zur Rechtfertigung der intendierten Politikinitiative geeignet seien.366 Zur Begründung von Maßnahmen punitiver Segregation etwa würden die Bedürfnisse des fiktiven Opfers im Sinne eines Nullsummenspiels so dargestellt, dass jede Zuerkennung von Rechten an den Beschuldigten den Interessen des Opfers zuwider liefe bzw. die Reduktion von Rechten des Beschuldigten den Interessen des Opfers entspräche.367 Auf diese Weise würden rhetorisch konstruierte Bedürfnisse von fiktiven Opfern instrumentalisiert, um Reformen, die in Wirklichkeit anderen Zielen dienen sollten, konsensfähig zu machen. Insgesamt entfalte 359 Garland, Culture of Control, S. 11; Hall, Victims and Policy Making, S. 213 f., 221 ff.; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 85. 360 Görgen, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 89, 93 f. 361 Christie, in: Fattah, From Crime Policy to Victim Policy, S. 17, 18 f. Prädestiniertes Beispiel dafür sei eine kleine alte Frau, die tagsüber von einem Besuch bei ihrer kranken Schwester nach Hause gehe und von einem großen starken Mann niedergeschlagen und ausgeraubt werde, der sich mit dem Geld Alkohol und Drogen verschaffe. Siehe dazu Barton, in: ders./Kölbel, Ambivalenzen, S. 111, 116. 362 Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 85 mwN. 363 Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 87; Kunz, Kriminologie, § 31 Rn. 54. 364 Garland, Culture of Control, S. 11, 144; ähnlich Kunz, Kriminologie, § 31 Rn. 53 f. 365 Garland, Culture of Control, S. 11. 366 Garland, Culture of Control, S. 11, 143; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 85. 367 Garland, Culture of Control, S. 11, 143; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 85.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

der Opfer-Topos so eine legitimierende Wirkung.368 Reformvorhaben im Namen des Opfers erhielten ungeteilte Zustimmung, weil sie kollektive Empathie und Identifikation kreierten und als moralisch über jedem Zweifel erhaben aufgefasst würden. Die Begründung der erneuten Unionsaktivitäten im Bereich der Opferrechte weist einige bemerkenswerte Parallelen zu der auf nationaler Ebene beobachteten Opferrhetorik auf. Die Bedürfnisse von Opfern, die mit der RL 2012/29/EU geregelt werden sollen, werden in den Kommissionsdokumenten anhand fiktiver Beispielsfälle emotional und teilweise dramatisierend veranschaulicht. Im Mittelpunkt stehen dabei wie auf nationaler Ebene fiktive ideale Opfer. In einem Beispiel wird ein Familienvater mit seiner Familie in einer Ferienwohnung im Ausland von einem Einbrecher angegriffen.369 Als der treusorgende Familienvater den Einbrecher stellen will, greift dieser ihn im Beisein seiner Familie tätlich an. Als Folge des Angriffs muss sich der Vater zahlreichen Operationen unterziehen und ist einige Wochen arbeitsunfähig, er und die Familie leiden noch Jahre nach dem Angriff an den emotionalen, körperlichen und finanziellen Folgen der Straftat. Die in Bezug genommene Opfergruppe ist durch die Anwesenheit von Kindern und Ehefrau am Tatort schwach, partiell weiblich und schutzwürdig. Den Vater und seine Familie trifft keine Schuld für ihre Anwesenheit am Tatort oder für das Tatgeschehen, und es besteht auch keine persönliche Beziehung zwischen ihnen und dem Täter. Der Angreifer kann sich gegen den Vater wehren und ihn tätlich verletzen, womit er offenbar stärker ist als der Familienvater. Schließlich verhält sich der Vater als unmittelbares Opfer im Tatmoment moralisch vorbildlich, weil er den Rückzugsraum seiner Familie verteidigen will. Damit erfüllt die Gruppe alle Merkmale, die nach Christie ein für politische Argumentationszwecke ideales Opfer charakterisieren. Andere Unionsmaterialien veranschaulichen die prekäre Lage von Opfern in der EU und die Notwendigkeit von Unionsvorgaben in diesem Bereich anhand der Situation von jungen Frauen, die von unbekannten Männern nachts in ihren häuslichen Schlafzimmern oder Taxis vergewaltigt worden sind.370 Auch diese Opfer erfüllen alle Kriterien des idealen Opfers. Die Lage viktimisierter junger Männer am sozialen Rand der Gesellschaft wird hingegen in den Unionsmaterialien nicht zur Rechtfertigung der Opferrechtepolitik herangezogen. Neben der konstruierten Opferfigur entsprechen auch die Arten an Delinquenz, die auf Unionsebene zur Begründung der Notwendigkeit von Vorgaben zu Opferrechten bemüht werden, strukturell denen in der nationalen Opferrhetorik. Argumentiert wird mit Kriminalitätsformen, die hohes Erregungspotential haben und jedermann treffen können: sexuelle und körperliche Gewalt durch Unbekannte. Weiterhin ist auf nationaler Ebene beobachtet worden, dass kriminelle Viktimisierung zu argumentativen Zwecken als weit verbreitet dargestellt wird. Auch dieses Argumentationsmuster findet sich in den Unionsmaterialien. Die Kommission be368 369 370

Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 84. KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6. Siehe Kommission, Impact Assessment, S. 8 ff.

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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gründet die unionsrechtliche Regelung von Opferrechten damit, dass Straftaten „jeden von uns“ treffen könnten.371 Allein die Zahl von jährlich 75 Millionen direkter Straftatopfer in der EU soll als Argument dafür genügen, dass die EU die Rechte von Straftatopfern regeln müsse. Aussagen der ehemaligen Justizministerin Reding unterstreichen zusätzlich die potentielle Kollektivität der Viktimisierung: „Simply put, it is a universal problem – crime concerns us all. Anyone can fall victim to crime, at any time. […] People do not choose to become victims of crime; it is crime that is inflicted on victims. Almost all of us know someone who is a victim of crime or violence […].“372 Schließlich findet sich auf Unionsebene auch die beschriebene Anpassung der rhetorisch rekurrierten Bedürfnisse der idealen Opfer. Ausgangspunkt ist die bestmögliche Eignung, um die Unionstätigkeit zu rechtfertigen. Insofern betonen die Unionsmaterialien vor allem die Bedürfnisse von transnational betroffenen Opfern.373 Die Bezugnahme auf den grenzüberschreitenden Bezug soll die Notwendigkeit des Eingreifens auf Unionsebene belegen und dramatisiert argumentativ die Lage von Straftatopfern in der EU. Gerade die Bedürfnisse in grenzüberschreitenden Fällen sind allerdings Sonderbelange, welche die überwiegende Zahl der Straftatopfer in der EU, für die Regelungen getroffen werden, nicht teilt. Insgesamt präsentiert die EU in ihrer Argumentation damit Straftatopfer als repräsentative Figuren und die Gefahr der Viktimisierung als ubiquitär. Sie kollektiviert die Belange von Straftatopfern und appelliert an das Sicherheitsbedürfnis aller Bürger, um eine allgemeine Solidarisierung mit der fiktiven Opferfigur zu erreichen. Unionspolitik im Namen der Straftatopfer erscheint so als Unionspolitik im Namen aller Unionsbürger, die legislative Hinwendung zu den Bedürfnissen der Straftatopfer ist zugleich Hinwendung zu allen Unionsbürgern. Diese Argumentationsweise sichert der EU die Zustimmung der Unionsbürger zu ihrer im Namen des idealen Opfers propagierten Opferrechtepolitik. Zudem erhebt die Begründung anhand idealer Opfer die europäische Opferrechtegesetzgebung über jeden moralischen Zweifel und stilisiert sie zur politischen Notwendigkeit. Insofern gleichen die Entwicklungen, die auf Unionsebene zu verzeichnen sind, in vielerlei Hinsicht den Argumentationsstrukturen zur Rechtfertigung von Opferpolitik auf nationaler Ebene. Fraglich ist aber, zu welchem politischen Endzweck die Union die Opferrhetorik einsetzt. Auf nationaler Ebene ist die These aufgestellt worden, Opferbedürfnisse würden vor allem zur Legitimierung punitiver Strafrechtspolitiken instrumentali371

Siehe oben Kap. 1 D III 1 a). Reding, Putting Victims first – Speech 11/424, S. 2. Ähnlich European Commission, Victims’ rights: Frequently asked questions, MEMO/11/310 v. 18. 05. 2011: „With millions of people suffering from crime each year, any citizen could become a victim. […] That is why I am putting victims at the heart of criminal justice in the EU by making sure they can rely on minimum rights and support anywhere in Europe.“ 373 Siehe nur KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6. 372

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

siert. Die Gesetzgebung spreche vom Opfer, wolle aber den Täter treffen.374 Würde diese Erklärung analog für den europäischen Gesetzgeber gelten, wäre untergründiges Motiv für den Erlass der RL 2012/29/EU die Durchsetzung einer repressiveren Kriminalpolitik auf Unionsebene. Dafür sprechen könnten Äußerungen wie die der ehemaligen Justizministerin Reding: „Tough words about crime do not do anything for victims, unless they are followed up by concrete action.“375 Wenn der EU aber tatsächlich vorgehalten werden soll, sie instrumentalisiere die Belange von Straftatopfern politisch zur Legitimierung repressiver Kriminalpolitiken, müsste ihre Opferrechtegesetzgebung auch reell und intendiert die Rechte des Angeklagten beschränken oder das Strafjustizsystem sonst verschärfen. Auf nationaler Ebene ist die Instrumentalisierungsthese primär anhand repressiver Reformen des materiellen Strafrechts entwickelt worden.376 Die hier in den Blick genommene Opferrechtegesetzgebung der EU befasst sich jedoch nicht mit materiell-rechtlichen Fragestellungen wie der Ausweitung von Tatbeständen oder der Verschärfung von Strafrahmen. Vielmehr behandelt sie primär strafprozessuale Fragestellungen. Allerdings kann die Instrumentalisierungsthese grds. auch zur Interpretation von Reformen des Strafprozessrechts fruchtbar gemacht werden.377 Dazu müssten die von der EU im Namen der fiktiven Opferfigur normierten strafprozessualen Opferrechte absichtlich die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten im Verfahren beschränken oder die Strafverfolgung unter Abbau rechtsstaatlicher Prozessstrukturen effektivieren.378 Die Opferrechterichtlinie könnte solche Tendenzen in dreierlei Hinsicht aufweisen. Erstens können einige der in der RL 2012/29/EU normierten Opferrechte die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten schmälern, mit der Unschuldsvermutung kollidieren und insgesamt die Balance in den nationalen Strafverfahrensordnungen zu Lasten des Angeklagten verschieben.379 Dies gilt insbesondere für die in der Richtlinie verwendete Terminologie, die Schutzrechte, das Recht des Opfers auf Gehör und das anerkannte Genugtuungsinteresse.380 Allerdings sind in der Richtlinie auch Schutzvorkehrungen zugunsten der Rechte des Beschuldigten verankert,381 was es zweifelhaft erscheinen lässt, dass es primäres Ziel der Union war, die Rechte des Angeklagten mit den Opferrechtevorgaben zu schmälern. Plausibler ist, dass es sich bei diesen Auswirkungen um nicht-intendierte, lediglich gebilligte Nebenfolgen handelt. Zweitens soll die bessere Behandlung der Opfer im Verfahren 374

Frommel, NK 2011, 45. Reding, Putting Victims first – Speech 11/424, S. 2. 376 Kölbel, in: Barton/ders., Ambivalenzen, S. 213, 227. 377 Kölbel, in: Barton/ders., Ambivalenzen, S. 213, 227; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 104, 109 ff. 378 Vgl. im nationalen Kontext Kölbel, in: Barton/ders., Ambivalenzen, S. 213, 227; Kölbel/ Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 109. 379 Siehe ausführlich unten Kap. 2 C. 380 Siehe hierzu respektive Kap. 2 A, C, Kap. 3 A, B. 381 Siehe unten Kap. 2 C. 375

D. Die EU-Gesetzgebung zu Opferrechten post Lissabon

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aufgrund der Opferrechtegesetzgebung die Opfer auch ermutigen, Strafanzeige zu stellen und sich aktiver am Strafverfahren zu beteiligen.382 Dadurch soll die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Verfolgung und Verurteilung erhöht und Wiederholungstaten und Straflosigkeit sollen reduziert werden.383 Mit dieser Argumentation rückt die EU ihr politisches Engagement für Opferrechte selbst in das Zeichen der Effektivierung der Strafverfolgung. Auch dies ist eine Instrumentalisierung.384 Allerdings bezweckt die EU damit keine unmittelbare Repression des Angeklagten oder den Abbau rechtsstaatlicher Strukturen zugunsten einer effektiveren Strafverfolgung, sondern neutral die reguläre Durchsetzung des Rechts. Außerdem wird dieser Effekt der Gesetzgebung nur beiläufig erwähnt und scheint den Erlass der Vorgaben nicht wesentlich motiviert zu haben. Drittens sollen die Opferrechte nach Angabe der Unionsorgane dazu dienen, die strafjustizielle Zusammenarbeit zu fördern, und werden damit im Ergebnis auch in den Dienst der Effektivierung der Strafverfolgung gestellt. Allerdings dürften die normierten Rechte dazu größtenteils kaum geeignet sein.385 Zudem wurde diese Argumentationslinie primär aufgrund der Anforderungen der Kompetenzgrundlage aufgegriffen, so dass seine Verwendung kaum die Instrumentalisierungsthese zu untermauern vermag. Dass die EU sich nur deshalb für Opferrechte einsetzen und diese instrumentalisieren würde, um in Wirklichkeit das Ziel zu erreichen, Verteidigungsmöglichkeiten zu beschränken oder die Strafverfolgung unter Abbau rechtsstaatlicher Prozessstrukturen zu effektivieren, sollte ihr daher nicht unterstellt werden. Die Effektivierung der Strafverfolgung sowie die Beschränkungen der Rechte des Beschuldigten durch die Opferrechtegesetzgebung wirken vielmehr wie partiell von der EU begrüßte, partiell auch bloß gebilligte Nebenfolgen. Primäres Endziel der Gesetzgebung, zu dessen Erreichung die Union bewusst die Opferrhetorik instrumentalisiert hätte, sind sie nicht. Wenn die EU die Opferrhetorik nicht dazu einsetzt, um eine punitive Segregationspolitik konsensfähig zu machen und durchzusetzen, kann bzw. muss ihrer Verwendung eine andere Intention zugrunde liegen.386 Insofern ist zu beachten, dass die EU keine Kompetenzkompetenz zur Gesetzgebung besitzt wie ein Nationalstaat, sondern für jede ihrer legislativen Aktivitäten eine Ermächtigungsgrundlage und – 382 EG 63 RL 2012/29/EU; KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 5; Kommission, Impact Assessment, S. 10. 383 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 5. 384 Vgl. hierzu Jackson, J. L. Society 30 (2003), 309, 311. 385 Siehe oben Kap. 1 D III 1 b) aa). 386 Dass die politische Instrumentalisierung der Opferfigur auch eigenständiges Element eines Kontrollregimes ohne Bezug zu einer punitiven Segregationspolitik sein und die fiktive Opferfigur auch zur Erreichung nicht-punitiver politischer Zwecke instrumentalisiert werden kann, vertreten auch Frommel, NK 2011, 45, 46; dies, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 105, 110; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 96, 109 f. Krit. zu der anders lautenden typisierenden Analyse von Garland, die der realen Komplexität von Kriminalpolitik nicht gerecht werde, z. B. Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 95; Young, Brit. J. Criminol. 42 (2003), 228, 238 f. und passim.

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

zumindest auf politischer Ebene – die Zustimmung der Mitgliedstaaten benötigt. Die Union muss daher stets die nationalen Entscheidungsträger im Mehrebenensystem und mittelbar auch die Unionsbürger davon überzeugen, dass ihre legislativen Aktivitäten notwendig und legitim sind – unabhängig von der (kriminal-)politischen Ausrichtung der jeweiligen Maßnahme. Die EU hat damit einen per se gesteigerten Begründungs- und Legitimierungsbedarf bei ihrer Gesetzgebung. Aktivitäten der Union im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts treffen zudem traditionell auf besonders verhaltene Reaktionen und auch Ablehnung der Mitgliedstaaten.387 In diesem Kontext ist es – stärker als für den nationalen Gesetzgeber – relevant, dass der Regelung von Opferrechten bei entsprechender rhetorischer Konstruktion der idealen Opferfigur eine besondere politische Legitimität inhärent ist.388 Indem die EU sich gerade auf ein solches konsensstiftendes Thema mit hohem Legitimierungspotential konzentriert und es rhetorisch so aufbereitet, dass es besondere Zustimmung erhält, kann sie den gesteigerten Begründungs- und Legitimierungsbedarf ihrer Gesetzgebungsvorhaben im Bereich der PJZS bedienen. Das Aufgreifen des Opferthemas und seine Darstellung als kollektives Problem sichern der EU zum einen die Gunst der Unionsbürger für das konkrete Gesetzgebungsvorhaben und vermutlich darüber hinaus auch eine wohlwollende öffentliche Einstellung zu ihrer Kriminalpolitik im Allgemeinen. Zum anderen erhebt die Begründung anhand idealer Opfer die europäische Opferrechtegesetzgebung über jeden moralischen Zweifel und stilisiert sie zur politischen Notwendigkeit. Diese Konstruktion eines politischen Imperativs garantiert auf besondere Weise die Zustimmung der Entscheidungsträger auf allen weiteren Ebenen des EU-Mehrebenensystems. Denn Unionsgesetzgebung im Namen des fiktiven Opfers ist Unionsgesetzgebung im Namen aller Bürger. Andere politische Instanzen innerhalb des Mehrebenensystems können den Vorhaben nicht widersprechen, ohne Gunst der Bürger zu verlieren: Gegen die Vorgabe von Opferrechten auf Unionsebene zu sein, hieße in diesem argumentativen Kontext, sich gegen die Sicherheitsinteressen aller Bürger zu stellen. Das Opfer wird so zum moralischen Referenzpunkt der Kriminalpolitik, und die Opferrhetorik schafft ein politisches Klima, wie es für Unionsvorhaben im Namen des Beschuldigten kaum zu erreichen wäre. Dies sichert der EU die Zustimmung der nationalen Entscheidungsträger für ihre Gesetzgebung. Ein politisches Scheitern des Vorschlags, Opferrechte zu normieren, war damit quasi ausgeschlossen. Insbesondere bei einem der ersten legislativen Vorstöße der EU auf Grundlage ihrer durch den Lissaboner Vertrag neu gewonnenen Kompetenzen zur Angleichung des Strafverfahrensrechts dürfte einer solchen Erfolgsgarantie auch wichtige politische Signalwirkung beigemessen worden sein. Schließlich erhöht die Besetzung des konsensstiftenden Themas der Opferrechte durch die EU und seine rhetorische Aufbereitung die allgemeine Akzeptanz ihrer Tätigkeiten im strafjustiziellen Bereich.389 Diese Beobachtungen legen nahe, dass Intention der EU für die Regelung von 387 388 389

Siehe Hecker, EuStR, § 8 Rn. 9; Satzger, in: Sieber et al., EuStR, § 9 Rn. 5, 8. Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 84. Vgl. Peers, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 140.

E. Bewertung und weitere Vorgehensweise

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Opferbedürfnissen vor allem war, die politische Legitimation und Zustimmung zur Unionsgesetzgebung im strafjustiziellen Bereich zu steigern. Diese Überlegungen können und sollen die Opferrechtegesetzgebung auf Unionsebene nicht alleine erklären. Immerhin aber scheint das Potential des Opferthemas, bei geschickter rhetorischer Instrumentalisierung politische Legitimität und Zustimmung zu generieren, die Hinwendung der EU zum Straftatopfer zumindest mit motiviert zu haben. Dieses Potential und seine Nutzung erklären die zügige erneute Aktivität der EU im Bereich der Opferrechte und ihre verhältnismäßig große Konsensfähigkeit im Mehrebenensystem jedenfalls plausibler als die offiziell vorgebrachten sachlich-rechtlichen Argumente. Dies schließt nicht aus, dass die EU mit der RL 2012/29/EU ansonsten primär wohlfahrtstaatliche und nicht punitive Zwecke verfolgt hat. Denn eine Instrumentalisierung des politischen Opferimperativs allein zu punitiven Zwecken, wie Garland sie für die US-amerikanische Opferrechtegesetzgebung konstatiert hat,390 lässt sich auf EU-Ebene nicht feststellen.

E. Bewertung und daraus resultierende weitere Vorgehensweise Die EU folgt mit der politischen und legislativen Priorisierung der Belange von Straftatopfern einem national wie international prävalenten Trend. Einige Eigenschaften und Herausforderungen charakterisieren dabei wiederkehrend Reformen im Namen von Straftatopfern auf nationaler und internationaler Ebene. Diese Parallelen lassen sich auch auf der supranationalen Unionsebene feststellen. Die inhaltliche Analyse der aktuellen Unionsgesetzgebung zu Opferrechten muss sich deshalb besonders auf eine mögliche Lösung dieser wiederkehrenden Problempunkte konzentrieren. Eine wiederkehrende Eigenschaft von Reformvorhaben zu Gunsten von Straftatopfern ist ihr vergleichsweise zügiger Erlass. Die Ausweitung der UN-Deklaration Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power auf Straftatopfer wurde in nur drei Jahren verhandelt. Von der ersten Erwähnung von Opferinteressen in Unionsdokumenten bis zum Erlass des RB 2001/220/JI verstrichen ebenfalls kaum drei Jahre und der Gesetzgebungsprozess der umfangreichen RL 2012/29/EU nahm gerade einmal 18 Monate in Anspruch.391 Auch die (ideologischen) Gründe, die für die Hinwendung zum Straftatopfer angeführt werden, sind teilweise deckungsgleich. So wird z. B. auf allen gesetzgeberischen Ebenen argumentiert, die bessere Unterstützung von Straftatopfern sei notwendig, um die strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen zu bekämpfen. Außerdem ist na390

Garland, Culture of Control, S. 11. Siehe zur ebenfalls zügigen Opferrechtegesetzgebung auf nationaler Jung, ZRP 2000, 159, 161. 391

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

tional, international sowie auf Unionsebene ein gleichermaßen starker Einfluss von Opferinteressengruppen auf die Reformprozesse zu verzeichnen.392 Opferverbände gaben nicht nur bereits in den 1970er Jahren der Opferrechtebewegung einige ihrer ideologischen Hintergründe, sondern übten auch erheblichen Einfluss auf die Unionsgesetzgebung aus.393 So gab z. B. VSE der Unionspolitik den Impuls, sich erstmals den Bedürfnissen von Straftatopfern zu widmen, und Studien von Opferinteressenverbänden beeinflussten die Vorbereitung und Evaluation des RB 2001/220/JI und der RL 2012/29/EU. Die Zügigkeit der Reformen steht in engem Zusammenhang mit einer weiteren Konstante der Opferrechtereformbewegung: der grundsätzlich hohen politischen Konsensfähigkeit der Regelung von Opferrechten auf nationaler, internationaler sowie Unionsebene – trotz nationaler Befürchtungen um die Kohärenz der heimischen Strafjustizsysteme. Diese grundsätzliche Konsensfähigkeit ist nicht zuletzt auf die allgemeine politische Opportunität des Einsatzes für Straftatopfer zurückzuführen. Auf nationaler Ebene ist insofern sogar ein politischer Imperativ, sich den Belangen von Verbrechensopfern zuzuwenden, identifiziert worden.394 Auch die EU macht sich diese besondere politische Zustimmung stiftende Eigenschaft des Opferthemas bei ihrer Gesetzgebung zu Nutze. Dazu instrumentalisiert sie rhetorisch – wie die nationalen Vorbilder – die fiktiven Bedürfnisse einer idealen Opferfigur. Allerdings verfolgt die EU damit nicht vordergründig die Durchsetzung einer repressiven Kriminalpolitik, wie es auf nationaler Ebene konstatiert worden ist,395 sondern sie nutzt das besondere Potential des Opferthemas, um die im Mehrebenensystem notwendige politische Akzeptanz und die Zustimmung der Unionsbürger zu ihrer Gesetzgebung im Bereich der PJZS zu generieren. Entsprechend spielte die 392

Zum Einfluss von Opferverbänden auf die Opferrechtegesetzgebung in verschiedenen Jurisdiktionen und auf Ebene der EU siehe auch Hall, Victims and Policy Making, S. 95 ff. 393 Der Einfluss von Lobbygruppen auf den Gesetzgeber ist nicht per se negativ zu beurteilen. Opferschutzorganisationen können wichtige Informationen beitragen, die dem Gesetzgeber sonst verschlossen geblieben wären. Das Brüsseler Verfahren, Grün- und Weißbücher sowie Folgenabschätzungen zu veröffentlichen, sorgt zudem für die nötige Transparenz bzgl. der Einflussnahme. Problematisch ist dieser Einfluss allerdings vor allem dann, wenn die Macht der Lobbyverbände nicht gleich verteilt ist. So verfügt das Verbrechensopfer über eine starke Interessengemeinschaft, die sich erfolgreich für seine Interessen einsetzt. Dem Beschuldigten hingegen, dessen Interessen durch die Vorstöße gleichermaßen tangiert werden können, steht, soweit aus den Dokumenten ersichtlich, auf EU-Ebene kein solcher aktiver und durchsetzungsstarker Verfechter zur Seite. Dieses Ungleichgewirkt birgt die Gefahr, dass unausgeglichene Gesetzgebungsakte entstehen. 394 Garland, Culture of Control, S. 11. Dass die Regelung von Opferrechten national wie international politisch hoch im Kurs steht, bestätigen auch Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 265; Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 30; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 13. 395 Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Opferrechtegesetzgebung der EU zumindest als gebilligte Nebenfolge Gefahren für die Rechte des Beschuldigten birgt. Wünschenswert wäre es daher gewesen, wenn diese Nebenfolgen bereits in den Motivüberlegungen zum Erlass der Opferrechterichtlinie eine substantiellere Rolle gespielt hätten.

E. Bewertung und weitere Vorgehensweise

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politische Opportunität des Themas auch eine wesentliche Rolle bei der Überwindung der Kontroverse, ob die EU über die Kompetenz verfüge, Mindeststandards zu Opferrechten zu erlassen. Das Bestehen einer solchen Kompetenz war seit Beginn des Unionsengagements für Opferrechte umstritten. Bereits prae Lissabon überwogen jedoch insofern pragmatisch-politische Erwägungen kompetenzrechtliche Bedenken. Mit dem Lissaboner Vertrag erhielt die EU eine ausdrückliche Kompetenz zur Vorgabe von Mindeststandards für die Rechte von Straftatopfern. Die Aufnahme dieser Kompetenzgrundlage in Art. 82 Abs. 2 AEUV und ihre Ausgestaltung scheinen allerdings ihrerseits Resultat eines Kompromisses zu sein, der von dem politischen Wunsch motiviert wurde, Opferrechte regeln zu können. Die Norm ermächtigt die EU zwar zur Vorgabe von Opferrechtemindeststandards. Sie unterwirft diese Ermächtigung jedoch zugleich einem rigiden Schrankenregime und stellt die Regelung von Opferrechten in den Dienst der Förderung der strafjustiziellen Zusammenarbeit. Damit gewährt sie der EU rechtlich weder ein Instrument, um ihren prae Lissabon favorisierten wohlfahrstaatlichen Ansatz umzusetzen, noch um ihr post Lissabon propagiertes Leitmotiv, Opferinteressen in den Mittelpunkt der Strafjustiz zu stellen, umfassend zu verfolgen. Bei der inhaltlichen Analyse der RL 2012/29/EU ist deshalb besonders zu hinterfragen, ob die EU bei ihrem Erlass die strikten Grenzen der Ermächtigungsgrundlage eingehalten hat oder ob erneut pragmatisch-politische Erwägungen kompetenzrechtliche Bedenken überwogen haben. Ebenso ist zu untersuchen, ob sich die Richtlinie effektiv der Lösung der spezifischen Probleme von transnational Betroffenen annimmt. Denn ihr Schicksal wurde zwar wiederholt rekurriert, um die Notwendigkeit der Regelung von Opferrechten auf Unionsebene zu begründen. Bisher spielte die Lösung ihrer Probleme jedoch in den dann erlassenen Vorgaben eine allenfalls untergeordnete Rolle. Zudem stellen sich zwei wesentliche Herausforderungen bei Reformen im Namen des Straftatopfers. Die eine betrifft die zurückhaltende Haltung der Nationalstaaten gegenüber supranationalen Vorgaben zu Opferrechten im Strafprozess. Schon bei den Verhandlungen auf UN-Ebene monierten insbesondere Common Law-Staaten, dass eine aktive Rolle des Straftatopfers nicht in ihr adversatorisch ausgestaltetes Strafverfahrenssystem integriert werden könne. Vergleichbare Befürchtungen der Nationalstaaten, dass die Vorgabe einer einheitlichen Rolle des Opfers im Strafverfahren mit Grundprämissen ihrer nationalen Strafjustizsysteme kollidieren könne, beeinflussten auch die Gesetzgebung zu Opferrechten auf Unionsebene. Der Rat verfasste den RB 2001/220/JI entsprechend mit viel Spielraum für die nationalen Gesetzgeber. Bei den Verhandlungen der RL 2012/29/EU verfügten die Vertreter der Mitgliedstaaten im Vergleich zur Rechtslage prae Lissabon über weniger Einfluss im Gesetzgebungsverfahren. Gleichwohl machten sie ihre Skepsis gegenüber der Vorgabe einer bestimmten Rolle für das Opfer im Strafverfahren zu einem primären Diskussionspunkt im Verhandlungsprozess. Wenngleich Vertreter von Common Law-Staaten als alleinigen Grund für den Konflikt die Besonderheiten der adversatorischen Strafverfahrensstruktur ausmachten, zeigt der Protest auch von Vertreter anderer Rechtsordnungen gegen eine einheitliche Position des Opfers im Strafver-

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Kap. 1: Legislatives Engagement für Opfer von Straftaten in der EU

fahren, dass es für alle nationalen Strafjustizsysteme eine Herausforderung darstellt, Opfern eine starke Rolle im Strafverfahren einzuräumen. Obwohl die Hinwendung zu Verbrechensopfern politisch opportun ist, besteht also bzgl. der konkreten Zuerkennung von Beteiligungsrechten für Opfer im Strafverfahren noch erhebliche Zurückhaltung. Im Kontrast dazu favorisierten die Unionsorgane, besonders das Parlament, in der Vergangenheit und auch während der Verhandlungen der RL 2012/ 29/EU eine umfassende Regelung der Rolle des Opfers im Strafprozess. Die Kompetenzgrundlage in Art. 82 Abs. 2 AEUV verpflichtet die EU, den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen. Bei der Vorgabe von Opferrechtestandards muss sich die EU deshalb der Lösung dieses Problemfelds annehmen. Die zweite wiederkehrende Herausforderung bei der Gesetzgebung zu Opferrechten rankt sich um die Problematik, dass Opferrechte die Beschuldigtenrechte im Strafverfahren unangemessen beeinträchtigen und die Balance im Verfahren stören können. Solche Befürchtungen wurden bereits während der Beratungen im Rahmen der UN geäußert, allerdings nicht abschließend gelöst. Auf Ebene der EU wurde diese Problematik zunächst eher verhalten diskutiert. Spätestens mit dem PupinoUrteil des EuGH im Jahr 2005396 rückte sie jedoch auch auf Unionsebene in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Während der Vorbereitungen der RL 2012/29/EU wurde dieses Spannungsfeld sodann zu einem Brennpunktthema. Obgleich insbesondere die Kommission den Konflikt anfänglich marginalisierte und seiner Lösung in der politischen Begründung der RL 2012/29/EU keinen Raum einräumte, äußerten zivile Interessengruppen und Vertreter der Mitgliedstaaten die Sorge, die geplante Opferrechterichtlinie könne die Balance im Strafverfahren unverhältnismäßig zu Lasten des Beschuldigten verschieben.397 Primärrechtlich ist der Unionsgesetzgeber verpflichtet, bei Erlass von Opferrechtemindeststandards auch dieses Problemfeld zu lösen. Konzeptionell hatte die EU schließlich in Anlehnung an internationale Vorgaben der UN und des Europarats im RB 2001/220/JI primär Ansprüche des Opfers auf Schutz im Strafverfahren normiert. Ein Interesse des Opfers an der Strafverfolgung und Bestrafung des Täters war nicht anerkannt und dem Opfer war auch keine aktive Rolle im Strafverfahren eingeräumt worden. Im Mittelpunkt des Opferengagements prae Lissabon stand damit nicht die Befriedigung repressiver Interessen des Opfers, sondern die Verbesserung seines Schutzes im Strafverfahren. Post Lissabon hat sich die EU indes das neue Leitmotiv auf die Fahnen geschrieben, die Interessen der Opfer umfassend zu priorisieren und sie in den Mittelpunkt der nationalen Strafjustiz396

EuGH, 16. 6. 2005, Rs. C-105/03 (Pupino), Slg. 2005 I-5285. Trotz dieses Einsatzes ist nach wie vor eine beunruhigende Diskrepanz zu vermerken zwischen den zögerlichen Initiativen, einheitliche Rechte für den Beschuldigten im Strafverfahren auf Unionsebene vorzusehen, und der zügigen umfassenden EU-Initiative für Opferrechte. Ähnlich und mit weiteren Hinweisen zu den Beschuldigtenrechten Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 455 f.; van Puyenbroeck/Vermuelen, Internat. Comp. L. Quarterly 60 (2011), 1017, 1036 f. 397

E. Bewertung und weitere Vorgehensweise

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systeme zu rücken. Dabei unterstellt sie ohne Begründung, dass die Bedürfnisse des Opfers am besten im Kontext des Strafverfahrens befriedigt werden könnten. Dies veranlasst zum einen die Frage, ob sich die Zielrichtung des Engagements für Opfer post Lissabon geändert hat. Die generische Betonung von Opferinteressen könnte darauf hinweisen, dass die EU nicht mehr allein Schutz- und Unterstützungsbedürfnisse regelt, sondern auch (repressive) Interessen des Opfers an einer aktiven Mitwirkung im Strafverfahren befriedigen will. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Bedürfnisse des Opfers tatsächlich am besten im Kontext des Strafverfahrens befriedigt werden können, wie vom Leitmotiv unterstellt, und das schließlich erlassene Sekundärrecht geeignet ist, die Unionsmotive zu erreichen. Die Analyse der politischen und legislativen Entwicklung der Vorgabe von Opferrechten auf den verschiedenen Entscheidungsebenen hat offen gelegt, dass starke Parallelen zwischen den politischen Prozessen zur (supranationalen) Vorgabe von Opferrechten bestehen und einige Probleme sich wiederkehrend stellen. Damit zeigt sie, auf welche potentiellen Problempunkte sich die folgende inhaltliche Untersuchung der aktuellen Unionsgesetzgebung zu Opferrechten konzentrieren sollte. Zu analysieren ist, ob der Unionsgesetzgeber bei der Ausgestaltung der RL 2012/29/EU die nationalen Rechtsordnungen in Bezug auf die Rolle des Opfers im Strafverfahren ausreichend beachtet und eine Balance zu den Rechten des Beschuldigten im Strafverfahren hergestellt hat. Des Weiteren ist zu untersuchen, inwiefern sich die EU an die Grenzen ihrer Kompetenz bei Erlass der RL 2012/29/EU gehalten hat, bzw. ob insofern wie in der Vergangenheit politisch-pragmatische Beweggründe rechtliche Bedenken ausgestochen haben. Schließlich propagiert die EU ohne substantielle Begründung, dass die Bedürfnisse von Opfern in den Mittelpunkt der nationalen Strafjustizsysteme zu rücken seien. Dies veranlasst die Untersuchung, welche Bedürfnisse des Opfers konkret erfasst seien sollen und ob die EU so von dem auf Schutz konzentrierten prae Lissabon-Modell abweicht. Schließlich stellt sich vor dem Hintergrund der Entwicklung von Reformen im Namen des Straftatopfers die grundsätzliche Frage, ob die Konzentration auf das Strafverfahren zur Befriedigung der Bedürfnisse von Straftatopfern aus Sicht der Betroffenen, aber auch aus Sicht des Systems und des Beschuldigten tatsächlich der unanfechtbare Königsweg ist.

Kapitel 2

Die Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für Opferrechte Um Opfer entsprechend dem politischen Leitmotiv in den Mittelpunkt der europäischen Strafjustiz zu rücken, erließ die EU im Oktober 2012 die Richtlinie über die Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie die Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI.1 Sie soll alle Bedürfnisse von Straftatopfern umfassend regeln: Anerkennung, respekt- und würdevolle Behandlung, Schutz, Unterstützung, Zugang zum Recht sowie zu Entschädigung und Schadensersatz.2

A. Inhaltliche Vorgaben Die Richtlinie umfasst 32 Artikel3 und 72 – rechtlich unverbindliche4 – Erwägungsgründe (EG).5 Die Vorgaben sind thematisch sechs verschiedenen Kapiteln 1

EU-Abl. L 315/57 v. 14. 11. 2012. – GB beteiligte sich am Erlass der Richtlinie. Die Neufassung der Opfervorgaben begründete für GB daher die unmittelbare Jurisdiktion des EuGH über den Rechtsakt unabhängig von der sonst geltenden fünfjährigen Übergangszeit für Rechtsakte der dritten Säule. Zudem wurden die Vorgaben zu Opferrechten durch den Beitritt des Königreichs zu der Richtlinie seinem Block-Opt-Out entzogen, Art. 10 Abs. 3, 4 Protokoll 36 zum Lissabon-Vertrag über die Übergangsbestimmungen, EU-ABl. 115/322 v. 9. 5. 2008. Trotz der Wahrnehmung des Rechts zum Gesamtaustritt aus den in der 3. Säule erlassenen Rechtsakten im Jahr 2013 blieb GB folglich an die Richtlinie gebunden. Von der Pflicht zur Einhaltung der Rahmenbeschlussvorgaben hingegen hätte es sich durch den Opt-Out lösen können. Ausführlich zum Opt-Out Hinarejos/Spencer/Peers, Center for European Legal Studies Working Paper, New Series, No. 1, 2012. 2 KOM(2011)274 endg. v. 18. 05. 2011, S. 5; ebenso Kommission, Guidance Document, S. 4. 3 Wenn im Folgenden in diesem Kapitel Artikel oder EG zitiert werden, beziehen sich diese Angaben auf die RL 2012/29/EU, soweit nicht ausdrücklich anders angegeben. 4 Vgl. EuGH, 25. 2. 2010, Rs. C 562/08 (Müller Fleisch), Slg. 2010 I-1391 Rn 40. 5 Der Vorschlag der Kommission enthielt nur 30 EG, vgl. KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011; im Trilog sind 42 hinzugekommen. Die EG werden zum einen genutzt, um Richtlinienartikel zu konkretisieren. Zu anderen enthalten sie oft Aussagen zu Streitpunkten zwischen Rat und Parlament, die im Trilog nicht beigelegt werden konnten, vgl. Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 384. Krit. zum Umfang der EG Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 244.

A. Inhaltliche Vorgaben

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zugeteilt, die sich neben allgemeinen, sonstigen und Schlussbestimmungen den Themenbereichen Information und Unterstützung (Kapitel 2), Teilnahme am Strafverfahren (Kapitel 3) sowie Schutz und Anerkennung von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen (Kapitel 4) widmen. Während die Vorgaben zur Teilnahme und zum Schutz den Kernbereich der Richtlinie ausmachen, dienen vor allem die Informations-, aber auch die Unterstützungsrechte als Hilfsinstrumente, um das Opfer zur Wahrnehmung seiner Teilnahme- und Schutzrechte zu befähigen.6 In zeitlicher Hinsicht normiert die Richtlinie Opferrechte für Situationen unmittelbar nach der Straftat, während des Strafverfahrens und zeitlich darüber hinaus7 sowie einige Ansprüche, die unabhängig von einer Strafanzeige bestehen. Nicht alle Richtlinienvorgaben hängen also unmittelbar mit dem eigentlichen Strafprozess zusammen. Konzipiert sind die Vorschriften als Mindeststandards.8 Die folgende Analyse legt offen, welche Richtlinienvorgaben möglicherweise Spannungen mit den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen und den Beschuldigtenrechten hervorrufen können.

I. Ziele der Richtlinie Art. 1 Abs. 1 bestimmt als Programmsatz die Ziele der Richtlinie.9 Danach soll sie gewährleisten, dass alle Opfer von Straftaten angemessene Informationen, Unterstützung und Schutz erhalten und sich am Strafverfahren beteiligen können. Weiterhin müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Opfer anerkannt werden und eine respektvolle, einfühlsame, individuelle, professionelle und diskriminierungsfreie Behandlung erfahren.10 Insbesondere sollen die zuständigen Stellen im Umgang mit Opfern auf deren persönliche Situation und individuellen Bedürfnisse eingehen.11 Die konkrete Ausgestaltung der genannten Bedürfnisse durch die Normierung von Ansprüchen erfolgt im zweiten, dritten und vierten Richtlinienkapitel. Art. 1 Abs. 1 bringt dagegen eine bedeutende prozesstheoretische Grundannahme zum 6 KOM(2011)275 v. 18. 5. 2011, S. 8; Bock, ZIS 2013, 201, 205; Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights, S. 215, 217. 7 Für eine Beschreibung der Rechte im zeitlichen Verlauf siehe Ezendam/Wheldon, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 51, 56. 8 EG 11 empfiehlt entsprechend eine Ausweitung der nationalen Umsetzungsvorschriften zur Erreichung eines höheren Schutzstandards. 9 Art. 1 Abs. 2 normiert zudem den Grundsatz, dass das Kindswohl stets zu priorisieren ist, der sich auch in weiteren Vorgaben niederschlägt, siehe z. B. EG 14, 42, 60 und Artt. 22 Abs. 4, 24. 10 EG 9 definiert konkretisierend eine Liste von Kriterien, anhand derer nicht differenziert werden darf. Siehe zudem EG 15 – 18, die das Verbot einer Diskriminierung von Opfern mit Behinderung und Opfern von Terrorismus, sexueller Gewalt und Gewalt in engen Beziehungen gesondert hervorheben. 11 Vgl. EG 9 S. 3; siehe auch Kommission, Guidance Document, S. 4.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Ausdruck: Der Person, die durch eine Straftat verletzt wurde, sollen aufgrund ihres Status als Straftatopfer Ansprüche zukommen, und sie soll sich am Strafverfahren beteiligen können.12 Das Opfer wird damit unionsweit als genuiner Beteiligter am Strafprozess anerkannt. Dies wird auch von der Handreichung der Kommission zur Auslegung der Richtlinie untermauert. Darin stellt die Kommission fest, die Richtlinie fordere von den Mitgliedstaaten, das Opfer als Individuum mit eigenständigen Bedürfnissen im Strafjustizsystem anzuerkennen und ihm eine Schlüsselrolle im Strafverfahren zuzuerkennen.13 Diesem Programmsatz liegt die in EG 9 S. 1 ausgedrückte Annahme zugrunde, dass eine Straftat ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft und zugleich eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers darstelle. Das individuell widerfahrene Leid bildet damit nach der Richtlinie den Ausgangspunkt und die Begründung dafür, das Opfer als solches anzuerkennen und ihm genuine Ansprüche gegen den Staat auf Schutz, Unterstützung, Information und ausreichenden Zugang zum Recht14 – über eine aktive Beteiligung am Strafverfahren – zu gewähren.

II. Opferkonzept und Geltungsbereich Die Richtlinie enthält in Art. 2 Abs. 1 eine Legaldefinition des Begriffs Opfer15, um festzulegen, für welche Personen die in der Richtlinie enthaltenen Rechte gelten sollen. Dabei verfolgt die EU einen horizontalen Ansatz, nach dem allen Opfern 12

Ebenso Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1388 f. Ähnlich Rasquete/Ferreira/Marques, ERA Forum 2014, 119, 128: die Richtlinie erhebe das Opfer zur zentralen Figur im Strafjustizsystem. 13 Kommission, Guidance Document, S. 7. 14 Vgl. EG 9 S. 4. Was „Zugang zum Recht“ bedeutet, wird unterschiedlich beurteilt, siehe für einen zusammenfassenden Überblick der verschiedenen Konzepte Albrecht, in: VSE, Project Victims in Europe, S. 87, 96 ff., 102 (der darunter u. a. Entschädigung, Wiedergutmachung und Beteiligung des Opfers an der Bestrafung des Täters fasst). Siehe auch de Casadevante Romani, International Law of Victims, S. 155, der darunter für Verbrechensopfer das Recht auf schnelle und effektive Rechtsmittel, die Teilnahme an zivilrechtlichen und strafrechtlichen Verfahren und zügige Gerichtsentscheidungen versteht. Doak, Victims’ Rights, S. 159 ff. fasst darunter allgemein Rechtshilfe in Form der Strafverfolgung und speziell für das Opfer Reparation, die Kompensation, Wiedergutmachung, Genugtuung und Rehabilitation bedeute. Insgesamt umfasse access to justice alle verfahrensrechtlichen Pflichten des Staates nach einer Straftat, wozu Aufklärung, Verfolgung und Bestrafung mit Rechten auf Rechtsmittel und Wahrheit zählten. Zur Auslegung des Begriffs im Kontext der Richtlinie Kap. 2 A IV 1 b) bb). 15 Der Begriff „Opfer“ wird sowohl aufgrund seiner emotionalen Besetzung, die nicht in den Kontext des Strafprozessrechts passe, z. B. Anders, ZStW 124 (2012), 374, 378, als auch aus Sicht der Betroffenen kritisiert, z. B. Ladenburger, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 289, 290 f.: der rückwärts gerichtete Begriff lege Betroffene auf eine hilflose Rolle fest, die sie in ihr Selbstbild aufnähmen, was zu tertiärer Viktimisierung führen könne. Ursprünglich kommt er nicht aus dem Strafverfahrensrecht, sondern der Viktimologie, Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1150; Rieß, Jura 1987, 281 f.

A. Inhaltliche Vorgaben

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unabhängig von der Art der Straftat, deren Umstände und dem Ort des Geschehens die gleichen Rechte zustehen sollen.16 Zu diesem Zweck normiert sie einen einheitlichen Opferbegriff und differenziert nicht – wie etwa das deutsche Recht17 – nach dem jeweiligen Funktionszusammenhang der anzuwendenden Norm. Zudem unterfüttert die Legaldefinition den Opferbegriff mit einem unionsautonomen Konzept. 1. Opferkonzept Die Richtlinie definiert als Opfer jede natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge einer Straftat erlitten hat. Damit sind juristische Personen, wie schon beim RB 2001/220/JI,18 aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen.19 Natürliche Personen profitieren von den Richtlinienvorgaben, wenn sie sich innerhalb der EU aufhalten, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus oder ihrer Staatsbürgerschaft; der Anwendungsbereich ist folglich nicht auf EU-Bürger beschränkt, vgl. EG 10.20 16

Dieses Konzept basiert auf dem Vorschlag der Kommission für die Richtlinie 2012/29/ EU, KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 3; siehe auch KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3. Jede Diskriminierung von Opfern soll vermieden werden. Opfer von Terroranschlägen und von geschlechtsbezogener und häuslicher Gewalt erhalten allerdings besondere Vorgaben, vgl. z. B. EG 16 – 18, Art. 9 Abs. 3 lit. b, was den horizontalen Ansatz schwächt, krit. Ezendam/ Wheldon, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 51, 54. 17 Siehe etwa BT-Drucks. 10/5305, S. 16 f. (zum 1. Opferschutzgesetz); Anders, ZStW 124 (2012), 374, 378; Hilger, GA 2007, 287, 288; Kuhn, ZRP 2005, 125, 126; Safferling, ZStW 122 (2010), 87, 92. Zum Verletztenbegriff im deutschen Recht allgemein Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1148 ff. 18 Siehe EuGH, 28. 6. 2007, Rs. C-467/05 (Dell’Orto), Slg. I 2007 I-05557 Rn. 52 ff.; EuGH, 21. 10. 2010, RS. C-205/09 (Eredics), Slg. 2010 I-10231 Rn. 26 ff. Damals wie heute steht es den Mitgliedstaaten frei, die Vorgaben im nationalen Recht auch auf juristische Personen zu erstrecken. 19 Krit. aufgrund der vergleichbaren Interessenlage bzgl. der Kompensation finanzieller Tatfolgen Bock, ZIS 2013, 201, 205; Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 459. 20 Zur Erfassung auch von Nicht-Unionsbürgern Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 387. – Geographisch erfasst die Richtlinie alle Straftaten, die in der EU begangen werden, sowie alle Strafverfahren, die in der EU geführt werden, auch wenn sie Straftaten zum Gegenstand haben, die in Drittstaaten begangen wurden, vgl. EG 13. Einem Amerikaner, der in Frankreich Opfer einer durch einen Neuseeländer begangenen Straftat geworden ist, die in Neuseeland verfolgt wird, der sich aber weiterhin (illegal) in Frankreich aufhält, steht damit beispielsweise zumindest ein Anspruch auf die strafverfahrensunabhängige Unterstützung gem. Art. 8 zu. Gleichsam erhält bspw. eine Peruanerin, die in Chile durch einen Italiener viktimisiert worden ist und zur Teilnahme an dem in Italien durchgeführten Strafverfahren in die EU reist, die während des Strafverfahrens vorgesehenen Rechte. Auch Opfer von Völkerrechtsverbrechen werden von der Richtlinie erfasst, wenn diese in einem Drittstaat begangen wurden, aber ein Mitgliedstaat über das Weltrechtsprinzip seine Verfolgungszuständigkeit begründet hat und ausübt. Für praktische Beispiele siehe Kommission, Guidance Document, S. 7 f.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Um als Opfer zu gelten, muss eine Person durch eine Straftat eine Beeinträchtigung erlitten haben. Die Richtlinie knüpft die Zuerkennung von Opferrechten damit an die Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes. Auf das Bestehen eines zivilrechtlichen Anspruchs kommt es, anders als in manchen nationalen Rechtsordnungen, für die Wahrnehmung der unionsrechtlichen Opferrechte nicht an.21 Die Vorfrage, ob ein bestimmtes schädigendes Verhalten als Straftat zu qualifizieren ist, richtet sich nach nationalem Recht, sodass das mitgliedstaatliche Strafrecht zumindest partiell den Geltungsbereich der Richtlinie definiert.22 Eine tatbestandliche Beschränkung auf bestimmte Straftaten – etwa auf besonders schwere, Individualinteressen schützende, Erfolgs- oder vollendete Delikte – ist in der Definition nicht angelegt. Damit ist grds. jeder national normierte Straftatbestand geeignet, die Opfereigenschaft zu begründen.23 Weiterhin bedarf es nach dem Wortlaut der Richtlinienvorgabe lediglich der Identifikation einer Straftat, nicht aber des Straftäters. Unterstützt wird diese Auslegung von EG 19: „Eine geschädigte Person soll unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde, als Opfer betrachtet werden.“ Dies ist konsequent, weil zu frühen Verfahrenszeitpunkten, z. B. bei der Anzeigeerstattung, oft noch kein Täter bekannt ist und unter Umständen auch im weiteren Verlauf nicht ermittelt wird. Würde der Opferstatus an die Identifikation des Straftäters gebunden, bliebe einem Großteil der Betroffenen jeder Zugang zu den Rechten verwehrt. Schließlich bedürfen weder die Begehung der Straftat noch die sonstigen Umstände eines transnationalen Bezuges. Die Richtlinie findet somit, wie bereits der RB 2001/220/JI, auch auf rein nationale Sachverhalte Anwendung. Weiteres wesentliches Kriterium der Definition ist, dass die Person eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust, der direkte Folge einer Straftat war, erlitten hat. Der Wortlaut der deutschen Übersetzung erfordert grammatikalisch ausschließlich in Bezug auf den wirtschaftlichen Verlust, dass er direkte Folge einer Straftat ist, nicht aber in Bezug auf die körperlichen oder mentalen Folgen. Im Richtlinienvorschlag der Kommission hingegen hatten noch eindeutig alle genannten Beeinträchtigungskategorien direkte Folge einer Straftat sein müssen.24 Die italienische und die niederländische Richtlinienversion fordern dies weiterhin und die englische Richtlinienversion lässt eine solche Interpretation

21 Siehe zu diesen unterschiedlichen Ansätzen in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 43 ff. 22 Die Richtlinie zielt insbesondere nicht darauf, bestimmtes Verhalten zu kriminalisieren, vgl. Kommission, Guidance Document, S. 7. 23 Im Gesetzgebungsverfahren war kritisiert worden, die Erfassung auch von Bagatelldelikten verursache zu hohe Kosten, Ausschuss der Regionen, Stellungnahme zum „Legislativpaket über Opferrechte“, EU-Abl. C-113/56 v. 18. 4. 2012, Änderungsvorschlag 3. Kritisch auch zur Erfassung von Familienangehörigen bei Bagatelltaten Bock, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 78 f. 24 Vgl. Art. 2 lit. a i Richtlinienvorschlag, KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011.

A. Inhaltliche Vorgaben

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zumindest zu.25 Bei Divergenzen zwischen den verschiedenen, gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen ist keine differenzierende Interpretation geboten, sondern aufgrund des Erfordernisses einer einheitlichen Auslegung auf die Systematik und den Zweck der Vorschrift abzustellen.26 Weder aus systematischen noch aus teleologischen Gesichtspunkten ist ein Sachgrund für die Differenzierung zwischen den Beeinträchtigungskategorien ersichtlich. Es ist deshalb davon auszugehen, dass entgegen dem Wortlaut der deutschen Richtlinienversion die genannten Schädigungen genauso wie der wirtschaftliche Verlust direkte Folge einer Straftat sein müssen.27 Wann eine Auswirkung direkte Folge der Straftat ist, konkretisiert die Richtlinie nicht. Naheliegend erscheint jedoch, dass mit dem Erfordernis der direkten Folge eine Rückbindung an den Normzweck des Straftatbestandes beabsichtigt ist.28 Damit würde eine Person nicht unter die Opferdefinition fallen, wenn der verwirklichte Straftatbestand nicht bezweckt, ihr durch die Straftat beeinträchtigtes Interesse zu schützen. Die Richtlinie normiert keine Erheblichkeitsschwelle für die Schädigung bzw. den Verlust, sodass auch Bagatellfolgen den Opferstatus vermitteln können. Gleichwohl ist nach dem eindeutigen Wortlaut immer wenigstens eine Minimalauswirkung erforderlich. Versuchs- und Gefährdungsdelikte, die in der Regel keine 25

Auf Italienisch lautet Art. 2 lit. a i: una persona fisica che ha subito un danno, anche fisico, mentale o emotivo, o perdite economiche che sono stati causati direttamente da un reato. „Sono stati causati“ muss sich grammatikalisch auf „danno“ (Schaden) und „perdite economiche“ (wirtschaftliche Nachteile) beziehen, da es andernfalls „perdite economice che sono state causate“ hätte heißen müssen. Die niederländische Version (en natuurlijke persoon die als rechtstreeks gevolg van een strafbaar feit schade, met inbegrip van lichamelijke, geestelijke of emotionele schade of economisch nadeel, heeft geleden) zieht das „direkte Folge“ vor die Klammer, sodass es sich auf alle Schädigungen bezieht. In der englischen Version (a natural person who has suffered harm, including physical, mental or emotional harm or economic loss which was directly caused by a criminal offence) ist es grammatikalisch zumindest möglich, den Zusatz „which was directly caused“ auf die Schädigung und den Verlust zu beziehen. Ähnlich Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 245 Fn. 13, der die englische Version für auslegungsbedürftig hält. Die französische Fassung hingegen ist ähnlich ambivalent wie die Deutsche. 26 EuGH, 15. 12. 2011, C-585/10 (Niels Möller), Slg. 2011 I-13407 Rn. 26; Streinz, Europarecht, Rn. 282, 284. 27 In diesem Sinne auch Kommission, Guidance Document, S. 10. 28 Hanloser, Gehör, S. 99, hat bzgl. der insofern gleichlautenden Opferdefinition in Art. 1 lit. a RB 2001/220/JI vorgeschlagen, auf die Rechtsgutslehre zurückzugreifen. Ein Schaden sei dann direkte Folge, wenn es sich um eine Verletzung des Rechtsgutsträgers in einem durch die Strafnorm geschützten Rechtsgut handele. Dagegen spricht jedoch, dass die Rechtsgutslehre kein unionsweit bekanntes und verwendetes Konzept und damit für eine unionsautonome Auslegung wenig tauglich ist. Gerade aufgrund des Zusammentreffens von Common und Civil Law Systemen auf supranationaler Ebene knüpft die RL 2012/29/EU auch nicht an das Rechtsgutskonzept, sondern an das Betroffenheitskonzept, Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 19. Siehe zur abstrakten Unionsterminologie auch Safferling, ZStW 122 (2010), 87, 92. Die englische Entscheidung R (on the application of Privacy International) v Revenue and Customs Commissioners [2014] EWHC 1475 (Admin), Rn. 102 ff., stellt als Begrenzung auf die direkte Kausalität des Schadens ab.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

körperlichen oder wirtschaftlichen Folgen haben, begründen die Opfereigenschaft folglich nur dann, wenn sie wenigstens eine, wenn auch schwache, tatsächlich spürbare seelische Schädigung beim Betroffenen auslösen.29 Damit ist die Richtliniendefinition in Bezug auf Personen, die einem Deliktsversuch oder einem konkreten Gefährdungsdelikt ausgesetzt waren, enger als etwa das deutsche Recht, das solche Personen auch ohne nachweisbare Schädigung zu den Verletzten zählt.30 Neben den direkten Opfern werden Familienangehörige unter zwei Gesichtspunkten in den Anwendungsbereich der Richtlinie einbezogen. Zum einen werden Familienangehörige von Personen, die als direkte Folge einer Straftat verstorben sind, selbst als Opfer klassifiziert, Art. 2 Abs. 1 lit. a ii. Anders als noch der RB 2001/220/JI erfasst die Richtlinie damit ausdrücklich auch sog. indirekte Opfer.31 Diese Personen können alle in der Richtlinie vorgesehenen Rechte geltend machen, allerdings nur dann, wenn sie gerade durch den Tod des direkten Opfers eine Schädigung erlitten haben.32 Damit ist die Richtlinie erneut strenger als viele nationale Vorschriften, die Familienangehörigen von verstorbenen Straftatopfern ohne weiteres Schädigungserfordernis gestatten, prozessuale Befugnisse anstelle der Verstorbenen auszuüben.33 Zum anderen werden einige Rechte im Unterstützungsund Schutzbereich auch auf solche Familienmitglieder erstreckt, deren Angehörige die Tat überlebt haben.34 Wer zu dem Kreis der Familienangehörigen zählt, wird in 29 Der DRiB hatte in Bezug auf den Anwendungsbereich des RB 2001/220/JI vertreten, dass Versuchs- und Gefährdungsdelikte regelmäßig – wohl auch ohne spürbare Beeinträchtigung – die Opfereigenschaft begründeten, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 38. A.A. schon bzgl. des RB Hanloser, Gehör, S. 95 (konkrete Beeinträchtigung erforderlich). Die Opferdefinition in Art. 1 lit. a des RB hatte allerdings auch noch, anders als Art. 2 Abs. 1 lit. a i der RL 2012/29/ EU, keine abschließende Aufzählung von Schadensarten enthalten, was einen größeren Auslegungsspielraum eröffnete. In Bezug auf die RL 2012/29/EU ist diese Auslegung aufgrund des insoweit eindeutig abschließenden Wortlauts, der zwingend eine der genannten Schadenskategorien fordert, nicht mehr vertretbar; a.A. i.E. Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 20. 30 Baier, GA 2005, 81, 84; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 39 f.; Hilger, GA 2007, 287, 293. A.A. wohl Kuhn, ZRP 2005, 125, 126, der den Hauptunterschied zwischen unionsrechtlicher und deutscher Opferdefinition in dem Umgang mit juristischen Personen erblickt. 31 Begrüßend Rasquete/Ferreira/Marques, ERA Forum 2014, 119, 121. 32 Die Schädigung kann aus emotionalen und wirtschaftlichen Aspekten aufgrund materieller Abhängigkeit vom verstorbenen primären Opfer resultieren, vgl. Kommission, Guidance Document, S. 10. 33 Siehe z. B. für die Nebenklage § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO; auch die Klageerzwingung gem. § 172 StPO ist dem nebenklageberechtigten Angehörigen eines Getöteten gestattet, Zöller, in: HK-StPO, § 172 Rn. 14. In England können ebenfalls Verwandte verstorbener Opfer deren Rechte wahrnehmen, siehe Code of Practice for Victims of Crime, Ok. 2015, Introduction sec. 23. Dazu gehört z. B. das Recht, Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft überprüfen zu lassen, Kap. 3 A III 2 a) cc) (2). 34 Vgl. z. B. das Recht auf Zugang zu Opferunterstützungsdiensten, Art. 8 Abs. 1, auf Vermeidung eines Zusammentreffens mit dem vermeintlichen Täter im Gerichtsgebäude, Art. 19 Abs. 1, und auf Schutz der Privatsphäre, Art. 22 Abs. 1.

A. Inhaltliche Vorgaben

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Art. 2 Abs. 1 lit. b legal definiert.35 Art. 2 Abs. 2 gestattet den Mitgliedstaaten allerdings, die Zahl der Berechtigten im Einzelfall einzuschränken und Prioritäten zwischen ihnen festzulegen.36 2. Feststehender Opferstatus versus Unschuldsvermutung Art. 2 Abs. 1 normiert, dass nur eine Person als Opfer gilt, die als unmittelbare Folge einer Straftat eine Schädigung oder einen Verlust erlitten hat. Dieser Wortlaut könnte sowohl unter Beachtung der Konzeption und des Ziels der Richtlinie, effektive und umfassende Opferunterstützung zu gewährleisten, als auch aus der Perspektive des Beschuldigten problematisch sein. Unter Beachtung der Konzeption und des Ziels der Richtlinie, effektive und umfassende Opferunterstützung zu gewährleisten, stellt sich das folgende Dilemma: Der Wortlaut der Opferdefinition setzt voraus, dass sowohl die Straftat als auch die Schadensfolge feststehen. Personen, deren Schädigung durch eine Straftat bloß möglich, aber noch nicht verbindlich festgestellt ist, werden von der Definition danach nicht erfasst.37 Zugleich normiert die Richtlinie Rechte für verschiedene Verfahrenszeitpunkte: sowohl bereits vor, als auch während und nach dem Strafverfahren. Damit soll entsprechend dem Ziel der Richtlinie eine möglichst effektive und umfassende Unterstützung von Straftatopfern erreicht werden. Insbesondere vor und auch während des Strafverfahrens steht aber noch nicht verbindlich fest, ob sich die Straftat, durch die die Person nach ihren Angaben geschädigt worden ist, wie angegeben zugetragen hat, und ob die Person gerade dadurch Beeinträchtigungen erlitten hat. Eine mögliche Schlussfolgerung könnte lauten, dass vor Anerkennung des Opferstatus einer Person die behauptete Straftat in einem Strafverfahren förmlich festzustellen wäre. Alle Personen, deren Opfereigenschaft noch nicht verifiziert wäre, könnten die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte dann nicht geltend machen. Diese Interpretation würde zwar mit dem Wortlaut der Richtlinie übereinstimmen, ließe aber einen Großteil der Richtlinienvorgaben, die in frühen Verfahrensstadien relevant werden, leer laufen. In der Folge wären nicht nur solche Personen von der Wahrnehmung dieser Richtlinienrechte ausgeschlossen, deren Behauptung, Opfer einer Straftat geworden zu sein, falsifiziert würde. Vielmehr wären auch alle Personen, deren Aussage über die Straftat sich als richtig erweisen würde, bis zur förmlichen Feststellung der Straftat von dem Ausschluss betroffen. Diejenigen, 35 Der nicht-eheliche Lebenspartner ist explizit erfasst, Meier, in: GS Wolter (2013), S. 1387, 1390. Zur nur indirekten Erfassung des eingetragenen Lebenspartners Bock, ZIS 2013, 201, 205 Fn. 51. 36 Zum Streit zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission über die (einschränkende) Definition des Familienangehörigen, die in den Erlass von Art. 2 Abs. 2 gemündet hat, Buczma, ERA Forum 2013, 235, 242 f. Die Kommission mahnt auch jetzt an, insbesondere im Schutzund Unterstützungsbereich keine Einschränkungen vorzunehmen, Guidance Document, S. 11. 37 Ebenso Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 245.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

deren Viktimisierung beispielsweise mangels Identifikation des potentiellen Täters nie in einem Strafverfahren untersucht würde, wären gänzlich unterstützungslos gestellt. Eine solche Interpretation der Opferdefinition würde folglich der Logik der Richtlinie, Rechte gerade zu verschiedenen Zeitpunkten vorzusehen, widersprechen und das Ziel der Richtlinie, Straftatopfer effektiv zu unterstützen, konterkarieren. Als Lösungsalternative ließe sich erwägen, den Opferstatus einer Person in einer Vorprüfung zu erheben.38 Dafür müsste die Person, die den ersten offiziellen Kontakt zu einem vermeintlichen Opfer hat, untersuchen und verbindlich feststellen, ob es tatsächlich durch eine Straftat geschädigt worden und damit Opfer im Sinne der Richtliniendefinition ist. So ließe sich schon zu einem frühen Zeitpunkt beurteilen, ob der Person die Richtlinienrechte zustünden. Eine solche Vorprüfung würfe aber ebenfalls Probleme auf. Zum einen wäre unklar, anhand welcher Kriterien die Vorprüfung durchzuführen wäre, zum anderen lägen zu einem frühen Zeitpunkt oft nicht genug Informationen für eine verlässliche Beurteilung vor.39 Weil eine solche Voruntersuchung der Frage, ob eine Straftat stattgefunden und eine Person geschädigt hat, gerade vor Einleitung des Strafverfahrens durchgeführt würde, würde dies zudem das Strafverfahren auf unbestimmte Zeit verzögern und dessen Ergebnis zumindest partiell präkludieren.40 Dies wäre nicht nur impraktikabel, sondern die partielle Vorwegnahme des Untersuchungsergebnisses wäre auch kaum mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens gegenüber dem Beschuldigten vereinbar.41 Zum anderen stünde eine solche Voruntersuchung in Konflikt mit dem Richtlinienziel, Opfern zügig Schutz und Unterstützung zukommen zu lassen. Die Richtlinie untersagt zwar gem. EG 19 keine Verwaltungsverfahren zur Bestätigung der Opfereigenschaft einer Person nach nationalem Recht.42 Unbeschadet dieser Rücksicht auf etwaige nationale Besonderheiten sieht die Richtlinie aber die Untersuchung der Opfereigenschaft gerade nicht vor. Vielmehr unterstellt die Richtlinie den Opferstatus schlicht als feststehend.43 Diese Analyse legt nahe, die Richtliniendefinition anders zu interpretieren als ihr Wortlaut impliziert. Für die Bestimmung der Opfereigenschaft könnte zunächst zu unterstellen sein, dass eine Person, die sich glaubhaft als Opfer ausgibt, auch tatsächlich durch eine Straftat wie reklamiert geschädigt worden ist.44 Dies könnte 38

Siehe hierzu Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 245. Krit. auch Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 179; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 247. 40 Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 247; ders., in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 31. 41 Ebenso DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 2. 42 Dieser Zusatz wurde auf Bestreben des Rates eingeführt, vgl. Council of the European Union, File 2011/0129, Dok. 17327/11 v. 22. 11. 2011, S. 5 Fn. 5. 43 Sehr krit. dazu Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 186 f. 44 Ebenso Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246; ders., in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 31. In diese Richtung auch im nationalen Kontext Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 100 f.; Kilchling, NStZ 2002, 57. A.A. wohl Klip, Europ. J. Crime Crim. L. 39

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jedenfalls gelten, soweit die mangelnde Plausibilität der Angaben nicht offensichtlich ist.45 Eine solche Handhabung der Richtliniendefinition entspräche dem Gedanken des EG 19, der die Opfereigenschaft einer Person davon trennt, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde. In der Konsequenz würden allerdings (vereinzelt) auch Personen (zunächst) Richtlinienrechte erhalten, die kein Opfer einer Straftat geworden sind, sei es, weil sie wissentlich falsche Anschuldigungen erhoben haben oder weil der vorgetragene Sachverhalt sich entgegen der anfänglichen Annahme nicht unter einen Straftatbestand subsumieren lässt.46 Statistisch geben Personen indes verhältnismäßig selten ungerechtfertigt vor, Opfer einer Straftat geworden zu sein.47 Die hypothetische Annahme, eine Person, die sich glaubhaft als Opfer bezeichnet, sei tatsächlich Opfer geworden, ist also selten falsch. Zudem ist es notwendig, den Opferstatus ohne förmliche Feststellung anzuerkennen, um entsprechend dem Richtlinienziel tatsächlich viktimisierte Personen unterstützen zu können. Denn würde auf der förmlichen Feststellung der Opfereigenschaft bestanden, würden auch all diejenigen (zunächst) unterstützungslos gestellt, deren Aussagen über die Viktimisierung sich im Verlauf als richtig erweisen. Dass so auch einige Scheinopfer (zunächst) in das Opferunterstützungsregime aufgenommen werden, ist zu Gunsten einer effektiven und fairen Behandlung der tatsächlichen Opfer in Kauf zu nehmen.48 Die Konzeption und das Ziel der Richtlinie, effektive und umfassende Opferunterstützung zu gewährleisten, legen daher nahe, die Richtliniendefinition entgegen ihrem Wortlaut wie folgt zu interpretieren: Alle Personen sind erfasst, die glaubhaft vortragen, durch eine Straftat geschädigt worden zu sein, ohne dass notwendigerweise schon feststünde, dass diese Aussage auch richtig ist. Unabhängig von Ziel und Konzeption der Richtlinie könnte die Unterstellung in der Richtliniendefinition, der Opferstatus stünde jederzeit fest, auch aus der Perspektive eines Verdächtigen/Angeklagten problematisch sein. Insofern wird zum einen vorgebracht, bis Strafverfahrensende könne nie angenommen werden, dass eine Person Opfer einer Straftat und besonders nicht Opfer einer Straftat gerade des Angeklagten sei. Deshalb sei es verfehlt, dem zunächst stets nur hypothetischen Opfer prozessuale Rechte in dem gegen den Angeklagten geführten Strafverfahren

& Crim. Just. 23 (2015), 177, 179, der die fehlende Überprüfung und Anfechtbarkeit des Opferstatus kritisiert. 45 Ebenso Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 247. 46 Krit. auch Schmälzger, Europ. L. Reporter 10 (2011), 301, 305. – Zum Phänomen, dass Personen entgegen der Wahrheit reklamieren, Opfer einer Straftat geworden zu sein, Eisenberg, HRRS 2011, 64 f.; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 8; Pollähne, in: HK-StPO, Vor §§ 403 ff. Rn. 4; Schwenn, StV 2010, 705, 706; ausführlicher Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 247 f. 47 Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 270; Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 32. A.A. wohl Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 8; Pollähne, in: HK-StPO, Vor §§ 403 ff. Rn. 4. 48 DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 2; Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 270.

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zuzuerkennen.49 Zum anderen wird kritisiert, dass die Vorgehensweise, vor Ergehen des Strafurteils eine Person als „Opfer“ zu bezeichnen, jedenfalls terminologisch verfehlt sei.50 Gestützt wird diese Kritik auf die Unschuldsvermutung. Die Unschuldsvermutung ist primärrechtlich garantiert in Art. 48 Abs. 1 GRC und in Art. 6 Abs. 2 EMRK. Zu ihrer Achtung sind sowohl der Unionsgesetzgeber beim Erlass der RL 2012/29/EU als auch die Mitgliedstaaten bei Umsetzung der Unionsvorgaben in nationales Recht und deren Anwendung verpflichtet.51 Kerngehalt der Unschuldsvermutung ist, dass keine Person vor dem rechtskräftigen rechtsförmlichen Beweis ihrer Schuld ausdrücklich oder konkludent als schuldig bezeichnet oder wie eine schuldige Person behandelt werden darf.52 Eine öffentliche Stelle darf auch nicht zum Ausdruck bringen, dass sie von der Schuld des Beschuldigten ausgeht, ohne dass seine Verurteilung vorliegt.53 Darauf aufbauend wird argumentiert, dass es bis zum rechtskräftigen Abschluss des Prozesses nur einen möglichen Täter gebe. Erst mit rechtskräftigem Abschluss des Prozesses stehe fest, ob der potentielle Täter tatsächlich Täter sei. Parallel dazu könne es bis zum Verfahrensabschluss auch nur ein potentielles Opfer geben, das allenfalls mit der Verurteilung des Täters zum tatsächlichen Opfer (dieses Täters) werde. Würde der Opferstatus bereits vor Verfahrensabschluss als gegeben unterstellt, würde damit zugleich die Täterschaft des Verdächtigen ohne rechtskräftigen Nachweis seiner Schuld und damit unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung impliziert. Terminologisch dürfe eine Person, die 49 In diese Richtung krit. z. B. Bung, StV 2009, 430, 432; Dahs, NJW 1984, 1921 (der die Frage, ob alle prozessualen Mitwirkungsrechte für vermeintliche Opfer abzuschaffen sind, letztlich aber offen lässt); wohl auch Gaede, in: Böse, EnzEuR Bd. 9, § 3 Rn. 94 (durch die Anerkennung von Opferrechten dürfe nicht die Täterrolle präjudiziert werden); Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 186 f.; Schünemann, NStZ 1986, 193, 197 f.; ders., ZStW 114 (2002), 1, 30 f. (allerdings weniger absolut in seiner Ablehnung als 1986). Jedenfalls zur Vorsicht bei der Zuerkennung prozessualer Rechte mahnen z. B. Freund, GA 2002, 82, 86; Pollähne, in: HK-StPO, Vor §§ 403 ff. Rn. 3 f. 50 Siehe zu dieser Kritik Bommer, Verletztenrechte, S. 258 f.; Bung, StV 2009, 430, 432; Fischer, JZ 1998, 816, 818; Freund, GA 2002, 82, 86; Gaede, in: Böse, EnzEuR Bd. 9, § 3 Rn. 94; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 100; Jung, JR 1984, 309, 310; ders., ZStW 93 (1981), 1147, 1149; Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 186 f.; Pollähne, in: HK-StPO, Vor §§ 403 ff. Rn. 2 f.; Paciocco, Crim. L. Quarterly 49 (2004 – 05), 393, 397; Pollähne, StV 2016, 671, 674; ders., in: ders./Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 5, 7 ff.; Rieß, Gutachten, Rn. 69; Safferling, ZStW 122 (2010), 87, 92; Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 446 f.; ders., ZIS 2009, 484, 492; ders., ZStW 114 (2002), 1, 30 f. (die Unschuldsvermutung transportiere eine Falschverdächtigungsvermutung zu Lasten des angeblich Verletzten); ders., NStZ 1986, 193, 197 f.; Schwenn, StV 2010, 705, 706; Seelmann, JZ 1989, 670, 671. A.A. z. B. Brienen/Hoegen, Victims of Crime, S. 30, 285 f.; Schmälzger, Europ. L. Reporter 10 (2011), 301, 305; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246; ders., Deliktsopfer, S. 424 f. 51 Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 48 GRC Rn. 2. Siehe ausführlich zur Bedeutung der GRC und der EMRK für die EU und die Mitgliedstaaten Kap. 1 D I 6, Kap. 4 A. 52 Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 48 GRC Rn. 4; Eser, in: Meyer, EU-GRC, Art. 48 Rn. 5; Gaede, in: Böse, EnzEuR Bd. 9, § 3 Rn. 75; Jarass, EU-GRC, Art. 48 Rn. 9; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: NK-EMRK, Art. 6 Rn. 213. 53 EuG, 12. 10. 2007, Rs. T-474/04 (Pergan), Slg. 2007 II-4225 Rn. 76; EGMR, 3. 10. 2002, App. No. 37568/97 (Böhmer/Deutschland), § 54; Jarass, EU-GRC, Art. 48 Rn. 10.

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vortrage, durch eine Straftat geschädigt worden zu sein, folglich solange nicht als Opfer bezeichnet werden, wie die Täterschaft des Angeklagten nicht erwiesen sei.54 Fraglich ist aber, ob die Argumentation, die Opferterminologie kollidiere zwangsläufig mit der Garantie der Unschuldsvermutung, vollumfänglich trägt. Zweifelhaft ist nämlich, ob die Opferschaft einer Person stets davon abhängt, dass gerade der im Strafverfahren Angeklagte wegen schuldhafter Verursachung der vom (vermeintlichen) Opfer vorgebrachten strafrechtlich relevanten Schädigung verurteilt wird.55 So ist es beispielsweise möglich, dass die Opferschaft einer Person nicht vernünftigerweise in Zweifel gezogen werden kann, etwa, weil sie durch mehrere Messerstiche im Rücken getötet aufgefunden wird.56 Kommen in diesem Fall mehrere Personen als potentielle Täter in Betracht, schließt der Freispruch eines Angeklagten, etwa aufgrund von Personenverwechselung, die Opfereigenschaft der verletzten Person nicht aus.57 Die Opferrolle ist damit jedenfalls nicht unauflöslich mit der Verurteilung eines Angeklagten verbunden.58 Vielmehr sind der Opferstatus einer Person und der mögliche Täterstatus einer anderen Person – jedenfalls außerhalb des strafverfahrensrechtlichen Kontexts – grds. unabhängig voneinander. Die Unschuldsvermutung kann in derlei Fällen aufrechterhalten werden, auch wenn eine Person schon vor Strafprozessbeginn und damit vor Verurteilung eines Täters als Straftatopfer bezeichnet wird. Die Unschuldsvermutung verlangt in diesen Fällen nur, dass die verletzte Person nicht als Opfer einer bestimmten anderen Person dargestellt wird.59 Diametral gegenüber stehen könnten sich die Unterstellung der Opfereigenschaft und die Vermutung, dass eine andere Person unschuldig ist, allerdings im außerstrafverfahrensrechtlichen Kontext dann, wenn das (vermeintliche) Opfer nur eine einzige Person als möglichen Täter identifiziert. Gibt eine Frau etwa an, von einem bestimmten Mann vergewaltigt worden zu sein, und bestreitet dieser das Geschehen,

54 Statt aller Pollähne, in: HK-StPO, Vor §§ 403 ff. Rn. 2 f.; Pollähne, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 5, 8 f. A.A. Meier, in: GS Wolter (2014), S. 1387, 1389, der die Kritik teilt, aber meint, die Sprache biete keinen die Vorläufigkeit des Status ausdrückenden Begriff. 55 Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 245 f.; ders., in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 31. 56 Der Beispielsfall stammt von Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 269; siehe auch Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246 Fn. 18. 57 Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246 Fn. 18, nennt als weiteres Beispiel für die Unabhängigkeit von Opfer- und Täterstatus, dass auch der Freispruch eines Angeklagten mangels Beweise nicht ausschließe, dass eine Person im Sinne der Definition faktisch durch eine Straftat geschädigt worden sein. 58 I. E. ebenso Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 269; Kilchling, NStZ 2002, 57; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246; ders., Deliktsopfer, S. 424 Fn. 161; zu eng Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1149: „Erst wenn der Angeklagte zum Verurteilten wird, verliert die Verletztenrolle den Zug des Vorläufigen.“ 59 Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 269; Krauß, in: FS Lüderssen (2002), S. 269, 271.

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besteht ein entweder oder-Szenario.60 Entweder ist der Mann ein Straftäter und die Frau ein Vergewaltigungsopfer oder der Mann ist kein Täter und die Frau nicht wie angegeben Opfer. Würde in einem solchen entweder/oder-Fall die Opfereigenschaft der anschuldigenden Person im Sinne der Unionsdefinition als gegeben unterstellt, implizierte dies notwendigerweise die Eigenschaft der bezichtigten Person als Straftäter.61 Geschähe dies durch eine offizielle Stelle, würde sie damit konkludent ausdrücken, dass sie von der Schuld des Beschuldigten ausginge, ohne dass seine Verurteilung vorläge. Dies wäre entsprechend der oben dargelegten Grundsätze ein konkludenter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. Die Situation im Strafverfahren entspricht dem zuletzt beschriebenen entweder/ oder-Szenario. Primär zielt der Strafprozess zwar auf Klärung der Verantwortlichkeit des Angeklagten für eine Straftat und nicht auf die Feststellung der Viktimisierung einer bestimmten Person – die Opfereigenschaft des vermeintlich Verletzten ist nicht der eigentliche Verhandlungsgegenstand.62 Wird allerdings eine Person als mutmaßliches Straftatopfer an einem Strafverfahren gegen einen bestimmten Angeklagten beteiligt, liegt dem die Vermutung zugrunde, dass nicht irgendein möglicher Täter, sondern gerade der Angeklagte die Person viktimisiert hat. Erst die Zuordnung der möglichen Verletzung des vermeintlichen Opfers gerade zu dem bestimmten Angeklagten bildet den Grund für die Beteiligung des vermeintlichen Opfers gerade an dem Strafprozess gegen diese Person.63 Zwar ist die Opfereigenschaft des vermeintlich Verletzten nicht notwendigerweise ausgeschlossen, wenn die Verantwortlichkeit des Angeklagten am Ende des Verfahrens verneint wird.64 Gleichwohl werden jedenfalls für den Moment der Prozesssituation der vermeintlich Verletzte und der Angeklagte einander unmittelbar gegenüber gestellt. Wird in dieser Situation behauptet, die Opfereigenschaft der Person, die angibt, durch eine Straftat des Angeklagten geschädigt worden zu sein, stünde unverrückbar fest, widerspricht dies der Vermutung, dass der Angeklagte unschuldig ist. Diese Analyse belegt also, dass die Opferterminologie nicht zwangsläufig mit der Unschuldsvermutung kollidiert. Die Unschuldsvermutung erfordert deshalb nicht, jeder Person, die vorträgt, durch eine Straftat geschädigt worden zu sein, bis zur rechtskräftigen Verurteilung des Täters den Opferstatus vorzuenthalten. Vielmehr 60

Dieses Beispiel stammt von Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 269. A.A. Schmälzger, Europ. L. Reporter 10 (2011), 301, 305: die Schädigung einer Person sei unabhängig von der Täterschaft einer anderen. Dies ist grds. richtig, übersieht aber, dass die Richtlinie nicht nur allgemein eine Schädigung erfordert, sondern eine Schädigung durch eine Straftat. 62 Siehe auch Weigend, Deliktsopfer, S. 424 Fn. 161: die Feststellung der Identität des Verletzten sei nicht einmal von der Rechtskraft des Strafurteils erfasst. Dagegen Bommer, Verletztenrechte, S. 259. 63 Bommer, Verletztenrechte, S. 259: „Der traditionelle Strafprozess […] fragt also nicht danach, ob das Opfer als solches Opfer geworden ist, sondern danach, ob es das Opfer des Beschuldigten geworden ist.“ [Hervorhebung i.O.]. 64 Ebenso Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246 Fn. 18. 61

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sind die Annahme des Opferstatus einer bestimmten Person und die simultane Aufrechterhaltung der Unschuldsvermutung zugunsten eines Beschuldigten in vielen Szenarien außerhalb des strafverfahrensrechtlichen Kontexts möglich. Insbesondere im Strafverfahren kollidiert jedoch die Unterstellung, die vortragende Person sei Opfer gerade des Angeklagten geworden, mit der simultanen Unterstellung, der Angeklagte sei unschuldig. Die Behauptung, die Opfereigenschaft stünde fest, kann zumindest eine gewisse Voreingenommenheit der Verfahrensbeteiligten auslösen. Offen ist, welche Konsequenzen aus dieser Feststellung zu ziehen sind. Erörtert wurde bereits, dass die Schlussfolgerung nicht lauten kann, den Opferstatus einer Person einer Vorprüfung zu unterziehen.65 Die damit verbundene partielle Präjudizierung des Strafverfahrens wäre nicht mit der Garantie eines fairen Verfahrens vereinbar. Alternativ könnte das vermeintliche Opfer vollständig aus dem Strafverfahren auszuschließen sein. Diese Forderung wird allerdings selbst von den Kritikern der Opferterminologie selten erhoben und wäre im Unionskontext wohl auch politisch nicht durchsetzbar.66 Diskussionswürdig ist aber, ob eine Modifikation der Richtliniendefinition den Konflikt lösen könnte. Dafür ist zu untersuchen, ob es den Widerspruch mit der Unschuldsvermutung auflösen würde, wenn die Terminologie in der Richtliniendefinition ausdrücklich klarstellen würde, dass der Opferstatus einer Person zunächst nur als Möglichkeit angenommen wird, es sich also um ein mutmaßliches Opfer handelt.67 Würde offiziell verdeutlicht, dass der Opferstatus einer Person im Strafverfahren zunächst als reine Möglichkeit anerkannt wird, wäre mit dieser Anerkennung kein Widerspruch zur Unschuldsvermutung des Beschuldigten mehr verbunden. Die ausdrückliche Klarstellung, dass die Viktimisierung durch den Angeklagten zunächst nur eine Möglichkeit darstellt, würde außerdem einer psychologischen Voreingenommenheit anderer Verfahrensbeteiligter vorbeugen. Weiterhin ist die Unschuldsvermutung als prozessuales Prinzip primär ein Schutzmechanismus für den Beschuldigten.68 Vor rechtskräftiger Feststellung seiner Schuld gestattet sie nur solche Maßnahmen gegen den Beschuldigten, die auch gegenüber einem sich als unschuldig erweisenden Bürger legitimierbar wären.69 Damit bedingt die Unschuldsvermutung vor allem eine Begrenzung staatlicher Zwangsbefugnisse, die Verteilung der Beweislast in Bezug auf die Straftat zu Lasten des Staates und hohe

65

Siehe oben Kap. 2 A II 2 im Kontext der Begriffskritik aus Sicht der Ziele der Richtlinie. Vgl. Bommer, Verletztenrechte, S. 259; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246. Selbst Schünemann fordert in ZStW 114 (2002), 1, 31 nur, die Vorläufigkeit des Opferstatus bei der Zuerkennung von Verletztenrechten zu berücksichtigen. Anders noch ders., NStZ 1986, 197 f. 67 Gegen eine solche Formulierung allgemein wohl Brienen/Hoegen, Victims of Crime, S. 285 f. 68 Brienen/Hoegen, Victims of Crime, S. 285; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 246. 69 Eser, in: Meyer, EU-GRC, Art. 48 Rn. 8; Jarass, EU-GRC, Art. 48 Rn. 11; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 248 f. 66

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Beweisstandards für die Schuld des Angeklagten.70 Allein dadurch, dass eine Person, die glaubwürdig vorträgt, durch eine Straftat verletzt worden zu sein, als potentielles Opfer im Strafverfahren bezeichnet und darin als solches anerkannt würde, würden diese Grundsätze nicht unmittelbar tangiert. Insbesondere sänke nicht der Anspruch an den Tatnachweis oder erhielte der Staat weitere Zwangsbefugnisse.71 Die Anerkennung des potentiellen Opfers wäre damit unproblematisch. Eine andere Frage ist, ob sich die aktive Interaktion des potentiellen Opfers im Strafverfahren darüber hinaus nachteilig auf die Verfahrensposition des Beschuldigten auswirken könnte. Die Antwort auf diese Frage aber hängt nicht von der grds. Anerkennung des potentiellen Opfers ab, sondern von der konkreten Ausgestaltung der ihm im Verfahren zuerkannten Rechte. Dies betrifft einen anderen Bereich als die hier diskutierte Frage der Begriffsdefinition.72 Eine Modifikation der Begriffsdefinition würde also zumindest den Konflikt mit der Unschuldsvermutung entschärfen, der durch die Unterstellung des Opferstatus verursacht wird. Die Begriffsdefinition in der Richtlinie sollte deshalb zum Schutz der Beschuldigtenrechte die Vorläufigkeit des Opferstatus ausdrücklich reflektieren.73 Dieser Forderung steht nicht entgegen, dass die meisten nationalen Rechtsordnungen wie die Richtlinie fingieren, ein vermeintlich Verletzter im Strafverfahren sei sicher und nicht nur möglicherweise Opfer einer Straftat geworden.74 Vielmehr sollte die Union gerade hier eine Vorbildrolle bekleiden und einen Impuls für eine präzisere Wortwahl setzen.75 Insofern ist es auch unzutreffend, dass es sprachlich keine Begriffe gäbe, die einen Zustand der Vorläufigkeit in Bezug auf den Opferstatus ausdrücken würden.76 Von Schünemann etwa stammt der Vorschlag „Opferprätendent“77, grds. möglich wären auch Begriffe wie Putativ-Verletzter oder (die Übersetzung der) im englischen Recht geläufigen Terme „alleged victim“78 (mutmaßliches Opfer) oder „complainant“ (Beschwerdeführer)79. Als auf der gegenwärtigen Definition aufbauende Lösung würde sich anbieten, in der Begriffsdefinition die Vorläufigkeit des Opferstatus auszudrücken und Art. 2 Abs. 1 entsprechend umzu70

Brienen/Hoegen, Victims of Crime, S. 285; Leitmeier, StV 2011, 766, 767. Leitmeier, StV 2011, 766, 767; i.E. ebenso Bommer, Verletztenrechte, S. 260 f. 72 Siehe hierzu ausführlich unten Kap. 2 C 2. 73 A.A. Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 21 f., die aber die Problematik um die Unschuldsvermutung nicht vollständig abbildet. 74 Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 31. 75 Dies gilt besonders, da die Kommission die Mitgliedstaaten dazu auffordert, die Richtliniendefinition originalgetreu in das nationale Recht zu übernehmen, Guidance Document, S. 11. 76 So aber Anders, ZStW 124 (2012), 374, 378, der deshalb hilfsweise den Begriff „Verletzter“ vor dem Begriff „Opfer“ bevorzugt; Meier, in: GS Wolter (2014), S. 1387, 1389. 77 Schünemann, Europäisierung, S. 321; ders., ERA Forum 2011, 445, 447. 78 Siehe zu diesem Term im englischen Recht Brienen/Hoegen, Victims of Crime, S. 285. 79 Zu diesem Begriff und krit. zur Wortwahl der Richtlinie, Spencer, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 761, 787. 71

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formulieren. Pate hierfür könnte § 65 Ziffer 1 lit. a österreichische Strafprozessordnung stehen, die Opfer definiert als: „jede Person, die durch eine vorsätzlich begangene Straftat Gewalt oder gefährlicher Drohung ausgesetzt […] worden sein könnte.“ Parallel dazu könnte Art. 2 Abs. 1 lit. a der Richtlinie umformuliert werden als: „eine natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust, der direkte Folge einer Straftat war, erlitten haben könnte.“ Damit würde klargestellt, dass nicht jederzeit sicher feststeht, ob eine Person tatsächlich Straftatopfer geworden ist.80 So würde die Situation im Strafprozess korrekter widergespiegelt und der dargelegte Konflikt mit der Unschuldsvermutung entschärft und einer möglichen psychologischen Vorprägung der anderen Verfahrensbeteiligten vorgebeugt.81 Zugleich wäre die Definition des Opferbegriffs dann dem Ansatz angeglichen, der – etwas unglücklich umgesetzt82 – in Bezug auf den möglichen Straftäter in der Richtlinie verfolgt wird. EG 12 definiert nämlich den Begriff „Straftäter“ als eine Person, die wegen einer Straftat verurteilt wurde, stellt aber zugleich klar, dass sich der Begriff für die Zwecke der Richtlinie gleichsam auf verdächtige und angeklagte Personen bereits vor einem Schuldeingeständnis oder einer Verurteilung bezieht, und bringt damit die partielle Vorläufigkeit der Beurteilung zum Ausdruck. Weiterhin stünde auch nicht zu befürchten, dass durch die offene Erstreckung der Opferrechte auf potentielle Opfer der Angeklagte im Strafverfahren durch die Anerkennung möglicher Verletzter über Gebühr belastet würde, weil insoweit die notwendigen Verdachtsstandards – im deutschen Recht z. B. der hinreichende Tatverdacht – als Schutzmechanismus fungieren.83 Dem hinreichenden Tat- bzw. Täterverdacht bei Anklageerhebung und -zulassung ist gewissermaßen spiegelbildlich das Erfordernis eines hinreichenden Opferverdachts immanent.84 Damit ist gewährleistet, dass kein Angeklagter auf fadenscheiniger Grundlage einem Strafverfahren unter Beteiligung einer Person unterzogen wird, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch ihn viktimisiert worden ist. Inwieweit die Position des Angeklagten ansonsten von der Anerkennung des vermeintlichen Opfers im Strafverfahren tangiert wird, hängt von den Rechten ab, die dem vermeintlichen Opfer zugestanden werden. Eine so modifizierte Opferdefinition harmonierte auch besser mit der Konzeption und dem Ziel der Richtlinie, effektive Opferunterstützung zu gewährleisten. Explizit erfasst wären davon auch Personen, die nur möglicherweise Opfer einer Straftat 80

Damit würde auch der Befürchtung von Blackstock, Protecting Victims, S. 12, abgeholfen, dass die Richtlinienterminologie Mitgliedstaaten veranlassen könne, den Anwendungsbereich der Richtlinienrechte entsprechend auf Personen zu begrenzen, deren Opferstatus eindeutig feststeht. 81 Schon Rieß, Jura 1987, 281, definierte auch aus diesem Grund den Verletzten im Strafverfahren als nur durch eine mögliche Straftat möglicherweise Geschädigten. 82 Zur Kritik an dieser Definition siehe unten Kap. 2 C. 83 Weigend, Deliktsopfer, S. 424 f. 84 So auch Pollähne, in: HK-StPO, Vor §§ 403 ff. Rn. 3; Pollähne, in: ders./Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 5, 10.

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geworden sind. Wie gezeigt, erfordern die Konzeption und das Ziel der Richtlinie ohnehin, die derzeitige Opferdefinition so auszulegen und anzuwenden, dass diese Personen einbezogen werden. In der Folge wäre die modifizierte Formulierung auch in dieser Hinsicht präziser, da sie nicht kontrafaktisch unterstellen würde, es wäre bereits von Beginn an bekannt, wer wirkliches und wer scheinbares Opfer ist.85 Schließlich stünde dieser Definition auch nicht entgegen, dass die Richtlinie Opfern auch Rechte gewährt, wenn der Opferstatus nach Abschluss des Strafverfahrens bestätigt ist. Denn von der vorgeschlagenen Definition wären begriffsnotwendig auch Personen erfasst, bei denen die Schädigung durch eine Straftat feststeht.86 3. Einschränkungen des Geltungsbereichs Obwohl die EU konzeptionell einen horizontalen Ansatz verfolgt, nach dem allen Opfern die gleichen Rechte zustehen sollen,87 ist der Anwendungsbereich einiger Richtlinienrechte limitiert. Die Einschränkungen basieren auf drei verschiedenen Begründungen: Differenzen in der Stellung des Opfers im nationalen Strafverfahren, Kostenreduktion88 und Sachzusammenhang89. Sie neutralisieren allerdings nicht den Opferstatus einer Person im Sinne von Art. 2 Abs. 1, sondern schließen einige von Art. 2 Abs. 1 erfasste Personen aus dem Anwendungsbereich einiger Rechte aus. Die Ausgestaltung einiger Rechte in Abhängigkeit von der Stellung des Opfers in der jeweiligen nationalen Strafrechtsordnung ist ein Schlüsselprinzip der Richtlinie.90 EG 20 erläutert insofern, dass die Stellung von Opfern in der Strafrechtsordnung und ihre Möglichkeit, aktiv am Strafverfahren teilzunehmen, im Einklang mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat differiere und sich nach einem oder mehreren der folgenden Kriterien richte: ob in der nationalen Rechtsordnung die Rechtsstellung als Partei im Strafverfahren vorgesehen sei; danach, ob das Opfer gesetzlich zur aktiven Teilnahme am Strafverfahren – z. B. als Zeuge – verpflichtet sei oder dazu aufgefordert werde; und/oder danach, ob 85

Ebenso Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 247. Alternativ könnte auch dem Vorschlag des CCBE, Response, S. 4, gefolgt werden, nach dem in der Definition auch diese Unterscheidung explizit zu berücksichtigen ist. Entsprechend soll als „vermeintliches Opfer“ eine Person bezeichnet werden, die durch eine Straftat geschädigt worden sein könnte. „Opfer“ soll nur eine Person genannt werden, deren Schädigung durch eine Straftat verbindlich festgestellt wurde. Innerhalb der einzelnen Richtlinienartikel müsste dann jeweils zwischen diesen Begriffen differenziert werden, was zu Unklarheiten bei der genauen Anwendbarkeit der Richtlinie führen könnte und erheblich aufwändiger wäre als die Umsetzung des im Text genannten Vorschlags. 87 Siehe KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 3; auch KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3. 88 Siehe z. B. Art. 7 Abs. 1, 3 und Artt. 13, 14 zusammen mit Kap. 2 B I 2. 89 Dies betrifft Rechte transnational Betroffener in Art. 17, siehe Kap. 2 A IV 3, und Schutzrechte von Personen mit besonderen Schutzbedürfnissen in Artt. 22 ff., siehe Kap. 2 AV 2. 90 Kommission, Guidance Document, S. 4. 86

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das Opfer nach einzelstaatlichem Recht einen Rechtsanspruch auf aktive Teilnahme am Strafverfahren habe und diesen Anspruch auch wahrnehmen wolle, wenn in der nationalen Rechtsordnung eine Rechtsstellung des Opfers als Partei im Strafverfahren nicht vorgesehen sei. Die Mitgliedstaaten bestimmen frei, welches der genannten Kriterien für ihre Rechtsordnung einschlägig ist. Über diese Bestimmung determinieren sie den Anwendungsbereich der Richtlinienrechte, die auf die Stellung des Opfers in der nationalen Strafrechtsordnung Bezug nehmen.91 Dieser Rückbezug auf die jeweilige Stellung des Opfers im nationalen Recht ermöglicht den Mitgliedstaaten, Differenzen zwischen ihren nationalen Rechtsordnungen bei der Richtlinienumsetzung Rechnung zu tragen, und hat den Erlass einiger Vorgaben erst konsensfähig gemacht.92 Der Rückbezug wirkt sich allerdings auch auf die Reichweite der entsprechenden Rechte im jeweiligen nationalen Recht aus und limitiert die Harmonisierung. Die Kommission ermahnt die Mitgliedstaaten deshalb, die für die Verfahrensstellung relevanten Kriterien nicht zu restriktiv festzulegen.93 4. Ergebnis Die Richtlinie legt zwar im Grundsatz einen weiten Opferbegriff zugrunde, was ihrem Konzept entspricht, umfassende Opferunterstützung sicherzustellen. Es erfolgt keine Beschränkung auf Opfer bestimmter Deliktarten, auf Sachverhalte mit transnationalem Bezug oder auf Unionsbürger. Zugleich ist der Opferbegriff aber restriktiver ausgestaltet als in manchen nationalen Rechtsordnungen, indem er zwingend eine reale Beeinträchtigung durch die Straftat voraussetzt. Dieses Erfordernis kann die Anwendbarkeit der Richtlinienvorgaben auf Personen, die von einem versuchten Delikt oder einem Gefährdungsdelikt betroffen wurden, im Einzelfall ausschließen. Weiterhin verfolgt die EU zwar einen horizontalen Ansatz, nach dem alle Opfer gleich behandelt werden sollen, setzt diesen aber nicht stringent um. Tatbestandliche Beschränkungen einiger Richtlinienrechte führen vielmehr dazu, dass sie im Ergebnis nicht allen Straftatopfern zur Verfügung stehen. Die unionsautonome Definition des Opferbegriffs wird außerdem durch die Rückbindung an den jeweiligen Bestand nationalen Strafrechts partiell neutralisiert. Zu kritisieren ist, dass die Definition unterstellt, der Opferstatus stünde zu jedem der von den Richtlinienrechten abgedeckten Zeiträume fest. Um die Beschuldigtenrechte zu wahren und in Anbetracht der Konzeption und des Ziels der Richtlinie, effektive Opferunterstützung zu gewährleisten, ist eine Modifikation der Definition notwendig. Anstatt kontrafaktisch zu behaupten, der Opferstatus stünde fest, sollte sie verdeutlichen, dass der Opferstatus einer Person zunächst nur als Möglichkeit angenommen wird.

91 Auf die Stellung des Opfers im nationalen System nehmen Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 1, 3, Art. 11 Abs. 1, Art. 14, Art. 24 Abs. 1 lit. b Bezug. 92 Ausführlich siehe Kap. 2 B. 93 Kommission, Guidance Document, S. 4.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

III. Information und Unterstützung Das zweite Richtlinienkapitel enthält umfangreiche Vorgaben zur Information des Opfers. Die Kenntnis von seinen Rechten ermöglicht dem Opfer erst die Entscheidung über deren Wahrnehmung. Insofern sind die Informationsrechte der Schlüssel zur Effektivierung der materiellen Rechte.94 Die Kenntnis davon, welche Leistungen und Abläufe es im Kontext der Strafverfolgung erwarten bzw. im Umkehrschluss auch gerade nicht erwarten darf, beugt zudem Enttäuschungen vor.95 1. Materielle Informationsansprüche Art. 4 normiert einen Anspruch des Opfers auf Erhalt umfangreicher Informationen über seine Rechte, die es bei dem ersten Kontakt mit der zuständigen Behörde – die nicht zwingend eine Strafverfolgungsbehörde sein muss – unverzüglich erhalten soll.96 Die Norm verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, bestimmte Rechte in einem vorgegebenen Umfang einzuführen oder über ihre konkrete Anwendung im Einzelfall zu entscheiden.97 Vielmehr verpflichtet sie „nur“ dazu, das Opfer in einer effektiven und auf seine individuellen Bedürfnisse abgestimmten Weise generell über bestehende Rechte und die Voraussetzungen ihrer Wahrnehmung zu informieren. Besonders deutlich wird dies an Art. 4 Abs. 1 lit. h, nach dem das Opfer nur über im nationalen Recht verfügbare Beschwerdeverfahren zu informieren ist. Die Formulierung in Art. 4 Abs. 1, die Mitgliedstaaten stellten sicher, dass Opfer die entsprechenden Informationen erhalten, verdeutlich, dass die zuständige Behörde die Information ex officio unabhängig von einem Antrag direkt an das Opfer übermitteln muss.98 Ein negatives Recht des Opfers, dem Informationserhalt zu widersprechen, ist nicht vorgesehen.99 Beides zeigt eine paternalistische Grundtendenz der Richtlinie. Abs. 2 gewährt aber zumindest die Flexibilität, Informationen entsprechend den konkreten Bedürfnissen und den persönlichen Umständen des Opfers und je nach

94 Ebenso Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 173; Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 32. Zur Prävalenz von Informationsrechten in internationalen Opferschutzvorgaben Rasquete/Ferreira/Marques, ERA Forum 2014, 119, 121 f.; siehe auch Kap. 5 B I 3. 95 Nach Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 173, ist die genaue Kenntnis der berechtigten Erwartungen wichtig, um eine aus Frustration geborene Karriere als Querulant zu verhindern. 96 Kommission, Guidance Document, S. 13. 97 Siehe hierzu auch EG 23. I. E. ebenso krit. Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 32 f. 98 Bock, ZIS 2013, 201, 205; Kommission, Guidance Document, S. 13. 99 Nach Kommission, Guidance Document, S. 16, sollen die Mitgliedstaaten aber interne Verfahren zur Informationsübermittlung entwickeln, die die Wünsche des Opfers ausreichend berücksichtigen.

A. Inhaltliche Vorgaben

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Wesen oder Art der Straftat unterschiedlich umfangreich und auch erst später zu übermitteln.100 Zusätzlich garantiert Art. 6 die unverzügliche Mitteilung von Informationen zu Stand und Verlauf des Strafverfahrens.101 Jedes Opfer ist über die Entscheidung, die Strafverfolgung nicht (weiter) zu betreiben, samt Begründung zu informieren, was in engem Zusammenhang mit dem in Art. 11 normierten Recht steht, diese Entscheidung anzufechten.102 Auch über Zeitpunkt und Ort der Hauptverhandlung und die Anklagepunkte ist jedes Opfer in Kenntnis zu setzen.103 Opfern, denen in der nationalen Strafrechtsordnung eine entsprechende Rolle eingeräumt wird, sind zudem rechtskräftige Entscheidungen im Prozess samt Begründung und Möglichkeiten, sich über den Fortgang des Strafverfahrens zu informieren, mitzuteilen.104 Schließlich ist das Opfer unverzüglich über die Freilassung oder Flucht des potentiellen oder verurteilten Täters aus der (Untersuchungs-)Haft sowie über Maßnahmen, die in diesen Fällen zu seinem Schutz getroffen werden, zu informieren.105 Der Wunsch des Opfers, Informationen (nicht) zu erhalten, findet im Kontext von Art. 6 mehr Beachtung als im Kontext von Art. 4. Zum einen muss das Opfer gem. Art. 6 Abs. 1 und 2 zunächst darüber aufgeklärt werden, dass es die entsprechende Information auf Antrag erhalten kann. Erst bei Stellung eines Antrags sind die konkreten Informationen zu übermitteln.106 Zum anderen ist gem. Abs. 4 der Wunsch des Opfers, Informationen (nicht) zu erhalten, für die zuständige Behörde grds. verbindlich und durch das Opfer jederzeit änderbar.107 Nur wenn eine Information 100 Zum konkreten Inhalt der Informationspflicht und dazu, welche staatliche Einrichtung am besten für diese Informationsgewährung geeignet wäre, siehe ausführlich Kap. 5 B I 3. 101 Zur Art der Informationsvermittlung siehe EG 26 f. Diese soll personalisiert und nicht über Masseninformationssysteme erfolgen, Kommission, Guidance Document, S. 18. 102 Siehe Art. 6 Abs. 1, Abs. 3, zu Art. 11 siehe Kap. 2 A IV 2. Gem. Art. 11 Abs. 3 hat das Opfer zudem ein Recht auf Informationen, um zu entscheiden, ob es die Anfechtung anstrengt oder nicht. 103 Art. 6 Abs. 1. Gemäß EG 31 soll die Mitteilungspflicht auch Rechtsmittelverhandlungen erfassen. 104 Siehe Art. 6 Abs. 2, 3. Entscheidungen umfassen gem. EG 30 in diesem Kontext Schuldsprüche sowie anderweitige Beendigungen des Strafverfahrens. 105 Siehe Art. 6 Abs. 5. Dies gilt jedenfalls, wenn das Opfer dies wünscht und in Gefahr schwebt, Art. 6 Abs. 6. Krit. Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 179 f. (der Normzweck sei unklar); a.A. Bock, ZIS 2013, 201, 205 (Normzweck sei die Befähigung zum Selbstschutz). 106 Das gleiche Muster wird auch bei dem Informationsanspruch in Art. 11 Abs. 3 angewandt. 107 Siehe auch EG 29, nach dem aktualisierte Kontaktangaben dem Opfer nur zur Verfügung zu stellen sind, wenn das Opfer nicht den Wunsch geäußert hat, derartige Informationen gar nicht zu erhalten. Allerdings soll das Opfer nicht wählen können, welche Informationen über den Fortgang des Verfahrens es nach Art. 6 Abs. 2 lit. b erhalten möchte, sondern hier soll aus organisatorischen Gründen ein Alles-oder-nichts-Prinzip gelten, Kommission, Guidance Document, S. 18.

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dem Opfer nach nationalem Recht wegen seiner Teilnahme am Verfahren erteilt werden muss, kann sein entgegenstehender Wunsch unberücksichtigt bleiben.108 2. Vorgaben zur Informationsübermittlung Neben den materiellen Informationsrechten normiert das zweite Richtlinienkapitel Hilfsrechte, die die Übermittlung und das Verständnis der erhaltenen Informationen verbessern sollen. Art. 3 regelt das Recht, zu verstehen und verstanden zu werden bei allen Kontakten mit Behörden im Rahmen des Strafverfahrens. Die Regelung ist eine vor die Klammer gezogene allgemeine Bestimmung zur praktischen Ausführung der inhaltlichen Kommunikationspflichten in Artt. 4 – 6.109 Sie ist an die Praxis gerichtet, die jedes Opfer so individuell informieren soll, dass es die Informationen tatsächlich nachvollziehen und sich verständlich machen kann.110 Dazu soll z. B. in einfacher Sprache kommuniziert werden. Gem. Art. 3 Abs. 3 darf sich das Opfer zudem bei dem ersten Behördenkontakt von einer Vertrauensperson begleiten lassen.111 Art. 7 ergänzt die Hilfsrechte um einen Anspruch auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen. Opfer, die der Verfahrenssprache nicht mächtig sind, sollen die erhaltenen Informationen verstehen, der Verhandlung folgen und ihre Teilnahmerechte effektiv ausüben können.112 Auf Antrag muss allen sprachunkundigen Opfern unabhängig von ihrer Stellung in der Verfahrensordnung zumindest bei Befragungen im Strafverfahren kostenlos ein Dolmetscher zur Verfügung stehen. Sprachunkundige Opfer, denen in der jeweiligen Strafrechtsordnung eine entsprechende Rolle eingeräumt wird, erhalten zusätzlich während ihrer aktiven Teilnahme an Gerichtsverhandlungen auf Antrag nach Bedarf kostenlos einen Übersetzer.113 Neben 108 Dies kann z. B. der Fall sein, wenn ein Opfer entschieden hat, als partie civile an dem Verfahren teilzunehmen und die Behörden ihm gegenüber in der Folge einer Informationspflicht unterliegen, siehe Kommission, Guidance Document, S. 19. 109 Siehe auch Kommission, Guidance Document, S. 12. Zur Bedeutung der Norm aus Opfersicht Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 8. 110 Bock, ZIS 2013, 201, 206. Behörden sollen der persönlichen Situation des jeweiligen Opfers Rechnung tragen und z. B. linguistischen Schwierigkeiten, aber auch Kommunikationshindernissen aufgrund persönlicher Eigenschaften des Opfers wie Alter oder Behinderungen abhelfen, siehe EG 21. 111 Dieses Recht zur Begleitung gilt additiv, nicht alternativ zu dem in Art. 20 lit. c vorgesehenen Recht auf Begleitung durch eine Vertrauensperson und einen Rechtsbeistand bei Vernehmungen, Kommission, Guidance Document, S. 12. 112 Dolmetschen und Übersetzung können auch mündlich erfolgen, solange dies einem fairen Verfahren nicht entgegen steht, also die Rechte des Opfers stets gewahrt bleiben, Art. 7 Abs. 6. Vgl. zur Auslegung auch Kommission, Guidance Document, S. 22. Zur Bedeutung dieser Rechte aus Opfersicht Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 11. 113 Zu beidem siehe Art. 7 Abs. 1. Der Kommissionsvorschlag schien noch zu erfordern, dass Opfer einen Anspruch auf einen kostenlosen Übersetzer während des gesamten Verfahrens hätten, siehe Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 384.

A. Inhaltliche Vorgaben

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der mündlichen Dolmetscherleistung haben sprachunkundige Opfer zudem einen Anspruch auf kostenlose schriftliche Übersetzung der für die Ausübung ihrer Rechte wesentlichen Informationen.114 Der Umfang des Anspruchs ist bedingt durch die jeweilige Stellung des Opfers im Strafverfahren und dem Recht des Opfers auf Informationserhalt. Der Übersetzungsanspruch ist damit akzessorisch zu den materiellen Informationsansprüchen in Artt. 4, 6 und begründet kein Recht auf Erhalt bestimmter Informationen, sondern nur auf Übersetzung von Informationen, die das Opfer ohnehin erhält.115 Wesentliche, zu übersetzende Informationen sind zumindest die verfahrensbeendende Entscheidung mit Begründung gem. Art. 6 Abs. 2 lit. a, Abs. 3 und Angaben über Zeitpunkt und Ort der Hauptverhandlung, soweit das Opfer gem. Art. 6 Abs. 1 lit. b einen Anspruch darauf hat.116 Außerdem kann das Opfer beantragen, dass ein Dokument als wesentlich eingestuft wird und in der Folge zumindest die Passagen, die für seine aktive Teilnahme am Strafverfahren wichtig sind, übersetzt werden.117 Über die in Art. 7 Abs. 1, 3 genannten Szenarien hinaus steht es im mitgliedstaatlichen Ermessen, Dolmetsch- und Übersetzungsansprüche einzuräumen.118 Das Dolmetschen und die Übersetzung erfolgen grds. erst auf Antrag des Opfers. Eine nationale Behörde hat über die beantragte Leistung zu entscheiden. Eine Ablehnung seines Antrags muss das Opfer nach nationalem Recht anfechten können.119 Inhaltlich muss die Anfechtung nur die Versagung der Übersetzung/des Dolmetschens umfassen, die Qualität der Leistung muss nicht angegriffen werden können.120 Weder die Dolmetsch- und Übersetzungsleistung noch die Prüfung im Anfechtungsverfahren dürfen das Strafverfahren allerdings ungebührlich verlängern.121 Dem Informations- und Unterstützungsbereich zuzuordnen ist schließlich Art. 5. Dieser verbürgt ein Recht des Opfers, eine schriftliche Bestätigung seiner Anzeige (Abs. 1), ggf. übersetzt in eine dem Opfer verständliche Sprache (Abs. 3), und Hilfe 114

Siehe Art. 7 Abs. 3. Dieser Absatz steht auch in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3, der ein Recht auf Übersetzung der Anzeigebestätigung verbürgt. 116 Siehe Art. 7 Abs. 3 S. 2, Abs. 4. 117 Siehe Art. 7 Abs. 5. Der Antrag soll begründet sein; die zuständige Behörde entscheidet darüber nach ihrem Ermessen, Kommission, Guidance Document, S. 22. Krit., weil dies nicht explizit in der Richtlinie geregelt ist, Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 12. 118 Nach EG 34 sind die Leistungen dem Opfer aber jedenfalls soweit zuzusprechen, wie notwendig, damit es seine in der jeweiligen Rechtsordnung bestehenden Rechte ausüben kann. 119 Das Anfechtungsrecht muss nicht als formelles Beschwerdeverfahren eingerichtet werden, vielmehr genügt eine informelle interne Überprüfung der Entscheidung, Art. 7 Abs. 7 und EG 35. 120 Vgl. den ausdrücklichen Wortlaut von Art. 7 Abs. 7 und Kommission, Guidance Document, S. 22. 121 Siehe Art. 7 Abs. 8. EG 36 stellt allerdings fest, dass die Seltenheit der Sprache des Opfers kein Grund ist, die ihm zu gewährenden Übersetzungs- und Dolmetscherleistungen als das Verfahren ungebührlich verlängernd einzustufen. 115

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bei der Verständigung im Fall von sprachlichen Barrieren bei der Anzeigeerstattung (Abs. 2) zu erhalten.122 EG 25 fordert die Mitgliedstaaten zudem auf, Anzeigen des (vermeintlichen) Opfers auch dann entgegen zu nehmen, wenn die Verfolgung der vermeintlichen Straftat wegen Verstreichens der Verjährungsfrist ausgeschlossen ist. Dies spiegelt die Auffassung der Richtlinie, dass die Anzeige nicht (nur) ein Informationsinstrument für die Strafverfolgung ist, sondern (auch) ein Instrument zur Unterstützung der Tatverarbeitung durch das Opfer. Im Richtlinienvorschlag der Kommission war das Recht, eine Anzeigebestätigung zu erhalten, zudem noch im Abschnitt über die Teilnahme am Strafverfahren verortet.123 Die Umsiedelung in das Kapitel über Information und Unterstützung zeigt, dass die Anzeigeerstattung nicht als Teilnahmerecht am Strafverfahren aufgefasst wird und dem Opfer darin keine spezifische Position allein aufgrund der Anzeigeerstattung zugestanden werden muss. 3. Unterstützung Neben den Informationsvorschriften normiert das zweite Richtlinienkapitel Unterstützungspflichten und setzt damit das zweite in Art. 1 Abs. 1 genannte Richtlinienziel um. Art. 8 Abs. 1 verbürgt ein Recht aller Opfer und ihrer Familienangehörigen auf kostenfreien Zugang zu Opferunterstützungsdiensten vor, während und für einen angemessenen Zeitraum nach Abschluss des Strafverfahrens. Mitgliedstaaten müssen Opfer an solche Dienste unabhängig von einer förmlichen Anzeige vermitteln, Art. 8 Abs. 2, 5. Art. 9 definiert näher, welche Leistungen allgemeine (Abs. 1) und spezialisierte (Abs. 2) Unterstützungsdienste vorzuhalten haben.124 Der Umfang des individuellen Leistungsanspruchs eines Opfers bemisst sich nach dessen Bedarf und der Straftat-bedingten Schädigung, Art. 8 Abs. 1 a.E. Konzeptionell ist die Unterstützung ausgerichtet auf Hilfsangebote nach einer Straftat, wie z. B. die Unterstützung bei der Tatbewältigung, Beratung und emotionale Betreuung, die zeitlich und inhaltlich unabhängig von einem ggf. stattfindenden Strafverfahren zur Verfügung zu stellen sind.125 Über diese Möglichkeiten ist das Opfer gem. Art. 4 Abs. 1 lit. a zu informieren. Die Stellung des Opfers im Strafjustizsystem tangieren die Regelungen nicht.

122 Die Anforderungen an Hilfe bei der Verständigung sind geringer als die an die Übersetzung und das Dolmetschen in Art. 7, siehe Kommission, Guidance Document, S. 17. 123 Siehe Art. 8 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 124 Zu den vermutlichen Auswirkungen der RL 2012/29/EU auf bestehende Opferunterstützungsorganisationen Ezendam/Wheldon, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 51, 59 ff. Positiv aus Opfersicht, aber krit. zu den ökonomischen Folgen für die Mitgliedstaaten Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 13. Zur Umsetzung von Opferunterstützungsmaßnahmen siehe APAV, IVOR Report; van Dijk/Groenhuijsen, in: Walklate, Handbook of Victims and Victimology, S. 275 ff. 125 Siehe hierzu auch EG 37 – 40.

A. Inhaltliche Vorgaben

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IV. Teilnahme am Strafverfahren Die Richtlinie widmet der Teilnahme des Opfers am Strafverfahren ein eigenes Kapitel, was den Stellenwert unterstreicht, den die EU der Opferbeteiligung im Strafprozess beimisst. Artt. 10 und 11 betreffen Partizipationsrechte im engeren Sinne, die anderen Vorgaben regeln vornehmlich Servicerechte. 1. Anspruch auf rechtliches Gehör Art. 10 Abs. 1 S. 1 verpflichtet die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass potentielle Opfer im Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können. Dies ist eine der wichtigsten und zugleich potentiell konfliktreichsten Vorgaben zu Partizipationsmöglichkeiten des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren.126 Art. 3 Abs. 1 des RB 2001/220/JI enthielt eine beinahe wortgleiche Regelung.127 a) Normative Vorgaben Das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung ist dem potentiellen Opfer unabhängig von seiner sonstigen Position im jeweiligen nationalen Strafverfahren allein aufgrund seiner Stellung als vermeintlich verletzte Person zu gewähren. Die Mitgliedstaaten verfügen folglich nicht über den Freiraum, das Teilnahmerecht in Abhängigkeit von ihrer nationalen Rechtsordnung auszugestalten (vgl. EG 20) und den Zugang zu diesem Recht nur einigen vermeintlichen Opfern entsprechend ihrer Verfahrensrolle vorzubehalten. Die Pflicht zur Gehörsgewährung ist somit verbindlich vorgegeben. Die Gestaltung des Gehörsverfahrens wird hingegen in Art. 10 Abs. 2 grds. den Mitgliedstaaten überlassen.128 Aus der Richtlinie ergeben sich lediglich einige Anforderungen an die Umsetzung des Rechts. Der Begriff „Gewährung von Gehör“ erfasst sowohl die Mitteilung sachlicher Informationen als auch die Abgabe von subjektiven Meinungsäußerungen.129 Was das vermeintliche Opfer inhaltlich beitragen darf, grenzt der Normtext nicht ein. Aus dem systematischen Kontext folgt 126

Vgl. auch Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 218. Vgl. Art. 10 Abs. 1 S. 1: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer im Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können.“ Art. 3 Abs. 1 RB 2001/220/JI: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.“ 128 Nach Ansicht der Kommission können die Mitgliedstaaten das Recht grds. sowohl informell als auch formalisiert ausgestalten, etwa in Form eines offiziellen Beweisantrags- und Beibringungsrechts im Hauptverfahren. Allerdings sollten Wünsche des Opfers, auf welche Art es am Prozess teilnehmen möchte, so weit als möglich respektiert und erfüllt werden, Kommission, Guidance Document, S. 29. 129 Ebenso KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 9; Kommission, Guidance Document, S. 29. Im Ergebnis ebenso schon zu Art. 3 RB 2001/220/JI EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/ 09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 59. 127

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

allerdings, dass die Beiträge auf den Verhandlungsgegenstand im Strafverfahren bezogen sein müssen. Danach muss das vermeintliche Opfer also Gelegenheit erhalten, den Tathergang und die Tatfolgen zu beschreiben und dazu Stellung zu beziehen sowie Beweise diesbezüglich anzubieten.130 Ebenso muss ihm gestattet werden, sich zur Strafzumessung als einem Verhandlungsteil des Strafverfahrens zu äußern bzw. ggf. relevante Beweise beizubringen und seine Erwartungen an das Verfahren mitzuteilen.131 Wesentlich für die Reichweite des Rechts ist, ob die jeweilige Entscheidungsinstanz gem. Art. 10 Abs. 1 im nationalen Recht verpflichtet werden muss, sich mit den Beiträgen des vermeintlichen Opfers auseinander zu setzen und sie bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. In Bezug auf das Recht auf Gehör in Art. 3 RB 2001/220/JI ist dies vereinzelt bestritten worden.132 Eines der primären Richtlinienziele ist aber die Stärkung der Teilnahmemöglichkeiten des Opfers.133 Damit das Gehörsrecht diesem Ziel entsprechen und eine relevante Beteiligung des Opfers ermöglichen kann, darf es nicht zu eng ausgelegt werden.134 Eine Interpretation, nach der die Entscheidungsinstanz sich nicht wenigstens mit den Beiträgen des vermeintlichen Opfers auseinandersetzen müsste und die Beiträge in die Entscheidungsfindung einfließen könnten, würde das Recht nicht nur eng auslegen, sondern leer laufen lassen.135 Eine solche Auslegung wäre mit dem Richtlinienziel, die Teilnahmemöglichkeit zu stärken, nicht vereinbar. Auch widerspräche sie dem Auslegungsgrundsatz des effet utile, nach dem einer Unionsvorgabe nicht durch 130

Ähnlich Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1392. Ebenso in Bezug auf das Gehörsrecht in Art. 3 RB 2001/220/JI EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 58 ff.; GA Kokott, Schlussanträge v. 12. 5. 2011 zu den verb. RS. C-483/09 u. C-1/10 (Gueye u. Sánchez) Rn. 47. Dadurch erhält das vermeintliche Opfer freilich kein Recht darauf, dass das Gericht seiner Stellungnahme folgt. 132 Hanloser, Gehör, S. 113 f.: Das Gehörsrecht diene nur dazu, einer sekundären Viktimisierung des Opfers vorzubeugen und nicht sein Interesse am Verfahrensausgang zu verwirklichen. Diese Begründung ist allerdings schon deshalb nicht schlüssig, da auch zur Erreichung eines therapeutischen Effekts mittels Gehörs im Strafverfahren erforderlich ist, dass die Beiträge des vermeintlichen Opfers Berücksichtigung finden können, ausführlich unten Kap. 2 A IV 1 b) cc). – A.A. schon in Bezug auf Art. 3 RB 2001/220/JI: EuGH, 9. 10. 2008, Rs. C-404/07 (Katz), Slg. 2008 I-07607 Rn. 47; EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/09 und C1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 58; GA Kokott, Schlussanträge v. 12. 5. 2011 zu den verbundenen RS. C-483/09 u. C-1/10 (Gueye u. Sánchez) Rn. 48; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 44. 133 Siehe oben Kap. 2 A I. 134 So auch bereits zu Art. 3 RB 2001/220/JI GA Kokott, Schlussanträge v. 12. 5. 2011 zu den verbundenen RS. C-483/09 u. C-1/10 (Gueye u. Sánchez) Rn. 47. 135 Die praktische Wirksamkeit des Gehörsrechts war auch das Hauptargument für eine Berücksichtigungspflicht im Kontext von Art. 3 RB/2001/220/JI, EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C- 483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 58; EuGH, 9. 10. 2008, Rs. C-404/07 (Katz), Slg. 2008 I-07607 Rn. 50; GA Kokott, Schlussanträge v. 12. 5. 2011 zu den verb. RS. C-483/09 u. C-1/10 (Gueye u. Sánchez) Rn. 48; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 44. 131

A. Inhaltliche Vorgaben

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Auslegung jede praktische Wirksamkeit genommen werden darf.136 Außerdem fordert Art. 1 Abs. 2, dass Opfer anerkannt und geachtet werden. Eine Rechtslage, nach der dem Opfer zunächst Gehör geschenkt würde, seine Beiträge im Strafverfahren dann aber keinerlei Beachtung fänden, würde dem nicht gerecht werden. Damit ist Art. 10 Abs. 1 so in nationales Recht zu übertragen, dass die Mitteilungen des vermeintlichen Opfers im Laufe des Strafverfahrens zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden können. b) Telos des Gehörsanspruchs Aus den textlichen Vorgaben in Art. 10 folgt nicht unmittelbar, zu welchem Zweck Opfern das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung einzuräumen ist. Der Vorgabe könnte sowohl der objektive Zweck zugrunde liegen, Informationen für den Prozess zu gewinnen, als auch das Ziel, dem Opfer die Verfolgung subjektiver Interessen mittels Gehör im Strafprozess zu ermöglichen. Der Zweck ist zu klären, weil die Mitgliedstaaten gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV bei der Ausfüllung ihres Umsetzungsspielraums verpflichtet sind, die Ziele der Unionsvorgabe zu verwirklichen. Außerdem gibt die Bestimmung des Zwecks Aufschluss darüber, welches Konzept die EU bei der Ausgestaltung der Opferstellung im Strafverfahren verfolgt. aa) Informationsgewinnung für den Prozess? Nach seinem Wortlaut könnte Art. 10 Abs. 1 dem objektiven Zweck dienen, Informationen für die Sachverhaltsaufklärung im Strafprozess zu gewinnen. Die Formulierung „[sicherstellen], dass die Opfer im Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können“ legt nämlich nahe, dass die Mitgliedstaaten primär den nationalen Strafverfolgungsbehörden ein verfahrensrechtliches Mittel einräumen sollen, mit dem sie potentielle Opfer hören und Beweise von ihnen erhalten können.137 Art. 10 Abs. 1 würde danach eine verfahrenstechnische Vorgabe regeln, die sicherstellt, dass Behörden auf mögliches Wissen des vermeintlichen Opfers für Aufklärungszwecke zugreifen können. Die Interessen des Opfers an dem Gehör und der Beweisbeibringung stünden nicht im Vordergrund. Gegen eine solche Auslegung spricht allerdings der Titel des Artikels, Anspruch auf rechtliches Gehör. Diese Überschrift indiziert, dass die Norm die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein subjektives Recht des Opfers auf Gehör und Beweisbeibringung vorzusehen. Diese Annahme wird untermauert von dem in Art. 1 Abs. 1 normierten Ziel der Richtlinie, die Teilnahmemöglichkeiten von Opfern im Strafverfahren zu verbessern. Einer aktiven Teilnahme entspricht ein Anspruch auf Gehör besser als die bloße Möglichkeit, von den Strafverfolgungsbehörden nach ihrem Ermessen gehört zu werden. Außerdem regelt die Richtlinie schon nach ihrem Titel Mindeststandards 136 137

Riesenhuber, in: ders., Europäische Methodenlehre, § 10 Rn. 45. Vgl. zum beinahe wortidentischen Art. 3 RB 2001/220/JI Hanloser, Gehör, S. 68.

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für die Rechte von Opfern von Straftaten. Aufgrund dieser Überlegungen ist Art. 10 Abs. 1 so zu interpretieren, dass er einen Anspruch des potentiellen Opfers auf Gehör und Beweisbeibringung verbürgt.138 Zur Förderung des objektiven Ziels der Informationsgewinnung hätte es aber näher gelegen, die Mitteilung des potentiellen Opfers als Pflicht des Individuums und nicht als Recht auf Gehör auszugestalten und korrespondierend den nationalen Behörden ein verfahrensrechtliches Mittel einzuräumen, um auf das mögliche Wissen des vermeintlichen Opfers zuzugreifen. Eine solche Pflicht und damit korrespondierende Möglichkeit, an das Wissen des vermeintlichen Opfers zu gelangen, existieren zudem in den nationalen Systemen bereits als Option, vermeintliche Opfer als Zeugen beizuziehen. Zur Umsetzung dieses Ziels hätte es daher keiner Gehörsregelung in der Opferrechterichtlinie bedurft. Auch systematisch wäre es stringenter gewesen, die Vorgabe in einer Richtlinie über beweisrechtliche Regelungen zu verorten als in einer Richtlinie zu Opferrechten, wenn es in Art. 10 um das objektive Ziel der Informationsgewinnung ginge. Das Gehörsrecht dient also nicht primär dem objektiven Ziel der Informationsgewinnung für den Prozess, sondern subjektiven Interessen des Opfers. Es geht nicht darum, das vermeintliche Opfer als Zeuge zu laden, sondern es zur Verfolgung eigener Interessen mittels Gehör am Strafverfahren partizipieren zu lassen.139 bb) Verwirklichung eines Interesses am Strafverfahrensausgang? Damit stellt sich die Frage, welche subjektiven Interessen das Opfer mit dem Gehör am Strafverfahren verfolgen können soll. Ein mögliches Bedürfnis könnte sein, ein eigenes Interesse am Ausgang des Strafverfahrens zu vertreten. Dazu müsste Art. 10 Abs. 1 zunächst nach seinem Wortlaut tatbestandlich ein Verhalten des Opfers erfassen, mit dem es sein Interesse am Verfahrensausgang verfolgen könnte.140 Wie dargelegt, gestattet Art. 10 Abs. 1, dass das vermeintliche Opfer sachliche Informationen, Meinungsäußerungen und persönliche Erwartungen mitteilt, die auf den Verhandlungsgegenstand im Strafverfahren und/oder die Strafzumessung bezogen sind. Die jeweilige Entscheidungsinstanz ist gem. Art. 10 Abs. 1 auch verpflichtet, sich mit den Beiträgen auseinander zu setzen und sie ggf. bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Dies bedeutet nicht, dass eine Entscheidungsinstanz an das Vorbringen des vermeintlichen Opfers gebunden

138 Ebenso Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1392. So auch zu Art. 3 RB 2001/220/JI DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 43; Hanloser, Gehör, S. 73. 139 Vgl. zu diesen zwei verschiedenen Formen rechtlichen Gehörs von potentiellen Opfern im Strafverfahren auch APAV, Victims in Europe, S. 41. 140 Zu den vier bekannten Auslegungsgrundsätzen – grammatisch, historisch, systematisch und teleologisch – bei der Interpretation von unionsrechtlichem Sekundärrecht siehe EuGH, 15. 12. 2011, Rs. C-585/10 (Niels Möller), Slg. 2011 I-13407 Rn. 25; Riesenhuber, in: ders., Europäische Methodenlehre, § 10 Rn. 12 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 625. Diese Grundsätze werden im Folgenden zugrunde gelegt.

A. Inhaltliche Vorgaben

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wäre.141 Doch schon allein die Vorgabe, dass die Beiträge des vermeintlichen Opfers zumindest zur Kenntnis genommen werden müssen, vermittelt dem Opfer die Möglichkeit, den Verfahrensausgang mittelbar zu beeinflussen. In der Gesamtschau gestattet Art. 10 Abs. 1 damit ein Verhalten, mit dem das Opfer zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Bestrafung des vermeintlichen Täters beitragen und so eigene Interessen am Verfahrensausgang verfolgen kann. Eine systematische und teleologische Betrachtung der Norm könnte weiter unterstützen, dass es auch ein Zweck des Gehörsrechts ist, dem Opfer die Verfolgung seiner Interessen am Strafverfahrensausgang zu ermöglichen. Gem. Art. 1 Abs. 1 ist ein Ziel der Richtlinie, die Beteiligung des Opfers am Strafverfahren sicherzustellen. Das Gehörsrecht gehört aufgrund seiner Verortung im dritten Richtlinienkapitel in den Beteiligungskontext. Zweck der Teilnahme am Strafverfahren ist nach EG 9, das Bedürfnis von Opfern nach einem „Zugang zum Recht“ zu befriedigen.142 „Zugang zum Recht“ umfasst nach der Kommission unter anderem das Interesse an der Gewissheit, dass dem Recht Geltung verschafft werde (Ergebnisgerechtigkeit/distributive Gerechtigkeit).143 Dem Recht seinerseits wird im strafprozessualen Kontext dann Geltung verschafft, wenn das Strafverfahren gemessen an rechtlichen Standards in eine richtige Entscheidung mündet. In der Anerkennung eines Interesses an der Gewissheit, dass dem Recht Geltung verschafft wird, ist damit die Anerkennung eines Interesses am Ausgang des Strafverfahrens enthalten.144 Das Konzept „Zugang zum Recht“ umfasst damit auch ein Interesse am Ausgang des Strafverfahrens. Um die Ziele des „Zugangs zum Recht“ zu erreichen, sollen Opfer u. a. gerade das Recht erhalten, im Strafverfahren gehört zu werden.145 Insgesamt soll das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung dem Opfer folglich zumindest auch ermöglichen, zu beobachten und dazu beizutragen, dass dem Recht Geltung verschafft wird. Damit dient 141

So auch im Kontext von Art. 3 RB/2001/220/JI EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 60; GA Kokott, Schlussanträge v. 12. 5. 2011 zu den verb. RS. C-483/09 u. C-1/10 (Gueye u. Sánchez) Rn. 49. Vgl. auch Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 218. 142 Zugang zum Recht hatte die Kommission auch in KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 5, als ein Bedürfnis von Straftatopfern identifiziert, dessen Befriedigung die Richtlinie dienen solle. 143 KOM(2011) 274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 7; ausführlicher Kommission, Impact Assessment, S. 12. – Äußerungen von Unionsorganen, die keine unmittelbaren Gesetzgebungsorgane sind (wie das Europäische Parlament und der Rat) können zur Auslegung von Unionsvorgaben herangezogen werden, wenn der Gesetzgeber sie in seinen Willen aufgenommen hat, siehe Riesenhuber, in: ders., Europäische Methodenlehre, § 10 Rn. 34. Der Kommissionsvorschlag für die RL 2012/29/EU, KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6, verweist auf das genannte Impact Assessment. Die Richtlinie ihrerseits ist ausdrücklich auf den Vorschlag der Kommission gestützt. Aufgrund dieser indirekten Bezugnahme kann die Folgenabschätzung auch zur Auslegung der Richtlinie herangezogen werden. 144 Ähnlich Hanloser, Gehör, S. 74, die der schon im RB 2001/220/JI enthaltenen Formulierung „Zugang zum Recht“ die Anerkennung des Genugtuungsinteresses des Opfers entnahm. 145 Kommission, Impact Assessment, S. 12.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Art. 10 Abs. 1 nach der teleologischen und systematischen Auslegung zumindest auch einem Opferinteresse am Ausgang des Strafverfahrens. Gegen eine solche Auslegung könnte allerdings ein Vergleich mit dem beinahe wortidentischen Recht auf Gehör aus der Vorgängernorm, Art. 3 Abs. 1 RB 2001/ 220/JI, sprechen. Nach Ansicht der Kommission decken sich beide Normen inhaltlich.146 In Bezug auf das Recht auf Gehör in Art. 3 RB 2001/220/JI ist in der Literatur vertreten worden, dass es ausschließlich einem Opferinteresse an der Vermeidung von Sekundärviktimisierung und der Bewältigung des Geschehens gedient habe.147 Ein Opferinteresse am Verfahrensausgang (der Verurteilung und Bestrafung des Täters) habe die Vorgabe nicht verwirklichen sollen.148 Weiterhin enthielt auch der Rahmenbeschluss in seinem dritten Erwägungsgrund einen Verweis auf einen „Zugang zum Recht“. Dort hieß es: „[…] sollten Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich deren Zugang zum Recht und ihrer Schadenersatzansprüche, einschließlich der Prozesskosten – ausgearbeitet werden.“ Der Schluss, dass das Gehörsrecht einem Interesse am Verfahrensausgang dienen könnte, wurde daraus nicht gezogen. Aufgrund der grammatikalischen Ähnlichkeit beider Gehörsvorgaben und des Kommissionshinweises zur ihrer inhaltlichen Deckungsgleichheit könnte daher auch Art. 10 so auszulegen sein, dass er ausschließlich der Prävention von Sekundärviktimisierung dient. Allerdings wurde die Interpretation von Art. 3 RB 2001/220/JI vornehmlich auf das übergeordnete Ziel des Rahmenbeschlusses gestützt: Sein ausschließliches Ziel sei eine schonende und rücksichtsvolle Behandlung der Opfer im Strafverfahren gewesen.149 Von diesem Ziel seien nur verfahrensbezogene Interessen und kein Interesse am Verfahrensausgang gedeckt gewesen. Wenn das übergeordnete Ziel der Opferrechterichtlinie ein anderes wäre und die Richtlinie nicht nur Schutzinteressen anerkennen würde, könnte deshalb eine unterschiedliche Auslegung der beiden Vorgaben gerechtfertigt und sogar geboten sein. Nach dem Unionsgesetzgeber ist übergeordnetes Ziel der Opferrechterichtlinie, das Strafjustizsystem neu auszubalancieren und das Opfer in seinen Mittelpunkt zu stellen.150 Dies weist darauf hin, dass die neuen Regeln nicht mehr ausschließlich eine schonende und rücksichtsvolle Behandlung von Opfern im Strafverfahren gewährleisten sollen. Vielmehr indiziert diese Zielformulierung, dass das Opfer eine Hauptrolle im Verfahren erhalten und sich die Richtlinie nicht auf den defensiven Schutz beschränken, sondern Opferinteressen umfassend verwirklichen soll. Diese Interpretation wird davon untermauert, dass die Richtlinie Unterstützung, Schutz und 146

KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6. DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 44; Hanloser, Gehör, S. 77 ff. 148 DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 45; Hanloser, Gehör, S. 75. A.A. wohl Sautner, in: Keiler/Gumbröck, EuGH-Judikatur aktuell, S. 419, 421 (Art. 3 sichere das Recht auf Zugang zum Strafverfahren, womit das Recht auf strafrechtliche Verfolgung des Täters verknüpft sei). 149 Hanloser, Gehör, S. 75. 150 Siehe oben Kap. 1 D III 1. 147

A. Inhaltliche Vorgaben

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Teilnahmerechte von Straftatopfern als gleichgeordnete Bereiche regelt.151 Dieser Gleichordnung widerspräche es, die Vorgaben zur Teilnahme am Strafverfahren allein als Mittel zum Schutz der vermeintlichen Opfer aufzufassen. Stattdessen zeigt die Gleichordnung gerade, dass die Teilnahme jetzt auch andere Interessen, z. B. ein Interesse am Strafverfahrensausgang, verwirklichen soll. Diese These findet besondere Bestätigung im Vergleich des inhaltlichen und systematischen Fokus von Art. 10 Abs. 1 und Art. 3 RB 2001/220/JI. Letzterer enthielt in seinem zweiten Absatz eine Vorgabe zur Vermeidung mehrfacher, das potentielle Opfer belastender Vernehmungen und war damit insgesamt dem Themenkomplex des Schutzes vor sekundärer Viktimisierung während der Zeugenbefragung zugeordnet. Art. 10 der Opferrechterichtlinie hingegen enthält keine Schutzvorgaben; diese sind alle in einem separaten Kapitel der Richtlinie geregelt. Stattdessen wird das Gehör in der Richtlinie allein dem Themenkomplex der Beteiligung am Strafprozess zugeordnet. Damit übereinstimmend wird auch das Konzept „Zugang zum Recht“ in der Richtlinie und im Rahmenbeschluss unterschiedlich verortet. Der dritte EG des RB 2001/220/JI erwähnte „Zugang zum Recht“ nur als erläuternden Einschub im Kontext von Mindeststandards zum Schutz von Verbrechensopfern. EG 9 der Richtlinie hingegen erhebt den hinreichenden Zugang zum Recht zum eigenständigen Ziel neben Schutz und Unterstützung von Straftatopfern. Während die Gewährung von Zugang zum Recht damit ehemals den Schutzmaßnahmen zugerechnet wurde, wird ihr jetzt eine eigenständige, von der Schutzgewährung unabhängige Bedeutung zugemessen. Obwohl der gleiche Begriff in beiden Instrumenten auftaucht, wird er folglich nicht deckungsgleich verwendet und ist deshalb auch unterschiedlich zu interpretieren. Das Ziel der Richtlinie ist damit nicht auf eine schonende und rücksichtsvolle Behandlung des Opfers im Strafverfahren beschränkt. Die Schlüsse, die aus den Rahmenbeschlusszielen für die Interpretation von Art. 3 RB 2001/220/JI gezogen worden sind, sind in der Konsequenz trotz des ähnlichen Wortlauts der Gehörsvorgaben nicht auf Art. 10 Abs. 1 übertragbar. Stattdessen unterstützt die Untersuchung der Richtlinienziele vielmehr die Annahme, dass das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung in Art. 10 Abs. 1 auch dazu dienen soll, ein Interesse des Opfers am Strafverfahrensausgang zu verwirklichen.152 Überlegungen zum Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 könnten die These verfestigen, dass der Artikel auch der Verfolgung eines Interesses am Strafverfahrensausgang dient. Wie dargelegt, sind die Richtlinienvorgaben grds. nicht nur auf direkte Opfer, sondern auch auf ihre Angehörigen anwendbar.153 Die Angehörigen lebender Opfer erhalten allerdings nur einige ausgesuchte Rechte. Diese Angehörigengruppe zählt laut der Kommission zu den Berechtigten, weil sie über ein eigenes Interesse an Unterstützung und Schutz verfüge und selbst der Gefahr sekundärer 151

Vgl. auch oben Kap. 2 A I 1. Dafür spricht auch die Aussage der Kommission, KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 7, dass Opfer am Prozess teilnehmen können sollen, um „ihre Rechtssache vollständig verfolgen zu können“. 153 Siehe oben Kap. 2 A II 1. 152

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Viktimisierung und Einschüchterung durch den Täter ausgesetzt sei.154 Den Angehörigen verstorbener direkter Opfer hingegen stehen alle in der Richtlinie vorgesehenen Rechte zu. Der Grund für ihre umfängliche Beteiligung ist nach der Kommission, dass sie über ein besonderes Interesse am Verfahren verfügten, das über das Interesse von Angehörigen noch lebender Opfer hinausginge, und sie als Vertreter des direkten Opfers gelten könnten.155 Diese Gegenüberstellung verdeutlicht dreierlei. Erstens erkennt die Richtlinie ein Interesse als legitim an, das nicht deckungsgleich ist mit Schutz- und Unterstützungsbedürfnissen. Dies unterstreicht einmal mehr, dass das Gesamtziel der Richtlinie – anders als es zum RB 2001/220/JI vertreten wird – nicht allein die schützende Behandlung von Opfern im Strafverfahren ist. Zweitens betrifft dieses Interesse das Verfahren selbst. Drittens ist dieses Interesse unmittelbar mit dem direkten Opfer verbunden. Nur im Todesfall können seine Angehörigen es in Ableitung von seiner Person als Vertreter wahrnehmen. Dies deutet auf ein persönliches Interesse hin, das unmittelbar mit dem Erlebnis der Straftat verknüpft ist. Das Interesse am Strafverfahrensausgang wäre ein solches persönliches, unmittelbar mit dem Erlebnis der Straftat verknüpftes Interesse. Das Recht auf Gehör in Art. 10 Abs. 1 wiederum steht nur direkten Opfern und im Todesfall ihren Angehörigen, nicht aber den Angehörigen lebender Opfer zu. Zusammengenommen indiziert diese Regelungslage, dass das Gehörsrecht nicht allein Schutz- und Unterstützungsinteressen dient, sondern einem persönlichen Interesse am Verfahrensausgang. Für diese Auslegung könnte schließlich auch die Unabhängigkeit des Gehörsrechts von einer Stellung des Opfers im Strafverfahren sprechen. In Bezug auf das Gehörsrecht in Art. 3 RB 2001/220/JI ist vertreten worden, dass es erfüllt werden könne, indem das Opfer als Zeuge gehört werde. Weil Zeugen über kein anerkanntes Interesse am Verfahrensausgang verfügten, könne auch das Gehörsrecht des Opfers nicht der Verfolgung dieses Interesses dienen.156 Die Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten nicht grds. vor, welche Stellung sie dem Opfer im nationalen Verfahren einräumen müssen. Zudem sind einige der Richtlinienrechte in Abhängigkeit von der Stellung des Opfers im nationalen Strafverfahren ausgestaltet.157 Den Anwendungsbereich solcher Vorgaben können die Mitgliedstaaten entsprechend der Stellung des Opfers im jeweiligen nationalen System festlegen. Dies kann dazu führen, dass einem Opfer ein bestimmtes Recht z. B. nur zukommt, wenn es als Zeuge am Strafverfahren beteiligt ist. Das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung in Art. 10 hingegen ist tatbestandlich gerade nicht in Abhängigkeit von der Stellung des Opfers im nationalen Strafverfahren ausgestaltet.158 Zugleich überlässt die Richtlinienvorgabe die nähere Ausgestaltung des Verfahrens zwar dem nationalen Recht. Dies 154

KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6. KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 7. 156 Hanloser, Gehör, S. 77. 157 Siehe EG 20 und Kap. 2 A II 3. 158 A.A. wohl Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 181 Fn. 15, der offenbar entgegen dem Wortlaut EG 20 auf Art. 10 anwenden möchte. 155

A. Inhaltliche Vorgaben

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betrifft jedoch nur die Modalitäten der Gehörsgewährung und gerade nicht die Frage, ob dem Opfer das Recht auf Gehör überhaupt einzuräumen ist. Folglich ist dieses Recht allen Opfern unabhängig von ihrer Rolle im jeweiligen nationalen System gleichermaßen zu gewähren. Kommt einem Opfer in einer nationalen Rechtsordnung nur die Rolle als Zeuge zu und soll es in einem konkreten Fall nicht als Zeuge gehört werden, wäre ihm damit trotzdem das Gehörsrecht in anderer Form zuzugestehen. Das Recht in Art. 10 besteht somit unabhängig von einer etwaigen Zeugenrolle des Opfers. Ein automatischer Schluss von den anerkannten Interessen eines Zeugen auf die Interessen, die mit dem Gehörsrecht des Opfers verwirklicht werden sollen, kann damit jedenfalls im Kontext der Richtlinie nicht gezogen werden. Außerdem verdeutlicht die Unabhängigkeit des Gehörsrechts von der Stellung des Opfers im nationalen System, dass es einem universalen Interesse dienen soll, das unabhängig von einer bestimmten Verfahrensrolle des Betroffenen besteht. Die Verwirklichung spezifischer Opferinteressen, wie z. B. das Interesse eines Adhäsionsklägers am Erhalt von Schadensersatz, steht beim Gehörsrecht damit nicht im Mittelpunkt. Ebenso wenig kann das universale Interesse allein in Schutzinteressen bestehen. Damit untermauert auch die Ausgestaltung des Gehörsrechts als universales Opferrecht die Annahme, dass damit ein Interesse am Strafverfahrensausgang verwirklicht werden soll. Im Ergebnis deckt Art. 10 Abs. 1 tatbestandlich ein Verhalten des potentiellen Opfers, mit dem es sein Interesse am Strafverfahrensausgang verfolgen kann. Die teleologische und systematische Auslegung legt weiterhin nahe, dass zumindest einer der Normzwecke ist, einem Opferinteresse am Strafverfahrensausgang zu dienen. Untermauert wird diese Interpretation durch Überlegungen zum Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 sowie durch die Ausgestaltung des Gehörs- und Beweisbeibringungsrechts als universales Opferrecht. Schließlich steht diese Auslegung auch in Einklang mit den Gesamtzielen der Richtlinie, die sich – anders als in Bezug auf den RB 2001/220/JI vertreten wurde – nicht darin erschöpfen, eine schützende Behandlung des vermeintlichen Opfers im Strafverfahren sicherzustellen. In der Gesamtschau ist daraus der Schluss zu ziehen, dass das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung zumindest auch dem Zweck dient, ein Opferinteresse am Strafverfahrensausgang anzuerkennen und dem Opfer zu ermöglichen, dieses Interesse zu vertreten. cc) Förderung der Tatverarbeitung und Steigerung der Zufriedenheit mit dem Verfahren? Das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung könnte zweitens dazu dienen, dem Opfer zu ermöglichen, mittels Kommunikation im Strafverfahren das Tatgeschehen zu verarbeiten und seine Zufriedenheit mit dem Strafverfahren zu steigern. Dass die Stellungnahme im Strafprozess eine therapeutische Wirkung für das Opfer entfalten könne, wird auf nationaler Ebene im Kontext der expressiven Wir-

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

kung sog. Victim Impact Statements (VIS) diskutiert.159 Könne das Opfer die Folgen der Tat sowie seine Gefühle diesbezüglich öffentlich im Strafverfahren beschreiben, wirke diese Kommunikation wie eine Katharsis und helfe dem Opfer, das Erlebte zu verarbeiten.160 Außerdem würde über das Gehör prozessuale Gerechtigkeit für das Opfer hergestellt und so seine Zufriedenheit mit dem gesamten Prozess gesteigert.161 Denn wie Personen ein Verfahren und eine Entscheidung beurteilten, werde stärker von der Qualität des Verfahrens, in dem die Entscheidung zustande komme, als von der Qualität des Verfahrensergebnisses determiniert.162 Die Verfahrensqualität wiederum werde positiver beurteilt, wenn sich eine Person aktiv am Verfahren beteiligen könne.163 Die Möglichkeit, im Strafverfahren Gehör zu erhalten, trage dazu bei, das Opfer aus seiner Marginalisierung im Strafverfahren zu erlösen und ihm das Gefühl zu vermitteln, aktiv am Strafverfahren beteiligt zu sein. Die Zuschreibung einer solchen aktiven Rolle führe dazu, dass das Opfer das Verfahren und damit auch dessen Ergebnis als gerechter empfinde und mit dem Verfahren zufriedener sei.164 159 Zur expressiven Zwecksetzung von VIS siehe DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 65; Hoyle, in: Maguire et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 398, 412; Wemmers, Eur. J. Crim. Pol. Res. 11 (2005), 121, 122, 124 ff. In England sollten VIS – zumindest nach der Vorstellung der Opferschutzorganisation Victim Support – die Strafverfolgungsbehörden über die Bedürfnisse des Opfers informieren, Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 46, 59; Reeves/Mulley, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 125, 141. – Neben expressiven Zwecken sollen VIS häufig auch dem instrumentellen Ziel dienen, das Gericht über die für die Strafzumessung relevanten Auswirkungen der Tat umfassend und verlässlich zu informieren, siehe Hoyle, in: Maguire et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 398, 412. Laut Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 234 f. ist der „punitiv-instrumentelle“ Zweck nur in den Zielekanon aufgenommen worden, um die Akzeptanz von VIS zu steigern, die ausschließlich zu „restorativ-expressiven“ Zwecken eingeführt und dann kritisiert worden seien. Für einen Überblick über die unterschiedlichen, zur Begründung von VIS angeführten Zwecke siehe Edwards, Howard J. Crim. Just. 2001, 39, 42 ff. 160 Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 621; Edwards, Howard J. Crim. Just. 2001, 39, 54; Erez, Crim. L. Rev. 1999, 545, 551; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 240. Ambivalent aber im Ergebnis zust. Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 441. Ambivalent Hoyle, in: Maguire et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 398, 412 f.; skeptisch Sanders et all, Crim. L. Rev. 2001, 447, 450. Zum therapeutischen Effekt aus empirischer Sicht Sweeting et all, Ministry of Justice Research Series 17/08, S. 26 (zu Family Impact Statements in England). 161 Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 167 f.; Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 621; Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 232. – Vom Ausgangspunkt der prozessualen Gerechtigkeitserfahrung wird vereinzelt weitergehend argumentiert, dass die Erfahrung des Verfahrens als gerecht dazu führe, dass Opfer insgesamt mental gesünder seien, siehe Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 232, 240. 162 Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 167. Ausführlich zu dem theoretischen Ansatz van Camp/de Mesmaecker, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 277, 279 ff. 163 Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 167 f.; Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 232, 240; Schneider, Kriminalpolitik des 21. Jahrhunderts, S. 44. 164 Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 168; Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 621; Erez, Crim. L. Rev. 1999, 545, 551; Pemberton/Reynaers, in: Erez

A. Inhaltliche Vorgaben

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Damit stellt sich die Frage, ob das Recht auf Gehör in Art. 10 Abs. 1 auch diese beiden verfahrensbezogenen Opferinteressen erfüllen soll. Voraussetzung dafür wäre zunächst, dass Art. 10 Abs. 1 nach seinem Wortlaut tatbestandlich eine kommunikative Beteiligung des Opfers zur Befriedigung solcher verfahrensbezogener Interessen zuließe. Wie eine Kommunikationsmöglichkeit beschaffen sein müsste, um diese therapeutischen Ziele zu erreichen, lässt sich durch eine Analyse der nationalen Vorschriften bestimmen, die VIS zu diesem Zweck vorsehen. VIS wurden zuerst in einigen US-amerikanischen Staaten (1982), später in Neuseeland (1987), Kanada und Australien (1988) und England (2001) eingeführt.165 Mittlerweile existieren sie auch in einigen kontinental-europäischen Rechtsordnungen.166 Obwohl die genaue Ausgestaltung in den Rechtsordnungen differiert, ist ein gemeinsames Grundkonzept identifizierbar: Das VIS soll dem Straftatopfer eine Stimme im Strafverfahren vermitteln, indem es ihm gestattet, die Auswirkungen der Tat auf seine Person und sein Leben darzulegen. Inhaltlich befassen sich VIS dementsprechend z. B. mit den emotionalen/psychologischen Effekten, sozialen Auswirkungen, körperlichen Folgen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Tat für das Opfer und seine Bezugspersonen.167 Verfassen Angehörige das VIS, enthält es oft auch Beschreibungen der Persönlichkeit des verstorbenen Opfers sowie der Auswirkungen des Verlustes auf das Leben der Angehörigen. VIS umfassen damit eine persönliche Auseinandersetzung mit der Tat als Ganzer und sind in der Tendenz emotionaler gefärbt als eine Zeugenaussage derselben Person.168 Zusätzlich können die Opfer bzw. ihre Angehörigen in einigen Rechtsordnungen169 Präferenzen zur Strafzumessung äußern (sog. Victim Statements of Opinion: VOS).170 Wie dargelegt, beschränkt Art. 10 Abs. 1 das Gehör inhaltlich nur insoweit, dass die Mitteilung einen Bezug zum Verhandlungsgegenstand des Strafverfahrens aufweisen muss. Faktendarstellungen und

et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 232, 240. In diese Richtung auch DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 76. 165 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 134. In England heißen sie Victim Personal Statement; zum englischen Recht Kap. 3 A III 2 a) dd). 166 Z. B. in den Niederlanden, Wemmers, Eur. J. Crim. Pol. Res. 11 (2005), 121, 122. Der deutsche Gesetzgeber hat 2010 erwogen, VIS einzuführen, davon jedoch aufgrund des ablehnenden Gutachtens des DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 58 ff., abgesehen. 167 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 135; Erez, Crim. L. Rev. 1999, 545, 546. Für England siehe CPVC, Okt. 2015, ch. 2 A sec. 1 (ii) 1.12. 168 VIS sind nicht mit der Zeugenaussage derselben Person identisch, sondern ein Aliud; vgl. so ausdrücklich CPVC, Okt. 2015, ch. 2 A sec. 1 (ii) 1.12. Siehe auch de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 136; Morgan/Sanders, The Uses of Victim Statements, S. 2. 169 Z. B. die USA und Australien, de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 137. Für eine befürwortende Sicht auf VOS siehe Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009) 611, 619 ff. 170 Zu den Unterschieden zwischen VIS und VOS Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 439 ff. (krit. zu VOS, S. 442 f.); Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 232 f.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Meinungsäußerungen sind gleichermaßen gestattet.171 Selbst Stellungnahmen zum Strafmaß sind nach dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 nicht ausgeschlossen.172 Außerdem erfasst „Gehörsgewährung“ begrifflich nicht nur sachliche, sondern auch emotional geprägte Mitteilungen. Tatbestandlich deckt Art. 10 Abs. 1 damit die Abgabe von Erklärungen, wie sie typischerweise in VIS und VOS enthalten sind. Die Kommission bestätigt diese Interpretation, indem sie den Mitgliedstaaten in ihrer Handreichung zur Auslegung der Opferrechterichtlinie rät, VIS zur Umsetzung von Art. 10 Abs. 1 einzuführen: Opfern sollte auf Grundlage des Gehörsrechts gestattet werden, dem Gericht im Strafverfahren die emotionalen, physischen und finanziellen Auswirkungen die Tat zu schildern, und die Richter sollten verpflichtet sein, diese Äußerungen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.173 Fraglich ist aber, ob die Form des Gehörs, wie es in der Richtlinie vorgesehen ist, einem therapeutischen Zweck genügen würde. Der Begriff „Gehör“ enthält kein spezielles Formerfordernis, wie etwa Mündlichkeit.174 Art. 10 Abs. 2 überlässt es den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern, die Modalitäten der Gehörsgewährung zu regeln. EG 41 erklärt es dabei explizit für ausreichend, wenn sich das vermeintliche Opfer schriftlich äußern kann. Damit verpflichtet Art. 10 Abs. 1 die Mitgliedstaaten nicht, dem potentiellen Opfer zu gestatten, sich persönlich mündlich in der Hauptverhandlung zu äußern. In Kanada und Australien hingegen können VIS im Gerichtssaal mündlich vorgetragen und durch das Zeigen von Videos, Fotos und/oder Zeichnungen ergänzt werden.175 Vereinzelt wird vertreten, dass der persönliche mündliche Vortrag des VIS in der Hauptverhandlung auch notwendig sei, um den therapeutischen Effekt zu erzielen.176 Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass andere Verfahrensordnungen nur eine schriftliche Abgabe von VIS erlauben.177 Diese Praxis beruht zumindest partiell auf der Erkenntnis, dass einige Opfer den persönlichen Auftritt im Strafverfahren mehr als Belastung denn als kathartische Erfahrung empfinden und es bevorzugen, wenn ihr VIS auf andere Weise in das Verfahren eingebracht wird.178 Folglich ist nicht davon auszugehen, dass der persönliche 171

KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 9; Kommission, Guidance Document, S. 29. Im Ergebnis ebenso schon zu Art. 3 RB 2001/220/JI EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/09 und C1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 59. 172 EuGH, 15. 9. 2011, verb. Rs. C-483/09 und C-1/10 (Gueye u. Sánchez), Slg. 2011 I-8263 Rn. 59 f. 173 Kommission, Guidance Document, S. 29 f. 174 Art. 3 RB 2001/220/JI war noch mit „Vernehmung und Beweisbeibringung“ überschrieben gewesen. Der Begriff Vernehmung hatte nahe gelegt, dass das Gehör mündlich zu gewähren war. Diese Auslegung gilt für Art. 10 jedoch gerade nicht mehr, der die Überschrift „Anspruch auf Gehör“ trägt. 175 Booth, Griffith L. Rev. 22 (2013), 430; de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 136; Wemmers, Eur. J. Crim. Pol. Res. 11 (2005), 121, 122. 176 Hanloser, Gehör, S. 111. 177 Booth, Griffith L. Rev. 22 (2013), 430; de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 136; Wemmers, Eur. J. Crim. Pol. Res. 11 (2005), 121, 122. 178 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 140 ff.

A. Inhaltliche Vorgaben

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mündliche Vortrag für die therapeutische Wirkung zwingend wäre. Die EU teilt diese Annahme. Denn in der Handreichung zur Umsetzung der RL 2012/29/EU nennt die Kommission als Vorbild für die Implementierung von VIS die englische Rechtsordnung.179 Gerade die englische Regelung stellt den vermeintlichen Opfern aber frei, das VIS mündlich oder schriftlich abzugeben.180 Dem englischen Recht – und damit mittelbar auch der darauf Bezug nehmenden Kommissionsempfehlung – liegt damit gerade nicht die Annahme zugrunde, dass nur der persönliche mündliche Vortrag im Strafverfahren die therapeutische Wirkung erzielen könnte. Art. 10 Abs. 1 lässt damit trotz der Formfreiheit eine kommunikative Beteiligung zu, wie sie für die Erzielung therapeutischer Zwecke für notwendig erachtet wird. Eine teleologische Auslegung der Richtlinie könnte zudem bestätigen, dass Zweck des Gehörs gem. Art. 10 Abs. 1 auch ist, das Opfer bei der Verarbeitung des Geschehens zu unterstützen. Gem. EG 9 sollen Straftatopfer die nötige Unterstützung zur Bewältigung der Tatfolgen erhalten. Art. 2 Abs. 1 lit. i definiert als Folgen einer Straftat u. a. seelische Schädigungen. Daraus folgt, dass die Richtlinienvorgaben grds. auch das Ziel verfolgen, dem Opfer bei der Verarbeitung der psychischen Tatfolgen zu helfen. Weiterhin begründet die Kommission die Forderung, dass Opfer einen Zugang zum Recht erhalten müssten, mit der These, dass ein solcher Zugang wesentlich zur Bewältigung der Tatfolgen beitrage.181 Damit stellt sie die Teilnahmerechte inklusive des Gehörsrechts – die einen Zugang zum Recht vermitteln sollen – in den Dienst der Bewältigung der Tatfolgen. Zudem ist es ein prominentes Ziel von VIS, Opfer durch die Möglichkeit zur kathartischen Kommunikation im Strafverfahren bei der Tatverarbeitung zu unterstützen.182 Die Empfehlung der Kommission, gerade VIS zur Umsetzung von Art. 10 Abs. 1 einzuführen, zeigt, dass das Gehörsrecht auch diesem therapeutischen Zweck dienen soll. Dass die Gewährung von Gehör gem. Art. 10 Abs. 1 als zweites therapeutisches Ziel bezweckt, die Zufriedenheit des Opfers mit dem Strafverfahren zu steigern, 179

Kommission, Guidance Document, S. 29 f. Siehe CPVC, Okt. 2015, ch. 2 A sec. 1 (ii) 1.13. 181 KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6. In der englischen Version wird dies besonders deutlich: „Victims have a legitimate interest in seeing that justice is done. They should be given effective access to justice, which can be an important element in their recovery.“ 182 Eine solche expressive Wirkung von VIS wird teilweise in den Kontext „Therapeutic Jurisprudence“ eingeordnet. Dieses Konzept stellt nicht das Ergebnis eines rechtlichen Prozesses, sondern dessen Auswirkungen auf die Teilnehmer bzw. deren psychologische Gesundheit in den Mittelpunkt. Der rechtliche Prozess soll einen therapeutischen Erfolg erzielen. Opfern die Möglichkeit zu geben, ein VIS abzugeben, wird entsprechend als therapeutische Prozessmaßnahme eingeordnet, siehe Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 164 ff.; Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 622 f.; krit. Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229 ff. Krit. zu diesem Konzept im Strafverfahren: Bibas, Machinery of Justice, S. 101 ff., insbesondere S. 104 – 106: Therapeutic Jurisprudence leide daran, dass Richter keine Therapeuten seien. Außerdem fehlten dem Konzept inhärente Grenzen und es sei unangemessen paternalistisch. Das psychotherapeutische Fachvokabular passe nicht in den Kontext des Gerichtsverfahrens und die mit dem Konzept einhergehende Emotionalität und der Mangel an Formalität untergrüben die Autorität des Gerichts. 180

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

ergibt sich ebenfalls aus Ausführungen der Kommission. Danach soll das Gehörsrecht dem Opfer Zugang zum Recht vermitteln, was unter anderem die Zufriedenheit mit dem Verfahren, in dem das Ergebnis erzielt wurde (prozessuale Gerechtigkeit), umfassen soll.183 Damit macht sich die Union die Argumentation, die auf nationaler Ebene zur Begründung von VIS angeführt wird – nämlich, dass das Gehör im Strafverfahren dem Opfer eine aktive Rolle im Verfahren vermittele und so prozessuale Gerechtigkeit herstelle und seine Zufriedenheit mit dem Verfahren steigere – zu eigen.184 c) Ergebnis Das Recht auf Gehör und Beweisbeibringung ist dem Opfer unabhängig von seiner sonstigen Position im jeweiligen nationalen Strafverfahren allein aufgrund seiner Stellung als vermeintlich verletzte Person zu gewähren. Im Mittelpunkt steht dabei die Erfüllung subjektiver Interessen des Opfers, nicht das objektive Ziel der Informationsgewinnung. Die als legitim anerkannten subjektiven Interessen beziehen sich auf das Verfahren selbst und den Verfahrensausgang. Damit legt Art. 10 zugleich eine wichtige normative Prämisse des Opferrechtekonzepts auf Unionsebene offen: Dem Opfer kommt aufgrund seiner mutmaßlichen Betroffenheit die Rolle eines Verfahrensbeteiligten mit legitimen Interessen im Strafprozess zu, die durch die Teilnahme qua Gehör zu erfüllen sind. Dies gilt unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Position des mutmaßlich Verletzten in den nationalen Verfahrensordnungen. Mit dem Recht auf Gehör sollen drei verschiedene Bedürfnisse von Opfern im Strafverfahren befriedigt werden. Erstens kann das Gehör genutzt werden, um ein eigenes Interesse am Ausgang des Strafverfahrens durch Beiträge zur Sachverhaltsaufklärung und Strafzumessung zu verfolgen. Zweitens soll das Gehörsrecht dem Opfer ermöglichen, die Tat mittels kathartischer Kommunikation im Strafverfahren zu verarbeiten. Und drittens dient das Recht dazu, dem Opfer eine aktive Position im Verfahren einzuräumen und so seine Zufriedenheit mit dem Strafverfahren zu steigern. Ob sich diese Zwecke simultan umsetzen lassen und ob sich ein Recht des Opfers mit diesen Zielen komplikationslos in die nationalen Verfahrensordnungen integrieren lässt, wird noch zu erörtern sein.185 Die nationalen Gesetzgeber müssen diese Zwecke bei der Implementierung des Gehörsanspruchs in nationales Recht berücksichtigen. Obwohl Art. 10 Abs. 2 die konkrete Ausgestaltung der Verfahrensmodalitäten grds. dem nationalen Recht überlässt, unterliegt die Gestaltungsfreiheit der nationalen Gesetzgeber deshalb einigen Einschränkungen. Inhaltlich müssen sich potentielle Opfer beispielsweise zum 183

Vgl. Kommission, Impact Assessment, S. 12; Kap. 2 A IV 1 b) bb). In diese Richtung auch Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 14: das Gehörsrecht biete einen Moment der Anerkennung für das Opfer. 185 Siehe unten Kap. 3 A, B. 184

A. Inhaltliche Vorgaben

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Tathergang, den Tatfolgen und der Strafzumessung äußern können. Tatsachenbeschreibungen wie Meinungsäußerungen sind gleichermaßen zuzulassen. Diese inhaltlichen Vorgaben bedingen zugleich zeitliche Konsequenzen: Grds. dürfen Opfer nicht erst in der Strafzumessungsverhandlung gehört werden, wenn über den Sachverhalt und die Schuldfrage bereits abschließend entschieden ist.186 Da der Begriff „Strafverfahren“ keine Unterscheidung zwischen den Verfahrensstadien trifft, ist das Gehörs- und Beweisbeibringungsrecht zudem grds. auf jeder Verfahrensstufe und somit auch bereits im Ermittlungsverfahren zu gewährleisten, jedenfalls in Fällen, in denen das Verfahren eingestellt werden soll und deshalb zu einem späteren Zeitpunkt keine Gehörsmöglichkeit mehr besteht.187 Dies kann insbesondere in solchen Systemen zu einem Konflikt führen, die dem vermeintlichen Opfer keine eigenständige Position einräumen, wenn über die Schuld des Angeklagten befunden wird.188 Dieser Konflikt könnte indes möglicherweise unionsrechtskonform entschärft werden, indem das Gehörsverfahren so ausgestaltet würde, dass dem vermeintlichen Opfer eine vermittelte Möglichkeit zur Mitteilung und Beweisbeibringung zugestanden würde. So könnte das vermeintliche Opfer z. B. gehalten werden, seine Beiträge außerhalb der Hauptverhandlung an die Staatsanwaltschaft zu richten, die verpflichtet würde, die Beiträge in das Verfahren einzubringen. Art. 10 Abs. 1 verlangt nur die Gewährung von Gehör allgemein „im Strafverfahren“, aber nicht vor einer bestimmten Instanz – wie etwa dem Gericht. Mit dem Wortlaut wäre folglich auch die Einräumung von Gehör vermittelt durch die Staatsanwaltschaft vereinbar. Zudem überlässt Art. 10 Abs. 2 die Ausgestaltung des Verfahrens den Mitgliedstaaten. Sie sind damit nicht verpflichtet, dem vermeintlichen Opfer eine der Verfolgungsinstanz ähnliche Position mit eigenem Plädoyer- und Beweisrecht einzuräumen. Vielmehr obliegt es ihnen, festzulegen, auf welche Weise das vermeintliche Opfer das Gehör wahrnehmen kann. Dafür, dass ein vermitteltes Verfahren unionsrechtskonform wäre, spricht auch, dass EG 41 sogar die schriftliche Mitteilungsmöglichkeit für ausreichend erklärt. Zu beachten ist jedoch, dass die Unionsvorgabe voraussetzt, dass die Beiträge von der jeweiligen Entscheidungsinstanz zur Kenntnis genommen und ggf. bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden können.189 Die konkrete Ausgestaltung des Gehörsverfahrens dürfte folglich nicht dazu führen, dass die vermittelt eingebrachten Beiträge im Strafverfahren aufgrund anderer nationaler Verfahrensgrundsätze keine Beachtung finden könnten. Kann ein Beitrag in einer nationalen Prozessordnung bspw. nur berücksichtigt werden, wenn er einer bestimmten Form – z. B. unmittelbares mündliches Vorbringen in der Hauptverhandlung – genügt, wäre diesem Formerfordernis auch bei 186 Dies wird vor allem relevant in Verfahrensordnungen, die eine zweigeteilte Hauptverhandlung vorsehen, wie z. B. England. 187 Ähnlich Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1392 f. (das Opfer sei in jedem Verfahrensabschnitt vor einer verfahrensabschließenden Entscheidung zu hören). 188 Siehe zum englischen Recht Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 307; allgemein Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 45. 189 Siehe oben Kap. 2 A IV 1 a).

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

der Ausgestaltung des Gehörsrechts Rechnung zu tragen.190 Mindestens müsste sichergestellt werden, dass der Beitrag des potentiellen Opfers – etwa vermittelt über den Staatsanwalt – mittelbar Eingang in das Verfahren und Berücksichtigung finden könnte. Bei der Umsetzung der Norm sind zudem stets sonstige Verfahrensprinzipien, wie etwa die richterliche Unabhängigkeit, zu wahren.191 In der Konsequenz sind die nationalen Gesetzgeber zwar frei in der Ausgestaltung des Gehörsrechts, jedoch nur insoweit, wie die Ausgestaltungsform geeignet ist, die Ziele der Norm in der jeweiligen Verfahrensordnung unter Einhaltung sonstiger Verfahrensprinzipien zu erreichen. 2. Rechte bei Verzicht auf die Strafverfolgung Art. 11 verpflichtet die Mitgliedstaaten, Opfern ein Recht einzuräumen, Entscheidungen über den Verzicht auf Strafverfolgung überprüfen zu lassen. Eine solche Vorgabe war, anders als z. B. das Gehörsrecht, noch nicht im RB 2001/220/JI enthalten. Bei dem Recht handelt es sich damit um eine echte Innovation auf Unionsebene und zugleich um eine der weitreichendsten Normen der RL 2012/29/EU.192 a) Normative Vorgaben Die mitgliedstaatliche Verpflichtung, Opfern ein Überprüfungsrecht beim Verzicht auf die Strafverfolgung zu gewähren, ist in Art. 11 Abs. 1 S. 1 geregelt. Danach steht es den Mitgliedstaaten frei, das Anfechtungsrecht im Einklang mit der Stellung des Opfers in der jeweiligen Strafrechtsordnung auszugestalten. Diese Klausel ermöglicht den Mitgliedstaaten, den Anwendungsbereich des Anfechtungsrechts an die Gegebenheiten ihres Strafjustizsystems anzupassen und auf vermeintlich verletzte Personen, die nach dem nationalen Recht bereits eine formelle Position im Strafjustizsystem einnehmen, zu beschränken. Allerdings normiert Art. 11 Abs. 2 als Ausnahme, dass Opfern schwerer Straftaten in jedem Fall ein Anspruch auf Überprüfung einzuräumen ist, auch wenn ihre Stellung in der jeweiligen Strafrechtsordnung erst nach der Verfolgungsentscheidung bestimmt wird. Die Reichweite der Ausnahme hängt von der Auslegung der Begriffe „Opfer“ und „schwere Straftat“ ab. Da es sich hierbei um autonome unionsrechtliche Begriffe handelt, wird ihre Interpretation nicht von Standards im nationalen Recht determiniert, sondern richtet sich nach Unionsrecht.193 Für die Bestimmung des Opferbegriffs ist die Legaldefi190

So wohl auch Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 14. Kommission, Guidance Document, S. 29. 192 Ähnliche Einschätzung bei Bock, ZIS 2013, 201, 206; Buczma, ERA Forum 2013, 235, 248; Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 30 f.; Peers, EU Justice and Home Affairs Law, Vol. II, S. 156. Krit. Ezendam/Wheldon, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 51, 61. 193 Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 182 Fn. 17. Unklar insofern Novokmet, Utrecht L. Rev. 12 (2016), 86, 91, der auf die Interpretation des nationalen Gerichts abstellen will. 191

A. Inhaltliche Vorgaben

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nition in Art. 2 Abs. 1 heranzuziehen. Der Begriff der schweren Tat ist in der Richtlinie nicht definiert und deshalb anhand existierender Unionsgesetzgebung im materiellen Strafrecht und internationaler Strafrechtsstandards mit Inhalt zu füllen.194 Indizwirkung entfalten z. B. die EG der Richtlinie, die wiederholt die gravierenden Folgen von Terrorismus, Gewalt in engen Beziehungen und geschlechtsbezogener Gewalt hervorheben.195 Entsprechende Straftaten dürften jedenfalls als schwer im Sinne der Richtlinie zu qualifizieren sein. Ratio der Ausnahme ist, zumindest besonders schwer Betroffenen in allen Strafjustizsystemen gleichermaßen das Anfechtungsrecht zu garantieren.196 Nach dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 sollen die Anspruchsberechtigten alle Entscheidungen über den Verzicht auf Strafverfolgung überprüfen können. Ein solcher Verzicht kann theoretisch auch auf einer gerichtlichen Entscheidung beruhen, z. B. wenn ein Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnt. EG 43 stellt dementgegen aber ausdrücklich klar, dass nur Entscheidungen von Staatsanwälten, Untersuchungsrichtern und Strafverfolgungsbehörden wie Polizeibediensteten überprüfbar gestellt werden müssen, nicht aber gerichtliche Entscheidungen. Im Mittelpunkt des Anfechtungsrechts stehen damit behördliche Einstellungsentscheidungen und nicht Gerichtsurteile. Einen Anspruch auf ein Revisionsrecht verbürgt Art. 11 damit nicht.197 Ein behördlicher Verzicht auf Strafverfolgung liegt nach der Richtlinie zum einen vor, wenn die zuständige Behörde gar nicht erst ermittelt oder Anklage erhebt, zum anderen aber auch, wenn sie sich entscheidet, eine erhobene Anklage zurückzuziehen oder das Verfahren einzustellen.198 Inhaltlich kann eine die Strafverfolgung ablehnende Entscheidung auf unterschiedlichen Gründen basieren. Ihr können praktische Erwägungen, zwingende rechtliche Argumente oder Opportunitätsüberlegungen zugrunde liegen. Art. 11 differenziert nicht zwischen diesen verschiedenen Argumentationsebenen, sondern unterstellt alle Entscheidungen gegen die Verfolgung einer Überprüfung. Damit müssen auch Ermessenseinstellungen überprüfbar sein, und zwar auch in Bezug auf die Tragfähigkeit der ihnen zugrunde liegenden Ermessenserwägungen.199 Von 194

Kommission, Guidance Document, S. 30. Siehe z. B. EG 8, 17 f. 196 Spencer, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 761, 787, stellt fest, dass GB unter Verweis auf die Stellung des Opfers im dortigen Strafrechtssystem die Anwendbarkeit der Vorgabe im Wesentlichen hätte ausschließen können, sich aber freiwillig für die Umsetzung entschieden habe. Unabhängig von der Stellung des Verletzten im englischen Recht hätte aber auch GB zumindest in Bezug auf vermeintliche Opfer schwerer Taten ohnehin ein Überprüfungsrecht normieren müssen. 197 Ebenso (krit.) Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 15; Peers, EU Justice and Home Affairs Law, Vol. II, S. 157. 198 Siehe EG 44. 199 Kommission, Guidance Document, S. 30. Ebenso Bock, ZIS 2013, 201, 206 f.; dies., in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 81; in diese Richtung auch Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 460. 195

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

diesem Grundsatz werden nur zwei begrenzte Ausnahmen zugelassen. Zum einen muss nach Art. 11 Abs. 5 dann keine Kontrollmöglichkeit gem. Art. 11 Abs. 1, 3 und 4 eingeräumt werden, wenn die Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung mit einem außergerichtlichen Vergleich beendet. Dies soll allerdings nur gelten, wenn der Verfolgungsverzicht mit einer Verwarnung oder Verpflichtung verbunden ist, EG 45.200 Die Formulierung des Abs. 5, dass Absätze 1, 3 und 4 keine Anwendung finden sollen, wirft die Frage nach der Reichweite der Ausnahmevorschrift auf. Weil die Anwendbarkeit von Art. 11 Abs. 2 explizit nicht ausgeschlossen wird, könnte in einem Umkehrschluss davon auszugehen sein, dass Art. 11 Abs. 2 in den in Abs. 5 beschriebenen Fällen gerade Anwendung finden soll.201 In der Konsequenz würde dies bedeuten, dass das Opfer doch zumindest dann die Option haben müsste, eine Verfahrenseinstellung durch außergerichtlichen, mit einer Verwarnung oder Verpflichtung verbunden Vergleich anzufechten, wenn es von einer schweren Straftat (vermeintlich) betroffen worden ist. Für diese Interpretation könnte auch ein teleologisches Argument sprechen. Ein außergerichtlicher Vergleich lässt das Anfechtungsrecht nach Art. 11 Abs. 5 nur dann obsolet werden, wenn er mit einer Verwarnung oder Verpflichtung verbunden ist. Nach der Konzeption der Richtlinie ist diese repressive Reaktion gegenüber dem Verdächtigen damit offenbar geeignet, die Notwendigkeit einer regulären strafrechtlichen Verfolgung des Verdächtigen zu kompensieren – weshalb das vermeintliche Opfer dann über kein Anfechtungsrecht verfügt. Insbesondere bei schweren Straftaten ist es jedoch naheliegend, dass die Dringlichkeit einer strafprozessualen Verfolgung erhöht ist und eine Verwarnung oder Verpflichtung des Verdächtigen unter Umständen nicht ausreicht. In der Folge wäre es konsequent, dem vermeintlichen Opfer die Überprüfung der Nichtverfolgung trotz repressiven Vergleichs zuzugestehen – und die Anwendbarkeit eines Anfechtungsrechts gem. Art. 11 Abs. 2 im Fall des Art. 11 Abs. 5 nicht auszuschließen. Alternativ könnte Art. 11 Abs. 5 allerdings auch so zu interpretieren sein, dass ein die Verfolgungseinstellung bewirkender Vergleich in allen Fällen die Notwendigkeit eines Anfechtungsrechts ausschließt, solange er mit einer Verwarnung oder Verpflichtung kombiniert wird. Für diese Auslegung streitet die Systematik der Vorschrift. Das eigentliche Anfechtungsrecht ist in Art. 11 Abs. 1 geregelt. Art. 11 Abs. 2 enthält kein dazu separates Anfechtungsrecht, sondern konkretisiert durch eine Ausnahmeregelung, inwieweit die Mitgliedstaaten zwingend zur Umsetzung des in Art. 11 Abs. 1 normierten Anspruchs verpflichtet sind. Diese Lesart 200 Dass EG 45 sich speziell auf Art. 11 Abs. 5 bezieht, wird besonders in der englischen Richtlinienversion deutlich, in der sowohl EG 45 als auch Art. 11 Abs. 5 auf dieselbe Situation eines out-of-court settlement durch den Staatsanwalt Bezug nehmen (in der deutschen Version wird hingegen in Abs. 5 „außergerichtlicher Vergleich“, in EG 45 „außergerichtliche Regelung“ verwendet). Dafür spricht auch, dass im Gesetzgebungsprozess Art. 11 Abs. 5 und EG 45 simultan in der Entwurfsversion ergänzt und mit dem Hinweis der Zusammengehörigkeit versehen worden sind, vgl. Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 11702/12 v. 21. 6. 2012, Art. 10 Abs. 3 mit Fn. 1 und EG 15a. Für diese Interpretation auch Kommission, Guidance Document, S. 30. A.A. wohl Bock, ZIS 2013, 201, 206. 201 So Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 182.

A. Inhaltliche Vorgaben

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wird gestützt von der Gestaltung des Überprüfungsrechts im Gesetzgebungsverfahren. Die Kommission hatte ursprünglich ein Überprüfungsrecht für alle Opfer unabhängig von ihrer Stellung im Strafverfahren vorgesehen.202 Erst im Laufe des Gesetzgebungsprozesses wurde der Anspruch auf Bestreben des Rates in einem ersten Schritt in Abhängigkeit von der Rolle des Betroffenen im Strafjustizsystem ausgestaltet.203 In einem zweiten Schritt wurde diese Beschränkung durch die Rückausnahme für schwere Fälle, in denen wiederum allen Opfern das Überprüfungsrecht zu garantieren ist, ergänzt. Dass diese beiden, jetzt in den Absätzen 1 und 2 enthaltenen Regelungen konzeptionell zusammen gehören, folgt aus dieser Entwicklung sowie aus der Entwurfsfassung, in die sie noch als Absätze 1 und 1a aufgenommen worden waren.204 Wird die Anwendbarkeit des eigentlichen Anfechtungsrechts durch einen Verweis auf Art. 11 Abs. 1 ausgeschlossen, ist systematisch darin ein Ausschluss der Anwendbarkeit von Abs. 2 enthalten. Dafür spricht auch, dass Art. 11 Abs. 5 in jedem Fall die Anwendbarkeit der prozessualen, in Abs. 3 und 4 enthaltenen Regelungen ausschließt. Denn es wäre nicht nachvollziehbar, wenn das vermeintliche Opfer einer schweren Straftat trotz außerprozessualen Vergleichs zwar die Nichtverfolgung anfechten könnte, aber kein Anrecht auf die dafür notwendigen Informationen gem. Art. 11 Abs. 3 hätte. Zudem ließe sich auch aus teleologischer Perspektive argumentieren, dass bei schweren Delikten in der Regel verschärfte Verwarnungen oder Verpflichtungen als Bestandteil der außergerichtlichen Vergleichslösung vereinbart werden. Diese verschärften Reaktionen können wiederum geeignet sein, das ggf. gesteigerte Interesse an einer strafprozessualen Verfolgung des Verdächtigen auch bei schweren Straftaten zu kompensieren. In der Folge scheint es vertretbar, das Anfechtungsrecht auch in den Fällen des Art. 11 Abs. 2 gem. Art. 11 Abs. 5 auszuschließen. Für diese Auslegung spricht zudem ein Schutzargument zu Gunsten des Verdächtigen. Hat sich dieser mit der Staatsanwaltschaft in einem außergerichtlichen Vergleich geeinigt, eine repressive Verwarnung oder Verpflichtung erhalten und letztere unter Umständen bereits erfüllt, begründet dies sein legitimes Vertrauen in die Wirksamkeit der vereinbarten Regelung.205 Dieser Vertrauenstatbestand würde verletzt, wenn das vermeintliche Opfer das Unterbleiben der Verfolgung gleichwohl anfechten könnte. Schließlich legt die Kommission die Norm ebenfalls so aus, dass Szenarien gem. Art. 11 Abs. 5 stets das

202

Siehe Art. 10 Abs. 1 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 10 Abs. 1. 204 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 11702/12 v. 21. 6. 2012, Art. 10 Abs. 1, 1a. 205 Eine ähnliche Ratio des Vertrauensschutzes liegt auch der Annahme im deutschen Recht zugrunde, dass eine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft gem. § 153a Abs. 1 StPO zunächst ein bedingtes und bei Auflagen-/Weisungserfüllung endgültiges Verfahrenshindernis begründet, auch wenn bspw. die gesetzlich notwendige Zustimmung des Gerichts fehlt, vgl. dazu Beulke, in: LR-StPO, § 153a Rn. 91 ff., 94; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 153a Rn. 52; Plöd, in: KMR-StPO, 74. EL (Mai 2015), § 153a Rn. 55; Schöch, in: AK-StPO, § 153a Rn. 41; Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, § 153a Rn. 68 ff. 203

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Anfechtungsrecht ausschließen.206 Dementsprechend ist Art. 11 Abs. 5 so zu interpretieren, dass ein die Verfolgungseinstellung bewirkender außergerichtlicher Vergleich in allen Fällen die Gewährung eines Anfechtungsrechts entbehrlich macht, solange er mit einer Verwarnung oder Verpflichtung kombiniert wird.207 Da die Richtlinie nur Mindeststandards vorgibt, stünde es den Mitgliedstaaten allein danach frei, richtlinienüberschießend auch in Fällen des Abs. 5 ein Anfechtungsrecht vorzusehen. Offen ist aber, ob verfahrensrechtliche Garantien des Verdächtigen ein Anfechtungsrecht in diesen Fällen präkludieren würden. Jedenfalls stellt die Richtlinie so außergerichtliche, von der Staatsanwaltschaft verfasste Vergleiche der strafprozessualen Verfolgung partiell gleich.208 Die zweite Ausnahme von dem Grundsatz, dass alle Nichtverfolgungsentscheidungen angefochten werden können, ergibt sich aus EG 43. Danach haben Opfer kein Recht darauf, Entscheidungen über den Verzicht auf Strafverfolgung, die in Sonderverfahren ergehen, anzufechten. Ausgeschlossen werden soll damit die Anfechtung von Entscheidungen gegen die Aufhebung der Immunität bzw. Indemnität von Parlaments- oder Regierungsmitgliedern. Verfahrensrechtlich verlangt Art. 11 nach seinem Wortlaut nicht zwingend die Möglichkeit einer Kontrolle in einem gerichtlichen Verfahren, sondern erfordert nur neutral „eine Überprüfung“.209 Die Prüfung kann damit auch behördenintern – z. B. mittels einer Dienstaufsichtsbeschwerde – erfolgen. Aus EG 43 sowie den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich allerdings, dass im Regelfall keine Personenidentität bestehen soll zwischen der Person, deren Entscheidung überprüft wird, und der Person, die die Entscheidung überprüft. Stattdessen soll eine andere Person, bestenfalls eine andere Behörde, die Kontrolle durchführen.210 Nur wenn die ursprüngliche Entscheidung von der obersten Strafverfolgungsbehörde getroffen wurde, deren Entscheidung nach nationalem Recht nicht überprüft werden kann, darf dieselbe Behörde die Überprüfung vornehmen, Art. 11 Abs. 4.211

206 Kommission, Guidance Document, S. 30. Ebenso Bock, ZIS 2013, 201, 206 und im Ergebnis auch Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 182, jeweils ohne Begründung. 207 Siehe krit. zu den Folgen für das deutsche Recht, Bock, ZIS 2013, 201, 206. 208 Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 182. 209 Ebenso Bock, ZIS 2013, 201, 206; dies., in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 81 f.; Peers, EU Justice and Home Affairs Law, Vol. II, S. 157 Fn. 247 (der den Ausschluss gerichtlicher Kontrolle im Lichte von Art. 47 GRC für fragwürdig hält); Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 460. A.A. ohne Begündung offenbar Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 792 Fn. 45. 210 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 9. Zustimmend Bock, ZIS 2013, 201, 206. 211 Um eine möglichst objektive Entscheidung zu gewährleisten, sollte auch in diesen Fällen zumindest eine andere Person in der Behörde die Entscheidung überprüfen. Siehe Kommission, Guidance Document, S. 30 f.; ebenso Novokmet, Utrecht L. Rev. 12 (2016), 86, 92, (widersprüchlich aber S. 91).

A. Inhaltliche Vorgaben

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Ansonsten überlässt Art. 11 Abs. 1 S. 2 die Regelung des Anfechtungsverfahrens dem nationalen Recht.212 Die Ausgestaltung darf allerdings nur die Verfahrensmodalitäten betreffen und nicht die Anfechtungsmöglichkeit an sich oder die Einstellungsgründe limitieren, die in dem Verfahren angegriffen werden können.213 Art. 11 Abs. 3 ergänzt die nationalen Vorschriften um ein Informationsrecht. Danach ist das vermeintliche Opfer unverzüglich darüber in Kenntnis zu setzen, dass es das Recht hat, die nötigen Informationen zu erhalten, um zu entscheiden, ob es eine Überprüfung der Entscheidung anstrengen soll.214 Auf Antrag muss es diese Informationen auch bekommen. Daraus ist gefolgert worden, dass dem Opfer umfassende Akteneinsicht zu gewähren sei.215 Dies wird man aber in dieser Pauschalität nicht behaupten können. Vielmehr beschränkt der Wortlaut der Richtlinie den Anspruch ausdrücklich auf die notwendigen Informationen. Diese Vorgabe ist in Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 3 zu lesen. Danach hat das vermeintliche Opfer nur einen Anspruch auf Erhalt einer Begründung einer Nichtverfolgungsentscheidung. Dies reduziert den Umfang der zur Verfügung zu stellenden Informationen. Zudem weist EG 28 drauf hin, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, Informationen bereitzustellen, wenn eine Offenlegung dieser Informationen die ordnungsgemäße Behandlung eines Falls beeinträchtigen oder einer bestimmten Person schaden könnte. Danach müssen die Mitgliedstaaten jedenfalls keine umfassende Akteneinsicht gewähren, wenn dies die Verfahrensposition des vermeintlichen Opfers zum Nachteil des Angeklagten verändern könnte. Schließlich obliegt die Ausgestaltung des Verfahrens inklusive der Informationsgewährung dem nationalen Gesetzgeber, der entsprechend der dargelegten Grundsätze eingrenzende Kriterien normieren kann und sollte. Nichtsdestotrotz stellt der Informationsanspruch die Mitgliedstaaten vor eine praktische Herausforderung. Das Überprüfungsrecht ist – zumindest bei schweren Straftaten – zwingend allen vermeintlichen Opfern ohne weitere einschränkende Voraussetzungen zu gewähren. Gleiches muss für das prozessuale Hilfsrecht gelten. In der Konsequenz sind diese Rechte auch potentiellen Opfern zu garantieren, die zuvor noch nicht, z. B. mittels Anzeige, bei den Strafverfolgungsbehörden in Erscheinung getreten sind. Um ein unbekanntes Opfer über sein In212 Für eine effektive Umsetzung des Anspruchs sollen die Mitgliedstaaten das Verfahren nach Ansicht der Kommission transparent und unbürokratisch gestalten und auch für Personen mit limitierten finanziellen Ressourcen zugänglich machen, Kommission, Guidance Document, S. 31. 213 Ebenso Peers, EU Justice and Home Affairs Law, Vol. II, S. 156 f. 214 Art. 11 Abs. 3 normiert, entgegen Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 182, nicht das Recht, über die Einstellung als solche informiert zu werden. Dieses Recht folgt vielmehr aus Art. 6 Abs. 1 lit. a. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Informationsanspruch auf Mitteilung der Begründung sowie den korrespondierenden Übersetzungsanspruch in Art. 6 Abs. 3, Art. 7 Abs. 3. 215 Bock, ZIS 2013, 201, 206; dies., in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 81 f.; Schünemann, Europäisierung, S. 337; ders., ERA Forum 2011, 445, 460. – Ebenfalls für eine sehr weite, so nicht im Wortlaut der Vorgabe angelegte Auslegung des Art. 11 Abs. 3, nach der das vermeintliche Opfer ein Anrecht auf eine Einschätzung der Erfolgsaussichten seines Rechtsbehelfs haben soll, Novokmet, Utrecht L. Rev. 12 (2016), 86, 91 f.

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formationsrecht gem. Art. 11 Abs. 3 in Kenntnis zu setzen, bedarf es daher verfahrensrechtlicher Sonderregelungen. Denkbar wäre etwa eine Veröffentlichung der Einstellungsentscheidung und von Angaben zu dem Informationsanspruch auf den Webseiten der Polizeibehörde.216 Allerdings ist dabei der Schutz der Persönlichkeitsrechte des Verdächtigen sicherzustellen. Die Rechtsfolgen der Überprüfung werden in der Richtlinie nicht ausdrücklich thematisiert. Wörtlich verpflichtet Art. 11 Abs. 1 die Mitgliedstaaten nur, ein Recht zur Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen vorzusehen. Eine Pflicht, nach der Prüfung ggf. auch eine strafrechtliche Verfolgung zu betreiben, ist nicht normiert. Es ließe sich daher argumentieren, dass das vermeintliche Opfer zwar einen Anspruch darauf hat, dass die Nichtverfolgungsentscheidung überprüft und ihm das Ergebnis mitgeteilt wird. Ein Anrecht auf eine neue Entscheidung über die Verfolgung oder die Durchführung der Verfolgung, wenn die Verzichtsentscheidung mangelhaft gewesen sein sollte, hätte es aber nicht. Bei einer solchen Auslegung und Anwendung von Art. 11 Abs. 1 würde dem Überprüfungsrecht allerdings praktisch jede Wirksamkeit genommen, weil allein die Feststellung, dass eine Nichtverfolgungsentscheidung fehlerhaft war, diesem Resultat als solchem nicht abhelfen würde. Schon aufgrund des Effektivitätsprinzips ist damit die Rechtsfolge des Art. 11 Abs. 1 so zu interpretieren, dass im Falle einer negativ ausfallenden Überprüfung die Strafverfolgung anzustrengen ist. Basierte die Nichtverfolgung auf einer Ermessensentscheidung und ergibt die Überprüfung, dass das Ermessen fehlerhaft ausgeübt worden ist, so hat die zuständige Behörde zumindest eine erneute, dann ermessensfehlerfreie Entscheidung über die mögliche Verfolgung zu treffen. Somit kann sich der Antrag des vermeintlichen Opfers auf Überprüfung im Ergebnis tatsächlich auf die Verfolgung eines Verdächtigen auswirken. Zusammenfassend müssen die Mitgliedstaaten gem. Art. 11 vermeintlichen Opfern die Möglichkeit einräumen, behördliche Entscheidungen, auf die Strafverfolgung zu verzichten, in einem behördlichen Verfahren überprüfen zu lassen. Dies gilt auch für Ermessensentscheidungen. Dieses Recht ist allen vermeintlichen Opfern in Abhängigkeit von ihrer Stellung in der jeweiligen Strafrechtsordnung zu gewähren; vermeintlichen Opfern von schweren Straftaten steht es unabhängig von ihrer Verfahrensstellung in jedem Fall zu. Während die Mitgliedstaaten berechtigt sind, die Verfahrensmodalitäten im nationalen Recht zu regeln, dürfen sie nicht die Gewährleistung des Überprüfungsrechts per se beschränken. Ausschließlich bei einem Verfolgungsverzicht in Sonderverfahren oder in Folge eines außergerichtlichen repressiven Vergleichs kann von der Gewährleistung des Überprüfungsrechts abgesehen werden. Ergibt die Überprüfung, dass die Verzichtsentscheidung fehlerhaft war, ist die Strafverfolgung zu betreiben bzw. eine Ermessensentscheidung darüber erneut zu treffen.

216

Vgl. auch EG 27 S. 2.

A. Inhaltliche Vorgaben

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b) Telos des Überprüfungsrechts Inhalt von Art. 11 Abs. 1, 2 ist ein prozessualer Anspruch auf Einräumung eines Rechtsmittels, mit dem das vermeintliche Opfer bei Ausbleiben der Strafverfolgung intervenieren kann. Die Kommission erläutert in ihrem Richtlinienvorschlag, dass damit dem Opfer die Möglichkeit gegeben werden soll, zu prüfen, ob die bestehenden Verfahren und Regeln eingehalten wurden, und ob ein Verzicht auf die Strafverfolgung einer bestimmten Person ordnungsgemäß war.217 Unbeantwortet bleibt bei dieser Beschreibung, welchem übergeordneten Zweck die Einräumung des prozessualen Interventionsrechts dienen soll. Denkbar wäre, dass das vermeintliche Opfer damit eine objektive Funktion im Strafverfolgungsgefüge erfüllen soll. Ebenso könnte aber auch Zweck sein, dem Opfer eine Möglichkeit zu geben, einem subjektiven, auf die Strafverfolgung bezogenen Interesse mit einer rechtsschutzähnlichen Intervention Ausdruck zu verleihen und es ggf. durchzusetzen. Die Bestimmung des übergeordneten Zwecks ist aus zwei Gründen relevant: Weil die Mitgliedstaaten gem. Art 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet sind, bei der Implementierung einer Richtlinienvorgabe in nationales Recht deren Zweck zu verwirklichen, bestimmt der Zweck auch die Umsetzungsmodalitäten und gibt eine Richtschnur vor für die im Ermessen der Mitgliedstaaten stehende Verfahrensgestaltung. Zum anderen kann die Bestimmung des Zwecks Aufschluss darüber geben, welches Konzept die EU bei der Ausgestaltung der Position des Opfers im Strafverfahren verfolgt. aa) Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafverfolgung? Die Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen gem. Art. 11 könnte dazu dienen, eine gleichmäßige Strafverfolgung zu gewährleisten. Die Entscheidung über die strafrechtliche Verfolgung einer Person bzw. ihre Nichtbetreibung unterliegt in allen Mitgliedstaaten Regeln. In einigen Rechtsordnungen, wie beispielsweise in Deutschland, determiniert im Grundsatz das Legalitätsprinzip diese Entscheidung.218 In anderen Systemen, wie etwa dem englischen, operiert die Staatsanwaltschaft auf Grundlage des Opportunitätsprinzips, wird aber auch in der Ausübung ihres Verfolgungsermessens von Vorgaben geleitet.219 Trotz dieser Regeln ist es möglich, dass einer Verfolgungsbehörde ein Fehler unterläuft und sie eine Verfolgung gegen eine verdächtige Person nicht anstrengt, obwohl die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen dafür vorlägen. Das öffentliche Interesse an der Gleichmäßigkeit der staatlichen Strafverfolgung und Strafrechtsimplementierung und an der Rechtmäßigkeit von Nichtverfolgungsentscheidungen gebietet, dass die Inaktivität von Strafverfolgungsbehörden kontrolliert und ihr ggf. entgegen gewirkt wird. 217 218 219

KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 9. Siehe für Deutschland Kap. 3 A III 1 a) aa) (2). Siehe für England Kap. 3 A III 2 a) bb) (2).

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In einigen nationalen Rechtsordnungen sowie auf Ebene des Europarates wird die Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen durch Interessenträger als ein Mechanismus zur insofern notwendigen Kontrolle der Verfolgungsbehörden verwendet. Im deutschen Recht z. B. kann der vermeintlich Verletzte, der einen Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage gestellt hat, gegen den ablehnenden Bescheid Beschwerde einreichen und ggf. in einem zweiten Schritt die gerichtliche Überprüfung der Einstellung des Verfahrens begehren, § 172 Abs. 1, 2 StPO. Nach überwiegender Auffassung dient das Klageerzwingungsverfahren keinem subjektiven Interesse des Verletzten, sondern dem öffentlichen Interesse an der Sicherung und Durchsetzung des Legalitätsprinzips durch eine Kontrolle staatsanwaltschaftlicher Nichtverfolgungsentscheidungen.220 Im englischen Rechtssystem können Nichtverfolgungsentscheidungen der Polizei und Staatsanwaltschaft vor dem High Court im sog. judicial review-Verfahren angefochten werden.221 Die Antragsbefugnis steht grds. jeder Person zu, die ein Interesse an der Strafverfolgung geltend machen kann, sog. locus standei-Voraussetzung. Auch (vermeintliche) Opfer der in Frage stehenden Straftat dürfen mittlerweile grds. das judicial review-Verfahren zur Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen anstoßen. Anders als die locus standei-Voraussetzung nahe legen könnte, dient die Überprüfung im judicial reviewVerfahren jedoch nicht der Durchsetzung eines subjektiven Rechts des Antragsstellers an der Strafverfolgung, sondern der Rechtmäßigkeitskontrolle behördlichen Handelns. Vergleichbar dem deutschen Klageerzwingungsverfahren geht es also bei der gerichtlichen Kontrolle von Einstellungsentscheidungen auf Initiative des Verletzten auch im englischen Recht darum, sicherzustellen, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre öffentliche Pflicht erfüllen, rechtmäßige, ermessensgerechte Verfolgungsentscheidungen zu treffen.222Auf dieser Linie bewegt sich auch eine Empfehlung des Europarats zur Einführung einer gerichtlichen Kontrollmöglichkeit von Nichtverfolgungsentscheidungen. In Art. 34 der Recommendation Rec(2000)19 on the role of public prosecution in the criminal justice system rät er: „Interested parties of recognised or identifiable status, in particular victims, should be able to challenge decisions of public prosecutors not to prosecute; such a challenge may be made, where appropriate after an hierarchical review, either by way of judicial review, or by authorising parties to engage private prosecution.”223 Begründet wird die Forderung nach Einführung des Überprüfungsrechts bzw. der Privatklagemöglichkeit mit der Notwendigkeit, das Kontrollsystem zu stärken, das sicherstellt, dass die 220

Siehe ausführlich mit zahlreichen Nachweisen Kap. 3 A III 1 a) cc) (1). Siehe ausführlich zum englischen Recht Kap. 3 A III 2 a) cc) (1). 222 Kap. 3 A III 2 a) cc) (1), IV 3 b). Erst neuerdings erkennen Gerichte auch ein Opferinteresse an der Strafverfolgung und der Entscheidung darüber an, siehe R v Killick [2011] EWCA Crim 1608, Rn. 48. Diese Entwicklung wurde wesentlich von Art. 11 RL 2012/29/EU beeinflusst, vgl. id. Rn. 49; hierzu Kap. 3 A III 2 a) cc) (1) (b). Außerdem können vermeintliche Opfer seit 2013 Nichtverfolgungsentscheidungen in einem internen Verfahren von der Staatsanwaltschaft überprüfen lassen; siehe dazu das Victims’ Right to Review Scheme, Kap. 3 A III 2 a) cc) (2). 223 Die Empfehlung wurde am 6. 10. 2000 vom Europarat angenommen. 221

A. Inhaltliche Vorgaben

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Strafverfolgung nicht von ihren Zielen abgelenkt wird.224 Zweck der Überprüfungsmöglichkeit ist folglich auch hier nicht die Durchsetzung eines subjektiven Rechts des Antragsstellers, sondern die Durchsetzung des öffentlichen Interesses an einer ordnungsgemäßen objektiven Strafrechtspflege. Vergleichbar der Rechtslage auf nationaler und Europarat-Ebene könnte auch die Überprüfung gem. Art. 11 primär der Gewährleistung einer Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden im öffentlichen Interesse dienen.225 Die Überprüfungsaktivität des vermeintlichen Opfers würde dann instrumentalisiert und in den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Anstatt mit dem Antrag auf Überprüfung ein eigenes subjektives Interesse durchzusetzen, würde das potentielle Opfer im öffentlichen Interesse auf eine Realisierung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs drängen. Diese Annahme findet Unterstützung in der Tatsache, dass die Richtlinie nur die Überprüfbarkeit behördlicher, nicht aber gerichtlicher Entscheidungen verlangt.226 Allerdings könnten auch gewichtige Einwände gegen eine solche Interpretation sprechen. Ginge es in Art. 11 um eine Effektivierung der Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden, wäre zu begründen, warum das Kontrollrecht nur den vermeintlichen Opfern eingeräumt wird. Damit wird nämlich der Kreis der Antragsberechtigten eng begrenzt auf natürliche Personen, die unmittelbar durch eine Straftat (vermeintlich) geschädigt worden sind bzw. im Fall ihres Todes deren Angehörige. In der Konsequenz könnte in Fällen, in denen ausschließlich juristische Personen von der vermeintlichen Straftat unmittelbar betroffen sind, sowie in Fällen, in denen gar keine Individualperson unmittelbar beeinträchtigt worden ist – z. B. bei Staatsschutzdelikten oder einigen im Versuchsstadium stecken gebliebenen Delikten227 –, niemand die Überprüfung beantragen.228 Die Kontrolle bliebe so stets unvollständig und der Kontrollzweck würde allenfalls partiell erreicht. Als Grund dafür, gerade dem Opfer das Überprüfungsrecht einzuräumen, ließe sich zwar vorbringen, dass sein gesteigertes Interesse an der Verfolgung des Falls und sein Sonderwissen über die mögliche Tat für die Kontrolle nutzbar gemacht werden sollen.229 224

Recommendation Rec(2000)19 on the Role of Public Prosecution in the Criminal Justice System, adopted on 6 October 2000, and Explanatory Memorandum, S. 33. Diese Ausrichtung des Anfechtungsrechts wird zudem dadurch verdeutlicht, dass es in einen Zusammenhang gestellt wird mit der Empfehlung in Art. 13e, Regierungsweisungen an die Staatsanwaltschaft in Bezug auf die Strafverfolgung zu untersagen, id. S. 33. 225 Im Ergebnis so Novokmet, Utrecht L. Rev. 12 (2016), 86, 87. 226 Siehe oben Kap. 2 A IV 2 a). 227 Siehe zu den durch die Definition des Opferbegriffs bedingten Einschränkungen Kap. 2 A II 1. 228 Auch der Europarat kritisiert deshalb ein auf Opfer beschränktes Überprüfungsrecht, Recommendation Rec(2000)19 on the Role of Public Prosecution in the Criminal Justice System, adopted on 6 October 2000, and Explanatory Memorandum, S. 33. 229 In diese Richtung Novokmet, Utrecht L. Rev. 12 (2016), 86, 87. Die Instrumentalisierung des besonderen Interesses und Sonderwissens des Opfers zu Kontrollzwecken wird auch im deutschen Recht als Grund für die Beschränkung des Klageerzwingungsrechts auf den Verletzten angeführt, z. B. Kleinert, Mitwirkung, S. 354; Rieß, ZIS 2009, 466, 476 f.; ders., Gut-

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Dieses Argument taugt aber nicht als Begründung dafür, ein Kontrollrecht auf vermeintliche Opfer zu beschränken. Denn ein allen Bürgern zustehendes Recht, die Kontrolle treuhänderisch im öffentlichen Interesse anzustoßen, würde notwendigerweise auch den Verletzten umfassen, sodass auf den Vorteil seiner Mitwirkung nicht verzichtet werden müsste. Zugleich würde ein erweiterter Kreis an Überprüfungsberechtigten die Kontrolle potentiell effektivieren, weil andere (begründeterweise) interessierte Personen die Überprüfung beantragen könnten, wenn das unmittelbare Opfer eine Kontrolle nicht anstrengen kann – etwa aufgrund von Druck durch den potentiellen Täter –, nicht anstrengen will – oft bei Delikten im sozialen Nahbereich – oder kein potentiell unmittelbar betroffenes Opfer existiert – etwa bei Straftaten gegen die Allgemeinheit.230 Während das Argument, durch die Begrenzung der Antragsberechtigung auf vermeintliche Opfer würde die Kontrolle effektiver, folglich nicht überzeugt, könnte das Motiv hinter der Limitierung der Antragsberechtigung sein, die Strafverfolgungsbehörden vor einer übermäßigen Anzahl von Kontrollanträgen und vor querulantischen Antragsstellern zu schützen. Die Beschränkung der Antragsberechtigung auf vermeintliche Opfer würde dann dazu dienen, eine Balance herzustellen zwischen den Zielen, Nichtverfolgungsentscheidungen zu kontrollieren und die Funktionstüchtigkeit der Strafverfolgung zu wahren. In dieser Hinsicht rät allerdings z. B. der Europarat dazu, das Anfechtungsrecht „interested parties of recognised or identifiable status“ vorzubehalten und gerade nicht nur auf vermeintliche Opfer zu beschränken. Damit soll das Strafverfolgungssystem vor zu vielen und unrechtmäßigen Kontrollanträgen geschützt und zugleich das Effektivitätsproblem gelöst werden, das entsteht, wenn ausschließlich vermeintlichen Opfern das Überprüfungsrecht eingeräumt wird.231 Ein ähnlicher Gedanke liegt der Regelung im englischen Recht zugrunde, in dem die Möglichkeit, die gerichtliche Kontrolle einer Einstellungsentscheidung zu beantragen, an die Darlegung eines hinreichenden Interesses (locus standi-Voraussetzung), aber nicht an die Opfereigenschaft selbst rückgebunden wird.232 Wäre das Motiv für die Limitierung, die Strafverfolgungs-

achten, Rn. 27; Wohlers, NStZ 1990, 98, 99; ders., in: SK-StPO, § 172 Rn. 3; aus historischer Perspektive Deiters, Legalitätsprinzip, S. 282 f. A.A. Kirstgen, Klageerzwingungsverfahren, S. 51 f.; Kühne, Opferrechte im Strafprozess, S. 5. 230 Ähnlich im Kontext des deutschen Klageerzwingungsverfahrens Hefendehl, GA 1999, 584, 586; Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 2; Tiedemann, in: FS Mehle (2009), S. 625, 626 (mit rechtsvergleichenden Bezügen). Dass bei Ausweitung der Klagebefugnis auf alle Bürger das Legalitätsprinzip zumindest nicht schlechter geschützt würde, meint Graalmann-Scheerer, in: LR-StPO, § 172 Rn. 2. 231 Recommendation Rec(2000)19 on the Role of Public Prosecution in the Criminal Justice System, adopted on 6 October 2000, and Explanatory Memorandum, S. 33. 232 Southey/Weston/Bunting/Desai, Judicial Review, S. 7; Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 583; siehe ausführlich mwN Kap. 3 A III 2 a) cc) (1) (a) (aa).

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behörden vor zu vielen und querulantischen Kontrollanträgen zu schützen, hätte es somit zielführender umgesetzt werden können.233 Zudem würde die Begrenzung der Antragsbefugnis einem Trend auf Unionsebene entgegenlaufen, wenn das Überprüfungsverfahren einem objektiven Kontrollzweck dienen soll. Insofern ist nämlich beobachtet worden, dass Klagebefugnisse auf Unionsebene vermehrt großzügig zuerkannt werden, um Bürger zur Durchsetzung des Unionsrechts zu mobilisieren.234 Die Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen soll solche Fälle identifizieren, in denen eine Strafverfolgung geboten wäre, und in der Konsequenz zu der Betreibung der Verfolgung in diesen Fällen führen. Die Strafverfolgung ihrerseits kann in ein Strafurteil münden. Ein verurteilendes Strafurteil wiederum dient nicht zuletzt auch dazu, die Geltung der materiellen Strafnorm, deren Verletzung festgestellt wurde, zu bekräftigen und die Norm durchzusetzen. Berücksichtigt man, dass ein nicht unerheblicher Teil der nationalen Strafnormen mittlerweile auf von der EU erlassene Richtlinien zurückgeht,235 wird deutlich, dass die Durchsetzung des nationalen Strafrechts mittels Strafverfolgung mittelbar auch zur Durchsetzung von Unionsrecht – zumindest in einigen Fällen – beitragen kann. Entsprechend diesem Trend hätte es daher nahe gelegen, das Antragsrecht auf Überprüfung von Einstellungsentscheidungen zumindest bei Straftaten ohne unmittelbares Opfer – wie z. B. Insiderhandel – auf eine möglichst große Bürgergruppe zu erstrecken, um die Durchsetzung auch des zugrunde liegenden Unionsrechts zu befördern.236 Damit ist die Beschränkung der Antragsberechtigung auf vermeintliche Opfer insgesamt nicht sinnvoll erklärbar, wenn die Überprüfungsmöglichkeit in Art. 11 primär der Kontrolle der Strafverfolgung im öffentlichen Interesse und der Herstellung einer möglichst gleichmäßigen Strafrechtspflege dienen sollte. Gegen die Interpretation, das Überprüfungsrecht in Art. 11 diene der Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden im öffentlichen Interesse, ließe sich weiterhin einwenden, dass auch seine sonstige Ausgestaltung nicht auf eine besonders effektive und flächendeckende Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen ausgelegt ist. Zum einen sind die Mitgliedstaaten nur bei schweren Delikten ausnahmslos verpflichtet, das Überprüfungsrecht einzuräumen. Zum anderen ist für außergerichtliche Vergleiche, die mit einer Verwarnung oder Auflage verbunden sind, keine Überprüfung vorgesehen. Das Unterbleiben der Strafverfolgung wird folglich in vielen Bereichen keiner zwingenden Kontrolle unterworfen. Weiterhin hat der Eu233

Siehe zu weiteren Möglichkeiten, mutwillige Anträge auszuschließen, ohne auf die Opfereigenschaft abzustellen, im Kontext des deutschen Rechts Hefendehl, GA 1999, 584, 586. 234 Göhler, New J. Europ. Crim. L 6 (2015), 102, 121; Koch, NVwZ 2007, 369, 370; Steinbeiß-Winkelmann, NJW, 2010, 1233, 1235; vgl. auch Gärditz, JZ 2015, 896, 900. 235 Siehe z. B. Hecker, EuStrR, § 8; Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, §§ 12 ff. 236 Für Insiderstrafrecht wäre dies z. B. die RL 2014/57/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 16. 4. 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation, EU-ABl. Nr. L 173/179.

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roparat darauf hingewiesen, dass nur eine gerichtliche Überprüfung eine effektive Kontrolle gewährleiste und behördeninterne Verfahren, wie sie nach der Opferrechterichtlinie zulässig wären, dazu ungeeignet seien.237 Wird die Strafverfolgung aber nur ungleichmäßig und nicht bestmöglich durch das Überprüfungsrecht kontrolliert, muss bezweifelt werden, dass die Sicherstellung dieser Kontrolle sein primärer Zweck ist.238 Denn wäre dies der Fall, hätte es näher gelegen, die Ausgestaltung des Überprüfungsverfahrens auch bestmöglich an diesem Zweck auszurichten. Schließlich spricht die kompetenzrechtliche Ausgestaltung gegen die Auslegung, das Überprüfungsrecht in Art. 11 diene primär der im öffentlichen Interesse liegenden Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden. Die Opferrechterichtlinie ist auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 S. 3 lit. c AEUV erlassen worden.239 Diese Kompetenzgrundlage ermächtigt den Unionsgesetzgeber, Rechte von Straftatopfern zu harmonisieren, die genuine Opferinteressen repräsentieren.240 Würde das Überprüfungsverfahren primär der Kontrolle der Strafverfolgung und der Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafrechtspflege dienen, würde mit seiner Regelung nicht im engeren Sinne ein genuines Opferrecht harmonisiert, sondern ein sonstiger Aspekt des Strafverfahrensrechts. An das Antragsrecht des vermeintlichen Opfers würde nur zur Verfolgung anderer Zwecke instrumentalisierend angeknüpft. Dies genügt nicht zur Begründung einer Kompetenz gem. Art. 82 Abs. 2 S. 3 lit. c AEUV und würde die engeren Voraussetzungen der Kompetenzgrundlage zur Angleichung spezifischer Aspekte des Strafverfahrens in Art. 82 Abs. 2 S. 3 lit. d AEUV umgehen. Gemäß dem Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung gebührt von mehreren möglichen Auslegungsmöglichkeiten derjenigen der Vorrang, die mit dem Primärrecht vereinbar ist.241 Kompetenzrechtlich konfliktfreier ist eine Interpretation, nach der primärer Zweck des Überprüfungsrechts in Art. 11 die Durchsetzung eines echten Opferinteresses ist und nicht die im öffentlichen Interesse bestehende Kontrolle der behördlichen Verfolgungstätigkeit. Des Weiteren wäre es systematisch stringenter, eine Regelung zur Kontrolle der behördlichen Verfolgungstätigkeit nicht in einer Richtlinie zu Opferrechten zu verorten, sondern – wie auch im Falle der Europarat-Empfehlung – in einem speziell der Strafverfolgungstätigkeit gewidmeten Instrument. Schließlich findet sich in den Gesetzgebungsmaterialien keine Referenz, die nahelegen würde, dass nach den Gesetzgebern der Zweck des Überprüfungs237

Recommendation Rec(2000)19 on the Role of Public Prosecution in the Criminal Justice System, adopted on 6 October 2000, and Explanatory Memorandum, S. 33. 238 Vergleichbar zweifelt Kirstgen, Klageerzwingungsverfahren, S. 47 ff., die These an, das Klageerzwingungsverfahren diene der Durchsetzung des Legalitätsprinzips. Weil es aufgrund der Regelung in § 172 Abs. 2 S. 3 StPO und der Bindung an einen Verletzten nicht alle vom Legalitätsprinzip dominierten Bereiche kontrollieren könne, könne es auch nicht der Durchsetzung dieses Prinzips dienen. 239 Siehe ausführlich oben Kap. 1 D I. 240 Siehe ausführlich hierzu und zum Folgenden oben Kap. 1 D I 2 b) bb). 241 Riesenhuber, in: ders., Europäische Methodenlehre, § 11 Rn. 52.

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rechts in Art. 11 die Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafverfolgung im öffentlichen Interesse sein soll. In der Gesamtschau teleologischer, kompetenzrechtlicher, systematischer sowie historischer Argumente ist damit davon auszugehen, dass Art. 11 nicht in erster Linie auf eine effektive Kontrolle der Strafverfolgung im öffentlichen Interesse abzielt. bb) Durchsetzung eines Opferinteresses? Wenn Art. 11 damit dem Opfer das Anfechtungsrecht nicht primär deshalb einräumt, damit es als Sachwalter des öffentlichen Interesses die Strafverfolgungsbehörden kontrolliert, fragt sich, ob Art. 11 stattdessen einem subjektiven Individualinteresse des Opfers Ausdruck verleihen und es ggf. durchsetzen soll. Für diese Auslegung spricht, dass das Anfechtungsrecht an die persönliche Betroffenheit als (vermeintlich) unmittelbar durch die nicht verfolgte Straftat geschädigte Person geknüpft ist. Wie gezeigt, ist die Verknüpfung der Antragsbefugnis mit der Opfereigenschaft kontraproduktiv, wenn eine effektive Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden im Allgemeininteresse erreicht werden soll. Wenn hingegen die Durchsetzung eines Individualinteresses des persönlich Betroffenen im Mittelpunkt steht, ist die Verknüpfung von Antragsberechtigung und Opfereigenschaft nicht nur sinnvoll, sondern geboten.242 Geht es nicht um die effektive Durchsetzung des Rechts im Allgemeinen, sondern um Individualinteressen, erklärt sich auch, warum die Antragsbefugnis entgegen dem sonstigen Trend auf Unionsebene nicht allen Bürgern, sondern nur dem Opfer zuerkannt wird. Auch der systematische Kontext der Norm stützt diese Interpretation. Die Verortung im vierten Richtlinienkapitel zeigt, dass das Recht auf Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen dem Opfer ermöglichen soll, sich aktiv am Strafverfahren zu beteiligen. Die Teilnahme am Strafverfahren ihrerseits soll ihm gem. EG 9 einen Zugang zum Recht verschaffen.243 Damit dient das Anfechtungsrecht wie der Gehörsanspruch dazu, gerade dem Opfer zu ermöglich, sich zu vergewissern, dass dem Recht Geltung verschafft wird.244 Dies legt nahe, dass das Anfechtungsrecht persönliche verfahrensbezogene Opferinteressen durchsetzen soll. Hierfür sprechen auch die Systematik der Richtlinie und die Kompetenzgrundlage, auf der die Richtlinie erlassen worden ist. Denn das Überprüfungsrecht ist in einer Richtlinie normiert, die speziell den Rechten von Straftatopfern gewidmet ist. Zudem wurde bereits dargelegt, dass konfliktfrei auf Grundlage der Kompetenznorm, Art. 82 Abs. 2 S. 3 lit. c AEUV, nur genuine Rechte des Opfers harmonisiert 242

Ähnlich zum Klageerzwingungsrecht Frisch, JZ 1974, 7, 10; Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 2. 243 Siehe zum Zusammenhang von Zugang zum Recht und Art. 11 auch Kommission, Impact Assessment, S. 21. 244 Vgl. ausführlich die Herleitung unter Kap. 2 A IV 1 b).

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

werden können. Beides impliziert, dass auch das Rechtsmittelrecht in Art. 11 ein Individualinteresse der Opfer durchsetzbar machen soll. Schließlich könnte für diese Auslegung auch die Entstehungsgeschichte der Opferrechterichtlinie streiten. Im deutschen Recht wird unter anderem die Entstehungsgeschichte des Klageerzwingungsverfahrens herangezogen, um zu begründen, warum das Klageerzwingungsrecht trotz seiner Beschränkung auf den Verletzten nicht auf die Durchsetzung seiner Interessen zielt.245 Das Klageerzwingungsverfahren sei geschaffen worden, um eine ungebührliche politische Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft zu verhindern. Die Begrenzung des Klagerechts auf Verletzte sei in diesem Kontext das Resultat eines politischen Kompromisses gewesen und habe dazu dienen sollen, dessen Initiative für die Kontrolle der Staatsanwaltschaft fruchtbar zu machen. Aus diesem Entstehungshintergrund folge, dass die Begrenzung des Klagerechts auf den Verletzten nicht bedeute, dass das Klageerzwingungsverfahren der Durchsetzung seiner individuellen Interessen diene.246 Die Entstehungsgeschichte der Opferrechterichtlinie hingegen unterscheidet sich davon ganz wesentlich und legt eine genau gegenteilige Annahme nahe. Denn die Richtlinie ist erlassen worden, um Opfer in den Mittelpunkt der Strafjustiz zu rücken, ihren Interessen Geltung zu verschaffen und ihre Position speziell im Strafprozess zu stärken.247 Zu diesem Zweck werden ihnen zahlreiche Rechte eingeräumt. Die Beschränkung des Anfechtungsrechts auf (vermeintliche) Opfer basiert damit nicht auf einem politischen Kompromiss zur Erreichung eines anderen Ziels, sondern entspringt der Intention, gerade die Rechte von Opfern und ihre Stellung im Strafverfahren zu stärken. Die Entstehungsgeschichte der Norm legt damit nahe, dass das Antragsrecht auf Opfer beschränkt worden ist, gerade weil es der Durchsetzung ihrer Individualinteressen dienen soll. Nach dieser Analyse dient Art. 11 offenbar dazu, Opfern ein Interventionsrecht zur Durchsetzung eines subjektiven Interesses einzuräumen. Noch nicht beantwortet ist damit, welchem Individualinteresse das Überprüfungsrecht zur Durchsetzung verhelfen soll. Als prozessuale Vorgabe verbürgt Art. 11 jedenfalls nicht selbst unmittelbar ein subjektives Recht. Vielmehr setzt er voraus, dass ein anerkanntes materielles Interesse von Opfern existiert, dessen Durchsetzung die Überprüfung dienen soll. Die prozessuale und die materielle Ebene sind insofern zu unterscheiden.248 Welches materielle Interesse dies sein könnte, ist durch Auslegung zu ermitteln. Anhaltspunkte dafür lassen sich aus der Ausgestaltung von Art. 11 ableiten. 245

Zur Entstehungsgeschichte siehe Deiters, Legalitätsprinzip, S. 280 ff.; Wohlers, in: SKStPO, § 172 Rn. 3; ders., NStZ 1990, 98, 99. 246 Siehe ausführlich Wohlers, NStZ 1990, 98, 99. Siehe auch Kap. 3 A III 1 a) cc) (1) mwN zu dieser Ansicht im deutschen Recht. Eingeschränkt Deiters, Legalitätsprinzip, S. 282 f. 247 Vgl. oben Kap. 1 D III. 248 Auf nationaler Ebene ist kritisiert worden, dass diese beiden Ebenen bei der Interpretation des Klageerzwingungsrechts oft vermischt würden. In Form einer petitio principii würde aus dem Bestehen des prozessualen Klagerechts auf die Existenz eines materiellen Rechts – meist eines Genugtuungsanspruchs des Verletzten – geschlossen, vgl. krit. Weigend, Delikts-

A. Inhaltliche Vorgaben

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Den ersten Anhaltspunkt liefert die Rückbesinnung auf den die Antragsberechtigung in Art. 11 Abs. 1, 2 auslösenden Grund.249 Antragsberechtigt gem. Art. 11 Abs. 1, 2 sind nur Opfer im Sinne des Art. 2 Abs. 1 lit. a. Auslöser für die Antragsberechtigung ist danach die (vermeintlich) unmittelbare Betroffenheit durch eine Straftat. Das materielle Interesse, das mit Art. 11 durchgesetzt werden kann, muss damit gerade als Reaktion auf die besondere persönliche Betroffenheit durch die Straftat begreifbar sein. Es muss sich unterscheiden von den Interessen der Gesamtgesellschaft, die in Reaktion auf eine Straftat entstehen, und in den besonderen Auswirkungen der Straftat auf die Rechtsposition des unmittelbar Betroffenen wurzeln. Dass Angehörige verstorbener Opfer das Anfechtungsrecht ebenfalls ausüben dürfen, steht dieser Auslegung nicht entgegen. Zwar sind sie nur mittelbar durch die Straftat betroffen, nehmen aber nach Konzeption der Richtlinie stellvertretend für das verstorbene Opfer dessen Rechte wahr.250 Insofern kommt es bei Art. 11 stets auf die Perspektive des unmittelbar Betroffenen an. Weiterhin ist das Überprüfungsrecht nur bei schweren Straftaten zwingend, Art. 11 Abs. 2, und kann bei außergerichtlichen repressiven Vergleichen ausgeschlossen werden, Art. 11 Abs. 5.251 Deshalb ist davon auszugehen, dass es ein materielles Interesse sein muss, das insbesondere bei unmittelbarer Betroffenheit durch eine schwere Straftat auftritt und dem durch die Beschwerung des (vermeintlichen) Täters außerhalb der Hauptverhandlung abgeholfen werden kann. Ein zweiter Anhaltspunkt folgt aus der Ausrichtung des Überprüfungsverfahrens auf den Strafprozess.252 Art. 11 Abs. 1, 2 regeln die Überprüfung eines Verzichts auf Strafverfolgung. Hat die Überprüfung Erfolg, muss die Strafverfolgung betrieben werden.253 Die Vorgabe räumt also eine Möglichkeit ein, mittels Initiativrechts den Strafprozess in Gang zu setzen, wenn der öffentliche Ankläger nicht tätig wird. Damit ist Art. 11 darauf ausgerichtet, die Durchführung der Strafverfolgung im Rahmen des jeweils geltenden Prozessrechts zu gewährleisten. Folglich kann Art. 11 nur einem Individualinteresse zur Durchsetzung verhelfen, das im Strafprozess praktisch und rechtlich befriedigt werden kann. Zugleich vermittelt Art. 11 dem Opfer keine eigene Verfolgungsposition im Strafprozess, es geht also nicht um eine direkte Mitwirkung an der Überführung und Bestrafung des Täters. Auch erhält das Opfer kein Initiativrecht, um das Gerichtsurteil überprüfen zu lassen, sondern nur, um die Verfolgung überhaupt in Gang zu setzen. Ein materielles Interesse an einem bestimmten Strafmaß kann damit ebenso wenig mithilfe von Art. 11 durchgesetzt werden. opfer, S. 492 f.; feststellend Frisch, JZ 1974, 7, 11. Um einen Zirkelschluss zu vermeiden, sind daher die materielle und prozessuale Ebene auch hier zu trennen. 249 Einen ähnlichen Ansatz wendet Frisch, JZ 1974, 7, 10, an, um zu bestimmen, auf welche Privatinteressen des Verletzten es im Klageerzwingungsverfahren ankommt. 250 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 7. Siehe auch schon oben Kap. 2 A IV 1 b) bb). 251 Siehe oben Kap. 2 A IV 2 a). 252 Vgl. ähnlich Frisch, JZ 1974, 7, 10, zum deutschen Klageerzwingungsverfahren. 253 Siehe Kap. 2 A IV 2 a).

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Fasst man beide Anhaltspunkte zusammen, muss ein materielles Interesse, dem Art. 11 zur Durchsetzung verhelfen soll, zwei Kriterien erfüllen: Erstens muss es ein Interesse sein, das gerade als Reaktion auf die besondere persönliche und unmittelbare Betroffenheit durch eine (schwere) Straftat begreifbar ist. Zweitens muss seine Befriedigung im Strafprozess praktisch und rechtlich möglich sein. (1) Schutzinteressen Als materielles Individualinteresse, dessen Durchsetzung Art. 11 dienen soll, könnten zum einen Schutzinteressen des Opfers in Betracht kommen. Nach Art. 1 Abs. 1 ist die Erreichung eines angemessenen Opferschutzes ein Hauptziel der Opferrechterichtlinie. Geschützt werden sollen Opfer vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung, vgl. EG 9. Das Interesse an Schutz vor diesen Gefahren resultiert auch unmittelbar aus der Viktimisierungserfahrung, sodass es als Reaktion auf die unmittelbare Betroffenheit durch eine Straftat begreifbar ist. Fraglich ist aber, ob die Durchführung des Strafprozesses geeignet wäre, diese materiellen Interessen zu befriedigen. Bezieht man den Schutz vor sekundärer Viktimisierung auf die Verhinderung einer unangemessenen Behandlung im Strafprozess, kann das Stattfinden der Strafverfolgung zur Verhinderung sekundärer Viktimisierung nicht allzu viel beitragen. Denn fände ohne Überprüfung der Einstellungsentscheidung erst gar keine Strafverfolgung statt, wäre jedenfalls auch keine unangemessene Behandlung im Zusammenhang mit der Verfolgung zu befürchten. Vor Einschüchterung und Vergeltung vermag die Durchführung des Prozesses, die das vermeintliche Opfer gerade mit dem vermeintlichen Täter in direkten Kontakt bringt, ebenso wenig zu schützen. Um den Schutz vor den genannten Gefahren zu gewährleisten, wäre vielmehr eine darauf ausgelegte Gestaltung des Strafprozesses geboten. Art. 11 verbürgt aber lediglich die Möglichkeit, die Strafverfolgung überhaupt zu initiieren, nicht aber die Möglichkeit, auf eine bestimmte Prozessgestaltung hinzuwirken. Herstellen ließe sich einzig ein Zusammenhang zwischen der Durchführung des Strafprozesses und der Befriedigung des Interesses an einem Schutz vor wiederholter Viktimisierung. Grds. kann die strafprozessuale Verfolgung in die Bestrafung des Täters münden. Wird der Täter mit einer Gefängnisstrafe belegt, ist das Opfer zumindest für die Dauer der Strafvollstreckung vor einer wiederholten Viktimisierung durch diese Person geschützt. Allerdings bezieht sich das Initiativrecht in Art. 11, wie gezeigt,254 gerade nicht darauf, ein Interesse an einer bestimmten Sanktionsart oder -höhe durchzusetzen. Auch führt die Initiierung der Strafverfolgung nicht zwangsläufig zur Einsperrung des (vermeintlichen) Täters. Ein Interesse am Schutz vor wiederholter Viktimisierung durch Inhaftierung des Täters lässt sich damit mit dem in Art. 11 vorgesehenen Initiativrecht nicht überzeugend umsetzen. 254

Siehe Kap. 2 A IV 1 a), b) bb).

A. Inhaltliche Vorgaben

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Wenn es bei Art. 11 um die Durchsetzung materieller Schutzinteressen ginge, hätte es zudem nahe gelegen, das Anfechtungsrecht auch den Angehörigen von überlebenden direkten Opfern einzuräumen. Sie erhalten einige der Richtlinienrechte, weil sie nach Ansicht der Kommission ein eigenes Schutzinteresse haben und sekundärer Viktimisierung und Einschüchterung durch den Täter ausgesetzt sind.255 Angehörige von verstorbenen direkten Opfern hingegen können alle in der Richtlinie normierten Rechte ausüben, weil sie zusätzlich über ein besonderes, von den Schutzund Unterstützungsbedürfnissen differierendes Interesse am Verfahren verfügen und als Vertreter des verstorbenen Opfers agieren sollen.256 Das Anfechtungsrecht steht gem. Art. 11 nur den direkten Opfern und den Angehörigen Verstorbener, nicht aber allgemein allen Angehörigen zu. Diese Rechtslage bekräftigt die Annahme, dass Art. 11 nicht materiellen Schutzinteressen, sondern einem besonderen, mit der unmittelbaren Betroffenheit durch die Straftat eng verknüpften Interesse am Verfahren bzw. seinem Ausgang dienen soll.257 (2) Genugtuungsinteresse als Bedürfnis nach offizieller Unrechtfeststellung Das materielle Individualinteresse, dessen Durchsetzung Art. 11 primär dienen soll, könnte stattdessen ein auf das Strafurteil bezogenes Interesse des Opfers sein. In einschlägigen Fachkreisen wird dargelegt, dass Opfer von Straftaten sich die offizielle Feststellung im Strafurteil wünschten, dass ihnen ein Unrecht und kein Unglück widerfahren sei.258 Die offizielle Unrechtfeststellung unterstütze den Betrof255

KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 6. KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 7. Siehe zu dieser Differenzierung und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen auch bereits ausführlich oben Kap. 2 A IV 1 b) bb). 257 Auch im deutschen Recht wird die Nebenklagebefugnis von Angehörigen der verstorbenen, unmittelbar durch die Straftat betroffenen Personen mit ihrem verfahrensbezogenen Genugtuungsbedürfnis begründet, Schneider, StV 1998, 456, 457; Schroth/Schroth, Rechte des Verletzten, Rn. 278. 258 Begründet hat diese Diskussion Reemtsma. In der prosaischen Aufarbeitung seiner 33 Tage dauernden Entführung stellte er aus der Perspektive eines Betroffenen die These auf, dass Straftatopfer in erster Linie die offizielle Feststellung wünschten, dass ihnen ein Unrecht und kein Unglück widerfahren sei, Im Keller, S. 192. Vermutet hatten diese Bedürfnis bereits Hörnle/von Hirsch, GA 1995, 261, 275. In seinen folgenden Werken entwickelte Reemtsma die These weiter und leitete daraus einen Anspruch des Opfers auf Bestrafung des Täters ab, ders., Recht auf Bestrafung, S. 26 f.; Hassemer/ders., Verbrechensopfer, S. 130 ff.; ausführlich auch unten Kap. 4 A II 2. Dazu argumentiert er, dass eine offizielle Feststellung, dem Opfer sei Unrecht geschehen, dem Betroffenen bei der Verarbeitung der Tat helfe. Denn es sei leichter, ein Unrecht zu akzeptieren als den unglücklichen Zufall, der demonstriere, dass die Welt nicht nach den Maßstäben von Recht und Unrecht eingerichtet sei, Reemtsma, Im Keller, S. 216; ders., Recht auf Bestrafung, S. 27; Hassemer/ders., Verbrechensopfer, S. 131, 136. Reemtsmas Ausführungen zu dem Stellenwert, den die Differenzierung zwischen Unrecht und Unglück für Verbrechensopfer einnehme, sind in der Folge von der internationalen strafrechtswissenschaftlichen Diskussion rezipiert worden. Ihm zustimmend: Amelung, in: FS Eser (2005), S. 3, 9 ff.; Baier, GA 2005, 81, 87; Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 663; Burgsmüller, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 173, 175 f.; Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 659; ders., in: FS Jung (2007), S. 77, 81; Dubber, Victims, S. 189 f.; Günther, in: FS Lüderssen 256

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

fenen bei der Tatverarbeitung, weil es leichter sei, ein Unrecht zu akzeptieren als einen unglücklichen Zufall.259 Die Diskussion über ein solches Feststellungsinteresse wird oft unter dem Schlagwort eines Anspruchs des Opfers auf Bestrafung des Täters bzw. als Anspruch des Opfers auf Genugtuung geführt. Definiert wird das Genugtuungsinteresse als Interesse an offizieller Feststellung und Anerkennung des Unrechts.260 (a) Anerkennung des Genugtuungsinteresses auf Unionsebene Fraglich ist, ob ein solches Genugtuungsinteresse auch auf Unionsebene anerkannt wird. Ein Ziel der Richtliniengesetzgeber war es, mit der Opferrechterichtlinie das Bedürfnis von Straftatopfern nach einem Zugang zum Recht zu erfüllen.261 Der Zugang zum Recht soll insbesondere das Interesse des Opfers befriedigen, zu erfahren, dass dem Recht Geltung verschafft wird. Weiterhin ist die Opferrechterichtlinie vor allem darauf ausgerichtet, die Bedürfnisse des Opfers im Strafjustizsystem zu befriedigen und seine Stellung im und Teilnahme am Strafverfahren zu stärken. Daraus folgt, dass es nicht darum geht, dem Opfer zu zeigen, dass das Recht z. B. in Bezug auf einen Schadensersatzanspruch im Zivilverfahren durchgesetzt wird, sondern dass vor allem die Erkenntnis des Opfers im Mittelpunkt steht, dass dem Recht gerade im Strafverfahren Geltung verschafft wird. Dem Recht seinerseits wird dann Geltung verschafft, wenn das Strafverfahren gemessen an rechtlichen Standards in eine richtige Entscheidung mündet. In der Anerkennung eines Interesses an der Gewissheit, dass dem Recht Geltung verschafft wird, ist damit die Anerkennung eines Interesses am Ausgang des Strafverfahrens enthalten.262 Weiterhin (2002), S. 205, 218; Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 177 ff.; Holz, Justizgewähranspruch, S. 134; Hörnle, Straftheorien, S. 39 f.; dies., in: von Hirsch et al., Strafe – Warum?, S. 11, 26; dies., JZ 2006, 950, 955; dies., in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 109; Jäger, StV 1997, 222, 223; Jerouschek, JZ 2000, 185 ff.; Kleinert, Mitwirkung, S. 198; Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51, 72 f.; Rössner, in: FS Roxin (2001), S. 977, 986; Roxin, GA 2015, 185, 200; Sautner, Opferinteressen, S. 262, 295 f.; Silva Sánchez, Pace L. Rev. 28 (2007), 865 ff.; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 9; Walther, JR 2008, 405, 407; dies., GA 2007, 615, 618; in Ansätzen auch schon dies., ZStW 111 (1999), 123, 136 f.; Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 796; ders., RW 2010, 39, 44; ders., in: FS Schöch (2010), S. 947, 959. In diese Richtung auch Spinellis, Isr. L. Rev. 31 (1997), 337, 341. Aus empirisch-psychologischer Sicht bestätigt dieses Bedürfnis z. B. Bergmann, Abschlussbericht, S. 169; ebenso BMJ et al., Abschlussbericht sexueller Kindesmissbrauch, S. 73 f. 259 Reemtsma, Im Keller, S. 216; ders., Recht auf Bestrafung, S. 27; Hassemer/ders., Verbrechensopfer, S. 131, 136. Siehe ausführlich unten Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2) (b). 260 Holz, Justizgewähranspruch, S. 134, definiert Genugtuung als „das Interesse daran, daß festgestellt wird, daß dem Opfer Unrecht geschehen ist, daß man dieses Unrecht anerkennt, drauf angemessen reagiert und dem Opfer damit (symbolisch) versichert, so etwas werde in Zukunft nicht wieder passieren.“ Zust. Weigend, RW 2010, 39, 43. 261 Siehe zum Zugang zum Recht bereits ausführlich oben Kap. 2 A IV 1 b) bb). 262 Siehe ausführlich Kap. 2 A IV 1 b) bb). Dass der Richtlinie die Annahme zugrunde liegt, dass das Straftatopfer ein besonderes Interesse am Verfahrensausgang hat, folgt zudem aus dem Gesamtkonzept der Richtlinie, das anders als der RB 2011/220/JI nicht mehr allein auf die Befriedigung von Schutzinteressen im Strafverfahren ausgerichtet ist, siehe ausführlich oben id.

A. Inhaltliche Vorgaben

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soll das Opfer nach Ansicht der Kommission durch den Zugang zum Recht bei der Tatverarbeitung unterstützt werden.263 Damit liegt der Richtlinie das Verständnis zugrunde, dass Straftatopfer ein legitimes Interesse daran haben, zu sehen, dass dem Recht im Strafverfahren durch den Erlass eines Strafurteils Geltung verschafft wird – das Recht also im verfahrensbeendenden Urteil bestätigt wird. Die Kenntnis von diesem Urteil soll zur Tatverarbeitung beitragen. Diese Annahmen wiederum entsprechen gerade der These der Verfechter eines Genugtuungsbedürfnisses, nach denen sich Straftatopfer die offizielle Unrechtfeststellung im Strafurteil zur Tatverarbeitung wünschen. Dass der Richtlinie die Annahme zugrunde liegt, für das vermeintliche Opfer stehe die Erfüllung eines eigenen materiellen Feststellungsinteresses im Strafverfahren auf dem Spiel, könnte weiterhin ihr Verweis auf die Garantie eines fairen Verfahrens belegen. Gemäß EG 66 soll die Richtlinie das Recht auf ein faires Verfahren stärken. Der Grundsatz eines fairen Verfahrens wird im strafverfahrensrechtlichen Kontext gewöhnlich mit den Rechten des Angeklagten assoziiert. Jede Person, gegen die eine strafrechtliche Anklage erhoben wird, hat einen Anspruch darauf, dass darüber in einem fairen Verfahren entschieden wird, Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK, Artt. 47 Abs. 2, 48 GRC. Der Verweis auf den Fairnessgrundsatz in der Richtlinie könnte allerdings so zu verstehen sein, dass er nicht für den Angeklagten, sondern für das (vermeintliche) Opfer gelten soll. Dafür spricht zum einen, dass es sich um eine Richtlinie zur Regelung von Opferrechten und nicht von Beschuldigtenrechten handelt. Soweit sich Erwägungsgründe der Opferrechterichtlinie auf den Angeklagten beziehen, geschieht dies außerdem explizit. Der einzige Erwägungsgrund, der sich hauptsächlich den Rechten des Täters widmet – EG 12 –, stellt generalklauselartig fest, dass die Richtlinie „die Rechte des Straftäters“ unberührt lasse. Im Kontext von Schutzvorschriften zugunsten der Privatsphäre des Opfers mahnt EG 54, dass die Opferschutzvorgabe die Garantie eines fairen Verfahrens aus Art. 6 EMRK wahren müsse. Damit stellt EG 54 die Garantie eines fairen Verfahrens den Rechten des vermeintlichen Opfers gegenüber und ordnet sie so klar dem Angeklagten zu. In EG 66 fehlt eine vergleichbare Bezugnahme auf die Position des Angeklagten, weshalb davon auszugehen ist, dass EG 66 die Fairnessgarantie für das vermeintliche Opfer normieren soll. Weiterhin enthält Art. 7 Abs. 6 einen Verweis auf den Fairnessgrundsatz. Danach ist eine Beschränkung des Übersetzungsanspruchs des vermeintlichen Opfers nur zulässig, soweit nicht die Garantie eines fairen Verfahrens für das vermeintliche Opfer entgegen steht.264 Damit indiziert diese Vorschrift ebenfalls, dass nach Konzeption der Richtlinie der Fairnessgrundsatz auch für das vermeintliche Opfer im Strafverfahren Geltung erlangen soll. Schließlich wird diese Annahme durch Studien untermauert, die die EU zur Vorbereitung der Opferrechterichtlinie in Auftrag gegeben und heranzogen hatte.265 Diese Studien 263

Kap. 2 A IV 1 b) cc). Kommission, Guidance Document, S. 22. Ambivalent Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 186. 265 Vgl. dazu oben Kap. 1 D II. 264

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

verweisen darauf, dass kein vernünftiger Grund ersichtlich wäre, warum der Fairnessgrundsatz nicht auch für das Opfer gelten sollte.266 Nach der Richtlinie ist die Garantie eines fairen Verfahrens im Strafverfahren folglich auch auf das (vermeintliche) Opfer anzuwenden. Die Garantie eines fairen Verfahrens ist ein prozessualer Grundsatz.267 Damit sich eine Person auf die Garantie berufen kann, ist ein materieller Anknüpfungspunkt erforderlich. Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK in seiner strafrechtlichen Ausprägung ist auf Personen beschränkt, gegen die eine strafrechtliche Anklage erhoben wurde. Andere Personen, die sich am Strafverfahren beteiligen – z. B. Zeugen oder das vermeintliche Opfer – können sich daher nicht auf Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner strafrechtlichen Ausprägung berufen.268 In seiner zivilrechtlichen Ausprägung gewährleistet Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch in einem fairen Verfahren verhandelt wird. Anwendbarkeitsvoraussetzung ist, dass ein materieller Anspruch streitig ist und der Ausgang des betreffenden Verfahrens unmittelbar über den Anspruch entscheidet.269 Art. 6 Abs. 1 EMRK schafft also keine neuen materiellen Rechte, sondern garantiert ein faires Verfahren zur Durchsetzung bestehender Ansprüche. Vor welchem Gericht der Anspruch geltend gemacht wird, ist irrelevant, sodass auch die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche vor dem Strafgericht erfasst ist.270 Vergleichbares gilt für die Garantie eines fairen Verfahrens in Art. 47 Abs. 2 GRC, der nach den Gesetzgebern der GRC im Wesentlichen dem beinahe wortidentischen Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen soll.271 Auch die Anwendbarkeit von Art. 47 Abs. 2 GRC setzt die Behauptung einer Verletzung in einem materiellen, nicht notwendigerweise zivilrechtlichen Recht voraus.272 Soll die Garantie eines fairen Verfahrens im Strafprozess auch für das vermeintliche Opfer gelten, ist damit erforderlich, dass ihm ein streitiger materieller Anspruch zusteht, über den das Ergebnis des Strafverfahrens unmittelbar entscheidet. 266

Matrix Insight, Final Report, S. 44; in diese Richtung auch Kommission, Impact Assessment, S. 22 f.; Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 29 f. 267 Statt vieler Jarass, EU-GRC, Art. 47 Rn. 6; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 1 f. 268 Bock, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 67, 70; Esser, in: LR-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 20, 69; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 26; Paeffgen, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 12; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 4; Valerius, in: Graf, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 3. Insofern folgt aus Art. 6 EMRK auch kein Anspruch des Opfers auf Zugang zu einem Strafgericht oder auf Bestrafung des Täters, siehe ausführlich Kap. 4 A. 269 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 5, 14; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 12; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: NK-EMRK, Art. 6 Rn. 14. 270 Bock, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 67, 70; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 26. 271 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, EU-Abl. C 303/30 v. 14. 12. 2007. Art. 47 Abs. 2 GRC ist allerdings anders als Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht auf zivilrechtliche Ansprüche beschränkt. 272 Jarass, EU-GRC, Art. 47 Rn. 6 ff.

A. Inhaltliche Vorgaben

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Wenn in der Richtlinie normiert wird, das Opfer könne sich im Strafprozess auf die Garantie eines fairen Verfahrens berufen, liegt dem folglich die vorgelagerte Annahme zugrunde, dass das Opfer im Strafprozess einen materiellen Anspruch verfolgt, für dessen Entscheidung es auf das Strafurteil ankommt. Klärungsbedürftig ist damit, welches materielle Interesse des Opfers dies sein könnte. Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung konkretisiert, in welchen Fällen Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner zivilrechtlichen Ausprägung auf Aktivitäten eines vermeintlichen Opfers im Strafverfahren anwendbar sein soll. Verfolge ein vermeintlich Verletzter einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen den Angeklagten im Zuge eines Strafverfahrens, könne er sich für die Durchsetzung dieses Anspruchs auch vor dem Strafgericht auf Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner zivilrechtlichen Ausprägung berufen.273 Auf den wirtschaftlichen Wert des Anspruchs komme es nicht an. Stattdessen genüge es, wenn der vermeintlich Verletzte eine symbolische Entschädigung vom Angeklagten zu erlangen suche oder seinen Ruf verteidigen wolle.274 Allerdings zieht der Gerichtshof auch eine klare Grenze, wofür sich ein vermeintlich Verletzter im Strafverfahren nicht auf Art. 6 EMRK berufen könne: Art. 6 Abs. 1 EMRK gelte nicht, wenn ein vermeintlich Verletzter mittels Teilnahme am Strafverfahren isoliert den Zweck verfolge, (aus privater Rache) einen Dritten strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu sehen.275 Denn das Hinwirken allein auf die Bestrafung des Angeklagten sei nicht mehr die Verfolgung eines zivilrechtlichen Anspruchs. Vielmehr sei Art. 6 EMRK ausschließlich dann anwendbar, wenn der vermeintlich Verletzte einen privatrechtlichen Anspruch – wenn auch nur gerichtet auf symbolische Wiedergutmachung – im Rahmen des Strafverfahrens verfolge und die Strafverfolgung aufgrund ihrer Wirkung für diesen privatrechtlichen Anspruch forciere.276 Der EGMR stellt insofern primär auf die Verfolgung (auch immaterieller) Schadensersatzansprüche gegen den vermeintlichen Täter ab. Die Richtlinie hingegen legt den Mitgliedstaaten zwar nahe, Opfern das Recht einzuräumen, im Strafverfahren eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Straftäter zu erwirken, Art. 16 273 Grundlegend EGMR, 12. 2. 2004, App. No. 47287/99, § 67 ff. (Perez/Frankreich); Bock, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 67, 70; Esser, in: LR-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 61; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 26; Helmken, StV 2016, 456, 457; Meyer-Ladewig/ Harrendorf/König, in: NK-EMRK, Art. 6 Rn. 12, 41; Paeffgen, in: SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 17a. 274 EGMR, 12. 2. 2004, App. No. 47287/99, § 65 (Perez/Frankreich); EGMR, 29. 10. 1991, App. No. 11826/85, § 29 (Helmers/Schweden); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 26; Helmken, StV 2016, 456, 457; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: NK-EMRK, Art. 6 Rn. 12, 17 mwN. 275 EGMR, 12. 2. 2004, App. No. 47287/99, § 70 (Perez/Frankreich); Esser, in: LR-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 63; Helmken, StV 2016, 456, 457. 276 Kritisch Bock, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkt, S. 67, 72, die meint, eine Abgrenzung zwischen rein repressivem und auch restitutivem Handeln des Verletzten sei nicht möglich. Zu bemerken ist weiterhin, dass aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar kein Anspruch auf Strafverfolgung Dritter folgt; wenn aber das nationale Recht dem Betroffenen einen solchen Anspruch einräumt, soll nach Esser, in: LR-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 63, Art. 6 Abs. 1 EMRK auf dieses Verfahren anwendbar sein; dagegen zu Recht Helmken, StV 2016, 456, 459 f.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Abs. 1. Die nationalen Gesetzgeber dürfen jedoch auch davon abweichend vorsehen, dass die Entschädigungsentscheidung in einem anderen gerichtlichen Verfahren zu treffen ist. Die Richtlinie verlangt damit nicht zwingend, dass Opfer etwaige Schadensersatzansprüche gegen den Angeklagten im Strafprozess verfolgen können. Deshalb ist die Annahme fernliegend, die Richtliniengeber hätten die Geltung der Fairnessgarantie für das Opfer allein im Hinblick auf die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen im Strafverfahren vorgesehen. Wenn das Recht auf ein faires Verfahren dem vermeintlichen Opfer aber nicht primär auf Grund der Auswirkungen des Strafurteils auf einen etwaigen Schadensersatzanspruch zuerkannt wird, muss ein anderes materielles Interesse, das unmittelbar durch das Strafurteil beschieden wird, im Mittelpunkt stehen. Auf nationaler Ebene ist insofern das Genugtuungsbedürfnis des Opfers vorgebracht worden, also das Interesse an der gerichtlichen Feststellung, ihm sei ein Unrecht widerfahren. Aufgrund dieses Feststellungsinteresses, dessen Bescheidung unmittelbar vom Ergebnis des Strafverfahrens abhinge, habe der vermeintlich Verletzte einen Anspruch auf ein faires Strafverfahren.277 Möglich ist, dass ein solches materielles Feststellungsinteresse des Opfers auch nach der Richtlinie der Anknüpfungspunkt für die Geltung der Fairnessgarantie ist. Dafür spricht die der Richtlinie zugrunde liegende Annahme, dass eine Straftat nicht nur ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft, sondern auch eine Verletzung des Opfers darstellt, EG 9. Mit dieser Annahme harmoniert die Auffassung, dass nicht nur das öffentliche Unrecht, sondern auch das Unrecht, das dem vermeintlichen Opfer widerfahren sein soll, im Strafverfahren verhandelt wird, und dass das Strafurteil auch für die Entscheidung über die individuelle Verletzung unmittelbare Relevanz entfaltet. Außerdem stünde diese Auslegung in Einklang mit der erläuterten Anerkennung eines Interesses des Opfers daran, dass dem Recht im Strafverfahren Geltung verschafft wird. Die Analyse der Richtlinienvorgaben zur Fairnessgarantie verdeutlicht damit Folgendes: Die Richtlinie normiert, dass das vermeintliche Opfer sich im Strafprozess auf die Garantie eines fairen Verfahrens berufen kann. Damit liegt ihr zugleich die Auffassung zugrunde, dass das Opfer im Strafprozess einen materiellen Anspruch verfolgt, für dessen Befriedigung es unmittelbar auf das Ergebnis im Strafprozess ankommt. Das Strafverfahren wird damit implizit als Verfahren (auch) des (vermeintlichen) Opfers konstruiert, für das etwas darin auf dem Spiel steht. Die Auslegung der Richtlinie legt nahe, dass sich dieses Interesse auf die Feststellung bezieht, dass dem Opfer ein Unrecht widerfahren ist. Zusammengefasst erkennt die Richtlinie also ein materielles, auf den Strafverfahrensausgang bezogenes Interesse des Opfers an. Das Opfer soll durch die Beobachtung, dass dem Recht Geltung verschafft wird – indem das Unrecht im 277 Walther, JR 2008, 405, 408; dies., GA 2007, 615, 618, 620. Ob man diese Ansicht teilt, ist eine andere Frage. Zu möglicher Kritik siehe Jung ZRP 2000, 159, 162; Weigend, RW 2010, 39, 51 Fn. 54; zur Kritik an den der These zugrunde liegenden verfassungsrechtlichen Prämissen siehe Kap. 4 A.

A. Inhaltliche Vorgaben

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Strafurteil festgestellt wird –, bei der Tatverarbeitung unterstützt werden. Dieses Interesse vermittelt ihm nach der Richtlinie auch einen Anspruch auf ein faires Strafverfahren. Nach einigen Autoren entspricht dieses materielle Interesse an der Untersuchung des Geschehens im Strafverfahren und dem Ergehen eines Strafurteils einem menschenrechtlich verbürgten Anspruch.278 Insofern wird Art. 11 auch als Instrument zur Durchsetzung eines grundrechtlichen Anspruchs interpretiert.279 Ob sich das Opfer für die Anerkennung seines Unrechtfeststellungs-/Genugtuungsinteresses tatsächlich auf Grundrechte berufen kann, wird in Kapitel 4 beleuchtet. Hier ist zunächst nur relevant, dass die EU jedenfalls ein solches Interesse in der Richtlinie anerkennt.280 (b) Befriedigung des Genugtuungsinteresses mit Art. 11 Steht fest, dass auf Unionsebene ein materielles Unrechtfeststellungsinteresse anerkannt wird, bleibt zu erörtern, ob Art. 11 auch gerade diesem materiellen Genugtuungsbedürfnis zur Durchsetzung verhelfen soll. (aa) Das Genugtuungsinteresse als spezifisches Opferbedürfnis Dazu müsste es sich erstens bei dem Unrechtfeststellungs- bzw. Genugtuungsinteresse um ein Interesse handeln, das gerade als Reaktion auf die besondere persönliche und unmittelbare Betroffenheit durch eine (schwere) Straftat begreifbar ist und das sich von den durch die Straftat ausgelösten Interessen der Gesamtgesellschaft unterscheidet. Es kommt also darauf an, warum gerade Opfer ein besonderes Interesse an dem Erlass eines Strafurteils haben sollen, welches dem Recht Geltung verschafft und das ihnen widerfahrene Unrecht feststellt. Dass die offizielle Feststellung des Unrechts für Straftatopfer relevant ist, wird von den Verfechtern des Unrechtfeststellungsinteresses zum einen mit empirischen Erkenntnissen aus der Psychologie begründet.281 Die Unrechtfeststellung sei bedeutsam, weil sie die Viktimisierungserfahrung für den Betroffenen rationalisiere. Empirische Untersuchungen zeigten, dass eine kriminelle Viktimisierung schwere seelische Schäden bei dem Betroffenen hervorrufe, die in ihrer beklemmenden

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Im Kontext der RL 2012/29/EU Bock, ZIS 2013, 201, 207. Für weitere Verfechter eines grundrechtlichen Anspruchs des Opfers auf Untersuchung und ggf. Bestrafung des Täters siehe Kap. 4 A. 279 Bock, ZIS 2013, 201, 207. A.A. Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 5. 280 Ob dies mit den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen vereinbar ist, wird in Kap. 3 A, B diskutiert. 281 Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 114 ff., 275 ff.; Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 167 ff.; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 134 f.; Jerouschek, JZ 2000, 185, 188; Schneider, MschrKrim 1998, 316, 327 f. Siehe auch die weiteren Nachweise im folgenden Text.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Wirkung oft andere Tatfolgen, wie z. B. physische Nachteile, überstiegen.282 Häufige psychische Folge der kriminellen Viktimisierung sei, dass das Opfer in seinem Vertrauen in verlässliche Umweltbeziehungen und seinem Selbstwertgefühl erschüttert werde und sein gesamtes Welt- und Selbstbild in Frage stelle.283 Dies liege unter anderem daran, dass Verbrechensfurcht vor einer Straftat mit der Einschätzung rationalisiert werde, man verhalte sich vorsichtig und deshalb könne einem nichts passieren. Eine Straftat erschüttere diese Einschätzung. Als Bewältigungsstrategie zeigten Personen, die Opfer einer traumatisierenden Straftat geworden seien, häufig das Blaming-the-victim-Syndrom.284 Dabei suche das Opfer die Schuld für das Eintreten der Straftat bei sich selbst, um zu verleugnen, dass es in seinem Selbst- und Weltverständnis erschüttert worden sei und das für sein Weltverständnis notwendige Vertrauen in ausreichend verlässliche und kontrollierbare Umweltbeziehungen eingebüßt habe.285 Betroffenen falle es schwer, eine das eigene Weltbild in Frage stellende Ursache für die Viktimisierungserfahrung hinzunehmen und sich mit der offenbar schwer auszuhaltenden Erklärung abzufinden, die eigene Betroffenheit sei Zufall gewesen. Stattdessen zögen sie sich auf die rationaler erscheinende Erklärung der eigenen – wenn auch objektiv fernliegenden – Mitschuld an der Straftat zurück.286 Aus diesem Grund sei für Straftatopfer die offizielle Bestätigung, ihnen sei Unrecht widerfahren, von Bedeutung.287 Diese Feststellung böte dem Betroffenen ein rationales Erklärungsmodell, das dem Gefühl der Orientierungslosigkeit vorbeuge und Selbstvorwürfe unnötig mache. Zugleich enthalte die Feststellung die wichtige kontrafaktische Versicherung für das Opfer, dass an dem verletzten Verbot von der Gesellschaft auch für die Zukunft festgehalten werde und das an Recht und Unrecht orientierte Weltbild beibehalten werden könne.288 Das nahe soziale Umfeld sei oft in

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Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 275, 279, 284; Schneider, MschrKrim 1998, 316, 327. 283 Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 170; Jerouschek, JZ 2000, 185, 188; Schneider, MschrKrim 1998, 316, 327; Weigend, Deliktsopfer, S. 381. 284 Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 114 ff.; Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 171 ff.; Jerouschek, JZ 2000, 185, 188; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 19 f. 285 Jerouschek, JZ 2000, 185, 188; Weigend, Deliktsopfer, S. 382. 286 Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 131; ähnlich schon Reemtsma, Im Keller, S. 192. 287 Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 177. Hörnle, JZ 2006, 950, 955 präsentiert für dieselbe Forderung eine kulturhistorische Erklärung: Im naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter verunsichere es stark, eine Verletzung als schicksalhaften Zufall hinnehmen zu müssen. Einfacher zu verarbeiten sei eine förmlich bestätigte Verletzung durch die rechtswidrige Tat eines anderen. Die Relevanz der öffentlichen Unrechtfeststellung liegt danach darin, schwieriger zu verarbeitende Erklärungen auszuschließen. 288 Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 134 f.; Sautner, Opferinteressen, S. 262. Ähnlich auch Hamel, Sprachen als Sprechakt, S. 167 ff.; Holz, Justizgewähranspruch, S. 125 ff.; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 11. Dieses Argument verläuft parallel zur Argumentation positiver Generalprävention durch die an die Allgemeinheit gerichtete

A. Inhaltliche Vorgaben

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den Prozess der Selbstbeschuldigung verstrickt und in der Konsequenz nicht in der Lage, diese Versicherung zu leisten. Deshalb und aufgrund der allgemein größeren Wirkung institutionalisierter Kommunikation müsse diese Unrechtfeststellung von offizieller Stelle herrühren.289 Neben dem positiven Effekt, die Viktimisierungserfahrung zu rationalisieren, sei die offizielle Unrechtfeststellung außerdem aus einem zweiten Grund relevant. Mit ihr symbolisiere die im Staat verfasste Rechtsgemeinschaft von offizieller Seite, dass auch sie das Geschehen etwas angehe und sie das Ereignis nicht akzeptiere. Werde diese Nachricht unmittelbar an das Opfer adressiert, drücke sie zugleich die Solidarisierung der Gesellschaft mit dem Opfer aus. Diese Solidarisierung wiederum verhindere den Eindruck bei dem Verletzten, er sei der Gesellschaft eine Reaktion nicht wert,290 und unterstütze ihn so bei der Tatverarbeitung.291 Diese empirisch-psychologisch basierte Argumentation begründet das Feststellungsinteresse folglich mit den besonderen Auswirkungen der direkten Viktimisierungserfahrung auf das Weltbild und Grundvertrauen des Straftatopfers. Derartige psychologische Folgen als Reaktion auf die Tat werden sonstigen, allenfalls mittelbar von der Tat tangierten Personen nicht zugeschrieben. Damit handelt es sich nach dieser Begründung bei dem Unrechtfeststellungsinteresse um ein Interesse, das gerade als Reaktion auf die besondere persönliche und unmittelbare Betroffenheit durch eine Straftat begreifbar ist. Auch unterscheidet es sich von den durch die Straftat ausgelösten Interessen der Gesamtgesellschaft. Die psychologische Notwendigkeit und der Effekt einer offiziellen Unrechtfeststellung sind zudem eine Frage des individuellen Einzelfalls. Nicht jedes Straftatopfer benötigt die öffentliche Unrechtfeststellung, um die Tat zu verarbeiten und die Kontrolle über sein Leben zurückzuerlangen.292 Verbreiteter dürfte dieses Bedürfnis unter Opfern schwerer Straftaten sein, was zu der Beschränkung auf schwere Taten in Art. 11 Abs. 2 passen würde. Unabhängig von empirisch-psychologischen Erkenntnissen wird ein Interesse an der Unrechtfeststellung auch normativ begründet.293 Anders als das psychologische Normbestätigung. Zur Bedeutung des Vertrauens auf Strafnormen für die menschliche Existenz Amelung, in: FS Eser (2005), S. 3, 7 ff. 289 Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 277 f.; Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 178. 290 Hörnle, Straftheorien, S. 40. Ambivalent Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 11; Weigend, RW 2010, 39, 50. 291 Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 178; Jerouschek, JZ 2000, 185, 186, 193; Reemtsma, Im Keller, S. 216. 292 I. E. ebenso Hörnle, JZ 2015, 893, 895; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 12; Weigend, RW 2010, 39, 48. Verallgemeinernd für alle Opfer Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 132. 293 Siehe z. B. Hörnle, JZ 2015, 893, 895: das Interesse an einem staatlichen Unwerturteil und der personalen Inverantwortungnahme des Täters könne „vergangenheitsorientiert-normativ“ begründet werden; dies., in: FS Roxin (2011), S. 3, 16; dies., Straftheorien, S. 39 f.;

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Begründungsmodell soll das normative Modell ein Interesse an Unrechtfeststellung für alle Straftatopfer begründen, unabhängig von der empirischen Notwendigkeit einer Rückversicherung im Einzelfall.294 Denn jedes Opfer dürfe auf die Geltung des in der Strafnorm enthaltenen Verbots und die mit der Strafnorm vorgenommene Differenzierung zwischen Recht und Unrecht vertrauen.295 Durch den Bruch der Norm werde das Opfer unmittelbar und damit in stärkerer Weise als die Allgemeinheit betroffen.296 Insofern habe es ein besonderes legitimes Interesse daran, dass die Rechtsgemeinschaft ihm gegenüber retrospektiv die Trennlinie zwischen Recht und Unrecht durch die Feststellung des Unrechts verdeutliche und ihm versichere, dass das Vertrauen in die Norm berechtigt war und fortgeltend berechtigt ist.297 Somit wird das Unrechtfeststellungsinteresse auch im Rahmen der normativen Begründung als Reaktion auf die besondere unmittelbare Betroffenheit durch eine Straftat erklärt. Insgesamt erfüllt das Unrechtfeststellungsinteresse – unabhängig ob empirischpsychologisch oder normativ begründet – jedenfalls das erste Kriterium, um als Interesse, dem Art. 11 zur Durchsetzung verhelfen soll, qualifiziert werden zu können: Es ist gerade als Reaktion auf die besondere persönliche und unmittelbare Betroffenheit durch eine (schwere) Straftat begreifbar. (bb) Erfüllbarkeit des Genugtuungsinteresses im Strafverfahren Zweitens muss die Befriedigung des Genugtuungsbedürfnisses im Strafprozess praktisch und rechtlich möglich sein. Diejenigen, die sich für die Anerkennung des Feststellungsinteresses des Opfers einsetzen, propagieren beinahe einstimmig seine Befriedigung im Rahmen des Strafjustizsystems.298 Nur ganz vereinzelt wird erwogen, die für notwendig erachtete dies., in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 175, 180. In diese Richtung auch Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51, 73; Velten, in: SK-StPO, Vorb. §§ 395 ff. Rn. 7; Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 959; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 59. 294 Hörnle, JZ 2015, 893, 895. 295 Amelung, in: FS Eser (2005), S. 3, 11. 296 Vgl. Holz, Justizgewähranspruch, S. 199; Hörnle, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 175, 180; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 59. 297 So z. B. Hörnle, JZ 2015, 893, 895; ähnlich Velten, in: SK-StPO, Vorb. §§ 395 ff. Rn. 7. 298 Im Vordergrund steht bei dieser Argumentation häufig die Integration von Opferinteressen in die Straftheorien, also die Heranziehung von Opferinteressen zur Legitimation von Strafe, vorrangig durch Erstreckung der symbolisch-expressiven Wirkung von Strafe auf das Verbrechensopfer, siehe vor allem Hörnle, Straftheorien, S. 39 f.; dies., JZ 2006, 950, 955; Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 27. Bisher berücksichtigt allerdings nur eine Minderheit Opferinteressen in den Straftheorien, die überwiegende Auffassung begründet die Strafe unter Bezugnahme auf Interessen der Allgemeinheit, so selbst Hörnle, in: von Hirsch et al., Strafe – Warum?, S. 11, 29. Weigend, RW 2010, 39, 50, z. B. leitet aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einen Anspruch von Opfern besonders schwerer Straftaten gegen den Staat auf Unrechtfeststellung ab, der im Strafverfahren verhandelt und mit dem Strafurteil befriedigt werden könne. Die Strafe will Weigend aber trotzdem weiterhin primär mit kollektivistischen Motiven rechtfertigen, ders., in: von Hirsch et al., Strafe – Warum?, S. 31, 37 f. Ähnlich tritt

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Unrechtfeststellung für das Opfer in ein gesondertes, vom Strafverfahren losgelöstes Feststellungsverfahren zu verlagern.299 Allerdings verwirft einzig Lüderssen dies nicht sofort.300 Die Begründungen lauten, derlei Verfahren seien dem gegenwärtigen Rechtssystem fremd301 und die Gegenstände des Strafverfahrens und der Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer seien identisch.302 Dementsprechend wird gefordert, das Opferinteresse an Unrechtfeststellung bei der Verhängung der Kriminalstrafe zu berücksichtigen und mit ihr zu erfüllen. Einige halten insoweit den im Strafurteil enthaltenen Tadel für die Befriedigung des Feststellungsinteresses des Opfers für ausreichend:303 Das Strafurteil in seiner tadelnden Funktion habe eine expressive Wirkung.304 Es stelle fest, dass der Täter ein Unrecht begangen habe, und bestätige so gegenüber der Allgemeinheit die Normwirkung. Werde die in der Strafe enthaltene, symbolisch-expressive Aussage auch an das Opfer als solches (und nicht nur als Teil der Allgemeinheit) adressiert, könne das Strafurteil in dieser Funktionsbestimmung die gewünschte Unrecht-bestätigende Wirkung für das Opfer entfalten.305 Andere vertreten, dass für eine effektive Feststellung gegenüber dem Opfer zusätzlich auch die Verhängung eines Übels (Sanktion) gegenüber dem Täter notwendig sei.306 Denn insbesondere bei schweren Straftaten sei die rein wörtliche Kleinert, Mitwirkung, S. 198, zwar für eine Unrechtsbescheinigung an das Opfer ein, wendet sich aber gegen eine darauf aufbauende Ausrichtung der Strafzwecklehre an den Belangen des Opfers. In diese Richtung auch Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 889, der argumentiert, eine Unrechtfeststellung für das Opfer könne losgelöst von Strafzwecken eine staatliche Aufgabe sein. Siehe zur Befriedigung des Opferinteresses an Feststellung im Strafjustizsystem außerdem Dölling, in: FS Jung (2007), S. 77, 82; ders., in: GS Brugger (2013), S. 649, 659; Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 218; Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 177 ff.; Holz, Justizgewähranspruch, S. 135; Rössner, in: FS Roxin (2001), S. 977, 986; Schöch, NStZ 1984, 385, 387; Walther, ZStW 111 (1999), 123, 136 f. 299 Dölling, in: FS Jung (2007), S. 77, 81 f.; Hörnle, in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 109 Fn. 18; ähnlich bereits Hörnle/von Hirsch, GA 1995, 261, 265 f. („Andere Modelle, die sich lediglich auf eine Feststellung des Tatunrechts beschränken, wären theoretisch denkbar, beispielsweise in der Form, daß als staatliche Reaktion auf eine Straftat nach einem förmlichen Verfahren dem Opfer zuerkannt wird, daß ihm Unrecht geschehen ist; dieses Urteil wäre ein Unwerturteil, ohne gleichzeitig – wenigstens explizit – den Täter zu tadeln.“); Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 889; Weigend, RW 2010, 39, 50 Fn. 52 („isoliertes Schuldfeststellungsverfahren“ für das Opfer). 300 Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 889. 301 Hörnle, in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 109 Fn. 18. 302 So Weigend, RW 2010, 39, 50 Fn. 52. Dagegen siehe Kap. 3 C I, II. 303 Z. B. Baier, GA 2005, 81, 87; Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 219; Jäger, StV 1997, 222, 223; Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51, 73. 304 Statt aller Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 218 f. 305 Siehe z. B. Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 218. 306 Dafür, dass das Unwerturteil für eine effektive Solidarisierung mit dem Opfer mit einem graduell angepassten Strafübel verknüpft werden müsse, z. B. Hörnle, Straftheorien, S. 44 f.; dies., in: von Hirsch et al., Strafe – Warum?, S. 11, 28; dies., JZ 2006, 950, 956; zust. Heger, JA 2007, 244; wohl auch Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 796. Differenzierend nach Intensität des Genugtuungsinteresses Sautner, Opferinteressen, S. 294.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Feststellung für das Opfer nicht ausreichend, sondern die Feststellung müsse, um glaubwürdig zu sein, mit einer Übelzufügung gegenüber dem Täter untermauert werden.307 Gemeinsam ist aber allen Ansichten die Annahme, das Interesse des Opfers an der Unrechtfeststellung könne und müsse im Strafprozess befriedigt werden.308 Mit Hilfe des Initiativrechts aus Art. 11 kann das vermeintliche Opfer auf die Strafverfolgung hinwirken. Denn die Überprüfung einer Nichtverfolgungsentscheidung kann zur Betreibung der Strafverfolgung führen, die ihrerseits in ein Strafurteil und damit in die Unrechtfeststellung münden kann. Mit dem Initiativrecht kann das vermeintliche Opfer damit zumindest den Anstoß dafür geben, dass im Ergebnis ein das Unrecht feststellendes Urteil ergeht. Allerdings verleiht Art. 11 dem vermeintlichen Opfer keine Möglichkeit, Gerichtsentscheidungen anzufechten. Außerdem können die Mitgliedstaaten von der Einräumung des Anfechtungsrechts bei leichten Straftaten und bei Einstellungen im Rahmen außergerichtlicher Vergleiche absehen, Art. 11 Abs. 2, 5. Damit werden die Optionen des Opfers beschränkt, sich gegen Einstellungsentscheidungen zu wehren und damit auf eine Unrechtfeststellung im Strafurteil hinzuwirken. Gerade unter der Annahme, dass Art. 11 dem Opfer die Verfolgung eines Genugtuungsinteresses ermöglichen soll, könnten diese Beschränkungen jedoch erklärbar sein. Empirischen Studien zufolge sollen Opfer von schweren Taten, wie Gewalt- und Sexualverbrechen, verstärkt unter dem Blaming-the-victim-Syndrom leiden und sich in der Folge besonders die gesellschaftliche Zuwendung und öffentliche Anerkennung des Unrechts wünschen.309 Die Richtlinienvorgabe, Opfern schwerer Taten unabhängig von der Gestaltung des nationalen Strafjustizsystems in jedem Fall ein Anfechtungsrecht einzuräumen, würde diese Sachlage spiegeln. Basiert der Verzicht auf Strafverfolgung auf einer gerichtlichen Entscheidung, ist des Weiteren anzunehmen, dass bereits eine größere Gewähr für die Richtigkeit des Verzichts besteht und das vermeintliche Opfer gar kein legitimes Interesse an einer Unrechtfeststellung im gerade gegen diesen Verdächtigten geführten Strafverfahren hat. Eine Überprüfung auf seinen Wunsch hin erscheint dann weniger dringlich.310 Jedenfalls hat eine gerichtliche Entscheidung eine stärkere symbolische Wirkung als eine strafverfolgungsbehördliche, womit das Interesse des vermeintlichen Opfers an der offiziellen Behandlung „seines“ Falls bereits besänftigt würde. Ein außergerichtlicher Vergleich schließlich macht die Überprüfungsmöglichkeit nur entbehrlich, wenn der ver307

Hörnle, in: von Hirsch et al., Strafe – Warum?, S. 11, 28. Dölling, in: FS Jung (2007), S. 77, 82; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 135 ff.; Weigend, RW 2010, 39, 50 Fn. 52. 309 Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 114, 278; Bergmann, in: Weisser Ring, Ängste des Opfers nach der Straftat, S. 36, 42; Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 174; Schneider, JZ 2002, 231, 235; ders., MschrKrim 1998, 316, 327. 310 Vgl. auch Schöch, NStZ 1984, 385, 388: das Feststellungsinteresse des Verletzten gebiete keine Rechtsmittelbefugnis gegen gerichtliche Urteile, sondern nur gegen Einstellungsbeschlüsse. 308

A. Inhaltliche Vorgaben

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meintliche Täter mit einer Verwarnung oder Verpflichtung belegt wird. Beides impliziert zumindest indirekt, dass sein Verhalten strafrechtswidrig war, womit das Genugtuungsinteresse des Opfers zumindest partiell befriedigt wäre. Die genannten Beschränkungen der Überprüfungsmöglichkeit basieren freilich nicht nur auf der Überlegung, dass das Feststellungsinteresse des Opfers in diesen Fällen weniger relevant wäre, sondern (auch) auf der Rücksichtnahme gegenüber Differenzen der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme sowie gegenüber den Beschuldigtenrechten.311 Nichtsdestotrotz lassen sie sich gut in Einklang bringen mit der Annahme, dass das Initiativrecht in Art. 11 dem Opfer ermöglichen soll, sein Unrechtfeststellungsinteresse durchzusetzen.312 Insgesamt ist damit die Befriedigung des Unrechtfeststellungsinteresses – jedenfalls nach Unionskonzeption und überwiegender Ansicht im Schrifttum313 – im Strafprozess praktisch und rechtlich möglich, und das Initiativrecht in Art. 11 stellt auch ein taugliches prozessuales Mittel zu seiner Verfolgung dar. cc) Ergebnis Art. 11 normiert einen Anspruch auf Einräumung eines Rechtsmittels, mit dem das vermeintliche Opfer bei Ausbleiben der Strafverfolgung intervenieren kann. Dieses prozessuale Interventionsrecht soll nicht dazu dienen, das Opferinteresse zur Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden und Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafrechtspflege zu instrumentalisieren. Vielmehr ist Zweck des Art. 11, dem Opfer zu ermöglichen, seinem subjektiven, auf die Unrechtfeststellung bezogenen Interesse mit einer rechtsschutzähnlichen Intervention Ausdruck zu verleihen und es ggf. durchzusetzen. Diesen übergeordneten Zweck müssen die Mitgliedstaaten grds. bei der Implementierung der Richtlinienvorgabe in nationales Recht verwirklichen. Zum anderen zeigt dieser Zweck, dass die Richtlinie dem Opfer ein eigenes Interesse am Ausgang des Strafverfahrens und am Strafurteil zuerkennt. Das Strafverfahren wird als Verfahren auch des Opfers konzipiert. 3. Service-Rechte In den ebenfalls im Teilnahmekapitel verorteten Artt. 13 – 17 sind Service-Rechte normiert. Sie enthalten keine aktiven Mitwirkungsmöglichkeiten des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren im engeren Sinne, sondern widmen sich Bedürfnissen, die im Zusammenhang mit der Durchführung eines Strafprozesses auftreten können. Die meisten der genannten Rechte waren bereits in ähnlicher Form im RB 2001/220/JI 311

Siehe bereits Kap. 2 A IV 2 a) sowie unten Kap. 2 B, C. Dies unterscheidet die Annahme, Art. 11 diene der Durchsetzung des materiellen Genugtuungsinteresses des Opfers, von der Annahme, er solle eine Kontrolle der Strafverfolgung ermöglichen. 313 Für überzeugende Argumente gegen diese Ansicht siehe Kap. 3 C. 312

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normiert.314 Aus der Perspektive des Opfers sind diese Richtlinienvorgaben durch einen Gegensatz gekennzeichnet. Zwar decken sie programmsatzmäßig viele seiner möglichen Wünsche im strafprozessualen Kontext ab. Zugleich aber werden die eigentlichen Ansprüche durch Ausnahmeregelungen – teils stark – beschränkt und den Mitgliedstaaten wird viel Freiraum eingeräumt, von den Vorgaben abzuweichen und die Ansprüche im jeweiligen nationalen Recht auszugestalten. Dies lässt den tatsächlichen Nutzen der Vorgaben für die Opfer fragwürdig erscheinen. Art. 13 normiert einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe, allerdings nur für vermeintliche Opfer, die als Partei im Strafverfahren auftreten.315 Art. 14 ergänzt das Regelwerk um einen Anspruch auf Kostenerstattung.316 In Abgrenzung zu Art. 13 erfasst er keine Ausgaben für Rechtsdienstleistungen, sondern praktische Kosten, die aufgrund der Teilnahme am Strafverfahren entstehen.317 Allerdings ist auch dieser Anspruch in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Er kann in Abhängigkeit von der Rolle des Opfers in der betreffenden Strafrechtsordnung ausgestaltet werden. Kosten sind grds. nur dann zu ersetzen, wenn das vermeintliche Opfer verpflichtet ist oder von den zuständigen Behörden aufgefordert wird, am Strafverfahren teilzunehmen.318 Bei Abgabe einer Aussage zur Straftat soll kein Erstattungsanspruch entstehen. Schließlich sind nur durch die Teilnahme notwendig entstehende Kosten auszugleichen.319 Beide Ansprüche sind damit im Ergebnis stark eingeschränkt und die Regelung des Bewilligungsverfahrens wird jeweils dem nationalen Recht überlassen. Weiterhin wird das Bedürfnis von Opfern nach zügiger finanzieller Entschädigung im weiteren Kontext des Strafverfahrens aufgegriffen.320 Art. 15 normiert einen Anspruch auf Rückgabe der im Rahmen des Strafverfahrens beschlagnahmten Vermögenswerte, überlässt aber die Regelung der Voraussetzungen und des Ver-

314 Vgl. Art. 12 RL 2012/29/EU – Art. 10 RB 2001/220/JI; Art. 13 RL 2012/29/EU – Art. 6 RB 2001/220/JI; Art. 14 RL 2012/29/EU – Art. 7 RB 2001/220/JI; Art. 15 RL 2012/29/EU – Art. 9 Abs. 3 RB 2001/220/JI; Art. 16 2012/29/EU – Art. 9 Abs. 1, 2 RB 2001/220/JI; Art. 17 RL 2012/29/EU – Art. 11 RB 2001/220/JI. 315 Die bloße Möglichkeit, den Parteistatus einzunehmen, begründet für sich noch keinen Anspruch, sondern erst die tatsächliche Einnahme dieser Position, Kommission, Guidance Document, S. 34. 316 Zum Zweck der Vorgabe Kommission, Guidance Document, S. 35. Über diesen Anspruch sowie die Voraussetzungen seiner Geltendmachung sind Opfer gem. Art. 4 Abs. 1 lit. k zu informieren. 317 Siehe EG 47. 318 Siehe EG 47. Der Kommissionsvorschlag hatte noch eine Kostenerstattung bei rein freiwilliger Beiwohnung des Prozesses vorgesehen, Art. 13 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 319 Damit umfasst der Anspruch letztlich primär Reisekosten und Verdienstausfall, Kommission, Guidance Document, S. 35. Zu weiteren Einschränkungen siehe EG 47. 320 Zu diesem Bedürfnis nach finanzieller Entschädigung/Wiedergutmachung durch den Täter Bock, ZIS 2013, 201, 207; Weigend, Deliktsopfer, S. 404.

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fahrens dem nationalen Recht.321 Art. 16 deklariert, Opfer müssten die Möglichkeit haben, im Rahmen des Strafverfahrens innerhalb angemessener Frist auf eine Entscheidung über die Entschädigung durch den (vermeintlichen) Straftäter hinzuwirken. Dies gilt gem. Art. 16 Abs. 1 Hs. 2 jedoch nur, wenn diese Entscheidung nicht nach nationalem Recht in einem anderen gerichtlichen Verfahren zu ergehen hat. Damit ist Art. 16 Abs. 1 zurückhaltender gestaltet als die Vorgängernorm, Art. 9 Abs. 1 RB 2001/220/JI. Die hatte den Mitgliedstaaten nur gestattet, „in bestimmten Fällen“ die Entschädigung in einem anderen Rahmen vorzusehen. Die Richtlinie stellt den Mitgliedstaaten die Regelung des Entschädigungsverfahrens im Ergebnis gänzlich frei.322 Zusätzlich normiert Art. 12 Vorgaben für die Durchführung von Wiedergutmachungsverfahren. Nach der Definition in Art. 2 Abs. 1 lit. d sind dies Verfahren, die Opfer und Täter, falls sie sich aus freien Stücken dafür entscheiden, in die Lage versetzen, sich mit Hilfe eines unparteiischen Dritten aktiv an einer Regelung der Folgen einer Straftat zu beteiligen.323 Im deutschen Recht zählt dazu z. B. der TOA gem. § 46a StGB.324 Die EU verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, derlei Wiedergutmachungsdienste im nationalen Recht vorzusehen, sondern ordnet in Art. 12 Abs. 2 lediglich an, dass die Vermittlung an Wiedergutmachungsdienste bei Sachdienlichkeit zu unterstützen sei. Über die Ausfüllung des Begriffs der Sachdienlichkeit verbleibt den nationalen Gesetzgebern erheblicher Umsetzungsspielraum bei der Entscheidung über die Einsetzung dieses Instruments.325 Führen sie allerdings Wiedergutmachungsdienste ein, haben sie detaillierte Vorgaben zum Schutz der beteiligten Opfer einzuhalten. Ziel des Richtliniengebers war es folglich gerade nicht, die Einführung von Wiedergutmachungsdiensten zu erzwingen, sondern für den Fall ihrer Einführung mittels verbindlicher Schutzvorgaben einer sekundären Viktimisierung des Opfers durch das Wiedergutmachungsverfahren vorzubeugen.326 Gem. Art. 12 Abs. 1 dürfen Wiedergutmachungsdienste nur bei Interesse des Opfers eingesetzt werden. Ihre Durchführung muss durch die freie, informierte sowie wi321

Zu weiteren Einschränkungen des Rückgabeanspruchs siehe EG 48. Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 182 moniert deshalb, dass Art. 16 kein besonders starkes Recht verbürge. Ähnlich kritisch Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 16; Blackstock, Protecting Victims, S. 11. Die staatliche Opferentschädigung regelt die Richtlinie bis auf eine Informationspflicht in Artt. 4 Abs. 1 lit. e, 9 Abs. 1 lit. a nicht. 323 Gemäß EG 46 sollen dazu Mediation, Familienkonferenzen und Schlichtungskreise zählen. 324 Zu unionsrechtlich indizierten Reformen des TOA Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1394. 325 In Bezug auf den RB 2001/220/JI entschied der EuGH, dass es den Mitgliedstaaten freistehe, in welchen Fällen sie Wiedergutmachungsverfahren zuließen, solange objektive Kriterien angelegt würden, Urt. v. 21. 10. 2010, RS. C-205/09 (Eredics), Slg. 2010 I-10231 Rn. 39. 326 Kommission, Guidance Document, S. 32; Blackstock, Protecting Victims, S. 12; Bock, ZIS 2013, 201, 207; Gavrielides, in: ders., A victim-led criminal justice system, S. 83, 89. 322

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

derrufliche Einwilligung des Opfers bedingt sein, und der Täter muss den Sachverhalt im Wesentlichen zugegeben haben. Mit diesen Anforderungen folgt die EU gängigen Voraussetzungen, die von Vertretern der Restorative Justice aufgestellt werden.327 EG 46 fordert zudem, die Bedürfnisse des Opfers in den Mittelpunkt von Wiedergutmachungsverfahren zu stellen und auf mögliche Gefahren solcher Verfahren für das Opfer hinzuweisen. In der Gesamtschau vertritt die Richtlinie damit eine kritisch-differenzierte Einstellung gegenüber Wiedergutmachungsdiensten, die in Übereinstimmung mit dem viktimologischen Forschungsstand nicht als uneingeschränkt opferfreundlich eingestuft werden und deren Einführung nicht uneingeschränkt befürwortet wird.328 Innerhalb dieser Grenzen wird das Wiedergutmachungsverfahren einseitig auf die Bedürfnisse des Opfers ausgerichtet. Belange des Täters spielen in den Richtlinienvorgaben keine Rolle,329 wie z. B. das Interesse, Nachsicht zu erhalten, wenn er sich ernsthaft um einen Ausgleich bemüht, das Opfer diesen aber ablehnt.330 Art. 17 schließlich widmet sich den Bedürfnissen von Opfern, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben als dem, in dem sie viktimisiert worden sind (transnational Betroffene). Er ist beinahe identisch mit der Vorgängernorm, Art. 11 RB 2001/220/JI. Die Mitgliedstaaten sollen dafür sorgen, dass in derartigen Sachverhalten möglichst wenige Schwierigkeiten auftreten. Dazu soll der Tatortstaat unmittelbar nach Anzeigeerstattung die Aussage des Opfers aufnehmen, Art. 17 Abs. 1. Außerdem sollen transnational Betroffene Anzeige in ihrem Wohnsitzstaat erstatten können, wenn sie die Anzeige im Tatortstaat nicht erstatten konnten oder im Fall schwerer Delikte nicht erstatten wollten.331 Hat der Wohnsitzstaat noch kein Ermittlungsverfahren eingeleitet, muss er die bei ihm erstattete Anzeige an die Behörden des Tatortstaates übermitteln.332 Insgesamt konzentriert sich die Richtlinie in Bezug auf die Situation von transnational Betroffenen wie schon der RB 2001/220/ 327 Siehe z. B. Walker, Restorative Practices EForum 2004, 1, 2. Krit. Bock, ZIS 2013, 201, 208, weil die Richtlinie das Opfer bevormunde; zust. Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 36. 328 Ebenso FRA, Victims of Crime in the EU, S. 62. Diese Tendenz begrüßend Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 42; krit. Gavrielides, in: ders., A victim-led criminal justice system, S. 83, 89; Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 35 f. A.A. ohne Begründung Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 16. Die Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, zumindest bei leichten Taten den Einsatz von Mediationsdiensten anzupreisen, Guidance Document, S. 33 f. 329 Krit. auch Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 36; Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 182 Fn. 18. 330 Für Nachsicht gegenüber dem Täter als Folge eines TOA gem. § 46a StGB kann ein ernsthaftes Bemühen des Täters genügen, auch wenn das Opfer die Leistungen des Täters nicht akzeptiert Schroth/Schroth, Rechte des Verletzten, Rn. 190; Kinzig, in: SS-StGB, § 46a Rn. 2. 331 Art. 17 Abs. 2. Anders als in Art. 11 Abs. 2 RB 2001/220/JI stellt Art. 17 Abs. 2 fest, dass es für die Einschätzung, ob die Straftat schwer ist, auf das Recht des Heimatstaates ankommt. 332 Art. 17 Abs. 3. Siehe hierzu EG 50, der klarstellt, dass die Verpflichtung zur Übermittlung der Anzeige die Kompetenz zur Verfahrenseinleitung nicht beeinträchtigt.

A. Inhaltliche Vorgaben

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JI primär auf die Anzeigeerstattung und Vernehmung. Andere Sachbereiche werden kaum adressiert, was insbesondere im Hinblick auf die prominente Stellung überrascht, die Bedürfnisse von transnational Betroffenen in der Begründung für die Notwendigkeit der Opferrechterichtlinie eingenommen haben.333 4. Übergeordnetes Teilnahmekonzept Der RB 2001/220/JI hatte explizit in seinem neunten Erwägungsgrund betont, dass er die Mitgliedstaaten nicht verpflichte, das Opfer den Prozessparteien gleichzustellen. Damit war ausdrücklich klargestellt, dass das Unionsrecht weder darauf zielte, die Rolle des Opfers im Strafverfahren zu harmonisieren noch das Strafverfahren dreipolig auszugestalten. Vielmehr lag der Fokus des Rahmenbeschlusses gar nicht auf der aktiven Teilnahme des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren, sondern auf dessen Schutz.334 Eine dem EG 9 RB 2001/220/JI vergleichbare Vorgabe sucht man in der Opferrechterichtlinie vergeblich. Dass vermeintliche Opfer keine Parteistellung erhalten müssten, wird nicht mehr in derselben Form explizit ausgedrückt. Nichtdestotrotz gibt auch die Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht verbindlich vor, welche formale Rolle das vermeintliche Opfer im nationalen Strafverfahren einnehmen soll. Art. 13 normiert, Opfer müssten einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe erhalten, wenn sie als Partei im Prozess auftreten. Argumentum e contrario lässt sich daraus ableiten, dass eine Parteistellung von der Richtlinie nicht verbindlich gefordert wird. Außerdem erkennt EG 20 an, dass die Stellung von Opfern im und ihre Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme am Strafverfahren in den nationalen Strafrechtsordnungen unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Parteistellung des vermeintlichen Opfers wird als nur eine von mehreren Gestaltungsmöglichkeiten seiner Verfahrensposition genannt. Die Mitgliedstaaten werden nicht dazu aufgefordert, diese Unterschiede in einer von der EU vorgegebenen Weise anzugleichen, sondern sollen lediglich festlegen, welches System in ihrem nationalen Recht Anwendung findet und entsprechend für die Anwendbarkeit der Richtlinienrechte335 zugrunde zu legen ist. Die EU zwingt die Mitgliedstaaten damit nicht, ein bestimmtes Konzept – etwa das der partie civile oder der Nebenklägerschaft – für die Beteiligung des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren einzuführen.336 Speziell die Rechte im Richtlinienkapitel über die Teilnahme des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren sind zudem verhältnismäßig zurückhaltend verfasst. Bei den Offensivrechten – dem Gehörs- und Beweisbeibringungsrecht 333 Krit. Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90, 92, 96 ff.; Wieczorek, New J. Europ. Crim. L. 2 (2011), 343, 347. A.A. Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 247. Zur Begründung Kap. 1 D III 1 b) bb). 334 Siehe Kap. 1 B III. 335 Diese Einschränkung der Anwendbarkeit gilt nur für Richtlinienrechte, die ausdrücklich in Abhängigkeit von der Stellung des Opfers in der nationalen Verfahrensordnung ausgestaltet sind, z. B. Art. 11 Abs. 1, siehe auch Kap. 2 A II 3. 336 Begrüßend Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 458.

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sowie dem Recht zur Überprüfung von Einstellungsentscheidungen – legt die EU den Mitgliedstaaten zwar die Verpflichtung auf, die Rechte als solche vorzusehen. Die Ausgestaltung des Verfahrens wird aber den nationalen Gesetzgebern überlassen. Die Vorgaben zu den Servicerechten sind noch flexibler gestaltet und stellen teilweise sogar die Einführung der genannten Rechte in das Ermessen der Mitgliedstaaten. Insgesamt könnte man daraus den Schluss ziehen, dass die Richtlinie die Stellung des Opfers im und seine Beteiligung am Strafverfahren gar nicht harmonisiere und nur zurückhaltende, den mitgliedstaatlichen Systemen bereits bekannte Regelungen vorgebe.337 Diese Schlussfolgerung würde allerdings der impliziten Vorgehensweise der Richtlinie nicht gerecht. Zwar reguliert sie die Integration des vermeintlichen Opfers in das Strafverfahren nicht durch Normierung eines übergeordneten formalen Rollenkonzepts. Sie bedient sich aber eines alternativen, nicht notwendigerweise in seinen Auswirkungen weniger grundlegenden Ansatzes: Die Richtlinie gibt zunächst in Art. 1 Abs. 1 i.V.m. EG 9 S. 1 vor, dass jeder Person, die durch eine Straftat verletzt wurde, aufgrund ihrer Eigenschaft als Straftatopfer Ansprüche gegen den Staat und ein Recht auf Teilnahme am Strafverfahren zustehen.338 Entsprechend werden dem vermeintlichen Opfer einer Straftat bestimmte Rechte in Bezug auf das Strafverfahren eingeräumt – z. B. über Ort und Zeit der Hauptverhandlung sowie Verfahrenseinstellungen informiert und im Verfahren gehört zu werden sowie Einstellungsentscheidungen anzufechten. Dies demonstriert die Prämisse der Richtlinie, dass das Strafverfahren das vermeintliche Opfer in besonderem Maß und anders als die Allgemeinheit angehe. Fundament für diese Position soll die individuelle Verletzung des Opfers sein, die Bestandteil der Straftat sei.339 Das Opfer wird so unionsweit als genuiner Beteiligter am Strafprozess anerkannt, unabhängig von der konkreten Ausgestaltung seiner Position in den nationalen Verfahrensordnungen. Als Beteiligter soll es nach der Richtlinie eigene materielle Interessen im Strafprozess verfolgen und sich – unabhängig von der Verfolgung eines zivilrechtlichen Anspruchs – auf die Garantie eines fairen Verfahrens berufen können.340 Auf diese Weise werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, als Auswirkungen eines strafrechtlich relevanten Verhaltens neben dem normativen Unrecht gegenüber der Gesellschaft auch die Realdimension des Geschehens in Form der individuellen Verletzung des 337 Vgl. etwa Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1396; Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 458. 338 Kap. 2 A II 1. Vgl. auch Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1388 f.; Rasquete/Ferreira/Marques, ERA Forum 2014, 119, 128 (die Richtlinie erhebe das Opfer zur zentralen Figur im Strafjustizsystem). 339 Siehe EG 9 S. 1. Dass zum Zeitpunkt der Strafverfolgung noch nicht feststeht, ob die Person Opfer des Angeklagten geworden ist, wird in der Richtlinie ausgeblendet. 340 Dass die Richtlinie die Garantie eines fairen Verfahrens auf das Opfer für anwendbar hält (Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2) (a)) zeigt, dass der Richtlinie die Auffassung zugrunde liegt, dass das Opfer im Strafprozess einen materiellen Anspruch verfolgt, für dessen Entscheidung es unmittelbar auf das Ergebnis im Strafprozess ankommt. Das Strafverfahren wird damit implizit als Verfahren (auch) des Opfers konstruiert, für das etwas darin auf dem Spiel steht.

A. Inhaltliche Vorgaben

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Opfers zu berücksichtigen. Als Folge der Realdimension müssen sie bestimmte Rechtspositionen des Opfers anerkennen. Das stellt für sich gesehen noch keine Innovation dar. Grundlegend ist aber die darüber hinaus gehende Verpflichtung, die aus der Realdimension folgenden Bedürfnisse zumindest partiell im Strafprozess zu verhandeln. Nach Unionsrecht ist dem Opfer zu gestatten, seine aus der Realdimension abgeleiteten Rechtspositionen zumindest partiell im Strafverfahren zu verfolgen. Diese zweite Konsequenz ist die eigentliche Innovation, die dem traditionellen Konzept vom Strafverfahren als einem öffentlichen Prozess zwischen Staat/ Gesellschaft und Angeklagtem widerspricht. Auf diesen Grundannahmen aufbauend normiert die EU Verfahrensrechte, die allen vermeintlichen Opfern zu gewähren sind, und gibt Zwecke vor, zu denen sie die Rechte im Strafverfahren ausüben können müssen – unabhängig von der sonstigen Rolle des Verletzten im nationalen Recht. Ohne den Mitgliedstaaten eine bestimmte übergeordnete Rolle des Opfers in ihrem Strafjustizsystem vorzuschreiben, bestimmt die EU so, welche Opferinteressen anzuerkennen und welche Rechte zu ihrer Durchsetzung in die nationalen Verfahrensordnungen zu implementieren sind. Wie die nationalen Gesetzgeber dies in Kohärenz mit ihrer Strafrechtsordnung und der Rolle des vermeintlichen Opfers darin umsetzen, bleibt ihnen freigestellt. Dadurch wird eine Harmonisierung der Teilnahmerechte ermöglicht, ohne die Mitgliedstaaten zu zwingen, ein ganzes Konzept zur Rolle des Opfers im Strafverfahren umzusetzen. Das erscheint souveränitätsschonend. Die diesem Harmonisierungsansatz zugrundeliegende Annahme zur Beteiligung des Opfers am Strafverfahren ist allerdings voraussetzungsreich und verpflichtet die Mitgliedstaaten im Ergebnis ebenso wie die Vorgabe einer bestimmten Verfahrensrolle zur Integration einer bestimmten Opferrechtepolitik in ihre Systeme. Während der RB 2001/220/JI die Aktivrechte des vermeintlichen Opfers noch in einen Schutzkontext gestellt hatte, dient die Teilnahme am Strafverfahren in der Richtlinie gerade nicht mehr allein als Mittel zum Schutz, sondern ist eigenständig ausgestaltet.341 Welche Interessen das vermeintliche Opfer im Strafverfahren aktiv verfolgen können soll, ergibt sich aus den in der Richtlinie vorgesehenen Beteiligungsrechten. Daraus folgt zugleich, welche Interessen die Richtlinie keiner verbindlichen Lösung im Strafjustizsystem zuführt. Die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen – also die Befriedigung des Entschädigungsinteresses des vermeintlichen Opfers – muss nach der Richtlinie nicht notwendigerweise im Strafverfahren erfolgen, vgl. Art. 16 Abs. 1. Insofern ist Meier zu widersprechen, der aus Art. 1 Abs. 1 ableitet, es sei unzulässig, das Opfers zur Durchsetzung seiner aus der Straftat folgenden Ansprüche auf den Zivilprozess zu verweisen.342 Der Programmsatz gibt weder vor, dass die Beteiligung des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren gerade auf die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gerichtet sein muss, noch dass ein Verweis des Opfers auf andere Rechtswege ausgeschlossen sein soll. Art. 16 Abs. 1 untermauert dies, indem er 341 342

Siehe ausführlich Kap. 2 A IV 1 b) bb). Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1389.

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ausdrücklich klarstellt, dass ein Verweis auf den Zivilrechtsweg auch unter Geltung der Richtlinie möglich bleibt. Ebenso wenig ordnet die Richtlinie an, dass die Befriedigung des Entschädigungsinteresses strafmildernd bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müsste. Zivilrechtsstreit und Strafsache müssen folglich nach der Richtlinie nicht miteinander verbunden werden und die Reaktion auf das mit der Straftat verbundene öffentliche Unrecht und die Reaktion auf die Realdimension der Straftat werden zumindest insoweit nicht miteinander verschmolzen.343 Ebenso wenig verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten dazu, Wiedergutmachungslösungen in das Strafverfahren zu integrieren. Vielmehr wird ihnen freigestellt, solche Dienste zu implementieren, und eine ggf. damit gefundene Vereinbarung kann, muss aber nicht im weiteren Strafverfahren Berücksichtigung finden, Art. 12 Abs. 1 lit. d, Abs. 2.344 Zwar weist die Richtlinie insofern Züge von alternativen Konfliktlösungsmodellen aus dem Restorative Justice-Bereich auf, als sie die Straftat auch als Verletzung des Einzelnen definiert.345 Indes fordert sie nicht, dass die Versöhnung von Opfer und Täter Bestandteil und Ziel des Strafverfahrens werde oder restorative Modelle zur Lösung strafrechtlich relevanter Konflikte den Strafprozess ablösen müssten.346 Die Umwandlung des Strafverfahrens entsprechend einem restorativen Konzept und die Befriedigung eines Versöhnungsinteresses des vermeintlichen Opfers im Strafverfahren sind in der Richtlinie damit nicht angelegt. Stattdessen rückt die Richtlinie therapeutische und retributive Interessen des Opfers in den Mittelpunkt. Maßgebend dafür sind die beiden, allen vermeintlichen Opfern einzuräumenden Offensivrechte in Artt. 10 und 11.347 Insofern erkennt die Richtlinie zum einen ein Interesse des Opfers an der Verarbeitung der Tat mittels kathartischer Kommunikation im Strafverfahren und sein Bedürfnis nach einer aktiven Verfahrensposition an. Die Vermittlung einer aktiven Verfahrensposition soll

343 Dazu, dass die Anerkennung von Schadensersatzzahlungen an das Opfer als Teil der Strafe die Aufhebung der Trennung von Straf- und Zivilrecht indiziere Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 301. 344 Dass die Berücksichtigung des Ergebnisses im Strafverfahren optional ist, ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut. Die deutsche Version lautet „kann berücksichtigt werden“, die englische „may be taken into account“. Bestätigt wird dies von der Gesetzgebungsgeschichte. Während in Art. 11 Abs. 1 lit. d KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011 noch normiert war, dass Vereinbarungen im Strafverfahren berücksichtigt werden sollten, müssen sie nach der Finalversion nur noch berücksichtigt werden können. A.A. ohne Begründung Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 16. 345 Dazu, dass insbesondere Restorative Justice-Ansätze die Straftat (neben dem öffentlichen Unrecht auch) als Verletzung des einzelnen begreifen van Ness, Crim. L. F. 4 (1993), 251, 259; auch Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 315. 346 Siehe dazu im Kontext von Restorative Justice-Ansätzen van Ness, Crim. L. F. 4 (1993), 251, 259 f.; Walklate, Victimology, S. 119 f. 347 Siehe zum Anwendungsbereich von Art. 11 in Abhängigkeit von der Tatschwere Kap. 2 A IV 2 a).

A. Inhaltliche Vorgaben

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seine Zufriedenheit mit dem Strafverfahren steigern.348 Beide Interessen muss es mit dem Gehörsrecht verfolgen können. Zum anderen wird in der Richtlinie ein subjektives Interesse des Opfers am Ausgang des Strafverfahrens und am Ergehen des Strafurteils anerkannt.349 Um dies zu verfolgen, soll das vermeintliche Opfer Hinweise zur Sachverhaltsaufklärung und Strafzumessung beitragen können. Zudem kann es seinem subjektiven, auf die Unrechtfeststellung bezogenen Genugtuungsinteresse mit einer rechtsschutzähnlichen Intervention Ausdruck verleihen, indem es Einstellungsentscheidungen überprüfen lässt. Das Strafverfahren wird so als Verfahren auch des Opfers konzipiert, für das etwas darin auf dem Spiel steht und das durch das verfahrensbeende Strafurteil unmittelbar tangiert wird. Dies geschieht, ohne dem vermeintlichen Opfer eine Ankläger-ähnliche Stellung mit entsprechenden Verfolgungsrechten – die über Gehör, Beweisbeibringung und Anfechtung von Einstellungsentscheidungen hinausgingen – einzuräumen. Eine der deutschen Nebenklage vergleichbare Position verschafft die Richtlinie dem potentiellen Opfer nicht.350 Doch auch ohne das vermeintliche Opfer wie einen Verfolger auszustatten oder das Strafverfahren zu reprivatisieren, bewirkt die Richtlinie, dass die Interessen des Opfers im Strafverfahren berücksichtigt werden müssen und der Prozess (nicht mehr) als zweipoliges Verfahren aufgefasst werden kann. Dabei geht die Richtlinie von einer primär retributiven Ausrichtung des Strafverfahrens aus, in das das Opfer mit seinen Interessen neben den öffentlichen Interessen zu integrieren ist. Das Teilnahmekonzept der Richtlinie statuiert damit einen Paradigmenwechsel.351 Traditionell ist die Strafrechtspflege staats- bzw. gemeinschaftszentriert ausgestaltet. Eine Straftat wird als öffentliches, die Allgemeinheit tangierendes Unrecht konzipiert und die Strafverfolgung im öffentlichen Interesse betrieben.352 Die EU hingegen leitet zu einem Straftat- und Strafjustizverständnis über, das öffentliche und private Elemente verbindet.353 Ein besonderes Interesse des Opfers an Durchführung und Ausgang des Strafverfahrens, in dem das ihm widerfahrene Unrecht festgestellt wird und in dem es mit eigenen Rechten auftreten kann, wird anerkannt. Dem Opfer wird so ein eigener Platz im Strafprozess eingeräumt, allerdings ohne dass das Verfahren durch die Zuerkennung einer eigenen Verfolgerrolle des Opfers teilprivatisiert oder durch Ausrichtung auf einen restorativen Ansatz umgestaltet würde. Das führt zu einer prozessualen Dreipoligkeit des Grundschemas 348

Ausführlich Kap. 2 A IV 1 b) cc). Das Ziel, mittels Gehör die Zufriedenheit des Opfers mit dem Strafverfahren zu steigern, unterstreicht zudem, dass das Opfer als Verfahrensbeteiligter mit eigenen legitimen Interessen am Strafverfahrensausgang anzuerkennen ist – denn nur unter dieser Annahme ist die Steigerung seiner Zufriedenheit mit dem Verfahrensausgang notwendig. 349 Ausführlich Kap. 2 A IV 1 b) bb), 2 b) bb) (2) (b). 350 Ebenso Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 458. 351 A.A. Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1397. 352 Siehe ausführlich Kap. 2 B I 1, Kap. 3 A I. 353 Siehe zur Auflösung des „public/private divide“ in anderen internationalen Vorgaben Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 301 f.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

der Strafjustiz, die zu einer Angelegenheit zwischen Staat, Täter und Opfer wird.354 Die Mitgliedstaaten sind zur Umsetzung der Richtlinienziele unionsrechtlich verpflichtet. Auch wenn sie dem vermeintlichen Opfer keine einem Ankläger vergleichbare Parteistellung im Strafverfahrenssystem einräumen und das Verfahren auch nicht nach restorativen Grundsätzen umgestalten müssen, müssen sie doch die Perspektive des (vermeintlichen) Opfers entsprechend der Unionsvorgaben (neu) in ihren Systemen gewichten. Richtig ist, dass ein strafrechtlich relevantes Verhalten in der Regel auch eine Realdimension zeitigt und der unmittelbar durch ein strafrechtlich relevantes Verhalten Betroffene gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Unterstützung verdient. Offen ist aber, ob das Strafverfahren – wie von der EU propagiert – die beste Umgebung dafür bietet. Offen ist auch, wie sich die von der Richtlinie vorgegebene Konzeption der Teilnahme des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren auf die Position des Angeklagten und die mitgliedstaatlichen Systeme auswirkt. Dem ist nachzugehen.355

V. Schutz Ein weiteres Hauptziel der Richtlinie ist der Schutz von Opfern und ihrer Angehörigen, besonders vor sekundärer Viktimisierung im Strafverfahren. Dem ist das vierte Richtlinienkapitel gewidmet. 1. Universelle Schutzansprüche Die Richtlinie unterscheidet Schutzansprüche zugunsten aller Opfer und zugunsten von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen. Art. 18 verbürgt einen allgemeinen Anspruch auf Schutzmaßnahmen vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung. Abgedeckt wird damit zum einen der Schutz vor nachteiligen Auswirkungen im und durch den Strafprozess (sekundäre Viktimisierung) sowie zum anderen der Schutz vor Gefahren, die vom (vermeintlichen) Täter ausgehen und die auch außerhalb und unabhängig vom Strafprozess 354

So auch Brodowski, ZIS 2011, 940, 949. Diese Auffassung findet auch darin ihren Ausdruck, dass die EU die Zielausrichtung der nationalen Justizsysteme auf die Verfolgung des vermeintlichen Täters kritisiert, weil darin die Opfer vergessen würden, EU-Pressemitteilung „Victims’ rights: Frequently asked questions“ v. 18. 5. 2011, MEMO/11/310. – Noch weitergehend Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 4, 18 (nach der Richtlinie solle das Strafjustizsystem zu einem Forum für alle Opfer werden, der Fokus des Strafrechts würde verändert, nicht mehr die Resozialisierung des Straftäters stünde im Mittelpunkt, sondern allein der Schutz des Opfers); Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 31 Fn. 50 (die Berücksichtigung verschiedener Opferbelange würde in der Richtlinie derart ausgebaut, dass der ganze Strafprozess vom Opfer her konzipiert werde). 355 Siehe Kap. 2 B, C, Kap. 3.

A. Inhaltliche Vorgaben

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auftreten können (Einschüchterung, Vergeltung). Art. 18 spezifiziert die von den Mitgliedstaaten bereitzuhaltenden Schutzmaßnahmen nicht, laut der Kommission ist die Vorgabe aber weit auszulegen und ein ganzheitlicher Ansatz zu wählen.356 Neben diesem generischen Schutzanspruch sieht die Richtlinie spezifische Schutzrechte vor, die für alle Opfer gelten. Gemäß Art. 19 ist im Gerichtsgebäude ein Zusammentreffen mit dem vermeintlichen Täter zu vermeiden. Primär geht es dabei um bauliche und organisatorische Vorkehrungen und nicht um den zwingenden Kontaktausschluss im eigentlichen Verhandlungssaal.357 Art. 20 zielt darauf, prozessimmanente Belastungen zu reduzieren durch Schutzmaßnahmen während der Ermittlungen. Insofern sind Opfer unverzüglich, so wenig wie möglich und nur wenn es für den Zweck der Ermittlungen unbedingt erforderlich ist, zu vernehmen oder körperlich zu untersuchen. Zudem kann sich das Opfer von einem Rechtsbeistand und einer Vertrauensperson begleiten lassen. Art. 21 verpflichtet die Mitgliedstaaten zum Schutz der Privatsphäre von Opfern unter Achtung der Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit.358 2. Vorgaben für Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen Ein zentrales Anliegen der Richtlinie ist die angemessene Behandlung von „Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen“. Um sie gezielt zu schützen, führt die Richtlinie einen neuen Mechanismus ein, der als ihre größte Innovation bezeichnet wird359 : Die individuelle Begutachtung von Opfern zur Ermittlung besonderer Schutzbedürfnisse.360 Gem. Art. 22 Abs. 1 sollen die Mitgliedstaaten ein Opfer frühzeitig daraufhin begutachten, ob es infolge einer besonderen Gefährdung hinsichtlich sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung im Strafverfahren besonders schutzbedürftig sei. Wird ein solches Schutzbedürfnis bejaht, ist in einem zweiten Schritt zu ermitteln, welche der in Artt. 23, 24 vorgesehenen Sondermaßnahmen dem Opfer im Strafverfahren zugute kommen sollen.

356 Kommission, Guidance Document, S. 39. Erfasst sein sollen strafrechtliche, zivilrechtliche und administrative Maßnahmen, wie z. B. Beschränkungen der Veröffentlichung von Informationen im Strafverfahren, Zeugenschutzregeln und einstweilige Verfügungen. 357 Siehe Art. 19 Abs. 2 und die Erläuterungen in EG 53. 358 EG 54 weist zudem darauf hin, dass auch das Recht auf ein faires Verfahren zu beachten sei. Für zu gering erachtet den Schutz Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 460. 359 Kommission, Guidance Document, S. 44. Kritisch zu diesem Mechanismus im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Fällen Lang, Nottingham L. J. 22 (2013), 90, 96 ff. – Nach Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 18, manifestiert sich in der Personalisierung des Opferschutzes die neue Konzeption von Strafrecht auf Unionsebene, die das Opfer zentralisiere. 360 Die Frage, wie Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen zu kategorisieren seien, war ein besonderer Streitpunkt im Gesetzgebungsprozess, ausführlich Buczma, ERA Forum 2013, 235, 243 f.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Gem. Art. 22 Abs. 2 sollen als Kriterien der individuellen Begutachtung die persönlichen Merkmale des Opfers, die Art oder das Wesen der Straftat und die Umstände der Straftat herangezogen werden.361 Zusätzlich sollen Personen, die angeben, Opfer bestimmter Deliktkategorien geworden zu sein – z. B. Terrorismus, organisierte oder geschlechtsbezogene Kriminalität –, gem. Art. 22 Abs. 3 bei der Begutachtung besondere Aufmerksamkeit erfahren. EG 57 verbindet dies mit der für die Mitgliedstaaten unverbindlichen Forderung, die besondere Schutzbedürftigkeit von Opfern bestimmter Deliktkategorien zu vermuten.362 Minderjährige Opfer gelten gem. Art. 22 Abs. 4 für die Mitgliedstaaten bindend und unwiderlegbar als besonders schutzbedürftig. Kinder sind deshalb nur daraufhin zu begutachten, welche besonderen Maßnahmen ihnen aufgrund der vermuteten Schutzbedürftigkeit zugute kommen sollen. Bei allen Begutachtungen sollen die individuellen Wünsche des Opfers einbezogen werden, Opfer können deshalb trotz Feststellung ihrer Schutzbedürftigkeit der Anwendung von speziellen Schutzmaßnahmen widersprechen, Art. 22 Abs. 6. Die Begutachtung als solche können sie hingegen nicht verweigern. Damit wird das Opfer zwar nicht zum Objekt des Begutachtungsverfahrens degradiert, sein Selbstbestimmungsrecht wird aber auch nicht umfänglich gewahrt.363 Schließlich ist die Begutachtung in jedem Fall vorzunehmen.364 Nur der Begutachtungsumfang kann variabel gestaltet werden, Art. 22 Abs. 5. Art. 22 gibt nicht vor, wer die Begutachtung durchführen soll.365 Nur die finale Entscheidung über die konkrete Anwendung einer Schutzmaßnahme, die aufgrund der Begutachtung ergriffen werden soll, überträgt Art. 23 Abs. 1 zwingend einem Gericht. Jedenfalls scheinen die Mitgliedstaaten aber ein formalisiertes Feststellungsverfahren einführen zu müssen.366 Denn Art. 22 Abs. 1 bestimmt, dass ein besonderer Schutzbedarf „ermittelt“ wird und sodann die notwendigen Schutzmaßnahmen „festgestellt“ werden. Entsprechend beschreibt die Kommission die Untersuchung formalisiert als Prozess mit zwei Schritten und fordert die Mitgliedstaaten auf, eine für die Begutachtung zuständige Instanz festzulegen und ein

361

EG 56 konkretisiert diese Merkmale. Siehe hierzu auch EG 15 – 18, die auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Opfern mit Behinderung sowie von Terrorismus, sexueller Gewalt und Gewalt in engen Beziehungen hinweisen. Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 184 Fn. 21 geht aufgrund von Art. 22 Abs. 3, EG 15 – 19 davon aus, dass die meisten Opfer als besonders schutzbedürftig einzuschätzen seien. 363 Ähnlich aber positiver in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 222. Schmälzger, Europ. L. Reporter 10 (2011), 301, 307 fordert ebenfalls ein Vetorecht des Opfers gegen die Durchführung der Untersuchung. 364 So auch Bock, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 81. 365 Kommission, Guidance Document, S. 45, schlägt insofern Polizei, Opferunterstützungsdienste, Gerichte oder sonstige Einrichtungen vor, plädiert aber für die beiden erst Genannten. 366 So auch Bock, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 81; dies., ZIS 2013, 201, 209. 362

A. Inhaltliche Vorgaben

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objektives Verfahren zu entwickeln.367 Zudem weist sie explizit darauf hin, dass das nationale Recht Rechtsmittel für Opfer vorsehen könne, die mit der Begutachtung oder den zugesprochenen Schutzmaßnahmen unzufrieden seien.368 Schließlich verleiht das Untersuchungsergebnis als schutzwürdig eingestuften Opfern einen Anspruch auf die Schutzmaßnahmen. Zusammengenommen zeigt dies, dass die EU das Begutachtungsverfahren nicht bloß, wie an anderer Stelle angenommen,369 als formlose Einstufung, sondern als ein geregeltes Verfahren antizipiert. Alle vermeintlichen Opfer obligatorisch in einem formalisierten Verfahren individuell zu untersuchen, ist praktisch eine enorme Herausforderung und dürfte erhebliche Kosten verursachen.370 Als Ergebnis der Begutachtung sollen vulnerable Opfer besondere Schutzmaßnahmen im Strafverfahren erhalten. Welche Maßnahmen die Mitgliedstaaten mindestens vorsehen müssen, ist in Artt. 23, 24 geregelt. Art. 23 nennt Schutzmaßnahmen, die allen als schutzbedürftig identifizierten Opfern zur Verfügung zu stellen sind, und differenziert dabei zwischen Ermittlungs- und Hauptverfahrensphase. Während der strafrechtlichen Ermittlungen müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die Vernehmung des Opfers in geeigneten Räumlichkeiten von Fachpersonal und möglichst stets derselben Person durchgeführt wird. Opfer sexueller bzw. geschlechtsbezogener Gewalt oder Gewalt in engen Beziehungen sollen zudem auf ihren Wunsch möglichst von einer gleichgeschlechtlichen Person vernommen werden. Während der Gerichtsverhandlung haben Opfer einen Anspruch auf Installation eines Sichtschutzes, Vernehmung außerhalb des Gerichtssaals, Verzicht auf unnötige Befragungen zu ihrem Privatleben und Ausschluss der Öffentlichkeit, Art. 23 Abs. 3. Art. 24 ist den Bedürfnissen minderjähriger Opfer gewidmet.371

VI. Ergebnis Die Richtlinie 2012/29/EU geht erheblich über den RB 2001/220/JI hinaus, z. B. in Bezug auf das Recht zu verstehen und verstanden zu werden, den Zugang zu Opferunterstützungsdiensten, den im Kontext des Strafverfahrens verfügbaren Schutz, am wichtigsten aber in Bezug auf das neue Recht, Nichtverfolgungsent-

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Kommission, Guidance Document, S. 44 f. Kommission, Guidance Document, S. 45. Bock, ZIS 2013, 201, 209, wirft deshalb die Frage auf, ob dem Opfer nach Art. 19 Abs. 4 GG ein Rechtsanspruch gegen die Verweigerung der Zuerkennung des Opferstatus einzuräumen ist. Dagegen Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1396. 369 Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1395 f. 370 Krit. auch Bock, ZIS 2013, 201, 209. 371 Zu den Einschränkungen der Schutzmaßnahmen siehe unten Kap. 2 C II 1 a). 368

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

scheidungen anzufechten.372 Zugleich sind die Richtlinienvorgaben konkreter formuliert und lassen den Mitgliedstaaten weniger Umsetzungsspielraum als die Rahmenbeschlussvorgaben. Insgesamt ist die Richtlinie 2012/29/EU damit sehr ambitioniert. Auf nationaler Ebene wird häufig kritisiert, größtes Problem der Opferrechtegesetzgebung sei das Fehlen verbindlicher Vorgaben und effizienter Rechtsmittel für Verletzte, weshalb die Praxis Opferrechte oft unbeschadet ignoriere und Reformgesetze die reale Position der Betroffenen letztlich nicht spürbar verbesserten.373 Bei der Umsetzung der Richtlinienvorgaben können die Mitgliedstaaten grds. Form und Mittel wählen, Art. 288 Abs. 3 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV. Das Effektivitätsprinzip verlangt aber, dass die Umsetzungsvorschriften veröffentlicht werden, Außenwirkung entfalten und vor nationalen Behörden und Gerichten durchsetzbar sind.374 Richtlinienvorgaben, die Rechte von Individualpersonen begründen, müssen zudem so bestimmt, klar und transparent umgesetzt werden, dass der einzelne von seinem Recht Kenntnis nehmen und es gerichtlich durchsetzen kann.375 Die meisten Vorgaben der RL 2012/29/EU, etwa zu Information, Schutz und Teilnahme, zielen darauf, dem Verletzten Ansprüche zu vermitteln und müssen daher in klaren, verbindlichen Gesetzen normiert werden. Die national teils verbreitete Praxis, Opfer„Rechte“ symbolisch in nicht justiziablen Dokumenten zu benennen, ist damit im Geltungsbereich der Opferrechterichtlinie nicht länger zulässig.376 Die Richtlinie gibt allerdings nicht vor, welche Rechtsmittel Opfern bei der Verletzung ihrer unionsrechtlich unterfütterten Rechte einzuräumen und wie Rechtsverletzungen zu 372 Siehe auch EG 65. Für eine Gegenüberstellung beider Rechtsinstrumente siehe Buczma, ERA Forum 2013, 235, 246 ff.; Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 246 f.; Peers, EU Justice and Home Affairs Law, Vol. II, S. 153 ff. 373 Doak, Victims’ Rights, S. 15 f., 19; Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 42; Hall, Victims and Policy Making, S. 22, 148 ff.; Jackson, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 65, 71 f., 79; ders., J. L. Society 30 (2003), 309, 319, 326; Victims’ Commissioner, A Review of Complaints and Resolution for Victims of Crime, 01.2015, abrufbar unter: goo.gl/HKpbJ2 (30. 1. 2018); Victim Support UK, Making a Victims Law a Reality, A Manifesto for Victims and Witnesses of Crime, 04.2015, S. 2, abrufbar unter: goo.gl/vYOFM2 (30. 1. 2018); siehe zu entsprechenden politischen Reformbestrebungen in England Kap. 3 A III 2 a) ee) (1) (b). Vgl. auch BVerfGK, 9. 10. 2007, BvR 1671/07 Rn. 10 mit abl. Besprechung Wenkse, NStZ 2008, 434 ff.: der deutsche Gesetzgeber solle den Verstoß gegen eine Hinweispflicht des Opfers mit einer Wiedereinsetzungsregelung flankieren. A.A. Hall, Victims and Policy Making, S. 163 f.: Opferrechte würden durch einen Wandel in der gerichtlichen Kultur gestärkt, dafür brauche es nicht zwingend gesetzlicher Regelungen und Durchsetzungsmechanismen; Wenkse, NStZ 2008, 434, 437. 374 Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 77 ff. mwN. 375 EuGH, 28. 02. 1991, Rs. C-131/88 (Deutschland v. Rat), Slg. 1991 I-865 Rn. 7 f.; für weitere Erläuterungen siehe z. B. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 92 f.; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 83. 376 England z. B. erließ zunächst nur die rechtlich unverbindliche Victims’ Charta, siehe Doak, Victims’ Rights, S. 13; Jackson, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 65, 72 und Kap. 3 A III 2 a) ee) (1). Für einen Rechtsordnungen übergreifenden Überblick siehe Hall, Victims and Policy Making, S. 143 f., 150 f.

A. Inhaltliche Vorgaben

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kompensieren sind. Die Normierung solcher Rechtsmittel wirft besonders im strafprozessualen Kontext schwierige Abwägungsfragen auf. Beispielsweise kann eine Aussetzung des Strafverfahrens, bis der Streit über die Gewährung eines Opferrechts – z. B., ob ein Betroffener sein Gehörsrecht in angemessener Form wahrnehmen konnte – entschieden ist, das Verfahren für den Angeklagten unzumutbar verzögern.377 Die Handhabung erledigter Sachverhalte ist noch komplexer. Hat ein Opfer z. B. den Hauptverhandlungstermin aufgrund fehlender Information verpasst, stellt sich die Frage, ob der Termin, ggf. auch der ganze Prozess zu wiederholen sind, um das Opferrecht nachträglich zu gewähren. Ein erneuter öffentlicher Prozess kann den Angeklagten enorm belasten.378 Auf nationaler Ebene werden deshalb vom Strafverfahren unabhängige Lösungsmodelle diskutiert. Die Vorschläge reichen von Strafverfolgungsbehörden-internen Beschwerdeverfahren zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verstoßes,379 über die Installation unabhängiger Ombudsstellen,380 bis hin zu Schadensersatzregimen381. Diesen Lösungsansätzen ist gemein, dass sie den laufenden bzw. abgeschlossenen Strafprozess im Wesentlichen unberührt lassen und so die Position des Angeklagten schonen. Allerdings kompensieren sie die Rechtsverletzung des Opfers nicht unmittelbar.382 Ein Regime zu entwerfen, das beide Positionen ausbalanciert, ist schwierig. Wohl nicht zuletzt deshalb enthält die Richtlinie nur vereinzelte bereichsspezifische Vorgaben zu Beschwerdemöglichkeiten für Opfer383 und überlässt die Entscheidung über die Einführung eines allgemeinen Rechtsmittelregimes und dessen Ausgestaltung bewusst den nationalen Gesetzgebern.384 Im Ergebnis löst die Richtlinie so nur einen der auf nationaler Ebene geäußerten Kritikpunkte. Inwieweit die zuständigen na-

377

Siehe hierzu Klip, European Criminal Law, S. 334. Krit. deshalb auf nationaler Ebene Wenkse, NStZ 2008, 434, 436. 379 Im deutschen Recht z. B. kann der Verletzte bei einem Verstoß gegen die Hinweispflicht gem. § 406i Abs. 1 StPO Dienstaufsichtsbeschwerde erheben und ggf. Amtshaftungsansprüche geltend machen, nicht aber Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand im Strafverfahren begehren, siehe BVerfGK, 9. 10. 2007, BvR 1671/07 Rn. 12 f.; (krit.) Graf, in: ders., StPO, § 406d Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 406i Rn. 7 (mwN); Schöch, in: SSW-StPO, § 406i Rn. 6. Auf das Strafverfahren hat der Verstoß keine unmittelbaren Auswirkungen, Pollähne, in: HK-StPO, § 406d Rn. 13. Zu den Rechtsmitteln des Verletzten in Österreich Eder-Rieder, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 253 ff. 380 Siehe dazu im englischen Recht Kap. 3 A III 2 a) ee) (1) (b). 381 Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 188. 382 Zu den Vor- und Nachteilen von Beschwerdeinstanzen wie Ombudsmänner gegenüber gerichtlichem Rechtsschutz aus Opfersicht siehe Centre for the Study of Democracy, Final Study, S. 118. 383 Vgl. Art. 7 Abs. 7, 8 und Art. 11 Abs. 1, 2. 384 Siehe insofern Art. 4 Abs. 1 lit. h, der ausdrücklich normiert, dass Opfer nur über verfügbare Beschwerdeverfahren zu informieren sind, wenn die zuständige Strafverfolgungsbehörde ihre Rechte verletzt. I. E. ebenso Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 188; krit. Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 28 f. 378

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

tionalen Stellen zukünftig die unionsrechtlich unterfütterten Opferrechte praktisch anwenden werden, bleibt deshalb abzuwarten.385 Jedenfalls aber bewirkt die unionsrechtliche Durchdringung der Opferrechte, dass die nationalen Gesetzgeber die Richtlinienvorgaben umsetzen und nationale Rechtsvorschriften in diesem Bereich nicht mehr im Widerspruch zu den Richtlinienvorgaben ändern dürfen.386 Außerdem müssen die nationalen Gerichte das gesamte nationale Recht im Regelungsbereich der Opferrechterichtlinie im Lichte ihrer Ziele auslegen, unabhängig davon, ob es vor oder nach Inkrafttreten der Richtlinie erlassen worden ist.387 Seit Auflösung der Säulenstruktur durch den Vertrag von Lissabon ist außerdem der EuGH umfassend und gemäß den allgemeinen Bestimmungen in Artt. 252 – 281 AEUV für den Rechtsschutz im RFSR zuständig.388 Ohne dass ein Mitgliedstaat dem zuvor ausdrücklich hätte zugestimmt haben müssen, obliegt dem Gerichtshof somit die finale und für die Mitgliedstaaten verbindliche Entscheidung über die Auslegung der Richtlinienvorgaben. Dazu kann bzw. muss der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV angerufen werden. Außerdem kann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV gegen Mitgliedstaaten anstrengen, die ihrer Umsetzungspflicht nicht nachkommen.389 Die Zeiten eines rein politischen Schlagabtausches über die ordnungsgemäße Umsetzung und Anwendung von Unionsvorgaben zu Opferrechten – wie noch beim RB 2001/220/JI390 – gehören also der Vergangenheit an. Insgesamt räumt die RL 2012/29/EU somit als erste internationale Vorgabe Opfern von Straftaten für die Nationalstaaten verbindlich und unveränderlich die Stellung eines echten Rechtssubjekts mit justiziablen Rechten in den nationalen Strafjustizsystemen ein.

B. Problemfeld 1: Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme Die Analyse der Entwicklung des inter- und supranationalen legislativen Engagements für Straftatopfer hat gezeigt, dass sich dabei stets zwei Problemfelder 385

Insofern krit. zur künftigen praktischen Anwendung der RL 2012/29/EU Pemberton/ Groenhuijsen, in: Morosawa et al., Victimology, S. 535, 550 f. 386 Bieber et al., Europäische Union, § 6 Rn. 32. 387 EuGH, 13. 11. 1990, Rs. C-106/89 (Marleasing), Slg. 1990 I-04135 Rn. 8; Streinz, Europarecht, Rn. 503. Grundlegend zur st. Rspr. der richtlinienkonformen Auslegung EuGH, 10. 4. 1984, Rs. C-14/83 (Colson u. Kamann), Slg. 1984 I-1891 Rn. 26. 388 Gärditz, in: Böse, Enz EuR Bd. 9, § 24 Rn. 47. 389 Pemberton/Groenhuijsen, in: Morosawa et al., Victimology, S. 535, 553, bezweifeln indes, dass die Kommission die nötige Kompetenz in viktimologischen Fragestellungen und praktische Ressourcen zur Überprüfung der Umsetzung und Einhaltung der Richtlinie habe. 390 Siehe oben Kap. 1 B III 2.

B. Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme

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auftun.391 Eines davon betrifft die Vorgabe einheitlicher Opferrechte im Kontext unterschiedlich ausgestalteter Rollen des Opfers in den nationalen Strafjustizsystemen. Bei dem Erlass von Mindeststandards zu Opferrechten ist der Unionsgesetzgeber primärrechtlich verpflichtet, sich mit diesem Problemfeld zu befassen und insbesondere den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen, Art. 82 Abs. 2 S. 2 AEUV.392 Ob und inwieweit es ihm gelungen ist, dieser Pflicht bei der Gestaltung der Opferrechterichtlinie nachzukommen, wird im Folgenden untersucht. Aufschluss darüber gibt zum einen die Betrachtung der Endfassung der Richtlinie unter dem Blickwinkel, in wie weit sie verbindliche Regelungsvorgaben für die Mitgliedstaaten enthält bzw. ihnen gerade in Rücksichtnahme auf die nationalen Systeme Umsetzungsermessen einräumt. Zum anderen ist ein Blick auf die Aktivitäten der Mitgliedstaaten instruktiv, die über ihre ministerialen Vertreter im Rat mittelbar am Gesetzgebungsverfahren auf Unionsebene beteiligt sind.393 Durch den Wegfall des Einstimmigkeitserfordernisses im Rat und die Einführung des Mitspracherechts des Europäischen Parlaments ist der Einfluss der Repräsentanten der Nationalstaaten im gegenwärtigen supranationalen Gesetzgebungsverfahren zwar gegenüber der Rechtslage im intergouvernementalen System vor Geltung des Lissaboner Vertrages reduziert,394 aber dennoch existent und sichtbar. Um eine Einigung von Rat und Europäischem Parlament bereits in der ersten Lesung gem. Art. 294 Abs. 4 AEUV zu ermöglichen, führen Vertreter von Rat, Parlament und Kommission frühzeitig im Gesetzgebungsverfahren informelle Verhandlungen.395 Ein solcher Trilog der Organe fand auch während des Verfahrens zum Erlass der RL 2012/29/EU statt. Ein Vergleich der Verhandlungsgrundlagen aus dem Trilog-Verfahren zeigt, welche Regelungsvorschläge der Kommission besondere Änderungsbemühungen im Rat ausgelöst haben. Die Betrachtung der Verhandlungsdokumente demonstriert somit, welche Richtlinienvorgaben aus nationalem Blickwinkel besonders konfliktträchtig waren, und ob diesem Konfliktpotential durch eine entsprechende Änderung des Regelungsvorschlags abgeholfen werden konnte.396 Darüber hinaus ist aus mitgliedstaatlicher Sicht unter Souveränitätsgesichtspunkten von Bedeutung, ob die EU ihre sonstigen kompetenzrechtlichen Grenzen bei Erlass der Richtlinie eingehalten hat.

391

Siehe Kap. 1. Ausführlich Kap. 1 D I 5. 393 Siehe Kap. 1 D II 2. 394 Siehe Kap. 1 B, D II 2. 395 Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 294 AEUV Rn. 26. 396 Den Ratsdokumenten lässt sich allerdings in der Regel nicht entnehmen, welche Delegation auf eine bestimmte Änderung hingewirkt hat, weil diese Angaben in den öffentlich einsehbaren Dokumentenversionen zumeist geschwärzt sind. 392

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

I. Durchsetzung mitgliedstaatlicher Interessen in der Richtliniengestaltung Eine Analyse des Engagements der nationalen Vertreter in den Gesetzgebungsverhandlungen zeigt, dass die vorgeschlagenen Richtlinienvorgaben aus nationaler Perspektive drei primäre Bedenken ausgelöst haben. Korrespondierend dazu verfolgten die Mitgliedstaatenvertreter im Gesetzgebungsverfahren hauptsächlich drei Ziele: Protektion der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme, Kostenreduktion sowie Schutz übergeordneter nationaler Interessen.397 Daneben setzte sich der Rat für einen stärkeren Schutz der Beschuldigtenrechte in der Richtlinie ein.398 1. Protektion der mitgliedstaatlichen Systeme Das dominanteste Interesse der mitgliedstaatlichen Vertreter bei Erlass der Richtlinie war, ihre nationalen Strafjustizsysteme vor grundlegenden Änderungen zu schützen. Eine besondere Rolle spielte dabei die Befürchtung, die EU könne eine einheitliche Rolle für das vermeintliche Opfer – z. B. als Prozesspartei – im Strafverfahren vorgeben. Die Einflussnahme aus diesem Motiv konzentrierte sich deshalb primär auf Richtlinienvorgaben zur Beteiligung des vermeintlichen Opfers am Strafverfahren. Die wichtigste Vorgabe zum Schutz der nationalstaatlichen Rechtsordnungen ist EG 20. Im Richtlinienvorschlag der Kommission war er noch nicht enthalten, sondern ist erst auf die Forderung des Rates in den Rechtsakt aufgenommen worden.399 Damit erreichte der Rat die explizite Anerkennung, dass Stellung und Teilnahmemöglichkeiten des Opfers in den nationalen Strafrechtsordnungen differieren, sowie die Klarstellung, dass die Richtlinie kein übergeordnetes formales Konzept zur Rolle des (vermeintlichen) Opfers im Strafjustizsystem normiert. Darüber hinaus bewirkte der Rat so indirekt, dass die Mitgliedstaaten die Zuerkennung einiger Richtlinien397 Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 392, führt das Engagement der Nationalvertreter im Gesetzgebungsprozess drauf zurück, dass seit dem Lissaboner Vertrag die Umsetzung von Richtlinienvorgaben durch die Kommission via Vertragsverletzungsverfahren erzwungen werden kann, die Interpretation der Vorgaben dem EuGH obliegt und die Vorgaben unmittelbare Wirkung entfalten können. Deshalb wünschten sich die Nationalvertreter präzisere Vorgaben, die EuGH und Kommission wenig Spielraum zur eigenen Interpretation überließen, die sie jetzt – anders als unter dem Vertragswerk vor Lissabon – gerichtlich durchsetzen könnten. Zudem seien unter der neuen Rechtslage praktikable Vorgaben aus mitgliedstaatlicher Sicht wichtiger, weil sie bei mangelnder Umsetzung Konsequenzen zu befürchten hätten. Die Änderungen im institutionellen Machtgefüge mögen die Aktivitäten der mitgliedstaatlichen Vertreter im Rat beeinflusst haben, ob sie allerdings allein deren differenzierte Intervention in verschiedenen Regelungsbereichen erklären können, ist zweifelhaft. 398 Siehe dazu ausführlich Kap. 2 C. – Daneben spielte die Steigerung der Praktikabilität der Vorgaben eine Rolle für den Rat, vgl. z. B. die Aufnahme der Ausnahme von der Garantie einer gleichgeschlechtlichen Vernehmungsperson bei richterlichen Vernehmungen in Art. 22 Abs. 2 lit. d. 399 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, EG 10 c.

B. Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme

197

rechte in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen nationalen System ausgestalten und ihren Anwendungsbereich so einschränken können.400 Grundlegende Kritik der Mitgliedstaaten stiftete zudem die Vorgabe eines Opferrechts, Nichtverfolgungsentscheidungen anzufechten. Der Kommissionsvorschlag hatte noch ohne Ausnahmeregelung jedem Opfer das Recht garantieren wollen, eine Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung überprüfen zu lassen.401 Dass das innerstaatliche Recht für die Gestaltung des Prüfverfahrens maßgebend ist, hätte nur in einem rechtlich unverbindlichen Erwägungsgrund erwähnt werden sollen.402 Im Rat wurde das Anfechtungsrecht kontrovers diskutiert und im Ergebnis – gegen Proteste der Kommission – erheblich eingeschränkt. So verkündete ein Nationalvertreter grundsätzliche Bedenken gegen das Recht, weil nach seiner nationalen Verfassung eine Überprüfung von staatsanwaltschaftlichen Einstellungsentscheidungen nicht möglich sei, und andere Delegationen forderten, dass die Einräumung eines Überprüfungsrechts dem nationalen Recht vorbehalten bleiben sollte.403 Diese Auseinandersetzung mündete in den geltenden Kompromiss, dass das Anfechtungsrecht Opfern, außer im Falle schwerer Straftaten, nur in Abhängigkeit von ihrer Stellung in der nationalen Strafrechtsordnung gewährt werden muss.404 Ähnliche Kritik entfachte der Kommissionsvorschlag, die Regelung des Verfahrens dem mitgliedstaatlichen Recht nur gemäß einem unverbindlichen EG zu überlassen. Gefordert und durchgesetzt wurde, dass dieses Zugeständnis an die Regelungsfreiheit der Mitgliedstaaten in den rechtsverbindlichen Artikel transferiert wurde.405 Schließlich erzwang der Rat gegen Einwände der Kommission406 auch die zahlreichen weiteren Beschränkungen des Anfechtungsrechts in EG 43407 und EG 45.408 Die gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag starken Einschränkungen von Art. 11 gehen damit sämtlich auf die Initiative der mitgliedstaatlichen Vertreter 400

Dies sind Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 1, 3, Art. 11 Abs. 1, Art. 14, Art. 24 Abs. 1 lit. b. Siehe Art. 10 Abs. 1 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 402 Siehe EG 15 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 403 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 10 Fn. 54. 404 Siehe Art. 11 Abs. 1, 2 RL 2012/29/EU. Dass dieser Kompromiss auf die Trilog-Verhandlungen zurückgeht, wird daran deutlich, dass die Rückbindung an die Stellung des Opfers im Verfahren erstmals Erwähnung findet in Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 10 Abs. 1, sowie an den Hervorhebungen in Art. 10 Abs. 1, 1 lit. a der Richtlinienversion in Europäisches Parlament – Ausschüsse, Änderungsanträge A7 – 0244/ 001 – 001 v. 6. 9. 2012. 405 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 10 Abs. 1; Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 10 Abs. 1 S. 2. Siehe auch Art. 11 Abs. 1 S. 2 RL 2012/29/EU. 406 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 10 Fn. 29. 407 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, EG 15. 408 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 10 Abs. 3; Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 10 Abs. 3; Europäisches Parlament – Ausschüsse, Änderungsanträge A7 – 0244/001 – 001 v. 6. 9. 2012, EG 15(b). Zum Inhalt von EG 45 siehe Kap. 2 A IV 2 a). 401

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

zurück. Dieses Engagement bestätigt die schon im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Bedenken, dass es sich beim Anfechtungsrecht aus nationaler Sicht um eine der kontroversesten Vorgaben der Richtlinie handelt.409 Zugleich sollten die vom Rat erzielten Einschränkungen nicht über die verbleibende grundlegende Bedeutung der Vorgabe hinwegtäuschen. Zum einen müssen die Mitgliedstaaten allen vermeintlichen Opfern schwerer Straftaten das Überprüfungsrecht gewähren – diejenigen im Rat, die der Einführung des Rechts widersprochen hatten, konnten sich im Ergebnis also nicht durchsetzen. Zudem symbolisiert und bekräftigt u. a. gerade dieser Artikel die Vorgabe der Richtlinie, ein Interesse des Opfers am Ausgang des Strafverfahrens und an einer Unrechtfeststellung im Strafurteil anzuerkennen und zu verwirklichen.410 Ähnlich kontrovers war aus mitgliedstaatlicher Sicht eine mögliche Verpflichtung, restorative Elemente in die nationalen Strafverfahrensordnungen einführen zu müssen. Während der Kommissionsvorschlag in Art. 11 Abs. 2 die Mitgliedstaaten hatte verpflichten wollen, die Nutzung von Wiedergutmachungsverfahren allgemein zu unterstützen,411 stellten sich dem einige Delegationen im Rat entgegen.412 Resultat des Protestes war zum einen die Aufnahme des Zusatzes in Art. 12 Abs. 1, die in der Vorgabe definierten Schutzmaßnahmen seien nur anzuwenden, wenn überhaupt Wiedergutmachungsverfahren in der nationalen Rechtsordnung zur Verfügung gestellt werden. Er unterstreicht, dass aus Abs. 1 keine Pflicht folgt, solche Dienste einzurichten. Zudem wurde in Abs. 2 ergänzt, die Nutzung der Dienste sei nur bei Sachdienlichkeit zu unterstützen, womit den Mitgliedstaaten ein weiter Ermessensspielraum gewährt wird, sich solchen Diensten gegenüber zu positionieren. Protektionistische Tendenzen einiger Delegationen gegenüber ihren nationalen Rechtstraditionen weckte auch die von der Kommission antizipierte Verpflichtung, Opfern eine Begründung für Nichtverfolgungsentscheidungen und Verurteilungen mitzuteilen.413 Insofern setzte der Rat die Ausnahmen durch, dass dem Opfer keine

409

Siehe Kap. 1 D II 2. Ausführlich Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2). 411 Siehe Art. 11 Abs. 2 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 412 Vgl. Rat der EU, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 11 Abs. 1 Fn. 55 und Art. 11 Abs. 2 Fn. 56 f.; Rat der EU, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 11 Abs. 1, 2. 413 Darüber hinaus kritisierten die Mitgliedstaaten die Verpflichtung, Opfer über Vorgänge und Entscheidungen im Strafverfahren zu informieren. Die Einschränkung in Art. 6 Abs. 2, dass Informationen über eine rechtskräftige Entscheidung im Prozess sowie über den Fortgang des Strafverfahrens Opfern nur in Abhängigkeit von ihrer Stellung in der nationalen Strafrechtsordnung zu übermitteln sind, beruht auf einer Intervention des Rates gegen den weiter gefassten Richtlinienvorschlag, vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. a, b KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011; Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 5 Abs. 1; Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 5 Abs. 1. Die Pflicht zur Informationsgewährung gem. Art. 6 Abs. 1 konnte der Rat hingegen trotz entsprechender Versuche nicht einschränken. – Insofern muss Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal 410

B. Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme

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Begründung genannt werden muss, wenn die Entscheidung von Geschworenen getroffen wurde, die Begründung besonders vertraulich ist oder nach einzelstaatlichem Recht keine Begründung ergeht, Art. 6 Abs. 3, EG 28. Gegen diese Beschränkungen hatte sich die Kommission zwar gewehrt,414 der Rat aber hatte auf ihnen u. a. deshalb bestanden, um dem im Common Law wesentlichen Prinzip, dass eine Jury keine Gründe für eine Entscheidung nennen muss, Rechnung zu tragen.415 Schließlich bremsten die Nationalvertreter auch die Abfassung der Servicerechte. Dass die Verfahrensgestaltung nicht nur bei Art. 11, sondern auch bei Artt. 10, 13, 14 und 15 dem nationalen Recht überlassen wird, beruht auf mitgliedstaatlicher Initiative.416 Damit haben die Nationalvertreter zwar nicht erreicht, dass sie über die Gewährung der Rechte per se entscheiden können, wie bei den Rechten, die in Abhängigkeit von der Stellung des Opfers im Strafverfahren ausgestaltet worden sind. Sie haben sich aber zumindest einen gewissen Freiraum bzgl. der Art der Ausgestaltung der Rechte gesichert. Nicht entbunden sind sie damit allerdings von der Verpflichtung, das Verfahren so zu gestalten, dass der jeweilige Zweck des Rechts erreicht werden kann. Wie die Analyse von Art. 10 gezeigt hat,417 können aus dem Zweck einer Richtlinienvorgabe nicht unerhebliche Anforderungen an die Art ihrer verfahrensrechtlichen Umsetzung erwachsen. Diese exemplarische Darstellung einiger Bereiche, in denen die Ratsvertreter besonders aktiv interveniert haben, zeigt, dass sie vor allem versucht haben, grundlegende, nationalen Rechtstraditionen widersprechende strafprozessuale Vorgaben zu verhindern oder abzumildern. 2. Kostenreduktion Daneben nutzten die nationalen Vertreter ihren Einfluss im Gesetzgebungsverfahren, um kostenintensive oder in der Umsetzung aufwändige Vorgaben einzuschränken.418 Besonders deutlich zeigt sich dieses Motiv bspw. in der veränderten Ausgestaltung des Kostenerstattungsanspruchs. Der Kommissionsvorschlag sah Justice, S. 3, 5, widersprochen werden, die die These aufstellt, die Vorgaben zur Information seien alle so gestaltet, dass den Mitgliedstaaten kein Umsetzungsfreiraum bleibe. 414 Vgl. den anders lautenden Art. 4 KOM(2011) 275 endg. v. 18. 5. 2011, sowie Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 5 Fn. 18. 415 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 5 Fn. 34; Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 5 Fn. 17. Siehe auch Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 388. 416 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Artt. 9 S. 2, 12 S. 2, 13 S. 2, 14 S. 2. 417 Siehe im Zusammenhang mit Art. 10 ausführlich Kap. 2 A IV 1 c). 418 Ähnlich Ezendam/Wheldon, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 51, 54; Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 384 f. Zu der beschränkenden Wirkung finanzpolitischer Bedenken bei Erlass von EU-Opferschutzvorgaben Pemberton/Groenhuijsen, in: Morosawa et al., Victimology, S. 535, 546.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

noch vor, dass auch Opfer, die dem Verfahren lediglich aus eigenem Interesse ohne aktive Rolle beiwohnen, einen Kostenersatzanspruch haben sollten.419 Der Rat bewirkte dementgegen, dass der Anspruch einschränkend in Abhängigkeit von ihrer Stellung im Strafverfahrenssystem ausgestaltet und unter die Bedingung einer aktiven Rolle im Verfahren gestellt wurde.420 So können die Mitgliedstaaten die Anspruchsberechtigung und damit die zu erstattenden Kosten einschränkend steuern. Weiterhin erwirkte der Rat gegen den Einwand der Kommission die Aufnahme von EG 47, der eine erheblich einschränkende Auslegung des Anspruchs vorsieht.421 Ähnlich ging der Rat bei der Umgestaltung des Anspruchs des Opfers auf kostenlose Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen vor – eine Vorgabe, deren Umsetzung ebenfalls kostspielig sein kann. Hier setzte er die potentiell kostensparenden Einschränkungen durch, dass unwesentliche Passagen nicht übersetzt werden müssen,422 eine mündliche Übersetzung ausreichen kann und keine Anfechtungsmöglichkeit hinsichtlich der Qualität der Übersetzungsleistung gewährt werden muss, Art. 7 Abs. 5, 6.423 In die gleiche Kategorie fällt die auf Initiative einiger Ratsdelegationen eingefügte, einschränkende Erläuterung in EG 37 S. 1, dass Unterstützung für Opfer außerhalb des Strafverfahrens nur für eine angemessene Zeit nach der Tat gewährt werden muss.424 3. Schutz nationalstaatlicher Interessen Als drittes Ziel verfolgten die Delegationen im Rat eine Beschränkung der Richtlinienvorgaben zugunsten nationalstaatlicher Interessen. Besonders plastisch 419

Siehe Art. 13 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 13 S. 1 und Fn. 59 f. 421 Siehe zu EG 47 die Ausführungen oben Kap. 2 A IV 3. Rat, Interinstitutional File 2011/ 0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 13 Fn. 59; Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, EG 12 a und Fn. 6. 422 Durch diese Beschränkung sollte zudem ein Gleichlauf mit den Rechten des Beschuldigten auf Übersetzung in Art. 3 Abs. 4, 7 der Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, EU-Abl. L 280/1 v. 26. 10. 2010, hergestellt werden, siehe Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 7 Fn. 49. – Ob ein Dokument wesentlich ist, wird für das Opfer und den Angeklagten aus differierender Perspektive beurteilt, siehe auch Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 180 Fn. 11. Bei dem Angeklagten kommt es darauf an, ob das Dokument notwendig ist, um die Verteidigungsrechte wahrzunehmen und ein faires Verfahren zu gewährleisten, Art. 3 Abs. 1 RL 2012/64/EU. Beim Opfer ist wesentlich, ob die Information für die Ausübung seiner Rechte relevant ist, Art. 7 Abs. 3 RL 2012/29/EU. 423 Vgl. Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 7 Abs. 4, 5. Anders noch Art. 6 Abs. 6 Richtlinienvorschlag, KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, der ein Anfechtungsrecht auch bzgl. der Qualität der Übersetzung vorgesehen hatte. Die Kommission hatte sich gegen die Streichung dieses Rechts im Trilog ausgesprochen, vgl. Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 18241/11 v. 9. 12. 2011, Art. 7 Fn. 25. 424 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, EG 13 Fn. 10. 420

B. Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme

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spiegelt sich die Verfolgung eines nationalstaatlichen Interesses – im Bereich nationaler Sicherheit – in dem auf Bestreben des Rates ergänzten EG 28. Darin werden alle in der Richtlinie enthaltenen Informationspflichten unter den Vorbehalt gestellt, dass keine wesentlichen Sicherheitsinteressen des jeweiligen Mitgliedstaates der Offenlegung der Information widersprechen.425 Das Interesse an der Wahrung nationalstaatlicher Verfolgungskompetenzen motivierte das Engagement des Rates, die Anzeigeweiterleitungspflicht in transnationalen Sachverhalten zu limitieren. Der Vorschlag der Kommission hatte noch vorgesehen, dass der Wohnsitzstaat die Anzeige eines Bürgers, der in einem anderen Mitgliedstaat viktimisiert worden ist, stets an den Tatortstaat zu übermitteln hätte.426 Der Rat erwirkte indes gegen Einwände der Kommission den einschränkenden Zusatz in Art. 17 Abs. 3, dass der Wohnsitzstaat nur weiterleiten muss, wenn er seine Verfolgungszuständigkeit noch nicht selbst ausgeübt hat.427 Zudem wurde in EG 50 deklaratorisch bekräftigt, dass die Anzeigeweiterleitungspflicht in keinem Fall die Verfolgungskompetenz des Heimatstaates tangiert.428

II. Kompetenzrechtliche Erwägungen Für die Betrachtung der Richtlinienvorgaben aus mitgliedstaatlicher Perspektive ist außerdem relevant, ob die EU bei Erlass der Opferrechterichtlinie die sonstigen Grenzen ihrer Anweisungskompetenz aus Art. 82 Abs. 2 AEUV eingehalten hat und wie die Mitgliedstaaten auf eine eventuelle, ihre Souveränität angreifende Überschreitung reagiert haben. Aufschlussreich ist insofern besonders eine Betrachtung der Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Subsidiarität.429 Gem. Art. 82 Abs. 2 Uabs. 1 S. 1 AEUV muss die unionsrechtliche Vorgabe eines Opferrechts erforderlich sein, um die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension zu erleichtern.430 Es wurde bereits erläutert, dass sich diese Voraussetzung nur für wenige Opferrechte begründen lässt und die 425 Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, EG 10a. Diese Einschränkung ergibt sich grds. bereits aus Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV. Der Rat wollte sich aber offensichtlich nicht allein auf diesen Schutz seiner Sicherheitsinteressen verlassen, vgl. NowellSmith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 388. 426 Siehe Art. 16 Abs. 3 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 427 Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 16 Abs. 3 und Fn. 68. 428 Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, EG 17. 429 Siehe zur Anforderung, auf die Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen Rücksicht zu nehmen, Kap. 2 B I 1. Die Frage, ob die Union ihre grundrechtlichen Verpflichtungen insbesondere in Bezug auf die Rechte des Beschuldigten erfüllt, wird in Kap. 2 C erörtert. 430 Siehe zu diesem Kriterium ausführlich oben Kap. 1 D I 3.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Erforderlichkeitsklausel der Harmonisierungskompetenz enge Grenzen setzt.431 Die EU ist nicht berechtigt, jegliche Opferrechte, die genuinen Interessen des Einzelnen entsprechen und moralisch/politisch wünschenswert sein mögen, anzugleichen, sondern nur solche, die das für die strafjustizielle Zusammenarbeit relevante gegenseitige Vertrauen der nationalen Rechtspflegeorgane fördern. Am plausibelsten lässt sich die Erforderlichkeit für Mindeststandards herleiten, die den Schutz des (vermeintlichen) Opfers bei einer Zeugenaussage im Strafverfahren regeln. Dies gilt vor allem für die Richtlinienvorgaben in Artt. 20 ff. Insbesondere für die Vorgaben zur Unterstützung der Opfer außerhalb und unabhängig vom Strafverfahren in Artt. 8, 9 lässt sich die Erforderlichkeit hingegen kaum konstruieren.432 Definitiv nicht konstruieren lässt sie sich zudem für die aus EG 19 i.V.m. Art. 8 folgende Verpflichtung, Opfer zu unterstützen, „deren“ Täter nicht identifiziert und verfolgt werden. Wird kein Strafverfahren durchgeführt, für das die Unterstützung des Opfers außerhalb davon wenigstens mittelbar zur Steigerung des gegenseitigen Vertrauens der nationalen Rechtspflegeorgane beitragen könnte, fehlt jeder Bezug zur Verbesserung der strafjustiziellen Zusammenarbeit. Zweifelhaft ist die Erforderlichkeit ebenso bspw. in Bezug auf das Recht, sich bei einem Erstkontakt mit der Polizei von einer Vertrauensperson begleiten zu lassen, Art. 3 Abs. 3, das Recht, über Unterstützungsangebote außerhalb des Strafverfahrens informiert zu werden, Art. 4 Abs. 1 lit. a, das Recht auf eine schriftliche Anzeigebestätigung, Art. 5 As. 1, sowie die Ansprüche auf Kostenerstattung, Eigentumsrückgabe und Schadensersatz, Artt. 14 – 16. Viele der Richtlinienvorgaben erfüllen das Kriterium der Erforderlichkeit damit materiell nicht. Zudem begründet der Unionsgesetzgeber das Vorliegen dieser Voraussetzung nicht konkretisiert für jede einzelne Richtlinienvorgabe, sondern unterstellt pauschal, dass einheitliche Opferrechte das gegenseitige Vertrauen förderten und so die Zusammenarbeit erleichterten.433 Damit wird auch den formellen Begründungsanforderungen nicht Genüge getan.434 Insgesamt scheint die Auswahl der zu harmonisierenden Rechte nicht auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit abzuzielen. Vielmehr enthält sie primär Vorgaben, die aus Sicht von Unionsbürgern, die fürchten, Opfer einer Straftat zu werden, wünschenswert sein könnten. Während die Anhebung menschenrechtlicher Mindeststandards moralisch/politisch erstrebenswert sein mag, missachtet dieses Vorgehen die Grenzen der Kompetenzgrundlage und damit die Souveränität der Mitgliedstaaten.435 Allerdings haben die Mitgliedstaaten im Gesetzgebungsverfahren den Verstoß gegen die Erforderlichkeitsklausel nicht bemängelt. Dies zeigt, dass sie sich offenbar mit dem auf die Stärkung von Individualrechten anstatt auf die Verbesserung der Zusammenarbeit ausgerichteten Unionsansatz arrangieren konnten. 431 432 433 434 435

Siehe ausführlich oben Kap. 1 D I 3 a, III 1 b) aa). Siehe auch Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 391 f. Vgl. EG 1, 2 RL 2012/29/EU; KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 3 f. Siehe dazu ausführlich oben Kap. 1 D I 3, III 1 b) bb). Ausführlich oben Kap. 1 D I 3.

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Außerdem ist die EU beim Erlass der Opferrechterichtlinie zur Einhaltung des in Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzips verpflichtet.436 Danach darf der Unionsgesetzgeber nur regulierend tätig werden, soweit zum einen die Mitgliedstaaten das konkrete, durch eine Maßnahme zu regelnde Ziel nicht erreichen können und dieses Ziel zum anderen besser auf Unionsebene zu erreichen ist. Die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes muss im Gesetzesentwurf detailliert für jede einzelne Maßnahme begründet werden.437 Im Vorschlag der Opferrechterichtlinie führt die Kommission insofern aus, das Ziel des Vorschlags ließe sich auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht erreichen, weil es um die Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander ginge.438 Daher müssten gemeinsame, in der gesamten EU geltende Mindeststandards vorgesehen werden, welche nur die Union erlassen könne. Diese Begründung ist allerdings zirkulär und unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Maßnahme austauschbar.439 In der Richtlinie selbst wird in EG 67 zum Subsidiaritätsprinzip vergleichbar argumentiert, dass das Ziel der Richtlinie die Vorgabe von Mindeststandards sei, welche auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht erreicht werden könnten. Dieses Vorgehen definiert als Ziel der Maßnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 3 EUV die Rechtsangleichung, was jede Untersuchung, ob die Mitgliedstaaten dieses Ziel genauso gut erreichen könnten, leer laufen lässt. Damit schließt sich der Gesetzgeber zwar einer gängigen Argumentationsweise an,440 nimmt dem Subsidiaritätsprinzip aber zugleich jede kompetenzbeschränkende Wirkung. Zusätzlich ergänzt die Kommission ihre Vorschlagsbegründung mit dem Argument, dass die Viktimisierung eine wichtige grenzüberschreitende Dimension habe.441 Die dieser Argumentation zugrunde liegenden Belege für die grenzüberschreitende Dimension des Problems bleiben jedoch ungenau.442 Dadurch wirken die Ausführungen zur grenzüberschreitenden Dimension wie eine pflichtschuldige 436

Siehe oben Kap. 1 D I 4 b). Art. 5 Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit, EU-Abl. C 83/206 v. 30. 3. 2010; siehe auch Calliess, Subsidiaritätsprinzip, S. 105. 438 KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 13. 439 Dies wird auch daran ersichtlich, dass die Kommission die inhaltlich identische Begründung, die jeweiligen Maßnahmen dienten der Vertrauensbildung und diese sei nur über gleiche Mindeststandards zu erreichen, für die Angleichung von verschiedenen Beschuldigtenrechten auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 Uabs. 2 lit. b AEUV verwendet, vgl. etwa KOM(2011)326 endg. v. 08. 06. 2011, S. 11; KOM(2010)392 endg. v 20. 07. 2010, S. 11 f. Ebenso krit. Bock, ZIS 2013, 201, 204. 440 Auch der EuGH schließt oft von der Harmonisierungskompetenz auf die Notwendigkeit unionsrechtlichen Vorgehens, z. B. Urt. v. 12. 11. 1996, Rs. C-84/94 (Vereinigtes Königreich v. Rat der EU), Slg. 1996 I-5755 Rn. 47. Bisher hat der EuGH noch kein Gesetz wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzips für ungültig erklärt, Bergmann, in: ders., Handlexikon der Europäischen Union, Subsidiarität. Krit. zum Ganzen z. B. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 32. 441 KOM(2011)275 endg. v. 18. 05. 2011, S. 13. 442 Kap. 1 D III 1 b) bb). 437

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Anlehnung an die Schlussfolgerungen von Edinburgh443 und nicht wie eine Kompetenzbegründung. Außerdem kann ein über das Kriterium der „grenzüberschreitenden Viktimisierung“ hergestellter transnationaler Aspekt lediglich die Notwendigkeit von Unionsmaßnahmen für solche Regeln begründen, die sich der spezifischen Problemlage von transnational betroffenen Opfern widmen. Sie liefert keine Erklärung dafür, warum die zahlreichen Richtlinienvorgaben, die auch für Opfer in rein nationalen Sachverhalten gelten, nicht ebenso auf nationaler Ebene hätten geregelt werden können. Eine andere Erklärung hierfür bleibt der Gesetzgeber schuldig. Dass die EU primär Opferrechte für rein nationale Sachverhalte regelt, entspricht einem generellen Trend der Gesetzgebung zur Etablierung eines RFSR. Bzgl. der Unionsgesetzgebung im materiellen Strafrecht wird insofern kritisch angemerkt, diese werde kaum zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität eingesetzt, sondern zur Verdeutlichung einer politischen Identität und Werteüberzeugung der EU.444 In Bezug auf die Gesetzgebung zu Opferrechten lässt sich Ähnliches konstatieren. Die EU regelt damit kaum Problemstellungen, die (aufgrund eines grenzüberschreitenden Moments) nicht auf nationaler Ebene gelöst werden könnten, sondern bringt vielmehr ihre Werteüberzeugung zum Umgang mit Straftatopfern zum Ausdruck und folgt dem politischen Trend der Konzentration auf das Verbrechensopfer. In der Gesamtbetrachtung legt der Unionsgesetzgeber damit nicht für jede einzelne Maßnahme in der Opferrechterichtlinie gesondert dar, inwiefern sie die Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips erfüllt.445 Zudem lässt seine Argumentation das Subsidiaritätsprinzip materiell weitestgehend leerlaufen.446 Zwar steht dem europäischen Gesetzgeber bei der Bewertung, ob die Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips erfüllt sind, eine Einschätzungsprärogative zu.447 In Bezug auf die

443

Siehe hierzu oben Kap. 1 D I 4 b). Turner, Am. J. Comp. L. 60 (2012), 555, 556 f. 445 Ebenso Bock, ZIS 2013, 201, 205; European Criminal Policy Initiative, ZIS 2013, 412, 427; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 37 f. 446 Insbesondere bzgl. der Vorhaltung von Serviceleistungen außerhalb des eigentlichen Strafverfahrens sollten die Mitgliedstaaten in der Lage sein, ausreichend ähnliche Standards ohne Unionsvorgaben vorzusehen. In der Regel werden solche Serviceleistungen zudem auf lokaler Ebene organisiert und an die örtlichen Bedürfnisse flexibel angepasst, weshalb ein Handeln auf der bürgernächsten Ebene sogar vorzugswürdig erscheint. Ein Mehrwert von Unionsregeln, die noch dazu wegen der notwendigen Beachtung der differierenden örtlichen Gegebenheiten letztlich nur sehr vage bleiben können, ist kaum auszumachen. Ähnlich Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 114. Kritisch zur materiellen Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips durch die Richtlinie auch Bock, ZIS 2013, 201, 204; European Criminal Policy Initiative, ZIS 2013, 412, 427; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 39 f. 447 Streinz, in: ders., EUV/AEUV, Art. 5 EUV Rn. 31; Vedder, in: ders./von HeintschelHeinegg, Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 20. 444

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Opferrechterichtlinie erfüllt er jedoch weder die inhaltlichen noch die durch das Subsidiaritätsprotokoll an die Begründung gestellten formellen Anforderungen.448 Art. 69 AEUV weist den nationalen Parlamenten in Bezug auf Gesetzgebungsakte, die basierend auf Art. 82 Abs. 2 AEUV vorgeschlagen werden, die Rolle eines Wächters des Subsidiaritätsprinzips zu. Die Mitgliedstaaten hätten somit die Möglichkeit gehabt, die dargelegten Begründungsmängel im Gesetzgebungsverfahren zu rügen. Zumindest in England wurde auch aufgrund einer Stellungnahme von Mitsilegas449 darüber diskutiert, ob die RL 2012/29/EU dem Subsidiaritätsgrundsatz genüge. Nach Einwurf Reedings – damalige Justizkommissarin der EU –, das britische Oberhaus möge doch die Opfer selbst fragen, was diese zur Subsidiarität zu sagen hätten,450 wurde davon jedoch wieder Abstand genommen. Stattdessen wurde nur die Tatsache bemängelt, dass die EU ihrer Begründungspflicht nicht ausreichend nachgekommen sei, und die Frage wurde im Ergebnis aufgrund des antizipierten Wertes der Richtlinienvorgaben für Verbrechensopfer nicht weiter verfolgt.451 Damit hätten nicht alle Vorgaben in der Opferrechterichtlinie auf Grundlage der Anweisungskompetenz in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV erlassen werden dürfen.452 Allerdings haben weder die nationalen Parlamente im Gesetzgebungsverfahren die Subsidiaritätsrüge erhoben, noch haben die Mitgliedstaaten anderweitig – etwa über ihre Nationalvertreter im Rat – die mangelnde Einhaltung der Erforderlichkeitsklausel öffentlich bemängelt. Möglicherweise war es die inhaltliche Zustimmung zu den Maßnahmen, die eine Intervention unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten aus nationaler Perspektive irrelevant erschienen ließ. Jedenfalls scheint die politische Opportunität der Hinwendung zum Straftatopfer im Mehrebenen-System über Kompetenzgrenzen hinweg vereinende Kraft zu haben.453 448

Dies ist auch bei sonstiger Gesetzgebung in Bezug auf den RFSR zu beobachten laut Herlin-Karnell, Europ. L. J. 15 (2009), 351 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 32, stellen darüber hinausgehend eine Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips sogar für das ganze Unionsrecht in Frage. 449 Mitsilegas, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 107 ff. 450 Reeding, in: HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy, S. 123. 451 HL EU Committee, EU’s Policy on Criminal Procedure, HL Paper 288, Rn. 54 f. Zur Diskussion siehe HL EU Sub-Committee E, EU Crim. Pro. Policy. 452 In diese Richtung auch Bock, ZIS 2013, 201, 204 f. (implizit); Letschert/Rijken, New J. Europ. Crim. L. 4 (2013), 226, 245; Öberg, Europ. Crim. L. Rev. 5 (2015), 19, 39 f. 453 Zwar hat der deutsche Bundesrat gegen die europäische Schutzanordnung zugunsten von Verbrechensopfern Subsidiaritätsrüge erhoben, vgl. BR-Drucks. 43/10 v. 26. 3. 2010. Dabei ging es aber um die Verteidigung der Länderzuständigkeit im Gefahrenabwehrrecht, nicht um die Notwendigkeit der Maßnahme als solcher. – In Bezug auf die Verhandlungen des RB 2001/ 220/JI konstatiert einer der Hauptverhandlungsführer, es habe eine Art moralischer Erpressung bestanden, da keiner der beteiligten Minister öffentlich hart gegenüber Verbrechensopfern habe auftreten wollen, vgl. Rock, Construc-ting Victims’ Rights, S. 518. Gegen den RB 2001/220/JI habe das englische Home Office trotz Zweifel an der EU-Kompetenz zur Vorgabe von Opferrechten keinen Einspruch erhoben, weil alle anderen Mitgliedstaaten zugestimmt hätten und der RB 2001/220/JI positiv für Opfer gewesen sei, id., S. 515 Fn. 95. Insgesamt sei die politische Entschlossenheit der Opferrechtevertreter der Hauptgrund dafür gewesen, dass der

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

III. Übergeordnete Betrachtung und verbleibende Problempunkte Die Richtlinie enthält 32 Artikel mit Vorgaben zu einer Vielzahl unterschiedlicher Bedürfnisse von Straftatopfern. Damit begründet sie Reformbedarf für die Mitgliedstaaten in verschiedenen Rechtsgebieten, z. B. in zahlreichen Untergebieten des Strafprozessrechts, im Sozialrecht, im Beamten- und Berufsrecht, sowie praktische Handlungsnotwendigkeiten, z. B. beim Neubau von Gerichtsgebäuden, vgl. Art. 19 Abs. 1. Viele der Richtlinienartikel sind darüber hinaus sehr detailreich und konkret verfasst. Die verbindlichen Vorgaben werden zusätzlich durch die im Gesetzgebungsverfahren von 30 auf 72 in der Anzahl mehr als verdoppelten Erwägungsgründe konkretisiert, die zahlreiche für die Auslegung der Richtlinienartikel verbindliche Detailerläuterungen, Einschränkungs- und Erweiterungsvorschläge enthalten. Gleichwohl räumen viele Richtlinienartikel den Mitgliedstaaten ein nicht unerhebliches Umsetzungsermessen ein. Es betrifft teilweise die Freiheit, über die Einräumung eines Rechts zu entscheiden, teilweise (nur) das Ermessen, das Verfahren zu gestalten. Vereinzelt waren diese zurückhaltenden Tendenzen bereits im Kommissionsvorschlag zur Opferrechterichtlinie angelegt. So sah dieser z. B. in Art. 15 Abs. 1 schon keine verbindliche Integration reparativer Elemente in den Strafprozess vor, sondern stellte den Mitgliedstaaten frei, die Entschädigung des Opfers durch den Täter anderweitig zu regeln.454 Viele der Einschränkungen gehen aber explizit auf die Initiative der Nationalvertreter im Rat während der TrilogVerhandlungen zurück. Dabei haben die Mitgliedstaaten ihren Einfluss vor allem geltend gemacht, um Vorgaben einschränkend zu formulieren, ihre Bindungswirkung abzuschwächen und ihre Anforderungen zu konkretisieren. Primäres Ziel war es, sich Freiraum bei der Gestaltung der Position des Opfers im Strafverfahren zu erhalten und insbesondere die Vorgabe eines übergeordneten Rollenkonzepts durch die EU zu verhindern sowie Friktionen mit nationalen Rechtstraditionen zu vermeiden. Daneben sollte finanzpolitischen und anderen nationalstaatlichen Interessen Rechnung getragen werden. Die Verhandlungen der Nationalvertreter im Rat haben zu einer Regelungslage geführt, die – wie von Art. 82 Abs. 2 S. 2 AEUV gefordert – durch eine gewisse Rücksichtnahme auf die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen und -traditionen gekennzeichnet ist. Es wurde allerdings bereits dargestellt, dass die Richtlinie trotz dieser vordergründigen Zurückhaltung auf voraussetzungsreichen Prämissen zur Position des Opfers im staatlichen Strafverfahren basiert.455 Auch ohne das Strafverfahren durch die Zuerkennung einer eigenen Verfolger-Rolle des Opfers partiell zu privatisieren oder durch Ausrichtung auf einen reparativen oder restorativen Ansatz umzugeRB 2001/220/JI in kompetenzrechtlich fraglicher Weise zustande gekommen ist, id., S. 512. Zur politischen Opportunität als vereinende Kraft bei der Regelung von Opferrechten siehe Kap. 1 D III 2. Vgl. auch Nowell-Smith, New J. Europ. Crim. L. 3 (2012), 381, 392. 454 Siehe Art. 16 Abs. 1 Uabs. 2 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 455 Siehe oben Kap. 2 A IV 4.

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stalten, räumt die Richtlinie dem Opfer einen eigenen Platz im Strafprozess ein. Sie erkennt ein Interesse des Opfers an Durchführung und Ausgang des Strafverfahrens an, in dem das ihm widerfahrene Unrecht festgestellt werden soll und in dem es mit eigenen Rechten auftreten kann. Diesen Annahmen liegt die Prämisse zugrunde, dass eine Straftat definiert wird durch ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft und eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers, EG 9 S. 1. Dem ist grundsätzlich nicht zu widersprechen. Ein strafbewehrtes Verhalten hat in den meisten Fällen jedenfalls zwei Auswirkungen.456 Zum einen verwirklicht es ein normatives Unrecht gegenüber der im Staat verfassten Allgemeinheit.457 Zum anderen verletzt es in vielen Fällen faktisch auch ein individuelles Opfer in seinen Rechtspositionen, zeitigt also eine Realdimension.458 Traditionell reagieren die nationalen Systeme auf jene Auswirkung mit strafrechtlichen Ermittlungs- und Verfolgungstätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit durchgeführt werden, um das öffentliche Unrecht gegenüber der Gesellschaft festzustellen und zu sühnen. In welcher Form auf die Verletzung der individuellen Rechtsposition – also auf das individuelle Leid – zu reagieren und wie der Konflikt zwischen Schädiger und Geschädigtem zu lösen ist, ist hingegen noch nicht in derselben Eindeutigkeit geklärt. Während dies traditionell der Privat- und partiell der Sozialrechtsordnung überantwortet wurde,459 hat die Diskussion über Opferrechte in den letzten Jahrzehnten zwar dazu geführt, dass auch alternative Lösungsmöglichkeiten erwogen werden.460 Unionsweit konsentiert ist heute auch, dass vermeintlichen Opfern aufgrund ihrer besonderen Situation Schutz

456 Ebenso Freund, GA 2002, 82, 86. Streng genommen wirkt sich ein strafrechtlich relevantes Verhalten noch in einer dritten Dimension aus, nämlich im Verhältnis zwischen dem davon Betroffenen und der im Staat verfassten Allgemeinheit. Diese Dimension wird von der Richtlinie nicht ausdrücklich genannt, aber zumindest implizit durch die Annahme, die Gesellschaft sei dem Opfer gegenüber zu Unterstützung und Schutz verpflichtet, anerkannt. Ausführlich dazu Kap. 3 E, Kap. 4 F, Kap. 5 B. 457 So die h.M., siehe ausführlich Kap. 3 A I 1. Zur anderen Minderheitenansicht, die davon ausgeht, dass durch eine Straftat zuvörderst das individuelle Opfer verletzt werde und die Verwirklichung eines Unrechts gegenüber der Gesellschaft durch eine Straftat ablehnt, siehe Brienen/Hoegen, Victims of Crime, S. 30 f.; Eisenstadt, Wayne L. Rev. 50 (2005), 1, 33, 37. 458 Siehe auch Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 211: ohne Anknüpfung an die Rechtsposition eines Rechtssubjekts sei eine Straftat gar nicht denkbar. – Nicht in allen Fällen der Straftatbegehung wird allerdings ein individuelles Opfer verletzt. Ein solches fehlt z. B. bei einem Verstoß gegen eine Strafnorm, die Kollektivrechtsgüter schützt, und in vielen Fällen des (untauglichen) Versuchs. 459 Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 87 ff.; Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 298 ff.; Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1389 mwN. 460 Siehe z. B. Christie, Brit. J. Criminol. 17 (1977), 1 ff.; grundlegend zu den verschiedenen Modellen Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 1996, 153 ff.; Cavadino/Dignan, Internat. Rev. Victimology 1997, 233 ff. (mit ihrem eigenen Modell); Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 311 f.; van Ness, Crim. L. F. 4 (1993), 251 ff. Zur Entwicklung von Restorative Justice-Ansätzen in England siehe Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 287 ff. Krit. dazu Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277 ff.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

im Strafverfahren, insbesondere bei Zeugenaussagen, zu gewähren ist.461 Fraglich ist aber, ob gleichermaßen konsentiert ist, dass die Straftat als solche nicht primär durch das öffentlich-normative Unrecht, sondern auch durch die private Verletzung definiert sein soll und das Strafverfahren und die Kriminalstrafe in der Folge nicht nur mit dem öffentlich-normativen Unrecht, sondern auch mit dem privaten Leid befasst sein sollen.462 Zweifelhaft ist in der Folge, ob die Anerkennung eines Interesses des Opfers am Ausgang des Strafverfahrens sowie daran, dass im Strafurteil das Unrecht ihm gegenüber festgestellt wird, mit den mitgliedstaatlichen Konzeptionen vom Strafverfahren vereinbar ist. Insgesamt weist die Richtlinie in Bezug auf die abgedeckten Themenfelder eine hohe Regelungsbreite und zugleich in Bezug auf die Verbindlichkeit einiger der Vorgaben eine partiell eher zurückhaltende Regelungstiefe auf. Eine Vollharmonisierung der Opferrechte auf nationaler Ebene ist durch die Richtlinie nicht zu erwarten. Nichtsdestotrotz birgt allein die Anzahl der breitgefächerten, detailreichen und in der Umsetzung partiell kostspieligen Vorgaben Herausforderungen für die Mitgliedstaaten. Zudem sind Konflikte mit nationalen strafprozesstheoretischen Annahmen zu befürchten aufgrund des Konzepts zur Position des Opfers im Strafprozess sowie der Anerkennung seines Interesses am Ausgang des Verfahrens und der Unrechtfeststellung im Strafurteil. Aus mitgliedstaatlicher Sicht ist damit eine ambivalente Bilanz zu ziehen. Viele der Vorgaben hätten mit Blick auf die Erforderlichkeitsklausel und das Subsidiaritätsprinzip nicht auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV erlassen werden dürfen. Dies scheint die Nationalvertreter indes nicht umgetrieben zu haben; Souveränitätseinbußen wurden offenbar aufgrund des konsensfähigen, auf den verschiedenen politischen Ebenen kongruenten Ansatzes, sich Straftatopfern zuzuwenden, hingenommen. Weiterhin ignoriert das Unionsrecht die nationalen Verfahrensordnungen und Rechtstraditionen zwar nicht gänzlich, völlig konfliktfrei sind die Vorgaben unter diesem Aspekt jedoch auch nicht. Insbesondere ist fraglich, ob die Berücksichtigung des Unrechtfeststellungsinteresses des Opfers mit den nationalen Strafprozesssystemen vereinbar ist und ob es – wie in der Richtlinie unterstellt – im Strafverfahren effektiv befriedigt werden kann.

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Zur Grundlage des Konsens siehe Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 49; Kap. 4 E. 462 Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 283 ff.; ders. Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 91 f. Vgl. auch Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 300 f.; ders., Victims’ Rights, S. 212, der feststellt, dass die wachsende Bedeutung, die der Opferentschädigung eingeräumt werde, die graduelle Rekonstruktion der Straftat als öffentliches Unrecht gegen den Staat hin zu einem sozialen Unrecht gegen das Individuum reflektiere, in den meisten Rechtsordnungen diese Dimension aber dem zivilen Schadensersatzrecht zugeordnet werde; van Ness, Crim. L. F. 4 (1993), 251, 252.

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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C. Problemfeld 2: Balance zu den Beschuldigtenrechten I. Problembeschreibung und Bewertungsansatz Seit Beginn der internationalen Bemühungen um Opferrechte wird vorgebracht, dass dadurch die Balance im Verfahren gestört werden und Spannungen mit der Position des Beschuldigten entstehen könnten.463 Rechte des Opfers kollidierten mit den Rechten des Angeklagten und beschränkten diese in illegitimer Weise. Opferrechte kollidieren indes nicht per se mit den Rechten des Angeklagten. Vielmehr existieren zahlreiche Rechte des (vermeintlichen) Opfers, auch in der RL 2012/29/EU, die sich nicht auf die Stellung des Angeklagten auswirken. In der Opferrechterichtlinie gilt dies beispielsweise für die Ansprüche auf Unterstützung außerhalb des Strafverfahrens und bei der Kommunikation, für zahlreiche Informationsansprüche,464 das Recht auf Erhalt einer schriftlichen Anzeigebestätigung oder die Schulung betroffener Berufsgruppen. Gleiches gilt für viele Servicerechte im Kontext des Strafverfahrens. So tangiert es die Stellung des Angeklagten z. B. nicht, wenn das Opfer über einen Anspruch auf staatliche Kostenerstattung oder zügige Rückgabe seiner Eigentumsgegenstände nach Beendigung des Strafverfahrens verfügt. Opferrechte, die sich nicht auf die Stellung des Angeklagten auswirken, kreieren aber unter dem Aspekt einer Balance zu den Beschuldigtenrechten auch keine Konflikte.465 Konfliktträchtig können demgegenüber aber insbesondere Ansprüche auf Schutz im Strafverfahren sowie Offensivrechte zur aktiven Beteiligung am Strafverfahren sein. Das (vermeintliche) Opfer ist als Zeuge im Strafverfahren besonderen Gefahren ausgesetzt: Durch den Zwang zur wiederholten Darstellung des Tatgeschehens kann der Tatverarbeitungsprozess unterbrochen werden, Angriffe auf die Glaubwürdigkeit des Opferzeugen sowie ein Zusammentreffen mit dem Angeklagten in der Befra463

Siehe Kap. 1 A II 2, B IV 2, D II 3. Es tangiert den Beschuldigten z. B. nicht, wenn das vermeintliche Opfer über Möglichkeiten der Unterstützung, des Schutzes oder staatlicher Opferentschädigung informiert wird. Andere Informationsrechte des Opfers können zwar grds. mit Beschuldigtenrechten kollidieren, siehe kritisch zu Art. 6 Abs. 5 f. Bock, ZIS 2013, 201, 206; DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.1; StrafVV, Stellungnahme, S. 4. Allerdings lässt die Richtlinie den Mitgliedstaaten hinreichend Spielraum, um die Beschuldigtenrechte in diesem Bereich zu wahren. Zur Rechtfertigung von Informationsansprüchen des Opfers allgemein Spencer, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 37, 42; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 242, 251 f. 465 Die folgende Untersuchung beschränkt sich daher auf ausgesuchte Rechte in der RL 2012/29/EU, die verbindlich vorgegeben sind und ein besonderes Konfliktpotential bzgl. der Beschuldigtenrechte aufweisen. Problematisch könnte zwar z. B. auch die Verbindung von zivilrechtlicher Entschädigung und Strafverfahren sein, siehe Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 249 f.; a.A. Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 450. Die RL 2012/29/EU verpflichtet aber nicht zur Befriedigung der Schadensersatzansprüche im Strafverfahren, Art. 16 Abs. 1 a.E., sodass dieser Bereich ausgeklammert wird. 464

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

gungssituation können das durch die Tat erfahrene Trauma vertiefen und die Öffentlichkeit des Verfahrens kann unter Umständen die Intimsphäre, jedenfalls aber die Privatsphäre des Opferzeugen tangieren.466 Schutzrechte können das Opfer vor solchen Gefahren bewahren, z. B. indem sie das Fragerecht bzgl. Umfang und Inhalt beschränken, ein direktes Zusammentreffen mit dem Angeklagten – etwa durch die Zulassung von Videovernehmungen oder Sichtschutzmaßnahmen – vermeiden und einen Ausschluss der Öffentlichkeit vorsehen.467 Solche Maßnahmen zu Gunsten des Opfers können die Möglichkeiten des Angeklagten schmälern, sich effektiv in einem öffentlichen Verfahren gegen Beiträge des Opfers zu verteidigen, und außerdem die Aufklärung des Sachverhalts beeinträchtigen.468 So können z. B. Sichtschutzmaßnahmen bei der Vernehmung dem Angeklagten die Möglichkeit nehmen, eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln, die visuelle Beobachtungen des Belastungszeugen einbezieht. Damit stehen Schutzrechte des Opfers in einem potentiellen Spannungsverhältnis zu den Beschuldigtenrechten.469 Ähnliches kann für Offensivrechte gelten, die dem Opfer gestatten, am Verfahren aktiv teilzunehmen und darauf einzuwirken. Die Verteidigungsrechte des Angeklagten werden hierdurch in der Regel zwar nicht unmittelbar beschränkt. Die Stellung des Angeklagten kann aber mittelbar gefährdet werden, z. B., wenn durch die Intervention des Opfers ein reales oder psychologisches Übergewicht an Anklägern entsteht und so die Verfahrensbalance insgesamt gestört oder durch die Opferbeteiligung das Verfahren wesentlich verlängert wird.470 Schutz- und Offensivrechte des Opfers können damit unter Umständen mit den Rechten des Angeklagten, insbesondere in Bezug auf die Möglichkeit zur effektiven Verteidigung, kollidieren. Dies gilt unabhängig davon, ob beide in einem adversatorisch oder in einem inquisitorisch ausgestalteten Strafprozess aufeinander treffen. 466

Statt vieler siehe Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 48. Siehe zu solchen Maßnahmen in der RL 2012/29/EU Artt. 20, 21, 23 f.; Kap. 2 AV, C II. 468 Fischer, JZ 1998, 816, 821; Hirsch, in: GS Kaufmann (1989), S. 699, 714; Paciocco, Crim. L. Quaterly 49 (2005), 393, 395; Rieß, NStZ 1987, 145, 149; Sanders, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 97, 99; ders., in: Eser/Rabenstein, Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, S. 191, 193; Schünemann, ERA Forum 2009, 387, 394; Spencer, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 37, 47, 49; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 49; Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 784. A.A. Kintzi, DRiZ 1998, 65, 67: Defensivrechte des Opfers konfligierten nicht mit Verteidigungsrechten des Angeklagten. – Die Aufklärung des Sachverhalts erfolgt im Interesse der Rechtsgemeinschaft, sodass auch in diesem Verhältnis Spannungen auftreten können. Außerdem können umfangreiche Opferrechte die Strafjustiz kapazitativ belasten, was aus Perspektive der Allgemeinheit kritisiert wird, vgl. Kintzi, DRiZ 1998, 65, 67 f. 469 Die Schutzmaßnahmen stehen damit zugleich in einem Spannungsverhältnis zu der Pflicht des Gerichts, die Wahrheit zu erforschen, Fischer, JZ 1998, 816, 821; Jung, ZStW 93 (1981), 1145, 1156; Rieß, NStZ 1987, 145, 149; Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 784. 470 Kintzi, DRiZ 1998, 65, 67; Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 188; Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 448; ders., ERA Forum 2009, 387, 395; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 45. A.A. Bommer, Verletztenrechte, S. 263 (ein Konflikt bestehe nur bei Schutzrechten). 467

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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Zwar können einzelne Opferrechte je nach Verfahrensstruktur unterschiedliche Auswirkungen haben und damit die Stellung des Angeklagten in unterschiedlicher Weise belasten. Die grundsätzliche Beobachtung, dass zwischen der Stärkung der Rechtsposition des (mutmaßlichen) Opfers und den Beschuldigtenrechten Konflikte auftreten können, gilt jedoch für beide Verfahrenstypen gleichermaßen.471 Neben der möglichen Einschränkung der Verteidigungsrechte des Angeklagten werden Opferrechte noch – ebenfalls Mitgliedstaaten übergreifend – aus einer weiteren Perspektive angegriffen: der zu Gunsten des Beschuldigten verbürgten Unschuldsvermutung.472 Vor Abschluss des Strafverfahrens stünde noch nicht fest, ob die Person, die vortrage, viktimisiert worden zu sein, überhaupt Opfer und gerade Opfer einer vom Angeklagten verwirklichten Straftat geworden sei. Würden einer Person auf Grundlage eines unterstellten Opferstatus Rechte zuerkannt, verletzte dies die Unschuldsvermutung. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass die Annahme, eine Person sei möglicherweise Opfer einer Straftat geworden, auch vor rechtskräftiger Aburteilung der behaupteten Tat nicht in jedem Fall mit der Unschuldsvermutung kollidiert. Der im strafprozessualen Kontext bestehende Konflikt könnte zudem in der RL 2012/29/EU entschärft werden, wenn die Vorläufigkeit des Opferstatus in der Begriffsdefinition expliziert würde.473 Die fehlende Gewissheit, ob die Person, die vorträgt, Opfer einer Straftat geworden zu sein, tatsächlich viktimisiert worden ist, hat allerdings eine andere Konsequenz: Die mit dem Opferstatus verbundenen Rechte werden (zunächst) auch Personen zugestanden, bei denen die Opfereigenschaft zwar möglich erscheint, die aber nicht Opfer einer Straftat oder jedenfalls nicht Opfer einer dem Beschuldigten vorwerfbaren Straftat geworden sind. Dieser Umstand könnte insbesondere bei Rechten problematisch sein, die dem Opfer im Strafverfahren gegen den Beschuldigten zustehen sollen. Ginge man davon aus, dass die Zuerkennung prozessualer Rechte gerade wegen der Betroffenheit des Opfers durch das strafbare Verhalten des Täters legitim sei,474 stünde zum Zeitpunkt der Geltendmachung dieser Rechte im Strafverfahren das legitimierende Element für ihre Geltendmachung noch nicht fest. Wenn die Viktimisierung des vermeintlichen Opfers durch den Angeklagten im Prozess zunächst nur unterstellt wird und insbesondere, wenn sich diese Annahme 471 Vgl. nur für das englische Recht als Repräsentant des adversatorischen Systems: Sanders, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 97, 99; ders., in: Eser/Rabenstein, Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, S. 191, 193; Spencer, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 37, 49. Vgl. für das deutsche Recht als Repräsentant des reformiert-inquisitorischen Systems: Fischer, JZ 1998, 816, 821; Kintzi, DRiZ 1998, 65, 67; Rieß, NStZ 1987, 145, 149; Schünemann, ERA Forum 2009, 387, 394; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 49; Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 784. 472 Siehe hierzu und zum Folgenden ausführlich Kap. 2 A II 2. 473 Siehe hierzu Kap. 2 A II 2. 474 Damit wird keine Stellung dazu bezogen, ob Offensivrechte des vermeintlichen Opfers sowie die Anerkennung seines Interesses am Ausgang des Strafverfahrens aufgrund der Verletzung des Betroffenen durch den Schädiger legitimiert werden können. Dazu siehe Kap. 3 A I.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

am Ende des Prozesses als falsch erweist, würde es an einer Rechtfertigung für die Zuerkennung der Rechte fehlen.475 Dies wäre insbesondere problematisch, wenn die Beschuldigtenrechte zu Gunsten eines Rechts eines vermeintlichen Opfers eingeschränkt würden. Denn bei einem Scheinopfer würde jedes legitimierende Gegengewicht für die Verkürzung der Beschuldigtenrechte fehlen. Je stärker die Mitwirkungsrechte des potentiellen Opfers im Strafverfahren ausgestaltet sind, desto problematischer wäre es, wenn aufgrund einer Fehlannahme ein Scheinopfer ein Recht ohne legitimierende Grundlage gegen den Angeklagten wahrnehmen könnte.476 Auch wenn die Anerkennung des potentiellen Opfers im Verfahren nicht unmittelbar mit der Unschuldsvermutung kollidiert,477 kann die Möglichkeit, dass Scheinopfer ebenfalls in den Genuss der Opferrechte kommen können, damit nicht vollständig ausgeblendet werden. Es gibt aber auch keine Möglichkeit, a priori alle Personen zu identifizieren, die nicht tatsächlich Opfer einer dem Angeklagten vorwerfbaren Straftat geworden sind, und ihnen die prozessualen Rechte vorzuenthalten.478 Stattdessen die Rechte im Strafverfahren allen potentiellen Opfern zu versagen, würde bedeuten, auch all diejenigen rechtlos zu stellen, die tatsächlich durch eine Straftat geschädigt worden sind. Dies wäre angesichts der aktuellen Unionspolitik jedenfalls keine realistisch durchsetzbare Option. Die Konsequenz muss daher viel mehr lauten, die allen potentiellen Opfern zuerkannten Verfahrensrechte mit Augenmerk für diese Problematik auszugestalten. Weigend schlägt in diesem Zusammenhang vor, die Leitlinie für die Ausgestaltung der prozessualen Rechte von vermeintlichen Opfern in inverser Anlehnung an einen aus der Unschuldsvermutung hergeleiteten Grundsatz zu entwickeln.479 Die Unschuldsvermutung lässt vor der rechtskräftigen Schuldfeststellung nur solche Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu, die auch gegenüber einer sich als unschuldig erweisenden Person legitimierbar wären.480 Analog dazu sollen nach Weigend die Verfahrensrechte des Opfers so ausgestaltet werden, dass sie auch für ein Scheinopfer begründet werden können.481 Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er die Legitimation der prozessualen Rechte konsequent vom ungeklärten Opferstatus des Rechteinhabers trennt und für jedes Recht nach einer Rechtfertigung verlangt, die gerade nicht auf der (möglichen) Viktimisierung basiert. Damit wären die prozessualen Rechte in ihrer Begründung unabhängig von der (möglichen) Opferstellung des Rechteinhabers. Diese Forderung erscheint allerdings praktisch schwer um-

475

Bung, StV 2009, 430, 432. Vgl. auch Bommer, Verletztenrechte, S. 258 f. Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 248. 477 Siehe oben Kap. 2 A II 2. 478 Siehe oben Kap. 2 A II 2. 479 Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 249. 480 Eser, in: Meyer, EU-GRC, Art. 48 Rn. 8; Jarass, EU-GRC, Art. 48 Rn. 11; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 3; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 248 f. 481 Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 249. 476

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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setzbar.482 Viele der Rechte in der RL 2012/29/EU werden dem potentiellen Opfer gerade aufgrund seiner vermeintlichen Nähe zum Verhandlungsgegenstand im Strafverfahren eingeräumt und würden gerade nicht jedermann zuerkannt. Die meisten Rechte ließen sich damit ohne Bezugnahme auf die mögliche Viktimisierung der Person nicht begründen. Statt in inverser Anlehnung an die Unschuldsvermutung könnte der Umfang legitimer Opferrechte aber unmittelbar von diesem Prinzip ausgehend bestimmt werden. Für den Angeklagten stehen im Strafverfahren – inquisitorischer wie adversatorischer Natur – einseitig seine Interessen auf dem Spiel: Es ist sein Verhalten, das auf etwaige strafrechtliche Relevanz untersucht wird, und er ist derjenige, der ggf. am Ende des Verfahrens mit einer empfindlichen, seine Rechte einschränkenden Strafe belegt wird.483 Die Rechtsstellung des (vermeintlichen) Opfers hingegen wird durch den Verfahrensausgang jedenfalls nicht in vergleichbarer Weise berührt wie die des Angeklagten.484 Aus Perspektive der Rechtsgemeinschaft ist eine illegitime Verurteilung das größere Übel als ein ungerechtfertigter Freispruch, jene gilt es daher primär zu verhindern.485 Auch deshalb gilt der Angeklagte im Strafprozess bis zum rechtskräftigen, das Gegenteil feststellenden Urteil als unschuldig und die Unschuldsvermutung lässt vor der rechtskräftigen Schuldfeststellung nur solche Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu, die auch gegenüber einer sich als unschuldig erweisenden Person legitimierbar wären.486 In der Folge dürfen Verteidigungsrechte nur insoweit eingeschränkt werden, wie es auch einer unschuldigen Person gegenüber legitimierbar wäre.487 Im Einklang mit diesen Grundsätzen erscheint es konsequent, die Ausgestaltung prozessualer Opferrechte daran zu bemessen, ob sie auch in einem gegen eine unschuldige Person geführten Verfahren zu rechtfertigen wären.488 Gefährdet die Wahrnehmung eines Rechts durch das (ver482

Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 249, räumt selbst ein, dass sein Ansatz nicht voll durchzuhalten sei, und folgt ihm in der Diskussion an vielen Stellen selbst nicht, vgl. nur id, S. 254. 483 Statt vieler Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37. Vgl. auch Jackson, in: Cape, Reconcilable rights, S. 65, 70; ders., J. L. Society 30 (2003), 309, 315, 317; Kintzi, DRiZ 1998, 65, 67. 484 Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 9; ähnlich Jackson, in: Cape, Reconcilable rights, S. 65, 70; ders., J. L. Society 30 (2003), 309, 315, 317; Kintzi, DRiZ 1998, 65, 67. Siehe auch Kap. 3 B. 485 Vgl. Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 38; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 49. 486 Eser, in: Meyer, EU-GRC, Art. 48 Rn. 8; Jarass, EU-GRC, Art. 48 Rn. 11; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 3; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 248 f. 487 Ähnlich Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 49. 488 Ähnlich für Defensivrechte des Opfers im deutschen Strafverfahren Rieß, Gutachten, Rn. 69; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 49. Im Ergebnis ähnlich für das englische Recht Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 49 (Opferrechte dürften nicht die Wahrscheinlichkeit ungerechtfertigter Verurteilungen von Unschuldigen erhöhen). Im Grundsatz ist dieser Bewertungsmaßstab im inquisitorischen wie im adversatorischen Strafverfahren gleichermaßen anwendbar. Die verschiedenen Verfahrensstrukturen können allenfalls zu abwei-

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

meintliche) Opfer die effektiven Verteidigungsmöglichkeiten oder sonst das faire Verfahren derart, dass es einem unschuldigen Angeklagten gegenüber nicht zu legitimieren wäre, ist das Recht allen tatsächlichen, potentiellen und Scheinopfern gleichermaßen zu versagen.489 Dies bedeutet nicht, dass Interessen des (vermeintlichen) Opfers in jedem Fall zurückzutreten hätten. Gerade im Kontext von Zeugenaussagen kann den Staat eine Verpflichtung treffen, zu Gunsten der Grundrechte des (vermeintlichen) Opfers – etwa dessen körperlicher oder seelischer Unversehrtheit oder seines Persönlichkeitsrechts – Schutzvorkehrungen vorzusehen.490 Diese Maßnahmen sind aber stets so auszugestalten, dass sie die effektiven Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten nicht unverhältnismäßig einschränken.491 Wirkt sich hingegen die Erfüllung eines Opferrechts ausschließlich zu Lasten des Staates aus, – z. B. weil die Gewährung von Prozesskostenhilfe monetäre Kapazitäten beansprucht –, kann das Recht großzügiger gewährt werden. Zu Gunsten der Unterstützung tatsächlicher Opfer wäre dann in Kauf zu nehmen, dass auch Scheinopfer von der Unterstützung profitieren könnten.

II. Herangehensweise des Unionsgesetzgebers Bereits in den die Richtlinie vorbereitenden Unionsdokumenten wird der potentielle Konflikt zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechten thematisiert, allerdings zugleich durch den Hinweis zu beschwichtigen gesucht, dass die meisten Richtlinienvorgaben die Beschuldigtenrechte ohnehin unberührt ließen und ansonsten den nationalen Richtern ausreichend Ermessen eingeräumt werde, um einen Ausgleich herzustellen.492 Damit auf einer Linie wurde in Reaktion auf die Kritik, die Richtchenden Ergebnissen bei den Abwägungsentscheidungen führen, etwa weil die Beschränkung von Verteidigungsrechten je nach Verfahrensstruktur unterschiedlich kompensiert werden kann. 489 So auch EuGH, 16. 6. 2005, Rs. C-105/03 (Pupino), Slg. 2005 I-5285 Rn. 59 f. Der auf Freiheit bezogene Ansatz von Sanders zur Prüfung, ob ein Opferrecht legitimierbar ist, ist dieser Argumentation sehr ähnlich. Sanders untersucht, ob das Freiheitsniveau durch die Zuerkennung von Opferrechten im Strafverfahren insgesamt gesteigert werde. Opferrechte sollten nur gewährt werden, wenn sie die Freiheit des Angeklagten nicht verringerten. Verringere ein Opferrecht die Freiheit des Angeklagten, wäre es nur zuzulassen, wenn die Freiheit insgesamt erhöht werde, Sanders, in: Eser/Rabenstein, Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, S. 191, 193 ff.; ders., in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 210. Er räumt aber selbst ein, dass sein Ansatz nicht immer klare Antworten gebe, in: Eser/ Rabenstein, Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, S. 191, 201. Letztlich läuft damit auch sein Ansatz auf eine Interessenabwägung hinaus. 490 Siehe oben Kap. 1 D I 6. 491 Ist die Gewährung des Opferrechts nicht ohne unverhältnismäßige Belastung des Angeklagten möglich und zugleich die Nichtgewährung des Rechts dem vermeintlichen Opfer unter grundrechtlichen Gesichtspunkten gegenüber nicht legitimierbar, könnte als Ausweg im Kontext der Schutzrechte auch die Preisgabe des staatlichen Strafanspruchs erwogen werden, siehe Schünemann, ERA Forum 2009, 387, 394. 492 Kommission, Impact Assessment, S. 23.

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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linienvorgaben beschränkten die Beschuldigtenrechte unverhältnismäßig, EG 12 in das Rechtsinstrument aufgenommen.493 Er postuliert, dass die in der Richtlinie festgelegten Vorgaben die Rechte des Verdächtigen, Angeklagten und Täters unberührt ließen. EG 66 versichert zusätzlich, dass die Richtlinie in Einklang mit den Grundrechten in der GRC und der EMRK stünde – wozu auch die Rechte des Beschuldigten aus Art. 6 EMRK, Artt. 47 Abs. 2, 48 GRC gehören. Daneben enthalten einige Richtlinienartikel, besonders im Schutzbereich, spezifische Vorbehalte zugunsten der Verteidigungsrechte.494 Damit erkennt die Richtlinie zumindest das potentielle Spannungsverhältnis zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechten und strebt seine Auflösung an.495 Unabhängig von diesen Vorgaben in der Richtlinie sind die EU und die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung von Unionsrecht bzw. bei seiner Umsetzung in nationales Recht zudem an die Grundrechte gebunden und schon deswegen zur Wahrung der Beschuldigtenrechte verpflichtet.496 Fraglich ist aber, ob der Unionsgesetzgeber bei der Formulierung der Richtlinie sein Versprechen erfüllt hat, die Rechte des Beschuldigten würden durch die Richtlinie nicht tangiert. Dies wird anhand einiger für die Stellung des Beschuldigten potentiell besonders problematischer Richtlinienvorgaben aus dem Bereich der Schutz- und Offensivrechte untersucht. 1. Schutzrechte Der Schutz von Opfern vor sekundärer Viktimisierung im und durch das Strafverfahren ist ein zentrales Anliegen der Richtlinie. Das vierte Kapitel normiert entsprechend zahlreiche Schutzmaßnahmen zu Gunsten des (mutmaßlichen) Opfers. Ob diese Schutzrechte die Balance zu den Rechten des Angeklagten stören, hängt wesentlich von ihrer konkreten inhaltlichen wie verfahrensrechtlichen Ausgestaltung ab. Insbesondere dürfen die Schutzrechte die Verteidigungsrechte des Angeklagten nur insoweit einschränken, wie es auch einem unschuldigen Angeklagten gegenüber zu legitimieren wäre497 und das Verfahren insgesamt fair bleibt.498 a) Materielle Schutzvorschriften Die materiellen Vorgaben zum Opferschutz im Richtlinienvorschlag der Kommission sind teils heftig kritisiert worden, weil sie keinerlei Schutzvorkehrungen zur

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Siehe Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, EG 8a. Siehe dazu Kap. 2 C II 1 a). 495 Ebenso Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 185. 496 Siehe Kap. 1 D I 6. 497 Ähnlich Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 49; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406 h Rn. 49. Siehe zur Herleitung oben in Kap. 2 C I. 498 So auch EuGH, 16. 6. 2005, Rs. C-105/03 (Pupino), Slg. 2005 I-5285 Rn. 59 f. 494

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Wahrung der Beschuldigtenrechte enthielten.499 In der Folge wurden die Vorgaben während des Gesetzgebungsverfahrens im Trilog wesentlich modifiziert und ergänzt.500 Als Resultat dieser Verhandlungen ist beispielsweise der sehr weitreichende generische Schutzanspruch in Art. 18 unter den Vorbehalt gestellt worden, dass Verteidigungsrechte unbeschadet bleiben müssen.501 Vergleichbar war die Vorgabe in Art. 19 Richtlinienvorschlag, dass Begegnungen von Opfer und Beschuldigtem zu vermeiden sind, im Gesetzgebungsverfahren kritisiert worden, weil sie das in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verbürgte Konfrontationsrecht des Beschuldigten beschneide.502 Auf Bestreben des Rates wurde deshalb die Einschränkung aufgenommen, dass ein Kontakt nicht zu vermeiden sei, wenn das Strafverfahren ein Zusammentreffen erfordere.503 Auch die zunächst vorgeschlagene Gestaltung der Schutzvorgaben im Ermittlungs- und Hauptverfahren hatte wenig Rücksicht auf die Verteidigungsrechte des Beschuldigten erkennen lassen.504 So sollten Mehrfachvernehmungen uneingeschränkt vermieden, Vernehmungen stets von derselben Person durchgeführt, Videovernehmungen für alle schutzbedürftigen Opfer ohne Einschränkung verfügbar gemacht werden und die Öffentlichkeit sollte während der Verhandlung zum Schutz besonders vulnerabler Opfer stets ausgeschlossen werden können.505 Zur Überprüfung neuer Erkenntnisse kann eine erneute Befragung jedoch notwendig sein, und das Ziel, einseitige oder suggestive Befragungen zu verhindern, kann den Wechsel der Vernehmungsperson erfordern.506 Eine automatische Beschränkung des Konfrontationsrechts und des Rechts auf einen öffentlichen Prozess wäre zudem

499

Siehe oben Kap. 1 D II 3. Amnesty International, Comments, S. 9. Siehe ausführlich zu den inhaltlichen Anforderungen der Schutzvorgaben Kap. 2 A V. 501 Dies geschah auf Bestreben des Rates, vgl. Art. 17 Abs. 1 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011 mit Art. 17 Abs. 1 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011. Zwar ist nach der Kommission dieser Vorbehalt eng auszulegen und praktisch überwiegen Interessen der Verteidigung nur im Ausnahmefall das Schutzbedürfnis des Opfers, Guidance Document, S. 40. Die Effektivierung dieses Schutzmechanismus obliegt aber letztlich den nationalen Entscheidungsträgern. 502 ECBA, Statement on the Draft Directive, S. 2 f. Zu bemerken ist allerdings, dass auch die Kommission primär getrennte Wartebereiche etc. anvisiert hatte und nicht den Ausschluss jeglichen Kontakts im Verhandlungssaal, siehe KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011, S. 11. 503 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 18 Fn. 72. 504 Siehe insbesondere Artt. 20 lit. b, 21 Abs. 2 lit. b, c, Abs. 3 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. 505 Zur Kritik Bock, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 80; DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.7; Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 19 Fn. 74; Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 459. Kritisch zur Endversion Bock, ZIS 2013, 201, 208. 506 In diesem Sinne krit. zur Richtlinie Bock, ZIS 2013, 201, 208; DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.7; Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 459. Allgemein zu den Gefahren des Verbots von Mehrfachvernehmungen für die Wahrheitsfindung und die Rechte des Angeklagten siehe Eisenberg, HRRS 2011, 64, 67 f.; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 112. 500

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

217

kaum mit Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. d EMRK vereinbar.507 Weil eine solche Gestaltung der Schutzmaßnahmen im Ermittlungs- und Hauptverfahren die Verteidigungsrechte unverhältnismäßig beschränkt hätte, wurden alle in Artt. 20 und 23 vorgesehenen Maßnahmen im Zuge der Gesetzgebungsverhandlungen unter den expliziten Vorbehalt gestellt, dass Verteidigungsrechte durch sie nicht beeinträchtigt werden dürfen und das richterliche Ermessen gewahrt bleiben muss.508 Außerdem kann die Anwendung einer Schutzmaßnahme im Strafverfahren jetzt im Ausnahmefall unterbleiben, wenn operative oder praktische Zwänge sie unmöglich machen509 oder wenn die Vernehmung des Opfers dringend notwendig ist und ein anderes Vorgehen das Opfer oder eine andere Person schädigen bzw. den Gang des Verfahrens beeinträchtigen könnte, Art. 23 Abs. 1 S. 2, EG 59. Zudem gestattet Art. 23 Abs. 2 lit. c den Wechsel der Vernehmungsperson zur Wahrung einer geordneten Rechtspflege. Mehrfachvernehmungen und der Wechsel der Vernehmungsperson sind damit nicht mehr zwingend ausgeschlossen. Zudem müssen die Mitgliedstaaten die neu eingefügten ausdrücklichen Vorbehalte zu Gunsten der Verteidigungsrechte bei der Implementierung der Vorgaben in nationales Recht beachten. Dazu müssen die nationalen Entscheidungsträger die Schutzrechte so ausgestalten, dass sie die Verteidigungsrechte des Angeklagten nur insoweit einschränken, wie es auch einem unschuldigen Angeklagten gegenüber zu legitimieren wäre und das Verfahren insgesamt fair bleibt. Insofern könnten die nationalen Gesetzgeber z. B. vorsehen, dass vor der Gewährung einer Schutzmaßnahme im Ermittlungs- oder Hauptverfahren stets eine Abwägung mit den Rechten des Beschuldigten erfolgen muss und die Anwendung der Maßnahme je nach Einzelfall vom Richter versagt werden kann. Damit räumt die Richtlinie den Mitgliedstaaten insgesamt genug Freiraum ein, um die Schutzvorgaben unter Wahrung der Verteidigungsrechte in nationales Recht zu implementieren. Mit Blick auf die Beschuldigtenrechte ist außerdem die Schutzvorgabe in Art. 24 Abs. 1 lit. a kritisiert worden.510 Sie normiert, dass die Aufzeichnungen von Vernehmungen minderjähriger Opfern als Beweis im Verfahren verwertet werden können. Anders als die Schutzvorgaben in Art. 23 ist sie nicht ausdrücklich unter den Vorbehalt der Wahrung der Beschuldigtenrechte gestellt. Allerdings haben die Richtliniengeber hier einen impliziten Weg gewählt, um die Wahrung der Beschuldigtenrechte sicher zu stellen. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 überlässt die konkrete 507

Krit. in Bezug auf die Öffentlichkeit des Verfahrens Bock, ZIS 2013, 201, 209. Im Artt. 20, 21 KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011 waren diese Einschränkungen noch nicht enthalten. Sie wurden erst auf Forderung des Rates aufgenommen, siehe Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 22 Rn. 80 f.; Europäisches Parlament – Ausschüsse, Änderungsanträge A7 – 0244/001 – 001 v. 6. 9. 2012, Art. 21 Abs. 1. 509 Diese Einschränkung lehnen Ezendam/Wheldon, in: Vanfraechem et a., Justice, S. 51, 62 aufgrund von Missbrauchspotential ab. 510 Königs/Wahedi/Waterbolk, J. Politics & L. 6 (2013), 14, 19 ff., 24. Noch zum RLEntwurf BR-Drucks. 278/11 v. 23. 9. 2012, S. 4. 508

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

verfahrensrechtliche Regelung des Opferschutzinstruments dem nationalen Recht. Bei Ausfüllung dieser Gestaltungsfreiheit sind die Mitgliedstaaten zur Wahrung der Grundrechte des Angeklagten aus Artt. 47 Abs. 2, 48 GRC, Art. 6 EMRK verpflichtet. Damit überträgt die Richtlinie es indirekt den nationalen Gesetzgebern, bei Ausfüllung ihres Umsetzungsermessens die Vorgabe so zu implementieren, dass die Verteidigungsrechte des Beschuldigten gewahrt werden. Dies bedeutet z. B., dass die Mitgliedstaaten im nationalen Recht dafür sorgen müssen, dass die mediale Konserve, die in der Hauptverhandlung als Beweismittel verwendet werden soll, rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechend und unter Wahrung des Konfrontationsrechts hergestellt wird.511 Aufgrund der im Trilog erzielten Einschränkungen können die Vorgaben der Richtlinie, soweit es die materiellen Schutzvorgaben in Artt. 20, 23, 24 betrifft, damit im Wesentlichen als moderat bezeichnet werden.512 Sie belassen den Mitgliedstaaten ausreichend Freiraum, um bei der Umsetzung einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herzustellen. Dabei drückt die Richtlinienformulierung „unbeschadet der Verteidigungsrechte“ die Prämisse aus, dass die Mitgliedstaaten im Zweifel die Beschuldigtenrechte gegenüber den Opferrechten priorisieren sollen.513 Mehr Hinweise dazu, welche Beschuldigtenrechte genau in die Abwägung einzustellen sind und wie ein potentieller Konflikt gelöst werden könnte, liefert die Richtlinie allerdings nicht. Stattdessen überträgt sie die Verantwortung dafür, dass der Schutz des (mutmaßlichen) Opfers die Stellung des Beschuldigten nicht unangemessen belastet, auf die nationalen Gesetzgeber und Entscheidungsträger im Strafverfahren. Ihnen obliegt die mitunter schwierige Herausforderung, die notwendige Balance herzustellen.514 b) Begutachtungsverfahren Problematischer als die Vorgaben zu den materiellen Schutzmaßnahmen könnte vor dem Hintergrund eines fairen Verfahrens für den Angeklagten die Vorgabe in Art. 22 sein, dass jedes mutmaßliche Opfer einer obligatorischen individuellen Begutachtung zu unterziehen ist.515 Die Begutachtung soll möglichst frühzeitig im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens erfolgen und neben den persönlichen Merkmalen des Opfers, zu denen auch die Beziehung vom Opfer zum 511

Siehe Königs/Wahedi/Waterbolk, J. Politics & L. 6 (2013), 14, 19 ff.; Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 223 f. jeweils mwN zu relevanter EGMR-Rechtsprechung; allgemein Jung, in: BMJ Österreich, Strafverfahren, S. 309, 315. 512 Ebenso Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1396; Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 460. Ähnlich auch Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 223. 513 I. E. ebenso Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 186; Königs/ Wahedi/Water-bolk, J. Politics & L. 6 (2013), 14, 19. 514 Ähnlich Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 17. 515 Siehe oben Kap. 2 A V 2.

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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Täter gezählt wird, Art oder Wesen der Straftat sowie die Umstände der Tat als Kriterien einbeziehen.516 Frühzeitig im Ermittlungsverfahren steht jedoch noch nicht in allen Fällen fest, ob tatsächlich eine Viktimisierung stattgefunden hat, vor allem aber ist jedenfalls noch nicht bewiesen, wer Täter der angezeigten Straftat ist und wie sich die genauen Umstände der Tat zugetragen haben. Deshalb wird zum einen befürchtet, dass die Begutachtung zu Parallelermittlungen ohne Beteiligung des Beschuldigten führen könnte, was seine Verteidigungschancen nachhaltig beeinträchtige.517 Nach Konzeption der Richtlinie ist allerdings davon auszugehen, dass für die Begutachtung die Aussagen des vermeintlichen Opfers ohne weitere Untersuchung als richtig unterstellt werden sollen.518 Die befürchteten Parallelermittlungen sind damit nicht zu erwarten.519 Zum anderen wird kritisiert, die Begutachtung kollidiere mit der in Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 48 Abs. 1 GRC verbürgten Unschuldsvermutung und könne zu einer ungebührlichen Voreingenommenheit der Strafverfolgungsbehörden führen.520 Wird von den Strafverfolgungsbehörden verlangt, im Rahmen der Begutachtung die genannten Kriterien zugrunde zu legen, müssen sie zumindest hypothetisch unterstellen, dass sich die angezeigte Straftat wie angegeben zugetragen hat. Dies gilt auch für Beamte, die nicht selbst an der Begutachtung beteiligt sind. Denn das Ergebnis, dass ein vermeintliches Opfer besonders schutzbedürftig ist, muss in den Akten vermerkt werden, um Wirkung im Verfahren entfalten zu können. Spätere Entscheidungsträger erkennen an dem Vermerk, dass das vermeintliche Opfer aufgrund der Tat und seiner Beziehung zum Angeklagten als besonders schutzbedürftig beurteilt worden ist. Dadurch können Entscheidungsträger in ihrer Einstellung gegenüber dem zu ermittelnden Sachverhalt voreingenommen werden. In der Grundtendenz ist dieses Phänomen der grundsätzlichen Anerkennung des vermeintlichen Opfers als Rechtssubjekt im Strafverfahren immanent. Diese allein begründet noch keine Verletzung der Unschuldsvermutung.521 Die Situation der Begutachtung verschärft dieses Phänomen allerdings. Die allgemeine Anerkennung des vermeintlichen Opfers basiert nur auf einer vorläufigen Vermutung des Opferstatus. Die Begutachtung in einem formalisierten 516

Siehe Art. 22 Abs. 2 und EG 56: Für Wesen, Art und Umstände der Straftat soll es z. B. darauf ankommen, ob es sich um eine Hasstat oder sexuelle Gewalt gehandelt hat. 517 CCBE, Response, S. 11; DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.4; StrafVV, Stellungnahme, S. 4 f. 518 So wohl auch Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 221. 519 I. E. ebenso, aber mit der unklaren Begründung, die Untersuchung beziehe sich auf das Opfer, nicht auf den Täter oder die Tat, Schmälzger, Europ. L. Reporter 10 (2011), 301, 307. 520 Bock, ZIS 2013, 201, 209; DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.4; in diese Richtung auch Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 31 Fn. 50. Ähnlich krit. in Bezug auf Zeugenschutzregeln, die an die Art der Straftat anknüpfen, weil dies die Unschuldsvermutung gefährde, Spencer, Isr. L. Rev. 31 (1997), 286, 299. Ähnlich krit. bzgl. dem Verbot von Mehrfachvernehmungen im deutschen Recht, weil die Entscheidung über dessen Anwendung zu einer Voreingenommenheit des Entscheiders führen könne, Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 112; von Galen, StV 2013, 171, 174. 521 Siehe oben Kap. 2 A II 2.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Verfahren, dessen Ergebnis für den Strafprozess bindend ist und Ansprüche des vermeintlichen Opfers begründet,522 indiziert hingegen, dass der Opferstatus der jeweiligen Person förmlich untersucht und bestätigt worden ist. Dies birgt eine ungleich höhere Gefahr, dass Entscheidungsträger im Strafverfahren suggestiv beeinflusst werden und die Täterschaft des Angeklagten entgegen der Unschuldsvermutung unterstellen. Deshalb ist vorgeschlagen worden, die Untersuchung der Schutzbedürftigkeit von den Kriterien der Straftat und ihrer Umstände zu lösen und die Begutachtung stattdessen ausschließlich auf endogene Faktoren, also persönliche Merkmale der zu begutachtenden Person, zu basieren.523 Die Schutzbedürftigkeit würde dann unabhängig von der verhandelten Straftat bewertet. Eine mögliche Voreingenommenheit der Entscheidungsträger im Strafverfahren und der Konflikt mit der Unschuldsvermutung würden vermieden. Zudem soll eine solche Trennung auch aus Opferperspektive vorteilhaft sein. Denn es wird befürchtet, dass die Begutachtung – die der Betroffene nach der Richtlinie nicht ablehnen kann – in ihrer derzeitigen Konzeption den Verletzten zwinge, sich mit der Tat und den erlittenen Belastungen auseinander zu setzen, und so sekundäre Viktimisierung nicht verhindere, sondern befördere.524 Würde die Begutachtung von den Kriterien der Tat und ihren Umständen unabhängig gestaltet, würde das Erfordernis reduziert, dass sich der Verletzte mit der Tat für die Begutachtung auseinander setzen muss. Schließlich würde die Trennung der Begutachtung der Schutzbedürftigkeit von der Tat und ihren Umständen dem Opfer wie dem fairen Verfahren dienen, weil so die Gefahr gebannt würde, dass das Opfer gedrängt würde oder sich veranlasst sähe, das Tatgeschehen übertrieben darzustellen, um als schutzbedürftig anerkannt zu werden.525 Trotz der Vorteile dieses Lösungsvorschlags ist allerdings fragwürdig, inwieweit es praktisch möglich ist, die vermeintliche Straftat bei der Bewertung der Schutzbedürftigkeit einer Person gerade in Bezug auf Maßnahmen im Strafverfahren wegen dieser (vermeintlichen) Tat vollständig auszublenden. Außerdem kann diese Herangehensweise im Ergebnis implizieren, das Opfer sei konstitutionell labil, was den Interessen des jeweiligen Betroffenen eher widersprechen dürfte. Während die Intention der Richtlinie zu begrüßen ist, Opfer möglichst frühzeitig und flexibel entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse vor sekundärer Viktimi-

522

Siehe oben Kap. 2 A V 2. So allg. unabhängig von der RL 2012/29/EU Spencer, Isr. L. Rev. 31 (1997), 286, 299. Krit. zur Betonung der exogenen Faktoren auch van der Aa, New J. Europ. Crim. L. 7 (2016), 39, 49 f. 524 Bock, ZIS 2013, 201, 209. Ähnlich BR-Drucks. 56/1/15, S. 5, zu § 406 g Abs. 3 S. 2 StPO. Nach Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 37, ist die Regelung zudem praktisch nicht implementierbar; zust. Hilf, in: Sautner/Jesionek, Opferrechte, S. 13, 25. 525 DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.5. 523

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sierung zu schützen,526 ist der dafür gewählte Modus folglich weder aus Sicht des Angeklagten noch aus Sicht des vermeintlichen Opfers konfliktfrei.527 c) Prioritätenumkehr im Verfahren Im Schutzbereich fordert die Richtlinie schließlich eine strukturelle Prioritätenumkehr im Strafverfahren: Sie geht von dem Grundverständnis aus, dass Opfer per se schutzbedürftig seien und Schutz auch wünschten. Hinter ihren Schutzbedürfnissen haben andere Interessen im Strafverfahren zurückzustehen, bis der Nachweis erbracht ist, dass eine Rückausnahme zu Lasten des Schutzinteresses notwendig ist. Art. 20 lit. b normiert insofern z. B., dass zum Schutz des vermeintlichen Opfers Vernehmungen zwingend auf ein Minimum zu reduzieren sind. Eine Ausnahme ist nur möglich, wenn zu Ermittlungszwecken oder zur Wahrung der Verteidigungsrechte unbedingt Mehrfachvernehmungen erforderlich sind. Ähnliche Regelungen, die die Schutzmaßnahme zugunsten des Opfers als Regel und die Beschränkung des Schutzes zu Gunsten der Beschuldigtenrechte oder Strafverfahrensziele als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme definieren, finden sich in Artt. 20 lit. d, 23 Abs. 2 lit. c und 6 Abs. 6. Eine vergleichbare Wertung verbirgt sich in Art. 19 Abs. 1. Im Trilog hatte eine Ratsdelegation dafür plädiert, dass gem. Art. 19 Abs. 1 ein Kontakt von vermeintlichem Opfer und Beschuldigtem nur zu vermeiden sei, wenn dem Opfer eine reale Gefahr drohe.528 Der Vorschlag hat sich nicht durchgesetzt. Auch wenn Art. 19 in der gegenwärtigen Form den Angeklagten nicht unverhältnismäßig belastet, spiegelt die Ablehnung des Änderungsvorschlags das spezifische Grundverständnis der Richtlinie wider: Die Schutzbedürftigkeit des Opfers und sein Wunsch nach Schutz werden per se unterstellt, andere Belange haben zunächst zurückzustehen. Diese Herangehensweise läuft Gefahr, dem Opfer – ggf. gegen seinen Willen – paternalistisch Schutzmaßnahmen unabhängig von einem tatsächlichen Schutzbedarf und Schutzwunsch aufzudrängen. Zudem kehrt sie die herkömmliche Interessenabwägung im Strafverfahren um. So entspricht es dem Prinzip eines fairen Verfahrens nach der EMRK, dass ein Beschuldigter grds. z. B. Aussagen von Belastungszeugen hinterfragen darf.529 Davon abweichende Regeln zum Schutz des vermeintlichen Opfers werden als Ausnahme qualifiziert und bedürfen als solche einer Rechtfertigung. Die Opferrechterichtlinie hingegen bestimmt den Ausgangspunkt des Abwägungsprozesses genau entgegengesetzt. Die Geltung der Schutz526 Zu den Vorteilen einer flexiblen Bestimmung gegenüber festen Kriterien für die Schutzbedürftigkeit Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 222. 527 DAV, Stellungnahme Nr. 65/2011, 3.4. 528 Rat, Interinstitutional File 2011/0129 (COD), 17327/11 v. 22. 11. 2011, Art. 18 Fn. 72. 529 Siehe nur EGMR, 16. 2. 2000, App. No. 27052/95, §§ 51 f. (Jasper/Vereinigtes Königreich). So auch und ebenfalls krit. zum Ansatz der RL 2012/29/EU Amnesty International, Comments, S. 9.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

vorschriften wird als Grundsatz definiert. Von diesem Grundsatz abweichende Regeln zu Gunsten der Beschuldigtenrechte oder anderer Verfahrenszwecke werden als Ausnahme qualifiziert, die einer besonderen Begründung bedürfen. Im Ergebnis können zwar auch nach der Richtlinie die Verteidigungsinteressen oder sonstige Verfahrensbelange Opferinteressen überwiegen, in Bezug auf die materiellen Schutzmaßnahmen in Artt. 20, 23 unterstellt die Richtlinie sogar, dass die Beschuldigtenrechte im Zweifel Vorrang genießen. Gleichwohl kehrt sie die herkömmliche Argumentation im Strafverfahren um, was dem Beschuldigten die Geltendmachung seiner Rechte erschweren kann. 2. Offensivrechte Die Stärkung der aktiven Teilnahme des Opfers am Strafverfahren ist eines der primären Richtlinienziele. Dazu werden dem Opfer Offensivrechte zur Teilnahme am Verfahren und zur Einwirkung auf dessen Verlauf eingeräumt.530 Mit Blick auf die Stellung des Angeklagten potentiell konfliktträchtig erscheinen insofern insbesondere das Recht auf Gehör und das Recht, Einstellungsentscheidungen anzufechten. a) Recht auf Gehör und Beweisbeibringung Gem. Art. 10 Abs. 1 steht dem Opfer ein Anspruch darauf zu, im Strafverfahren gehört zu werden und Beweise beizubringen. Ob dieses Recht die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten unverhältnismäßig beschränkt oder sonst die Gewährleistung eines fairen Verfahrens in Frage stellt, hängt wesentlich davon ab, wie es inhaltlich und verfahrensrechtlich ausgestaltet ist. Die Ausgestaltungsform ihrerseits wird primär von den Zielen des Gehörsrechts bestimmt. Diese Ziele müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des nationalen Verfahrens gem. Art. 10 Abs. 2 verwirklichen, Art. 288 Abs. 3 AEUV. Untersucht wird daher, ob die Ausgestaltungsform, die notwendig wäre, um die nach der Richtlinie mit dem Gehörsrecht verfolgten Zwecke zu erreichen, mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens vereinbar ist. aa) Beiträge zur Sachverhaltsaufklärung Zur Erreichung aller mit Art. 10 Abs. 1 verfolgten Zwecke ist erforderlich, dass das Opfer sachliche Mitteilungen und Beweishinweise beitragen kann, die den Untersuchungsgegenstand des Strafverfahrens betreffen. Diese Beiträge können die Aufklärung im Prozess fördern.531 Eine Person, die zu Unrecht angeklagt ist, hat gerade ein gesteigertes Interesse daran, dass die Wahrheit im Strafverfahren korrekt ermittelt wird. Eine Person, die tatsächlich Täter der angeklagten Tat ist, hat unter 530 531

Siehe Kap. 2 A IV 1, 2. Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 254.

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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Umständen zwar kein äquivalentes Interesse an der Wahrheitsermittlung. Sie hat aber jedenfalls grds. auch keinen Anspruch darauf, dass der Sachverhalt nicht vollständig mit rechtmäßigen Mitteln erforscht würde. Zudem beschränkt das Gehörsrecht des Opfers nicht unmittelbar die Möglichkeit des Beschuldigten, seinerseits an der Aufklärung mitzuwirken und seine Version des Geschehens darzustellen.532 Außerdem können sachliche Beiträge dem Beschuldigten sogar helfen, etwa wenn die zusätzliche Information der Verteidigung ermöglicht, Fehlinformationen und Falschaussagen aufzudecken.533 Grds. ist es damit einem schuldigen wie einem unschuldigen Angeklagten gegenüber legitimierbar, dass das vermeintliche Opfer sachliche Fakten und Hinweisen zur Aufklärung des Sachverhalts im Strafverfahren beiträgt. Auf der anderen Seite ist es nicht ausgeschlossen, dass das vermeintliche Opfer bewusst oder unbewusst unsachgemäße, falsche oder irreführende Informationen beiträgt.534 Ein solches Verhalten würde der Sachverhaltsaufklärung zuwiderlaufen und könnte die Verteidigungsposition des Angeklagten beeinträchtigen. Fraglich ist daher, ob das Unionsrecht die Überprüfung und ggf. Verwerfung der Opferbeiträge gestattet. Beantwortet man diese Frage mit Blick auf die Ziele von Art. 10 Abs. 1, könnte sie zu verneinen sein. Der Anspruch auf Gehör soll zum einen die Zufriedenheit des Opfers mit dem Verfahren steigern und ihm zum anderen die Möglichkeit gewähren, mittels kathartischer Kommunikation das Erlebte zu verarbeiten.535 Wenn die persönliche Darstellung des Opfers im Verfahren angezweifelt und überprüft wird oder einen „Gegenangriff“ des Verteidigers auslöst, mit dem er versucht, die Angaben zu widerlegen oder die Glaubwürdigkeit des potentiellen Opfers zu erschüttern, kann dies traumatisierend wirken. Die Traumatisierung ihrerseits kann dazu führen, dass das Verfahren nicht mehr als fair wahrgenommen und jede kathartisch-therapeutische Wirkung der Kommunikation aufgehoben wird.536 Aus Perspektive der Ziele des Gehörsanspruchs wäre eine Überprüfungsmöglichkeit folglich als kontraproduktiv abzulehnen. Beantwortet man die Frage hingegen mit Blick auf die Verfahrensfairness, so wäre zwingend zu fordern, dass die Angaben des vermeintlichen Opfers im Strafverfahren auf ihren Wahrheitsgehalt kontrolliert

532

Bommer, Verletztenrechte, S. 264. Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 254. 534 Ebenso Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 254; Sanders, in: Cape, Reconcilable rights, S. 97, 104 (im Kontext von VIS). Gegen die Annahme, Opfer setzten Beschuldigte in ihren Stellungnahmen unwahren Anschuldigungen aus, hingegen Erez, Crim. L. Rev. 1993, 545, 548 f. 535 Siehe ausführlich oben Kap. 2 A IV 1 b) cc). 536 So im Kontext von VIS Braun, German L. J. 14 (2013), 1889, 1906; Caspari, DRiZ 2011, 350, 351; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 80 f.; Edwards, Internat. J. Evidence & Proof 2009, 293, 300; ders., Howard J. Crim. Just. 2001, 39, 51; de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 142 (dass die Aussagen überprüft werden könnten, sei für viele Opfer ein Grund, kein VIS abzugeben); Sanders et all, Crim. L. Rev. 2001, 447, 450; Wemmers, Eur. J. Crim. Pol. Res. 11 (2005), 121, 127. 533

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

werden können.537 Wenigstens der Angeklagte müsste den Beiträgen widersprechen und sie überprüfen können.538 Noch nicht gelöst wäre damit allerdings ein praktisches Dilemma des Angeklagten. Im Kontext der Abgabe von Opferstellungnahmen auf nationaler Ebene ist moniert worden, dass es für den Beschuldigten nachteilig seien könne, die Angaben des vermeintlichen Opfers anzuzweifeln oder zu kritisieren, nachdem es durch eine emotionale Darstellung die Sympathie der anderen Verfahrensbeteiligten gewonnen habe. Aus Sorge vor nachteiligen Konsequenzen würden Angeklagte die Beiträge potentieller Opfer daher – anders als bspw. neutrale Zeugenaussagen – trotz objektiver Unrichtigkeit oft nicht anfechten.539 Diese Beobachtung deutet an, dass ein Gehörsrecht des Opfers im Strafverfahren qualitativ andere Spannungen verursachen kann als sonstige widersprüchliche Darstellungen. Die Überprüfungs- und Widerspruchsmöglichkeit des Angeklagten allein kann diese Spannungen nicht lösen. Vielmehr müsste zusätzlich die jeweilige Entscheidungsinstanz im Verfahren sicherstellen, dass Beiträge des vermeintlichen Opfers kritisch gewürdigt werden. Im Interesse eines fairen Strafverfahrens sollten die Mitgliedstaaten deshalb bei der Implementierung des Gehörsanspruchs in nationales Recht gewährleisten, dass eine Prüfung der Beiträge des vermeintlichen Opfers möglich ist und ggf. durch die jeweilige Entscheidungsinstanz vollzogen wird. Dabei müssten sie allerdings zugleich in Kauf nehmen, die Ziele der Norm nicht optimal zu verwirklichen. Weiterhin ist diskussionsbedürftig, ob Beiträge des vermeintlichen Opfers aufgrund der Art ihres Inhalts mit den Beschuldigtenrechten konfligieren könnten und wie ein solcher Konflikt ggf. aufzulösen wäre. Der Gehörsanspruch soll dem Opfer nach Unionskonzeption u. a. ermöglichen, das Geschehen mittels kathartischer

537

Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 167; Caspari, DRiZ 2011, 350, 351; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 81; Edwards, Internat. J. Evidence & Proof 2009, 293, 299 f. 538 Vgl. insofern z. B. die englische Rechtslage: Soweit VPS des Opfers als Beweis für die Auswirkungen der Straftat bei der Strafzumessungsentscheidung herangezogen werden sollen, gelten sie als förmlicher Beweis. Damit unterliegen sie den Regeln zur Bekanntmachung an die Gegenseite (disclosure), ihnen kann widersprochen und das Opfer kann einem Kreuzverhör unterzogen werden. So zuerst Perks [2001] 1 Cr. App. R. (S) 66; bestätigt in Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 9; siehe auch Criminal Practice Direction Sentencing F: Victim Personal Statement, [2013] EWCA Crim 1631, F 3 b; CPVC, Okt. 2015, ch. 2 A sec. 1 (ii) 1.19 f.; Sprack, Criminal Procedure, 22.09 f. 539 Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 167; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 84. A.A. Erez, Crim. L. R. 1993, 545, 549 (Fn. 21), die zwar bestätigt, dass Verteidiger Opfer nicht wegen des Inhalts ihres VIS ins Kreuzverhör nehmen würden aus Sorge vor negativen Auswirkungen auf die Strafe, dass aber andere Möglichkeiten bestünden, den Gehalt des VIS indirekt zu hinterfragen und außerdem Justizbeamte vor Abgabe des VIS sicherstellten, dass es nur wahre Angaben enthalte. – Zu den besonderen Problemen, die sich für den Beschuldigten bei einer Verteidigung gegen VIS in Verfahrensordnungen ergeben, die nicht zwischen der Rechtsgrund- und der Rechtsfolgenverhandlung trennen, Braun, German L. J. 14 (2013), 1889 ff.; Hanloser, Gehör, S. 223.

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Kommunikation im Verfahren zu verarbeiten.540 Um dieses Ziel zu erreichen, müssten auch persönliche, emotionale und wertende Beiträge gestattet sein.541 Solche Beiträge können aber den auf Objektivität angelegten Strafprozess unangemessen emotionalisieren.542 Zudem ist auf nationaler Ebene beobachtet worden, dass vermeintliche Opfer vereinzelt den Angeklagten in ihren Stellungnahmen kritisiert, beleidigt und sogar bedroht haben.543 So verständlich solche Emotionsausbrüche menschlich sein mögen, haben sie in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren gleichwohl keinen Platz. Um die Rechte des Angeklagten und die Objektivität des Verfahrens zu wahren, müsste deshalb der Inhalt von Opferbeiträgen beschränkbar sein.544 Unverhältnismäßig emotionale, bewertende oder für das Erkenntnisinteresse im Strafverfahren irrelevante Beiträge müssten beispielsweise untersagt werden. Konsequenz dieser inhaltlichen Restriktion wäre allerdings zugleich eine Begrenzung der kommunikativen Reichweite der Beiträge. Dies kann die Betroffenen so enttäuschen, dass der gewünschte therapeutische Effekt des Gehörs geschmälert und das Leid unter Umständen sogar noch verstärkt wird.545 Eine für alle Seiten optimale Umsetzung des Gehörsanspruchs ist damit kaum möglich. Auch bzgl. dieses Aspekts müssen die nationalen Gesetzgeber daher bei der Implementierung des Gehörsanspruchs einen Kompromiss finden. Zur Erreichung der mit dem Gehörsanspruch verfolgten Ziele könnte außerdem eine Veränderung der Strafverfahrensstruktur notwendig sein. Diese Veränderung könnte wiederum die Verteidigungsposition des Beschuldigten belasten. Aufgrund der unterschiedlichen Ziele des Anspruchs sind zwei Szenarien zu unterscheiden. Die erste möglicherweise notwendige Veränderung der Verfahrensstruktur könnte aus dem Ziel resultieren, dem Opfer mittels Gehör die Verfolgung seines Interesses

540

Siehe oben Kap. 2 A IV 1 b) cc). DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 86, im Kontext von VIS. 542 Diese Gefahr wird im Kontext von VIS auf nationaler Ebene kritisiert: Caspari, DRiZ 2011, 350, 351; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 83; Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 175 f.; eingeschränkt Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 161 f. Empirisch bestätigt wurde die Emotionalisierung des Prozesses im Kontext von Family Impact Statements, Sweeting et all, Ministry of Justice Research Series 17/08, S. 31. A.A. Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 632 ff. 543 Praktische Beispiele gibt Szmania/Gracyalny, Internat. Rev. Victimology 13 (2006), 231, 239 – 242. In den VIS wurden gegen den wegen 48-fachen Mordes Angeklagten sogar Morddrohungen gerichtet. 544 So zum Gehör in Form von VIS z. B. Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 176 ff. (Australien); Gruber, Wm. & Mary L. Rev. 52 (2010), 1, 55 (USA); Morgan/ Sanders, The Uses of Victim Statements, S. 2; Rock, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 200, 209 (England). 545 So zur Zensur von VIS Booth, Australian & New Zealand J. Criminol. 45 (2012), 214, 217; Sweeting et all, Ministry of Justice Research Series 17/08, S. 28 f.; Morgan/Sanders, The Uses of Victim Statements, S. 2, 30; van Camp/de Mesmaecker, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 277, 284 f. 541

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

am Strafverfahrensausgang zu ermöglichen.546 Am effizientesten würde dieses Ziel erreicht, wenn dem vermeintlichen Opfer gestattet würde, mittels Gehör und Beweisbeibringung wie ein zweiter Ankläger aufzutreten. Die Integration eines zweiten Anklägers kann in adversatorisch wie in inquisitorisch strukturierten Strafverfahren die Balance zu Lasten des Angeklagten verschieben, seine Verteidigungsposition schwächen und so die Verfahrensfairness gefährden.547 Diesen Befürchtungen ist jedoch entgegen zu halten, dass die Richtlinie, wie gezeigt, nicht verlangt, dass dem vermeintlichen Opfer zur Wahrnehmung des Gehörsrechts eine einem Ankläger vergleichbare Prozessstellung eingeräumt würde oder dass es die Möglichkeit haben müsste, als „Partei“ unmittelbar in der Hauptverhandlung aufzutreten.548 Ob es eine solche Stellung erhält, hängt vielmehr davon ab, wie förmlich und mit welchen Hilfsrechten der Gehörsanspruch im nationalen Recht ausgestaltet wird. Es obliegt folglich den Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der Vorgabe eine Balance herzustellen zwischen dem Anspruch des vermeintlichen Opfers, sein Interesse am Verfahrensausgang mittels Gehör effektiv verfolgen zu können, und dem Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren.549 Die zweite möglicherweise notwendige Veränderung der Verfahrensstruktur betrifft das Ziel des Gehörsanspruchs, dem Opfer die Verarbeitung des Geschehens mittels kathartischer Kommunikation im Strafverfahren zu ermöglichen. Damit die Kommunikation im Strafverfahren einen kathartischen Effekt entfalten kann, soll eine Atmosphäre notwendig sein, die Emotionen wie Empathie, Solidarität, Zugehörigkeit, das Empfinden einer geteilten Realität und Unterstützung zulässt und fördert und in der sich das Opfer willkommen und nicht nur geduldet fühlt.550 Rock beschreibt diese Voraussetzung als rituelles Vortragen.551 Die Atmosphäre im Strafgerichtssaal ist aber nicht für ein Ritual dieser Art ausgelegt. Sie wird vielmehr dominiert von gerade gegenteiligen Attributen wie Objektivität, Rationalität, Formalität, Organisation und Effizienz.552 Dem unparteiischen Gericht ist es auch nicht gestattet, sich mitreißen zu lassen von dem Beitrag des vermeintlichen Opfers und in zustimmender Reaktion mit ihm eine empathisch-solidarische Gemeinschaft mit 546

Siehe oben Kap. 2 A IV 1 b) aa). Zum adversatorischen Strafverfahren siehe z. B. Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 43; zum reformiert-inquisitorischen Verfahren siehe z. B. Schünemann, ERA Forum 2011, 445, 448; ders., ERA Forum 2009, 387, 395. Insgesamt krit. zum Gehörsrecht des Opfers mit Blick auf die Verteidigungsrechte des Angeklagten Sautner, in: Keiler/Gumbröck, EuGHJudikatur aktuell, S. 417, 421. 548 Siehe Kap. 2 A IV 1 a), c). 549 Freilich könnte die Anerkennung eines Opferinteresses am Strafverfahrensausgang aus anderen Gründen problematisch sein. Siehe hierzu ausführlich Kap. 3. 550 Bandes, L. & Contemp. Probs. 72 (2009), 1, 16; de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 142; Rock, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 200, 219. 551 Rock, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 200, 218. 552 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 142; Rock, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 200, 218. 547

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geteilten Realitäten und Empfindungen einzugehen.553 Dies würde den Spruchkörper dem Vorwurf der Befangenheit aussetzen. Der Angeklagte dürfte naturgemäß ebenso wenig an der Gründung einer rituellen Gemeinschaft mit dem vermeintlichen Opfer im Strafverfahren interessiert sein.554 Die Anforderung an eine Therapie-fördernde Umgebung und die gegenwärtige Realität im Strafverfahren passen folglich nicht zusammen. Um das Ziel des kathartischen Effekts dennoch zu erreichen, sind deshalb auf nationaler Ebene Vorschläge unterbreitet worden, die Struktur des Strafverfahrens und die Architektur des Gerichtssaals umzugestalten. Alle am Verfahren Beteiligte einschließlich der Richter sollten sich auf einer Ebene treffen, der Prozess müsse informeller gestaltet werden und das Opfer müsse individuell bestimmen können, wann es gehört werden wolle.555 Zudem sollten die Richter verpflichtet werden, im Verfahren mündlich die Anerkennung des Opferbeitrags auszudrücken und Sympathie zu signalisieren.556 Würde die Struktur des Strafprozesses allerdings diesen Vorschlägen entsprechend verändert und auf die Steigerung des emotionalen Wohlbefindens des vermeintlichen Opfers ausgerichtet, würde der Strafprozess in ein Aliud transformiert. Es erscheint schwer vorstellbar, dass in einem solchen auf Emotionalität und Informalität ausgerichteten Verfahren noch fair und objektiv über die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Angeklagten befunden werden könnte. Würde das Ziel des Gehörsrechts ernst genommen und zur Umsetzung von Art. 10 Abs. 1 die Struktur des Verfahrens entsprechend angepasst, würde damit die Verteidigungsposition des Angeklagten beeinträchtigt. Aus Rücksicht auf die Rechte des Angeklagten sollten die Mitgliedstaaten daher im Rahmen ihres Ermessens bei der Gestaltung des Gehörsverfahrens davon absehen, das „Milieu“ im Strafgericht entsprechend zu verändern. Dies würde allerdings auch bedeuten, dass – erneut – ein Zweck des Gehörsrechts nicht optimal erreicht würde. Eine Belastung des Beschuldigten könnte schließlich aus einer praktischen Auswirkung des Gehörsrechts resultieren. Die Möglichkeit des vermeintlichen Opfers, in jedem Verfahrensstadium gehört zu werden und Beweismittel beizusteuern, kann das Verfahren verlängern.557 Potenziert wird dieses Phänomen, wenn in einem Verfahren mehrere Personen gem. Art. 10 Abs. 1 über einen Gehörsanspruch verfügen.558 Insbesondere in Haftfällen kann aber bereits eine geringe Verzögerung 553 Bandes, L. & Contemp. Probs. 72 (2009), 1, 16: zudem seien Richter nicht zum Heilen ausgebildet. 554 Rock, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 200, 219. 555 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 147. 556 Van Camp/de Mesmaecker, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 277, 284 f., 287; Roberts/ Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 240. 557 Krit. daher Klip, Europ. J. Crime. Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 188; verhalten krit. Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 254. A.A. zu dieser Kritik im Kontext von VIS Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 235, 247: Studien hätten ergeben, dass zumindest der Einbezug von VIS nicht zwingend zu unverhältnismäßigen Verzögerungen des Verfahrens führe. 558 Siehe hierzu in Mass Killing Verfahren in den USA Logan, Georgetown L. J. 96 (2007), 721, 749 ff.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

den Beschuldigten unverhältnismäßig belasten. Nur eine maßvolle Ausgestaltung des Gehörsverfahrens könnte diesen Konflikt beilegen. Die Regelung der Verfahrensmodalitäten obliegt gem. Art. 10 Abs. 2 den Mitgliedstaaten, die bei der Ausfüllung des Umsetzungsspielraums die Beschuldigtenrechte wahren müssen.559 Damit liegt es in der Verantwortung der nationalen Gesetzgeber, das Gehörsverfahren so auszugestalten, dass unverhältnismäßige Verzögerungen vermieden werden. Der Ausschluss einiger potentieller Opfer von der Wahrnehmung ihres Gehörsrechts – etwa in Massenverfahren – als mögliche Entschärfung des Verzögerungsproblems wäre allerdings weder mit dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 noch mit dem Sinn und Zweck der Richtlinienvorgabe vereinbar. Insbesondere bei Mitwirkung zahlreicher potentieller Opfer scheint die Auflösung des Konflikts deshalb kaum möglich. bb) Beiträge zur Strafzumessung Eine gesonderte Betrachtung verdient die Tatsache, dass Art. 10 Abs. 1 verlangt, dass sich das potentielle Opfer nicht nur zum Tatgeschehen, sondern auch zu den Tatfolgen und zur Strafzumessung äußern kann. Dass solche Äußerungen erfasst sind, folgt aus dem Wortlaut und aus einer teleologischen Auslegung der Norm. Denn die Erreichung aller drei Zwecke des Gehörsrechts – Verfolgung eigener Interessen am Verfahrensausgang, Steigerung der Zufriedenheit mit dem Verfahren und Verarbeitung des Geschehens mittels kathartischer Kommunikation – würde durch die Möglichkeit gefördert, sich zur Strafzumessung zu äußern.560 Zumindest die vom Täter verschuldeten Auswirkungen der Tat auf das Opfer sind nach nationalem Recht auch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen und somit im Strafverfahren festzustellen.561 Über diese Tatfolgen kann naturgemäß das Opfer am besten Auskunft geben. Während es aus erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten insofern sogar 559

Siehe ausführlich Kap. 2 C I. Siehe auch Kap. 2 A IV 1 b). 561 Für das deutsche Recht folgt dies aus § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, §§ 69 Abs. 2 S. 2, 244 Abs. 2 StPO. Bei Aussagen des Verletzten zu den Auswirkungen der Tat hat der Vorsitzende gem. § 238 Abs. 1 StPO sicher zu stellen, dass die Angaben erhoben werden, BR-Drucks. 213/ 11, S. 12. Für das englische Recht ergibt sich die Relevanz der Tatfolgen für die Strafzumessung aus Criminal Justice Act 2003, sec. 143(1) in Verbindung mit sec. 1.17, 1.9 und 1.10 der vom Sentencing Guideline Council verfassten Sentencing Guidelines „Overarching Principles: Seriousness“ (http://goo.gl/CAiJFh, 30. 1. 2018). Criminal Justice Act 2003, sec. 143(1) besagt: „In considering the seriousness of any offence, the court must consider […] any harm which the offence caused, was intended to cause or might foreseeably have caused.“ Sec. 1.17 der Sentencing Guidelines legt fest, dass es auf die verschuldeten Auswirkungen ankommt; sec. 1.9 und 1.10 bestimmen, dass die Auswirkungen auf das Opfer nach Ermessen des Gerichts einbezogen werden können; weiterführend Edwards, Internat. J. Evidence & Proof 2009, 293, 296 f. Die Staatsanwaltschaft führt, wenn nötig, die relevanten Fakten in die Strafzumessungsverhandlung ein, ggf. über die Benennung des Verletzten als Zeugen, oder der Richter erhebt die Informationen, Sprack, Criminal Procedure, 22.06 ff., 22.09 f. Eines Anspruchs auf Gehör bedürfte es zur Ermittlung der Tatfolgen folglich in keiner der beiden Rechtsordnungen. 560

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geboten sein kann, gerade das (vermeintliche)562 Opfer zu einigen dieser Punkten zu hören,563 steht zu befürchten, dass ein Anspruch auf manche der Äußerungen Rechte des Angeklagten/Täters sowie die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards in Bezug auf die Strafzumessung gefährden könnte. In einigen nationalen Rechtsordnungen haben (vermeintliche) Opfer das Recht, sich zu den Folgen der Tat in VIS zu äußern. In diesem Kontext ist kritisiert worden, dass so die Strafzumessung illegitim beeinflusst würde. Würden etwa Angehörige eines verstorbenen Opfers die Tatfolgen beschreiben, würde die Strafhöhe davon beeinflusst, wie die Angehörigen den Verstorbenen präsentierten.564 Stellten sie ihn als liebenswerten Menschen dar, dessen Tod ein großer Verlust für sie sei, bestünde eine größere Wahrscheinlichkeit, dass eine härtere Strafe zur Abgeltung der Tatfolgen verhängt würde, als wenn sie ihn als Zeitgenossen beschrieben, dessen Ableben keinen größeren Nachteil bedeute. Dürfe das (vermeintliche) Opfer Stellung zu der von ihm favorisierten Strafe beziehen, würde die Strafzumessung von dem Zufall abhängig gemacht, ob der Täter ein besonders gnädiges oder ein besonders rachsüchtiges Opfer geschädigt habe.565 Darüber hinaus seien die Stellungnahmen des (vermeintlichen) Opfers als Informationsgrundlage für die Strafzumessungsentscheidung oft ungeeignet, da sie nicht belastbare oder nicht nachprüfbare Angaben enthielten oder mit Inhalten gespickt seien, die für die Strafzumessung außer Betracht bleiben müssten.566 Können derartige Äußerungen die Strafzumessung beeinflussen, besteht die Gefahr, dass die verhängte Strafe nicht verhältnismäßig die Schuld des Täters spiegelt, sondern unter Verletzung der Fairness- und Gleichheitsgrundsätze die Präferenzen des (vermeintlichen) Opfers oder die Beliebtheit eines Verstorbenen. Äußerungen des (vermeintlichen) Opfers zu den Tatfolgen und Stellungnahmen zur „gewünschten“ Strafhöhe können damit dazu führen, dass die

562 In einigen Rechtsordnungen ist die Hauptverhandlung zweigeteilt und das Opfer wird erst im zweiten Teil zu den Tatfolgen gehört, nachdem die Schuld des Angeklagten bereits förmlich festgestellt wurde. In einem solchen Fall ist der Opferstatus im Verfahren nicht länger vorläufig. 563 Aus diesem Grund wird die Einführung von VIS zu instrumentellen Zwecken gefordert. Danach sollen VIS den Richter über die Tatauswirkungen für die Strafzumessungsentscheidung informieren, Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 619 – 621; Roberts/Erez, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 235; Roberts/Manikis, Victim Personal Statements, S. 9 f.; Kirchengast, Oxford J. Legal Stud. 31 (2011), 133, 137 f. Schneider, Kriminalpolitik, S. 44, fordert aus diesem Grund die Einführung von VIS in Deutschland. 564 Krit. Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 638 f. 565 So auch die Richter in der englischen Entscheidung R v Nunn [1996] 2 Cr. App. R. (S) 136, 140. Ebenso krit. zu jedem Einfluss von Opferaussagen auf die Strafe Ashworth, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 185, 199; Hoyle, in: Maguire et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 398, 412; Hudson, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 125, 128 f. Krit. dazu, wie sich Opfervergebung auf die Strafzumessung auswirken könnte Edwards, Crim L. Rev. 2001, 689, 695 ff. 566 DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 80; Morgan/Sanders, The Uses of Victim Statements, S. 25 ff.; Sanders, in: Cape, Reconcilable rights, S. 97, 104.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Strafzumessung von illegitimen Faktoren beeinflusst wird und unangemessene Strafen verhängt werden.567 Allein die Nennung illegitimer Faktoren durch das (vermeintliche) Opfer heißt indes nicht zwangsläufig, dass sie auf die Strafzumessungsentscheidung durchschlagen und zu unverhältnismäßigen Strafen führen. Der Grad der Gefahr, die von den Äußerungen ausgeht, hängt vielmehr davon ab, ob sie bei der Strafzumessungsentscheidung zwingend berücksichtigt werden müssen. Das Äußerungsrecht in Art. 10 Abs. 1 würde folglich primär dann ein Risiko für die verhältnismäßige Strafzumessung begründen, wenn das (vermeintliche) Opfer nach Unionsrecht nicht nur die Folgen der Tat beschreiben und seine Meinung zur Strafhöhe äußern können müsste, sondern seine Äußerungen bei der Entscheidung auch berücksichtigt werden müssten. Nach der Richtlinie soll das Recht auf Gehör auch dazu dienen, prozessuale Gerechtigkeit für das Opfer herzustellen und so seine Zufriedenheit mit dem Strafverfahren zu steigern.568 In der auf nationaler Ebene zu VIS geführten Diskussion, wie das Gehör die Prozesserfahrung des (vermeintlichen) Opfers verbessern könne, wird überwiegend gefordert, dass die Ausführungen die Strafzumessung tatsächlich beeinflussen müssten.569 Denn damit ein Gehört-werden als befriedigende Beteiligung empfunden werde und zu einer positiven Beurteilung des Verfahrens beitrage, müsse das Gesagte tatsächlich berücksichtigt werden.570 Würde dieser Standard auf Art. 10 übertragen, müsste sich der Beitrag des (vermeintlichen) Opfers im Verfahrensergebnis widerspiegeln. Damit aber würde die Strafzumessungsentscheidung unter Verletzung des Grundsatzes richterlicher Unabhängigkeit zumindest partiell dem gerichtlichen Spruchkörper entzogen. Eine gleichmäßige Strafzumessung könnte nicht mehr gewährleistet werden. Eine solche Auslegung 567 Dazu, welche Auswirkungen der Tat auf das Opfer bei der Strafzumessung berücksichtigt werden sollten Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 439 ff.; ders., in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 185, 199; Edwards, Internat. J. Evidence & Proof 2009, 293, 295 ff.; Hall, Victims of Crime, S. 20; Hoyle, in: Maguire et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 398, 412 f.; Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 233; Wemmers, Eur. J. Crim. Pol. Res. 11 (2005), 121, 128. 568 Siehe oben Kap. 2 A IV 1 b) cc). 569 Nur vereinzelt wird bezweifelt, dass es dem Wunsch des potentiellen Opfers entspreche, die Strafzumessung beeinflussen zu können, siehe Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 441 f.; ders., in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 185, 198; Hoyle, in: Maguire et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 398, 412; Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 232, 234; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 242 f. Zur Auffassung der englischen Opferschutzorganisation Victim Support, dass Opfer keinen Einfluss auf die Strafe des Täters erhalten wollten Reeves/Dunn, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 46, 58 f.; Reeves/Mulley, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 125, 140; Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 178 f. 570 DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 62; Edwards, Howard J. Crim. Just. 2001, 39, 50; Erez, Crim. L. R. 1999, 545, 550 Fn. 30, 552; Hall, Victims of Crime, S. 20; Morgan/ Sanders, The Uses of Victim Statements, S. 30; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 247 ff.; Sanders, in: Cape, Reconcilable Rights, S. 97, 103; Wemmers, Eur. J. Crim. Pol. Res. 11 (2005), 121, 126. Aus empirischer Sicht siehe Sweeting et all, Ministry of Justice Research Series 17/08, S. 19, 28 f.

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und Anwendung des Artikels wäre damit unvertretbar und ist laut der Kommission auch mit der Richtlinienvorgabe nicht intendiert.571 Stattdessen ist Art. 10 so zu interpretieren, dass die Beiträge des (vermeintlichen) Opfers zu den Tatfolgen und der Strafzumessung zwar zur Kenntnis genommen und, soweit möglich, berücksichtigt werden müssen, dass die gerichtliche Entscheidungsinstanz aber nicht an sie gebunden ist.572 Trotz des Gehörsrechts kann und muss die endgültige Entscheidung über die Strafzumessung im nationalen Recht damit stets einer unabhängigen Entscheidungsinstanz obliegen. Die Gefahr, dass die Strafzumessung aufgrund der Beiträge des (vermeintlichen) Opfers durch illegitime Faktoren beeinflusst wird, ist damit zumindest begrenzt. Denn die Entscheidungsinstanz sollte in der Lage sein, zu differenzieren, welche Beiträge der Strafzumessung zugrunde gelegt werden dürfen, und welche Äußerungen nach den Vorgaben der jeweiligen nationalen Rechtsordnung als illegitim oder irrelevant zu ignorieren sind.573 Auch sollte der Spruchkörper die individuellen Präferenzen hinsichtlich der Sanktionierung in den Kanon der Strafziele einordnen und entsprechend gewichten können. Obwohl die Äußerungen des (vermeintlichen) Opfers damit rechtlich nicht auf die Strafzumessung durchschlagen müssen, könnte dennoch ein mittelbarer Einfluss zu befürchten sein. Die Darstellung der Tatfolgen und der Bestrafungspräferenzen durch die Person, die (vermeintlich) unmittelbar verletzt worden ist, kann mitunter sehr bewegend sein und so einen indirekten psychologischen Einfluss auf die Entscheidungsinstanz ausüben.574 Insbesondere die in vielen Rechtsordnungen an der Strafzumessung beteiligten Laienrichter könnten allein durch die Kenntnisnahme 571

Kommission, Guidance Document, S. 29, weist ausdrücklich darauf hin, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt werden soll. 572 Siehe oben Kap. 2 A IV 1 a). 573 Dito zur Verteidigung von VIS Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 247. 574 Für Ausschnitte aus Stellungnahmen in einem Serienmörder-Fall, in denen Angehörige die verstorbenen Opfer eindrücklich emotional beschreiben Szmania/Gracyalny, Internat. Rev. Victimology 13 (2006), 231, 237 ff. Beschreibungen einer Mutter zu den Auswirkungen der Tötung ihrer Tochter durch einen Attentäter finden sich bei Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 618: „How has this affected my family[?] […] My Mom gave up her fight for life, 6 weeks after Vanessa was taken from us, and my youngest daughter Susanna had a miscarriage the same night my Mom passed away. My husband and I cry every day, we struggle to get through each and every day, you wake up with it, you carry it through your day and it goes to bed with you every night. All you can do is hope tomorrow will be a little easier [than] today. February 12 has never ended for us; it feels like one long continuous day that will never end. […]“ Für Beispiele, wie Angehörige der verstorbenen Opfer in einem Serienmörderfall zum gewünschten Strafmaß Stellung beziehen, siehe Szmania/Gracyalny, Internat. Rev. Victimology 13 (2006), 231 ff., z. B. S. 237: „He’s gonna go to hell and that’s where he belongs.“, S. 238: „Your Honor, Gary Ridgway is a terrorist. Not a political terrorist, but nevertheless, a terrorist … Gary Ridgway is an evil creature, who I would condemn to many, many long years of anguish and despair. He doesn’t deserve a quick, painless, humane death … a humane death penalty should be reserved for killers who are capable of honest remorse.“, S. 238: „He’s an animal. I don’t wish for him to die, I wish for him to have a long, suffering, cruel death. Hopefully terminal cancer.“

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

einer (emotionalen) Schilderung der Tat und ihrer Folgen durch das (vermeintliche) Opfer unterbewusst beeinflusst und in ihrer Entscheidung gelenkt werden.575 Auch psychologische Auswirkungen auf Berufsrichter lassen sich nicht vollständig ausschließen.576 Die Wahrscheinlichkeit, dass als Folge der Wahrnehmung des Gehörsrechts durch das (vermeintliche) Opfer unverhältnismäßige Strafen verhängt werden, wird somit zwar verringert, wenn eine professionelle Instanz über die Strafe entscheidet und dabei nicht an die Beiträge des (vermeintlichen) Opfers gebunden ist. Ganz ausschließen lassen sich illegitime Einflüsse und damit Spannungen zu den Rechten des Angeklagten/Täters aber nicht.577 Festzustellen ist damit, dass insbesondere die Möglichkeit des (vermeintlichen) Opfers, eine Stellungnahme zur Strafzumessung abzugeben, mit Blick auf die Beschuldigtenrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze nicht unproblematisch ist.578 Eine Umsetzung von Art. 10 in nationales Recht, die sowohl vollumfänglich seine Ziele im Interesse des Opfers verwirklicht und zugleich die Rechte des Angeklagten/ Täters sowie rechtsstaatliche Grundsätze wahrt, ist damit nicht zu bewerkstelligen. Trotz der Konsequenz, dass das Ziel, die Zufriedenheit mit dem Verfahren zu steigern, so unter Umständen nur eingeschränkt erreicht würde, dürfen die Mitgliedstaaten die jeweilige Entscheidungsinstanz jedenfalls nicht verpflichten, die Äußerungen zur Strafzumessung zu berücksichtigen. Zumindest erwägen sollten sie zudem, dem (potentiellen) Opfer die Nennung solcher Präferenzen zu untersagen.579 575 Braun, German L. J. 14 (2013), 1889, 1904; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 83. Szmania/Gracyalny, Internat. Rev. Victimology 13 (2006), 231, 242, untermauern die Vermutung der Beeinflussung von Laienrichtern mit einer Studie, die zeigt, dass Geschworene häufiger die Todesstrafe gegen einen Angeklagten verhängten, wenn er in einem VIS als „Tier“ oder „unmenschlich“ bezeichnet worden ist. 576 Sanders, in: Cape, Reconcilable rights, S. 97, 104 unterstellt Berufsrichtern, dass sie in dem Wunsch, den Ausführungen des Opfers gerecht zu werden, ungerechtfertigt Strafen erhöhten. In Umfragen ist eine emotionale Einflussnahme belegt worden, Sweeting et all, Ministry of Justice Research Series 17/08, S. 30. Vgl. auch Eisenberg, HRRS 2011, 64, 66 zur suggestiven Beeinflussung von Richtern im Kontext des § 69 Abs. 2 S. 2 StPO. 577 Morgan/Sanders, The Uses of Victim Statements, S. 29, stellten einen geringen, aber straferhöhenden Einfluss von VIS fest; so auch Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 233. Nach Erez, Crim. L. Rev. 1999, 545, 547 f. hingegen führen VIS nicht zu längeren, sondern zu verhältnismäßigeren Strafen; ähnlich Herman/Wassermann, Crime & Delinquency 47 (2001), 421, 432 f.; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 247. 578 Teilweise wird zwar argumentiert, die Darlegung der Straftatfolgen durch das Opfer sei auch positiv für den Täter, weil sie seine Resozialisierung begünstige, Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 612, 623 f.; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 78; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 235 f., 241. Empirische Studien stellen die positive Wirkung von VIS auf den Angeklagten allerdings in Frage, siehe Booth, Griffith L. Rev. 22 (2013), 430, 439, 445 ff. 579 Dieser Vorschlag wird auch praktiziert. In der englischen Rechtsprechung z. B. wurde zunächst jeder Einfluss von Opferaussagen auf die Strafzumessung abgelehnt, Nunn [1996] 2 Cr. App. R. (S) 136, 140. In den späteren Entscheidungen Roche [1999] 2 Cr. App. R. (S) 105 und Perks, Crim. L. Rev. 2000, 606, 607 wurde hingegen die Möglichkeit anerkannt, Opfer-

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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cc) Bewertung und Ergebnis Um den Anspruch auf Gehör so umzusetzen, dass alle nach der Richtlinie mit ihm verfolgten Zwecke optimal erreicht werden, müsste das Strafverfahren umgestaltet werden. Eine derartige Umgestaltung wäre allerdings wie aufgezeigt mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens und den Beschuldigtenrechten kaum bzw. nicht vereinbar. Wird der Gehörsanspruch hingegen so umgesetzt, dass die Garantie eines fairen Verfahrens gewahrt bleibt, können die mit ihm verfolgten Ziele aus Opfersicht nicht optimal erreicht werden. Die Verfahrensanforderungen, die erforderlich wären, um die Opferinteressen entsprechend der Unionsvorgaben zu erfüllen, und die Anforderungen, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens einzuhalten sind, stehen damit in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis. Die Mitgliedstaaten müssen den Anspruch auf Gehör und Beweisbeibringung aus Art. 10 Abs. 1 in nationales Recht umzusetzen. Die Ausgestaltung der Verfahrensmodalitäten steht gem. Art. 10 Abs. 2 in ihrem Ermessen. Damit obliegt es den nationalen Gesetzgebern, durch Ausfüllung dieses Spielraums eine Balance herzustellen zwischen einer Ausgestaltung, die die Richtlinienziele effektiv umsetzt, und einer Ausgestaltung, die die Garantie eines fairen Verfahrens wahrt. Da für den Angeklagten/Täter im Strafverfahren alles auf dem Spiel steht, sollten seine Interessen im Zweifel priorisiert werden.580 Dass eine solche Ausgestaltung die Ziele des Gehörsanspruchs nur eingeschränkt umsetzt, ist zur Wahrung der Beschuldigtenrechte und der Garantie eines fairen Verfahrens hinzunehmen. Die Intention der EU, Straftatopfern Gehör zu verschaffen, ist nicht zu beanstanden. Zu kritisieren ist allerdings, dass die von der EU damit verfolgten Ziele zu ambitioniert sind. Sie erfordern implizit eine Umsetzung des Anspruchs, die eine ausreichende Rücksicht auf die Beschuldigten-/Täterrechte vermissen lässt, und überschätzen das Heilungspotential des Strafprozesses. Die EU löst dieses Dilemmas nicht selbst, sondern delegiert das Herstellen eines Ausgleichs zwischen den Zielen der Vorgabe und den Verfahrensgarantien indirekt an die Mitgliedstaaten. Die nationalen Gesetzgeber müssen dieser Pflicht bei der Ausfüllung ihres Umsetzungsermessens nachkommen, ohne über Leitlinien der EU für die notwendige Abwägungsentscheidung zu verfügen. Wenn die EU die Richtlinienvorgabe schon nicht selbst einschränkt, wäre zumindest eine ausdrückliche Reflektion über die Gefahren, die mit der Umsetzung des Gehörsrechts für den Grundsatz des fairen Verfahrens verbunden sein können, wünschenswert gewesen – wenigstens in den Erwägungsgründen.

meinungen strafmildernd zu berücksichtigen; krit. Besprechung bei Edwards, Crim L. Rev. 2001, 689, 695 ff. Aufgrund der im Text beschriebenen Probleme ist mittlerweile gesetzlich geregelt, dass Opfer keine Aussagen zur Strafhöhe in VPS abgeben dürfen und Gerichte sie ignorieren müssen, CPVC, Okt. 2015, ch. 2 A § 1.12; Criminal Practice Direction Sentencing F: Victim Personal Statement, [2013] EWCA Crim 1631, F 3 d. 580 Siehe oben Kap. 2 C I.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

b) Überprüfung des Verzichts auf Strafverfolgung Art. 11 räumt dem vermeintlichen Opfer die Möglichkeit ein, eine strafverfolgungs-behördliche Entscheidung, auf die Strafverfolgung zu verzichten, überprüfen zu lassen. Damit kann es im Ergebnis die Strafverfolgung eines bestimmten Verdächtigen bewirken, die andernfalls nicht betrieben worden wäre. Fraglich ist, ob diese Möglichkeit mit den Beschuldigtenrechten kollidiert. Ein Angeklagter, dem die Tat vorzuwerfen ist, hat grds. keinen Anspruch darauf, dass die Strafverfolgung gegen ihn ohne rechtmäßigen Grund unterleibt. Allein die Betreibung der Strafverfolgung gegen ihn belastet ihn damit nicht in seinen Rechten. Diskussionsbedürftig ist allerdings, ob Vergleichbares für eine verdächtige Person gilt, die unschuldig ist. Die Entscheidung, ein Strafverfahren gegen eine verdächtige Person zu betreiben, hat zunächst vorläufigen Charakter; erst am Ende des Strafprozesses wird die finale Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der verfolgten Person getroffen.581 Während der strafrechtlichen Ermittlungen und eines sich ggf. anschließenden Strafprozesses hat der Verdächtige die Möglichkeit, sich gegen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu wehren.582 Zwar können bereits die Strafverfolgungsaktivitäten als solche für den Verdächtigen belastend sein. Allerdings basieren diese Aktivitäten als Gegengewicht auf einem entsprechenden Verdacht gegen die betroffene Person, und Zwangsmaßnahmen im Verfahren unterliegen strikten Voraussetzungen. Schließlich rechtfertigt das öffentliche Interesse an einer effizienten Strafverfolgung und der dazu notwendigen Aufklärung bestehender Verdachtsmomente die mit der Strafverfolgung verbundenen, verhältnismäßigen Belastungen auch eines unschuldig Verdächtigen. Insgesamt wird damit auch der Verdächtige, dem die Tat nicht vorgeworfen werden kann, nicht allein dadurch in seinen Rechten verletzt, dass die Strafverfolgungsbehörden einem gegen ihn bestehenden Verdachtsmoment auf Initiative des vermeintlich Verletzten nachgehen. Bedingung dafür ist allerdings, dass die Strafverfolgung stets unter den gleichen Eingangsvoraussetzungen betrieben wird und verdächtige Personen einem vergleichbaren Strafverfolgungsrisiko ausgesetzt sind, unabhängig davon, auf wessen Initiative die Verfolgung begonnen wird.583 Um eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Verdächtigen auszuschließen, ist daher sicherzustellen, dass die Entscheidung über die Aufnahme der Strafverfolgung in Fällen mit Opferintervention nicht an materiell anderen Kriterien gemessen wird als in ansonsten identischen Fällen ohne Opferintervention.584 Dazu muss garantiert werden, dass die Überprüfung der Nichtverfolgungsentscheidung auf Antrag eines vermeintlichen 581 Vgl. auch die parallele Wertung, dass aus diesem Grund im deutschen Recht kein Rechtsmittel gegen die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens besteht, BVerfGK, NStZ 2004, 447. 582 R (on the application of S) v Crown Prosecution Service [2015] EWHC 2868 (Admin) Rn. 28. 583 Vgl. im nationalen Kontext Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 42. 584 Vgl. im nationalen Kontext Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 218.

C. Balance zu den Beschuldigtenrechten

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Opfers von einem objektiven Organ anhand derselben Kriterien vorgenommen wird, die bei der Entscheidung über die Aufnahme der Strafverfolgung in allen anderen Fällen angelegt werden. Das Anfechtungsrecht als solches bedroht die Beschuldigtenrechte damit nicht.585 Allerdings wird mit Art. 11 zugleich ein subjektives, auf die Unrechtfeststellung im Strafurteil bezogenes Interesse des Opfers am Strafverfahrensausgang anerkannt. Würde die Anerkennung dieses Genugtuungsinteresses konsequent umgesetzt und das Interesse entsprechend in das Gefüge des Strafverfahrens integriert, könnten die Verhältnisse im Strafverfahren zu Lasten der Position des Beschuldigten verändert werden.586 Dieses Problem ist eng verbunden mit der Frage, ob sich die Anerkennung eines solchen Genugtuungsinteresses konfliktfrei in die nationalen Strafjustizsysteme integrieren lässt und ob auf diese Weise die Bedürfnisse des Opfers effizient befriedigt würden. Diese Fragen bedürfen einer näheren Untersuchung.

III. Kritik der Richtlinienlösung und verbleibende Problempunkte Während viele der in der RL 2012/29/EU normierten Rechte, besonders im Unterstützungsbereich, die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren nicht tangieren und damit unter dem Aspekt der Balance zu den Beschuldigtenrechten als unproblematisch zu bewerten sind, kollidiert ein nicht unerheblicher Teil der Schutzund Teilnahmevorgaben potentiell mit den Beschuldigtenrechten. Einige der materiellen Schutzvorschriften können die Verteidigungsrechte empfindlich einschränken. Das formelle Begutachtungsverfahren der Schutzbedürftigkeit kann die Unvoreingenommenheit von Entscheidungsträgern im Strafverfahren trüben und Konflikte mit der Unschuldsvermutung begründen. Die Ziele, die mit dem Gehörsrecht verfolgt werden sollen, erfordern eine Umsetzung, die die Verteidigungsrechte und Verfahrensposition des Beschuldigten schwächen würde. Das Recht, Nichtverfolgungsentscheidungen anzufechten, schließlich kollidiert zwar nicht per se mit den Rechten des Verdächtigen. Die dem Recht zugrunde liegende Anerkennung eines Genugtuungsbedürfnisses des Opfers könnte das Strafverfahren aber zu seinen Lasten verändern. Positiv ist, dass die Richtlinie die Spannungen zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechten – insbesondere aufgrund von Nachbesserungen während der TrilogVerhandlungen im Gesetzgebungsverfahren – zumindest grds. realisiert und partiell auch zu entschärfen versucht. In einigen Vorschriften geschieht das explizit durch die Mahnung, die Verteidigungsrechte zu wahren, z. B. im Kapitel zum Opferschutz. In vielen Vorschriften wird allerdings nur indirekt auf die Beschuldigtenrechte Bezug 585 I. E. ebenso allgemein Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 42; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 252 f. 586 Siehe ausführlich Kap. 3 B.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

genommen, indem den Mitgliedstaaten ein Umsetzungsspielraum eingeräumt wird. Bei Ausfüllung dieses Spielraums müssen die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Grundrechtsbindung einen Ausgleich mit den Beschuldigtenrechten herstellen. Leitlinien dazu, wie diese expliziten und impliziten Vorbehalte zugunsten der Beschuldigtenrechte auszufüllen sind, enthält die Richtlinie nicht.587 Stattdessen überträgt sie die mitunter diffizile Abwägung allein den Mitgliedstaaten. Sie sind dafür verantwortlich, die Opferrechte so in das nationale Recht zu implementieren, dass die Verfahrenssituation auch einem unschuldig Verfolgten gegenüber zu rechtfertigen ist und das Strafverfahren insgesamt fair bleibt.588 Einige Richtlinienvorgaben lassen dies jedoch bei strikter Lesart kaum zu, z. B. die Vorgaben zum Begutachtungsverfahren und zum Recht auf Gehör. Zu erwarten ist deshalb, dass nationale Gesetzgeber unterschiedliche Kompromisse eingehen werden zwischen der Wahrung der Beschuldigtenrechte und der vollständigen Umsetzung der Richtlinienziele. Diese Situation ist nicht zuletzt mit Blick auf die Voraussetzung der Kompetenzgrundlage in Art. 82 Abs. 2 AEUV problematisch. Danach müssen die Richtlinienvorgaben insbesondere dazu beitragen, das gegenseitige Vertrauen der nationalen Justizorgane in die Strafjustizsysteme der anderen Mitgliedstaaten zu fördern.589 Aufgrund der offenen Regelungslage können nationale Justizorgane jedoch nicht sicher davon ausgehen, dass andere Mitgliedstaaten die einseitigen Vorgaben der Opferrechterichtlinie unter ausreichender Berücksichtigung der Beschuldigtenrechte in ihre nationalen Systeme implementieren und so die Balance im ihrem Strafverfahren erhalten. Ob diese Regelungslage zur Vertrauensförderung beiträgt, ist deshalb fragwürdig. Gleichzeitig ist die Richtlinie von einer Priorisierung der Opferbelange geprägt.590 So wird z. B. in den verschiedenen Richtlinienvorgaben nicht der jeweils prozessual relevante Begriff – Verdächtiger, Angeklagter oder Straftäter – verwendet. Stattdessen erklärt EG 12, dass der Begriff „Straftäter“ gleichermaßen für Personen verwendet werde, die wegen einer Straftat verurteilt wurden, wie auch für verdächtige oder angeklagte Personen vor einem Schuldeingeständnis oder einer Verurteilung. Die pauschale Erklärung, der Begriff „Straftäter“ gelte für alle Szenarien und seine Rechte würden durch die Richtlinienvorgaben ohnehin nicht tangiert, signalisiert eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber einer ausgewogenen Regelung seiner Position. Weiterhin steht die Detaildichte, mit der die Opferrechte normiert 587

Ähnlich Klip, Europ. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 185. Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 290, sollte damit mit seiner Prognose aus dem Jahr 2004 Recht behalten: „Wie die unvermeidlichen Konflikte zwischen Beschuldigten- und Verletzteninteressen aufzulösen oder jedenfalls zu entschärfen sind, ist bekanntlich eines der diffizilsten und sensibelsten Probleme für jede Strafprozeßordnung [sic]; ob sich deren angemessene Lösung aus einer europaweit verbindlichen Auflistung von jeweiligen „Mindestrechten“ ergeben kann, mag man mit Fug bezweifeln.“ Einen Versuch, den Konflikt zwischen Beschuldigten- und Verletzteninteressen mit Mindeststandards aufzulösen, unternimmt die Richtlinie gar nicht, sondern überlässt dies den Mitgliedstaaten. 589 Siehe Kap. 1 D I 3 a). 590 I. E. ebenso Klip, Europ. J. Crime, Crim. L. & Crim. Just. 23 (2015), 177, 187. 588

Bewertung der Richtlinie

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und konkretisiert werden, in scharfem Kontrast zu den dünnen Ausführungen zu den ggf. kollidierenden Beschuldigtenrechten und zu Leitlinien, wie dieser Konflikt aufzulösen ist.591 Außerdem kehrt die Richtlinie zumindest im Schutzbereich die Prioritäten im Strafverfahren um: Der Schutz des Opfers wird als primärer Grundsatz definiert, Regeln zu Gunsten der Beschuldigtenrechte oder anderer Verfahrenszwecke, die von diesem Grundsatz abweichen, müssen als Ausnahmen davon besonders begründet werden. Diese Prioritätenumkehr hat paternalistische Tendenzen und erschwert dem Beschuldigten potentiell die Wahrnehmung seiner Rechte. Insgesamt richtet die Richtlinie das Strafverfahren an den Bedürfnissen des (vermeintlichen) Opfers aus und weist ihm eine zentrale Position im Strafjustizsystem zu.592 Aus Sicht des Beschuldigten ist damit eine ambivalente Bilanz zu ziehen. Seine Rechte werden von der Richtlinie nicht vollständig ignoriert. Für ihre Gewährleistung ist er jedoch auf die nationalen Gesetzgeber und im Zweifel auf eine wohlwollende Auslegung der Richtlinienvorgaben zu seinen Gunsten durch den EuGH angewiesen. Insbesondere die Zentrierung des Strafverfahrens auf die Belange des (vermeintlichen) Opfers und eine konsequente Integration von dessen Genugtuungsinteresse in das Verfahrensgefüge kann für die Stellung des Beschuldigten trotz möglicher Schutzvorkehrungen nachhaltige Veränderungen bewirken.

D. Bewertung der Richtlinie: Das Genugtuungsinteresse des Opfers als neuralgischer Punkt? Die EU verfolgt bei der Ausgestaltung der Opferrechterichtlinie einen pragmatischen Ansatz. Ausgangspunkt bildet die Annahme verschiedener praktischer Bedürfnisse von Straftatopfern, die möglichst umfassend befriedigt werden sollen. Resultat dieser Vorgehensweise ist eine Richtlinie, die Regeln in relativ großer thematischer Breite normiert. Abgedeckt werden Bedürfnisse von Straftatopfern vor, während und nach dem Strafverfahren sowie einige davon unabhängige Belange. Interessen, die regulatorisch wenigstens angerissen werden, reichen von Schutz im und außerhalb des Strafverfahrens über Information, Entschädigung, Kostenerstattung, Versöhnung, Wiedergutmachung, therapeutische Heilung, Genugtuung, praktische Unterstützung und Lebenshilfe bis hin zur Ausbildung von Personen mit Kontakt zu Opfern und der Sensibilisierung der Zivilgesellschaft für Opferbelange. Die Richtlinie verankert so einen umfassenden Kanon an Opferrechten, die in justiziabler Form in den nationalen Rechtsordnungen zu implementieren sind und dem

591 592

Krit. auch Königs/Wahedi/Waterbolk, J. Politics & L. 6 (2013), 14, 24. Siehe auch Kommission, Guidance Document, S. 7.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

Opfer die Position eines Rechtssubjekts im Strafjustizsystem vermitteln. Opfer mit speziellen Schutzbedürfnissen erhalten besondere Aufmerksamkeit. Aus dem Blick geraten sind dabei Effizienz und kompetenzrechtliche Grenzen. Unter Effizienzgesichtspunkten ist zu befürchten, dass die schiere Anzahl detailreicher Regelungen und erläuternder Erwägungsgründe zu einer Umsetzungsmüdigkeit und Überforderung auf nationaler Ebene führt.593 Die hohen Kosten, die mit der Umsetzung der detaillierten Informations- und Unterstützungsrechte verbunden sind, könnten die Implementierung zusätzlich lähmen. Unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten ist die Vorgabe der thematisch breiten Regelungen aufgrund des Schrankenregimes der Assimilierungskompetenz in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV bedenklich.594 Zahlreiche Richtlinienvorgaben erfüllen insbesondere nicht die Voraussetzungen der Erforderlichkeitsklausel und des Subsidiaritätsprinzips.595 Auch wenn viele der Regelungen politisch wünschenswert sein mögen, überschreitet die EU mit zahlreichen Vorgaben der RL 2012/29/EU ihre Regelungskompetenz. Der pragmatisch-politische Wunsch, Opferrechte umfassend zu normieren, hat damit wie in der Vergangenheit auch post Lissabon kompetenzrechtliche Bedenken überwogen. Schließlich scheint die Auswahl der normierten Rechte weniger an einem theoretischen Konzept zur Rolle des Opfers im Strafverfahren orientiert, als vielmehr an pragmatischen Annahmen zu Opferwünschen sowie der politischen Konsensfähigkeit einzelner Rechte. Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass das Schrankenregime der Kompetenzgrundlage kaum zulässt, die Rolle des Opfers im Strafjustizsystem einem dogmatischen Konzept folgend umfassend auszugestalten. Aus Sicht des Verbrechensopfers thematisiert die Richtlinie eine Vielzahl seiner Bedürfnisse. Zugleich bleiben aber zahlreiche Rechte, besonders im Verfahrensbereich, vage und werden nur eingeschränkt normiert oder entgegen dem horizontalen Ansatz der Richtlinie doch nicht allen von der Opferdefinition erfassten Personen zugestanden. Ein allgemeines Rechtsmittel, mit dem das Opfer einen Verstoß gegen seine Rechte durch die Behörden rügen und Kompensation fordern könnte, sieht das Unionsrecht nicht vor. Stattdessen normiert es nur vereinzelt bereichsspezifische Beschwerdemöglichkeiten. Gerade das Fehlen effizienter Rechtsmittel bei einem Verstoß gegen Opferrechte ist jedoch auf nationaler Ebene als eines der größten Hindernisse für eine praktische Verbesserung der Situation von Verbrechensopfern identifiziert worden. Diese Regelungslage ist nicht zuletzt auf den Gegensatz zurück zu führen, dass zwar auf allen gesetzgeberischen Ebenen politisch konsentiert ist, dass die Bedürfnisse von Straftatopfern Beachtung finden müssen, die Nationalstaaten grundlegende Veränderungen ihrer Rechtssysteme sowie kostenintensive Reformen jedoch ablehnen. Auffällig ist weiterhin die paternalistische Tendenz der Richtlinie. Sie unterstellt z. B., dass jedes Opfer Schutz benötige und 593 Pemberton/Groenhuijsen, in: Morosawa et al., Victimology, S. 535, 550 f., befürchten zudem, dass ambitionierte Vorgaben zur Entfernung der Mitgliedstaaten voneinander führen. 594 Zu den Grenzen der Assimilierungskompetenz siehe Kap. 1 D I. 595 Siehe ausführlich oben Kap. 2 B II, Kap. 1 D I 3, 4 b), 7.

Bewertung der Richtlinie

239

wünsche, anstatt die Anwendung der Schutzvorgaben primär entsprechend dem tatsächlichen Bedarf und dem individuellen Wunsch des jeweiligen Opfers auszugestalten.596 Prae Lissabon war das EU-Engagement für Straftatopfer zudem von dem Ziel geprägt, den Opferschutz im Strafverfahren zu verbessern.597 Ein Interesse des Opfers an der Strafverfolgung wurde nicht anerkannt, und dem Opfer wurde auch keine aktive Rolle im Strafverfahren eingeräumt. Post Lissabon weicht die EU von diesem auf Schutzinteressen limitierten Modell ab. Entsprechend dem politischen Leitmotiv, Straftatopfer in den Mittelpunkt der nationalen Strafjustizsysteme zu rücken und ihre Interessen umfassend zu befriedigen, berücksichtigt die EU zahlreiche weitere Interessen im Kontext des Strafjustizsystems. Anerkannt und befriedigt werden z. B. auch Interessen des Opfers an Durchführung und Ausgang des Strafverfahrens und (repressive) Interessen an aktiver Mitwirkung im Prozess. Dabei sind die Richtlinienvorgaben einseitig auf die Verwirklichung von Interessen im Kontext einer effektiven staatlichen Strafverfolgung ausgerichtet. So erhält das Opfer bspw. das Recht, Einstellungsentscheidungen anzufechten. Ein Recht, die Einstellung des Verfahrens zu erbitten, wird ihm hingegen nicht eingeräumt. Für den Fall, dass die Aussagesituation für das Opfer belastend ist, etabliert die Richtlinie Mechanismen, um die Situation erträglicher zu gestalten. Diese Mechanismen können auch zu einer verbesserten Aussageleistung führen und damit im Ergebnis zur erfolgreichen Strafverfolgung beitragen. Können die Maßnahmen im Einzelfall jedoch nicht angewandt werden, wird nicht erwogen, das Opfer von seiner Zeugenpflicht zu befreien und in der Konsequenz ggf. auf die Strafverfolgung zu verzichten. Stattdessen muss sich das Opfer der Aussagesituation stellen. Bei der Umsetzung des Leitmotivs, das Strafjustizsystem neu zu balancieren und Opfer in seinen Mittelpunkt zu rücken, wird folglich ausschließlich von Opfern ausgegangen, die eine staatliche Strafverfolgung befürworten. Damit werden Opferinteressen nur halbherzig in den Mittelpunkt gerückt, und zwar so, dass dahinter mitunter Beschuldigtenrechte zurückzutreten haben, nicht aber Belange der Strafverfolgung. Nur vereinzelte Richtlinienvorgaben betreffen schließlich Opferinteressen, die unabhängig von der staatlichen Strafverfolgung sind, wie z. B. praktische Unterstützung und Beratung. Obwohl kompetenzrechtlich problematisch,598 sind diese Vorgaben aus Opfersicht besonders zu begrüßen. Aus Sicht der Mitgliedstaaten ist eine ambivalente Bilanz zu ziehen. Die zahlreichen, thematisch breit gefächerten, detailreichen und partiell kostenintensiven Vorgaben fordern die nationalen Umsetzungskapazitäten erheblich. Zugleich ist es den Mitgliedstaaten aber gelungen, während des Trilog-Verfahrens einige ihrer In596

Siehe z. B. die Vorgaben in Artt. 4 Abs. 1, 20 lit. b, 22. Für Argumente gegen paternalistische Tendenzen in der Opferschutzgesetzgebung siehe Friedrichsen, ZRP 2012, 182, 184. 597 Kap. 1 B III, E. 598 Kap. 1 D I 3 a), Kap. 2 B II.

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Kap. 2: Die Richtlinie 2012/29/EU

teressen durchzusetzen.599 In der Folge wurden viele Richtlinienartikel in ihrer Reichweite und Verbindlichkeit abgeschwächt, konkretisiert oder um einen Umsetzungsspielraum ergänzt. Insbesondere wird die unterschiedliche Position, die das Opfer in den verschiedenen nationalen Strafrechtsordnungen einnimmt, grds. respektiert und nicht durch Vorgabe eines übergeordneten Rollenkonzepts harmonisiert. Die Ausgestaltung der Richtlinienvorgaben berücksichtigt damit – wie von Art. 82 Abs. 2 S. 2 AEUV gefordert – im Grundsatz die nationalen Rechtsordnungen und stellt sich so einem der wiederkehrenden Problemfelder supranationaler Opferrechtegesetzgebung zumindest partiell. Jedenfalls haben die Mitgliedstaaten die Überschreitung der Assimilierungskompetenz durch die EU und ihren Ansatz, sich auf die Stärkung von Individualrechten anstatt auf die Förderung der strafjustiziellen Zusammenarbeit zu konzentrieren, nicht moniert, vermutlich aufgrund kongruenter politischer Ziele.600 Ohne die formale Rolle des Opfers im Strafverfahren vorzugeben, räumt die Richtlinie ihm allerdings auf Basis seiner individuellen Verletzung einen eigenen Platz im Strafprozess ein und gestaltet den Prozess als Dreiecksverhältnis aus.601 Zugleich wird ein Interesse des Opfers an Durchführung und Ausgang des Strafverfahrens anerkannt. Auch diese Vorgaben müssen die Mitgliedstaaten in ihr nationales Recht übertragen. Zweifelhaft und zu klären ist, ob diese Prämissen mit den nationalen strafprozesstheoretischen Annahmen problemlos vereinbar sind. Aus Sicht des Angeklagten ist eine vergleichbar ambivalente Bilanz zu ziehen. Positiv ist, dass einige der Richtlinienvorgaben seine Stellung unberührt lassen und die materiellen Schutzvorschriften moderat und mit expliziten Vorbehalten zugunsten seiner Verteidigungsrechte verfasst sind.602 Für die Schutzvorschriften, die während des Ermittlungs- und Hauptverfahrens anzuwenden sind, gibt die Richtlinie in Artt. 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 sogar in der Grundtendenz vor, dass den Beschuldigtenrechten Priorität zukomme. Obwohl die Richtlinie das potentielle Spannungsfeld zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechten somit erkennt, sorgt sie allerdings nicht selbst für die Herstellung der notwendigen Balance im Verfahren. Stattdessen überträgt sie über Vorbehaltsklauseln und die Einräumung von Umsetzungsermessen den Mitgliedstaaten die Verantwortung dafür, die Vorgaben so in ihr nationales Recht zu implementieren, dass die Beschuldigtenrechte und die Garantie eines fairen Verfahrens gewahrt bleiben. Während die Opferrechte durch Unionsrecht damit umfassend vereinheitlicht werden, wird der notwendige Ausgleich der korrelierend eingeschränkten Beschuldigtenrechte ohne weitere Leitlinien den Mitgliedstaaten überlassen. Dieser Kontrast begründet zum einen Schwierigkeiten, weil die Ziele von einigen Vorgaben so formuliert sind, dass sie kaum unter gleichzeitiger Wahrung der Verteidigungsrechte umgesetzt werden können. Dies gilt z. B. für das Verfahren zur Bestimmung der Schutzbedürftigkeit des Opfers und die Vorgabe zum Recht auf 599 600 601 602

Kap. 2 B I. Kap. 2 B II. Siehe ausführlich Kap. 2 A IV 4. Siehe hierzu insgesamt Kap. 2 C.

Bewertung der Richtlinie

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Gehör, jedenfalls bei effizienter Umsetzung der damit verfolgten Zwecke.603 Zum anderen ist fragwürdig, ob dieses offene Regelungsmodell, das nicht wenigstens Leitlinien für die Herstellung eines Ausgleichs determiniert, vertrauensfördernd im Sinne von Art. 82 Abs. 2 AEUV wirkt.604 Darüber hinaus ist die Richtlinie von einer einseitigen Priorisierung der Opferbelange geprägt: Zumindest im Schutzsektor kehrt sie die Prioritäten bei Abwägungsentscheidungen zu Lasten des Beschuldigten um und bei der Anwendung von Wiedergutmachungsverfahren sollen allein Opferinteressen im Mittelpunkt stehen. Gleichermaßen kritisch zu bewerten ist die in der Richtlinie verwendete Terminologie. Die von der prozessualen Situation unabhängige, pauschale Bezeichnung als Täter signalisiert bereits eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber einer ausgewogenen Regelung der Position des Beschuldigten. Die kontrafaktische Unterstellung in Art. 2 Abs. 1 lit. a, der Opferstatus einer Person stünde jederzeit fest, kann zudem in strafprozessualen Situationen mit der Unschuldsvermutung kollidieren und begründet die Gefahr einer psychologischen Vorprägung der Verfahrensbeteiligten.605 Deshalb sollte die Definition in Art. 2 Abs. 1 lit. a modifiziert werden, sodass sie die Vorläufigkeit der Annahme verdeutlicht, eine Person sei Opfer einer Straftat.606 Schließlich erkennt die Richtlinie ein Opferinteresse am Strafverfahrensausgang und an Unrechtfeststellung im Strafurteil an. Offen und klärungsbedürftig ist, ob die Anerkennung dieses Genugtuungsinteresses und seine Integration in das Gefüge des Strafverfahrens mit den Beschuldigtenrechten kollidiert. Insgesamt zentriert die Richtlinie ein Opfer, das die Strafverfolgung wünscht, und rückt es in den Mittelpunkt des Strafjustizsystems.607 Die Realdimension einer Straftat soll im Strafverfahren berücksichtigt und insbesondere ein Genugtuungsinteresse des Opfers soll anerkannt werden. Es steht außer Frage, dass Straftatopfern Schutz und gesellschaftliche Unterstützung gebührt. Diskussionsbedürftig ist aber, ob die Konzentration auf das Strafjustizsystem zur Befriedigung insbesondere des Genugtuungsbedürfnisses von Straftatopfern aus Sicht der Betroffenen, aber auch aus Sicht der Strafjustizsysteme und des Beschuldigten überzeugt.

603

Kap. 2 C II 1 b), 2 a). Kap. 2 C III. 605 Siehe ausführlich zu dieser Kritik und dem Lösungsvorschlag Kap. 2 A II 2. 606 Eine solche Modifikation der Opferdefinition würde zudem mit der Konzeption und dem Ziel der Richtlinie, effektive und umfängliche Opferunterstützung zu gewährleisten, besser harmonieren. 607 Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 18; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 31 Fn. 50. 604

Kapitel 3

Das Genugtuungsinteresse des Opfers im deutschen und englischen Strafjustizsystem Die EU hat es sich zum Ziel gesetzt, Opfer von Straftaten in den Mittelpunkt des Strafjustizsystems zu rücken. Insbesondere fordert sie in der RL 2012/29/EU, dass die Mitgliedstaaten ein Interesse des Opfers an der offiziellen Feststellung, ihm sei Unrecht widerfahren, anerkennen. Dieses Interesse soll im Strafverfahren erfüllt werden. Auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion ist ein Unrechtfeststellungsinteresse von Straftatopfern aus empirisch-psychologischer Perspektive sowie unter normativen und straftheoretischen Gesichtspunkten untersucht und als legitim bestätigt worden.1 Dieses Interesse wird häufig als Genugtuungsinteresse bezeichnet.2 Diejenigen, die sich für die Anerkennung eines so verstandenen Genugtuungsinteresses des Opfers einsetzen, propagieren wie die EU beinahe einstimmig seine Befriedigung im Rahmen des Strafjustizsystems.3 Ob die offizielle Unrechtfeststellung aus psychologischer Sicht notwendig ist und den gewünschten Effekt erzielt, ist eine Frage des Einzelfalls. Nicht jedes Straftatopfer benötigt diese Rückversicherung, um eine Straftat zu verarbeiten und die Kontrolle über sein Leben zurückzuerlangen.4 Aber zumindest insoweit, wie die offizielle Unrechtfeststellung einem Straftatopfer nach seiner persönlichen Einschätzung bei der Tatverarbeitung hilft, sollen weder die Existenz noch die Berechtigung dieses Bedürfnisses bestritten werden. Fragwürdig ist aber, ob die einhellige Konzentration auf das Strafjustizsystem für seine Befriedigung überzeugt oder ob insofern Alternativen erwogen werden sollten. Dem wird in diesem Kapitel nachgegangen.

1

Siehe die umfangreichen Nachweise in Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2). Siehe Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2). Im Folgenden werden die Begriffe Unrechtfeststellungsinteresse und Genugtuungsinteresse synonym für dieses so umschriebene Bedürfnis verwendet. 3 Siehe hierzu ausführlich Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2) (b) (bb). Ob der Staat nur objektiv verpflichtet ist, das Genugtuungsinteresse zu befriedigen, oder ob das Opfer auch über einen entsprechenden Anspruch gegen den Staat verfügt, wird unterschiedlich beurteilt, ausführlich unten Kap. 4. 4 I. E. ebenso Hörnle, JZ 2015, 893, 895; Weigend, RW 2010, 39, 48. Hingegen verallgemeinernd für alle Verbrechensopfer Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 132. 2

A. Rechtsvergleich

243

A. Rechtsvergleich: Befriedigung des Genugtuungsinteresses im deutschen und englischen Strafverfahren de lege lata Die RL 2012/29/EU enthält die implizite Vorgabe, ein Interesse des Opfers an offizieller Unrechtfeststellung anzuerkennen und im Strafverfahren zu berücksichtigen. Das Opfer soll dieses Interesse auch im Strafprozess – vor allem mit dem Recht auf Gehör und dem Recht, Nichtverfolgungsentscheidungen anzufechten – selbst verfolgen können. Vertreter der Common Law-Tradition wenden dagegen ein, dass eine Stärkung der Position des Opfers im Strafverfahren zwar in kontinentaleuropäischen Systemen möglich sei, nicht aber in ihrem System.5 Bemerkungen von Vertretern von Civil Law-Rechtsordnungen haben allerdings gezeigt, dass auch sie befürchten, die Stärkung der Opferrolle im Strafverfahren könne mit Grundsätzen ihrer nationalen Strafjustizsysteme konfligieren.6 Gem. Art. 82 Abs. 2 AEUV ist die EU beim Erlass von Opferrechtemindeststandards verpflichtet, den Gestaltungen der nationalen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen.7 Diese Umstände legen nahe, rechtsvergleichend zu untersuchen, ob die von der EU geforderte Befriedigung eines Genugtuungsinteresses des Opfers im Strafverfahren mit den geltenden normativen Prämissen der nationalen Strafjustizsysteme vereinbar ist. Methodisch wird der dazu erforderliche Rechtsvergleich wie folgt durchgeführt:8 Als Ordnungsproblem wird die Frage untersucht, ob das Genugtuungsinteresse des Opfers in der von der EU geforderten Form problemlos im Strafverfahren berücksichtigt werden kann. Die Auswahl der zu vergleichenden Rechtsordnungen erfolgt anhand der Zugehörigkeit zu Rechtstraditionen.9 Untersucht werden die für England und Wales geltende englische sowie die deutsche Rechtsordnung. Die englische Rechtsordnung dient als Repräsentant des anglo-amerikanischen Common LawRechtskreises und die deutsche Rechtsordnung wird als ein Vertreter des kontinentaleuropäischen Rechtskreises herangezogen.10 Für jede dieser Rechtsordnungen 5 Vgl. zu den politischen Äußerungen bereits oben Kap. 1 B V, D II 2. In der Literatur wird ähnlich argumentiert, siehe z. B. Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 314 f.; indirekt auch Manikis, Pub. L. 2017, 63 f.; Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 222; Sanders/Young/ Burton, Criminal Justice, S. 741. A.A. Chiavario, in: Delmas-Marty/Spencer, European Criminal Procedures, S. 541, 567 (zum adversatorisch strukturierten Verfahren allgemein); Hall, Victims of Crime, S. 227. 6 Siehe Kap. 1 D II 2. 7 Siehe oben Kap. 1 D I 5. 8 Diese Vorgehensweise orientiert sich an den Vorschlägen von Eser, in: FS Kaiser (1998), S. 1499, 1521 f.; Jescheck, Entwicklung, Aufgaben und Methoden der Strafrechtsvergleichung, S. 40 ff.; ders./Weigend, StrafR AT, § 6 I 3 c. 9 Siehe dazu Jung, JuS 1998, 1, 3. 10 Heller/Dubber, in: dies. (Hrsg.), Handbook of Comparative Criminal Law, S. 1, 8, bezeichnen das „criminal law of the United Kingdom“ als „perhaps the most common-law of all

244

Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

wird zuerst analysiert, ob die Berücksichtigung des Genugtuungsinteresses mit den geltenden normativen Strukturen vereinbar ist und ob dem Opfer die Verfolgung dieses Interesses bereits gegenwärtig in der jeweiligen Rechtsordnung möglich ist (vertikaler Vergleich). In einem zweiten Schritt werden die jeweiligen Ergebnisse der Länderberichte in einem vergleichenden Querschnitt einander gegenüber gestellt (horizontaler Vergleich). Zuletzt erfolgt eine wertende Gesamtbetrachtung. Auf diese Weise kann zum einen mit Hilfe des vertikalen Vergleichs identifiziert werden, ob die von der EU geforderte Anerkennung eines Genugtuungsinteresses des Opfers mit den geltenden normativen Strukturen der jeweiligen nationalen Rechtsordnung kompatibel ist, bzw. aus welchen Gründen sich dabei Schwierigkeiten ergeben. Die Ergebnisse der Untersuchung von zwei mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen können zwar nicht für alle in der EU vertretenen Rechtsordnungen generalisiert werden. Sollte die Analyse jedoch ergeben, dass zumindest in der deutschen und/oder englischen Rechtsordnung die Berücksichtigung des Genugtuungsinteresses mit normativen Strukturen der Strafjustizsysteme kollidiert, müsste dies im Rahmen von Art. 82 Abs. 2 AEUV beachtet werden. Zum anderen kann mit Hilfe des horizontalen Vergleichs die These überprüft werden, ob allein normative Besonderheiten des Common Law-Systems einer stärkeren Berücksichtigung von Opferinteressen im Strafjustizsystem entgegen stehen. Denn er legt offen, ob sich unter Umständen in beiden Rechtstraditionen vergleichbare normative Hürden stellen. Schließlich kann anhand der rechtsvergleichend gewonnenen Erkenntnisse die Forderung nach der Berücksichtigung des Genugtuungsinteresses im Strafverfahren aus normativer Perspektive rechtstraditionsübergreifend bewertet werden. Insofern lassen sich aus dem Rechtsvergleich auch Anhaltspunkte dafür ableiten, ob unter Umständen alternative Modelle erwogen werden sollten, um das gewünschte Ergebnis – die Befriedigung des Feststellungsinteresses des Opfers – zu erreichen.

I. Konstruktive Elemente strafrechtlichen Unrechts EG 9 der RL 2012/29/EU betont, dass eine Straftat ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft und eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers sei. Diese Annahme zum doppelten Wesen einer Straftat ist eine Voraussetzung für die Forderung, dass im Strafverfahren auch das Unrecht gegenüber dem Opfer untersucht und ggf. offiziell festgestellt werden soll. Denn würde die Straftat allein als Unrecht gegenüber der Gesellschaft definiert, wäre die Verletzung des individuellen Opfers kein eigener Untersuchungs- und Feststellungsgegenstand im Rahmen der Untersuchung und Feststellung einer Straftat. Welche Elemente eine Straftat genau ausmachen, ist damit grundlegend für die Bestimmung der Rolle, die dem individuellen Opfer und seinen Interessen im Strafjustizsystem zukommt. Deshalb ist als erstes zu the common-law systems“. In der Annahme, dass der Leser mit dem deutschen Recht vertraut ist, wird der größere Raum der Darstellung dem englischen Recht als vornehmlich fremder Materie gewidmet.

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untersuchen, welche normativen Elemente in der deutschen und englischen Strafrechtsordnung das Wesen einer Straftat ausmachen. 1. Deutsches Recht Was das Wesen einer Straftat (den materiellen Verbrechensbegriff) ausmacht, wird im deutschen Recht uneinheitlich beurteilt.11 Es besteht zwar Einigkeit, dass Strafrecht auf besonders sozialschädliches Verhalten begrenzt ist.12 Was den maßgeblichen Sozialschaden begründet und welche Komponenten das Straftatunrecht folglich materiell konstituieren, ist hingegen umstritten.13 Nach überwiegender Ansicht besteht der maßgebliche Sozialschaden in der Gefährdung bzw. Verletzung von Rechtsgütern,14 nach anderer Ansicht in der drohenden Erosion der Normgeltung.15 Die überwiegende Ansicht stellt also die Gefährdung bzw. Verletzung von Rechtsgütern in den Mittelpunkt. Aufgabe des Strafrechts sei es, Rechtsgüter vor Verletzungen und Gefährdungen subsidiär zu schützen.16 Daraus folge, dass eine 11 Der formelle Verbrechensbegriff definiert stattdessen Straftaten anhand der im positiven Recht enthaltenen kriminalstrafbewehrten Verbotstatbestände, Heger, in: Lackner/Kühl-StGB, Vor § 13 Rn. 2; Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 1; Young-Whan Kim, ZStW 124 (2012), 591. 12 BVerfGE 120, 224, 240: Verhalten, das eine Straftat ausmache, sei „in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich“. Siehe auch Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 108; Kindhäuser, LPK-StGB, Vor § 1 Rn. 15; Kudlich, in: SSW-StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 3; Patsourakou, Stellung, S. 179; Rudolphi/Jäger, in: SK-StGB, Vor § 1 Rn. 1; Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 775. Ausdruck findet diese Dimension strafbaren Verhaltens im fragmentarischen Charakter des Strafrechts, siehe dazu BVerfGE 120, 224, 240; Baumann/Weber/ Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 8; Hassemer, in: FS Klug (1983), S. 217, 220; Heinrich, StrafR AT, § 1 Rn. 11; Satzger, in: SSW-StGB, Einl. Rn. 5. 13 Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 108; Klesczewski, StrafR BT, § 1 Rn. 4. 14 Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 109; Kudlich, in: SSW-StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 3; sowie die Nachweise im folgenden Text. In jüngerer Vergangenheit ist die systemkritische Funktion des Rechtsgutskonzepts als Orientierungspunkt für die Kriminalpolitik/Strafgesetzgebung (Erläuterungen zu dieser Funktion bei Hassemer/Neumann, in: NKStGB, Vor § 1 Rn. 113 ff.) kritisiert und teilweise abgelehnt worden, siehe z. B. BVerfGE 120, 224, 241 f.; Appel, Verfassung und Strafe, S. 381 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 155 f.; Weigend, in: LK-StGB, Einl. Rdn. 7. Rudolphi/Jäger, in: SK-StGB, Vor § 1 Rn. 8 ff.; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24, 35 ff.; Young-Whan Kim, ZStW 124 (2012), 591, 594 f., erläutern die Kritikpunkte, halten aber an der systemkritischen Funktion fest. Die dogmatische Bedeutung des Rechtsguts als materialer Gegenstand des Verbrechensbegriffs ist trotz des Streits um die systemkritische Funktion des Rechtsgutskonzepts aber bisher nicht grundlegend angegriffen worden. 15 Jakobs, Rechtsgüterschutz, S. 20, 37; ders., StrafR AT, Abschn. 2 Rn. 5. 16 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 8 f.; Hassemer/Neumann, in: NKStGB, Vor § 1 Rn. 108; Heger, in: Lackner/Kühl-StGB, Vor § 13 Rn. 3; Heinrich, StrafR AT, § 1 Rn 3; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 7; Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 31; Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1151; Kindhäuser, LPK-StGB, Vor § 1 Rn. 13; Maurach/Zipf, StrafR AT Bd. I, § 7 Rn. 4, § 19 Rn. 4; Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 1; Rudolphi/Jäger, in: SK-StGB, Vor § 1

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Straftat materiell durch die Komponente einer Rechtsgutsverletzung bzw. Rechtsgutsgefährdung und nach überwiegender Auffassung darüber hinaus durch die Komponente einer Pflichtverletzung definiert sei.17 Die Pflichtverletzung soll darin bestehen, dass ein Mensch ein Rechtsgut willentlich beeinträchtigt.18 Das Element der Pflichtverletzung wird somit auf den Rechtsgüterschutz bzw. die Art der Rechtsgutsverletzung bezogen.19 Die wesentliche materielle Komponente, die das strafrechtliche Unrecht ausmacht, ist damit nach überwiegender Ansicht die Verletzung bzw. Gefährdung (des Achtungs- bzw. Geltungsanspruchs)20 eines Rechtsguts. Was genau ein Rechtsgut ist, ist wiederum umstritten.21 Binding definierte als einer der Ersten22 den Rechtsgutsbegriff und fasste darunter „alles, was selbst kein Rn. 3; Satzger, in: SSW-StGB, Einl. Rn. 5; indirekt Swoboda ZStW 122 (2010), 24, 49 f.; Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, Rn. 9; Young-Whan Kim, ZStW 124 (2012), 591. 17 BGHSt 2, 364, 368; Eisele, in: SS-StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 8; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vorb. § 1 Rn. 112; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 8; Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 34; Kühl, StrafR AT, § 3 Rn. 3 f.; Maurach/Zipf, StrafR AT Bd. I, § 7 Rn. 4; Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, Rn. 29. Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 68: Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung. Vgl. auch (krit.) Walter, in: LK-StGB, Vor § 13 Rn. 15 f. 18 Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 8; Klesczewski, StrafR BT, § 1 Rn. 8. 19 Eisele, in: SS-StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 11; Klesczewski, StrafR BT, § 1 Rn. 8. 20 Den Begriff des Achtungsanspruchs hat Schmidhäuser, in: FS Engisch (1969), S. 431, 444 f.; ders., StrafR AT, Kap. 5 Rn. 27, 32, in die Rechtsgutsdogmatik eingeführt. In der Sache gleichbedeutend ist der Begriff des Geltungsanspruchs, vgl. Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 8. Laut Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1017 f. vergeistigt die Bezugnahme auf den Achtungsanspruch den Rechtsgutsbegriff und verdrängt das konkrete Opfer und seine individuelle Verletzung. Nach Schmidhäuser soll damit allerdings nur ausgedrückt werden, dass die Rechtsgutsverletzung nicht in der Verletzung eines konkreten Objekts, sondern in der Verletzung des vom Rechtsgut ausgehenden Achtungsanspruchs durch ein Willensverhalten bestehe und somit ein rein geistiges Phänomen sei. Der Bezug auf den Achtungsanspruch diene insofern primär der terminologischen Klarstellung, um die ohnehin allgemein anerkannte Unterscheidung zwischen dem in seiner Integrität kausal verletzbaren Handlungsobjekt und dem ideell verletzbaren Rechtsgut herauszustellen, Schmidhäuser, in: FS Engisch (1969), S. 431, 445. Die Differenzierung zwischen Handlungsobjekt und Rechtsgut wird auch von solchen Vertretern vorgenommen, die nicht auf den Achtungsanspruch abstellen (siehe sogleich im Text). Die Vergeistigung des Rechtsgutsbegriffs ist damit wohl vor allem der Differenzierung von realem Handlungsobjekt und ideellem Rechtsgut zuzuschreiben (siehe sogleich im Text), unabhängig von der terminologischen Bezugnahme auf das Rechtsgut oder dessen Achtungsanspruch. 21 Siehe überblicksartig zu verschiedenen modernen Rechtsgutkonzepten Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 3; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24, 32 ff., die den begrifflichen Differenzierungen der verschiedenen neueren Definitionen des Rechtsgutsbegriffs allerdings allenfalls marginale Bedeutung bescheinigt. 22 Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1013; Stratenwerth/Kuhlen, StrafR AT, § 2 Rn. 6 erklären Binding zum Schöpfer des Rechtsgutsbegriffs; Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 6 hingegen hält Birnbaum für den Schöpfer. Jedenfalls wesentlich an der frühen Prägung des Rechtsgutsparadigmas beteiligt waren Birnbaum (Theorie vom Schutz rechtlicher Güter) und von Liszt. Zu den historischen Rechtgutskonzepten von Birnbaum, Binding und von Liszt siehe Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1012 ff.; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1

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Recht doch in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für dieses von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat, und das er deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.“23 Im zeitgenössischen Schrifttum definiert Roxin Rechtsgüter als „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen […], die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.“24 Die personale Rechtsguttheorie25 definiert Rechtsgüter als strafrechtlich schutzbedürftige menschliche Interessen.26 Trotz aller definitorischen Unterschiede ist damit konsentiert, dass ein Rechtsgut ein abstrakter/ideeller Wert – und kein körperlich-realer Gegenstand – ist, der aufgrund seiner besonderen Bedeutung für die Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger und das Zusammenleben in der Gesellschaft Rechtsschutz genießt.27 Die normative Relevanz der Verletzung des individuellen Opfers für das strafrechtliche Unrecht hängt von dieser einstimmig vorgenommenen Differenzierung ab: Die Rechtsgutslehren unterscheiden das Rechtsgut als ideellen Wert strikt von dem realen Handlungsobjekt.28 Das reale Handlungsobjekt ist der konkret-körperliche Gegenstand, an dem eine strafrechtlich relevante Handlung vollzogen wird.29 Die Annahme, die materielle Unrechtskomponente einer Straftat bestehe in der Verletzung (des Geltungsanspruchs) eines Rechtsguts, bedeutet deshalb, dass nicht die Verletzung eines körRn. 123 f. (dort auch zu der der Etablierung des Rechtsgutsbegriffs vorhergehenden Rechtsverletzungslehre Feuerbachs); Swoboda, ZStW 122 (2010), 24, 26 ff. 23 Binding, Die Normen und ihre Übertretungen, Bd. I, S. 353 – 355. 24 Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 7. 25 Siehe dazu Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 131 ff. 26 Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 144; Young-Whan Kim, ZStW 124 (2012), 591, 592. 27 Siehe nur Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 7, 10; Eisele, in: SS-StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 9; Frister, StrafR AT, Kap. 3 Rn. 22; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 7, 257 f.; Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 37 („Vergeistigung“); Kindhäuser, LPK-StGB, Vor § 1 Rn. 14; Kudlich, in: SSW-StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 5; Schmidhäuser, StrafR AT, Kap. 5 Rn. 25, 27; ders., in: FS Engisch (1969), S. 431, 443; Walter, in: LK-StGB, Vor § 13 Rn. 13 f.; Weigend, in: LK-StGB, Einl. Rn. 8; Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, Rn. 11. A.A. Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 66 f. 28 Diese Abgrenzung geht auf von Liszt zurück, Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1015. Zur Abgrenzung im zeitgenössischen Schrifttum Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 10; Eisele, in: SS-StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 9; (krit.) Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1021; Hassemer, in: FS Klug (1983), S. 217, 221; ders./Neumann, in: NKStGB, Vor § 1 Rn. 121; Heinrich, StrafR AT, § 1 Rn. 12; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 257, 259 f.; Kindhäuser, LPK-StGB, Vor § 1 Rn. 14; Maurach/Zipf, StrafR AT Bd. I, § 19 Rn. 14 ff.; Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 65; Schmidhäuser, StrafR AT, Kap. 5 Rn. 25 ff.; ders., in: FS Engisch (1969), S. 431, 444 f.; Sessar, Bewährungshilfe 27 (1980), 328, 329; Stratenwerth/ Kuhlen, StrafR AT, § 8 Rn. 12; Walter, in: LK-StGB, Vor § 13 Rn. 14; Weigend, in: LK-StGB, Einl. Rn. 8; Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, Rn. 14. 29 Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 259 f.; Kindhäuser, LPK-StGB, Vor § 1 Rn. 14; Schmidhäuser, in: FS Engisch (1969), S. 431, 444.

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perlichen Objekts, sondern die Verletzung (des Geltungsanspruchs) eines ideellabstrahierten Wertes das materielle Straftatunrecht konstituiert.30 Zwar wird der Erfolgsunwert einer Straftat in der realen Beeinträchtigung des Handlungsobjekts erblickt, z. B. in der konkreten Vernichtung eines Menschenlebens im Falle eines Tötungsdelikts.31 Strafrechtlich entscheidend ist nach der Rechtsgutslehre aber nicht die konkrete Beeinträchtigung des realen Objekts, sondern die in der Beeinträchtigung verkörperte Missachtung (des Geltungsanspruchs) des Rechtsguts.32 Im Mittelpunkt des Unrechts z. B. eines Tötungsdelikts steht also nach der Rechtsgutslehre nicht die Vernichtung des Lebens des konkret betroffenen Menschen, sondern die Beeinträchtigung des Lebensschutzes überhaupt.33 Die empirisch-reale Verletzung des Opfers dient nur der äußerlichen Verkörperung der strafrechtlich relevanten Rechtsgutsverletzung.34 Damit tritt die empirisch-reale Verletzung des Opfers hinter der Rechtsgutsverletzung zurück.35 Aufgrund dieser „Vergeistigung des Unrechtsbegriffs“36 durch die Entindividualisierung des Rechtsguts spielen das individuelle Opfer und seine empirisch-reale Betroffenheit im Kontext des materiellen Verbrechensbegriffs und in der Folge bei der Ahndung einer Straftat nach der Rechtsgutslehre aus dogmatisch-theoretischer Perspektive keine Rolle.37 Nach einer abweichenden, von Jakobs begründeten Ansicht ist Aufgabe des Strafrechts nicht der Rechtsgüterschutz, sondern die Verhinderung eines Normgeltungsschadens bzw. die Einübung von Normanerkennung.38 Das Wesen einer Straftat 30 Eisele, in: SS-StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 9; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 121; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 257; Kilchling, NStZ 2002, 57, 58; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 36. 31 Statt vieler Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, Rn. 29. 32 Sarhan, Wiedergutmachung, S. 37; Schmidhäuser, in: FS Engisch (1969), S. 344 f.; ders., StrafR AT, Kap. 5 Rn. 32. Vgl. Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 259 f.; Walther, Rechtsbruch, S. 151. 33 Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1015. 34 Schmidhäuser, in: FS Engisch (1969), S. 431, 444: am Tatobjekt schlage sich die gedachte Rechtsgutsverletzung in sichtbarer Veränderung nieder. Deskriptiv Sarhan, Wiedergutmachung, S. 37. 35 In diesem Sinne Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1021; ders., ZStW 104 (1992), 361, 377; Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1151; Kilchling, NStZ 2002, 57, 58; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 37; Schmidt, in: Asholt et al., Grundlagen und Grenzen des Strafens, S. 175, 178; Schünemann, NStZ 1986, 193 f.; Seelmann, JZ 1989, 670; Sessar, Bewährungshilfe 27 (1980), 328, 329; Walther, Rechtsbruch, S. 150 f., 215. Ähnlich auch Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 10. So speziell zur personalen Rechtsgutslehre Kleinert, Mitwirkung, S. 85 f. 36 Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1021. 37 Eser, ZStW 104 (1992), 361, 377; Walther, Rechtsbruch, S. 215 f. 38 Jakobs, Rechtsgüterschutz?, S. 20; ders., StrafR AT, Absch. 1 Rn. 10 f., Abschn. 2 Rn. 2, 18 ff., 22 ff.; ihm folgend z. B. Lesch, JA 1994, 590, 598; ders., Verbrechensbegriff, S. 191 ff. Dagegen z. B. Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 110 ff.; Rudolphi/Jäger, in: SK-StGB, Vor § 1 Rn. 5; Weigend, in: LK-StGB, Einl. Rdn. 6. – Siehe zu weiteren abweichenden Theorien Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 103 ff.

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– das strafrechtliche Unrecht – besteht nach dieser Ansicht nicht in einer Rechtsgutsverletzung, sondern in einem Normwiderspruch.39 Maßgeblich seien die Negation der Bedeutung der güterschützenden Norm, die in der empirisch-realen Güterverletzung zum Ausdruck komme, und die damit verbundene Enttäuschung der normativen Erwartung der Gesamtgesellschaft.40 Die äußerliche Folge des Normbruchs, also die empirisch-reale Verletzung des Opfers, sei hingegen gerade kein konstituierendes Element des strafbaren Unrechts.41 Stattdessen verkörpere die faktische Verletzung des Opfers lediglich die allein strafrechtlich relevante Negation der Norm, also die Enttäuschung der generalisierten Verhaltenserwartung.42 Wie nach der Rechtsgutslehre ist damit auch nach dieser Auffassung das empirisch erlebte Leid des Opfers keine das Straftatunrecht unmittelbar konstituierende Komponente. Daraus wird von den Verfechtern der Lehre im Weiteren gefolgert, dass den empirisch fassbaren Verletzungen des Opfers und seinen Interessen im Strafrecht bzw. bei der Reaktion auf eine Straftat im Strafverfahren dogmatisch keine Bedeutung zukommen könne:43 Weil das strafrechtliche Unrecht unabhängig vom persönlichen Leid des Opfers konstruiert werde, könne das Interesse des Opfers, das aus der Erfahrung des persönlichen Leids resultiere, bei der Reaktion auf das strafrechtliche Unrecht keine unmittelbare Rolle spielen. Damit ist die empirisch-reale Verletzung der Interessen des individuellen Opfers nach keiner der beiden Ansichten ein konstituierendes Element des materiellen Straftatunrechts. Vielmehr dient die Opferverletzung nur dazu, als empirisches Substrat einen normativ begründeten Konflikt erfahrbar zu machen.44 Als strafrechtlich relevant wird nicht die Betroffenheit und das Leid des Opfers anerkannt, sondern die Missachtung (des Geltungsanspruchs) eines ideell-abstrahierten Rechtsguts bzw. die Enttäuschung normativer Erwartungen der Gesamtgesellschaft.45 Aufgrund dieser überindividuellen Deutung des Unrechtsgehalts einer 39 Jakobs, Rechtsgüterschutz?, S. 20, 37; ders., StrafR AT, Absch. 2 Rn. 5; Lesch, JA 1994, 590, 598 (das strafrechtliche Übel bestehe im Angriff auf die Normgeltung); ders., Verbrechensbegriff, S. 193. 40 Jakobs, StrafR AT, Absch. 2 Rn. 2, 5; Lesch, JA 1994, 590, 598; dazu Swoboda ZStW 122 (2010), 24, 43. 41 Jakobs, StrafR AT, Absch. 2 Rn. 5: „Nicht die Verursachung eines Todes ist Strafrechtsgutsverletzung (sie ist schlicht Gutsverletzung), sondern der in der vermeidbaren Tötung liegende Normwiderspruch.“ Lesch, JA 1994, 590, 598 (das spezifisch strafrechtliche Übel eines Totschlags sei nicht die Leiche des Opfers, sondern der Angriff auf die Normgeltung); dazu Sarhan, Wiedergutmachung, S. 33 ff.; Swoboda ZStW 122 (2010), 24, 43. 42 Jakobs, StrafR AT, Absch. 2 Rn. 6; Lesch, JA 1994, 510, 590, 598. 43 Lesch, JA 1994, 510, 590, 598. 44 Sarhan, Wiedergutmachung, S. 38. Ähnlich Kleinert, Mitwirkung, S. 129. 45 Ob diese Grundprämisse von der herrschenden Meinung in der materiellen Strafrechtsdogmatik stets konsequent eingehalten wird, ist kontrovers. Insofern wird insbesondere kritisiert, dass das Institut der rechtfertigenden Einwilligung nicht erklärbar sei, wenn man davon ausginge, dass den Interessen des realen Opfers keine Bedeutung beim Straftatbegriff bzw. Strafgrund zukomme, dazu Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 74 ff.; krit. zur

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Straftat betrifft sie primär die Gesellschaft als Ganze und nicht das individuelle Opfer.46 Anders als in EG 9 RL 2012/29/EU angelegt, ist die Verletzung der Interessen des Opfers damit traditionell kein Bestandteil des Straftatbegriffs in der deutschen Strafrechtsdogmatik.47 Tatsache ist gleichwohl, dass – wie von der Opferrechterichtlinie festgestellt – ein Verhalten, das ein Rechtsgut/eine Norm in strafrechtlich relevanter Weise verletzt oder gefährdet, in vielen Fällen48 zugleich eine Individualperson empirisch-real materiell und/oder immateriell schädigt. Diese Tatsache wird freilich auch im deutschen Recht nicht ignoriert. Allerdings werden beide Folgen, obwohl sie aus dem gleichen Realsachverhalt resultieren,49 von der herrschenden Ansicht gemäß dem auf Binding zurückgehenden Trennungsgrundsatz dogmatisch getrennt behandelt: Nach diesem Grundsatz ist das Strafrecht mit der Kriminalstrafe von dem bürgerlichen Deliktsrecht mit der Rechtsfolge des Schadensersatzes theoretisch abzugrenzen.50 Die Strafe sei eine Reaktion der Allgemeinheit auf eine vorwerfbare Verletzung des öffentlichen Interesses an der Geltung der durch die Begehung der Straftat verletzten Rechtsnorm und diene der Disziplinierung des Täters, der Ahndung und Missbilligung seiner Handlung und der Abwehr zukünftiger gleicher Verstöße durch ihn oder andere.51 Die Strafe wird damit als Antwort auf ein schuldhaft begangenes, normatives Unrecht erachtet und nicht als Reaktion auf den Schaden, den der Täter dem Opfer empirisch zugefügt hat.52 Der Schadensersatz herrschenden Ansicht Sarhan, Wiedergutmachung, S. 230 ff.; die herrschende Ansicht verteidigend Maurach/Zipf, StrafR AT Bd. I, § 17 Rn. 36 f. 46 Diese überindividuelle Deutung des Unrechtsgehalts einer Straftat findet sich auch schon in historischen Strafrechtstheorien von Locke (der die Straftat als Bruch des Gesellschaftsvertrages konstruiert), Kant und zu geringerem Anteil bei Feuerbach, siehe Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1007 ff. 47 Ähnlich Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 10; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 40. 48 Zwingend ist dies nicht, wie die Strafbewehrung des untauglichen Versuchs oder die Verletzung (des Geltungsanspruchs) von Kollektivrechtsgütern zeigen, so z. B. auch Heinrich, StrafR AT, § 1 Rn. 3. 49 Zu der Diskussion, ob bürgerliches und strafrechtliches Unrecht einheitlicher oder verschiedener Natur sind, siehe Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 30 ff. 50 Siehe Binding, Die Normen und ihre Übertretungen, Bd. I, S. 284 – 290. Vgl. auch BGHSt 2, 364, 368. Aus dem gegenwärtigen Schrifttum Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 58; Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 29 f.; Frister, StrafR AT, Kap. 1 Rn. 2 f.; Hanloser, Gehör, S. 193 f.; Hirsch, in: FS Engisch (1969), S. 304, 315, 327; Kindhäuser, LPK-StGB, Vor § 1 Rn 4; Lesch, JA 1994, 510 f.; Patsourakou, Stellung, S. 174, 190; Rieß, Gutachten, Rn. 60; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 16, 21 ff. In diese Richtung auch Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 10; Heinrich, StrafR AT, § 1 Rn. 3; Weigend, Deliktsopfer, S. 205 f. Kritisch zum Trennungsgrundsatz (aus Opfersicht) z. B. Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1154 f.; Schöch, NStZ 1984, 385, 387; Weigend, NJW 1987, 1170, 1176. 51 Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 29; Frister, StrafR AT, Kap. 1 Rn. 3; Lesch, JA 1994, 510, 512. 52 Sarhan, Wiedergutmachung, S. 23 f. Vgl. auch BGHSt 2, 364, 368: „Daß das Sühnebedürfnis des Verletzten nicht der ausschlaggebende Rechtsgrund für die strafrechtliche

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hingegen orientiere sich an den Interessen des individuell Geschädigten und diene der Kompensation des empirisch-realen Schadens des Opfers.53 Ein Realsachverhalt begründet danach zwei zu trennende Konflikte:54 einen durch den empirisch-realen Schaden geprägten Konflikt im horizontalen Verhältnis zwischen dem Täter und dem individuellen Opfer sowie einen zweiten normativ geprägten Konflikt im vertikalen Verhältnis zwischen dem Täter und dem objektiven Recht/der Gesellschaft. Jener horizontale Konflikt und seine Folgen werden im Zivilrecht behandelt, das Strafrecht widmet sich der Lösung des vertikalen Konflikts. In der Konsequenz ist der Verantwortliche dem Betroffenen zivilrechtlich zum Ausgleich verpflichtet und sieht sich zugleich dem Strafanspruch der Gesellschaft ausgesetzt. Auch wenn in jüngeren Diskussionen der Schadenswiedergutmachung eine strafrechtliche Bedeutung beigemessen wird55 und der zivilrechtlichen Entschädigung pönale Elemente zugeschrieben werden,56 werden nichtsdestotrotz die Rechtguts-/Normverletzung und die zivilrechtliche unerlaubte Handlung grundsätzlich weiterhin rechtlich getrennt.57 Konsequenz dieser dogmatischen Trennung ist, dass im Strafrecht nicht die empirisch-reale Schädigung des individuellen Opfers, sondern die davon zu trennende Verletzung des Rechtsguts/einer Norm im Mittelpunkt steht.58 Die Interessen des individuellen Opfers und seine Schädigung werden im bürgerlichen Recht behandelt. Zusammenfassend ist gemäß der deutschen Strafrechtslehre das konstruktive Element einer Straftat die Verletzung eines ideellen Rechtsguts bzw. einer abstrakten Norm, das bzw. die der Gesamtgesellschaft zugeordnet ist. Die empirisch-reale Verletzung des individuellen Opfers spielt im Straftatbegriff keine Rolle; sie verkörpert lediglich den besonders sozialschädlichen, die Gesellschaft als Ganze betreffenden Angriff auf das Rechtsgut bzw. die Norm. Diese Konstruktion des Straftatbegriffs bedingt, dass der Strafanspruch dem Staat/der Gesellschaft zugeordnet ist und das Strafrecht ausschließlich einen normativen Konflikt zwischen dem Ahndung ist, bedarf keiner näheren Darlegung.“ Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 58; Frister, StrafR AT, Kap. 1 Rn. 2 f.; Hanloser, Gehör, S. 193; Hirsch, in: FS Engisch (1969), S. 304, 317; Lesch, JA 1994, 510, 511 f.; Patsourakou, Stellung, S. 177. 53 Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 29; Frister, StrafR AT, Kap. 1 Rn. 2; Kindhäuser, LPK-StGB, Vor § 1 Rn 4; Lesch, JA 1994, 590; Patsourakou, Stellung, S. 177 f. 54 Siehe dazu Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 9; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 46 f. Vgl. auch Jakobs, StrafR AT, Absch. 1 Rn. 8; Lesch, JA 1994, 590, 598; Patsourakou, Stellung, S. 190; Weigend, Deliktsopfer, S. 206 mit Fn. 113. 55 Siehe z. B. §§ 46 Abs. 2, 46a StGB. Allerdings wird die Bedeutung der Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer durch den Täter im Strafrecht mit dem Gedanken gerechtfertigt, dass der Täter dadurch zugleich die Geltung der verletzten Rechtsnorm anerkenne und so das öffentliche Interesse an der Bestrafung der Rechtsverletzung beseitige bzw. mindere. Die grds. Trennung zwischen öffentlich-rechtlicher Strafe und privatrechtlichem Schadensersatz wird somit nicht aufgehoben, Frister, StrafR AT, Kap. 1 Rn. 6; Roxin, StrafR AT Bd. I, § 3 Rn. 72 ff.; umfassend Sarhan, Wiedergutmachung, S. 191 ff.; a.A. wohl Schöch, NStZ 1984, 385, 387. 56 Siehe Hirsch, in: FS Engisch (1969), S. 305 ff. 57 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 58; Rieß, Gutachten, Rn. 60. 58 Sarhan, Wiedergutmachung, S. 17, 31, der deshalb das Trennungsdogma überwinden will, S. 220 ff.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Täter und dem objektiven Recht/der Gesellschaft (vertikales Verhältnis) regelt.59 Die empirisch-reale Schädigung des Opfers sowie der Konflikt im horizontalen Verhältnis zwischen Täter und individuellem Opfer werden entsprechend dem Trennungsgrundsatz hingegen im bürgerlichen Deliktsrecht behandelt. Nach diesen Prämissen ist die empirisch-reale Betroffenheit des individuellen Opfers gerade nicht Bezugspunkt des Straftatbegriffs. Das staatliche Strafrecht entsteht vielmehr mit der Neutralisierung des Opfers.60 Wenn aber das dem einzelnen individuell widerfahrene empirisch-reale Unrecht nicht Bezugspunkt des strafrechtlichen Unrechtsverständnisses und damit der Strafrechtsdogmatik ist, fehlt es aus dogmatischer Perspektive am legitimierenden Moment dafür, ein auf eben dieses Unrecht bezogenes Feststellungsinteresse des Opfers im Strafrecht/-prozess zu behandeln.61 2. Englisches Recht a) Vorbemerkungen Vor der inhaltlichen Analyse des englischen Rechts sind einige Erläuterungen zu den Grundlagen der ausländischen Vergleichsrechtsordnung angezeigt. Im Vereinigten Königreich Großbritanniens und Nordirlands gelten drei separate Rechts- und Gerichtssysteme: das für England und Wales geltende englische, das schottische und das nordirländische System. Die folgende Darstellung untersucht allein die englische Rechtsordnung. Kennzeichnend für das zum Common Law-Rechtskreis gehörende englische System ist die im Vergleich zu den kontinentalen Rechtsordnungen geringere Bedeutung kodifizierten Rechts. Primäre Rechtsquelle ist in vielen Rechtsgebieten (nach wie vor) das von der Judikative gesprochene Recht. Obgleich das materielle und formelle Strafrecht mittlerweile zu Teilen kodifiziert ist, entfalten die ungeschriebenen Regeln des Common Law daneben weiterhin Bedeutung, insbesondere im Bereich des allgemeinen Teils des materiellen Strafrechts.62 Soweit der englische Gesetzgeber Regelungen erlässt, geschieht dies zudem in der Regel in Form von Einzelgesetzen. Neue Vorgaben werden zumeist nicht in bestehende Regelwerke integriert. Anders als z. B. im deutschen Recht existieren daher kein einheitliches Strafgesetzbuch und keine einheitliche Strafprozessordnung, sondern 59

Vgl. Hirsch, in: FS Engisch (1969), S. 305, 317; Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 775. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 70. 61 Weil die Verletzung des Opfers nicht der legitimierende Anknüpfungspunkt des Strafrechts ist, wird darüber hinaus davon ausgegangen, dass die individuellen Interessen des Opfers nicht ohne dogma-tischen Bruch in das Strafrecht bzw. Strafverfahren integriert und darin befriedigt werden können, siehe nur Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1023 f. (der deshalb für eine duale Verbrechenkonzeption wirbt); Hirsch, in: FS Engisch (1969), S. 304, 317; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 17, 23 f.; ähnlich Kleinert, Mitwirkung, S. 129; Lesch, JA 1994, 510, 512; ders., JA 1994, 590, 598; Weigend, NJW 1987, 1170, 1176. Vgl. auch Jakobs, StrafR AT, Absch. 1 Rn. 8. 62 Heller/Dubber, in: dies., Handbook of Comparative Criminal Law, S. 1, 8. 60

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es gilt eine Vielzahl einzelner Gesetze jüngeren und älteren Datums nebeneinander. Außerdem werden zahlreiche Rechtsfragen im Straf- und Strafprozessrecht nicht in Parlamentsgesetzen behandelt, sondern in untergesetzlichen Regelungsmechanismen, die in ihrer Verbindlichkeit für die Adressaten – zumeist staatliche Akteure – differieren. Dazu gehören z. B. administrative guidelines, codes of practice, procedural rules und chartas. Der Code of Practice for Victims of Crime z. B., der die Leistungen für Straftatopfer im Strafjustizsystem regelt, gehört zur sog. secondary legislation63. Er ist nicht unmittelbar gerichtlich durchsetzbar, enthält aber einen internen Beschwerdemechanismus.64 b) Konstruktive Elemente strafrechtlichen Unrechts Nach herrschender Ansicht zum englischen Common Law ist eine Straftat ein public wrong, also ein Unrecht, das die Gesellschaft als Ganze betrifft, im Gegensatz zu einem private wrong, das nur eine einzelne Person tangiert.65 Diese Auffassung geht zurück auf die Konzeptualisierung von Straftaten als Verletzung des königlichen Friedens (breach of the King’s Peace) im 12. Jahrhundert, deren Verfolgung deshalb von der Krone übernommen wurde.66 Später ist die auf den König bezogene Interpretation abgelöst worden von der Annahme, dass es die Gesellschaft als Ganze sei, die von einer Straftat in besonderer Weise betroffen werde.67 Entsprechend erklärte bereits Sir William Blackstone in seinen einflussreichen Abhandlungen zum englischen Recht aus dem 18. Jahrhundert: „The distinction of public wrongs from private, of crimes and misdemeanors from civil injuries, seems principally to consist in this: that private wrongs, or civil injuries, are an infringement or privation of the civil rights which belong to individuals, considered merely as individuals; public wrongs, or crimes and misdemeanors, are a breach and violation of the public rights and duties, due to the whole community, considered as community, in its social aggregate capacity.“68 Die Überzeugung, dass sich eine Straftat dadurch auszeichnet, dass sie 63 Die Rechtsnatur des Codes ist der einer Rechtsverordnung im deutschen Recht vergleichbar. 64 Siehe hierzu Kap. 3 A III 2 a) ee) (1) (b). 65 Allen, Legal Duties, S. 221, 233 f.; Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 91. – Ob jedes Verhalten, das von der Legislative bzw. Judikative in England und Wales vor allem in jüngerer Zeit als Straftat qualifiziert wurde, diese Eigenschaft aufweist, wird bezweifelt, siehe z. B. Ashworth, L. Quarterly Rev. 116 (2000), 225, 226 ff.; Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 7; Simester et al., Criminal Law, S. 3. Gegenwärtig beschreibt die Klassifizierung als public wrong insofern zumindest, welches Verhalten normativ legitimerweise als Straftat qualifiziert werden sollte, aber nicht notwendigerweise auch, welche Eigenschaft jedes Verhalten, das als Straftat bezeichnet wird, rechtstatsächlich aufweist. 66 Davor wurden Straftaten im englischen Recht noch nicht als öffentliches Unrecht konzeptualisiert, siehe dazu Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 90; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614; ausführlich Langbein/Lerner/Smith, History of the Common Law, S. 31 f. 67 Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614. 68 Blackstone, Commentaries, Vol. IV, S. 5.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft als Ganze bzw. den sie repräsentierenden Staat (public wrong) darstellt, hat damit eine lange Tradition im englischen Common Law.69 Auch heute entspricht die Konzeptualisierung einer Straftat als public wrong der herrschenden Auffassung zum Recht in England und Wales.70 Dabei verkennt das englische Recht nicht, dass das tatsächliche Geschehen, das ein public wrong begründet, oft zugleich auch eine Individualperson verletzt. Vielmehr ist anerkannt, dass dasselbe tatsächliche Geschehen zugleich ein public und ein private wrong begründen kann.71 Ein Schlag in das Gesicht einer Person z. B. wird aufgrund der public wrong-Komponente als strafrechtlich relevante Körperverletzung qualifiziert und stellt zugleich aufgrund der Verletzung der Person auch ein private wrong dar. Das private wrong kann eine zivilrechtliche Haftung des Verursachers nach dem Deliktsrecht (tort law) oder dem Vertragsrecht (contract law) auslösen.72 Das Vorliegen des public wrong veranlasst strafrechtliche Konsequenzen. Ein einheitliches tatsächliches Geschehen kann also zugleich eine zivilrechtliche und eine strafrechtliche Haftung begründen.73 Zwingend ist das simultane Vorliegen von public und private wrong allerdings auch im englischen Recht nicht.74 So soll z. B. der erfolglose Versuch, eine andere Person zu verletzen, zwar ein public wrong darstellen und als solches eine strafrechtliche Haftung begründen können. Ein pri69

Allen, Legal Duties, S. 221, 234; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614. Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 16 (Lord Bingham): „A crime is an offence against the good order of the state.“ Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 284; ders., Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 90 ff.; Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 155; Doak, Victims’ Rights, S. 35 (krit.); Marshall/Duff, Canadian J. L. Jurisprudence 11 (1998), 7 f., 20 (zum Common Law allgemein); Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 700; Glidewell/ Dear/McFarland, The Review of the Crown Prosecution Service, ch. 5 Rn. 79; Hudson, in: Cape, Reconcilable rights, S. 125, 126; Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 5; Sanders, in: Hoyle/ Young, Visions, S. 197, 201; Simester et al., Criminal Law, S. 2 – Eine abweichende Ansicht geht davon aus, dass es unmöglich sei, eine materielle Komponente zu bestimmen, die eine Straftat charakterisiere und sie von anderen Unrechtsarten unterscheide. Möglich sei ausschließlich eine formal-prozessuale Definition, die auf die rechtliche Konsequenz des Verhaltens abstelle. Eine Straftat sei danach ein Verhalten, das in einem Strafverfahren im Namen des Staates geahndet und bestraft werden könne. Siehe grundlegend Williams, Current Legal Problems 8 (1955), 107, 123 ff.; ihm folgend Baker, Glanville Williams Textbook of Criminal Law, ch. 1 Rn. 52; ebenso Allen, Textbook on Criminal Law, S. 1 f.; Card/Molloy, Criminal Law, 1.3., 1.7; deskriptiv und mwN Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 12 ff. 71 Ashworth, L. Quarterly Rev. 116 (2000), 225, 233; ders., Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 90; Card/Molloy, Criminal Law, 1.6. 72 Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 90. So schon Blackstone, Commentaries, Vol. IV, S. 5: „every public offense is also a private wrong“. 73 Allen, Textbook on Criminal Law, S. 1; Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 285; Card/ Molloy, Criminal Law, 1.5 f.; Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 12. Der Fokus der beiden Haftungsregime ist unterschiedlich. Während das Zivilrecht mit der Kompensation real eingetretener Schäden befasst ist, geht es im Strafrecht um eine staatlich zensierende Reaktion auf eine individuell vorwerfbare Handlung, siehe Ashworth, Criminal L. F. 4 (1993), 277, 283, 286; ders., Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 87 ff. 74 Siehe dazu und zum Beispiel im Text ausführlich Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 285 f.; ders., Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 90; Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 12 f. 70

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vate wrong hingegen entstehe nicht und damit auch keine zivilrechtliche Haftung. Public und private wrong sind demzufolge nicht identisch. Dass dasselbe tatsächliche Geschehen sowohl ein public als auch ein private wrong begründen kann, ändert zudem nichts daran, dass sich eine Straftat nach herrschender Ansicht allein durch die Komponente des public wrong auszeichnet.75 Dabei wird zwar im Detail unterschiedlich beurteilt, was genau die Betroffenheit der Gesellschaft als Ganze ausmacht.76 Einigkeit besteht jedoch, dass das besondere Element der Betroffenheit der Gesellschaft als Ganze – also das public wrong – eine Straftat charakterisiert.77 Jüngere Ansätze, diese Trennung von Zivil- und Strafrecht aufzuheben und die Verletzung des individuellen Opfers in die Straftatdefinition aufzunehmen, haben sich bisher nicht durchgesetzt.78 Weil eine Straftat als Unrecht gegenüber der Gesellschaft konzeptualisiert wird, wird weiterhin davon ausgegangen, dass im Strafrecht das Interesse der Rechtsgemeinschaft an einer Reaktion auf das sie tangierende public wrong im Mittelpunkt stehe.79 Das private wrong und das daraus resultierende Entschädigungsinteresse des Verletzten hingegen sollen grundsätzlich im Privatrecht (private law) auf Initiative des Verletzten behandelt werden.80

75 Marshall/Duff, Canadian J. L. Jurisprudence 11 (1998), 7 f.; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614. So bereits Blackstone, Commentaries, Vol. IV, S. 5 f.: „In all cases the crime includes an injury: every public offense is also a private wrong, and somewhat more; it affects the individual, and it likewise affects the community. […] the public mischief is the thing, for the prevention of which our laws have made it a capital offense. In these gross and atrocious injuries the private wrong is swallowed up in the public.“ 76 Siehe zu verschiedenen Konzeptionen Allen, Legal Duties, S. 221, 233, 237 ff.; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614 ff. Teilweise wird die Betroffenheit der Gesellschaft z. B. darin gesehen, dass die Straftat die Gesellschaft wie ein Opfer schädige, z. B. indem sie ihre Sicherheit gefährde (z. B. Allen, Legal Duties, S. 221, 234 f.). Andere stellen auf eine Verantwortlichkeit der Gesellschaft dafür ab, das Unrecht zu bestrafen, weil es eine besonders schwere Verfehlung sei, die die besondere öffentliche Verurteilung verdiene (z. B. Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 621 ff.). Wieder andere identifizieren die Pflicht der Gesellschaft, den einzelnen vor fundamentalen Verletzungen zu schützen, als Anknüpfungspunkt für die Betroffenheit der Gesellschaft (z. B. Simester et al., Criminal Law, S. 2.). Marshall/Duff, Canadian J. L. Jurisprudence 11 (1998), 7, 20, hingegen leiten die Betroffenheit der Allgemeinheit daraus ab, dass sich die Gesellschaft über bestimmte gemeinsame fundamentale Werte identifiziere. Verletze eine Handlung einen solchen Wert in Bezug auf ein zu der Allgemeinheit gehörendes Individuum, verletze dies gleichsam die Allgemeinheit. 77 Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 620. 78 Siehe dazu Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 300 f., 315; van Ness, Crim. L. F. 4 (1993), 301, 303 f.; ders., Crim. L. F. 4 (1993), 251, 259 ff. Dazu krit. Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 700 f. 79 Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 283 ff.; Glidewell/Dear/McFarland, The Review of the Crown Prosecution Service, ch. 5 Rn. 79; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614. 80 Ashworth, L. Quarterly Rev. 116 (2000), 225, 233 f.; ders., Crim. L. F. 4 (1993), 277, 283 ff.; Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 700 f.; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614. Zu neueren Tendenzen, Entschädigungsinteressen auch im Strafverfahren zu behandeln, siehe Kap. 3 A II 2 b).

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Um zu bestimmen, welches Verhalten der Staat aus freiheitsrechtlicher Perspektive legitimerweise kriminalisieren darf, wird in England überwiegend das auf John Stuart Mill zurückgehende und von Joel Feinberg einflussreich weiterentwickelte Harm Principle herangezogen.81 Das Harm Principle übernimmt damit in der englischen Strafrechtstheorie eine Rolle, die der systemkritischen Funktion der Rechtsgutslehre in der deutschen Strafrechtstheorie vergleichbar ist.82 Nach Feinbergs Version dieses Prinzips kann die Kriminalisierung eines Verhaltens insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn das Verhalten einer anderen Person schadet und die Strafbewehrung das Verhalten effektiv verhindern würde.83 Zentral für die Legitimierung einer Strafnorm ist damit nach dem Harm Principle, dass das Verhalten das Interesse einer anderen Person beeinträchtigt.84 Freilich ist die Verletzung des Interesses eines anderen nicht die einzige Voraussetzung für die Kriminalisierung eines Verhaltens. Vielmehr muss die davon ausgehende Schädigung z. B. auch hinreichend schwerwiegend sein, um das strafbewehrte Verbot zu rechtfertigen, das Verhalten muss wrongful85 sein und das Strafrecht muss das bestgeeignete Mittel für seine Unterbindung darstellen.86 Gleichwohl ist die Beeinträchtigung eines anderen 81

Herring, Criminal Law, S. 19; Simester et al., Criminal Law, S. 644 ff.; von Hirsch, GA 2002, 2, 3. Grundlegend zum Harm Principle Mill, On Liberty; Feinberg, Harm to Others, passim. – Das Harm Principle nimmt einen wichtigen Stellenwert in öffentlichen Debatten über die Grenzen des Strafrechts und die Schaffung neuer Straftatbestände ein, praktisch wird es indes nicht immer befolgt. Kritisiert wird deshalb, dass seine begrenzende Funktion bei legislativen Reformvorhaben nicht ausreichend berücksichtigt werde und das Prinzip nicht alles existierende Strafrecht erkläre. 82 Von Hirsch, GA 2002, 2 f. Anders als die Rechtsgutstheorie wird das Harm Principle allerdings nicht für die Auslegung von Strafrechtsnormen herangezogen. 83 Feinberg, Harm to Others, S. 26: „It is always a good reason in support of penal legislation that it would probably be effective in preventing […] harm to persons other than the actor […]“ Nach Mill, On Liberty, S. 11, ist harm to others der einzige legitime Kriminalisierungsgrund („That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.“), wohingegen Feinberg es nicht ausschließt, dass subsidiär weitere Gründe eine Kriminalisierung legitimieren können, insbes. die belästigende Wirkung eines Verhaltens (offence principle). Das Harm Principle findet allerdings als möglicher Grund für eine Kriminalisierung im englischen Recht die weiteste Beachtung und Unterstützung, Persak, Criminalising Harmful Conduct, S. 22. Die Diskussion des Harm Principle und seiner unterschiedlichen Auslegungsarten ist umfangreich, für den hier relevanten Aspekt kommt es jedoch allein auf einige konsentierte Grundzüge an. Für eine ausführliche Darstellung des Prinzips und der damit verbundenen Streitstände sei daher auf die Literatur zum Harm Principle verwiesen, z. B. Herring, Criminal Law, S. 19 ff.; von Hirsch, GA 2002, 2, 3 ff.; Persak, Criminalising Legal Conduct, S. 35 ff.; Simester et al., Criminal Law, S. 644 ff. 84 Feinberg, Harm to Others, S. 33 f.; von Hirsch, GA 2002, 2, 6; Simester et al., Criminal Law, S. 646 f. Für eine ausführliche Interpretation, wer als andere Personen in Betracht kommt, siehe Persak, Criminalising Legal Conduct, S. 48 ff. 85 Wrongfulness ähnelt der Rechtswidrigkeit im deutschen Recht, dazu im Kontext des Harm Principles Persak, Criminalising Legal Conduct, S. 48; Simester et al., Criminal Law, S. 648. 86 Siehe z. B. Simester et al., Criminal Law, S. 643 f., 648 f.

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nach dem Harm Principle zentraler Anknüpfungspunkt für die Legitimation einer Strafrechtsnorm. Nach der Rechtsgutstheorie zum deutschen Recht erfordert die Kriminalisierung eines Verhaltens hingegen, dass das Verhalten ein abstraktes Rechtsgut schädigt. Eine unmittelbare Anbindung an den Einzelnen findet nach dieser Theorie nicht statt. Ein zentraler Unterschied zwischen der Rechtsgutstheorie und dem Harm Principle besteht damit in der Interpretation des Schutzgegenstandes einer Strafrechtsnorm: die Rechtsgutstheorie bezieht sich auf einen abstrakten Wert, für das Harm Principle ist das Interesse anderer Personen zentral.87 Eine Entpersonalisierung, wie sie der Rechtsgutstheorie aufgrund der Abstraktion von Rechtsgut und Handlungsobjekt nachgesagt wird, unternimmt das Harm Principle nicht. Anders als das Handlungsobjekt, das im Rahmen der Rechtsgutstheorie „objektiviert“ wird,88 wird der Interessenträger beim Harm Principle damit nicht ausgeblendet. Dieser Unterschied ist mit Blick auf die Position des individuellen Opfers im Strafrecht vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Konzentration der Rechtsgutstheorie auf das Rechtsgut anstatt auf das Handlungsobjekt, wie dargestellt, als primärer Grund dafür angeführt wird, dass den Interessen des individuell Verletzten im deutschen Strafrecht und Strafprozessrecht keine zentrale Bedeutung zukommt.89 Wenn nach dem Harm Principle diese Abstraktion gerade nicht vorgenommen wird, wäre es an sich naheliegend, dass dem Interessenträger eine zentralere Bedeutung im Straftatbegriff, Strafrecht und Strafverfahrensrecht beigemessen würde. Diese Konsequenz wird jedoch – soweit ersichtlich – nicht gezogen.90 Obgleich es nach dem Harm Principle für die Legitimation der Kriminalisierung gerade auf die potentielle Verletzung der Interessen anderer ankommt, wird das private wrong bei der Konzeptualisierung dessen, was die Straftat im Kern ausmacht, dem public wrong untergeordnet. Die Straftat im englischen Recht ist damit nach herrschender Auffassung ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft (public wrong). Die Verletzung des konkreten Opfers ist kein Teil des Straftatbegriffs. Die Behandlung des dem Einzelnen empirisch widerfahrenen Unrechts gehört traditionell nicht zur Materie des Strafrechts.

87

Zu diesem Unterschied siehe von Hirsch, GA 2002, 2, 7; Persak, Criminalising Legal Conduct, S. 105. 88 So wörtlich Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1151; zust. Seelmann, JZ 1989, 670; ähnlich Hassemer, in: FS Klug (1983), S. 217, 221; Kilchling, NStZ 2002, 57, 58; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 37. 89 Kilchling, NStZ 2002, 57, 58; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 36 ff. Siehe auch oben Kap. 3 A I 1. 90 So hat z. B. der error in persona vel in objecto keine Auswirkungen auf die Strafbarkeit im englischen Recht, Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 379, und der konkret verletzte Interessenträger kann der staatlichen Strafverfolgung grundsätzlich nicht widersprechen, siehe Kap. 3 A III 2 a) bb).

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

II. Ziel(e) des Strafverfahrens Des Weiteren hat der Zweck91 des Strafverfahrens Auswirkungen darauf, ob das Genugtuungsinteresse des Opfers in den nationalen Strafjustizsystemen friktionslos berücksichtigt werden kann. Denn die Rolle des Verletzten und seiner Interessen im Strafverfahren wird auch durch das Verfahrensziel bestimmt.92 Zwar kann aus dem Strafprozesszweck keine bindende Antwort auf Detailfragen der Prozessgestaltung abgeleitet werden; die Grundstrukturen und einzelnen Elemente des Verfahrens müssen aber widerspruchsfrei mit dem Verfahrenszweck vereinbar sein.93 Verfahrenszweck und Ausgestaltung des Verfahrens müssen aufeinander abgestimmt sein. Deshalb müsste es in dem Verfahrensziel zumindest angelegt sein, wenn im Strafverfahren (auch) ein Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers erfüllt werden sollte. 1. Deutsches Recht Im deutschen Recht sind die Ziele des Strafprozesses nicht positiv normiert. In der Folge sind zahlreiche, im Laufe der Zeit auch wechselnde Strafverfahrenszwecke diskutiert worden, ohne dass bisher Einigkeit über einen dominierenden Zweck erreicht worden wäre.94 Vielmehr sollen nach überwiegender Ansicht im Prozess verschiedene, teils auch kollidierende Ziele parallel verfolgt und, wo nötig, zum Ausgleich gebracht werden.95 Die folgende Untersuchung beschränkt sich auf die die gegenwärtige Diskussion dominierenden Verfahrenszwecke. a) Ermittlung der materiellen Wahrheit Bisweilen wird die Ermittlung der materiellen Wahrheit über das Vorliegen einer möglichen Straftat zu dem primären bzw. zumindest zu einem vorrangigen Pro91

Die Begriffe Ziel und Zweck werden im Folgenden synonym verwendet. So auch allgemein zur Bestimmung der Rolle/Rechte des Verletzten im Strafverfahren Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 282; Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 766; ders., Deliktsopfer, S. 18, 173. 93 Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 725 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 173. Noch deutlicher Jahn, in: Goldenstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 117, 118: es sei unstreitig, dass die Verfahrensziele die Ausgestaltung des Verfahrensrechts determinierten. 94 Rieß, JR 2006, 269, 270. 95 So Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 4; ders., Strafprozessrecht, § 1 Rn. 3 ff.; Eser, ZStW 104 (1992), 361, 362; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 24; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 14 ff.; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 11; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B. Rn. 51; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3 ff.; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 11; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 727; Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 1 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 217. Rieß, JR 2006, 269, 271, stellt fest, dass es keinen Unterschied mache, ob mehrere Zwecke als Primärziele oder ein übergeordnetes Verfahrensziel mit notwendigen Unterzielen definiert würden. A.A. Murmann, GA 2004, 65, 67 f.: es müsse der Zweck des Strafverfahrens identifiziert werden als übergeordneter Abwägungsmaßstab; ähnlich Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 5; Ranft, Strafprozeßrecht, § 1 Rn. 3. 92

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zessziel erklärt.96 Berechtigterweise wird dem allerdings entgegen gehalten, dass das Strafverfahren nicht mit einer Verlesung der gesammelten Fakten endet, sondern mit der Verkündung eines Urteilsspruchs.97 Die Fakten werden somit nicht allein für die historische Aufklärung eines Geschehens erhoben, sondern um die Grundlage für ein gerechtes Urteil zu liefern.98 Die Ermittlung der materiellen Wahrheit ist damit weniger das Endziel des Verfahrens als ein wichtiges Zwischenziel bzw. notwendiges Mittel zur Erreichung des Verfahrensendziels.99 Unabhängig davon, ob die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren als Zwischenoder Endziel qualifiziert wird, könnte in diesem Ziel jedenfalls angelegt sein, dass das Verfahren (auch) dazu dient, ein Interesse des Opfers an Unrechtfeststellung zu erfüllen. Denn für die Feststellung des dem Opfer widerfahrenen Unrechts wäre als erste Voraussetzung auch die Erhebung der dieses Unrecht begründenden Tatsachen erforderlich. Fraglich ist aber, ob im Strafverfahren die Tatsachen erhoben werden, die für eine das Opfer besänftigende Unrechtfeststellung erforderlich wären. Grundsätzlich liegt dem deutschen Strafprozessrecht das Prinzip der sog. materiellen Wahrheit zugrunde.100 Im Strafverfahren soll also der mit der Wirklichkeit übereinstimmende Sachverhalt im Wege der Amtsaufklärung ermittelt bzw. autoritativ bestimmt werden und nicht eine „formelle“ Wahrheit mittels eines die Parteien einbeziehenden Diskurses als (Konsens-)Produkt ausgehandelt werden.101 Diese autoritative Ermittlung des wahren Sachverhalts unterliegt indes unvermeidbar einigen Einschränkungen. Erstens ist das menschliche Erkenntnisvermögen unvoll-

96 BVerfGE 118, 212, 231; 57, 250, 275; BVerfG-K NJW 1987, 2662, 2663. Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 8; Dölling, in: HK-GS, Vorb. § 1 ff. StPO Rn. 1; Eschelbach/Kett-Straub, in: KMR-StPO, 72. EL (Mai 2014), Einl. Rn. 5, 19 ff.; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 3; Gercke/Temming, in: HK-StPO, Einl. Rn. 8; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 14; Jahn, in: Goldenstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 117, 118; Joecks, StPO, Einl. Rn. 4; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 9; Krey/Heinrich, Deutsches Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 20; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 20; ders., Strafprozessrecht, § 1 Rn. 1; Patsourakou, Stellung, S. 68; Pollähne, StV 2016, 671, 674; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 11; Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 1. Krit. Krauß, in: FS Schaffstein (1975), S. 411, 427 und passim; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 7. 97 Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 7; Weigend, Deliktsopfer, S. 178. 98 Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 543 f.; Jahn, in: Goldenstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 117, 118; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 7; Murmann, GA 2004, 65, 66; Weigend, Deliktsopfer, S. 179. Ähnlich schon Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 512. 99 Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 543; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 11; Murmann, GA 2004, 65, 66; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 8; Weigend, Deliktsopfer, S. 178, 181. Ähnlich Rieß, JR 2006, 269, 270, 273; Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 512; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 726 Fn. 31. 100 BVerfGE 57, 250, 275. Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 7; Eschelbach/Kett-Straub, in: KMR-StPO, 72. EL (Mai 2014), Einl. Rn. 19; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 16; Krauß, in: FS Schaffstein (1975), S. 411; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 31; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 8; Rieß, JR 2006, 269, 273; Volk, Wahrheit, S. 15 ff. 101 Siehe dazu Volk, Wahrheit, S. 15.

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kommen.102 Insofern wird aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive in Frage gezogen, ob die Aufarbeitung der historischen Wahrheit überhaupt möglich ist.103 Denn jede Person nimmt die Realität stets nur fragmentarisch und subjektiv eingefärbt wahr. In der Folge wird dieselbe Situation selbst durch neutrale Personen in der Regel nicht identisch bewertet. Dieses Phänomen stellt die Suche nach der historischen Wahrheit auch im Strafverfahren vor kaum überwindbare Hürden. Zweitens unterliegt die Feststellung von „Wahrheit“ erkenntnistheoretischen Problemen.104 Beides bedeutet nicht, dass im Prozess die zutreffende Rekonstruktion des tatsächlichen Geschehens nicht angestrebt werden müsste; vielmehr ist das Streben nach Aufklärung eine unverfügbare Notwendigkeit eines jeden Strafprozesses.105 Gleichwohl sollten in Anbetracht der Defizite menschlicher Erkenntnismöglichkeiten die Erwartungen an die Möglichkeit der Rekonstruktion der Wahrheit nicht überspannt werden. Zudem ist es nach dem BGH gerade „kein Grundsatz der StPO, dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte“.106 Vielmehr werden die staatlichen Befugnisse, zu Ermittlungszwecken in Grundrechte einzugreifen, aus rechtsstaatlichen Erwägungen limitiert und als Konsequenz wird in Kauf genommen, dass die Wahrheit nicht in voller Intensität erforscht wird.107 Das Bemühen um die Wahrheitsfindung wird somit durch den Individualrechtsschutz begrenzt. Weiterhin beschränken praktische Belange die Wahrheitsfindung im Strafprozess. Zum einen ist es unter Geltung des Beschleunigungsgebotes und der Konzentrationsmaxime nicht möglich, die Wahrheitssuche unendlich auszudehnen.108 Zum anderen setzen begrenzte Ressourcen der Wahrheitssuche faktische Grenzen.109 Deshalb wird laut Kühne der Prozess der Wahrheitsfindung und damit das ganze Strafverfahren durch die Annahme eines (fiktiven) Einverständnisses aller Prozessbeteiligten abgekürzt.110 Resultat dessen sei, dass „möglichen und zwischen den Verfahrensbeteiligten konsentierten Ermittlungsergebnissen ein Vorrang der Plausibilität vor einer möglicherweise tieferen Wahrheit eingeräumt wird.“111 Das ver102 Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 7; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 14 ff.; Rieß, JR 2006, 269, 273. 103 Siehe dazu Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 15 f. mwN. 104 Siehe dazu im Kontext strafprozessualer Wahrheitsermittlung Volk, Wahrheit, S. 7 ff. 105 Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 552; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 23, 32. 106 BGHSt 14, 358, 365; bestätigend BGHSt 31, 304, 309. Ebenso Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 3; Gercke/Temming, in: HK-StPO, Einl. Rn. 8; Krey/Heinrich, Deutsches Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 20 ff.; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 35 f.; Rieß, JR 2006, 269, 272. 107 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 9; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 7; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 35 f.; Volk, Wahrheit, S. 9 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 179. 108 Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 37 ff.; Volk, Wahrheit, S. 9; i.E. auch Weigend, Deliktsopfer, S. 181. 109 Volk, Wahrheit, S. 9; Weigend, Deliktsopfer, S. 181. 110 Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 38. 111 Kühne, in: LR-StPO, Einl. B Rn. 41.

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meintliche Opfer, das kein Verfahrensbeteiligter im engeren Sinne ist, ist an dieser Konsensfindung indes nicht beteiligt. Soweit im Strafverfahren eine konsentierte Plausibilitätsversion der Wahrheit zugrunde gelegt wird, geschieht dies deshalb ohne seinen Einfluss. Schließlich wird die Wahrheit auch in Situationen, in denen die dargelegten Vorbehalte eine uneingeschränkte Aufklärung nicht verhindern würden, trotzdem nicht in ihrer historischen Vollständigkeit erforscht. Stattdessen werden von dem realen Geschehen um die Straftat nur diejenigen Ausschnitte beleuchtet, die aufgrund der jeweils einschlägigen materiell-rechtlichen Normen entscheidungserheblich erscheinen.112 Aufklärung findet so nur innerhalb der vom materiellen Recht vorgegebenen Grenzen statt. In der Folge wird das Geschehen nicht umfassend in seinen Dimensionen als personales und soziales Ereignis aufgedeckt, sondern nur in einer durch die Dogmatik des materiellen Rechts reduzierten Komplexität.113 Dabei geht es übergeordnet um die Feststellung der individuellen Verantwortlichkeit des Angeklagten für die Verletzung einer strafsanktionsbewehrten Verhaltensnorm.114 Das dem (vermeintlichen) Opfer Widerfahrene spielt in diesem Kontext nur als Verkörperung der Rechtsgutsverletzung eine Rolle. Das subjektive Schicksal des Opfers ist damit nicht primärer Untersuchungsgegenstand und wird nicht detailliert erörtert. Diese zahlreichen Einschränkungen haben zur Konsequenz, dass ein Geschehen selbst unter der Annahme, die Wahrheitserforschung sei Ziel des Strafverfahrens, nicht in seiner historischen Vollständigkeit und unter Einbezug seines gesamten Kontextes, sondern nur fragmentarisch ermittelt wird. Es wird nur aufgedeckt, was aus straftatbestandlicher Perspektive relevant erscheint. Dies gilt auch dann, wenn aus Perspektive des vermeintlichen Opfers andere Facetten des Lebenssachverhalts feststellungsbedürftig wären. Darüber hinaus steht bei der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren die Feststellung der individuellen Verantwortlichkeit des Angeklagten für die Verletzung einer strafsanktionsbewehrten Verhaltensnorm im Mittelpunkt und nicht die Erörterung des subjektiven Schicksals des vermeintlichen Opfers.115 Damit ist der Prozess der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren im Ganzen nicht an dem Feststellungsbedürfnis des Opfers ausgerichtet. Wollte man dies ändern, müsste man das dem Prozess immanente Programm insgesamt in Frage stellen.116 Aus Opferperspektive kann diese Sachlage zu der unbefriedigenden 112

Weigend, Deliktsopfer, S. 181, 183. Ähnlich Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 544; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 3; Volk, Wahrheit, S. 9. 113 Krauß, in: FS Schaffstein (1975), S. 411, 417 f. 114 Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 4; Frommel, NK 2013, 288, 297; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 2. Pointiert Krauß, in: FS Schaffstein (1975), S. 411, 427: „Vielmehr bedingt das auf Schuldspruch und Vergeltung zugeschnittene Programm von vornherein ,eine bestimmte Auswahl und Wertung der Fakten‘. Wahrheit ist demnach gefragt nur in dem sehr begrenzten Rahmen einer Entscheidung über die Tatschuld des Angeklagten.“ 115 Frommel, NK 2013, 288, 297; i.E. auch Krauß, in: FS Schaffstein (1975), S. 411, 427. 116 Krauß, in: FS Schaffstein (1975), S. 411, 427.

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Konsequenz führen, dass Aspekte des Lebenssachverhalts, die aus seiner Warte feststellungs- und anerkennungsbedürftig wären, nicht erörtert werden. Zuletzt ist zu berücksichtigen, dass die Wahrheitssuche im Strafverfahren auch zum Resultat haben kann, dass keine (zweifelsfrei nachweisbare) Normverletzung stattgefunden hat. Dies würde den Feststellungsinteressen desjenigen, der sich selbst subjektiv in der Opferrolle sieht, gerade widersprechen. Insgesamt ist damit in dem Verfahrenszweck der Wahrheitsermittlung nicht angelegt, dass das Strafverfahren (auch) dazu dient, ein Interesse des Opfers an der Feststellung des ihm widerfahrenen Leids zu erfüllen. b) Verwirklichung des materiellen Strafrechts Ein weiterer Strafverfahrenszweck ist nach überwiegender Auffassung die Verwirklichung des materiellen Strafrechts.117 Das materielle Strafrecht wird jedenfalls118 dann verwirklicht, wenn aufgrund eines vorwerfbaren Verstoßes gegen eine strafsanktionsbewehrte Verhaltensnorm eine Kriminalstrafe gegen einen Täter verhängt wird, und auch, wenn ein Angeklagter mangels (nachweisbaren) Verstoßes gegen eine solche Verhaltensnorm freigesprochen wird.119 Der Strafprozess trägt dazu bei, indem er die Voraussetzungen dafür schafft, dass die materiell zutreffende Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten herbeigeführt und das materielle Recht in Bezug auf Grund und Höhe der Strafe korrekt angewendet werden 117

Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 3; Dölling, in: HK-GS, Vorb. § 1 ff. StPO Rn. 1; Eschelbach/Kett-Straub, in: KMR-StPO, 72. EL (Mai 2014), Einl. Rn. 9 ff.; Eser, ZStW 104 (1992), 361, 362; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 3; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 199 f.; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 14; Joecks, StPO, Einl. Rn. 4; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 10; Kleinert, Mitwirkung, S. 267; Kudlich, in: MüKoStPO, Einl. Rn. 5 f., 11; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B. Rn. 51; Radtke, in: Radtke/HohmannStPO, Einl. Rn. 7 (Aufgabe, nicht Zweck des Strafverfahrens); Rieß, JR 2006, 269, 270; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3, 6; eingeschränkt Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 9 ff.; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 726 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 191 ff. mwN auch aus dem historischen Schrifttum. – Dabei wird dieser Zweck richtigerweise nicht mehr so verstanden, dass dem Prozessrecht gegenüber dem materiellen Recht eine rein dienende Funktion zukäme, siehe nur Murmann, GA 2004, 65, 66 f.; Rieß, JR 2006, 269, 270. 118 Auf die Beantwortung der darüber hinaus umstrittenen Frage, ob die Bewährung des materiellen Strafrechts ausschließlich im Strafverfahren möglich ist (so z. B. Kleinert, Mitwirkung, S. 262 ff., 268), oder ob das materielle Strafrecht immer auch schon durch seine freiwillige Einhaltung außerhalb des Verfahrens bewährt wird und die Durchsetzung im Strafverfahren nur die letzte Bewährungsmöglichkeit darstellt (so z. B. Schroeder, NJW 1983, 137, 139; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 10; Weigend, Deliktsopfer, S. 193 f.), kommt es hier nicht an. 119 Kleinert, Mitwirkung, S. 265; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 6; ähnlich Radtke, in: Radtke/Hoh-mann-StPO, Einl. Rn. 7. Enger hingegen z. B. Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 512 (Bewährung durch Bestrafung des Täters); Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 726 (Bewährung durch Rechtsfolgenbestimmung gegenüber dem Täter). – Zur Differenzierung von Verhaltens- und Sanktionsnormen im Strafrecht siehe Kap. 4 F I.

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kann.120 Darüber hinaus soll das materielle Strafrecht auch verwirklicht werden durch die Stabilisierung der möglicherweise verletzten Norm gegenüber der Allgemeinheit.121 Der Strafprozess soll zu dieser Stabilisierung beitragen, indem im Prozess auf den vermuteten Normbruch reagiert und die unverbrüchliche Geltung der einschlägigen Strafrechtsnorm gegenüber der Rechtsgemeinschaft besonders deutlich demonstriert wird.122 Zu beantworten ist, ob in diesem Verfahrensziel angelegt ist, dass im Strafverfahren (auch) ein Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers erfüllt werden soll. Die Annahme, der Verfahrenszweck bestehe in der Bewährung des materiellen Rechts, setzt das formelle und materielle Recht in einen unmittelbaren Zusammenhang. Die materielle Strafrechtsnorm wird zum inhaltlichen Bezugspunkt des Strafverfahrens, womit zugleich das rechtstheoretische Programm der materiellen Strafrechtsnorm in das Strafverfahren integriert wird.123 Materielle Strafrechtsnormen schützen (idealiter) für die Gesellschaft herausragend wichtige Rechtsgüter im Interesse der Allgemeinheit. Ein Normverstoß wird als Unrecht gegenüber der Allgemeinheit interpretiert.124 Deshalb obliegt die Einschätzungsprärogative über die Durchführung des Strafverfahrens dem Staat als Repräsentant der Allgemeinheit. Der vermeintlich Verletzte kann in der Regel nicht darüber disponieren, ob und wie das Strafverfahren durchgeführt und das materielle Strafrecht bewährt wird. Im Zuge der Bewährung des materiellen Strafrechts im Strafverfahren muss der Staat den potentiell Verletzten vor unverhältnismäßigen Eingriffen in seine Abwehrrechte schützen.125 Ob das verfahrensgegenständliche Verhalten des Beschuldigten ein Interesse des (vermeintlichen) Opfers verletzt hat, ist im Kontext der Bewährung des materiellen Strafrechts hingegen nur insoweit relevant, als sich in der Verletzung der Verstoß gegen die strafbewehrte Verhaltensnorm manifestieren würde. Denn nach dem theoretischen Programm des materiellen Strafrechts verkörpert die Verletzung des individuellen Opferinteresses lediglich die relevante Rechtsgutsverletzung bzw. den relevanten Normbruch.126 Auf diese Rechtsgutsverletzung bzw. diesen Normbruch wird im Interesse der Allgemeinheit mit der Durchsetzung der materiellen Strafnorm reagiert, und der Verdacht einer solchen Rechtsgutsverletzung bzw. eines solchen 120 Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 543; Murmann, GA 2004, 65; ähnlich Kleinert, Mitwirkung, S. 267; Weigend, Deliktsopfer, S. 194. – Nach dieser Interpretation erfasst der Verfahrenszweck richtigerweise sowohl die Bestätigung als auch die Widerlegung des Verdachts und wird nicht auf die Verhängung einer Kriminalstrafe reduziert. 121 So vertreten von Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 726; Weigend, Deliktsopfer, S. 194. 122 Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 726; Weigend, Deliktsopfer, S. 194 f. In diese Richtung auch Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 3. 123 Kleinert, Mitwirkung, S. 268. Ähnlich auch Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, Vor § 1 Rn. 200. 124 Siehe ausführlich Kap. 3 A I 1. 125 Der Schutz des potentiellen Opfers im Strafverfahren wird deshalb auch als sekundärer Verfahrenszweck bezeichnet, siehe Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 8. 126 Ausführlich Kap. 3 A I 1.

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Normbruchs veranlasst die Durchführung des Strafverfahrens. Daraus folgt: Unter der Annahme, dass die Bewährung des materiellen Strafrechts das Ziel des Strafverfahrens ist, stehen nicht das subjektive Leid des vermeintlichen Opfers und die Befriedigung seiner daraus resultierenden persönlichen Bedürfnisse im Zentrum des Verfahrens, sondern die Interessen der Allgemeinheit in Bezug auf die mögliche Rechtsgutsverletzung/den möglichen Normbruch. Im Ergebnis Ähnliches gilt auch dann, wenn man davon ausgeht, das materielle Strafrecht werde im Verfahren durch die Stabilisierung der möglicherweise verletzten Norm gegenüber der Allgemeinheit bewährt. Denn auch dann steht die erzieherisch-informierende Gestaltung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit im Mittelpunkt und nicht die Rückversicherung des individuell Betroffenen.127 Der Strafverfahrenszweck, das materielle Strafrecht zu bewähren, umfasst damit nicht das Ziel, das Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers zu befriedigen. Dies mag man kritisieren, ist aber Folge herrschender dogmatischer Grundannahmen des materiellen Strafrechts. Denn um die Befriedigung individueller Belange geht es bei der Verwirklichung des Programms der materiellen Strafnorm gerade nicht. c) (Wieder-)Herstellung von Rechtsfrieden Verbreitete, wenn auch nicht allgemeine Anerkennung hat zudem die Auffassung gefunden, dass (übergeordnetes) Ziel des Strafverfahrens die Schaffung von Rechtsfrieden sei.128 Von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieses Zweckes ist, was der Begriff Rechtsfrieden umfasst. Eine Definition bleibt indes oft aus. Soweit der Begriff für den strafprozessualen Kontext einmal konkretisiert wird, wird er überwiegend als ein Zustand definiert, bei dem sich die Rechtsgemeinschaft vernünftigerweise über den Verdacht eines mit Strafe bedrohten Rechtsbruchs beru-

127 Siehe nur Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 726; Weigend, Deliktsopfer, S. 194 f. 128 Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 13; ders., Strafprozessrecht, § 1 Rn. 6; Dölling, in: HK-GS, Vorb. § 1 ff. StPO Rn. 1; Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 543; Eschelbach/Kett-Straub, in: KMR-StPO, 72. EL (Mai 2014), Einl. Rn. 24; Eser, ZStW 104 (1992), 361, 362; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 4; Gercke/ Temming, in: HK-StPO, Einl. Rn. 8; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 3 f.; Joecks, StPO, Einl. Rn. 6; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 5 ff.; Krey/ Heinrich, Deutsches Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 30; Kühne, in: LR-StPO, Einl. B. Rn. 51; ders., Strafprozessrecht, § 1 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 4; Patsourakou, Stellung, S. 70; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 4; Ranft, Strafprozeßrecht, § 1 Rn. 3; Rieß, JR 2006, 269, 270 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3; dieses Ziel erstmals begründend Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 516 ff.; SternbergLieben, ZStW 108 (1996), 721, 727; Volk/ Engländer, StPO, § 3 Rn. 1. Krit. zu diesem Zweck: Kleinert, Mitwirkung, S. 243 f., 260 f.; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 10; Murmann, GA 2004, 65, 69 f., 76 f.; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 11; soweit bei diesem Zweck nicht auf die Beseitigung der Verdachtssituation abgestellt wird, krit. auch Weigend, Deliktsopfer, S. 207 ff.

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higen könne.129 Diese Definition basiert auf der Annahme, dass eine Straftat den Rechtsfrieden auf zweifache Weise störe: einmal durch die tatsächlich begangene Rechtsverletzung, zum anderen aber auch bereits dadurch, dass der ungeklärte Verdacht einer Straftatbegehung besteht.130 Denn schon der Verdacht, ein einzelner habe sich gegen die Geltung einer Strafnorm und damit gegen den Gemeinschaftswillen aufgelehnt, beunruhige die Rechtsgemeinschaft.131 Ziel des Strafverfahrens müsse daher sein, die durch den Tatverdacht hervorgerufene Rechtsfriedensstörung zu beseitigen.132 Dazu müsse das Strafverfahren einen Zustand schaffen, bei dem sich die Rechtsgemeinschaft über den Straftatverdacht beruhigen könne. Dies geschehe, indem im Strafverfahren der Tatverdacht überzeugend geklärt und die Rechtsgemeinschaft von der Ungewissheit über Täter, Tathergang und Tatmotiv befreit werde.133 Dabei soll sowohl die Bestätigung als auch die Entkräftung des Tatverdachts Beruhigung erreichen. In den Worten Weigends ist damit Ziel des Strafverfahrens „die Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch Klärung des Tatverdachts“134. Fraglich ist, wie sich diese Zielbestimmung auf die Rolle des vermeintlichen Opfers und die Befriedigung seines Feststellungsinteresses im Strafverfahren auswirkt. Zunächst ist festzustellen, dass zentraler Bestandteil der Friedenswiederher129 So grundlegend Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 522. Umstritten ist, ob es sich bei Rechtsfrieden in diesem Sinne um ein empirisches sozialpsychologisches Phänomen oder um einen normativen Zustand handelt. Für ersteres Patsourakou, Stellung, S. 70; Weigend, Deliktsopfer, S. 213 f.; für letzteres grundlegend Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 522; i.E. ebenso Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 543; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 4; Rieß, JR 2006, 269, 271; Volckart, JR 2005, 181. Darüber hinaus werden vereinzelt weitere, inhaltlich abweichende Definitionen des Rechtsfriedensbegriffs vertreten, die sich auch auf das inhaltliche Verständnis von dem Zweck der Rechtsfriedensschaffung auswirken, dazu Weigend, Deliktsopfer, S. 196 ff. 130 Rieß, JR 2006, 269, 271; Weigend, Deliktsopfer, S. 213. Ähnlich bereits Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 516. Bzgl. dem Verdacht so auch Eschelbach/Kett-Straub, in: KMR-StPO, 72. EL (Mai 2014), Einl. Rn. 25. 131 Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 516, 522, die die Beunruhigung als normativ-geistiges Phänomen verstehen; Weigend, Deliktsopfer, S. 213, der die Beunruhigung der sozialen Gemeinschaft durch den Tatverdacht als sozialpsychologisches Phänomen auffasst. 132 Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 543; Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 516; Weigend, Deliktsopfer, S. 214 f. 133 Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 522; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 727; Weigend, Deliktsopfer, S. 213 ff. (der dies anders als Schmidhäuser nicht als normativen, sondern als tatsächlichen Vorgang im Sinne einer optimalen Beruhigung der an der Tat interessierten Personen versteht). – Andere fordern über die Verdachtsklärung hinausgehend, dass zur Rechtsfriedenschaffung auch die Verhängung der dem materiellen Strafrecht entsprechenden staatlichen Reaktion auf die begangene Tat notwendig sei, siehe z. B. Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 6; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 4. Die Anwendung der Sanktionsnorm bei Verdachtsbestätigung ist allerdings Teil der Strafvollstreckung und damit zumindest dem Ermittlungs- und Hauptverfahren nachgelagert. 134 Weigend, Deliktsopfer, S. 215; in diese Richtung auch Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 13; dagegen Murmann, GA 2004, 65, 70, 76 f.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

stellung die Klärung des Verdachts einer Straftat sein soll. Damit erfolgt ein Rückbezug auf das materielle Strafrecht und seine theoretischen Grundlagen.135 Nach herrschendem dogmatischen Verständnis zeichnet sich eine Straftat durch die Verletzung eines ideellen Rechtsguts bzw. einer abstrakten Norm aus, das bzw. die der Gesamtgesellschaft zugeordnet ist.136 Das Wesentliche der Straftat wird also nicht in der Verletzung des individuellen Opferinteresses erblickt, sondern in der Beeinträchtigung von Interessen der Rechtsgemeinschaft. In der Folge betriff die Klärung des Tatverdachts einen Umstand im Verhältnis von dem Verdächtigen zur Rechtsgemeinschaft. Die Aufklärung des Verdachts, ob einem einzelnen Rechtsgenossen Unrecht widerfahren ist, steht gerade nicht im Vordergrund. Damit übereinstimmend soll der Tatverdacht geklärt werden, damit sich die Rechtsgemeinschaft als Ganze beruhigen kann. Bereits dann, wenn der Tatverdacht so geklärt ist, dass von der Rechtsgemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich mit dem Ergebnis – aufgrund der Korrektheit des Prozedierens – abfinden kann, soll das Ziel der Rechtsfriedenschaffung erreicht sein.137 Es kommt hingegen nicht auf die Verunsicherung bzw. Beruhigung gerade des (vermeintlich) individuell Verletzten an. Der Zustand der Beruhigung – unabhängig davon, ob normativ oder sozialpsychologisch verstanden –138 soll also bei der Rechtsgemeinschaft und nicht beim Opfer erreicht werden.139 Weil die Straftat als Unrecht gegenüber der Gesellschaft und der Verdacht der Straftatbegehung als Störung des sozialen Friedens konzipiert werden, ist der Prozess der Straftatbewältigung durch Wiederherstellung des Rechtsfriedens folglich als Auseinandersetzung zwischen der Rechtsgemeinschaft und dem Tatverdächtigen ausgestaltet.140 Der (vermeintlich) individuell verletzte Rechtsgenosse und seine Interessen spielen dabei keine zentrale Rolle. d) Beilegung eines sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer Vereinzelt wird das Ziel des Strafverfahrens in der Beilegung eines sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer erblickt.141 Diese Diskussion firmiert oft ebenfalls unter dem Prozesszweck der (Wieder-)Herstellung von Rechtsfrieden, legt dabei aber eine andere Definition von Rechtsfrieden zugrunde als die soeben dargestellte Ansicht. Rechtsfrieden soll danach eintreten, wenn der soziale Aus135

Ebenso Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 4. Siehe ausführlich Kap. 3 A I 1. 137 Siehe nur Weigend, Deliktsopfer, S. 218. 138 Für ersteres z. B. Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 522; für letzteres Weigend, Deliktsopfer, S. 213, 215. 139 So ausdrücklich Rieß, JR 2006, 269, 271. A.A. Hellmann, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 13; Patsourakou, Stellung, S. 70. 140 Ähnlich Weigend, Deliktsopfer, S. 218. 141 Däubler-Gmelin, StV 2001, 359, 360; in diese Richtung auch Kühne, in: LR-StPO, Einl. B. Rn. 51; (krit.) zu dieser Auffassung Hirsch, in: GS Kaufmann (1989), S. 699, 713; Kleinert, Mitwirkung, S. 238 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 204 ff. 136

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gangskonflikt zwischen den Parteien geschlichtet ist.142 Wenn der Strafverfahrenszweck die Beilegung eines sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer wäre, müsste das Opfer am Strafverfahren beteiligt und sein Feststellungsinteresse müsste darin berücksichtigt werden. Eine Voraussetzung für die Gültigkeit dieser Zielbestimmung wäre allerdings, dass in einem Strafverfahren ein sozialer Konflikt zwischen Täter und Opfer zu schlichten wäre. Indes basiert schon nicht jeder strafrechtlich relevante Sachverhalt auf einem sozialen außerrechtlichen Konflikt zwischen zwei oder mehr Individuen.143 An einem solchen Konflikt zwischen einem Täter und „dem einen“ Verletzten fehlt es bei Straftaten gegen Kollektivrechtsgüter. Und auch bei Verletzungen von Individualrechtsgütern ist ein solcher Konflikt nicht zwingend, wenn z. B. die Tat auf Verlangen des Opfers erfolgt ist, ohne dass dadurch die Strafverfolgung obsolet würde, wie etwa im Fall des § 216 StGB.144 Schließlich kann ein früherer außerrechtlicher Konflikt längst geschlichtet sein, ohne dass dies das Stattfinden des Strafprozesses verhindern würde. Denn ein Täter kann die Verfolgung meist nicht allein dadurch abwenden, dass er sich mit dem Opfer versöhnt. Dies zeigt, dass die Beilegung eines außerrechtlichen Konflikts nicht genügt, um die im Strafverfahren behandelte rechtliche Problematik zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund ist es aber nicht zu erklären, wie die Schlichtung des sozialen Konflikts das Verfahrensziel sein sollte. Außerdem demonstrieren die Beispiele, dass Strafverfahren auch stattfinden, wenn nie ein außerrechtlicher Konflikt existiert hat. Die Beilegung eines sozialen Konflikts taugt damit jedenfalls nicht als einheitlicher Verfahrenszweck für alle Fallgestaltungen. Die Zielbestimmung würde weiterhin erfordern, dass wenigstens in den Konstellationen, in denen dem strafrechtlich relevanten Sachverhalt ein sozialer Konflikt zugrunde liegt, dieser Konflikt Gegenstand des Strafverfahrens wäre. Gegenstand des Strafprozesses ist indes ein möglicher, die Allgemeinheit tangierender Verstoß gegen eine strafbewehrte Verhaltensnorm und gerade kein Realkonflikt zwischen Täter und Opfer.145 Weiterhin ist die Annahme, der Strafprozess bezwecke die Lösung eines sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer, nur schwer mit der Unschuldsvermutung in Einklang zu bringen. Aus der Unschuldsvermutung folgt, dass die pauschale Unterstellung der Existenz eines Täters und eines Opfers, zwischen denen ein sozialer Konflikt beizulegen wäre, unzulässig ist. Vielmehr muss der Prozess zunächst aufklären, ob überhaupt eine Straftat vorliegt. Bevor ein Konflikt zwischen Täter und 142 Vgl. etwa Däubler-Gmelin, StV 2001, 359, 360. Siehe zu dieser Art der Fassung von Rechtsfrieden (krit.) Volckart, JR 2005, 181, 182; Weigend, Deliktsopfer, S. 204 f. 143 Dazu und zum Folgenden ausführlich Kleinert, Mitwirkung, S. 240 f.; Volckart, JR 2005, 181, 182; Weigend, Deliktsopfer, S. 205 f. 144 Dazu Kleinert, Mitwirkung, S. 241. 145 Hirsch, in: GS Kaufmann (1989), S. 699, 713; Volckart, JR 2005, 181, 182; Weigend, Deliktsopfer, S. 206.

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Opfer verarbeitet und dazu auf den Täter eingewirkt werden kann, muss also die Täterschaft rechtskräftig festgestellt werden.146 Vor rechtskräftiger Feststellung der Straftat im Urteil existiert damit juristisch weder eine Tat noch ein Täter, die einen sozialen Konflikt auslösen könnten, der im Verfahren bearbeitet werden könnte. Schließlich stößt die Zielbestimmung der Beilegung eines sozialen Konflikts auf das praktische Problem, dass es in einem Strafverfahren häufig nicht praktikabel ist, einen sozialen Konflikt zu lösen.147 Es fehlt schon an den Instrumenten, um Ursachen und Bedingungen eines sozialen Konflikts im Prozess vollständig zu erfassen oder zu beheben.148 Zudem entspricht es weder der Funktion des Richters noch seiner Ausbildung und der ihm zur Verfügung stehenden Zeit, als Sozialtherapeut zwischen Täter und Opfer zu agieren.149 Schließlich fordert die Strafprozessordnung die Strafverfolgungsbehörden auch nicht dazu auf, stets auf ein Einvernehmen von Täter und Opfer hinzuwirken. Wäre Verfahrensziel die Beilegung eines sozialen Konflikts, wäre dies jedoch notwendig und zu erwarten.150 Der Strafprozess kann damit die Beilegung des sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer kaum erreichen. Es erscheint indes wenig sinnvoll, etwas zum primären Verfahrensziel zu erheben, das mit den zur Verfügung stehenden Mitteln selten erreicht werden kann. Die These, das Strafverfahren ziele auf die Beilegung eines sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer, überzeugt damit insgesamt nicht. Entsprechend hat sie bisher auch keine überwiegende Gefolgschaft im deutschen Schrifttum gefunden. Aus ihr sind deshalb auch keine Folgerungen für die Rolle des Opfers und seines Feststellungsinteresses im deutschen Strafverfahrensrecht zu ziehen. e) Weitere Verfahrenszwecke Neben den überwiegend konsentierten Verfahrenszwecken Wahrheitsermittlung, Durchsetzung des materiellen Rechts und Rechtsfriedenschaffung wird des Weiteren erwogen, den Schutz der Grundrechte des Beschuldigten zu einem eigenständigen Zweck des Strafverfahrens zu erheben.151 Ein Strafprozess kann Individualrechte gefährden. Auch müssen in einem rechtsstaatlichen Verfahren ungerechtfertigte Beeinträchtigungen von Grund- und Menschenrechten, insbesondere des Beschuldigten vermieden werden.152 Allerdings wird der Strafprozess nicht primär zum

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Volckart, JR 2005, 181, 183. Ebenso Kleinert, Mitwirkung, S. 238 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 206, insbes. Fn. 114. 148 Kleinert, Mitwirkung, S. 238. 149 Kleinert, Mitwirkung, S. 238 f.; Volckart, JR 2005, 181, 183. 150 Ähnlich Kleinert, Mitwirkung, S. 241 f. 151 In diese Richtung z. B. Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 12; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 11 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 6 (Schutz des Unschuldigen); Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 727 f.; Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 1. 152 Siehe nur Weigend, Deliktsopfer, S. 176 f. 147

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Schutz grundrechtlich verbürgter Positionen durchgeführt.153 Stattdessen ist dieser Schutz verfassungs- bzw. menschenrechtlich garantiert und als solcher eine Aufgabe des Strafverfahrensrechts und kein eigentliches Prozessziel.154 Unabhängig davon, ob er als Aufgabe des Verfahrensrechts oder als Prozessziel klassifiziert wird, geht es bei dem Grundrechtsschutz des Beschuldigten zudem darum, die Sanktionierung Unschuldiger und nicht beweiskräftig Überführter zu verhindern. Für ein Feststellungsinteresse des Opfers lässt sich daraus nichts ableiten. Gleiches gilt für das ebenfalls vereinzelt als Nebenzweck propagierte Verfahrensziel der Rehabilitation eines unschuldig Angeklagten, das ohnehin nur insoweit Geltung verlangen kann, wie es im materiellen Recht angelegt ist.155 Weiterhin sind in der Vergangenheit die Herstellung von Gerechtigkeit, Rechtskraft und Rechtssicherheit als eigenständige Verfahrensziele diskutiert worden.156 Sie haben sich jedoch als solche nicht durchgesetzt. Eine Untersuchung ihrer Bedeutung für die Befriedigung eines Feststellungsinteresses des Opfers im Strafverfahren erübrigt sich daher ebenso. Schließlich wird vereinzelt vertreten, Ziel des Strafverfahrens sei die Verbrechensbekämpfung.157 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass im Strafverfahren das materielle Strafrecht durch die zügige öffentliche Aburteilung einer Person öffentlichkeitswirksam durchgesetzt werde und diese Art der Durchsetzung generalpräventive Wirkung entfalte.158 Reformbestrebungen zur Umsetzung dieses Ziels fordern oft eine Schwächung von als störend klassifizierten prozessualen Rechten des „Täters“ und zugleich eine Stärkung der Verfahrensstellung des „Opfers“.159 Problematisch an dieser Zielsetzung ist allerdings, dass sie – wenn überhaupt – nur in einem Prozess zu erreichen ist, in dem eine Straftat festgestellt wird.160 Ob eine Straftat vorliegt, ist jedoch erst Untersuchungsgegenstand des Verfahrens. Ihre 153

Weigend, Deliktsopfer, S. 177. Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 9; ähnlich Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, Einl. Rn. 6; Rieß, JR 2006, 269, 272. 155 Dazu Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 4; Gercke/Temming, in: HK-StPO, Einl. Rn. 10; Hellmann, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 10 (den Zweck widerlegend); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 8. 156 Zur Gerechtigkeit siehe z. B. mit überzeugender Argumentation gegen diesen Verfahrenszweck Kleinert, Mitwirkung, S. 255 ff.; Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 512 ff.; positiver Kühne, in: LR-StPO, Einl. B. Rn. 43 ff. Zur Rechtskraft siehe z. B. Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 514; Weigend, Deliktsopfer, S. 197 ff.; zur Rechtssicherheit Schmidhäuser, in: FS Schmidt (1961), S. 511, 515, jeweils mit widerlegenden Argumenten. – Daneben sind in der Vergangenheit noch weitere Zwecke diskutiert worden, die sich jedoch ebenfalls nicht als herrschend durchsetzen konnten; siehe z. B. zum Verfahrenszweck der Vorbereitung der Strafzumessung mit begründeter Ablehnung Weigend, Deliktsopfer, S. 189 ff. 157 Krit. zu diesem Zweck, aber mit zahlreichen Nachweisen aus dem internationalen Schrifttum Weigend, Deliktsopfer, S. 175; siehe zum Strafverfahrensrecht als Verbrechensbekämpfungsrecht in der deutschen Gesetzgebung Wohlers, GA 2005, 11, 12 f. 158 Kleinert, Mitwirkung, S. 257 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 175. 159 So Kleinert, Mitwirkung, S. 258; Wohlers, GA 2005, 11, 12 f. 160 Kleinert, Mitwirkung, S. 258. 154

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Existenz für den Zweck der Kriminalitätsbekämpfung pauschal zu unterstellen, verstößt gegen rechtsstaatliche Garantien. Zudem würde es den Prozess überfordern, wenn er auch die Wirksamkeit der Strafrechtsanwendung in der Gesellschaft sichern sollte.161 Deshalb hat der Vorschlag dieser Zielsetzung auch zu Recht im deutschen Schrifttum überwiegend kritische Resonanz gefunden.162 Für die Stellung des potentiellen Opfers und seiner Interessen im Strafverfahren ist daher aus ihm nichts abzuleiten. f) Ergebnis Die derzeit überwiegend konsentierten Ziele des Strafverfahrens sind im deutschen Recht die Durchsetzung des materiellen Strafrechts und die Rechtsfriedenschaffung sowie als Zwischenziel die Wahrheitsermittlung. Mit keinem dieser Ziele lässt sich begründen, dass das Strafverfahren (auch) darauf ausgerichtet wäre, das individuelle Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers zu befriedigen. Dies ist eine Konsequenz der Konzeption des materiellen Verbrechensbegriffs und der wenigstens mittelbaren Rückbindung aller drei Verfahrensziele an das rechtstheoretische Programm des materiellen Strafrechts. Weil und soweit eine Straftat nicht als privates Delikt, sondern als Störung des öffentlichen Friedens konstruiert wird, ist der Prozess ihrer Bewältigung eine Auseinandersetzung zwischen der Rechtsgemeinschaft und dem Tatverdächtigen.163 Der Strafprozess ist mithin auf die Klärung der Verantwortlichkeit des Beschuldigten für eine die Rechtsgemeinschaft als Ganze betreffende Verletzung eines ideellen Rechtsguts/einer Norm ausgerichtet. Die Befriedigung eines privaten Unrechtfeststellungsinteresses ist weder Verfahrensgegenstand noch -ziel.164 2. Englisches Recht a) Convicting the guilty and acquitting the innocent Nach ganz überwiegender Auffassung ist der primäre Zweck des Strafverfahrens in England und Wales die Aufklärung des Geschehens, um den Schuldigen zu verurteilen und zu bestrafen und den Unschuldigen freizusprechen. In den Worten des einflussreichen Richters Lord Justice Auld: „The criminal trial is a search for truth […], the object being to convict the guilty and acquit the innocent.“165 Auch die 161

Weigend, Deliktsopfer, S. 176. Siehe nur Kleinert, Mitwirkung, S. 258; Weigend, Deliktsopfer, S. 175 f.; Wohlers, GA 2005, 11, 12 f. 163 Ebenso Weigend, Deliktsopfer, S. 218. 164 I. E. ebenso Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 7. 165 Auld, Review of the Courts, S. 459 f., siehe auch S. 8. Inhaltlich übereinstimmend Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 23, 321; Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37; ähnlich Redmayne, New Crim. L. Rev. 12 (2009), 287, 296. 162

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Criminal Procedure Rules 2015 (CrimPR 2015) heben diesen Zweck hervor. Sie definieren den gesetzlichen Rahmen für Strafverfahren in England und Wales und sollen eine faire Verfahrensführung sicherstellen.166 In diesem Kontext erläutert Regel 1.1 (2), welche Zwecke die Strafgerichte im Strafverfahren verfolgen müssen, um das übergeordnete Ziel eines gerechten Umgangs mit strafrechtlichen Fällen zu erreichen.167 An prominenter erster Stelle gibt Regel 1.1 (2) (a) insofern als Verfahrenshauptzweck „acquitting the innocent and convicting the guilty“ vor. Als Bestandteil der Hauptzwecke oder jedenfalls als Nebenzweck des Strafverfahrens fordert die einschlägige Literatur zudem, dass die Verurteilung und Bestrafung des Schuldigen sowie der Freispruch des Unschuldigen fair, also unter Beachtung fundamentaler Rechte erfolgen müsse.168 Auch diesen Verfahrenszweck greifen die CrimPR 2015 auf. Gem. Regel 1.1 (2) (b) (c) ist mit der Verteidigung fair umzugehen und sind die Rechte des Beschuldigten, insbesondere Art. 6 EMRK, zu beachten. Insgesamt ist damit Ziel des Strafprozesses die Kontrolle von Verbrechen durch die Verurteilung Schuldiger bei gleichzeitiger Beachtung von due process-Grenzen, also der effektiven Wahrung der Rechte des Beschuldigten.169 Darüber hinaus wird davor 166 CrimPR 2015, r. 1.1 (1): „The overriding objective of this procedural code is that criminal cases be dealt with justly.“ Siehe zum Hintergrund dieser Regeln Ward/Akhtar, English Legal System, S. 581 f. 167 Sprack, Criminal Procedure, 2.08. 168 Vgl. Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 23, 321 (Hauptzweck); Auld, Review of the Courts, S. 9 f.; Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37. Zu der prozesstheoretischen Diskussion, ob die Gewährleistung von Fairness intrinsischer Zweck des Strafverfahrens ist oder als Nebenbedingung des instrumentellen Prozesses die Verfolgung des Primärzwecks „Aufklärung“ im Verfahren begrenzt Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 322; Redmayne, New Crim. L. Rev. 12 (2009), 287, 294 f. 169 Im Schrifttum zum Common Law sind Modelle entwickelt worden, um (theoretisch) zu beschreiben, welche Werte und Interessen im Strafjustizsystem bzw. im Strafprozess in Abhängigkeit von einem bestimmten übergeordneten Verfahrenszweck verfolgt und priorisiert werden (müssen). Diese Modelle werden auch herangezogen, um bestehende Strafjustiz- bzw. Strafverfahrenssysteme zu evaluieren und Reformempfehlungen auszusprechen. Am einflussreichsten waren insofern das von Packer in den 1960er Jahren entwickelte Due ProcessModell und das Crime Control-Modell, siehe z. B. Packer, University of Pennsylvania L. Rev. 113 (1964), 1 ff.; siehe dazu Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 21 ff; krit. Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 39 ff.; Roach, J. Crim. L. & Criminol. 89 (1998 – 99), 671, 686. Die beiden theoretischen Modelle von Packer beschreiben zwei Wertesysteme, die bei der Ausgestaltung und Durchführung des Strafprozesses um Priorität buhlen. Nach dem Crime Control-Modell ist der wichtigste Strafprozesszweck die Repression strafbaren Verhaltens. Zur Erreichung dieses Zwecks muss das Strafverfahren darauf ausgerichtet werden, möglichst zügig möglichst viele Taten aufzuklären und möglichst viele Verurteilungen schuldiger Personen zu erreichen. Nach dem Due Process-Modell hingegen ist primärer Zweck die Gewährleistung von Verfahrensgerechtigkeit und der Ausschluss von Fehlurteilen. In der Folge sind die staatliche Macht im Strafverfahren zu begrenzen und die Rechte des Verdächtigen zu gewährleisten. Opferinteressen berücksichtigt Packer in keinem der Modelle. Neuere Modelle, die auch Opferinteressen einbeziehen, haben z. B. Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 48 ff. (rights perspective), Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 47 ff. (freedom enhancement) und Roach, J. Crim. L. & Criminol. 89 (1998 – 99), 671 ff. (punitive and non-punitive models of victims’ rights) entwickelt. Im Text wird die gegenwärtige Rechtslage und

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gewarnt, von einem Strafprozess die Verfolgung zu vieler Zwecke zu erwarten. Verfahren, die die individuelle Verantwortlichkeit eines Individuums aufklären sollten, seien nicht dafür geeignet, weiteren politischen Zielen – wie etwa der Bestimmung der Wahrheit oder der Versöhnung einer Gesellschaft – zu dienen.170 Aus diesem Strafverfahrenszweck werden Konsequenzen für die Berücksichtigung von den Interessen des Opfers im Strafverfahren abgeleitet. Hauptzweck des Strafverfahrens ist wie dargelegt die Verurteilung des Schuldigen bzw. der Freispruch des Unschuldigen hinsichtlich der vorwerfbaren Begehung einer Straftat. Eine Straftat ihrerseits ist nach überwiegender Auffassung ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft.171 Als Konsequenz dieser Prämissen wird davon ausgegangen, dass die Verfolgung sowie die Verurteilung und Bestrafung eines Täters für die Verwirklichung einer Straftat Aufgabe des Staates als Repräsentant der Gesellschaft und nicht Aufgabe des individuellen Opfers sei.172 Entsprechend treffe der Staat die Entscheidungen über die Anklage sowie über die Verurteilung gemäß dem öffentlichen Interesse und im Namen der Gesellschaft.173 Ebenso verhänge der Staat die Strafe im Namen der Gesellschaft und im öffentlichen Interesse.174 Im Strafverfahren steht also die Beilegung des Konflikts zwischen dem Staat als Repräsentant der Gesellschaft herrschende Meinung in England und Wales in Bezug auf den Zweck des Strafprozesses vorgestellt. Die genannten theoretischen Modelle zur Gestaltung des Strafprozesses/Strafjustizsystems in Abhängigkeit von einem übergeordneten Zweck haben darauf keine unmittelbare Auswirkung, sodass hier nur auf das Schrifttum dazu verwiesen wird. Das englische Strafjustizsystem wird im Übrigen als ein System charakterisiert, das derzeit die Werte vom Due Process-Modell priorisiere, sich im Strafprozess aber zur stärkeren Betonung von Crime Control-Werten entwickele, siehe Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 26 ff. 170 Auld, Review of the Courts, S. 459; Redmayne, New Crim. L. Rev. 12 (2009), 287, 296. 171 Kap. 3 A I 2 b). 172 Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 283 ff.; ders./Redmayne, Criminal Process, S. 52 f.; ders., Glidewell/ Dear/McFarland, The Review of the Crown Prosecution Service, ch. 5 Rn. 79; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614; Williams, Current Legal Problems 8 (1955), 107, 122: „The notion of a crime as a threat to the whole community is the material counterpart of the formal rule that the State alone is master of a criminal prosecution.“ – Als weiterer Grund für die staatliche Verfolgungsverantwort-lichkeit wird angeführt, dass eine verlässliche, durchsetzungsfähige Instanz das öffentliche Unrecht stets in gleicher, objektiver und rationaler Weise unabhängig von privaten Rachebedürfnissen ahnden müsse, Allen, Legal Duties, S. 221, 234; Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 691 f. mwN. Zudem könne nur die staatliche Verfolgungsverantwortlichkeit die Verfolgung auch dann sicherstellen, wenn das public wrong nicht mit einem private wrong zusammenfalle, Allen, Legal Duties, S. 221, 234. 173 Siehe nur Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 155; Redmayne, New Crim. L. Rev. 12 (2009), 287, 291, 296; Simester et al., Criminal Law, S. 5. 174 Ashworth, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 185, 199; ders., Crim. L. F. 4 (1993), 277, 284; Doak, Victims’ Rights, S. 26, 35; Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 691. Dazu, dass die Strafzwecke von der überwiegenden Auffassung auf die Gesellschaft und den Täter, nicht aber unmittelbar auf das individuelle Opfer als solches bezogen werden Sebba, Am. J. Comp. L. 30 (1982), 217, 229. Argumente, warum hingegen die Ansicht des Opfers auch bei Ausrichtung des Verfahrens auf das öffentliche Interesse zumindest für einen entschädigenden Teil der Strafe ausschlaggebend sein sollte, nennen Cavadino/Dignan, Internat. Rev. Victimology 1997, 233, 237 f.

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und dem Angeklagten im Mittelpunkt.175 Die Lösung des Konflikts zwischen (vermeintlichem) Schädiger und (vermeintlichem) Opfer gilt nicht als Gegenstand des Strafprozesses.176 Stattdessen werden das private wrong und das daraus resultierende Entschädigungsinteresse der verletzten Individualperson grundsätzlich im Privatrecht (private law) auf Initiative der verletzten Person abgehandelt.177 Ein Interesse des Verletzten am Ausgang des Strafverfahrens wird in der Folge nicht anerkannt.178 Weiterhin soll das Strafverfahrensziel bedingen, dass der Angeklagte stets die Hauptfigur des Verfahrens ist.179 Die Untersuchung seines Verhaltens und die Klärung seiner Schuld seien das zentrale Thema des Prozesses. Ihn allein treffe bei Nachweis seiner Schuld das Strafübel. Die Interessen anderer Personen, z. B. von Zeugen und mutmaßlichen Opfern, seien zwar nicht zu ignorieren. Die Rechte des Beschuldigten hätten jedoch deshalb stets Priorität.180 Die CrimPR 2015 bestätigen diese Wertung. Gemäß Regel 1.1 (2) (c) sind die Rechte des Angeklagten zu beachten. Die Interessen von Zeugen, Opfern und Geschworenen hingegen sind „lediglich“ zu respektieren.181 Das Verfahrensziel schließt damit zwar die Berücksichtigung von Interessen des Opfers im Strafverfahren nicht vollständig aus, die Befriedigung seiner Interessen ist aber auch kein primäres Verfahrensziel. Ob ein Interesse des Opfers in Einklang mit dem Verfahrenszweck im Verfahren berücksichtigt werden kann, hängt von seiner inhaltlichen Ausrichtung ab. Schutz- und Unterstützungsinteressen des individuellen Opfers berühren nicht das Ziel, den Konflikt zwischen Staat und Angeklagtem

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Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 53; Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 155; Doak, Victims’ Rights, S. 26, 35, 115. 176 Doak, Victims’ Rights, S. 35. 177 Ashworth, L. Quarterly Rev. 116 (2000), 225, 233 f.; ders., Crim. L. F. 4 (1993), 277, 283 ff.; Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 700 f.; Lamond, Oxford J. Legal Stud. 27 (2007), 609, 614. Zu neueren Tendenzen, Entschädigungsinteressen auch im Strafverfahren zu behandeln, siehe Kap. 3 A II 2 b). 178 So Glidewell/Dear/McFarland, The Review of the Crown Prosecution Service, ch. 5 Rn. 79. 179 Doak, Victims’ Rights, S. 26; Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37. 180 Instruktiv R v B [2003] EWCA (Crim) 319 Rn. 27 (Woolf CJ): „At the heart of our criminal justice system is the principle that while it is important that justice is done to the prosecution and justice is done to the victim, in the final analysis the fact remains that it is even more important that an injustice is not done to a defendant. It is central to the way we administer justice in this country that although it may mean that some guilty people go unpunished, it is more important that the innocent are not wrongly convicted.“ Doak, Victims’ Rights, S. 26; Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37 f. Zur anders lautenden politischen Rhetorik Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 741 f. 181 CrimPR 2015, r. 1.1 (2): „(c) recognising the rights of a defendant, particularly those under Article 6 of the European Convention on Human Rights; (d) respecting the interests of witnesses, victims and jurors and keeping them informed of the progress of the case“. Zur Interpretation dieser Formulierungen siehe Sprack, Criminal Procedure, 2.10.

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beizulegen.182 Solange sie nicht die due process-Rechte des Angeklagten unverhältnismäßig beschränken, können sie damit weitgehend unproblematisch auch in dem auf die Lösung des öffentlichen Konflikts ausgerichteten System berücksichtigt werden.183 Die Befriedigung des Feststellungsinteresses des Opfers ist hingegen mit diesem Zweck nicht problemlos vereinbar.184 Ziel des Verfahrens ist zwar die Feststellung der Verantwortlichkeit des Angeklagten und ggf. seine Verurteilung. Jedoch geht es dabei um den Vorwurf und Nachweis der Verantwortlichkeit für ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft. Die Interessen des Opfers an der Aufklärung und Verfolgung werden in der Konsequenz nur insofern erfasst, als es selbst auch Teil der Gesellschaft ist.185 Davon losgelöst kommt es auf seine individuellen Interessen hingegen nicht an, ihre Befriedigung erfolgt allenfalls beiläufig.186 Aufgrund des Zusammenspiels von Straftatbegriff und Verfahrenszweck wird deshalb auch im englischen Recht davon ausgegangen, dass es theoretisch nicht begründbar sei, individuelle Interessen in Bezug auf die Aufklärung des Geschehens und die Verfolgung und Bestrafung des Angeklagten zu berücksichtigen.187 Weil die Strafverfolgung in staatlicher Verantwortung liege, sei es außerdem ungerecht, wenn sie von individuellen, im Einzelfall variierenden Vorstellungen der Opfer beeinflusst würde.188 b) Reformtendenzen In jüngerer Vergangenheit ist diese die Interessen des Verletzten ausblendende Gestaltung des Verfahrenszwecks kritisiert worden. Als Alternative propagieren einige Stimmen im Schrifttum Modifikationen des traditionellen Strafverfahrens und Strafjustizsystems, um die Interessen des Opfers darin besser befriedigen zu können.189 Andere Ansätze gehen davon aus, dass eine Reform des traditionellen Sys182 Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 161. Vgl. auch Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 282. 183 Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 281 f.; ders./Redmayne, Criminal Process, S. 51 ff. 184 Vgl. Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 282. 185 Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 155. Siehe auch Kap. 3 A III 2 a) bb). 186 Ashworth, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 185, 199; ders./Redmayne, Criminal Process, S. 53 f.; Doak, Victims’ Rights, S. 26; Redmayne, New Crim. L. Rev. 12 (2009), 287, 297 f. Vgl. auch Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 155. Siehe zur a.A. auf Grundlage eines restorativen Ansatzes z. B. Cavadino/Dignan, Internat. Rev. Victimology 1997, 233, 237 f. 187 Vgl. Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 282. 188 Vgl. Ashworth, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 185, 199; ders./Redmayne, Criminal Process, S. 53; Auld, Review of the Courts, S. 500; Redmayne, New Crim. L. Rev. 12 (2009), 287. 297 f. 189 Siehe z. B. Cavadino/Dignan, Internat. Rev. Victimology 1997, 233, 244 ff.; Doak, J. L. Society 32 (2005), 294, 315; Hall, Victims of Crime, S. 192 ff.; Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 209 ff.

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tems nicht ausreiche, sondern dass stattdessen ein neues System eingeführt werden müsse.190 Praktisch durchsetzen konnten sich diese Vorschläge in England und Wales bisher jedoch nicht. Stattdessen ist das traditionelle Modell nur an einigen Stellen ergänzt, aber nicht grundlegend modifiziert worden. Eine solche Ergänzung ist das Instrument der compensation order.191 Damit können Strafgerichte den Täter im Strafurteil neben oder anstatt einer Sanktion verpflichten, eine Entschädigungszahlung direkt an den Verletzten zu erbringen.192 Sollen eine compensation order und eine Geldstrafe verhängt werden und hat der Täter keine ausreichenden finanziellen Mittel, um beide zu bedienen, muss das Gericht der compensation order den Vorrang vor der Geldstrafe einräumen.193 Die Möglichkeit, die Kriminalstrafe durch die Verpflichtung zur Entschädigungsleistung an den Verletzten zu ersetzen und der Entschädigungsleistung ggf. Vorrang vor der Geldstrafe einzuräumen, modifiziert das traditionelle Paradigma, dass die Interessen des Opfers im Strafverfahren und bei der Sanktionierung keine Rolle spielen.194 Allerdings hat die compensation order keinen primär bestrafenden Zweck, sondern soll dem Opfer vor allem eine einfache, zügige und kostengünstige Möglichkeit verschaffen, seinen zivilrechtlichen Schadenersatzanspruch zu verwirklichen.195 Sie zielt damit auf die Befriedigung seiner reparativen, nicht seiner punitiven Interessen. Damit in Einklang stehend rechtfertigt es die Auferlegung einer compensation order nicht, keine oder eine kürzere Gefängnisstrafe zu verhängen als in Anbetracht des Delikts geboten wäre.196 Außerdem ist bei der Verhängung der Entschädigungsverpflichtung die finanzielle Situation des Täters zu berücksichtigen.197 Führt eine Gefängnisstrafe aller Voraussicht nach zur Leistungsunfähigkeit des Täters, ist nicht 190 Hierbei geht es vor allem um Restorative Justice-Ansätze. Unter dem Begriff Restorative Justice werden im Schrifttum zum englischen Recht ganz unterschiedlich ausgestaltete Ansätze diskutiert, Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 280. Die verschiedenen Restorative JusticeModelle bereiten Dignan/ Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 164 ff. systematisch auf. Zur Bedeutung dieser Ideen in Recht und Politik in England und Wales siehe Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 293 ff. 191 Eine weitere Modifikation der Strafverfahrenszwecke wurde bei Einführung sog. victim personal statements diskutiert. Die Ausgestaltung dieses Instruments zeigt allerdings, dass damit im Ergebnis keine Abweichung vom tradierten Ansatz verbunden ist; siehe dazu ausführlich Kap. 3 A III 2 a) dd). 192 Eingeführt wurde die compensation order mit dem Criminal Justice Act 1972. Heute ist sie im Powers of Criminal Courts (Sentencing) Act 2000, sec. 130 – 134, geregelt; siehe dazu Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 340 ff.; Sprack, Criminal Procedure, 25.72 ff. 193 Powers of Criminal Courts (Sentencing) Act 2000, sec. 130 (12). 194 Deshalb krit. Ashworth, Crim. L. F. 4 (1993), 277, 291 ff.; positiv Doak, Victims’ Rights, S. 27; ders., J. L. Society 32 (2005), 294, 301. 195 R v Jorge [1999] 2 Cr App R (S) 1, 2; R v Inwood [1974] 60 Cr App R 70, 73; Sprack, Criminal Procedure, 25.73. 196 R v Copley [1979] 1 Cr App R (S) 55; Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 344. 197 Powers of Criminal Courts (Sentencing) Act 2000, sec. 130 (11); siehe zur Auslegung dieses Kriteriums Gibson/Cavadino, Introduction to the Criminal Justice Process, S. 181.

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auf die Verhängung der Gefängnisstrafe, sondern auf die Verhängung der compensation order zu verzichten.198 Dem Interesse des Verletzten an einer Entschädigung wird damit allenfalls bei leichteren Delikten der Vorrang vor dem Interesse der Allgemeinheit an einer vergeltenden Reaktion in Form der Geldstrafe eingeräumt. Bei schweren Delikten hingegen genießt die vergeltende Gefängnisstrafe Priorität vor der Entschädigung.199 Das Interesse des Opfers an einer Reparation im Strafverfahren wird damit zumindest bei schwereren Taten den Interessen der Allgemeinheit untergeordnet.200 Auch vermittelt das Instrument dem (vermeintlichen) Opfer keine Position im Strafverfahren. Der Verletzte kann lediglich die Polizei über seinen Schaden und Entschädigungswunsch informieren, der Nachweis des Schadens im Prozess hingegen obliegt allein dem Staatsanwalt, und das Gericht entscheidet autonom über die Verhängung der compensation order.201 Die Berücksichtigung des Entschädigungsinteresses im Kontext des Strafurteils wird damit nicht als hinreichender Grund dafür anerkannt, dem Verletzten die Möglichkeit einzuräumen, im Verfahren am Nachweis des Geschehens mitzuwirken und auf die Befriedigung seines Entschädigungsinteresses aktiv hinzuwirken. Vielmehr bleibt das Opfer insoweit Objekt staatlicher Fürsorge.202 Schließlich werden nur materielle Interessen des Opfers erfüllt. Das immaterielle Interesse in Bezug auf die Unrechtfeststellung wird mit der compensation order weder anerkannt noch befriedigt.203 Insgesamt zielt das Instrument damit darauf, dem Opfer ein einfaches Mittel zur Geltendmachung seiner zivilrechtlichen Ansprüche zu gewähren, und integriert so ein wiedergutmachendes Element in das Strafjustizsystem. Der Hauptzweck des Strafverfahrens wird durch das Instrument aber entgegen der traditionellen Auffassung nicht auf die Befriedigung von Opferinteressen ausgerichtet. Vielmehr zeigt die konkrete Ausgestaltung des Instruments gerade, dass weiterhin das öffentliche Interesse im Mittelpunkt des Verfahrens steht. Der Primärzweck des Strafverfahrens in England und Wales ist damit auch durch die Reformen jüngeren Datums nicht verändert worden. Die Interessen der Allgemeinheit und des Angeklagten stehen nachwievor im Mittelpunkt, Individualinter-

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R v Jorge [1999] 2 Cr App R (S) 1, 2. Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 344. 200 Zu weiteren Nachteilen des Instruments aus Opfersicht siehe z. B. Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 158 f.; Doak, Victims’ Rights, S. 233; Reeves/Mulley, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 125, 141 f. Zu Vorteilen aus Opfersicht Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 156 f. 201 Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 342 f.; Sprack, Criminal Procedure, 25.79. 202 Ebenso Höynck, Das Opfer, S. 118. 203 Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 158 f. 199

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essen finden allenfalls periphere Berücksichtigung.204 Insbesondere ist die Befriedigung eines Genugtuungsinteresses des Opfers nicht im Primärzweck angelegt. c) Ergebnis Die in Gesetz und Schrifttum zum englischen Recht konsentierten Verfahrenszwecke lassen zwar die Berücksichtigung einiger Interessen des Opfers zu, ihre Befriedigung ist aber kein primärer Verfahrenszweck. Insbesondere führt das Zusammenspiel von Verbrechensbegriff und Verfahrensziel dazu, dass das Verfahren bipolar ausgestaltet wird und nicht darauf zielt, ein individuelles Feststellungsinteresse zu befriedigen. Anders lautende Reformvorschläge haben sich bisher nicht durchgesetzt.

III. Träger des Verfolgungsinteresses und Verfolgungsstruktur Ob ein privates Feststellungsinteresse in den nationalen Strafverfahren berücksichtigt wird und das mutmaßliche Opfer dieses Interesse ggf. selbst im Verfahren aktiv verfolgen kann, wird schließlich praktisch davon beeinflusst, wer Träger des Strafverfolgungsinteresses ist und wie die Strafverfolgung strukturiert ist.205 Insofern ist zu untersuchen, welche Instanzen staatlicher oder privater Art die Verfolgung betreiben und wessen Interessen sie mit welchem Gewicht dabei durchzusetzen verpflichtet sind. In diesem Zusammenhang wird auch beleuchtet, ob in den nationalen Rechtsordnungen Rechtsinstitute existieren, die – entgegen dem, was der Straftatbegriff und der Strafverfahrenszweck nahelegen – doch von der Anerkennung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafjustizsystem zeugen und dem mutmaßlichen Opfer die Verfolgung dieses Interesses im Verfahren gestatten. 1. Deutsches Recht a) Öffentliche Strafverfolgung aa) Interessen in und Struktur der öffentlichen Strafverfolgung Um zu beantworten, wer in wessen Interesse im deutschen Recht die Strafverfolgung betreibt, ist die Betrachtung einiger Verfahrensprinzipien aufschlussreich, die das Grundgerüst des deutschen Strafprozesses formen.

204 205

Ebenso Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 157. Ähnlich Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 766.

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(1) Offizialprinzip Im deutschen Strafprozessrecht gilt grundsätzlich206 das Offizialprinzip. Danach obliegt die Strafverfolgung der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft und nicht dem vermeintlich durch die Tat verletzten Bürger.207 Es besteht ein staatliches Strafverfolgungsprivileg. Seine Geltung ist Teil und Konsequenz des staatlichen Gewaltmonopols.208 In Einklang mit diesem Prinzip liegt das Anklagemonopol gemäß § 152 Abs. 1 StPO bei der Staatsanwaltschaft als staatlicher Behörde, die die Strafverfolgung von Amts wegen und ohne Rücksicht auf, notfalls auch gegen die privaten Interessen des vermeintlich Verletzten betreibt. Die Geltung des Offizialprinzips verdeutlicht, dass es im Strafverfahren um die Realisierung der materiellen Strafrechtsnormen und nicht um die Verarbeitung eines Konflikts zwischen einzelnen Privatpersonen geht.209 Ein Verstoß gegen eine materielle Strafrechtsnorm betrifft nach der herrschenden materiellen Strafrechtsdogmatik Belange der Rechtsgemeinschaft als Ganzer,210 weshalb ein öffentliches Interesse an einer grundsätzlich gleichmäßigen, sachlichen und willkürfreien Verfolgung von Straftaten besteht. Dies kann eine staatliche Verfolgung am besten gewährleisten. (2) Legalitäts- und Opportunitätsprinzip Als Korrelat des staatlichen Strafverfolgungsprivilegs und als normativer Regelfall gilt im deutschen Strafprozessrecht das Legalitätsprinzip.211 Wenn und soweit die Bürger vermeintliche Straftaten nicht selbst ahnden dürfen, sondern dies allein dem Staat obliegt, unterliegt dieser einem Verfolgungszwang und muss gewährleisten, dass gegen jeden Verdächtigen in gleicher Weise vorgegangen wird. Als Ausdruck dieses Prinzips muss die Staatsanwaltschaft gemäß §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO stets Ermittlungen aufnehmen, sobald der Anfangsverdacht einer Straftat besteht, und bei Verdachtsbestätigung Anklage erheben, § 170 Abs. 1 StPO. Damit aktualisiert das Legalitätsprinzip auch das verfassungsrechtlich abgesicherte Verbot staatlicher Willkür bei der Strafverfolgung.212 Für den mutmaßlich Verletzten 206

Dieses Prinzip unterliegt nur einer Durchbrechung bei Privatklagedelikten, siehe Kap. 3 A III 1 b), und Einschränkungen bei Antrags- und Ermächtigungsdelikten, siehe Kap. 3 A III 1 a) bb). 207 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 16; Heghmanns, Strafverfahren, ET 02-02 Rn. 6; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 136; Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 14. 208 Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 6. 209 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 12 Rn. 7; Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 151 ff. Rn. 3. 210 Siehe ausführlich Kap. 3 A I 1. 211 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 17; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 8; Heghmanns, Strafverfahren, ET 02-02 Rn. 12; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 127. Zum Legalitätsprinzip im Strafverfahren allgemein BVerfGE 46, 214, 222 f.; Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 20 ff. 212 BVerfG NStZ 1982, 430; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 8; Heghmanns, Strafverfahren, ET 02-02 Rn. 12; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 127.

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bedeutet dies, dass eine Straftat ohne Ansehung seiner Person und Betroffenheit, aber ebenso ohne Ansehung seiner privaten Interessen im Regelfall staatlich geahndet wird. Ein subjektiver Anspruch eines einzelnen Bürgers auf staatliche Strafverfolgung eines Dritten korreliert mit der staatlichen Verfolgungspflicht nicht.213 Zugleich ist die Staatsanwaltschaft grundsätzlich auch dann zur Sachverhaltsermittlung und eventuell zur Klageerhebung verpflichtet, wenn alle durch eine Straftat vermeintlich betroffenen Personen von der Erhebung einer Strafanzeige absehen und sogar, wenn sie der Strafverfolgung widersprechen.214 Die Geltung des Legalitätsprinzips zeigt damit ebenfalls, dass die Strafverfolgung primär im öffentlichen Interesse betrieben wird. Als Ausnahme von dem normativen Regelfall der staatlichen Verfolgungspflicht kann die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht in einigen Fällen trotz hinreichenden Tatverdachts aus Opportunitätsgründen von der Verfolgung absehen, vgl. §§ 153 ff., 376 StPO.215 Wenn im Strafprozess (auch) ein Genugtuungsinteresse des Verletzten befriedigt werden sollte, müsste dieses bei Einstellungsentscheidungen aus Opportunitätsgründen abzuwägen sein. Denn durch eine Verfahrenseinstellung trotz hinreichenden Tatverdachts würde die Befriedigung dieses Interesses im Prozess konterkariert. Insofern ist zu bemerken, dass der mutmaßlich Verletzte in der Regel nicht vor einer Verfahrenseinstellung gem. §§ 153 ff. StPO gehört werden muss und seine Zustimmung dazu auch nicht erforderlich ist.216 Gemäß § 172 Abs. 2 S. 3 kann er die Einstellungsentscheidung auch nicht im Wege der Klageerzwingung angreifen, sondern sich lediglich mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde oder Gegenvorstellung gegen sie wenden.217 Selbst dem Nebenkläger steht ausweichlich § 400 Abs. 2 S. 2 StPO kein Rechtsmittel gegen Einstellungsentscheidungen zu. Der

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Siehe ausführlich Kap. 4. Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 13. Eine Ausnahme hiervon besteht nur bei den unbedingten Antragsdelikten, siehe dazu Kap. 3 A III 1 a) bb). 215 Siehe dazu statt vieler Heghmanns, Strafverfahren, ET 02-02 Rn. 13; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 230 ff. Zu weiteren Begrenzungen des Legalitätsprinzips siehe Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 26 ff.; Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 151 ff. Rn. 7. Entgegen der normativen Grundprämisse sind Einstellungen nach dem Opportunitätsprinzip im Bereich leichter Kriminalität faktisch heute nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel, Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 135. 216 Radkte, in: Radtke/Hohmann-StPO, § 153 Rn. 57, § 153a Rn. 63, 74, § 153b Rn. 19, § 153c Rn. 31, § 153 f Rn. 29, § 154 Rn. 35, § 154a Rn. 26, § 154b Rn. 12, § 154c Rn. 17, § 154d Rn. 26, § 154e Rn. 21, 25, § 154 f Rn. 11. Etwas anderes gilt nur für den Nebenkläger, wenn die einzustellende Tat seine Anschlussberechtigung begründet. Dann ist ihm gem. § 33 Abs. 3 StPO rechtliches Gehör zu gewähren, seiner Zustimmung bedarf es indes nicht, Radkte, id., § 153 Rn. 57. Außerdem ist der Verletzte bei einer Einstellung mit Auflage gemäß § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO zu hören, Radkte, id., § 153a Rn. 63, § 154 Rn. 42, § 154a Rn. 33. A.A. de lege ferenda Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 793 f. 217 Diemer, in: KK-StPO, § 153 Rn. 24; Gercke, in: HK-StPO, § 153 Rn. 7; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, § 153 Rn. 9; Plöd, in: KMR-StPO, 46. EL April 2007, § 153 Rn. 19. 214

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mutmaßlich Verletzte kann sich damit nicht gegen Einstellungen aus Opportunitätsgründen wehren.218 Weiterhin gestattet die StPO die Einstellung eines Strafverfahrens trotz bestehenden Tatverdachts insbesondere in solchen Fällen, in denen kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse besteht, das öffentliche Strafverfolgungsinteresse auf andere Weise kompensiert werden kann oder das öffentliche Strafverfolgungsinteresse durch vorrangige andere staatliche Interessen überlagert wird.219 Primärer Bezugspunkt der Opportunitätsüberlegungen ist also das Fehlen bzw. Zurücktreten des öffentlichen Interesses. Das Fehlen eines privaten Feststellungsinteresses des Verletzten hingegen ist kein eigenständiger Einstellungsgrund. Ebenso wenig verhindert das Vorliegen dieses Interesses nach dem Gesetzeswortlaut eine Einstellung aus Opportunitätsgründen. Das individuelle Feststellungsinteresse könnte insofern allenfalls im Rahmen der Bewertung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses Beachtung finden. Denkbar wäre dies vorrangig bei Verfahrenseinstellungen gemäß §§ 153, 153a StPO. Im Kontext dieser Vorschriften soll ein öffentliches, die Einstellung ausschließendes Interesse an der Strafverfolgung bestehen, wenn zur präventiven Einwirkung auf den (möglichen) Täter oder die Allgemeinheit eine Fortsetzung des förmlichen Verfahrens mit dem Ziel der Bestrafung des Beschuldigten unentbehrlich erscheint.220 Das öffentliche Interesse wird also mit dem Vorliegen präventiver Sanktionsbedürfnisse gleichgesetzt. Das Feststellungsinteresse des Verletzten könnte danach nur dann ein öffentliches Verfolgungsinteresse begründen, wenn seine Befriedigung zur Verwirklichung präventiver Strafzwecke erforderlich wäre. Die Befriedigung individueller Opferinteressen, insbesondere des Wunsches nach individueller Rückversicherung, ist indes (bisher) kein allgemein anerkannter präventiver Strafzweck.221 Damit im Einklang wird überwiegend angenommen, dass private Opferinteressen, insbesondere ein Genugtuungsinteresse des Verletzten, grundsätzlich kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse gemäß §§ 153, 153a StPO begründen.222 Etwas anderes soll nach teilweise vertretener Auffassung allenfalls bei 218 Lediglich im Sonderfall der Privatklage kann der mutmaßlich Verletzte selbst aktiv werden, dazu Kap. 3 A III 1 b). 219 Dazu ausführlich Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 5 ff. 220 Der Begriff öffentliches Interesse in §§ 153, 153a StPO ist identisch, statt vieler Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, § 153a Rn. 27. Zu der genannten Auslegung Beulke, in: LR-StPO, § 153 Rn. 28; Diemer, in: KK-StPO, § 153 Rn. 14; Gercke, in: HK-StPO, § 153 Rn. 5; Heghmanns, in: ders./Scheffler, HbStrVf, V Rn. 38; ders., Strafverfahren, Rn. 130; Hellmann, Strafprozessrecht, Rn. 556; Magnus, GA 2012, 621, 623; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 153 Rn. 7; Pfeiffer, StPO, § 153 Rn. 3; Plöd, in: KMR-StPO, 46. EL April 2007, § 153 Rn. 11; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, § 153 Rn. 24; Schnabl, in: SSW-StPO, § 153 Rn. 10; Volk/ Engländer, StPO, § 12 Rn. 17. A.A. Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 151 ff. Rn. 20, die auf die Auslösung einer Rechtsfriedenstörung abstellt. 221 Siehe Kap. 4 C. 222 BVerfG NJW 2002, 815 f. Beulke, in: LR-StPO, § 153 Rn. 31; Hellmann, Strafprozessrecht, Rn. 556; M.-K. Meyer, GA 1997, 404, 414; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, § 153 Rn. 27; Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 151 ff. Rn. 23. A.A. Magnus, GA 2012, 621, 627,

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einer starken Beeinträchtigung des Verletzten gelten. Dann sollen seine berechtigten Interessen ausnahmsweise das öffentliche Verfolgungsinteresse im Sinne der §§ 153, 153a StPO konstituieren können.223 Erklärt wird diese Ausnahme damit, dass die StPO-Reformen der vergangenen Jahre demonstriert hätten, dass (Schutz-)Belange des Verbrechensopfers im Strafverfahren zu berücksichtigen seien und die prinzipielle Missachtung seiner Interessen der generalpräventiven Aufgabe des Strafrechts widerspreche.224 Unbeantwortet lassen die Vertreter dieser Auffassung indes, welche Interessen des (mutmaßlich) Verletzten als berechtigt gelten und damit verfolgungsbegründend wirken sollen, und damit auch, ob ein individuelles Unrechtfeststellungsinteresse zu beachten wäre. Außerdem widerspricht diese Auffassung der in § 376 StPO zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertung, dass Interessen des Verletzten gerade nicht per se ein öffentliches Verfolgungsinteresse zu begründen vermögen.225 Schließlich würde ein privates Feststellungsinteresse auch nach dieser Auffassung lediglich als ein Faktor bei der Begründung des öffentlichen Verfolgungsinteresses berücksichtigt.226 Ein Feststellungsinteresse des Verletzten ist damit nach dem Regelwerk der StPO kein eigenständiger Entscheidungsparameter bei Verfahrenseinstellungen aus Opportunitätsgründen. Dieser Befund spricht gegen die Annahme, dem deutschen Strafverfahrensrecht liege der Gedanke zugrunde, dass im Strafprozess (auch) ein Feststellungsinteresse des Verletzten zu befriedigen ist. (3) Akkusationsprinzip Des Weiteren gilt im deutschen Recht gemäß § 151 StPO das Akkusationsprinzip.227 Danach ist die gerichtliche Untersuchung eines Sachverhalts durch die Er634: das Genugtuungsinteresse des Opfers könne das öffentliche Interesse begründen bzw. sein Fehlen das öffentliche Interesse mindern. 223 Diemer, in: KK-StPO, § 153 Rn. 15; Hellmann, Strafprozessrecht, Rn. 556; Plöd, in: KMR-StPO, 46. EL April 2007, § 153 Rn. 12. In diese Richtung wohl auch Heghmanns, in: ders./Scheffler, HbStrVf, V Rn. 38; Sturm, GA 2017, 398, 404. Noch weitergehend Beulke, in: LR-StPO, § 153 Rn. 31, der zwar kein generelles Genugtuungsinteresse des Verletzten, wohl aber stets ein „berechtigtes Interesse“ des Verletzten für ausreichend hält, um ein öffentliches Verfolgungsinteresse zu begründen, freilich ohne zu spezifizieren, welche Interessen berechtigt sein sollen. Ihm folgend Gercke, in: HK-StPO, § 153 Rn. 5; Schnabl, in: SSW-StPO, § 153 Rn. 10. Ähnlich Magnus, GA 2012, 621, 627, 634. Nach Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, § 153 Rn. 7 und Volk/Engländer, StPO, § 12 Rn. 17, soll darüber hinaus der „Schutz des Verletzten“ das öffentliche Verfolgungsinteresse begründen können. 224 Beulke, in: LR-StPO, § 153 Rn. 31; Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, § 153 Rn. 27. 225 M.-K. Meyer, GA 1997, 404, 414. Ähnlich Radtke, in: Radtke/Hohmann-StPO, § 153 Rn. 27. 226 So etwa ausdrücklich auch Heghmanns, in: ders./Scheffler, HbStrVf, V Rn. 38: ein Genugtuungsinteresse des Verletzten könne bedeutsam sein, soweit seine Beachtung generalpräventiv angezeigt sei. 227 Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 5; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 144; ausführlich Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 9 ff.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

hebung einer Anklage bedingt. Die Geltung dieses Prinzips stellt sicher, dass keine Personalunion zwischen Ermittler, Ankläger und Richter besteht, sondern stets zwei Instanzen an der Strafverfolgung beteiligt sind, nämlich in der Regel die Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde, § 152 Abs. 1 StPO, und das Gericht.228 Das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft unterliegt dabei nur sehr wenigen Einschränkungen, nämlich im Fall der Privatklagedelikte229 und im Steuerstrafverfahren, § 400 AO. Die Trennung von Richter und Ankläger wird indes auch im Rahmen dieser Ausnahmen nicht revidiert. Zudem verfügt die Staatsanwaltschaft über ein Evokationsrecht und kann eine nicht von ihr erhobene Klage jederzeit an sich ziehen.230 In der Konsequenz beherrschen stets zwei staatliche Organe in letzter Entscheidung die Strafverfolgung. (4) Instruktionsmaxime und freie richterliche Beweiswürdigung Die staatlichen Strafverfolgungsbehörden müssen gemäß der Instruktionsmaxime zudem den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen aufklären.231 Dafür hat die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren den Sachverhalt, der Anlass zum Verdacht einer Straftat gibt, unparteiisch und objektiv in alle Richtungen zu erforschen, § 160 Abs. 1, 2 StPO. In der Hauptverhandlung klärt das Strafgericht die angeklagte prozessuale Tat auf, ohne dabei durch das Prozessverhalten und Vorbringen der Verfahrensbeteiligten gebunden oder auf eine passive Schiedsrichterrolle reduziert zu sein, vgl. §§ 155 Abs. 2, 244 Abs. 2, 264 Abs. 2 StPO.232 Die Prozessbeteiligten können nur durch Fragen, Anregungen, Erklärungen und Beweisanträge zu der richterlichen Aufklärung beitragen. Das Gericht agiert neutral.233 Aufklärungsziel ist die Ermittlung des wirklichen Geschehens, also der materiellen Wahrheit.234 Als Konsequenz des verfassungsrechtlich fundierten Schuldprinzips ist die Wahrheitserforschung stets auf die Frage gerichtet, ob sich der Angeklagte der Begehung der angeklagten Straftat(en) schuldig gemacht hat und dafür mit einer Kriminalsanktion zu bestrafen ist. Welche Tatsachen als entscheidungserheblich festzustellen sind, ergibt sich damit aus dem materiellen Recht. Zugleich verpflichtet die Instruktionsmaxime nicht zu einer Aufklärung, die weiter reicht, als für die 228

Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 18; Heghmanns, Strafverfahren, ET 02-02 Rn. 14; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 144. 229 Siehe dazu sogleich Kap. 3 A III 1 b). 230 Siehe § 377 Abs. 2 StPO für die Privatklage, § 386 Abs. 4 S. 2 AO für das Steuerstrafverfahren. 231 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 21; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 12; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 139 f.; Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 30. 232 Heghmanns, Strafverfahren, ET 02-02 Rn. 17; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 13 f.; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 140; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 3 ff. 233 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 33; Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 15. 234 Siehe bereits Kap. 3 A II 1 a).

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verfahrensabschließende Entscheidung notwendig ist.235 Die Strafverfolgungsbehörden sind folglich nicht verpflichtet, Facetten eines Sachverhalts zu ermitteln, die aus materiell-strafrechtlicher Perspektive irrelevant sind, etwa weil der mutmaßlich Verletzte dies wünschen würde. Ist das Verfahren aufgrund eines Verfahrenshindernisses einzustellen, verlangt der Amtsaufklärungsgrundsatz regelmäßig ebenso wenig die weitere Sachverhaltsermittlung, ungeachtet etwaiger anderslautender Wünsche des mutmaßlich Verletzten.236 Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet schlussendlich das Gericht gemäß dem in § 261 StPO normierten Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpften Überzeugung. Dabei ist das Gericht grundsätzlich an keine Beweisregeln237 oder Wünsche bzw. Ansichten des (vermeintlich) Verletzten gebunden. (5) Besondere Verfahrensarten Die erläuterten Verfahrensgrundsätze prägen, neben anderen, die normative Struktur des Regelstrafverfahrens.238 Neben dem Regelstrafverfahren normiert die StPO besondere Verfahrensarten, nämlich das Strafbefehlsverfahren, das beschleunigte und das objektive Verfahren und das Sicherungsverfahren.239 Zu einer Kriminalstrafe kann der Angeklagte nur im Regel-, Strafbefehls- und beschleunigten Verfahren verurteilt werden.240 Normativ ist keines dieser Verfahren vorrangig,241 faktisch dominiert das Strafbefehlsverfahren die Strafverfahrenspraxis.242 Das Strafbefehlsverfahren ist ein schriftliches Verfahren, das darauf zielt, möglichst zügig einen rechtskräftigen Strafausspruch gegen den Verdächtigen ohne vorherige Hauptverhandlung zu erwirken.243 Dazu reicht die Staatsanwaltschaft nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens anstatt einer Anklage einen Strafbefehlsantrag beim Amtsgericht ein, § 407 Abs. 1 StPO. Erlässt das Gericht daraufhin einen Strafbefehl, § 408 Abs. 2 StPO, und legt der Angeschuldigte dagegen nicht oder nicht rechtzeitig Einspruch ein, § 410 StPO, wird das Verfahren ohne Hauptver235

Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 37. Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 37. 237 Siehe zu den Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 22; Heghmanns, Strafverfahren, ET 02-02 Rn. 20. 238 Siehe zum Verfahrensverlauf, zur verfahrensführenden Stelle und zur Aufgabe des Verfahrensabschnitts Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 207 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 58 ff. 239 Vgl. respektive §§ 407 ff., 417 ff., 440, 413 ff. StPO. 240 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 639. 241 Vgl. aber die abgestuften Verfahrensvoraussetzungen in § 407 Abs. 1 S. 2 und §§ 417, 419 Abs. 1 S. 2, 3 StPO; siehe dazu auch Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 44, 638 ff. 242 Vgl. die Zahlen zu Anklagen und Strafbefehlen bei Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.6 (Staatsanwaltschaften), 2015, S. 12; siehe auch Maur, in: KK-StPO, Vorb. §§ 407 ff. Rn. 1. 243 Vgl. § 407 Abs. 1, 3 StPO. Siehe auch Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 641. 236

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handlung durchgeführt und mündet faktisch ohne Beteiligung des mutmaßlichen Opfers in eine rechtskräftige Entscheidung.244 Beraumt das Gericht hingegen eine Hauptverhandlung an, § 408 Abs. 3 S. 2 StPO, verläuft das weitere Verfahren wie das Regelverfahren.245 Das beschleunigte Verfahren ist ein abgekürztes, vereinfachtes Anklageverfahren ohne Zwischenverfahren, das darauf zielt, einen Straftäter möglichst zügig abzuurteilen.246 Hierzu stellt die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren, § 417 StPO, und reicht entweder eine Anklageschrift ein oder erhebt zu Beginn der Hauptverhandlung mündlich Anklage, § 418 Abs. 3 StPO. In der Hauptverhandlung entscheidet das Gericht zwar aufgrund einer vereinfachten Beweisaufnahme247, ansonsten aber wie im Regelstrafverfahren über die Schuld und gegebenenfalls die Sanktionierung248 des Angeklagten. Somit vertritt auch im beschleunigten und im Strafbefehlsverfahren die Staatsanwaltschaft die Anklage und das Gericht entscheidet über Schuld und Sanktionierung des Angeklagten, jeweils im öffentlichen Interesse. Insgesamt wird die Strafverfolgung in den dargestellten Verfahrensarten somit stets von einer staatlichen Stelle betrieben. Das mutmaßliche Opfer ist in keinem Verfahrensabschnitt verfahrensbeherrschend an der öffentlichen Strafverfolgung beteiligt. Dabei obliegen den staatlichen Stellen dem mutmaßlichen Opfer gegenüber zwar Schutz- und Rücksichtnahmepflichten.249 Ihre Verfolgungstätigkeit betreiben sie indes stets unparteiisch und im öffentlichen Interesse, ohne der Befriedigung eines privaten Feststellungsinteresses verpflichtet zu sein. (6) Ergebnis Das normative Modell des deutschen sog. reformierten Strafprozesses basiert auf einem staatlichen Strafverfolgungsprivileg und verbindet Elemente des Anklageund Inquisitionsverfahrens.250 Die Staatsanwaltschaft ermittelt den Sachverhalt und vertritt als Repräsentantin des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses die Anklage. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist sie gesetzlich zur Unparteilichkeit verpflichtet und agiert trotz eines gewissen strukturellen Antagonismus gegenüber dem Angeklagten als neutrales Organ der Strafrechtspflege.251 Als Vertreterin des staatlichen Strafverfolgungsinteresses ist sie nicht zugleich Interessensvertreterin des 244

§ 410 Abs. 3 StPO. Zur Rolle des Opfers Stöckel, in: FS Heintschel-Heinegg (2015), S. 411, 418. 245 Maur, in: KK-StPO, § 408 Rn. 25. 246 Graf, in: KK-StPO, Vorb. §§ 417 ff. Rn. 1 f.; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 651. 247 Vgl. § 420 StPO; siehe dazu Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 658 ff. 248 § 419 Abs. 1 S. 2, 3 StPO limitiert die im beschleunigten Verfahren möglichen Sanktionen. 249 Statt vieler dazu umfassend Stöckel, in: FS Heintschel-Heinegg (2015), S. 411 ff. 250 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 51, der zusätzlich noch Elemente des Parteiverfahrens verwirklicht sieht; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5. 251 Statt vieler Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 294.

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mutmaßlichen Opfers.252 Sie erfüllt mit ihrer Tätigkeit keinen Anspruch des mutmaßlichen Opfers auf Strafverfolgung und verfolgt unabhängig von und auch gegen seinen Wunsch. Entscheidungen über Einstellungen aus Opportunitätsgründen trifft sie anhand des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses. Dabei berücksichtigt sie Interessen des mutmaßlichen Opfers allenfalls im Rahmen der Beurteilung des öffentlichen Interesses. Die Hauptverhandlung wird durch das Gericht beherrscht, das als neutrale staatliche Instanz urteilt und im öffentlichen Interesse die Sanktion verhängt.253 Dem Staat steht der Beschuldigte, ggf. mit seiner Verteidigung, gegenüber. Der Strafprozess ist somit eine zweipolige Auseinandersetzung zwischen dem Beschuldigten und dem die Interessen der Gesellschaft vertretenden Staat.254 Das Wesen des Prozesses besteht in der Klärung der Frage, ob sich der Angeklagte der Begehung der angeklagten, die Rechtsgemeinschaft als Ganze betreffenden Straftat(en) schuldig gemacht hat und wie darauf gegebenenfalls im öffentlichen Interesse zu reagieren ist.255 Es geht also um die Durchsetzung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses, nicht um die Beilegung eines privaten Konflikts oder die Befriedigung privater Feststellungswünsche. Der mutmaßlich Verletzte ist anerkanntes, aber nicht notwendiges Prozesssubjekt,256 und die Befriedigung seines Feststellungsinteresses spielt nach der normativen Grundstruktur des Verfahrens keine Rolle. Ungeachtet dieser Grundstruktur – die widerspiegelt, was der Straftatbegriff und die Strafverfahrenszwecke nahegelegt haben –, könnten in der StPO dennoch Rechtsinstitute existieren, die diese Struktur durchbrechen und dem mutmaßlichen Opfer die Verfolgung eines privaten Genugtuungsinteresses im Verfahren gestatten. Dem wird im Folgenden nachgegangen. bb) Strafantrag Grundsätzlich verfolgen die staatlichen Strafverfolgungsorgane Straftaten ex officio ohne Rücksicht auf den Willen des Verletzten.257 Für einen verhältnismäßig kleinen und typologisch inhomogenen Kreis von Delikten weicht das StGB indes von dieser Grundregel ab und verlangt für ihre strafrechtliche Verfolgung das Vorliegen eines wirksamen Strafantrags.258 Dieser ist in der Regel von dem mutmaßlich Ver252

Vgl. Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 157. Aufgrund der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht ist das Hauptverfahren trotz Überwindung des Inquisitionsprozesses noch von inquisitorischen Elementen geprägt, Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 50; Weßlau, in: SK-StPO, Vor §§ 151 ff. Rn. 2. 254 Patsourakou, Stellung, S. 75. 255 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 38; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 2; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 20 Rn. 1. 256 Fischer, in: KK-StPO, Einl. Rn. 314; Gercke/Temming, in: HK-StPO, Einl. Rn. 100; Kühne, in: LR-StPO, Einl. J Rn. 122; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 73. 257 Siehe Kap. 3 A III 1 a) aa) (1). 258 Mitsch, in: MüKo-StGB, Vorb. § 77 Rn. 1. Darüber hinaus normiert § 77e StGB die Ermächtigung und das Strafverlangen. Sie betreffen Straftaten mit politischer oder zwi253

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letzten zu stellen, § 77 Abs. 1 StGB. Das Antragserfordernis durchbricht damit das Offizial- und das Legalitätsprinzip. Bei den absoluten Antragsdelikten ist der Strafantrag zwingende Verfahrensvoraussetzung259, bei den bedingten Antragsdelikten kann ein fehlender Antrag dadurch ersetzt werden, dass die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Strafverfolgungsinteresse bejaht.260 Dieses Rechtsinstitut könnte Ausdruck davon sein, dass im Strafverfahren ein Genugtuungsinteresse des Opfers befriedigt werden soll. Möglich wäre dies, wenn Telos des Instituts wäre, dem Verletzten zu ermöglichen, durch die Stellung des Strafantrags das Bestehen eines privaten Genugtuungswunsches anzuzeigen, und in der Konsequenz die durch den Antrag freigegebene Strafverfolgung (auch) der Befriedigung dieses Opferinteresses dienen sollte. Dieser Interpretation ist jedoch entgegen zu halten, dass nach geltender Gesetzeslage nur eine kleine inhomogene Deliktgruppe dem Antragserfordernis unterliegt. Die Interpretation würde daher ohne erkennbaren Sachgrund zu dem zweifelhaften Ergebnis führen, dass das StGB nur das Feststellungsbedürfnis der Opfer einiger weniger Straftaten für relevant erklären würde. Weiterhin widerspricht ihr, dass vornehmlich Bagatelldelikte dem Antragserfordernis unterliegen. Denn empirische Beobachtungen zeigen, dass gerade Opfer von schweren Taten ein besonderes Rückversicherungsbedürfnis haben.261 Eine gesetzliche Regelung, die primär Opfern leichter Vergehen die Verfolgung ihres Feststellungsinteresses ermöglichen würde, ginge damit am praktischen Bedarf vorbei. Vor allem aber würde eine solche Auslegung von einer im wahrsten Sinne des Wortes verkehrten Interpretation des Rechtsinstituts ausgehen. Denn das Strafantragsrecht begründet gerade nicht das Recht des Antragsberechtigten, die staatliche Strafverfolgung zu verlangen, sondern seine Befugnis, die Strafverfolgung zu verhindern bzw. von der zusätzlichen Voraussetzung des besonderen öffentlichen Strafverfolgungsinteresses abhängig zu machen.262 Das Strafantragsrecht verschafft somit einigen Verletzten ein indirektes schenstaatlicher Bedeutung, deren Erörterung vor Gericht gemeinwohlschädlich sein kann. Um eine politisch sinnvolle Handhabung der Strafrechtspflege sicherzustellen, erfordert ihre Verfolgung die Ermächtigung eines politischen Gremiums bzw. das Ersuchen eines fremden Staates, Schmid, in: LK-StGB, § 77e Rn. 1. Für das hier untersuchte Feststellungbedürfnis des Opfers lässt sich aus dieser Sondergruppe nichts ableiten. 259 Über die Rechtsnatur des Strafantrags als Verfahrensvoraussetzung besteht heute weitgehend Konsens, zum Meinungsstand siehe Kargl, in: NK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 13 f.; Schmid, in: LK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 7. A.A. z. B. Maiwald GA 1970, 33, 38 (materiellrechtliche Einordnung). 260 Als relative Antragsdelikte werden hingegen Straftaten bezeichnet, bei denen das Gesetz den Antrag nur im Fall einer besonderen Beziehung zwischen Täter und Verletztem verlangt, z. B. § 248a StGB. Zur Terminologie insgesamt siehe Mitsch, in: MüKo-StGB, Vorb. § 77 Rn. 2. 261 Siehe Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2). 262 Mitsch, in: MüKo-StGB, Vorb. § 77 Rn. 17; Rieß, Gutachten, Rn. 14, 93; Rosenau, in: SSW-StGB, § 77 Rn. 1; Weigend, Deliktsopfer, S. 135 f., 444 f. A.A. Holz, Justizgewähranspruch, S. 154, der zur Begründung allerdings wenig überzeugend auf die ohnehin fragwürdige Rechtfertigung der Antragsdelikte mit Bagatellargumenten, dazu sogleich im Text, abstellt.

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Vetorecht und keinen Strafverfolgungsanspruch. Dementsprechend macht der Strafantrag auch nicht die staatsanwaltschaftliche Anklageerhebung entbehrlich, die sich nach den gleichen Kriterien richtet wie in Verfahren, die nicht dem Antragserfordernis unterliegen.263 Wird die Strafverfolgung nach Strafantragsstellung betrieben, erfolgt diese zudem, wie sonst auch, im Interesse der Rechtsgemeinschaft. Als Verhinderungsrecht muss das Strafantragsrecht auf Gründe zurückgeführt werden, die den Staat motivieren, in einigen Fällen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu Gunsten von Interessen des Verletzten zu relativieren. Rechtstheoretisch ist eine solche Begründung in einem staatlich monopolisierten, dem Legalitätsprinzip, der Gleichmäßigkeit und Rationalität verpflichteten Strafverfolgungssystem nicht unproblematisch.264 Die überwiegende Auffassung bezieht sich deshalb auch auf eine Gemengelage pragmatischer Erwägungen und nicht auf eine stringente theoretische Herleitung.265 Diese pragmatischen Erwägungen werden anhand der gesetzgeberischen Motive für die Einführung des Antragserfordernisses üblicherweise in zwei Gruppen eingeteilt.266 Einige Straftaten sollen wegen ihrer Geringfügigkeit die Rechtsgemeinschaft so wenig tangieren, dass eine strafrechtliche Verfolgung und Sanktionierung nur dann für erforderlich gehalten wird, wenn der mutmaßlich Verletzte sein Interesse daran durch die Antragsstellung zum Ausdruck bringt.267 Im Vordergrund steht also das Motiv, die Verfolgung von Bagatelldelinquenz einzudämmen. Tragfähiger ist der zweite Ansatz, mit dem das Antragserfordernis begründet wird.268 Danach wird bei einigen Antragsdelikten das an sich bestehende öffentliche Strafverfolgungsinteresse aus Rücksicht gegenüber den Interessen des Verletzten an der Integrität seiner Privat- und Intimsphäre oder

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Statt vieler Kargl, in: NK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 2. Siehe krit. zur rechtstheoretischen Problematik des Instituts Kargl, in: NK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 9; Schmid, in: LK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 2; Weigend, Deliktsopfer, S. 135, 446 f.; Zipf, GA 1969, 234, 238 ff.; aus straftheoretischer Perspektive krit. Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 113. Einen Überblick zur der in verschiedenen Rechtsordnungen an dem Institut geübten Kritik gibt Joutsen, The Role of the Victim, S. 155 f. 265 Kargl, in: NK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 10; Schmid, in: LK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 3. 266 So Bosch, in: SS-StGB, § 77 Rn. 5; Kargl, in: NK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 10; Kühl, in: Lackner/Kühl-StGB, § 77 Rn. 1; Mitsch, in: MüKo-StGB, Vorb. § 77 Rn. 17; Rieß, Gutachten, Rn. 16, 94; Rosenau, in: SSW-StGB, § 77 Rn. 1; Schmid, in: LK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 4. Zum inhaltlich deckungsgleichen älteren Schrifttum Maiwald GA 1970, 33, 34. Maiwald, id., 36 ff. vertritt den Ansatz, dass Antragsdelikte eine spezifisch personenbezogene Tatbegehung aufwiesen, die zur Folge habe, dass es keiner staatlichen Bestrafung bedürfe, wenn der Verletzte aufgrund einer Versöhnung mit dem Täter dessen Straflosigkeit wünsche; eine überzeugende Gegenargumentation liefert Weigend, Deliktsopfer, S. 450 f. Insgesamt krit. Kleinert, Mitwirkung, S. 272 ff. 267 Dies wird z. B. angenommen bei §§ 123, 303c StGB. 268 Zu Gründen, die gegen die Rechtfertigung mit dem Bagatellargument sprechen, siehe Kleinert, Mitwirkung, S. 276; Maiwald, GA 1970, 33, 35; Weigend, Deliktsopfer, S. 449; Zipf, GA 1969, 234, 242. 264

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seiner besonderen Beziehung zum (vermeintlichen) Täter zurückgenommen.269 Motiv ist hier also, den Verletzten durch das Antragserfordernis vor einer aufgedrängten Strafverfolgung zu schützen.270 Die Beibehaltung des Strafantragsrechts dürfte schließlich zudem nicht zuletzt auf der pragmatischen Überlegung eines Entlastungseffekts für die Justiz beruhen.271 Das Strafantragsrecht zeugt also durchaus davon, dass das Gesetz den Interessen des Verletzten in Bezug auf die Strafverfolgung im Einzelfall Bedeutung einräumt. Es gewährt ihnen sogar Vorrang vor den Interessen der Rechtsgemeinschaft an einer lückenlosen und gleichmäßigen Strafrechtsanwendung. Allerdings geht es dabei nicht um ein offensives Verfolgungsinteresse des Opfers, sondern um sein Interesse daran, dass kein Strafverfahren stattfindet.272 In Ausnahmefällen wird aus Rücksicht auf die Interessen des Verletzten nicht verfolgt, außer er wünscht es. Das Rechtsinstitut des Strafantrags kann damit nicht als Ausdruck quasi des Gegenteils gewertet werden, dass im Strafverfahren ein Feststellungsinteresse des Opfers befriedigt werden soll.273 cc) Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen (1) Klageerzwingung Prinzipiell verfügt die Staatsanwaltschaft über ein Anklagemonopol. Bei dessen Ausübung ist sie im Grundsatz an das Legalitätsprinzip gebunden. Unterlässt sie die Anklageerhebung bzw. stellt sie die Verfolgung ein, muss sie denjenigen, der Strafanzeige gem. § 158 StPO gestellt hat, darüber informieren, § 171 S. 1 StPO. Ist der Anzeigeerstatter zugleich der vermeintlich Verletzte, kann er sich gegen die Einstellung im Klageerzwingungsverfahren gem. §§ 172 ff. StPO zur Wehr setzen. Dazu muss er zunächst den Einstellungsbescheid durch den vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft überprüfen lassen, § 172 Abs. 1 StPO. Bleibt diese Vorschaltbeschwerde erfolglos, kann der Verletzte in einem zweiten Schritt eine gerichtliche Überprüfung der die Beschwerde verwerfenden Entscheidung beantragen, § 172 Abs. 2 StPO. Zuständig für die Bescheidung des Klageerzwingungsantrags ist der Strafsenat des OLG, § 172 Abs. 4 StPO. Erachtet das Gericht den Antrag für 269

Dieser Aspekt ist konsentierter als der auf Bagatellerwägungen beruhende Ansatz, siehe nur Rieß, Gutachten, Rn. 94; Weigend, Deliktsopfer, S. 452; Zipf, GA 1969, 234, 243. Teilweise wird dieser Aspekt in zwei Gruppen gefasst als Rücksicht auf die Intimsphäre des Verletzten und Rücksicht auf familiäre Beziehungen zwischen Täter und Opfer, so z. B. Schmid, in: LKStGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 4. 270 Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1163. 271 Kargl, in: NK-StGB, Vor §§ 77 ff. Rn. 10; Rosenau, in: SSW-StGB, § 77 Rn. 1. Ebenso schon zum historischen Gesetzgeber Weigend, Deliktsopfer, S. 138. 272 Ähnlich Mitsch, in: MüKo-StGB, Vorb. § 77 Rn. 17; Rieß, Gutachten, Rn. 14, 93; Rosenau, in: SSW-StGB, § 77 Rn. 1; Weigend, Deliktsopfer, S. 444 f. 273 Diese Auslegung deckt sich auch mit den historischen Ursprüngen des Strafantragsrechts im deutschen Recht, dazu Weigend, Deliktsopfer, S. 138.

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begründet, beschließt es die Erhebung der öffentlichen Klage, und die Staatsanwaltschaft hat den Beschluss umzusetzen, § 175 StPO. Das Klageerzwingungsverfahren ermöglicht dem mutmaßlichen Opfer somit, Einstellungsentscheidungen kontrollieren zu lassen und die Erhebung der öffentlichen Klage anzustoßen. Die Existenz dieses Rechtsinstituts könnte Ausdruck davon sein, dass im Strafverfahren auch ein Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers befriedigt werden soll. Dafür müsste Zweck des Klageerzwingungsverfahrens sein, dem Verletzten die Durchsetzung dieser Position zu ermöglichen. Ob das Klageerzwingungsverfahren ein Individualrechtsschutzverfahren zu Gunsten des Verletzten darstellt oder ein rein objektives Kontrollverfahren, wird unterschiedlich beurteilt. Nach teilweise vertretener Ansicht soll das Klageerzwingungsverfahren dazu dienen, einem privaten Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung bzw. Genugtuung durch Bestrafung des Schuldigen zur Durchsetzung zu verhelfen.274 Nach überwiegender Auffassung hingegen steht hinter dem Klageerzwingungsverfahren nicht die Fürsorge für und Befriedigung des Verletzten, sondern allein das Ziel, das Legalitätsprinzip im Interesse der Rechtsgemeinschaft zu sichern und durchzusetzen.275 Erreicht werde diese Sicherung, indem mit Hilfe des Klageerzwingungsverfahrens gerichtlich kontrolliert werde, dass die Staatsanwaltschaft ihre Anklagepflicht pflichtgemäß ausübe. Als primäres Argument für die Interpretation des Klageerzwingungsverfahrens als Individualrechtsschutzbehelf des Verletzten wird die beschränkte Antragsberechtigung angeführt. Gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 StPO ist ausschließlich der Verletzte antragsberechtigt. Die Koppelung der Antragsberechtigung an die Verletzteneigenschaft zeige, dass die §§ 172 ff. StPO (zumindest auch) die Durchsetzung von 274 Ausschließlich auf ein subjektives Recht des Verletzten stellen ab Holz, Justizgewähranspruch, S. 139 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 41 Rn. 2. Siehe zur neueren Kammerrechtsprechung des BVerfG in diesem Kontext auch Kap. 4 A I 3) a) aa). Nach anderen hat das Klageerzwingungsverfahren eine Doppelfunktion und dient der Durchsetzung des Legalitätsprinzips und dem Schutz von Opferinteressen: Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 344; Deiters, Legalitätsprinzip, S. 284; Esser/Lubrich, StV 2017, 418, 421, 423; Frisch, JZ 1974, 7, 9 f.; Hefendehl, GA 1999, 584, 587; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 11 Rn. 1; Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 1 f.; Krumm, NJW 2013, 2948 f.; Maiwald, GA 1970, 33, 52; Moschüring, in: AK-StPO, § 172 Rn. 1; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406h Rn. 40; Vogel, NJW 1996, 3401, 3402; Walther, GA 2007, 615, 617. 275 Baier, GA 2005, 81, 84; Bischoff, NStZ 1988, 63, 64; Graalmann-Scheerer, in: LRStPO, § 172 Rn. 1; Hassemer, Warum Strafe sein muss, S. 214; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 161; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 186, 192; Kleinert, Mitwirkung, S. 305, 354; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 172 Rn. 1; Moldenhauer, in: KK-StPO, § 172 Rn. 1; Pfeiffer, StPO, § 172 Rn. 1; Plöd, in: KMR-StPO, 73. EL (11.2014), § 172 Rn. 1; Rieß, Gutachten, Rn. 27, siehe aber auch Rn. 117; Sing, in: SSW-StPO, § 172 Rn. 1; Volk/Engländer, StPO, § 12 Rn. 10; Weigend, in: GS Walter (2014), S. 243, 252; ders., Deliktsopfer, S. 492; ders., ZStW 96 (1984), 761, 787; Wohlers, NStZ 1990, 98, 99; ders., in: SK-StPO, § 172 Rn. 2; Zöller, in: HK-StPO, § 172 Rn. 1; wohl auch, wenn auch ambivalent Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 154. Nach Kirstgen, Klageerzwingungsverfahren, S. 84, dient das Klageerzwingungsverfahren dazu, die Akzeptanz der staatlichen Strafverfolgung durch die Kontrolle der Staatsanwaltschaft zu steigern.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

subjektiven Rechten des Opfers bezweckten.276 Diesem Argument ist jedoch die Entstehungsgeschichte des Klageerzwingungsverfahrens entgegen zu halten.277 Der Gesetzgeber der Reichsstrafprozessordnung hatte eine ungebührliche Beeinflussung der der Exekutive weisungsgebundenen Staatsanwaltschaft befürchtet und sich zur Vorbeugung nicht allein auf deren Bindung an das Legalitätsprinzip verlassen wollen. Weil sich das Modell einer (subsidiären) Privatklage zur Kontrolle der Staatsanwaltschaft in den Gesetzesverhandlungen nicht durchsetzen konnte, einigte man sich als Kompromisslösung auf das dem Verletzten vorbehaltene Recht, eine gerichtliche Prüfung von staatsanwaltlichen Einstellungsentscheidungen zu begehren. Die Klagebefugnis wurde gerade dem mutmaßlich Verletzten übertragen, weil man bei ihm die größte Bereitschaft und aufgrund der vermeintlichen Tatnähe die größte Kompetenz vermutete, die nochmalige Prüfung der rechtlichen Lage anzustrengen, und weil der Vorschlag eines jedem Anzeigeerstatter zustehenden Klageerzwingungsrechts nicht konsensfähig war.278 Die Entstehungsgeschichte zeigt damit, dass das Klagerecht nicht deshalb dem Verletzten vorbehalten worden ist, weil das Klageerzwingungsverfahren der Durchsetzung seiner individuellen Interessen dienen sollte. Stattdessen machte sich der Gesetzgeber das besondere Interesse des Verletzten an der Strafverfolgung als Motor zunutze für die im öffentlichen Interesse liegende gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Anklagezwangs durch die Staatsanwaltschaft.279 Das Motiv, die besondere Tatnähe und Initiative des Verletzten für die Kontrolle nutzbar zu machen, erklärt im Übrigen auch, warum Straftaten gegen Allgemeinrechtsgüter aus dem Anwendungsbereich des Klageerzwingungsverfahrens herausfallen, obwohl auch hier das Legalitätsprinzip beeinträchtigt sein kann.280 Konzeptionell soll der Verletzte folglich bei Erhebung des Klageerzwingungsantrags als Sachwalter des öffentlichen Interesses an einer gleichmäßigen Strafverfolgung agieren und nicht als Vertreter eines subjektiven Genugtuungs- oder Verfolgungsanspruchs. An dem historisch erkannten Kontrollbedürfnis einer weisungsgebundenen Staatsanwaltschaft, die im Frühstadium des Verfahrens oft notgedrungen auf einer dünnen Erkenntnisgrundlage entscheidet, hat sich zudem bis heute nichts geändert.281

276 Holz, Justizgewähranspruch, S. 141; Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 2; Maiwald, GA 1970, 33, 51 f.; Vogel, NJW 1996, 3401, 3402. 277 Siehe bereits Kap. 2 A IV 2 b) aa) sowie Deiters, Legalitätsprinzip, S. 280 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 142 ff., 492; Wohlers, in: SK-StPO, § 172 Rn. 3; ders., NStZ 1990, 98, 99. Holz, Justizgewähranspruch, S. 140 f. deutet die Entstehungsgeschichte anders, allerdings ohne Begründung. 278 Weigend, Deliktsopfer, S. 144, 493 f.; Wohlers, in: SK-StPO, § 172 Rn. 3. Gegen diese Begründung für eine Beschränkung des Antragsrechts auf den Verletzten aus sachlicher Sicht siehe Maiwald, GA 1970, 33, 51 f. sowie bereits oben Kap. 2 A IV 2 b) aa). 279 Kleinert, Mitwirkung, S. 305, 309; Rieß, Gutachten, Rn. 27; Wohlers, in: SK-StPO, § 172 Rn. 3. 280 Wohlers, in: SK-StPO, § 172 Rn. 3. 281 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 186; Maiwald, GA 1970, 33, 50.

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Die Interpretation des Klageerzwingungsverfahrens als Individualrechtsbehelf würde zudem voraussetzen, dass eine zu Unrecht ergangene Verfahrenseinstellung das Straftatopfer in seinen Rechten verletzt. Das Opfer müsste also über einen Anspruch auf eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Strafverfolgung verfügen. Die Verfechter dieser Ansicht nennen indes keine überzeugende rechtliche Grundlage für den von ihnen unterstellten Verfolgungs- bzw. Genugtuungsanspruch des Opfers; vielmehr existiert eine solche im geltenden Recht nicht.282 Soweit auf § 172 StPO als Beweis für die Existenz eines solchen materiellen Rechts verwiesen wird, unterliegt diese Argumentation einem Zirkelschluss. Denn als Beweis für die rechtliche Existenz eines solchen materiellen Anspruchs kann das Klageerzwingungsverfahren nur heranziehen, wer diesen Anspruch zuvor in das Rechtsinstitut hineininterpretiert hat.283 Das aber verwischt die prozessuale und die materielle Ebene.284 Für die Interpretation des Klageerzwingungsverfahrens als objektives Kontrollverfahren streitet sein Anwendungsbereich. Dieser ist beschränkt. Insbesondere, wenn die Staatsanwaltschaft rechtmäßig von der Verfolgung aus Opportunitätsgründen gemäß §§ 153 ff. StPO absieht, ist ein Klageerzwingungsantrag unzulässig, § 172 Abs. 2 S. 3 StPO. Einstellungen aus Opportunitätsgründen kann der mutmaßlich Verletzte deshalb gemäß §§ 172 ff. StPO nur mit dem Argument angreifen, der Anwendungsbereich der jeweiligen Einstellungsnorm sei gar nicht eröffnet gewesen.285 Im Übrigen steht ihm gegen Einstellungen aus Opportunitätsgründen nur die beamtenrechtliche Dienstaufsichtsbeschwerde offen.286 Damit ist die Klageerzwingung immer dann und soweit ausgeschlossen, wie die staatsanwaltschaftliche Einstellung auf der Anwendung einer Norm beruht, die eine Ausnahme von der Anklagepflicht begründet und so das Legalitätsprinzip durchbricht.287 Diese Beschränkung lässt sich dann erklären, wenn die Klageerzwingung als Mittel zur Kontrolle der staatsanwaltlichen Anklageverpflichtung aus §§ 152 Abs. 2, 170 StPO aufgefasst wird.288 Denn unter dieser Prämisse ist es folgerichtig, Opportunitätsentscheidungen nicht dem Klageerzwingungsverfahren zu unterwerfen, weil sie keine (Fehl-)Anwendung des Legalitätsprinzips beinhalten können.289 Diente das 282

Siehe ausführlich Kap. 4. Weigend, Deliktsopfer, S. 493; zust. Kleinert, Mitwirkung, S. 304. Insofern z. B. widersprüchlich Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 3. 284 Siehe schon oben Kap. 2 A IV 2 b) bb). 285 Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 30; Sing, in: SSW-StPO, § 172 Rn. 10. 286 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 194; Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1393. Eine andere, hier nicht zu erörternde Frage ist, ob nicht auch für das Ziel der Kontrolle der Staatsanwaltschaft eine Ausweitung des Klageerzwingungsverfahrens auf Einstellungen aus Opportunitätsgründen de lege ferenda angezeigt wäre. 287 Graalmann-Scheerer, in: LR-StPO, § 172 Rn. 22; Kühne, in: LR-StPO, Einl. I Rn. 25. 288 Graalmann-Scheerer, in: LR-StPO, § 172 Rn. 1; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 161; Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 29; Wohlers, NStZ 1990, 98, 99. 289 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 192. 283

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Verfahren hingegen der Verfolgung subjektiver Interessen des Verletzten, wäre diese Beschränkung nicht begründbar.290 Denn auch bei Delikten, die aus Opportunitätsgründen nicht verfolgt werden, kann der Verletzte ein Verfolgungsinteresse hegen. Ein tragfähiger Grund, ihm nur in diesem Bereich das Rechtsschutzmittel zu verwehren, würde indes fehlen. Schließlich widersprechen auch die gesetzliche Ausgestaltung und die Rechtsfolgen des Klageerzwingungsverfahrens der Annahme, das Instrument würde der Verfolgung eines Genugtuungsanspruchs des Verletzten im Strafverfahren dienen.291 Denn der Verletzte kann zwar einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung stellen. Die eigentliche Entscheidung über die Klageerhebung trifft aber das OLG, §§ 172 Abs. 4, 175 S. 1 StPO. Dieses prüft objektiv und unabhängig, ob der zugrundeliegende Sachverhalt hinreichenden Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO hinsichtlich eines Offi-zialdelikts begründet.292 Dabei ist es in keiner Weise an Präferenzen oder Interessen des Antragsstellers gebunden. Hat der Klageerzwingungsantrag Erfolg, ist es die Staatsanwaltschaft, die auf Anordnung des OLG die öffentliche Klage zu erheben hat, § 175 S. 2 StPO.293 Der Verletzte erhält keine eigene Anklagezuständigkeit. Damit verbleiben die Anklageentscheidung und die Anklagevertretung in objektiver staatlicher Hand, der Verletzte setzt nur den Impuls für (weitere) staatliche Verfolgungsbemühungen. Hat der Klageerzwingungsantrag Erfolg und wird die öffentliche Klage erhoben, ist der Antragssteller zwar befugt, sich dem gerichtlichen Verfahren als Nebenkläger anzuschließen, § 395 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Diese Regelung soll indes lediglich sicherstellen, dass die Staatsanwaltschaft ein von ihr zunächst für nicht erforderlich gehaltenes Verfahren mit ausreichender Sorgfalt betreibt.294 Die Mitwirkung des Verletzten als Nebenkläger verlängert so nur seine im öffentlichen Interesse betriebene Kontrolltätigkeit in die Hauptverhandlung hinein. Das Klageerzwingungsverfahren gibt dem Verletzten damit zwar eine Einwirkungsmöglichkeit. Es ändert aber nichts an der staatlich dominierten Struktur des Strafverfahrens und dessen Ausrichtung auf das öffentliche Interesse. In der Gesamtschau ist deshalb der herrschenden Meinung zuzustimmen, dass das Klageerzwingungsverfahren den Zweck hat, die Beachtung des Legalitätsprinzips durch die Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse zu kontrollieren. Aufgrund seiner geringen empirischen Bedeutung und praktischen Erfolgsquote wird der 290

Wohlers, in: SK-StPO, § 172 Rn. 3; ders., NStZ 1990, 98, 99. Vgl. ähnlich Kleinert, Mitwirkung, S. 304. 292 Graalmann-Scheerer, in: LR-StPO, § 175 Rn. 1. 293 Unabhängig davon, ob man davon ausgeht, dass das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft so zumindest formal aufrechterhalten wird (so Graalmann-Scheerer, in: LR-StPO, § 172 Rn. 1; Hassemer, in: FS Klug (1983), S. 217, 219 Fn. 17; Kudlich, in: MüKo-StPO, Einl. Rn. 147; Moldenauer, in: KK-StPO, § 172 Rn. 1; Wohlers, in: SK-StPO, § 172 Rn. 1), oder dass der Anklagegrundsatz durchbrochen werde (so z. B. Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 184, 186), bleibt der Verletzte ohne Anklagezuständigkeit. 294 Rieß, Gutachten, Rn. 27; Velten, in: SK-StPO, § 395 Rn. 20; so auch aus historischer Sicht Weigend, Deliktsopfer, S. 144. A.A. Holz, Justizgewähranspruch, S. 141. 291

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Nutzen des Klageerzwingungsverfahrens dabei weniger in seiner heilenden als in seiner Präventivwirkung erblickt, die Staatsanwaltschaft zur pflichtgemäßen Wahrnehmung ihrer Kompetenzen anzuhalten.295 Dass gerade der mutmaßlich Verletzte über die Antragsbefugnis verfügt, mag die Staatsanwaltschaft zwar motivieren, präventiv bei der Anklageentscheidung nicht nur die Interessen der Allgemeinheit, sondern auch die Interessen des Verletzten zu berücksichtigen.296 Diese Wirkung ist jedoch nur ein Reflex der rechtlichen Ausgestaltung des Rechtsinstituts. Außerdem sollte dies unter Geltung des Legalitätsprinzips kaum einen praktischen Unterschied bewirken. Die Existenz des Klageerzwingungsverfahrens zeugt damit nicht davon, dass im deutschen Strafverfahrensrecht (auch) ein privates Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers anerkannt und im Prozess befriedigt werden soll. (2) Weitere Anfechtungsmöglichkeiten Die §§ 172 ff. StPO enthalten abschließende Regelungen für die gerichtliche Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Einstellungsentscheidungen.297 Ist danach das Klageerzwingungsverfahren ausgeschlossen, kann der Verletzte auch nicht nach den §§ 23 ff. EGGVG vorgehen, vgl. § 23 Abs. 3 EGGVG. Darüber hinaus kann der Verletzte, der nicht Nebenkläger ist, auch nicht den gerichtlichen Nichteröffnungsbeschluss gem. § 204 Abs. 1 StPO oder das verfahrensabschließende Urteil anfechten.298 Diese Rechtslage weist auf die Konzeption des Strafverfahrens als Angelegenheit zwischen der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft und dem Angeschuldigten zurück. Wenn die Interessen des Opfers nicht im Strafverfahren verhandelt werden, können das Ausbleiben des Verfahrens bzw. das verfahrensabschließende Urteil es auch nicht im Sinne eines Revisionsrechts beschweren.299 (3) Ergebnis Bereits seit Erlass der Reichsstrafprozessordnung im Jahr 1879 verfügen mutmaßliche Straftatopfer im deutschen Recht über die Möglichkeit, staatsanwaltschaftliche Entscheidungen gegen die Strafverfolgung gerichtlich überprüfen zu lassen. Dieses Recht wurde ihnen als Sachwalter des öffentlichen Interesses an einer gleichmäßigen staatlichen Strafverfolgung verliehen und nicht zur Durchsetzung 295

Bischoff, NStZ 1988, 63 f.; Graalmann-Scheerer, in: LR-StPO, § 172 Rn. 3; Jung, ZStW 93 (1981), 1147, 1166; Rieß, Gutachten, Rn. 29; Roxin/Schünemann, Strafverfahren, Rn. 3; Weigend, Deliktsopfer, S. 492. Skeptisch dazu Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 9. 296 Deiters, Legalitätsprinzip, S. 283 f. 297 Graalmann-Scheerer, in: LR-StPO, § 172 Rn. 5. 298 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 210 Rn. 6; Wenske, in: MüKo-StGB, § 204 Rn. 27; Schneider, in: KK-StPO, § 210 Rn. 7. Für den Nebenkläger siehe § 400 StPO und Kap. 3 A III 1 a) dd). A.A. de lege ferenda Schöch, NStZ 1984, 385, 388; Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 788. 299 Vgl. auch Weigend, ZStW 96 (1984), 761, 790. Siehe aber auch Sturm, GA 2017, 398, 404 ff. zu der Frage, welche Bedeutung die Bejahung eines verfassungsrechtlichen Anspruchs des Opfers auf Strafverfolgung auf seine Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Opportunitätseinstellungen haben müsste.

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eigener Genugtuungsinteressen. Die Rechtslage zu den Möglichkeiten des Opfers, Nichtverfolgungsentscheidungen anzufechten, indiziert damit ursprünglich nicht, dass im Strafverfahren ein privates Unrechtfeststellungsinteresse befriedigt werden soll. Im Zuge der Umsetzung der RL 2012/29/EU mit dem dritten Opferrechtsreformgesetz300 erklärte der Gesetzgeber, dass das deutsche Recht die in der Richtlinie festgelegten Rechte des Verletzten bei Verzicht auf Strafverfolgung bereits vorsehe und deshalb insofern kein Reformbedarf bestehe.301 Offen ist, ob der Gesetzgeber mit dieser Aussage intendiert hat, den Telos des deutschen Klageerzwingungsverfahrens entsprechend dem Zweck von Art. 11 RL 2012/29/EU umzuwidmen. Dann wäre neuer Zweck des Klageerzwingungsverfahrens, dem Opfer zu ermöglichen, seinem Unrechtfeststellungsinteresse Ausdruck zu verleihen und es ggf. durchzusetzen. Dagegen spricht indes, dass sich der Gesetzgeber nach den verfügbaren Gesetzgebungsmaterialien nicht vertieft mit dem Zweck des Art. 11 RL 2012/29/EU befasst hat. Stattdessen hat er sich auf die formale Erfüllung der Richtlinienvorgaben konzentriert. Weil Art. 11 RL 2012/29/EU nicht die Überprüfbarkeit gerichtlicher Nichtverfolgungsentscheidungen verlangt und eine behördliche Kontrolle für ausreichend erklärt, ist ihm dies unter Berücksichtigung der gegen staatsanwaltschaftliche Nichtverfolgungsentscheidungen stets statthaften Dienstaufsichtsbeschwerde auch formal gelungen.302 Zweifelhaft ist allerdings, ob das selten erfolgreiche Klageerzwingungsverfahren und die zumeist fruchtlose Dienstaufsichtsbeschwerde die Intention der Richtliniengeber materiell erfüllen. Hätte der Gesetzgeber das Klageerzwingungsverfahren entsprechend dem Zweck des Art. 11 RL 2012/29/EU zu einem Individualrechtsschutzbehelf des Opfers umgestalten wollen, hätte es zudem nahegelegen, seinen Anwendungsbereich auf Einstellungen aus Opportunitätsgründen auszuweiten, die formalen Anforderungen an die Antragsstellung zu senken und das Institut insgesamt opferfreundlicher auszugestalten. Dies ist trotz entsprechender Vorschläge aus dem Schrifttum unterblieben.303 All dies spricht gegen eine gesetzgeberische Umwidmung des Klageerzwingungsverfahrens. Jedenfalls beruhte eine Neuinterpretation des Rechtsinstituts auf unionsrechtlichem Einfluss.

300 Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren v. 21. 12. 2015 (3. Opferrechtsreformgesetz), in Kraft seit 31. 12. 2015, BGBl. I S. 2525. 301 BR-Drucks. 56/15, S. 12; BT-Drucks. 18/4621, S. 16. 302 Zu den Anforderungen aus Art. 11 Abs. 1, 2, EG 43 RL 2012/29/EU siehe Kap. 2 A IV 2 a). A.A. unter Verkennung der Richtlinienanforderungen Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 786, 794. 303 Vgl. Arbeitskreis der Opferhilfe, Stellungnahme zum Entwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz für ein Drittes Opferrechtsreformgesetz, S. 12 ff.; Bock, ZIS 2013, 201, 207; Kölbel, in: MüKo-StPO, § 172 Rn. 10; Meier, in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1393.

A. Rechtsvergleich

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dd) Nebenklage Mutmaßlich Verletzte können sich unter bestimmten Voraussetzungen einer erhobenen öffentlichen Klage bzw. einem Antrag im Sicherungsverfahren als Nebenkläger anschließen, § 395 StPO. Als Nebenkläger hat das mutmaßliche Opfer die Möglichkeit, dem gesamten Verfahren beizuwohnen und dessen Verlauf und Ergebnis durch Erklärungen, Fragen, Anträge und Rechtsmittel aktiv mitzugestalten, vgl. §§ 397 Abs. 1, 400 f. StPO. Dabei tritt der Nebenkläger als selbstständiger Verfahrensbeteiligter auf. Seine Verfahrensrechte kann er unabhängig von der Staatsanwaltschaft und ohne Objektivitätsverpflichtung zur Verfolgung eigener Interessen ausüben.304 Seine Verfahrensmacht ist allerdings beschränkt. Denn die Nebenklage ist keine eigenständige Klage, sondern ein zur öffentlichen Klage akzessorisches Beteiligungsinstitut. Anklagemonopol, Verfahrensherrschaft und Dispositionsmacht über den Verfahrensgegenstand verbleiben bei dem öffentlichen Ankläger. Nach dieser gesetzlichen Konzeption ist es nicht Aufgabe des Nebenklägers, das öffentliche Strafverfolgungsinteresse im Strafverfahren zu vertreten.305 Vielmehr hat der Nebenkläger die (beschränkte) Möglichkeit, zur Verfolgung eigener Interessen auf das Verfahren einzuwirken und das verfahrensbeendende, ggf. die Schuld des Täters feststellende Urteil zu beeinflussen. Insofern erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Funktion der Nebenklage (auch) darin besteht, ein Feststellungsinteresse des Opfers im Verfahren anzuerkennen und ihm zur Befriedigung zu verhelfen. Die Ratio der Nebenklage hat sich im Zuge zahlreicher Reformen wiederholt gewandelt und wird nach wie vor uneinheitlich beurteilt. Der historische Gesetzgeber der Reichsstrafprozessordnung hatte die Nebenklage als Annex zu den Instituten der Privatklage und Klageerzwingung konzipiert.306 Die prozessuale Mitwirkung des Nebenklägers sollte dazu dienen, die Einhaltung des Legalitätsprinzips durch die Staatsanwaltschaft zu kontrollieren und die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu stärken; private Interessen des Verletzten spielten keine vorrangige Rolle.307 Durch Reformen seit den 1980er Jahren ist die Nebenklage kontinuierlich von dem Privatklageverfahren gelöst worden.308 Zudem sind nebenklagefähige Delikte heute tendenziell schwere Delikte gegen höchstpersönliche Rechte. Solche Delikte verfolgen die staatlichen Strafverfolgungsbehörden in der Regel auch ohne kontrollierende Intervention eines Nebenklägers motiviert. Allerdings steht demjenigen, der die Erhebung der öffentlichen Klage durch einen Klageerzwingungs304

Hannich, in: KK-StPO, Vor § 395 Rn. 1; Weißer, in: HK-StPO, § 395 Rn. 17. Vgl. BGHSt 28, 272, 273. 306 Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 16; Weigend, Deliktsopfer, S. 133, 145 f. 307 Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 16; vgl. auch Weigend, Deliktsopfer, S. 133, 146, zur vagen Berücksichtigung von Opferinteressen. 308 Zur Reformentwicklung der Nebenklage siehe Hilger, in: LR-StPO, Vor § 395 Rn. 4 ff.; Weißer, in: HK-StPO, § 395 Rn. 3 ff.; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 16 ff. 305

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antrag herbeigeführt hat, weiterhin die Nebenklagebefugnis zu, § 395 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die Kontrolle der öffentlichen Strafverfolgung ist damit zwar noch eine, aber nicht (mehr) die alleinige Funktion der Nebenklage,309 sodass weitere Ziele des Rechtsinstituts, wie die Befriedigung eines privaten Unrechtfeststellungsinteresses, nicht ausgeschlossen sind. Nach jüngeren Ausführungen des Gesetzgebers sowie in der Literatur findet die Nebenklage ihre Legitimation primär in einer Schutzfunktion für den Verletzten.310 Entsprechend sei die Nebenklagebefugnis besonders schutzbedürftigen Verletzten vorbehalten.311 Diese Funktionsbestimmung wirft die Frage auf, wogegen das mutmaßliche Opfer als Nebenkläger im Strafverfahren geschützt werden soll und wie dieser Schutz durch die Nebenklage erreicht werden kann.312 Häufig wird insofern argumentiert, das Verbrechensopfer müsse im Verfahren Schuldzuweisungen und Angriffe des Angeklagten abwehren können.313 Dafür vermittle ihm die Nebenklage eine gesicherte Verfahrensposition, die ihm ermögliche, seine Interpretation des Tatgeschehens in der Hauptverhandlung zu artikulieren und Verantwortungszuweisungen durch den Angeklagten zu widerlegen.314 Dieser Argumentation wird indes berechtigterweise entgegen gehalten, dass sich bei Zugrundelegung einer solchen Ratio die Nebenklagebefugnis danach richten müsste, in welchem Maß das Opfer im Einzelfall falsche Verantwortungszuweisungen durch den Angeklagten zu befürchten habe.315 Stattdessen knüpft das Gesetz die Nebenklagebefugnis aber an die mutmaßliche Verwirklichung bestimmter schwerwiegender Delikte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter bzw. an das Auftreten schwerer Tatfolgen, § 395 Abs. 1, 3 StPO. Wenn schon nach Tatbeständen typisiert werde, seien des Weiteren jedenfalls nicht alle in § 395 Abs. 1, 3 StPO genannten Delikte prädestiniert für eine derartige illegitime Verantwortungsverschiebung.316 Zumindest als einzige Ratio der 309 Ebenso i.E. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 593; Hannich, in: KK-StPO, Vor § 395 Rn. 1; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 165; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 843; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 64 Rn. 1; Schünemann, Europäisierung, S. 326; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 4; Volk/Engländer, StPO, § 39 Rn. 18. 310 BT-Drucks. 10/5305, S. 11; BT-Drucks. 16/12098, S. 9, 29. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 593; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 165; Hilger, in: LR-StPO, Vor § 395 Rn. 8 f.; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 26 Rn. 78; Rieß, Gutachten, Rn. 120; Rössner, in: HK-GS, § 395 StPO Rn. 3; Safferling, ZStW 122 (2010), 87, 95; Schöch, in: SSW-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn 1. 311 BT-Drucks. 16/12098, S. 29; vgl. auch bereits BT-Drucks. 10/5305, S. 9. 312 Vgl. Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 957. 313 Diese Argumentation geht zurück auf Rieß, Gutachten, Rn. 120. Aufgegriffen z. B. durch BT-Drucks. 10/5305, S. 11; Dölling, in: FS Jung (2007), S. 77, 84; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, Vor § 395 Rn. 1; Schöch, in: SSW-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn 1; Velten, in: SKStPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 10. 314 BT-Drucks. 10/5305, S. 13; ähnlich BR-Drucks. 829/03, S. 30; BT-Drucks. 16/12098, S. 29. 315 Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 958. 316 Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 958; zust. Weißer, in: HK-StPO, § 395 Rn. 2.

A. Rechtsvergleich

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Nebenklage scheidet die Schutzfunktion daher aus. Überzeugender wäre es außerdem, die Schutzfunktion mit Theorien zur Verfahrensgerechtigkeit zu begründen anstatt mit der herrschenden These von der Abwehr von Verantwortungszuschreibungen.317 Insofern ließe sich vorbringen, dass die Nebenklage das Opfer vor sekundärer Viktimisierung schützen soll, indem die damit verbundenen Beteiligungsrechte den Verletzten aus seiner Passivität im Verfahren befreien und ihm Gehör verschaffen, und so seine Zufriedenheit mit dem Verfahren insgesamt und dessen Ausgang steigern. Auch eine derartige Konturierung der Schutzfunktion würde allerdings nicht das Ziel umfassen, ein privates Unrechtfeststellungsbedürfnis zu befriedigen. Als weitere Ratio der Nebenklage wird vielfach die Verfolgung eines persönlichen Genugtuungsinteresses durch den Nebenkläger angeführt.318 Dem nebenklagebefugten Opfer solle ermöglicht werden, zur Verfolgung und Bestrafung „seines“ Täters beizutragen. Ließe sich die Genugtuungsfunktion schlüssig begründen, könnte sich daraus unter Umständen auch der Zweck ableiten lassen, ein privates Feststellungsinteresse zu befriedigen. Fraglich ist allerdings bereits, ob die Annahme der Genugtuungsfunktion überzeugt. Mehrere Gründe sprechen dagegen. Erstens widerspricht die jüngere Gesetzgebungshistorie dieser Annahme. Denn die Begründung des ersten Opferrechtsreformgesetzes nannte noch als Funktion und Rechtfertigung der Nebenklage ausdrücklich, bestimmten Verletzten durch die hervorgehobene Mitwirkung am Strafverfahren Genugtuung zu verschaffen.319 Demgegenüber erwähnen die Begründungen des zweiten und dritten Opferrechtreformgesetzes eine Genugtuungsfunktion der Nebenklage nicht mehr.320 Zweitens ist die Nebenklage gesetzlich nicht dafür konzipiert, ein Interesse an der Verurteilung und Bestrafung des Täters zu befriedigen. Denn der Nebenkläger ist gerade nicht autorisiert, den Rechtsfolgenausspruch und die Strafzumessung mit Rechtsmitteln anzufechten, vgl. § 400 Abs. 1 StPO.321 Auch kann er Verfahrenseinstellungen aus Opportunitätsgründen nicht verhindern, § 400 Abs. 2 S. 2 StPO. Weiterhin ist die Nebenklage im Sicherungsverfahren möglich, § 395 Abs. 1 StPO, das gerade von

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Vgl. zu derartigen Theorien im Kontext von VIS bereits oben Kap. 2 A IV 1 b) cc). BGHSt 28, 272, 273 (allerdings noch zur alten Rechtslage und insofern wohl überholt); OLG Celle, Beschl. v. 4. 8. 2015, 2 Ws 111/15. Baier, GA 2005, 81, 86 f.; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 593; Dölling, in: FS Jung (2007), S. 77, 84; Hannich, in: KK-StPO, Vor § 395 Rn. 1; Hilger, in: LR-StPO, Vor § 395 Rn. 8 (eingeschränkt); Holz, Justizgewähranspruch, S. 148 ff.; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 26 Rn. 78; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 395 Rn. 1; Wu, Rechtsstellung, S. 54. Bejahend, aber krit. Barton JA 2009, 753, 758; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 843; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 64 Rn. 1; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 338. 319 BR-Drucks. 829/03, S. 13, 30. 320 Nach Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 959 f., liegt die Genugtuungsfunktion allerdings unausgesprochen der Neufassung der Nebenklage durch das zweite Opferrechtsreformgesetz zugrunde. Anders hingegen Schöch, in: SSW-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 1. 321 Schöch, in: SSW-StPO, Vor §§ 395 ff. Rn. 1. 318

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Schuld- und Bestrafungsfragen unabhängig ist.322 Schließlich ist der Nebenkläger kein notwendiger Beteiligter einer verfahrensbeendenden Verständigung im Hauptverfahren und kann ihr Zustandekommen insbesondere nicht durch ein Veto verhindern, arg. ex § 257c Abs. 3 S. 4 StPO.323 Drittens wäre es nicht mit den Grundsätzen einer gleichmäßigen, rationalen und dem Resozialisierungsgedanken verpflichteten öffentlichen Strafrechtspflege vereinbar, die Gestaltung des Strafverfahrens von individuellen Genugtuungsbedürfnissen des mutmaßlich Verletzten abhängig zu machen.324 Insgesamt überzeugt damit die These von der Genugtuungsfunktion der Nebenklage nicht. In der Konsequenz taugt sie auch nicht als Ausgangspunkt für die Überlegung, ob die Nebenklage der Befriedigung eines Feststellungsbedürfnisses in der hier untersuchten Form dient. In der umfangreichen Diskussion zur Ratio der Nebenklage wird die Befriedigung eines privaten Unrechtfeststellungsbedürfnisses bisher nicht als potentieller Zweck erörtert. Dies ist folgerichtig angesichts der Tatsache, dass sich dagegen im Wesentlichen die gleichen Argumente ins Feld führen lassen wie gegen die Genugtuungsfunktion. Darüber hinaus sind die Verfahrensrechte des Nebenklägers nicht dafür ausgestaltet, die Befriedigung eines privaten Feststellungsinteresses zu erreichen. Gesetzlich ist die Verfahrensmacht des Nebenklägers begrenzt. Insbesondere kann er nicht über den Verfahrensgegenstand und damit auch nicht über den Gegenstand der Feststellung im Verfahren disponieren. Zugleich hat das Gericht jegliche sachfremden Gesichtspunkte aus dem Verfahren herauszuhalten, vgl. § 244 Abs. 3 StPO. Gerade solche sachfremden Gesichtspunkte können jedoch für das Feststellungsbedürfnis des Opfers bedeutsam sein. Hierauf nimmt das Gesetz bei der Ausgestaltung der Nebenklage keine Rücksicht und zeigt damit, dass die Nebenklage gerade nicht auf die Befriedigung subjektiver Feststellungsbedürfnisse zielt. Schließlich steht die Nebenklagebefugnis nicht allen Opfern zu. Zwar ist die Aufzählung nebenklagefähiger Delikte in § 395 StPO seit Einführung des Auffangtatbestandes in § 395 Abs. 3 StPO durch das 2. Opferrechtsreformgesetz325 nicht mehr abschließend. Stattdessen ist gemäß § 395 Abs. 3 StPO prinzipiell jeder durch eine rechtswidrige Tat Verletzte anschlussberechtigt.326 Dies gilt allerdings nur unter der Bedingung, dass dies aus besonderen Gründen, insbesondere wegen der schweren Folgen der Tat327, zur Wahrnehmung seiner Interessen geboten erscheint. Unbe322

783. 323

Vgl. Rössner, in: HK-GS, § 395 StPO Rn. 3; auch Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781,

Dazu ausführlich Jahn/Kudlich, in: KK-StPO, § 257c Rn. 8, 78. Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 959; vgl. Bung, StV 2009, 430, 437. Zur Resozialisierungs-feindlichkeit Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 837; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 64 Rn. 1. 325 Gesetz vom 29. 7. 2009, BGBl. I, 2280, in Kraft seit 1. 10. 2009. 326 Ebenso z. B. Barton JA 2009, 753, 755; Weißer, in: HK-StPO, § 395 Rn. 38; a.A. OLG Jena, NJW 2012, 547, 548. 327 Laut BGH NStZ 2012, 466 reicht ein hoher Vermögensschaden als Tatfolge nicht aus; i.E. zust. Jahn/Bung StV 2012, 754, 758 f.; krit. Meier in: FS Wolter (2013), S. 1387, 1400. 324

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schadet der berechtigten Kritik an dieser auslegungsbedürftigen Ausdehnungsklausel,328 begrenzt sie die Nebenklagebefugnis durch das Erfordernis der Gebotenheit. Nach wie vor steht die Nebenklage damit nicht bedingungslos jedem Verletzten offen. Selbst wenn man der These folgen wollte, dass die Anerkennung und Befriedigung eines privaten Feststellungsinteresses tatsächlich Gegenstand der Nebenklage wäre, würde dieses Interesse damit jedenfalls nicht universal anerkannt und befriedigt. Offen bliebe außerdem, warum dieses Interesse nur fragmentiert berücksichtigt und befriedigt werden würde. Angesichts der konturlosen rechtlichen Ausgestaltung der Nebenklage fällt es schwer, eine einheitliche Funktion dieses Rechtsinstituts zu identifizieren. Jedenfalls aber kann die Nebenklage nicht so interpretiert werden, dass sie Ausdruck der Anerkennung eines privaten Feststellungsinteresses des Opfers im deutschen Strafverfahren wäre und dieses zu befriedigen suchen würde. ee) Sonstige Rechte des Opfers zur Durchsetzung eigener Interessen im Rahmen der öffentlichen Strafverfolgung Das fünfte Buch der StPO normiert in §§ 406d ff. StPO sonstige Befugnisse von Straftatopfern im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung. Diese Rechte stehen jedem mutmaßlich Verletzten aufgrund seiner präsumtiven Opferstellung zu. Sie sind durch das Opferschutzgesetz 1986 eingeführt und zuletzt durch das dritte Opferrechtsreformgesetz, u. a. zur Umsetzung der RL 2012/29/EU reformiert worden.329 Diese Rechte zeigen, dass das mutmaßliche Opfer nicht (mehr) nur als ein herkömmliches Mitglied der durch die Straftat allgemein betroffenen Rechtsgemeinschaft, sondern als selbstständiger, wenn auch nicht notwendiger Beteiligter des öffentlichen Strafverfahrens konzeptualisiert wird.330 Die Vorschriften sind allerdings primär auf die Unterstützung331 und Information332 des Verletzten ausgerichtet. Die Verfolgung eines privaten Feststellungsinteresses im Strafverfahren ermöglichen sie nicht. Zwar erhält der Verletzte in § 406e StPO auch ein Akteneinsichtsrecht und Akteneinsicht kann der Schlüssel für die Vorbereitung prozessualer Hand-

328

Siehe zu den Kritikpunkten Barton JA 2009, 753, 755; Bung StV 2009, 430, 435; Jahn/ Bung StV 2012, 754, 755 f.; Weißer, in: HK-StPO, § 395 Rn. 8; Safferling ZStW 122 (2010), 87, 95; Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 947, 956 f. 329 Drittes Opferrechtsreformgesetz v. 21. 12. 2015, in Kraft seit 31. 12. 2015, BGBl. I, 2525. 330 Ebenso Kühne, in: LR-StPO, Einl. J Rn. 122; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 406d Rn. 1; Pfeiffer, StPO, Vorb. § 406d-406h Rn. 2; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 65 Rn. 9; Zabeck, in: KK-StPO, Vorb. §§ 406dff. Rn. 1. 331 Insbes. durch einen psychosozialen Prozessbegleiter oder durch einen anwaltlichen Beistand, §§ 406 f-h StPO. 332 Vgl. §§ 406d, i-l StPO.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

lungsstrategien sein.333 Ein Mittel zur Durchsetzung eigener Verfahrensinteressen wird daraus jedoch erst in Kombination mit Befugnissen zur Verfolgung der eigenen Strategie. Solche Befugnisse gewährt das Recht dem Verletzten, wie gesehen, jedoch nicht allgemein. Außerdem muss der Verletzte in der Regel ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht darlegen, § 406e Abs. 1 S. 1 StPO. Dieses wird bejaht, wenn die Akteneinsicht der Vorbereitung eines Klageerzwingungsverfahrens dienen oder die Durchsetzung privatrechtlicher Ansprüche gegen den Beschuldigten vereinfachen soll.334 Es wird hingegen verneint, wenn mit der Einsichtnahme der Beschuldigte ausgeforscht oder die eigene Zeugenaussage in der Hauptverhandlung vorbereitet werden soll.335 Diese Interpretation des berechtigten Interesses zeigt, dass das Akteneinsichtsrecht nicht als Mittel zur Durchsetzung eines persönlichen Feststellungsinteresses konzipiert ist. Darüber hinaus gebietet es zwar oft die Aufklärungspflicht der Strafverfolgungsorgane, den Opferzeugen zu hören. Als geladener Zeuge muss der Verletzte vor Gericht erscheinen, §§ 48 Abs. 1, 51 StPO, und wahrheitsgemäß aussagen, vgl. §§ 153 f. StGB. Im Zuge dessen kann er sich frei zum Vernehmungsgegenstand und zu den Auswirkungen der Tat äußern, § 69 Abs. 1, 2 S. 2 StPO, und so die Wahrheitssuche beeinflussen. Diese Anhörung steht indes im Dienst der Aufklärung des Tatgeschehens zur Verwirklichung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses und zielt nicht auf die Verwirklichung privater Interessen. Einen subjektiven Anspruch darauf, als Zeuge oder in anderer Funktion vor dem Strafgericht auszusagen, hat der Verletzte ebenso wenig wie ein Revisionsrecht.336 Schließlich regeln die §§ 403 – 406c StPO das Adhäsionsverfahren. Dieses gestattet dem Verletzten, seinen aus der Straftat erwachsenden vermögensrechtlichen Ersatzanspruch gegen den Beschuldigten anstatt vor dem Zivilgericht im Strafverfahren vor dem Strafgericht geltend zu machen, vgl. § 403 StPO. Als vermögensrechtlich gelten Ansprüche, die aus einem vermögensrechtlichen Rechtsverhältnis abgeleitet werden oder auf vermögenswerte Leistungen gerichtet sind.337 Das Verfahren ist damit auf die monetäre Entschädigung des Opfers ausgerichtet und kann ebenfalls nicht als Zeichen der Anerkennung eines ideellen Unrechtfeststellungsinteresses bzw. als Mittel zu dessen Durchsetzung gewertet werden. 333

Zur sich u. a. daran entzündenden heftigen Kritik des Akteneinsichtsrechts siehe z. B. Herrmann, ZIS 2010, 236, 238; Schünemann, NStZ 1986, 193, 199; ders., ERA Forum 2009, 387, 389. 334 BVerfG NJW 2007, 1052, 1053. Pollähne, in: HK-StPO, § 406e Rn. 9; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, § 406e Rn. 4; Schöch, in: SSW-StPO, § 406e Rn. 5 ff. 335 Pollähne, in: HK-StPO, § 406e Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 406e Rn. 4 mwN. 336 Das Gehörsrecht aus Art. 10 RL 2012/29/EU ist somit bisher nicht im deutschen Recht verwirklicht, Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 785, dort auch zur anderslautenden Gesetzesbegründung. 337 Engelhardt, in: KK-StPO, § 403 Rn. 1; Pollähne, in: HK-StPO, § 403 Rn. 12; MeyerGoßner/Schmitt, StPO, § 403 Rn. 10.

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Auch die sonstigen Rechte, über die das Opfer im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung verfügt, ermöglichen ihm damit weder die Verfolgung eines privaten Genugtuungsinteresses noch weisen sie auf dessen Anerkennung im Strafjustizsystem hin. b) Privatklage Neben dem Offizialverfahren kennt die StPO ein privat betriebenes Strafverfahren. Die §§ 374 ff. StPO räumen den mutmaßlich Verletzten einiger enumerierter Vergehen die Befugnis ein, ohne Mitwirkung der Staatsanwaltschaft Anklage zu erheben und im Wege der Privatklage auf die Bestrafung des Täters hinzuwirken. Einige herkömmliche Verfahrensprinzipien, wie insbesondere das Legalitätsprinzip, das staats-anwaltschaftliche Anklagemonopol und das Offizialprinzip, gelten in diesem Verfahren nicht.338 Nichtsdestotrotz ist auch das Privatklageverfahren ein staatlicher Strafprozess mit dem Ziel einer regulären strafrechtlichen Verurteilung des Täters.339 Die Privatklage vermittelt dem Opfer einiger Straftaten somit die prozessuale Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass ein Straftäter strafrechtlich verfolgt und ggf. verurteilt und bestraft wird. Deshalb wird die Ratio dieses Rechtsinstituts teilweise darin gesehen, einem privaten Interesse an der Bestrafung eines anderen zur Durchsetzung zu verhelfen bzw. ein Genugtuungsinteresse des Opfers zu befriedigen.340 Ließe sich diese These bestätigen, könnte darauf aufbauend unter Umständen auch begründet werden, dass das Institut zudem von der Anerkennung eines privaten Feststellungsinteresses zeugt und die Verwirklichung dieses Interesses bezweckt. Zur Unterfütterung dieser These ließe sich vorbringen, dass die Betreibung eines Privatklageverfahrens ausschließlich im privaten Interesse erfolgt. Denn eine öffentliche Klage wird wegen eines privatklagefähigen Delikts nur dann erhoben, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt, § 376 StPO. Lehnt die Staatsanwaltschaft das öffentliche Interesse ab, ist der Privatklageweg eröffnet. Zugleich kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 377 Abs. 2 StPO in jeder Lage eines Privatklageverfahrens die Verfolgung übernehmen. Dies tut sie, wenn sich entweder die Möglichkeit der gleichzeitigen Verwirklichung eines Offizialdelikts abzeichnet oder wenn sich herausstellt, dass die Verfolgung des Privatklagedelikts (doch) im öffentlichen Interesse geboten ist.341 Die Beschreitung des Privatklagewegs ist also immer gerade und zugleich nur dann möglich, wenn kein öffentliches Interesse (mehr) an der Verfolgung eines Sachverhalts besteht.342 Dabei entscheidet der Privatkläger allein nach seinem Ermessen, ob er Privatklage erhebt sowie wegen welcher Privatkla338

Vgl. zu den Prinzipien bereits Kap. 3 A II 1. Siehe zu weiteren Unterschieden zwischen Privatklage- und Offizialverfahren Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 7 ff. 339 Hilger, in: LR-StPO, Vor § 374 Rn. 5. 340 In diese Richtung BVerfGE 26, 66, 70; Holz, Justizgewähranspruch, S. 143; MeyerGoßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 90. 341 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 377 Rn. 10. 342 Ebenso Kleinert, Mitwirkung, S. 290.

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gedelikte und gegen welche Personen er vorgeht.343 Zur Objektivität ist er nicht verpflichtet.344 Diese Charakteristika der Privatklage legen nahe, dass sie auf die Durchsetzung eines privaten Strafanspruchs zielt. Zahlreiche Argumente sprechen indes gegen diese Schlussfolgerung. Zunächst ist insofern ein prinzipieller Widerspruch in der normativen Ausgestaltung der Privatklage zu bemerken: Die Staatsanwaltschaft soll ein Privatklagedelikt nur verfolgen, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Gemäß Abschnitt 86 Abs. 2 RiStBV soll ein öffentliches Interesse insbesondere dann bestehen, wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört ist und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist. Zugleich mündet auch jedes privat betriebene erfolgreiche Privatklageverfahren in die Verhängung einer regulären Kriminalstrafe. Es ist aber nicht recht einzusehen, wie ein Lebenssachverhalt auf der einen Seite kein ausreichend gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit sein könnte, um ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren zu rechtfertigen, auf der anderen Seite aber die Allgemeinheit genügend tangieren könnte, um eine in ihrem Namen und Interesse verhängte Kriminalstrafe zu legitimieren.345 Noch grundlegender lässt sich zudem einwenden, dass jede Grundlage für die Durchführung eines Strafverfahrens, auch durch einen Privatkläger, fehlt, wenn das öffentliche Verfolgungsinteresse verneint wird.346 Denn die herrschende Strafrechtsdogmatik geht davon aus, dass strafrechtliche Verhaltensnormen im öffentlichen Interesse normiert werden, und ein vermuteter Normbruch im öffentlichen Interesse verfolgt und bei Bestätigung des Normbruchs im öffentlichen Interesse eine Strafe verhängt wird. Das Strafrechtssystem befasst sich also überhaupt nur mit Sachverhalten, deren Tragweite nicht auf einen individuellen Rechtskreis beschränkt ist, sondern die die Rechtsgemeinschaft als Ganze angehen. Insofern ist das Vorliegen des öffentlichen Interesses elementar für jede strafrechtliche Verfolgung und Verhängung strafrechtlicher Rechtsfolgen.347 Die normative Ausgestaltung der Privatklage ist damit in sich widersprüchlich. Weiterhin wird im Privatklageverfahren wie im Offizialverfahren die Verantwortlichkeit für einen Verstoß gegen ein öffentliches Strafgesetz untersucht und bei erfolgreicher Durchführung eine reguläre staatliche Kriminalstrafe gegen den Angeklagten verhängt.348 Außerdem steht es der Staatsanwaltschaft frei, die privat betriebene Verfolgung jederzeit zu übernehmen. Dies zeigt, dass aus dogmatischer Perspektive der private und der öffentliche Strafverfolger inhaltlich das gleiche Verfahrensziel verfolgen, nämlich die Durchsetzung des öffentlichen Strafan-

343 344 345 346 347 348

Hilger, in: LR-StPO, Vor § 374 Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 374 Rn. 5. Merz, in: Radtke/Hohmann-StPO, § 374 Rn. 5. I. E. ebenso Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 28. Ebenso Kleinert, Mitwirkung, S. 290 ff. Ebenso Kleinert, Mitwirkung, S. 292, 298. Senge, in: KK-StPO, Vorb. § 374 Rn. 1.

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spruchs.349 Der Privatkläger wird also nicht ermächtigt, einen privaten Strafanspruch zu verfolgen, sondern ihm wird die Realisierung des öffentlichen Strafanspruchs anvertraut.350 Inhaltlich und in Bezug auf das Ergebnis ist damit auch der von einem Privatkläger betriebene Strafprozess eine öffentliche Angelegenheit. Private Genugtuungsbedürfnisse mögen Motivationsquelle für ein Tätigwerden des Privatklägers sein, ihre Befriedigung ist aber dogmatisch nicht Verhandlungsgegenstand des Privatklageverfahrens.351 Dieses Ergebnis stimmt auch mit der Gesetzgebungsgeschichte des Rechtsinstituts überein. Denn historisch war Motiv für die Einführung der Privatklage nicht, dem individuellen Opfer die Verfolgung eines privaten Bestrafungsbedürfnisses zu ermöglichen.352 Vielmehr wurden als Beweggründe die Kontrolle der Einhaltung des Legalitätsprinzips und die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs, die Beschränkung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft, die Entlastung des öffentlichen Anklägers und die faktische Entkriminalisierung von Bagatellkriminalität diskutiert.353 Das Resultat des Gesetzgebungsprozesses bildete schließlich einen unvollständigen Kompromiss zwischen den verschiedentlich motivierten Vorschlägen, was sich in der widersprüchlichen Ausgestaltung des Instruments noch immer spiegelt. Dementsprechend wird die Funktion der Privatklage heute auch ganz überwiegend in anderen Erwägungen als der Durchsetzung eines privaten Strafanspruchs erblickt.354 Häufig wird insofern unter Bezugnahme auf die Gesetzgebungshistorie darauf verwiesen, dass die Privatklage ein Instrument zur Kontrolle der Verwirklichung des Legalitätsprinzips sei. Faktisch mag sie dazu auch beitragen, dogmatisch kann dies aber zumindest nicht ihr alleiniger Zweck sein. Denn konzipiert als prinzipale, anstatt als subsidiäre Klageform setzt die Privatklage keine vorherige Anrufung der Staatsanwaltschaft voraus und beschränkt den Privatkläger damit gerade nicht auf ein nachträglich-kontrollierendes Tätigwerden.355 Aufgrund ihres beschränkten materiellen Anwendungsbereiches kann die Privatklage zudem allenfalls eine sehr beschränkte Kontrolle gewährleisten. Ebenfalls unter Verweis auf die historischen Gesetzgebungsmotive wird als weiterer Zweck die Entlastung der

349

Zipf, GA 1969, 234, 237 f. I. E. ebenso Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, StrafR AT, § 2 Rn. 58; Merz, in: Radtke/ Hohmann-StPO, § 374 Rn. 3; Rieß, Gutachten, Rn. 21; Volckart, JR 2005, 181, 186; Zipf, GA 1969, 234, 237. 351 Kleinert, Mitwirkung, S. 288. 352 Vielmehr bedeute die Ablehnung der subsidiären Privatklage im Gesetzgebungsprozess auch eine Absage an ein subjektives Recht auf Strafverfolgung, Deiters, Legalitätsprinzip, S. 282 mwN; a.A. wohl Maiwald, GA 1970, 33, 46 f. 353 Hilger, in: LR-StPO, Vor § 374 Rn. 3; Rieß, Gutachten, Rn. 21; Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 3 ff. 354 Siehe zu verschiedenen Funktionen z. B. Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 18 ff. 355 Deshalb diese Funktion gänzlich ablehnend Kleinert, Mitwirkung, S. 292 f. 350

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Staatsanwaltschaft im Bereich der Bagatellkriminalität diskutiert.356 Eine andere Auffassung rekurriert auf eine der Rechtfertigung des Strafantrags vergleichbare Begründung: Die Privatklage schütze den Verletzten vor einer aufgedrängten Verfolgung der höchstpersönlichen Privatklagedelikte.357 Wieder andere sehen in der Privatklage ein praktisch effizientes – wenn auch dogmatisch nicht überzeugendes358 – Mittel zur faktischen Entkriminalisierung.359 Rechtstatsächlich hat die Privatklage heute vor allem die Funktion eines indirekten Einstellungsinstruments.360 Ob diese Ansätze das Rechtsinstitut schlüssig zu begründen vermögen oder die Privatklage nicht viel mehr berechtigt als systemwidriges, de lege ferenda abzuschaffendes Konstrukt kritisiert wird,361 kann für die hier untersuchte Fragestellung dahingestellt bleiben. Denn keine dieser Begründungen reklamiert, dass die Privatklage von der Anerkennung eines privaten Feststellungsinteresses zeugen und dessen Durchsetzung im Strafverfahren dienen würde. Gegen die Annahme, dass die Privatklage einem Feststellungsinteresse des Opfers im Strafverfahren zur Durchsetzung verhelfen soll, sprechen zudem weitere Gründe. Erstens ist die Privatklagebefugnis auf einige abschließend genannte, überwiegend dem Bagatellbereich zugehörige Vergehen beschränkt und im Einzelfall nur dann möglich, wenn es am öffentlichen Verfolgungsinteresse mangelt. Eine allgemeine Klagemöglichkeit des Verletzten existiert also nicht. Wenn überhaupt, würde folglich nur einer kleinen Gruppe von Verletzten die Verfolgung ihres Feststellungsinteresses gestattet. Erfasst würden zudem primär Opfer leichter Delikte, deren Feststellungsinteresse in der Regel weniger stark ausgeprägt sein dürfte. Zweitens verdrängt die Staatsanwaltschaft den Verletzten bei Übernahme eines Privatklageverfahrens aus seiner Verfahrensposition. Auch der Weg in die Nebenklage steht ihm nicht mehr automatisch offen. Die Bejahung eines öffentlichen Verfolgungsinteresses würde also ohne erkennbaren Grund die Verfolgung etwaiger privater Interessen ausschließen. Drittens spielt die Privatklage in der Rechtswirklichkeit nur eine marginale Rolle. Die Zahl derjenigen, die nach Verweisung auf den Privatklageweg von der Privatklagemöglichkeit Gebrauch machen, liegt im einstelligen Prozentbereich.362 Erfolgreiche Privatklagen sind noch seltener. Die Privatklage wäre somit kein 356 Rieß, Gutachten, Rn. 21, 106; krit. hingegen Hilger, in: LR-StPO, Vor 374 Rn. 3, 13; Kleinert, Mitwirkung, S. 293 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 483 ff. 357 Dazu, allerdings mit überzeugenden Argumenten ablehnend Kleinert, Mitwirkung, S. 297 f. 358 Zu den Gründen siehe Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 28 ff. 359 Dazu krit. Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 13. 360 Dazu und zur Statistik Hilger, in: LR-StPO, Vor § 374 Rn. 4. 361 Für die Abschaffung in der gegenwärtigen Form votieren z. B. Erdag, Der rechtliche Einfluß des privaten Verletzten auf den Beginn des Strafverfahrens, S. 138 ff.; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 839; Hilger, in: LR-StPO, Vor 374 Rn. 13; Kleinert, Mitwirkung, S. 292, 301; Lütz-Binder, Rechtwirklichkeit der Privatklage und Umgestaltung zu einem Aussöhnungsverfahren, S. 154 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 374 Rn. 1; Rieß, Gutachten, Rn. 104 ff.; Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 28 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 479 ff. 362 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 135; Velten, in: SK-StPO, Vor § 374 Rn. 10.

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taugliches Instrument, um ein privates Feststellunginteresse umfassend und effizient durchzusetzen. Dies spricht im Ergebnis auch gegen eine derartige Zielbestimmung. Insgesamt kann damit auch die Existenz der Privatklage nicht als Indiz dafür gewertet werden, dass im deutschen Strafverfahren ein privates Genugtuungsinteresse anerkannt und dem Verletzten dessen Durchsetzung ermöglicht würde. c) Zusammenfassende Bewertung In dem durch das Offizialprinzip und das staatsanwaltschaftliche Anklagemonopol geprägten deutschen Strafprozess betreibt die Staatsanwaltschaft als neutrale staatliche Behörde die Strafverfolgung. Dabei vertritt sie das öffentliche Strafverfolgungsinteresse.363 Gegenüber dem mutmaßlichen Opfer obliegen ihr zwar Schutzund Rücksichtnahmepflichten, sie ist aber weder Interessensvertreterin des individuellen Opfers noch zur Berücksichtigung eines privaten Feststellungsinteresses verpflichtet. Insgesamt ist der Strafprozess als Auseinandersetzung zwischen dem Beschuldigten und dem die Interessen der Rechtsgemeinschaft repräsentierenden Staat gestaltet. Die Befriedigung privater Feststellungsbedürfnisse spielt in dieser Struktur konzeptionell keine Rolle. Gleichwohl wurden dem mutmaßlich Verletzten bereits in der Reichsstrafprozessordnung verschiedene Rechte im Kontext der staatlichen Strafverfolgung eingeräumt. Historisch war die Einführung dieser Rechtsinstitute allerdings weder von einem einheitlichen Konzept zur Stellung des Opfers im Strafverfahren getragen noch von der Überzeugung motiviert, es solle ein privates Feststellungsbedürfnis anerkannt und im Strafverfahren durchsetzbar gestaltet werden. Im Zuge zahlreicher Reformen seit den 1980er Jahren sind die Opferrechte im deutschen Strafprozess umstrukturiert und erweitert worden. In der Folge verfügt das mutmaßliche Opfer heute über eine so ausgeprägte Rechtsposition, dass es als eigenständiger, wenn auch nicht notwendiger Beteiligter des öffentlichen Strafverfahrens zu bezeichnen ist. Das Gesetz räumt den Interessen des Verletzten in Bezug auf die Strafverfolgung also durchaus Bedeutung ein. Allerdings beruhen die in der StPO vorgesehenen Verfahrensrechte des (mutmaßlichen) Opfers auf heterogenen Gründen und bezwecken allesamt nicht die Befriedigung eines privaten Genugtuungsbedürfnisses. Diese Rechtslage ist Konsequenz des materiellen Straftatbegriffs und der Konzeption des Strafverfahrens als Angelegenheit zwischen der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft und dem Angeklagten sowie seiner Ausrichtung auf das öffentliche Interesse. Neben dem von der Staatsanwaltschaft betriebenen Offizialverfahren kennt das deutsche Strafverfahrensrecht die auf privater Initiative beruhende Privatklage. Insofern ist es ihm nicht gänzlich fremd, dass der mutmaßlich Verletzte die Straf363 Ein Feststellungsinteresse des mutmaßlichen Opfers berücksichtigt sie allenfalls als abhängigen Parameter zur Begründung des öffentlichen Verfolgungsinteresses, vgl. Kap. 3 A III 1 a) aa) (2).

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verfolgung selbst betreibt. Allerdings setzt auch der Privatkläger den öffentlichen Strafanspruch durch. Die Befriedigung eines privaten Genugtuungsinteresses spielt allenfalls als Motiv für das Tätigwerden eines Privatklägers eine Rolle, nicht aber als dogmatischer Gegenstand des zudem praktisch quasi irrelevanten Privatklageverfahrens. Träger des Strafverfolgungsinteresses ist somit im deutschen Recht stets die Allgemeinheit, unabhängig davon, ob die Staatsanwaltschaft oder ein Privatkläger die Verfolgung betreibt. Die Verfolgung wird von öffentlichen Interessen determiniert, ein privates Feststellungsinteresse des Opfers findet prinzipiell keine Berücksichtigung. 2. Englisches Recht a) Öffentliche Strafverfolgung aa) Entstehung der öffentlichen Strafverfolgung Verglichen mit Deutschland blicken England und Wales auf eine längere Tradition privater Strafverfolgung (private prosecution) zurück. Zwar wurde ein kleiner Teil besonders gravierender Taten schon früh von einem königlichen Staatsanwalt verfolgt – z. B. Mord und Verbrechen gegen den Staat, wie Hochverrat –, die Ahndung der allermeisten Delikte lag jedoch bis Mitte des 19. Jahrhunderts in den Händen der Bürger.364 Praktisch war damit über Jahrhunderte der Verletzte oder ein sonstiger motivierter Bürger dafür verantwortlich, einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt zu ermitteln und den Tatverdächtigen anzuklagen.365 Eine Behörde, die diese Aufgabe hätte erfüllen können, existierte nicht. Mit der Zeit mehrte sich jedoch die Kritik an dem auf privater Initiative basierenden System. Zum einen wuchs Misstrauen gegenüber den Privatstrafklägern (private prosecutors), denen nachgesagt wurde, dass sie rachsüchtig und bestechlich seien und die Strafverfolgung ausschließlich zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche im Strafverfahren oder aus anderen unlauteren Motiven betrieben.366 Zum anderen scheiterte die Strafverfolgung häufig daran, dass den Privatstrafklägern die nötige Expertise fehlte und sich bei vielen Delikten kein Bürger fand, der die Verfolgungskosten und den Aufwand hätte auf sich nehmen wollen oder können.367 Mit dem auf privater Initiative basierenden System war es daher unmöglich, eine gleichmäßige und effiziente Straf-

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R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 88 mwN; Newburn, Criminology, S. 24. R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 11; Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 194; Halsbury’s Laws of England, Vol. 27 § 23 Fn. 1; Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 199; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141. 366 Rock, Crim. Just. 4 (2004), 331, 338. 367 Rock, Crim. Just. 4 (2004), 331, 338 f. Siehe auch Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 194. 365

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verfolgung zu gewährleisten.368 Diese Kritik führte Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer stärkeren staatlichen Beteiligung an der Strafverfolgung. Zwischen 1829 und 1856 wurden in England und Wales staatliche Polizeibehörden errichtet, die vermeintliche Straftäter aufspüren, verhaften und den Sachverhalt ermitteln sollten.369 Weil nach wie vor keine institutionalisierte Anklagebehörde existierte, übernahm die Polizei zudem vermehrt die Erhebung der Anklage und ihre Vertretung vor Gericht.370 Staatliche Sonderbefugnisse erhielt die Polizei für diese Tätigkeit jedoch zunächst nicht, und sie agierte dabei auch nicht als offizielle staatliche Anklagebehörde. Stattdessen wurde sie rechtstheoretisch auf derselben Grundlage tätig wie der Privatstrafkläger: dem Jedermannstrafklagerecht.371 Diese Herangehensweise beruhte auf dem theoretischen Grundsatz im englischen System, dass keine Straftat verfolgt werden muss, aber jedermann eine Straftat verfolgen kann, wenn er es wünscht.372 Außerdem entsprach sie der englischen Tradition, eine zentralisierte Institution für die Strafverfolgung abzulehnen. Dementsprechend wurde und wird bis heute die Verantwortlichkeit, Straftaten aufzuklären, anzuklagen und die Anklage vor Gericht zu vertreten, auch bei wachsendem staatlichen Engagement, auf verschiedene Stellen verteilt.373 Diese Situation änderte sich bis Mitte der 1980er Jahre nicht grundlegend. Bis dahin entwickelte sich die Polizei zu dem primären Strafankläger, wofür sie eigene Anwälte (prosecuting solicitors) anwarb.374 Daneben unternahm die 1879 errichtete Behörde des Director of Public Prosecution die Verfolgung aller Mordfälle sowie einiger weiterer enumerierter besonderes gravierender Delikte.375 Zusätzlich be368 Zu verschiedenen Maßnahmen, die private Bürger zur Ausübung des Jedermannstrafklagerechts motivieren sollten, siehe Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 142. 369 Spencer, in: Delmas-Marty/ders., European Criminal Procedures, S. 1, 14. 370 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 194; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 142; Sprack, Criminal Procedure, 4.02. Eine wesentliche Rolle bei dieser Entwicklung spielte der Metropolitan Police Act von 1829, der die Londoner Polizei errichtete, sowie der County and Borough Police Act von 1856, der jede Region verpflichtete, ihre eigene Polizei einzurichten. Diese verbesserte Organisation steigerte die Erwartung, dass die Polizei die meisten Strafverfolgungen übernehmen würde, vgl. auch R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 12. 371 R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 12: „the prosecuting police officer was just another private prosecutor“; Rock, Crim. Just. 4 (2004), 331, 333, 341; Spencer, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 142; ders., in: Delmas-Marty/ders., European Criminal Procedures, S. 1, 14; zur Stellung der Polizei im Common Law als Teil der Bürgerschaft Terrill, World Criminal Justice Systems, S. 42 f. 372 Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 201. 373 Sprack, Criminal Procedure, 4.01. Zu den Hintergründen siehe Spencer, in: DelmasMarty/ders., European Criminal Procedures, S. 1, 14. 374 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 194 f.; Sprack, Criminal Procedure, 4.02. 375 R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 13; Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 195. Der DPP wurde durch den Prosecution of Offences Act 1879 gegründet und spielte zunächst nur eine untergeordnete Rolle im Strafverfolgungssystem. Er ermittelte nicht, sondern

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

gannen zahlreiche Ordnungsbehörden (regulatory agencies), wie z. B. die Post-, Steuer- und Umweltbehörde, ihre eigenen Strafverfolger einzustellen, die in ihrem jeweiligen spezifischen Sachbereich die Verfolgung von Straftaten übernahmen. Auch diese quasi-institutionalisierten Anklagen erfolgten und erfolgen allerdings alle auf Grundlage des Jedermannstrafklagerechts.376 Auch dieses System wurde indes immer wieder kritisiert.377 Mit Blick auf das Ziel einer unparteilichen und unabhängigen Strafverfolgung wurde vor allem beanstandet, dass die Polizei als faktischer Hauptankläger Strafsachen sowohl ermittelte als auch anklagte. Die Polizeibehörden würden in der Folge oft schwache Fälle vor Gericht zerren.378 Gefordert wurde deshalb, Ermittlung (investigation) und Anklage (prosecution) institutionell zu trennen und einer unabhängigen Stelle die Berechtigung zu übertragen, polizeiliche Verfolgungsentscheidungen zu überprüfen und die Strafverfolgung ggf. bereits zu einem frühen Zeitpunkt einzustellen.379 Außerdem sollte eine unabhängige Anklagbehörde dazu beitragen, dass die Strafverfolgung in ganz England gleichmäßiger, konsistenter und effizienter betrieben würde.380 Zudem wurde Ressourcen-bezogen argumentiert. Die Kräfte der Polizei als Expertin für die Aufklärung von Straftaten sollten für strafrechtliche Ermittlungen reserviert und nicht zusätzlich durch Anklagetätigkeiten belastet werden. Wesentlich beeinflusst wurde diese Diskussion schließlich durch die Royal Commission on Criminal Procedure. Diese Kommission untersuchte im Auftrag der Regierung die Argumente für und gegen die Einführung einer öffentlichen Anklagebehörde und votierte im Jahr 1981 für die Errichtung eines staatlichen Systems unabhängiger Staatsanwälte (public prosecutors).381 Die sich an die Veröffentlichung des Kommissionsberichts anschließende Debatte mündete in den Erlass des Prosecution of Offences Act 1985 (im Folgenden: PoOA 1985), der den nationalen Crown Prosecution Service etablierte.382 Der Crown Prosecution Service (im Folgenden: CPS) ist eine hierarchisch war ausschließlich für die Präsentation der Fälle vor Gericht zuständig. Die Möglichkeit der Privatstrafklage wurde durch seine Errichtung nicht eingeschränkt, siehe Rock, Crim. Just. 4 (2004) 331, 342 f. Mit Errichtung des CPS im Jahr 1985 wurde die Position des DPP transformiert und ihm wurde die Anklagevertretung in allen von der Polizei begonnenen Verfahren übertragen, Sprack, Criminal Procedure, 4.06. Zu den Aufgaben des DPP im geltenden System siehe PoOA 1985, sec. 3(2). 376 Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 201. 377 Siehe hierzu Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 195. Die Einführung eines staatlichen Strafverfolgers wurde bereits im 19. Jahrhundert gefordert, scheiterte jedoch am fehlenden Vertrauen gegenüber einer staatlichen Institution, siehe dazu Rock, Crim. Just. 4 (2004), 331, 336 ff., 341 ff. 378 Padfield/Bild, Criminal Justice Process, S. 159; Rock, Crim. Just. 4 (2004) 331, 344. 379 Sprack, Criminal Procedure, 4.14; Terrill, World Criminal Justice Systems, S. 58. 380 R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 36, 55; Padfield/Bild, Criminal Justice Process, S. 159; Rock, Crim. Just. 4 (2004) 331, 344. 381 R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 16; Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 195; Terrill, World Criminal Justice Systems, S. 58. 382 Siehe PoOA 1985, sec. 1(1).

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organisierte, von der Polizei getrennte, staatliche Behörde.383 Ihr sitzt der Director of Public Prosecution (im Folgenden: DPP) vor, der dem Attorney General gegenüber verantwortlich ist, der seinerseits dem Parlament Rechenschaft schuldet.384 Aufgabe des CPS ist es, die von der Polizei ausermittelten Strafsachen zu übernehmen, zur Anklage zu bringen und vor Gericht zu vertreten oder alternativ einzustellen.385 Die Polizei ist damit seit Errichtung des CPS von der Aufgabe, Anklageentscheidungen zu fällen und die Anklage vor Gericht zu vertreten, befreit.386 Primäre Anklage-, nicht aber die primäre Ermittlungsbehörde ist stattdessen der CPS.387 Verfassungstheoretisch wird der CPS bei Wahrnehmung seiner Aufgaben ebenso wie andere in die Strafverfolgung eingebundene Akteure auf Grundlage der allgemeinen Bürgerpflicht, Straftaten zu verfolgen, tätig.388 Neben dem CPS können deshalb nach wie vor auch andere öffentliche Behörden oder regierungsähnliche Stellen ebenso wie Privatpersonen die Strafverfolgung betreiben.389 Gleichwohl stellt die Errichtung des CPS einen wichtigen Wendepunkt im englischen Strafjustizsystem dar: Seit seiner Errichtung wird die Anklage von Straftaten faktisch primär als Aufgabe des Staates und nicht des privaten Bürgers verstanden.390 Heute wird der ganz überwiegende Teil der Straftaten im Rahmen dieser öffentlichen Strafverfolgung (public prosecution) geahndet.

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Zum Aufbau des CPS siehe Sprack, Criminal Procedure, 4.05 ff. PoOA 1985, sec. 2( 1), 3(1); Sprack, Criminal Procedure, 4.07. 385 Zur Anklagevertretung siehe PoOA 1985, sec. 3(2); Spencer, in: Delmas-Marty/ders., European Criminal Procedures, S. 1, 14. Zur Einstellung kann der CPS eine Einstellungsverfügung erlassen, PoOA 1985, sec. 23; Sprack, Criminal Procedure, 4.14 ff. Alternativ kann er vor Gericht keine Beweise präsentieren und so einen Freispruch herbeiführen oder einen Anklagepunkt fallen lassen. Außerdem kann der Attorney General jedes Strafverfahren durch Einlegung eines writ of nolle prosequi beenden, Ward/Akhatar, English Legal System, S. 599 f. 386 Seit Erlass des Criminal Justice Act 2003 (im Folgenden: CJA 2003) bestimmt die Polizei zudem außer bei leichten Vergehen auch nicht mehr, wegen welcher Delikte verfolgt werden soll, sondern der CPS bestimmt, ob und wegen welcher Delikte angeklagt wird, PoOA 1985, sec 3(2); CJA 2003, sec. 28 ff. Zu den Hintergründen der Ausweitung der Kompetenz des CPS zu Lasten der Zuständigkeit der Polizei bei der Bestimmung der anzuklagenden Delikte und der Erhebung der Anklage siehe Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 197 f.; Ward/ Akhatar, English Legal System, S. 595 f. 387 Sprack, Criminal Procedure, 4.01. 388 Sprack, Criminal Procedure, 4.13. 389 Halsbury’s Laws of England, Vol. 27 § 23; Sprack, Criminal Procedure, 4.13, 4.19 ff. Solche Behörden sind z. B. das Revenue and Customs Prosecutions Office, das Steuerstraftaten verfolgt, oder das für schwere Betrugsfälle zuständige Serious Fraud Office. Zur Privatklage durch Privatpersonen siehe Kap. 3 A III 2 b) aa). Allerdings steht es dem CPS frei, solche Verfahren zu übernehmen oder – wenn ihre Durchführung gegen das öffentliche Interesse verstößt – einzustellen, PoOA 1985, sec 6(2). 390 Rock, Crim. Just. 4 (2004), 331, 344; Spencer, in: Delmas-Marty/ders., European Criminal Procedures, S. 1, 15, 21. Nach Rock, Crim. Just. 4 (2004), 331, 332, 345 f. ist die Errichtung des CPS zudem ein wesentlicher Grund für die Marginalisierung des Opfers im englischen Strafjustizsystem. 384

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bb) Interessen in und Struktur der öffentlichen Strafverfolgung An der öffentlichen Strafverfolgung in England und Wales sind im Wesentlichen drei Akteure beteiligt: die Ermittlungs- und Anklagebehörden, der Beschuldigte mit seiner Verteidigung und das Gericht, ggf. zusammen mit Geschworenen. Das Opfer einer Straftat ist keine Partei im öffentlichen Strafverfahren.391 Während die Polizei (oder eine andere Ermittlungsbehörde) den Sachverhalt unabhängig ermittelt,392 obliegt in den meisten Fällen dem CPS die Entscheidung über die Anklage sowie die Vertretung der Anklage vor Gericht. Ermittlungs- und Anklagebehörde werden im Namen der Krone, also des Staates tätig.393 Die Verteidigung vertritt die Interessen des Angeklagten. Die traditionellen Kernaufgaben des Richters sind die Entscheidung über die Schuld des Angeklagten, ggf. entsprechend dem Spruch der Geschworenen, und die Strafzumessung.394 Zudem überwacht das Gericht den Ablauf des Verfahrens und die Einhaltung von Verfahrensregeln, entscheidet Rechtsfragen während des Verfahrens, fasst den Sachverhalt für die Geschworenen zusammen und instruiert sie zum Recht.395 Das Strafverfahren ist adversatorisch396 strukturiert, also als bipolarer Wettstreit zwischen der den Staat repräsentierenden Anklagebehörde und dem Angeklagten, der Richter hat eine passivere Rolle.397 Entsprechend ist das Verfahren geprägt von auf zwei Streitparteien zugeschnittenen Elementen, wie z. B. der Pflicht zur gegenseitigen Offenlegung von Beweismitteln im Vorfeld der Hauptverhandlung (disclosure), der strikt getrennten Präsentation „ihres Falls“ in der Hauptverhandlung zuerst durch die Anklage und sodann durch die Verteidigung, die Geltung strenger Beweisregeln (rules of evidence) und der Zweiteilung der Hauptverhandlung zur Klärung der Schuldfrage (trial of guilt) und der Strafzumessung 391

R (Bulger) v Secretary of State for the Home Department [2001] EWHC (Admin) 119 Rn. 20 f; Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 163, 174. 392 Siehe Code for Crown Prosecutors, § 3.2; Ward/Akhatar, English Legal System, S. 578. Der Staatsanwalt kann die Ermittlungsbehörde bei den Ermittlungen nur beraten, nicht aber anweisen. 393 Card/Molloy, Criminal Law, 1.3; Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 201. 394 Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435, 497 (HL) (Lord Diplock). 395 Gibson/Cavadino, Introduction to the Criminal Process, S. 120. 396 Padfield/Bild, Criminal Justice Process, S. 8. Der Einteilung von Strafverfahrenssystemen anhand der Kategorien adversatorisch und inquisitorisch wird zu Recht immer weniger Bedeutung beigemessen, siehe Spencer, in: Delmas-Marty/ders., European Criminal Procedures, S. 1, 5; Summers, Fair Trials, S. 5 ff. Soweit anhand dieser Kriterien differenziert wird, wird als wichtigstes Merkmal des adversatorischen Systems für gewöhnlich genannt, dass das Gericht nicht – wie im inquisitorischen Strafverfahren – selbst von Amts wegen die Wahrheit ermittelt, sondern die Anklage und Verteidigung in einem Wettkampf gleichberechtigt jeweils ihre Version der Fakten darstellen und das Gericht passiv neutral ggf. zusammen mit einer Jury über die von den Parteien vorgebrachten Tatsachenversionen entscheidet und die Einhaltung der prozessualen Regeln überwacht, siehe z. B. Höynck, Das Opfer, S. 115; Jörg/Field/Brants, in: Harding et al., Criminal Justice in Europe, S. 41, 42; Summers, Fair Trials, S. 7. 397 Doak, Victims’ Rights, S. 115; Ward/Akhatar, English Legal System, S. 578. Zur Rolle der Parteien und des passiveren Richters bei der Zeugenvernehmung im Verfahren z. B. Choo, Evidence, S. 65 f.

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(sentencing hearing). Zur Beantwortung der Frage, welche Instanzen die Strafverfolgung betreiben und wessen Interessen sie mit welchem Gewicht dabei durchzusetzen verpflichtet sind, sind vor diesem Hintergrund insbesondere die Rolle des Staatsanwaltes als Anklagevertreter und die von ihm vertretenen Interessen zu betrachten. (1) Der Staatsanwalt als Minister of Justice In den meisten Fällen entscheidet ein Staatsanwalt des CPS über die Erhebung der Anklage und vertritt die Anklageseite vor Gericht. Dabei ist er – wie jeder andere Staatsanwalt anderer Behörden auch – verpflichtet, als Minister of Justice aufzutreten.398 Das bedeutet, dass er nicht als parteiischer Vertreter die Strafverfolgung um jeden Preis forcieren darf, sondern vielmehr fair und objektiv agieren muss.399 Er darf nicht im Interesse einer bestimmten Person handeln und soll nicht in einem Fall tätig werden, der seine persönlichen Interessen berührt.400 Stattdessen muss er das öffentliche Interesse objektiv und gerecht vertreten.401 Die Stellung des Staatsanwalts als Minister of Justice prägt auch sein Verhältnis zum Opfer.402 Weil er als solcher das öffentliche Interesse an Gerechtigkeit unparteiisch vertreten muss, kann er nicht zugleich Individualinteressen des Opfers repräsentieren oder als sein Anwalt auftreten. Politisch-rhetorisch unterlag das Verhältnis des CPS zu den Opfern einer Straftat seit Errichtung des CPS allerdings einigen Veränderungen. Als das System öffentlicher Strafverfolgung mit dem CPS etabliert wurde, wurden private Bürger von ihm zunächst strikt ferngehalten.403 Das Innenministerium (Home Office) ordnete an, dass der CPS keiner Pflicht unterliege, mit Zeugen oder Opfern auch nur in Kontakt zu treten.404 Hintergrund davon war, dass ein ungewolltes Coaching der Zeugen durch den Staatsanwalt vermieden werden sollte, das die Zeugenaussage unverwertbar gemacht hätte. Spätestens zu Beginn des neuen Jahrtausends änderte sich dieser Ansatz auf politischer und rhetorischer Ebene jedoch grundlegend.405 In dem White 398 R v Banks [1916] 2 KB 621, 623; Randall v the Queen [2002] 1 WLR 2237, 2241. Ashworth/ Redmayne, Criminal Process, S. 65; Blake/Ashworth, Crim. L. Rev. 1998, 16, 17, 26 f.; Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 427. 399 R v Banks [1916] 2 KB 621, 623; Code for Crown Prosecutors, § 2.4; DPP, Ethical Principles, § 3.1.4, 4.5. Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 65; Blake/Ashworth, Crim. L. Rev. 1998, 16, 17; Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 427. 400 DPP, Ethical Principles, § 3.1.7, 3.3. 401 DPP, Ethical Principles, § 3.1.6; Doak, Victims’ Rights, S. 139. 402 Zum englischen Recht Doak, Victims’ Rights, S. 139; zu Common Law-Jurisdiktionen allgemein Manikis, Ohio State J. Crim. L. 13 (2015 – 16), 163, 176. 403 Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 143. 404 Home Office (1985), Prosecution of Offences Act 1985: A Guide, S. 29, zitiert nach Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 143; Doak, Victims’ Rights, S. 126. 405 Siehe hierzu Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 144. Doak, Victims’ Rights, S. 127 f. terminiert den Beginn der neuen Ära bereits im Jahr 1993.

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Paper „Justice for all“ propagierte die Regierung im Jahr 2002 die neue Leitlinie, dass Opfer in den Mittelpunkt des Strafjustizsystems zu stellen seien.406 In der Folge sah sich der CPS verpflichtet, diese politisch vorgegebene Leitlinie umzusetzen.407 Deshalb propagierte der DPP seitdem in zahlreichen Stellungnahmen und Richtlinien den Grundsatz, dass der CPS mit Opfern in direkten Kontakt trete, sie unterstütze und als Verfechter ihrer Interessen agiere.408 Diese Rhetorik wiederum veranlasste im Jahr 2009 harsche Kritik des Justizausschusses des parlamentarischen Unterhauses, das den CPS und sein Verhältnis zu den Opfern von Straftaten untersuchte.409 Der Justizausschuss prangerte an, dass die öffentlichen Bekundungen, der CPS vertrete die Interessen der Opfer, der rechtlichen Realität widersprächen. Der CPS sei kein Opferanwalt, sondern ausschließlich Vertreter des öffentlichen Interesses. Dass im Strafjustizsystem die Interessen der Allgemeinheit und nicht die des Opfers vertreten würden, sei von überragender Bedeutung. Die anderslautende politische Rhetorik wecke Erwartungen, die der CPS realistischerweise nicht erfüllen könne, und sei aufzugeben. Die Regierung reagierte darauf mit der zustimmenden Feststellung, dass der CPS nicht als Anwalt der Opfer bzw. ihrer Familien agiere, sondern als Vertreter der Allgemeinheit.410 Der CPS berücksichtige die Ansichten des Opfers deshalb nur im Rahmen der Bewertung des öffentlichen Interesses. Neuere offizielle Dokumente betonen entsprechend vermehrt, dass der CPS im öffentlichen Interesse handelt und kein Opferanwalt ist.411 Damit übereinstimmend 406

Justice for all, July 2002, CM 5563, foreword. Siehe zum Inhalt dieses White Paper Gibson/Cavadino, Introduction to the Criminal Justice Process, S. 159 ff., 177 f. 407 Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 154. 408 Siehe z. B. CPS, Direct Communication with Victims, 2002, abrufbar unter goo.gl/ wTtAfi (15. 1. 2018); CPS, Public Policy Statement on the Delivery of Services to Victims: The Prosecutors’ Pledge, updated 01.2008, abrufbar unter goo.gl/ijRxu2 (15. 1. 2018); CPS, Care and Treatment of Victims; Attorney General’s Office, The acceptance of pleas and the prosecutor’s role in the sentencing exercise, 11.2012, A 1, abrufbar unter goo.gl/x2zoPp (11. 2. 2018). Für einen zusammenfassenden Überblick der vom CPS zu berücksichtigenden Überlegungen bzgl. Opfer und Zeugen siehe CPS, Commitments to Support Victims and Witnesses, abrufbar unter goo.gl/F3MBGZ (11. 2. 2018). Nach Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 216 ff. führten diese Versprechungen allerdings praktisch nicht dazu, dass Opferansichten tatsächlich in der Mehrzahl der Fälle beachtet worden wären. 409 House of Commons Justice Committee, The Crown Prosecution Service: Gatekeeper of the Criminal Justice System, Report 2009, HC 186, S. 3 sowie S. 36 Rn 83: „The prosecutor’s role in relation to victims also seems to be generally misunderstood. The prosecutor is not able to be an advocate for the victim in the way that the defence counsel is for the defendant, yet government proclamations that the prosecutor is the champion of victims’ rights may falsely give this impression. […] Furthermore, the criminal justice system is set up to represent the public rather than individuals, and there are good reasons for this. The CPS’s role as independent arbiter of decisions about prosecution is critical. Explaining this role clearly to victims such that their expectations are managed realistically, rather than raised then disappointed, is vital.“ 410 Government response to the Justice Committee Report: The Crown Prosecution Service: gatekeeper of the criminal justice system, HC 245, 2010, S. 14. 411 Siehe z. B. CPS, Care and Treatment of Victims, Principle: „The CPS acts in the public interest and not just in the interests of any one individual.“

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beschränkt der CPS seine neueren politischen Versprechungen inhaltlich überwiegend darauf, das Opfer zu informieren, es im Strafverfahren praktisch zu unterstützen und so seine Erfahrungen mit dem System zu verbessern.412 Auch nach dem Code of Practice for Victims of Crime (im Folgenden: CPVC) muss der CPS das Opfer z. B. ausschließlich über bestimmte Entscheidungen informieren, Gründe für die Entscheidung nennen und sich ggf. mit dem Opfer zur Erläuterung getroffener Entscheidungen persönlich treffen.413 Im Gerichtsgebäude soll sich der jeweilige Staatsanwalt den (mutmaßlichen) Opfern vorstellen, Fragen zum Prozess beantworten, über mögliche Wartezeiten informieren und (mutmaßliche) Opfer im Verfahren respektvoll behandeln.414 Die Pflicht des Staatsanwalts, die Ansicht oder das Interesse des Opfers bei einer Entscheidung als eigenständige Komponente einzubeziehen oder als Anwalt des Opfers aufzutreten, wird hingegen weder politisch noch gesetzlich begründet.415 Vereinzelt wird dem Staatsanwalt lediglich auferlegt, Opferinteressen als Faktor bei der Bewertung des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen. (2) Anklageentscheidung Wie der Staatsanwalt konkret die Opferperspektive im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung berücksichtigt und Opferinteressen als Faktor bei der Bewertung des öffentlichen Interesses heranzieht, lässt sich am besten anhand der Anklageentscheidung veranschaulichen. Ob und wegen welcher Delikte Anklage gegen einen Verdächtigen erhoben werden soll, entscheidet im Rahmen der öffentlichen Strafverfolgung ganz überwiegend ein Staatsanwalt des CPS.416 Andere Behörden können zwar auch staatsanwaltlich tätig werden, treffen jedoch nur einen kleinen Teil der

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Siehe z. B. die Verpflichtung, Opfer darüber zu informieren, dass der CPS das Strafmaß nicht angefochten hat oder dass er einen Fall nicht verfolgt, CPS, Commitments to Support Victims and Witnesses, Rn. 15 f., abrufbar unter goo.gl/F3MBGZ (11. 2. 2018). Zu Schutz und Unterstützung siehe id., Rn. 1, 17 ff. Zur Information von Opfern über Abspracheentscheidungen siehe id., Rn. 9 und Kap. 3 A III 2 a) ee) (1) (a). Zur Berücksichtigung bei Anklageentscheidungen Kap. 3 A III 2 a) bb) (2). 413 Siehe CPVC, ch. 2 B §§ 2.7 f, 2.10, 2.12 f., 2.16, 5.5. 414 CPVC, ch. 2 B §§ 3.1 f. 415 Z. B. CPS, Care and Treatment of Victims, Principle: „The CPS acts in the public interest and not just in the interests of any one individual. The interests of the victim are nonetheless important when deciding where the public interest lies […]“. 416 Die Anklage wird vom CPS gem. der in CJA 2003, sec. 29 f. geregelten charge und requisition procedure erhoben, siehe dazu Sprack, Criminal Procedure, 3.10 ff., 5.02. Ausnahmsweise kann die Polizei zudem gem. der in Police and Criminal Evidence Act 1984 (PACE), sec. 24, 37 geregelten arrest without warrant and charge procedure vorgehen, Sprack, Criminal Procedure, 3.13 ff. Die endgültige Entscheidung, ob die festgenommene Person angeklagt wird, darf die Polizei allerdings nur bei einigen leichteren Delikten unabhängig von dem CPS treffen und muss dabei Richtlinien befolgen, die der DPP herausgegeben hat, PACE, sec. 37(7), 37 A, 37B; Sprack, Criminal Procedure, 3.28. In den meisten Fällen muss die Polizei hingegen die Anklageentscheidung dem CPS überlassen. Siehe auch Kap. 3 A III 2 a) aa).

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Anklageentscheidungen.417 Die Anklageentscheidung ist eine Ermessensentscheidung, es gilt also grundsätzlich das Opportunitätsprinzip. Bei Ausübung des Anklageermessens hat der jeweilige Staatsanwalt allerdings Richtlinien einzuhalten, die der DPP in dem Code for Crown Prosecutors (im Folgenden: CCP) festlegt.418 Staatsanwälte, die im Namen anderer Behörden agieren, folgen diesen Richtlinien ebenfalls.419 Damit determinieren die Richtlinien faktisch die Anklageentscheidung in jedem öffentlich geführten Strafverfahren. Nach ihnen darf ein Staatsanwalt grundsätzlich nur Anklage erheben bzw. ein Verfahren fortführen, wenn beide Voraussetzungen des sog. Full Code Tests erfüllt sind.420 Die erste Voraussetzung des Full Code Tests ist die Erfüllung eines bestimmten Beweisstandards (evidential stage). Der Staatsanwalt muss überzeugt sein, dass genügend Beweise für eine realistische Aussicht einer Verurteilung vorliegen.421 Dafür muss die Verurteilung wahrscheinlicher sein als der Freispruch.422 Bei Prüfung dieser Voraussetzung muss der Staatsanwalt objektiv vorgehen und auch mögliche Beweise zugunsten des Beschuldigten einbeziehen.423 Ein Verfahren, das diesen Beweisstandard nicht erfüllt, ist unverzüglich einzustellen, auch wenn das zugrunde liegende (vermeintliche) Geschehen noch so ernst, schwerwiegend oder delikat sein mag.424 Wenn ausreichend Beweise für die Anklage vorliegen, hat der Staatsanwalt in einem zweiten Schritt zu erwägen, ob das öffentliche Interesse eine Strafverfolgung 417 Welche Behörden dies sind, bestimmt CJA 2003, sec. 29(5). Dazu gehört z. B. das Serious Fraud Office. Diese sonstigen, in CJA 2003, sec. 29(5) als public prosecutor aufgeführten Behörden führen nicht einmal 25 % aller Anklageverfahren, siehe Sprack, Criminal Procedure, 4.19. 418 Der CPP ist ein untergesetzliches Regelwerk, in dem der DPP Richtlinien für die Tätigkeit des CPS festlegt. Der DPP muss den Code erlassen, PoOA 1985, sec. 10. Krit. zum praktischen Einfluss des Codes auf Verfolgungsentscheidungen aber Padfield/Bild, Criminal Justice Process, S. 162. 419 CCP, Jan. 2013, § 1.3 S. 2. 420 CCP, Jan. 2013, § 3.4. Im Sonderfall, dass noch nicht genug Beweise für eine Anklage vorliegen, aber Fluchtgefahr besteht, gilt allerdings der sog. Threshold Test. Dabei kann der CPS bei Gericht beantragen, dass der Verdächtige angeklagt (charge) wird und inhaftiert bleibt, obwohl die Beweisstandards des Full Code Tests noch nicht erfüllt sind. Zu Details siehe CCP, Jan. 2013, § 5.1 – 5.12; krit. Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 203 f.; Sprack, Criminal Procedure, 5.27. 421 CCP, Jan. 2013, § 4.4 S. 1: „Prosecutors must be satisfied that there is sufficient evidence to provide a realistic prospect of conviction against each suspect on each charge.“ 422 Siehe CCP, Jan. 2013, § 4.5 S. 2: „It means that an objective, impartial and reasonable jury or bench of magistrates or judge hearing a case alone, properly directed and acting in accordance with the law, is more likely than not to convict the defendant of the charge alleged.“ – Zu dem vor 1985 verwendeten, voraussetzungsärmeren prima facie-Test siehe Ashworth/ Redmayne, Criminal Process, S. 200. 423 CCP, Jan. 2013, § 4.4 S. 2, 4.5 S. 1; erläuternd Ward/Akhatar, English Legal System, S. 596 f. 424 CCP, Jan. 2013, § 4.4. S. 3. Siehe auch id., § 3.3.

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erfordert (public interest stage).425 Diese Voraussetzung spiegelt die Tradition im englischen System, dass eine Straftat auch bei Vorliegen ausreichender Beweise nicht automatisch verfolgt werden muss.426 Grundsätzlich soll nach den Richtlinien allerdings eine Verfolgung stattfinden, außer wenn der Staatsanwalt überzeugt ist, dass die öffentlichen Beweggründe, die gegen die Strafverfolgung sprechen, die öffentlichen Interessen zugunsten der Verfolgung überwiegen.427 Fälle, deren Verfolgung nicht im öffentlichen Interesse liegt, sind unverzüglich einzustellen.428 Um den Staatsanwälten die Prüfung des öffentlichen Interesses zu erleichtern, sind im CCP sieben Fragen aufgeführt, anhand derer die entscheidungsrelevanten Faktoren ermittelt werden sollen.429 Es liegt allerdings im Ermessen des jeweiligen Staatsanwalts, die für den Einzelfall relevanten Faktoren zu identifizieren und zu gewichten.430 Zudem können auch weitere, nicht im CCP, aber in anderen Veröffentlichungen des DPP genannte Faktoren einbezogen werden.431 Die für den Einzelfall als relevant identifizierten Faktoren sollen sodann in eine Gesamtabwägung eingestellt werden.432 Zu den einzubeziehenden Faktoren gehören unter anderem die Schwere des Delikts, die Schwere der Schuld der verdächtigten Person, die Auswirkungen der Tat auf die Gesellschaft, die auch unter Kostengesichtspunkten abzuwägende Verhältnismäßigkeit der Verfolgung sowie mögliche Auswirkungen der Verfolgung auf die nationale Sicherheit und internationale Beziehungen.433 Im Rahmen dieser Faktoren wird die Opferperspektive relevant. Denn bei der Beurteilung, ob die Verfolgung im öffentlichen Interesse liegt, soll der Staatsanwalt auch die Umstände des Opfers sowie den Schaden, der dem Opfer entstanden ist, berücksichtigen.434 Als besondere Umstände des Opfers gelten, ob das Opfer besonders verletzlich ist, eine Vertrauensbeziehung zwischen Verdächtigem und Opfer besteht oder das Opfer zum Tatzeitpunkt für die Gesellschaft tätig geworden ist. Diese Faktoren sollen die Verfolgung nahelegen. Gleiches gilt, wenn der Tatbege425

CCP, Jan. 2013, § 4.7. CCP, Jan. 2013, § 4.8 S. 1; Sprack, Criminal Procedure, 5.24. 427 CCP, Jan. 2013, § 4.8 S. 2. Allerdings kann der Staatsanwalt auch entscheiden, dass es für Befriedigung des öffentlichen Verfolgungsinteresses ausreichend ist, wenn eine außergerichtliche Anordnung (out of court disposal) ergeht, id., § 4.8 S. 3; siehe dazu auch id., § 7. 428 CCP, Jan. 2013, § 3.3. 429 CCP, Jan. 2013, § 4.9, 4.12. 430 CCP, Jan. 2013, § 4.10. 431 CCP, Jan. 2013, § 4.9 S. 2. Siehe dazu z. B. die Handreichungen des CPS zu spezifischen Fragen der Strafverfolgung, abrufbar unter https://www.cps.gov.uk/prosecution-guidance (11. 2. 2018). 432 Vgl. hierzu CCP, Jan. 2013, § 4.9 S. 2, 4.11. 433 CCP, Jan. 2013, § 4.12. Besondere Überlegungen sind zudem bei minderjährigen Verdächtigen heranzuziehen, siehe, id., § 4.12 lit. d. Viele der im CPP aufgeführten Faktoren entsprechen Gründen, die bei der Strafzumessung mildernd (contra öffentliches Interesse) bzw. schärfend (pro öffentliches Interesse) berücksichtigt werden, siehe ausführlich Ashworth/ Redmayne, Criminal Process, S. 205 f. 434 CCP, Jan. 2013, § 4.12 lit. c. 426

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hung ein das Opfer diskriminierendes Motiv zugrunde lag. Ist zu erwarten, dass die Strafverfolgung sich negativ auf die physische oder mentale Gesundheit des Opfers auswirken könnte, ist dies als Faktor gegen die Strafverfolgung zu beachten. Außerdem soll der Staatsanwalt die Aussagen des Opfers über die Auswirkungen der Tat auf seine Person in die Abwägung einstellen. Diese Opferaspekte zusammengenommen sollen zur Bestimmung der Tatschwere herangezogen werden.435 Die Tatschwere wiederum soll sich auf den Grad des öffentlichen Verfolgungsinteresses auswirken. Der Opferperspektive wird damit bei der Entscheidung über die Anklageerhebung eine gewisse Bedeutung eingeräumt. Allerdings werden die auf das Opfer bezogenen Aspekte ausschließlich zu dem Zweck herangezogen, das Vorliegen des öffentlichen Interesses an der Verfolgung zu bewerten.436 Ein eigener Stellenwert wird der privaten Opferperspektive nicht eingeräumt. Zudem sind die Belange des Opfers nur ein Aspekt von vielen bei der Bewertung des öffentlichen Interesses, deren Gewichtung im Ermessen des jeweiligen Staatsanwaltes steht.437 Schließlich kommt es nicht auf die persönlichen Ansichten und Wünsche des Opfers an, sondern auf objektive Faktoren, die mit der Person des Opfers und seinen Erfahrungen in Verbindung stehen. Trotz Berücksichtigung der opferbezogenen Aspekte wird die Anklageentscheidung damit nicht im privaten Interesse des Opfers oder für das Opfer getroffen. Vielmehr bleibt die Anklageentscheidung eine Entscheidung, die am öffentlichen Interesse ausgerichtet ist und für die Gesellschaft als Ganze getroffen wird. Der CCP stellt damit übereinstimmend auch ausdrücklich fest, dass der CPS nicht als Anwalt des Opfers oder dessen Familie handele, sondern das öffentliche Interesse im Gesamten zu betrachten und zu vertreten habe.438 Allerdings zeichnet sich in der Rechtsprechung derzeit eine neue, noch unklare Entwicklung ab. Seit 2012 hat der Court of Appeal (Criminal Division) mehrmals erklärt, im Strafverfahren und damit auch bei der Entscheidung über die Strafverfolgung seien drei Interessen zu berücksichtigen: das Interesse des Staates, des Angeklagten und des Opfers.439 Diese Ausführungen könnten bedeuten, dass das 435

CCP, Jan. 2013, § 4.12 lit. a S. 2. Siehe so ausdrücklich CPS, Commitments to Support Victims and Witnesses, Rn. 4, abrufbar unter goo.gl/F3MBGZ (11. 2. 2018). Kritisch dazu, inwiefern Opferansichten für die Bewertung des öffentlichen Interesses Relevanz entfalten sollen Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 217. 437 Doak, Victims’ Rights, S. 122, stellt insofern die These auf, die Interessen des Opfers würden von den Staatsanwälten in der Folge nur berücksichtigt bei der Überlegung, ob auf das jeweilige (vermeintliche) Opfer als Zeuge im Prozess Verlass sei. Die Befürchtung, dass ein Opferzeuge im Prozess nicht wie erwartet aussagen würde, würde als Grund gegen die Anklage gewertet. Ein Interesse des Opfers an der Verfolgung beeinflusse die Verfolgungsentscheidung hingegen praktisch in der Regel nicht. 438 CCP, Jan. 2013, § 4.12 lit. c S. 10: „However, the CPS does not act for victims or their families in the same way as solicitors act for their clients, and prosecutors must form an overall view of the public interest.” 439 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608, Rn. 48; R v Quillan and others [2015] EWCA Crim 538, Rn. 34; R v Yasain (Mohammed Abdullah) [2015] EWCA Crim 1277, Rn 40. Siehe 436

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Interesse des Opfers nach Ansicht des Gerichts neuerdings als eigenständiger Faktor neben dem öffentlichen Interesse zu berücksichtigen ist. Eine Erläuterung, die insofern Klarheit schaffen würde, steht (noch) aus. Eine entsprechende Reform des CCP ist bisher allerdings nicht vorgenommen worden und auch sonst sind Reaktionen auf diese Ausführungen bisher ausgeblieben. Dies legt nahe, dass die Ausführungen des Gerichts letztlich auf die bestehende Rechtslage Bezug nehmen, nach der Opferinteressen ausschließlich im Rahmen des öffentlichen Interesses zu beachten sind. Insgesamt zeigt das Beispiel der Anklageentscheidung, dass der Staatsanwalt im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung opferbezogene Belange nur als einen möglichen Faktor bei der Bewertung des öffentlichen Interesses heranzieht. Ein eigenständiger Stellenwert kommt den Opferbelangen nicht zu und die persönlichen Ansichten des Opfers zur Verfolgung spielen in der Regel keine Rolle. Maßgebend ist letztlich das Interesse der Gesellschaft als Ganzer. (3) Ergebnis Im englischen Recht betreibt ein staatlicher Ankläger (public prosecutor) die öffentliche Strafverfolgung. Zumeist ist dies ein Staatsanwalt des CPS. Der Staatsanwalt handelt dabei als objektiver Minister of Justice, der das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung neutral vertritt. Interessen und Belange des individuellen Opfers zieht er allenfalls heran, um das Vorliegen des öffentlichen Interesses zu bewerten. Ansonsten obliegen dem CPS Opfern gegenüber lediglich Informations-, Unterstützungs- und Schutzpflichten. Insgesamt ist die Strafverfolgung im englischen Recht als bipolare Auseinandersetzung zwischen dem Staat, der das Interesse der Rechtsgemeinschaft vertritt, und dem Beschuldigten strukturiert.440 Ungeachtet dieser Grundstruktur – die spiegelt, was die Untersuchung des Straftatbegriffs und des Strafverfahrenszwecks bereits nahegelegt hat –, könnten im englischen Recht dennoch Rechtsinstitute existieren, die gewissermaßen systemdurchbrechend dem (mutmaßlichen) Opfer die Verfolgung eines Genugtuungsinteresses im Verfahren gestatten. Dem wird im Folgenden nachgegangen. cc) Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen In Anlehnung an die Ergebnisse der Analyse der RL 2012/29/EU wird dafür zunächst wie zum deutschen Recht untersucht, ob und ggf. zu welchem Zweck Opfer staatliche Entscheidungen, die Strafverfolgung nicht zu betreiben, anfechten können.

zu den Hintergründen der Killick-Entscheidung, die auf Unionseinfluss zurückgeht, Kap. 3 A III 2 a) cc) (1) (b). 440 Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 43; Shapland/Hall, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 163, 165 (victim-absent charging and prosecution).

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(1) Judicial review Historisch existierte im englischen Recht keine Möglichkeit, behördliche Entscheidungen, die Strafverfolgung nicht zu betreiben, anzufechten.441 In einem System ohne institutionalisierten Ankläger mit Anklagemonopol wurde das jedermann zustehende Recht, Privatstrafklage zu erheben, als ausreichend erachtet, um eine gleichmäßige Strafverfolgung sicherzustellen.442 Erst Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Möglichkeit entwickelt, Nichtverfolgungsentscheidungen der Polizei und später des CPS vor dem High Court überprüfen zu lassen.443 Dies geschieht bis heute im Rahmen der judicial review – einem Verfahren, in dem Gerichte Entscheidungen der Legislative und der Exekutive kontrollieren.444 (a) Die traditionelle Rolle des Opfers im Rahmen der judicial review (aa) Locus standi und Zweck der judicial review Grundsätzlich kann jeder die gerichtliche Überprüfung (judicial review) einer behördlichen Entscheidung beantragen, solange er über die allgemeine Antragsvoraussetzung des sog. locus standi bzw. standing verfügt. Diese in Senior Courts Act, sec. 31(3) geregelte Voraussetzung bedeutet, dass der Antragssteller ein hinreichendes Interesse an dem Überprüfungsgegenstand – dem Akt oder der Entscheidung einer Behörde – geltend machen muss.445 (Vermeintlichen) Opfern von Straftaten ist in der Vergangenheit in einigen Fällen ausreichendes standing zugesprochen worden, um die Entscheidungen des CPS, eine Straftat nicht zu verfolgen, 441 Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 149 ff. Lord Lawton bemerkte noch 1975, dass noch nie ein Gericht die Ermessensentscheidung des DPP über die Strafverfolgung eines Verdächtigten hinterfragt hätte, R v Race Relations Board, ex parte S [1975] 1 WLR 1686, 1697. 442 So noch die Polizei im ersten grundlegenden Urteil zur Zulassung einer gerichtlichen Kontrolle von Nichtverfolgungsentscheidungen der Polizei, R v Metropolitan Police, ex parte Blackburn (No 1) [1968] 1 All ER 763. Dagegen aber bereits damals Lord Justice Salmon, id. 774 I, und Lord Justice Edmund Davis, id. 777 F. Vgl. auch Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 221. 443 R v Metropolitan Police Commissioner, ex parte Blackburn (No 3) [1973] 1 QB 241; folgend R v General Council of the Bar, ex parte Percival [1990] 3 All ER 137. Schon länger anerkannt war zudem die Möglichkeit, eine „general policy“ der Verfolgungsbehörden gerichtlich überprüfen zu lassen, z. B. keine Diebstähle mit einem Wert unter 100 Euro zu verfolgen, siehe dazu R v Metropolitan Police Commissioner, ex parte Blackburn (No 1) [1968] 1 All ER 763; Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 221. Zur Entwicklung der Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen anderer Strafverfolgungsbehörden Hilson, Crim. L. Rev. 1993, 739, 740. 444 Die judicial review ist zu unterscheiden von der appellate review, bei der Gerichtsentscheidungen von einer höheren Instanz überprüft werden. 445 Senior Courts Act, sec. 31(3): „[…] the applicant has a sufficient interest in the matter to which the application relates.“ Siehe dazu Auburn/Moffett/Sharland, Judicial Review, 24.15. Ein besonderes Interesse an dem Grund, der die Überprüfung veranlasst, bedarf es hingegen nicht, id. 24.20.

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gerichtlich überprüfen zu lassen.446 Die Bejahung des standing von Opfern in diesen Fällen könnte indizieren, dass das englische System ein subjektives Recht des Opfers auf Strafverfolgung anerkennt. Dies gilt besonders unter Berücksichtigung der privatrechtlichen Herkunft der locus standi-Voraussetzung. Denn ursprünglich wurde das standing nur bejaht, wenn ein eigenes Recht des Antragsstellers im Überprüfungsverfahren auf dem Spiel stand.447 Allerdings haben sich Auslegung und Anwendung des locus standi-Kriteriums im Zuge der Entwicklung des öffentlich-rechtlichen judicial review-Verfahrens erheblich gewandelt. Ursprünglich war ausschließlich das Parlament als höchstes rechtliches und politisches Forum für die Kontrolle der Exekutive in England und Wales zuständig; eine gerichtliche Kontrolle existierte nicht.448 Im Laufe der Zeit bildete sich jedoch die Überzeugung, dass auch die Judikative kontrollieren sollte, dass die Verwaltung ihre Kompetenzen einhält und ihre Pflichten erfüllt.449 Deshalb wurde die aus dem Privatrecht bekannte judicial review für die Kontrolle der Verwaltung übernommen inklusive der aus dem Privatrecht bekannten locus standiVoraussetzung.450 Gemäß dieser Voraussetzung musste der Antragssteller ein subjektives Recht am Überprüfungsgegenstand geltend machen können. Anfangs erkannten die Gerichte den locus standi von Antragsstellern bei Anträgen zur Kontrolle von Verwaltungshandeln dementsprechend nur sehr zögerlich und restriktiv an, auch um Klagewellen und Klagen unbeteiligter Personen auszuschließen.451 Diese strikte Anwendung der locus standi-Voraussetzung begründete jedoch bald die Sorge, dass die Kontrolle der Verwaltung leer laufen könnte, weil die Verwaltung anders als

446 1994 sprach ein Gericht erstmals einem Straftatopfer die Möglichkeit zu, eine Nichtverfolgungsentscheidung des CPS einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen in R v DPP, ex parte C [1995] 1 Cr App R 136. Weiterführend R v DPP, ex parte Manning [2001] QB 330; R (Guest) v DPP [2009] EWHC 594 (Admin), [2009] Cr App R 26. Siehe dazu Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 182 f.; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 149 f. - Die anderen Verwaltungsbehörden, die ebenfalls Strafverfolgung betreiben, unterliegen keinem einheitlichen Kontrollregime, sondern organisieren selbstständig interne Kontrollverfahren. Anträge auf interne Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen haben nur selten Erfolg. Eine gerichtliche Überprüfung (judicial review) wäre zwar grundsätzlich möglich. Praktisch sind jedoch kaum erfolgreiche Fälle eines solchen Vorgehens bekannt; siehe dazu Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 183. 447 Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 582. 448 Leyland/Anthony, Administrative Law, S. 195 f. 449 Siehe Lord Diplock in R v Inland Revenue Commissioners, ex parte National Federation of Self Employed and Small Businesses Ltd [1982] AC 617, 644 F: „It is not, in my view, a sufficient answer to say that judicial review of the actions of officers or departments of central government is unnecessary because they are accountable to Parliament for the way in which they carry out their functions. They are accountable to Parliament for what they do so far as regards efficiency and policy, and of that Parliament is the only judge; they are responsible to a court of justice for the lawfulness of what they do, and of that the court is the only judge.“ 450 Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 582. 451 Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 583.

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Privatpersonen im Privatrecht oft im rein öffentlichen Interesse handelt.452 Befürchtet wurde, dass selten Personen über ein subjektives Recht auf Einhaltung der öffentlichen Pflicht verfügen würden und somit niemand die gerichtliche Kontrolle würde anstoßen können. In der Folge entwickelten die Gerichte einen immer liberaleren Umgang mit der locus standi-Voraussetzung.453 Zwar sollen mit diesem Kriterium weiterhin Anträge ausgeschlossen werden, die z. B. nur eine Verzögerung der endgültigen Bescheidung einer Sache oder die Erregung öffentlichen Interesses bezwecken. Gleichwohl genügt mittlerweile ein irgendwie geartetes Interesse an dem Verfahren. Ein subjektives Recht des Antragsstellers muss von dem Entscheidungsgegenstand nicht (mehr) abhängen. Vermehrt werden mittlerweile sogar Anträge auf judicial review zugelassen, die im öffentlichen Interesse gestellt werden.454 Ob das standing eines Antragsstellers in einem solchen Fall bejaht wird, hängt primär von der Begründetheit des Überprüfungsantrags (merits of the claim) ab.455 Zusätzlich wird u. a. einbezogen, wie wichtig es ist, dass im Einzelfall eine rechtswidrige Entscheidung korrigiert wird, wie bedeutsam die eigentliche Streitsache ist, und ob ein besser geeigneter Beschwerdeführer existiert.456 In der Gesamtschau ist vor allem relevant, dass der Antragssteller einen Pflichtverstoß der Verwaltung (substantial default or abuse) aufzeigen kann, und nicht, ob seine persönlichen Interessen durch den Überprüfungsgegenstand tangiert werden.457 Die judicial review behördlicher Entscheidungen zielt damit heute nicht (mehr) darauf, die Verletzung von Individualrechten (private rights) festzustellen oder ihnen

452 Siehe insbesondere Lord Diplock in R v Inland Revenue Commissioners, ex parte National Federation of Self Employed and Small Businesses Ltd [1982] AC 617, 644 E: „It would, in my view, be a grave lacuna in our system of public law if a pressure group, like the federation, or even a public spirited taxpayer, were prevented by outdated technical rules of locus standi from bringing the matter to the attention of the court to vindicate the rule of law and get the unlawful conduct stopped.“ Anschließend R v Secretary of State for Foreign Affairs ex parte The World Development Movement Ltd [1994] EWHC QB 1 (Admin) 10. Siehe auch Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 582 f. 453 Grundlegend R v Inland Revenue Commissioners, ex parte National Federation of Self Employed and Small Businesses Ltd [1982] AC 617; R v Secretary of State for Foreign Affairs ex parte The World Development Movement Ltd [1994] EWHC QB 1 (Admin) (mwN zur Entwicklung der Recht-sprechung), insbes. S. 10; R (Bulger) v Secretary of State for the Home Department [2001] EWHC Admin 119 Rn. 20; Auburn/Moffett/Sharland, Judicial Review, 24.16; Elliott/Quinn, The English Legal System, S. 620; Southey/Weston/Bunting/Desai, Judicial Review, S. 7; Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 583. 454 Auburn/Moffett/Sharland, Judicial Review, 24.26. 455 R v Secretary of the State for Foreign and Commonwealth Affairs, ex parte World Development Movement Ltd [1995] 1 WLR 386, 395; Auburn/Moffett/Sharland, Judicial Review, 24.28. 456 R v Secretary of the State for Foreign and Commonwealth Affairs, ex parte World Development Movement Ltd [1995] 1 WLR 386, 395; Auburn/Moffett/Sharland, Judicial Review, 4.29 mwN. 457 Wade/Forsyth, Administrative Law, S. 592 f.; siehe auch die folgenden Nachweise.

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abzuhelfen.458 Stattdessen steht die objektive Kontrolle von Fehlern der Verwaltung im Mittelpunkt, es geht um die Verhinderung des Missbrauchs öffentlicher Macht.459 Dass einer Person locus standi zugesprochen wird, ist damit kein zwingendes Indiz dafür, dass ihre privaten Rechte durch die angegriffene Verwaltungshandlung unmittelbar betroffen würden. Wird einer Privatperson locus standi zugesprochen, um das Unterlassen einer Pflichterfüllung durch eine Behörde vor Gericht anzuprangern, bedeutet dies daher auch nicht notwendigerweise, dass die Person ein subjektivöffentliches Recht auf Erfüllung dieser Pflicht durch die Behörde hätte. Dass einem Straftatopfer locus standi für die Anfechtung einer behördlichen Nichtverfolgungsentscheidung zugesprochen wird, heißt deshalb in der Konsequenz auch nicht zwingend, dass das Opfer über ein subjektives Recht auf Strafverfolgung verfügen würde.460 Diese Schlussfolgerung wird bestärkt durch die Tatsache, dass es eine hinreichende, aber nicht notwendige Voraussetzung der Antragsbefugnis ist, das (vermeintliche) Opfer der nicht verfolgten Straftat zu sein. Denn die Möglichkeit, judicial review einer Nichtverfolgungsentscheidung anzustrengen, steht grds. auch anderen Personen offen, deren standing entsprechend der dargelegten Grundsätze bejaht wird. Außerdem kann das (vermeintliche) Opfer die gerichtliche Überprüfung der Entscheidung über die Anklage nur vor dem High Court in einem vom Strafprozess getrennten Verfahren begehren, nicht aber – wie der Beschuldigte – vor dem Strafgericht.461 Die Möglichkeit des Opfers, Verfolgungsentscheidungen vor dem Strafgericht anzugreifen, wird ihm vielmehr gerade mit dem Argument versagt, dass es keine Partei des Strafverfahrens sei und deshalb vor dem Strafgericht kein standing habe.462

458 R v Secretary of the State for Foreign and Commonwealth Affairs, ex parte World Development Movement Ltd [1995] 1 WLR 386, 395; R v Somerset County Council, ex parte Dixon [1998] Env LR 111, 121; Auborn/Moffett/Sharland, Judicial Review, 4.28. 459 R v Somerset County Council, ex parte Dixon [1998] Env LR 111, 121; R v Secretary of the State for Foreign and Commonwealth Affairs, ex parte World Development Movement Ltd [1995] 1 WLR 386, 395; R v Inland Revenue Commissioners, ex parte National Federation of Self-Employed and Small Buisnesses [1982] AC 617. Auborn/Moffett/Sharland, Judicial Review, 4.28; Elliott/Quinn, The English Legal System, S. 614; Leyland/Anthony, Administrative Law, S. 211. – So speziell zur judicial review, die von Straftatopfern angestrengt wurde: R (Bulger) v Secretary of State for the Home Department [2001] EWHC 119 (Admin) Rn. 20; Hilson, Crim. L. Rev. 1993, 739; Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 202 Fn. 18. 460 Vgl. Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 202 Fn. 18. 461 Senior Courts Act 1981, sec. 31(3). 462 R (E., S. and R.) v DPP [2011] EWHC 1465 (Admin) Rn. 83. Der Administrative Court erlaubte daher den Opfern einer Straftat, die Entscheidung, die Tat zu verfolgen, ausnahmsweise vor dem Administrative Court anzugreifen. Normalerweise können Entscheidungen für die Strafverfolgung nur vor dem Strafgericht angegriffen werden. Dieser Weg war dem Opfer jedoch mangels standing vor dem Strafgericht versperrt. Siehe zu dem Fall auch Spencer, Cambridge L. J. 71 (2012), 27, 28.

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(bb) Inhaltliche Überprüfung und Rechtsfolgen Inhaltlich prüft das Gericht bei der judicial review, ob die behördliche Entscheidung rechtmäßig ist und die zur Entscheidung berufene Stelle ihr Ermessen eingehalten hat.463 Nichtverfolgungsentscheidungen des CPS kann das Gericht auf drei mögliche Fehler untersuchen: Rechtswidrigkeit der Entscheidung, Widerspruch der Entscheidung zur offiziellen Verfolgungspolitik, die im CCP niedergelegt ist, und Ermessensfehler in dem Sinne, dass kein vernünftiger Staatsanwalt eine solche Entscheidung getroffen hätte.464 Eine fehlerhafte Entscheidung hebt das Gericht ggf. auf. Die gerichtliche Aufhebung einer strafverfolgungsbehördlichen Entscheidung erfolgt allerdings nur äußerst selten.465 Denn die judicial review von Nichtverfolgungsentscheidungen gilt als Ausnahmerechtsbehelf. Einflussreich festgestellt und begründet hat diesen Ausnahmecharakter Lord CJ Bingham in der grundlegenden Entscheidung zur gerichtlichen Kontrolle von Nichtverfolgungsentscheidungen des DPP, R v DPP, ex parte Manning.466 Grund für die zurückhaltende gerichtliche Kontrolle sei, dass das Parlament allein dem DPP als Kopf einer unabhängigen, professionellen Verfolgungsbehörde die Entscheidung über die Strafverfolgung übertragen habe. Der DPP sei nur dem Attorney General verantwortlich, der die Einhaltung des öffentlichen Interesses überwache. Außerdem verfügten der DPP bzw. die ihm unterstellten Staatsanwälte über Erfahrung und Wissen, das für die Verfolgungsentscheidung notwendig sei und den meisten Gerichten fehle. Schließlich erfordere die Verfolgungsentscheidung eine Prognose-Entscheidung über den Verfahrensausgang, die selten für klar falsch oder rechtswidrig befunden werden könne. Deshalb gelangten die Gerichte kaum einmal zu dem Ergebnis, dass 463

Hilson, Crim. L. Rev. 1993, 739; Ingman, English Legal Process, S. 411. R v DPP, ex parte C [1995] 1 Cr App R 136, 141 D. Kürzlich z. B. bestätigt in L v DPP, Pratt v Crown Prosecution Service (Northumbria) [2013] EWHC 1752 (Admin) Rn. 2 f.; R (F) v DPP v „A“ [2013] EWHC 945 (Admin) Rn. 6 (Diesem Urteil wird allerdings vorgeworfen, inhaltlich von dem etablierten Standard abzuweichen und damit im Ergebnis die Anwendbarkeit der judicial review auszuweiten, weil das Urteil die Staatsanwaltschaft letztlich zur rückwirkenden Beachtung von Case Law verpflichte, das erst nach der Einstellungsentscheidung ergangen ist, Manikis, Pub. L. 2017, 63, 72 f.); R (S) v Crown Prosecution Service [2015] EWHC 2868 (Admin) Rn. 15. Für einen Überblick über die Rechtsprechung siehe von Berg, Criminal Judicial Review, ch. 5 – 28 ff. 465 R (S) v Crown Prosecution Service [2015] EWHC 2868 (Admin) Rn. 15; von Berg, Criminal Judicial Review, ch. 5 – 27. Aufgrund von R (F) v DPP v „A“ [2013] EWHC 945 (Admin) prognostiziert aber zumindest Manikis, Pub. L. 2017, 63, 73 zukünftig eine höhere Erfolgsquote von judicial review-Verfahren. Ob sich diese auf einem einzelnen Urteil beruhende Prognose tatsächlich bewahrheiten wird, bleibt, insbesondere in Anbetracht der Entwicklung des unten beschriebenen VRRS, abzuwarten. 466 R v DPP, ex parte Manning [2001] QB 330, 343; damit bestätigend R v DPP, ex parte C [1995] 1 Cr App R 136, 136 D, 140 A. Kürzlich z. B. bestätigt in L v DPP, Pratt v Crown Prosecution Service (Northumbria) [2013] EWHC 1752 (Admin) Rn. 5 f. Vergleichbar argumentiert Lord Bingham auch in Bezug auf Anklageentscheidungen des Serious Fraud Office in R (Corner House Research) v Director of the Serious Fraud Office [2009] 1 AC 756, 840 UKHL. 464

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eine Entscheidung über die Strafverfolgung bad in law sei – der einzige Grund, der die Gerichte zum Eingreifen ermächtige. Insgesamt existiert damit zwar eine gerichtliche Kontrolle von behördlichen Verfolgungsentscheidungen, sie ist aber die Ausnahme.467 Zudem zeigen die Ausführungen Binghams, dass Verfolgungsentscheidungen anhand des öffentlichen Interesses und nicht zur Erfüllung subjektiver Individualansprüche getroffen werden. Hat das Gericht ausnahmsweise die behördliche Nichtverfolgungsentscheidung aufgehoben, weist es die Behörde an, selbst erneut über die Verfolgung zu befinden.468 Das Gericht entscheidet also nicht anstatt der zuständigen Stelle.469 Der Staatsanwalt kann sich in der Folge auch abermals gegen die Verfolgung entscheiden.470 Die erneute behördliche Entscheidung wird traditionell von dem Grundsatz geleitet, dass im englischen System Rechtssicherheit (certainty) höher bewertet wird als materielle Gerechtigkeit (justice).471 Ist dem Verdächtigen z. B. zuvor von offizieller Seite versichert worden, dass er nicht verfolgt werde, wird sein Vertrauen als schutzwürdig anerkannt und die Verfolgung wird in der Regel trotz des Gerichtsurteils nicht erneut aufgenommen.472 Hintergrund dieser Gewichtung soll sein, dass das Strafverfahren ein bilateraler Streit zwischen der im öffentlichen Interesse stattfindenden Strafverfolgung und der Verteidigung sei und in Abwägungsentscheidungen in der Folge keine weiteren Interessen – z. B. ein Genugtuungsinteresse

467 Krit. deshalb Kirchengast, J. Victimology 3/2016, 11, 19; Starmer (damaliger DPP), Prosecutorial Discretion, S. 11; ders., Crim. L. Rev. 2012, 526, 529; verhalten krit. auch Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 151. 468 Siehe zu den möglichen Rechtsfolgen (remedies) in judicial review-Verfahren Senior Courts Act 1981, sec. 31(1); Elliott/Quinn, The English Legal System, S. 618 f. Speziell im Kontext der Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 151. Die Entscheidung, ob und welche Rechtsfolge zugesprochen wird, steht im Ermessen des Gerichts, Southey/Weston/Bunting/Desai, Judicial Review, S. 211. 469 So deutlich z. B. R v DPP, ex parte Manning [2001] QB 330, 349: „We accordingly quash the decision. In doing so we must emphasise that the effect of this decision is not to require the Director to prosecute. It is to require reconsideration of the decision whether or not to prosecute. On the likely or proper outcome of that reconsideration we express no opinion at all.“ Siehe auch von Berg, Criminal Judicial Review, ch. 5 – 27; allgemein zur judicial review siehe Ingman, English Legal Process, S. 411. 470 R v DPP, ex parte Manning [2001] QB 330; dazu Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 151. 471 Starmer, Crim. L. Rev. 2014, 777, 783. Siehe auch CCP, Jan. 2013, § 10 (1) S. 1: „People should be able to rely on decisions taken by the CPS.“ 472 CCP, Jan. 2013, § 10 (1) S. 2 legt fest: „Normally, if the CPS tells a suspect or defendant that there will not be a prosecution, or that the prosecution has been stopped, the case will not start again.“ § 10 (1) S. 2 und § 10 (2) beschreiben, unter welchen Ausnahmebedingungen die Entscheidung dennoch revidiert werden kann. Zu der Entwicklung, wann der CPS eine Nichtverfolgungsentscheidung trotz Mitteilung an den Verdächtigen revidieren kann, Starmer, Crim. L. Rev. 2012, 526, 527 f. Für eine Zusammenfassung des relevanten Case Law siehe R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 38 ff.

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des Opfers – einzustellen seien.473 Unabhängig von dieser Interessensgewichtung können der Wiederaufnahme der Verfolgung (inzwischen) zudem rechtliche Gründe entgegen stehen.474 Die Strafverfolgung wird somit selbst im Falle einer rechtswidrigen Nichtverfolgungsentscheidung nur selten wieder aufgenommen. Im Ergebnis erreichen Opfer mit der judicial review somit nur selten die Durchführung der strafrechtlichen Verfolgung. (cc) Ergebnis Das judicial review-Verfahren ist darauf ausgerichtet, sicherzustellen, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre öffentliche Pflicht erfüllen, rechtmäßige und ermessensgerechte Verfolgungsentscheidungen zu treffen.475 Die endgültige Entscheidung über die Verfolgung obliegt auch nach der gerichtlichen Kontrolle der Staatsanwaltschaft. Entscheidungskriterium bleibt, ob die Verfolgung dem öffentlichen Interesse entspricht. Private Interessen des Opfers an der Verfolgung spielen traditionell keine Rolle. Zudem handelt es sich bei der judicial review um einen Ausnahmerechtsbehelf, der selten Erfolg hat. Der praktische Nutzen des Verfahrens wird aus Sicht der betroffenen Bürger, insbesondere der Verbrechensopfer, deshalb verhalten bewertet.476 In seiner traditionellen Form bezweckt die judicial review jedenfalls nicht, dem Straftatopfer die Verfolgung eines persönlichen Genugtuungsinteresses zu ermöglichen. (b) Die Entscheidung R v Killick Offen ist allerdings, ob die Möglichkeit von Straftatopfern, Nichtverfolgungsentscheidungen des CPS gerichtlich kontrollieren zu lassen, vor dem Hintergrund der 2011 ergangenen Revisionsentscheidung R v Killick477 neu zu bewerten ist. Der Entscheidung lag folgendes Verfahren zugrunde: Im Jahr 2006 war gegen Herrn Killick der Vorwurf erhoben worden, drei Männer sexuell missbraucht zu haben.478 Ein Staatsanwalt des CPS entschied im Juni 2007, keine Strafverfolgung gegen Killick anzustrengen, und versicherte gegenüber dessen Anwalt, dass Killick nicht verfolgt werde. Die Verletzten legten gegen diese Entscheidung eine Beschwerde im internen Beschwerdeverfahren des CPS ein. Im Mai 2009 versicherte 473 Starmer, Crim. L. Rev. 2014, 777, 783 kritisiert, dass dies mit Opferrechten nicht vereinbar sei. 474 In R (B) v DPP [2009] EWHC 106 (Admin); [2009] 1 WLR 2072 war der Angeklagte in der Zwischenzeit freigesprochen worden. Der CPS konnte seine Nichtverfolgungsentscheidung deshalb nicht erneut überprüfen, das Opfer erhielt aber Schadensersatz. 475 Hilson, Crim. L. Rev. 1993, 739. 476 Kirchengast, J. Victimology 3/2016, 11, 19; Starmer (damaliger DPP), Prosecutorial Discretion, S. 11. Verhalten krit. Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 151, der dem Verfahren zumindest präventive Wirkung zuspricht, weil es den CPS motiviere, Verfolgungsentscheidungen sorgfältiger zu treffen. 477 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608. 478 Zu dem folgenden Sachverhalt siehe R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 1 ff.

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die Staatsanwaltschaft Killick erneut, dass keine Verfolgung gegen ihn betrieben werde. Im Dezember 2009 gab der CPS dessen ungeachtet der Beschwerde der Opfer statt, hob die Nichtverfolgungsentscheidung auf und eröffnete das Strafverfahren gegen Killick. Dieser begehrte daraufhin die Einstellung des Verfahrens mit dem Argument, es sei ein abuse of process, die Strafverfolgung gegen ihn zu betreiben, weil ihm zuvor offiziell in den Jahren 2007 und 2009 versichert worden sei, dass er nicht verfolgt würde. Das Strafgericht wies diesen Einwand jedoch ab. Im Januar 2011 wurde Killick von der Jury zu einer dreieinhalb-jährigen Haftstrafe verurteilt. Gegen dieses Urteil legte Killick Revision ein, unter anderem mit dem Argument, dass die Entscheidung, das Verfahren nicht wegen abuse of process einzustellen, falsch gewesen sei. Das Revisionsgericht (Court of Appeal) stellte zunächst fest, dass die Öffentlichkeit auf eine Entscheidung des CPS vertrauen dürfe.479 Wenn der CPS einem Verdächtigen mitteile, dass er nicht verfolgt werde, dürfe das Verfahren grds. nicht erneut eröffnet und betrieben werden. Allerdings sei davon in gut begründeten Fällen eine Ausnahme zu machen, besonders wenn die ursprüngliche Entscheidung falsch gewesen sei. Insofern sei der CPS verpflichtet, der Bitte des Opfers um Überprüfung der Nichtverfolgungsentscheidung nachzukommen.480 Bemerkenswert ist die Argumentation, mit der das Gericht diese Prüfpflicht begründete:481 Wenn ein Staatsanwalt über die Verfolgung im Einzelfall entscheide, müsse er die Interessen des Staates, des Beschuldigten und des Opfers berücksichtigen. Weil eine Entscheidung, die Strafverfolgung nicht zu betreiben, in Wahrheit eine finale Entscheidung für das Opfer sei, müsse das Opfer das Recht haben, eine Nichtverfolgungsentscheidung überprüfen zu lassen.482 Dieses Recht des Opfers auf Überprüfung der Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft sei Teil des „law and procedure of England and Wales“.483 Es sei ein integraler Bestandteil der Ausübung des Verfolgungsermessens und dem Verfolgungsprozess inhärent.484 Auf Basis dieser Argumentation entschied das Gericht, dass in die Beurteilung, ob die erneute Verfolgung ein abuse of process sei, einfließen müsse, dass der CPS mit der Kontrolle seiner Nichtverfolgungsentscheidung ein Recht des Opfers auf Überprüfung erfülle.485 Damit stellte das Gericht das Interesse des Opfers an einer Überprüfung dem Interesse des Beschuldigten, auf die Zusage der Nichtverfolgung vertrauen zu dür-

479 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 46, zur Begründung beruft sich das Gericht auf die im CCP niedergelegte Verfolgungspolitik des CPS. 480 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 48. 481 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 48. 482 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 48. 483 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 49 f. 484 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 53, 57. 485 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 50; dazu von Berg, Criminal Judicial Review, ch. 5 – 37.

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fen, gegenüber.486 Im konkreten Fall lehnte das Revisionsgericht die Annahme eines abuse of process ab.487 Die Killick-Entscheidung enthält damit einige Thesen, die die traditionelle Auffassung zur Interessenverteilung im Strafverfahren im englischen Recht verändern könnten. Zum einen sollen bei der Verfolgungsentscheidung die Interessen des Staates, des Beschuldigten und des Opfers berücksichtigt werden. Nach traditioneller Auffassung werden die Interessen des Opfers hingegen nicht als eigenständiger Aspekt in die Abwägung eingestellt, sondern fließen allenfalls als ein Faktor in die Bewertung des öffentlichen Interesses ein.488 Zum anderen soll das Straftatopfer im englischen Rechtssystem über ein subjektives Recht auf Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen verfügen.489 Mit diesem Recht soll eine Pflicht des CPS korrespondieren, Nichtverfolgungsentscheidungen auf Bitte des Opfers zu überprüfen. Bereits vor der Killick-Entscheidung war anerkannt, dass Verbrechensopfer beantragen können, dass ein Gericht eine Nichtverfolgungsentscheidung des CPS überprüft (judicial review).490 Wie ausgeführt, dient diese Möglichkeit traditionell aber nicht der Durchsetzung eines subjektiven Verfolgungsinteresses des Opfers, sondern der Kontrolle der behördlichen Ermessensentscheidung im öffentlichen Interesse. In der Killick-Entscheidung wird dagegen argumentiert, das Interesse des Opfers an der Verfolgung sei bei der Anklageentscheidung zu berücksichtigen und das Opfer habe ein Recht auf die Überprüfung einer Nichtverfolgungsentscheidung, weil diese endgültig für das Opfer sei. Dies legt nahe, dass das Gericht neuerdings ein subjektives Interesse des Opfers an der Strafverfolgung „seines“ Falls anerkennen will, zu dessen Durchsetzung das Opfer die Überprüfung einer Nichtverfolgungsentscheidung verlangen kann. Das Urteil nennt keine theoretische Herleitung für dieses subjektive Opferrecht auf Kontrolle von Nichtverfolgungsentscheidungen. Insofern bleibt offen, ob das Recht aus einem Gesetz, dem Common Law oder einem übergeordneten Grundrecht resultieren soll. Die Annahme eines solchen Opferrechts entspricht jedenfalls nicht dem bisherigen Konsens.491 Insofern hatte auch die Krone in dem Verfahren argumentiert, dass das Opfer kein Recht darauf habe, die Überprüfung einer Nichtver486

Stramer, Crim. L. Rev. 2012, 526, 528. R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 56. Zur Begründung führte das Gericht zudem aus, dass im konkreten Sachverhalt gute Gründe für die Kontrolle der Nichtverfolgungsentscheidung vorgelegen hätten. Zugleich habe der CPS Herrn Killick nie klar und unwiderruflich versichert, dass er nicht verfolgt werde. Herr Killick habe deshalb auch nicht zu seinem Nachteil auf eine solche Versicherung vertraut, siehe id. Rn 44 f. 488 Siehe Kap. 3 A III 2 a) bb) (2). 489 Stramer, Crim. L. Rev. 2012, 526, 527. Dagegen aber Carre, North East L. Rev. 4 (2016), 62, 66, die moniert, die Entscheidung verschaffe dem Opfer keine wirkliche Stimme im Strafprozess, weil das Recht nicht für alle Opfer gelte und den CPS nicht daran hindere, das Opfer weiterhin im Strafprozess zu marginalisieren. 490 Kap. 3 A III 2 a) cc) (1). 491 Stramer, Crim. L. Rev. 2012, 526, 527. 487

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folgungsentscheidung zu verlangen, sondern sich allenfalls über das Ausbleiben beschweren könne.492 Die weiteren Ausführungen des Gerichts ergeben ein ambivalentes Bild. Trotz des Opferrechts auf Überprüfung soll die Entscheidung über die Verfolgung von einem unabhängigen Strafverfolger in unparteiischer Weise getroffen werden.493 Diese Forderung nach einer unabhängigen und objektiven Verfolgungsentscheidung revidiert zumindest partiell die gerichtliche These, das subjektiv-individuelle Verfolgungsinteresse des Opfers sei als eigenständiger Faktor bei der Verfolgungsentscheidung zu berücksichtigen. Weiterhin begründet das Gericht die Prüfpflicht des CPS unter anderem damit, dass es für den CPS als öffentliche Behörde unangemessen wäre, kein Kontrollverfahren vorzusehen.494 Diese Argumentation ähnelt der bisher vertretenen Auffassung, dass Ermessensentscheidungen von öffentlichen Behörden im allgemeinen Interesse an der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidungen kontrollierbar sein müssen. Insofern scheinen nach Ansicht des Gerichts das Recht auf Prüfung und die Pflicht zur Prüfung doch (auch) der Kontrolle der Verwaltung – und nicht (nur) der Durchsetzung individueller Interessen – zu dienen. Schließlich begründet das Gericht das Recht des Opfers nur in Bezug auf eine behördeninterne Überprüfung. Gerichte sollten Nichtverfolgungsentscheidungen weiterhin nur anhand der etablierten strikten Standards kontrollieren.495 Insofern müsse der DPP ein Verfahren entwickeln, in dem das Opfer sein Recht auf Überprüfung von Verfolgungsentscheidungen behördenintern durchsetzen könne.496 Diese partiell widersprüchlichen Ausführungen begründen Zweifel, ob das Revisionsgericht in der Killick-Entscheidung tatsächlich intendiert hat, dem Opferinteresse einen neuen Stellenwert bei der Interessenverteilung im englischen Strafverfahren zuzuteilen und ein subjektives Recht des Opfers auf Kontrolle der Strafverfolgung zur Durchsetzung eines eigenen Verfolgungsinteresses zu begründen. Nachfolgende gerichtliche und legislative Entscheidungen haben das Urteil bisher weder in die eine, noch in die andere Interpretationsrichtung bestätigt. Bei der Einordnung des Urteils ist weiterhin zu beachten, dass sich das Gericht bei der Begründung des Prüfrechts des Opfers auf Art. 10 des Kommissionsvorschlags zur RL 2012/29/EU bezieht.497 Die Killick-Entscheidung wurde damit durch die sich abzeichnenden Unionsvorgaben zu Opferrechten im Strafverfahren inspiriert. Soweit die Entscheidung einen Einstellungswandel hinsichtlich der Rolle von Opferinteressen bei der Strafverfolgung und ein mögliches Recht des Opfers auf Kontrolle

492

R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 49. R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 51. 494 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 48. 495 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 51. 496 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 57; siehe dazu Kap. 3 A III 2 a) cc) (2). 497 R v Killick [2011] EWCA Crim 1608 Rn. 49; zum Kommissionvorschlag siehe KOM(2011)275 endg. v. 18. 5. 2011. Dem entspricht Art. 11 RL 2012/29/EU. 493

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der Strafverfolgung indiziert, geht dies damit nicht zuletzt auf unionsrechtliche Einflüsse zurück. (2) Victims Right to Review Scheme (VRRS) Im Jahr 2013 hat der DPP zudem ein neues Verfahren zur Kontrolle von Nichtverfolgungsentscheidungen des CPS installiert: das Victims Right to Review Scheme (im Folgenden: VRRS).498 Mit diesem VRRS sollten die Vorgaben der KillickEntscheidung und von Art. 11 RL 2012/29/EU umgesetzt werden.499 Während zuvor die judicial review die einzige Möglichkeit zur Kontrolle von Nichtverfolgungsentscheidungen staatlicher Ankläger gewesen ist, existiert damit im englischen Recht jetzt eine weitere, den (mutmaßlichen) Straftatopfern vorbehaltene Möglichkeit, Nichtverfolgungsentscheidungen behördenintern überprüfen zu lassen.500 (a) Verfahrensrechtliche Ausgestaltung des VRRS Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des VRRS ist in der Victims Right to Review Guidance (im Folgenden: VRRG) niedergelegt.501 Das Verfahren ist also nicht in einem Parlamentsgesetz geregelt, sondern in einer behördeninternen Richtlinie. Diese wird vom DPP als Leiter des CPS verantwortet und kann von ihm jederzeit geändert werden.502 Das materielle Recht des Opfers auf Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen setzt die VRRG als bestehend voraus. Insofern statuiert § 6 VRRG, dass die Killick-Entscheidung ein solches Opferrecht identifiziert habe und das VRRS lediglich den Rahmen für dessen Durchsetzung schaffe. Die Quelle des materiellen Rechts bleibt damit weiterhin unklar.503 Die Befugnis, eine Überprüfung im Rahmen des VRRS zu verlangen, steht ausschließlich „Opfern“ zu. Dies unterscheidet das VRRS von der judicial review.504 498 Das VRRS wurde zunächst im Juni 2013 in einer interim guidance geregelt. Nach Durchführung einer öffentlichen Konsultation zu den geplanten Regelungen folgte im Juli 2014 die endgültige Victims Right to Review Guidance (VRRG). Im Juli 2016 veröffentlichte der DPP eine überarbeitete Version der VRRG, siehe goo.gl/fKWecY (11. 2. 2018). 499 § 5 f. VRRG. 500 Auch sonstige Behörden, die neben dem CPS Strafverfolgung betreiben, werden im CPVC, ch. 5 § 1.41 aufgefordert, wenigstens Opfern schwerer Taten die Möglichkeit einzuräumen, ihre Nichtverfolgungsentscheidungen überprüfen zu lassen. 501 Einsehbar unter goo.gl/fKWecY (11. 2. 2018). 502 Fraglich ist, ob diese Umsetzung von Art. 11 unterhalb der Gesetzesebene richtlinienkonform ist, vgl. Kap. 2 A VI. 503 Daneben wird die Möglichkeit, Nichtverfolgungsentscheidungen des CPS behördenintern überprüfen zu lassen, neuerdings auch im CPVC thematisiert, ch. 2 A sec. 2 § 2.2, ch. 2 B sec. 2 § 2.2 sowie S. 23. Der normiert das Überprüfungsrecht ebenfalls nicht dem Grunde nach, sondern verweist lediglich auf seine Existenz und die Regelung des Verfahrens in der VRRG. 504 Diese Einschränkung ist von Interessengruppen im Anhörungsverfahren kritisiert worden mit dem Argument, auch interessierte Personen, die nicht selbst Opfer seien, müssten die Überprüfung beantragen können, um z. B. die Verfolgung von Tierschutzdelikten anstoßen zu können, siehe Wildlife and Countryside Link response to the Crown Prosecution Service

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§ 14 VRRG definiert als Opfer „a person who has made an allegation that they have suffered harm, including physical, mental or emotional harm or economic loss which was directly caused by criminal conduct“.505 Diese Definition ist der Opferdefinition in Art. 2 Abs. 1 lit. a RL 2012/29/EU sehr ähnlich, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass das VRRS Art. 11 der Opferrechterichtlinie umsetzen soll. Welche Entscheidungen des CPS im Rahmen des VRRS überprüft werden können, ist in § 9 VRRG geregelt. Der Überprüfungsmöglichkeit unterliegen nur einige ausgewählte Situationen (qualifying decisions): die Entscheidung, keine Anklage zu erheben (not to bring proceedings pre-charge); die Entscheidung, die Anklage zurückzuziehen (withdraw) oder das Verfahren zu beenden (discontinue); die Entscheidung, im Gerichtsverfahren keine Beweise zu präsentieren (offer no evidence);506 und die Entscheidung, nicht weiter zu verfolgen, und das Gericht zu bitten, das Verfahren zunächst einzustellen (ask the court to leave all charges lie on file). § 11 VRRG listet die Entscheidungen des CPS auf, deren Überprüfung nicht gemäß dem VRRS verlangt werden kann. Dies betrifft z. B. Fälle, in denen die Nichtverfolgungsentscheidung des CPS nur einige von mehreren Anklagepunkten oder nur einige von mehreren Verdächtigen betrifft, § 1 (iii), (iv), (v), (vi), (vii) VRRG. Außerdem sind jegliche Entscheidungen, das Verfahren durch eine außergerichtliche Einigung einzustellen (out of court disposal), dem Kontrollrecht entzogen, § 11 (viii) VRRG. Diese Einschränkung verwirklicht die Erlaubnis in Art. 11 Abs. 5 RL 2012/29/EU, das Überprüfungsrecht für Opfer bei außergerichtlichen repressiven Vergleichen auszuschließen. Nicht angreifbar mit dem VRRS ist auch die Entscheidung der Polizei, einen Sachverhalt gar nicht bzw. nicht weiter zu ermitteln, § 11 (ii) VRRG. Entscheidungen der Polizei, einen bestimmten Verdächtigen nicht zu verfolgen, können allerdings seit dem 1. 4. 2015 auf Antrag des Opfers unter einschränkenden Bedingungen polizeiintern gem. dem National Police Chiefs Council Scheme überprüfen werden.507 Schließlich ist das VRRS nur auf Entscheidungen anwendbar, die am oder nach dem 5. 6. 2013 gefällt wurden, §§ 3, 11 (1) VRRG. Aufgrund dieser zahlreichen Einschränkungen sind nicht wenige Opfer von dem internen Überprüfungsverfahren ausgeschlossen.508 Das Verfahren selbst läuft wie folgt ab: Trifft ein Staatsanwalt die Entscheidung, die Verfolgung nicht (weiter) zu betreiben, wird das Opfer über diese Entscheidung sowie über sein Recht auf Überprüfung informiert, §§ 17 f. VRRG. Das Opfer kann daraufhin formlos innerhalb von fünf Tagen, spätestens aber innerhalb von drei Monaten bei dem zuständigen lokalen CPS-Büro eine Überprüfung beantragen, § 19 consultation on the Interim Guidance on Victims’ Right to Review, abrufbar unter goo.gl/ 6nZ0vy (11. 2. 2018). 505 In § 14 VRRG werden zudem weitere Personen genannt, wie z. B. Angehörige eines verstorbenen Opfers, die ebenfalls unter dem VRRS antragsberechtigt sind. 506 Präsentiert der CPS in einem Strafverfahren keine Beweise, muss das Gericht freisprechen. 507 CPVC, ch. 2 A sec. 2 § 2.2, ch. 2 B sec. 2 § 2.2 sowie S. 23. 508 Kritisch daher Carre, North East L. Rev. 4 (2016), 62, 63.

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VRRG.509 Einer Begründung des Antrags bedarf es nicht. Das Opfer darf allerdings auch nicht freiwillig eine Stellungnahme abgeben. Der Antrag wird zunächst auf lokaler Ebene bearbeitet (local resolution), §§ 22 ff. VRRG. Dazu überprüft ein Staatsanwalt des örtlichen CPS-Büros, der die angegriffene Entscheidung nicht selbst getroffen hat, die Entscheidung innerhalb von 10 Tagen, §§ 23, 26, 28 VRRG. Die Überprüfung kann entweder in die (Wieder-)Aufnahme der Verfolgung münden oder in die Aufrechterhaltung der ursprünglichen Entscheidung. In jedem Fall wird das Opfer über den Verfahrensausgang informiert, wenn nötig, wird ihm die Entscheidung ausführlicher erläutert und ggf. erhält es eine Entschuldigung, § 27 VRRG. Ist das Opfer mit dem Ergebnis der Überprüfung auf lokaler Ebene nicht einverstanden, kann es in einem zweiten Schritt innerhalb von 10 Tagen eine unabhängige Überprüfung (independent review) beantragen, §§ 33 ff., 58 VRRG. In diesem zweiten Durchgang wird der Fall vollständig neu bewertet und es wird eine erneute Prüfung der Beweislage und des öffentlichen Verfolgungsinteresses entsprechend dem Full Code Test510 durchgeführt, § 31 VRRG. Damit die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden kann, muss sie gem. § 34 VRRG erstens falsch sein, es muss also wenigstens eine der beiden Stufen des Full Code Tests bei der ersten Prüfung inkorrekt bewertet worden sein. Dieser Prüfung dürfen nur Informationen zugrunde gelegt werden, die der Staatsanwaltschaft bereits zum Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung vorlagen.511 Zweitens muss die Revision der falschen Nichtverfolgungsentscheidung für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Vertrauens in die Arbeit des CPS notwendig sein. Die unabhängige Überprüfung wird in der Regel von dem Appeals and Review Unit des CPS vorgenommen.512 Das Opfer wird über den Ausgang des Verfahrens informiert und erhält ggf. eine Begründung und Entschuldigung, §§ 40 ff. VRRG. Ist das Opfer auch mit dem Ergebnis der unabhängigen Überprüfung nicht einverstanden, kann es als letztes Mittel einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung (judicial review) beim High Court stellen, § 39 VRRG. Das VRRS ergänzt also das bestehende Kontrollregime und ersetzt nicht die Möglichkeit, judicial review zu beantragen.513 § 50 VRRG stellt allerdings die Vermutung auf, dass die Gerichte vor Zulassung eines Antrags auf judicial review erwarten, dass zunächst das CPS-interne Überprüfungsverfahren genutzt worden ist. Diese Annahme ist in der Rechtspre509

Zu weiteren Fristenregelungen siehe §§ 54 ff. VRRG. Siehe dazu die Erläuterungen in Kap. 3 A III 2 a) bb) (2). 511 R (S) v Crown Prosecution Service [2015] EWHC 2868 (Admin) Rn. 17. 512 Siehe zu dieser Grundregel § 36(i) VRRG sowie zu den Ausnahmen im Fall von unumkehrbaren Entscheidungen, Entscheidungen von höchsten Beamten sowie von Spezialisten §§ 36(ii), 37 ff. VRRG. Die Entscheidung, den dementen Richter Lord Janner nicht wegen Kindesmissbrauchs anzuklagen, wurde sogar einem externen Barrister übertragen, siehe dazu Manikis, Pub. L. 2017, 63, 74. 513 § 7 VRRG; Starmer QC (damaliger DPP), Prosecutorial Discretion, S. 13. 510

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chung bestätigt worden.514 Das Urteil L v DPP & Commissioner of Police for the Metropolis normiert insofern klare Richtlinien, wie der High Court mit Anträgen auf judicial review von Nichtverfolgungsentscheidungen im Lichte des VRRS umgehen werde.515 Erstens soll kein Antrag auf judicial review gestellt werden, bevor der CPS die Entscheidung nicht im Rahmen des VRRS überprüft habe. Sei eine Nichtverfolgungsentscheidung im Rahmen des VRRS für korrekt befunden worden, seien die Erfolgsaussichten im judicial review-Verfahren äußerst gering.516 Wenn ein Antragssteller das VRRS nicht zuvor genutzt habe, solle der CPS dem Gericht mitteilen, ob er eine interne Prüfung des Falls für sachdienlich halte und vornehmen wolle. Abhängig von der Stellungnahme des CPS und dem Ausgang einer vorgelagerten internen Prüfung entscheide das Gericht über die Zulassung des Antrags auf weitere gerichtliche Kontrolle. Der CPS könne zudem von den Opfern Gebühren für die Überprüfung verlangen, wenn der Antrag erfolglos bliebe. Insgesamt betonte das Gericht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Antrag auf gerichtliche Überprüfung Erfolg habe, in Anbetracht der Möglichkeit, das VRRS zu nutzen, und der verfassungsrechtlichen Rolle des CPS überaus gering sei. Opfer sind damit gehalten, zunächst das VRRS zu nutzen, bevor sie judicial review beantragen, und müssen sich auf geringe Erfolgschancen bei dem Antrag auf gerichtliche Überprüfung einstellen. Der Verdächtige wird ausschließlich dann über das Kontrollverfahren informiert, wenn die ursprüngliche Nichtverfolgungsentscheidung aufgehoben und das Verfahren gegen ihn (wieder) aufgenommen wird, § 51 VRRG. An dem Überprüfungsverfahren wird er nicht beteiligt und hat auch kein Recht, in dem Verfahren gehört zu werden. Diese Regelung ist gerichtlich für rechtmäßig befunden worden.517 Grund für diese Vorgabe soll sein, dass bei Prüfung der Einstellungsentscheidung ausschließlich Informationen beachtet werden dürften, die bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbar gewesen seien. Der überprüfende Staatsanwalt dürfe weder neue Informationen von dem Antragssteller noch Äußerungen des Verdächtigen berücksichtigen. Der Verdächtige müsse daher auch nicht gehört werden. (b) Bedeutung des VRRS für die Rolle des Opfers bei der Strafverfolgung Der DPP Stramer, der das VRRS installiert hat, hat den neuen Mechanismus euphorisch als „one of the most significant victim initiatives ever launched by the CPS“518 bezeichnet. Historisch hätten Opfer wenig Mitspracherecht bei der strafrechtlichen Behandlung ihres Falls gehabt. Die Einführung des VRRS zeige, wie sich die Einstellung zu Opfern im Strafjustizsystem aber auch zu dem CPS selbst ge514 L v DPP & Commissioner of Police for the Metropolis, Pratt v Crown Prosecution Service (Northumbria) [2013] EWHC 1752 (Admin) Rn. 11. 515 L v DPP & Commissioner of Police for the Metropolis, Pratt v Crown Prosecution Service (Northumbria) [2013] EWHC 1752 (Admin) Rn. 11 – 17. 516 Dieser Aspekt wird auch in anderen Gerichtsentscheidungen betont, z. B. R (F) v DPP v „A“ [2013] EWHC 945 (Admin) Rn. 4. 517 R (S) v Crown Prosecution Service [2015] EWHC 2868 (Admin) Rn. 17. 518 Starmer QC (damaliger DPP), Prosecutorial Discretion, S. 11.

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wandelt habe.519 Das VRRS demonstriere, dass neuerdings Opferinteressen zusammen mit dem allgemeinen öffentlichen Gerechtigkeitsinteresse das Interesse des Verdächtigen an Vertrauen in die Bestandskraft von Entscheidungen des CPS überwiegen könnten. Mit dem VRRS würden Opfer als aktive Teilnehmer am Strafprozess anerkannt, die sowohl Schutzinteressen als auch Rechte auf Durchsetzung hätten.520 Diese Ausführungen werfen die Frage auf, ob (neuerdings) ein privates Strafverfolgungsinteresse des Opfers selbstständig neben dem öffentlichen Interesse im englischen Strafjustizsystem berücksichtigt und mit dem VRRS durchsetzbar gestaltet wird. Dafür könnte zunächst sprechen, dass das VRRS speziell für Straftatopfer geschaffen wurde und die Antragsbefugnis ausschließlich Straftatopfern offensteht. Dies unterscheidet das VRRS von der judicial review. Denn eine gerichtliche Kontrolle kann jede Person beantragen, die über locus standi verfügt.521 Dies ist zumindest ein Indiz dafür, dass das VRRS einem besonderen Interesse gerade des Opfers an der Korrektur falscher Nichtverfolgungsentscheidungen zur Durchsetzung verhelfen soll und es damit zumindest auch ein anderes Ziel verfolgt als „nur“ die Kontrolle der öffentlichen Gewalt. Außerdem ermöglicht das VRRS – anders als die judicial review – nur die Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen, nicht aber von Anklageentscheidungen. Die Einsatzfreude von Opfern wird so ausschließlich für den punitiven Zweck der Verbrechenskontrolle genutzt.522 Andere Komponenten der Verfahrensgestaltung sprechen allerdings gegen eine solche Auslegung. So steht das VRRS nicht allen Opfern offen.523 Außerdem gewährt das Verfahren nur die Möglichkeit, eine Nichtverfolgungsentscheidung überprüfen zu lassen. Die Durchführung der Verfolgung garantiert es nicht.524 Selbst die Feststellung der Unrichtigkeit einer Nichtverfolgungsentscheidung führt zudem nicht zwingend zu ihrer Aufhebung.525 Weiterhin ist nicht vorgesehen, dass sich das Opfer in dem Verfahren – über die Stellung des Antrags hinaus – äußern und seine Sicht auf die Verfolgung des Falls zu Gehör bringen könnte. Schließlich handelt es sich bei der Überprüfung mit dem VRRS lediglich um eine behördeninterne Kontrolle. Die Chancen von Opfern, eine gerichtliche Kontrolle einer Nichtverfolgungsentscheidung zu erreichen, sind mit Installation des VRRS sogar gesunken. Ein Opferin519

Starmer QC (damaliger DPP), id., S. 12. Starmer QC (damliger DPP), id., S. 12. 521 Siehe z. B. R (International) v Revenue and Customs Commissioners [2014] EWHC 1475 (Admin) Rn. 102 ff.: eine Person kann berechtigt sein, judicial review zu beantragen, ohne unter die Opferdefinition im RB 2001/220/JI und nur evt. unter die Definition in RL 2012/29/ EU zu fallen. 522 Vgl. auch Manikis, Pub. L. 2017, 63, 79. 523 Vgl. allein die von der Überprüfung ausgeschlossenen Entscheidungen, § 11 VRRG. 524 § 8 VRRG. 525 §§ 46 – 48 VRRG, dies gilt z. B. bei Entscheidungen des CPS, keine Beweise vorzutragen, weil der Beschuldigte dann in der Regel vom Gericht freigesprochen wird, siehe Criminal Justice Act 1967, sec. 17, as amended by CJA 2003, sec. 331 and Sched. 36 para. 42. 520

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teresse an der Kontrolle und ggf. Durchführung der Strafverfolgung verwirklicht das neue Instrument damit allenfalls unvollständig. Die Ausführungen in der VRRG zu dem Zweck des VRRS weisen in eine ähnliche Richtung. Gemäß § 33 VRRG sollen sich die Bürger auf Entscheidungen des CPS verlassen können und diese sollen gewöhnlich nicht geändert werden. Allerdings müsse eine Balance hergestellt werden zwischen dem öffentlichen Interesse an Rechtssicherheit und der Korrektur einer falschen Entscheidung des CPS. Um das öffentliche Vertrauen in das Strafjustizsystem aufrecht zu erhalten, sei es daher notwendig, einige Verfolgungsentscheidungen zu überprüfen, falsche Nichtverfolgungsentscheidungen ggf. aufzuheben und das Strafverfahren doch zu betreiben. Danach dient das VRRS also vor allem dazu, das öffentliche Vertrauen in das Strafjustizsystem zu erhalten und nicht ein privates Verfolgungsinteresse durchzusetzen. Weiterhin sind Nichtverfolgungsentscheidungen gem. § 34 VRRG anhand der Kriterien des Full Code Tests zu prüfen. Damit kommt es auch bei der Überprüfung einer Entscheidung auf die Beweislage und das öffentliche Verfolgungsinteresse an. Der Hinweis des Gerichts in der Killick-Entscheidung, dass bei Verfolgungsentscheidungen das Interesse des Opfers gesondert neben dem öffentlichen Verfolgungsinteresse zu berücksichtigen sei, wird in der VRRG nicht aufgegriffen. Außerdem dürfen bei der Prüfung einer Nichtverfolgungsentscheidung ausschließlich zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung bereits verfügbare Informationen berücksichtigt werden. Dementsprechend wird nicht geprüft, ob die Strafverfolgung zum Zeitpunkt der Prüfung auf Grundlage aller verfügbaren Informationen materiellrechtlich geboten wäre. Stattdessen wird geprüft, ob die erste Entscheidung auf Grundlage der damals verfügbaren Informationen rechtmäßig war. Damit wird nicht garantiert, dass eine materiell-rechtlich zum Prüfzeitpunkt tatsächlich gebotene Verfolgung stattfindet. Stattdessen wird die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung zu einem vergangenen Zeitpunkt kontrolliert. Diese Vorgehensweise aber realisiert kein materielles Verfolgungsinteresse des Opfers, sondern die Kontrolle der Verwaltung. Schließlich kommt es gem. § 34 VRRG bei der Entscheidung, ob eine Nichtverfolgungsentscheidung aufgehoben wird, nicht nur darauf an, ob die ursprüngliche Entscheidung nach dem Full Code Test inkorrekt gewesen ist. Zusätzliche Voraussetzung der Aufhebung ist, dass es für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Vertrauens notwendig ist, die falsche Entscheidung zu revidieren. Die Überprüfung der Nichtverfolgungsentscheidung mittels VRRS dient damit offenbar vor allem dazu, dass öffentliche Vertrauen in die Arbeit des CPS zu erhalten. Entsprechend wird nicht jede falsche Entscheidung aufgehoben. Entscheidend ist vielmehr, wie sich die Aufrechterhaltung der falschen Entscheidung auf das öffentliche Ansehen des CPS auswirken würde. Ob das Ansehen des CPS aus Sicht des Opfers Schaden nehmen würde, wenn die falsche Entscheidung bestehen bliebe, ist nach der VRRG hingegen irrelevant.

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In der Gesamtschau bleibt ambivalent, ob mit dem neuen Verfahren ein privates Strafverfolgungsinteresse des Opfers anerkannt und durchgesetzt werden soll. Die Erläuterungen des DPP legen dies nahe. Auch die Killick-Entscheidung, deren Umsetzung das VRRS dient, könnte so interpretiert werden.526 Die tatsächliche Ausgestaltung des VRRS verwirklicht ein solches Interesse indes allenfalls unvollständig. Die Ausführungen in der VRRG zum Zweck des Verfahrens und zu den Kriterien für die Prüfung und Entscheidung über die Aufhebung einer Nichtverfolgungsentscheidung legen zudem nahe, dass vor allem das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, das öffentliche Vertrauen in das Strafjustizsystem und die Arbeit des CPS und die Kontrolle des Verwaltungshandelns im Mittelpunkt stehen. Auch in der Literatur wird davon ausgegangen, dass das VRRS ein Mittel zur Herstellung der Verantwortlichkeit der Staatsanwaltschaft sei und das Opfer als „agent of accountability“ verpflichte.527 Jedenfalls aber räumt das VRRS dem Opfer eine neue Stellung im Strafjustizsystem ein. Einstellungsentscheidungen müssen ihm jetzt zumindest erklärt werden und ggf. erhält es sogar eine Entschuldigung, sollte die Nichtverfolgung rechtswidrig, aber unumkehrbar unterblieben sein. (3) Ergebnis Historisch verfügten Straftatopfer im englischen Rechtssystem über keine Möglichkeit, behördliche Entscheidungen gegen die Strafverfolgung überprüfen zu lassen. Stattdessen konnten sie nur selbst als Privatstrafkläger aktiv werden. Die Mitte des 20. Jahrhunderts etablierte Möglichkeit, Nichtverfolgungsentscheidungen gerichtlich überprüfen zu lassen (judicial review), dient traditionell der Kontrolle der Verwaltung und nicht der Durchsetzung privater Verfolgungsinteressen. In der Killick-Entscheidung hat der Court of Appeals (Criminal Division) einen Anspruch des Opfers auf behördeninterne Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen begründet, unter Berufung auf Art. 11 RL 2012/29/EU. Uneindeutig ist, ob das Revisionsgericht dabei intendiert hat, ein subjektives Recht des Opfers auf Kontrolle der Strafverfolgung zur Durchsetzung eines privaten Verfolgungsinteresses zu begründen. Das kürzlich etablierte VRRS setzt die Vorgaben der Killick-Entscheidung sowie Art. 11 RL 2012/29/EU um.528 Auch bei dem VRRS ist unklar, ob es der Durchsetzung eines privaten Verfolgungsinteresses des Opfers zu dienen bestimmt ist. Obgleich die das Instrument begleitende politische Rhetorik dies nahelegt, sprechen die konkrete Ausgestaltung des VRRS und der im VRRG propagierte Zweck dagegen. Jedenfalls stärkt das VRRS die Stellung des Opfers im Strafjus526

Siehe Kap. 3 A III 2 a) cc) (1) (b). Manikis, Pub. L. 2017, 63, 74. 528 Dieser Unionseinfluss spiegelt sich auch in der Ausgestaltung des VRRS, das mehrere Spezifika des Art. 11 RL 2012/29/EU aufgreift. So wird kein Überprüfungsrecht bei außergerichtlichen Vergleichen gewährt (Art. 11 Abs. 5 RL 2012/29/EU – § 11 (viii) VRRG), bei dem VRRS handelt es sich nicht um ein behördeninternes Verfahren, der Opferbegriff in § 14 VRRG ist dem in Art. 2 Abs. 1 lit. a RL 2012/29/EU nachempfunden und die Überprüfung ist wie von der Richtlinie gefordert stets von einer anderen Person durchzuführen, §§ 36 ff. VRRG. 527

A. Rechtsvergleich

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tizsystem. Bei der Einordnung dieses neuen Kontrollrechts ist zu beachten, dass seine Entwicklung auf Unionsvorgaben beruht.529 dd) Victim Personal Statements (VPS) Weiterhin können (mutmaßliche) Straftatopfer in England und Wales im Strafverfahren ein Victim Personal Statement (im Folgenden: VPS) abgeben und so dem Strafgericht mitteilen, wie sich die Straftat auf ihre Person und ihr Leben ausgewirkt hat.530 Fraglich ist, ob dieses Rechtsinstitut dem Opfer die Verfolgung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren ermöglicht. VPS sind erstmals 1996 als Pilotprojekt versuchsweise in einigen Regionen Englands erprobt und 2001 flächendeckend in ganz England und Wales mittels einer Praxisanweisung des Home Office eingeführt worden.531 Allerdings waren die rechtliche Legitimation, der konkrete Zweck und die Ausgestaltung des Instruments stets umstritten.532 So herrschte vor allem Uneinigkeit, ob VPS primär dazu dienen sollten, dem Gericht Informationen für die Strafzumessung verfügbar zu machen (instrumentelle Zwecksetzung) oder dem Opfer eine aktive Rolle im Verfahren zu vermitteln und es bei der Tatverarbeitung zu unterstützen (expressive Zwecksetzung).533 Praktisch wurde zudem nur wenigen Opfern angeboten, ein VPS abzugeben, und die Art der Verwendung des VPS führte immer wieder zu Enttäuschungen auf Seiten der Opfer.534 Um die tatsächliche Nutzung des Instruments zu verbessern und Klarheit über seinen Zweck zu schaffen, entschied der Gesetzgeber 2013, die Abgabe von VPS gesetzlich zu normieren.535 Seitdem ist ein „Anspruch“ von Straftatopfern, ein VPS abzugeben, im CPVC verbürgt.536 529

Ähnlich Bunting, Victims Right of Appeal – Draft Response to CPS Consultation, veröffentlicht am 13. 6. 2013, abrufbar unter goo.gl/9UjhsP (11. 2. 2018): „What I think should be stressed, and I will be stressing to anyone who listens, is that this is not being done out of the goodness of the CPS heart, but because there is a new EU Directive that requires a right of review.“ 530 Siehe zu VPS, die im Grundsatz VIS entsprechen, bereits Kap. 2 A IV 1 b) bb) und cc). 531 Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 439; deutschsprachig Höynck, Das Opfer, S. 125 f. 532 Siehe aus dem umfangreichen Schrifttum z. B. Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689 ff.; Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 163, 177 ff.; Sanders, in: Cape, Reconcilable rights, S. 97, 100 ff. Zur kontroversen Diskussion von VIS, die VPS entsprechen, Kap. 2 A IV 1 b), C II 2 a). 533 Siehe zu der Unklarheit über die Zwecke z. B. Edwards, Howard J. Crim. Just. 2001, 39; Ministry of Justice, Breaking the Cycle: Effective Punishment, Rehabilitation and Sentencing of Offenders, 12.2010, Cm 7972, Rn. 75; und die Nachweise oben in Kap. 2 A IV 1 b). 534 Ministry of Justice, Improving the Code of Practice for Victims of Crime, Consultation Paper CP8/2013, Rn. 44; Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 740. 535 Ministry of Justice, Improving the Code of Practice for Victims of Crime, Consultation Paper CP8/2013, Rn. 45 f. 536 CPVC, ch. 2 A §§ 1.12 ff., ch. 2 B §§ 1.7 ff. Siehe näher zum CPVC Kap. 3 A III 2 a) ee) (1).

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Nach dieser neuen Regelung dürfen grds. nur (mutmaßliche) Opfer ein VPS abgeben, die auch als Zeuge aussagen.537 Seine Abgabe ist freiwillig. Das (mutmaßliche) Opfer kann wünschen, das VPS selbst im Gerichtssaal vorzutragen oder es vorlesen zu lassen, es kann das VPS aber auch einfach zu den Akten geben.538 Wie das VPS im Einzelfall in die Verhandlung eingeführt wird, bestimmt allein das Gericht.539 In jedem Fall wird es erst nach Feststellung der Schuld des Angeklagten hinzugezogen. Zudem gilt das VPS als Beweismittel und muss deshalb den formalen Anforderungen an eine Zeugenaussage genügen.540 Insofern unterliegt es der Pflicht zur disclosure und das (mutmaßliche) Opfer kann über seinen Inhalt kreuzverhört werden. Inhaltlich darf es im VPS ausschließlich die Auswirkungen der Straftat auf seine Person beschreiben. Meinungsäußerungen zum Strafmaß sind nicht gestattet.541 Ebenso wenig dürfen Informationen, Beweise oder Stellungnahmen zu sonstigen Fragen im Strafverfahren, etwa zur Aufklärung der Schuldfrage, im VPS enthalten sein. Zweck des VPS ist ausweichlich der gesetzgeberischen Erläuterungen, dem Opfer eine Stimme im Strafverfahren zu verleihen.542 Rechtlich dient es in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung allerdings vornehmlich dazu, das Gericht über die Auswirkungen der Straftat zu informieren.543 Die im VPS enthaltene Information kann das Gericht zur Bestimmung der Tatschwere im Rahmen der Strafmaßentscheidung heranziehen.544 Das Gericht entscheidet allerdings allein nach seinem Ermessen, inwieweit es die im VPS beschriebenen Tatauswirkungen bei der Strafzumessung

537 Gibt das Opfer keine Zeugenaussage ab, hat es nur einen Anspruch auf Abgabe eines VPS, wenn es von einer besonders schweren Straftat oder einer Wiederholungstat betroffen wurde oder besonders schutzbedürftige ist, CPVC, ch. 2 A §§ 1.17, ch. 1 § 1.1. 538 CPVC, ch. 2 A §§ 1.13, 1.20 f. 539 Nach R v Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 11 soll das Verlesen durch das Opfer im Gerichtssaal die Ausnahme darstellen. 540 R v Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 9; siehe auch CPS, Victim Personal Statements, abrufbar unter goo.gl/sIyZcT (11. 2. 2018). 541 CPVC, ch. 2 A § 1.12. 542 CPVC, ch. 2 A § 1.12 S. 3: „The VPS gives you a voice in the criminal justice process.“ 543 Ministry of Justice, Improving the Code of Practice for Victims of Crime, Consultation Paper CP8/2013, Rn. 42; R v Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 2; Doak, Victims’ Rights, S. 151. Außerdem sollen die Staatsanwälte nach den internen Richtlinien des CPS VPS bei einigen Entscheidungen im Strafverfahren heranziehen, z. B. bei der Frage, welche Auflagen dem auf freien Fuß befindlichen Verdächtigen im Ermittlungsverfahren auferlegt werden, CPS, Commitments to Support Victims and Witnesses, Rn. 10, abrufbar unter goo.gl/F3MBGZ (11. 2. 2018). Als untergeordneter Nebenzweck kann das VPS zudem über Schutz- und Unterstützungsbedarf des Opfers informieren, R v Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 2; dem folgend CPS, Victim Personal Statements, General Considerations, abrufbar unter goo.gl/sIyZcT (11. 2. 2018). 544 Siehe CJA 2003, sec. 143(1) in Verbindung mit sec. 1.17, 1.9 und 1.10 Sentencing Guidelines „Overarching Principles: Seriousness“, abrufbar unter http://goo.gl/CAiJFh (11. 2. 2018); R v Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 2.

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berücksichtigt.545 Eventuelle Meinungsäußerungen des Opfers zur Strafhöhe muss es ignorieren.546 Das Opfer kann mit dem VPS folglich nicht zur Aufklärung der Straftat und dem Nachweis der Schuld des Angeklagten beitragen, Beweishinweise liefern oder seine Meinung im Verfahren kundtun. Seine persönlichen Interessen an der Verfolgung und Bestrafung des Täters darf es weder äußern noch dürfen sie vom Gericht beachtet werden. Ob und in wie weit die Beschreibung der objektiven Auswirkungen der Tat bei der Strafzumessung einbezogen wird, liegt ebenfalls nicht in der Entscheidungsgewalt des Opfers. Zudem dürfen nicht alle Opfer ein VPS abgeben. Insgesamt vermittelt das VPS dem Opfer damit keine Position, mit der es auf den Verfahrensablauf einwirken und sein privates Interesse am Verfahrensausgang effektiv verfolgen könnte. Auch macht es das Opfer nicht zu einer Partei im Strafverfahren. Die Anforderungen von Art. 10 Abs. 1 RL 2012/29/EU werden allein mit dem VPS ebenfalls nicht vollständig umgesetzt.547 Damit legt die konkrete Ausgestaltung des Instruments nicht die Anerkennung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafjustizsystem nahe, sondern bestätigt im Gegenteil die bisherige Struktur und Interessenverteilung im Strafverfahren im englischen Recht. Wie dargelegt, war lange umstritten, ob das Opfer im VPS einen Wunsch bzgl. der Strafhöhe äußern darf und ob das Gericht den Wunsch berücksichtigen muss.548 Die Beantwortung dieser Streitfrage hängt von Grundannahmen zur Strafverfolgungsstruktur und Interessenverteilung im Strafverfahren ab. Unter der Annahme, dass konstitutives Element der Straftat ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft ist und dieses Unrecht im öffentlichen Interesse verfolgt wird, wird die Strafe allein im öffentlichen Interesse verhängt; sie soll die Schwere der Tat verhältnismäßig und in allen Fällen vergleichbar spiegeln.549 In diesem Kontext können die objektiven Auswirkungen der Straftat auf das individuelle Opfer bei der Reaktion auf die Straftat berücksichtigt werden, weil sie die Schwere des mit der Straftat verwirklichten Unrechts beeinflussen. In der Folge kann dem Opfer gestattet werden, die objektiven Auswirkungen der Straftat im VPS darzulegen. Demgegenüber ist die persönliche Sicht des individuell Verletzten zur angemessenen Strafhöhe bei Geltung dieser theoretischen Grundannahmen irrelevant.550 Denn danach stehen sich bei der 545

CPVC, ch. 2 A § 1.22. R v Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 2; Criminal Practice Direction Sentencing F: Victim Personal Statement, [2013] EWCA Crim 1631, F 3 d. 547 Siehe zu den Anforderungen der Richtlinie Kap. 2 A IV 1 a), c). 548 Siehe Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 442 ff.; Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689 ff., jeweils mit Nachweisen zu einschlägigen Urteilen. 549 So grundlegend und deshalb den Einfluss von Opfern auf das Strafmaß ablehnend R v Nunn [1996] 2 Cr. App. R. (S) 136, 140; bestätigt in R v Perkins [2013] EWCA Crim 323 Rn. 4. Siehe auch Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 443. 550 Siehe dazu und zum Folgenden Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 700 ff.; ähnlich auch Ashworth, Sentencing and Criminal Justice, S. 442 ff.; Doak, Victims‘ Rights, S. 154 f., der diese Grundannahmen kritisiert. Das Ministry of Justice, Breaking the Cycle: Effective Pu546

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Strafverfolgung allein das öffentliche Interesse und das Interesse des Angeklagten gegenüber, dem Opfer und seinen Ansichten kommt keine eigenständige Bedeutung zu. Konsequenterweise ist dem Opfer zu untersagen, in dem VPS seine subjektive Sicht zur gewünschten Strafhöhe mitzuteilen. Anders wäre dies zu beurteilen, wenn im Strafverfahren (auch) das individuelle Leid des Opfers als Unrecht (mit)verhandelt würde und in der Folge die Strafe (auch) im Namen des Opfers verhängt würde. Dann könnte bzw. müsste die persönliche Meinung des Opfers in Bezug auf die Strafzumessung berücksichtigt werden. In der Folge wäre es konsequent, dem Opfer zu gestatten, im VPS auch seine persönliche Meinung zur Strafhöhe darzulegen. Die neue Regelung der VPS im CPVC verbietet dem Opfer ausdrücklich, eine Stellungnahme zur Strafhöhe abzugeben. Jeder subjektive Einfluss des Verletzten auf die Strafzumessung wird ausgeschlossen. Dies demonstriert, dass der Gesetzgeber an den theoretischen Grundannahmen zum englischen Strafverfolgungssystem – bipolar strukturierte Verfolgung eines Unrechts gegenüber der Gesellschaft im öffentlichen Interesse – festhält. So, wie das VPS im englischen Recht ausgestaltet ist, zeugt es nicht von der Anerkennung eines privaten Feststellungsinteresses des Opfers im englischen Strafjustizsystem und ermöglicht dem Opfer auch nicht die Verfolgung dieses Interesses im Strafverfahren. Vielmehr untermauert die konkrete Ausgestaltung des Instruments im gegenwärtigen Recht die theoretischen Grundannahmen, dass im englischen Strafverfahren ausschließlich ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft im öffentlichen Interesse vom Staat verfolgt wird. ee) Sonstige Rechte des Opfers zur Durchsetzung eigener Interessen im Rahmen der öffentlichen Strafverfolgung Seit den 1970er Jahren bemüht sich die englische Regierung um Reformen zugunsten von Verbrechensopfern. Insbesondere seit den 1990er Jahren gilt die Stärkung ihrer Rechte als offizieller Schwerpunkt der englischen Kriminalpolitik. In diesem Kontext wurden zahlreiche Rechtsinstrumente erlassen und politische Leitlinien propagiert, die Straftatopfern weitere Rechte im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung zuerkennen sollen.551 Dabei wird zwischen sog. Servicerechten (service rights) und prozessualen Rechten (procedural rights) unterschieden.552 nishment, Rehabilitation and Sentencing of Offenders, 12.2010, Cm 7972, Rn. 77, betont: Wenn VPS allein dazu dienten, das Gericht über die Tatauswirkungen zu informieren, würde die adversatorische Tradition aufrecht erhalten. 551 Einen knappen Überblick über die Reformen zu Opferrechten im englischen System ab 1990, insbes. bzgl. des Opferschutzes gibt Ministry of Justice, Getting it right for victims and witnesses, Consultation Paper CP3/2012, Rn. 65 ff.; ausführlicher Reeves/Dunn, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 46 ff. Für eine deutschsprachige Zusammenfassung siehe Höynck, Das Opfer, S. 109 ff. 552 Diese Unterscheidung geht auf Ashworth, Crim. L. Rev. 1993, 498, 499; ders., Crim. L. F. 4 (1993), 277, 281 f. zurück, wurde aber in der folgenden Diskussion flächendeckend übernommen, siehe nur Fenwick, Modern L. Rev. 60 (1997), 317, 318; Manikis, Criminol. &

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Servicerechte sollen die Erfahrungen des Opfers nach der Tat verbessern und sekundäre Viktimisierung während des Gerichtsverfahrens verhindern.553 Sie umfassen z. B. respektvolle Behandlung, Information, Unterstützung, besondere Vorkehrungen vor Gericht sowie monetäre Entschädigung.554 Prozessuale Rechte sollen dem Opfer ermöglichen, sich am Strafprozess zu beteiligen und Schlüsselentscheidungen zu beeinflussen.555 Um ein privates Feststellungsinteresse im Strafverfahren zu verfolgen, bräuchte das Opfer vor allem prozessuale Rechte. (1) Code of Practice for Victims of Crime (CPVC) Das umfassendste Regelwerk in England und Wales zu den Rechten von Opfern im Strafjustizsystem enthält der Code of Practice for Victims of Crime (CPVC). Dieses Instrument geht zurück auf die rechtlich unverbindliche Victims’ Charter aus dem Jahr 1990.556 Darin war erstmals niedergelegt worden, welche Leistungen in Bezug auf Information, Gehör, Unterstützung und respektvolle Behandlung die verschiedenen Akteure im Strafjustizsystem Straftatopfern gegenüber erbringen mussten. 1996 wurde die Charta erweitert und 2006 durch den auf der Charta aufbauenden, rechtlich verbindlicheren CPVC ersetzt.557 Der Code wird von dem Secretary of State erlassen. Er ist also kein Parlamentsgesetz, sondern einer Verordnung im Sinne des deutschen Rechts vergleichbar. Der Erlass des Codes ist in dem Parlamentsgesetz Domestic Violence, Crime and Victims Act 2004 (DVCVA 2004) angeordnet.558 Der CPVC ist damit das erste auf gesetzlicher Grundlage erlassene Instrument im englischen Recht, das umfassend die Mindestleistungen festlegt, die Opfer im Kontext des Strafjustizsystems erwarten dürfen. Ziel des CPVC ist, Opfer im Strafjustizsystem zu priorisieren und das System mehr auf ihre Bedürfnisse abzustimmen.559 Außerdem diente der Code ursprünglich der Implementierung des

Crim. Just 12 (2011), 149, 150; Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 204. Krit. dazu Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 741; Sanders., in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 204; ders. et al., Crim. L. Rev. 2001, 447. 553 Ashworth, Crim. L. Rev. 1993, 498, 499; Manikis, Criminol. & Crim. Just 12 (2011), 149, 150. 554 Ashworth, Crim. L. Rev. 1993, 498, 499; ders., Crim. L. F. 4 (1993), 277, 281 f.; Manikis, Criminol. & Crim. Just 12 (2011), 149, 150; Sanders., in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 204. 555 Ashworth, Crim. L. Rev. 1993, 498, 499; ders., Crim. L. F. 4 (1993), 277, 282; Fenwick, Modern L. Rev. 60 (1997), 317, 318; Manikis, Criminol. & Crim. Just 12 (2011), 149, 150. 556 Home Office, Victims’ Charter – Standards of Service for Victims of Crime, London, 1990; Doak, Victims’ Rights, S. 12 f.; deutschsprachig Höynck, Das Opfer, S. 111. Siehe zum CPVC Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 46, 53 f. 557 Der Code wurde mehrfach geändert, die aktuellste Version stammt vom Oktober 2015 und ist abrufbar unter goo.gl/R1388Y (11. 2. 2018). 558 DVCVA 2004, sec. 32 (1). Zum politischen Hintergrund siehe Ward/Bird, DVCVA 2004, S. 3 f. 559 CPVC, Introduction § 1.

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RB 2001/220/JI in das englische Recht.560 In den Jahren 2013 und 2015 wurde er reformiert, insbesondere um die Vorgaben der RL 2012/29/EU umzusetzen.561 (a) Inhaltliche Vorgaben Die Code-Vorgaben regeln ganz überwiegend die Information, zu einem geringeren Anteil auch die Beratung und Unterstützung des Opfers von Beginn der Strafverfolgung bis zur Haftentlassung eines Verurteilten. Daneben werden Schutzmaßnahmen im Strafverfahren, die Möglichkeit staatlicher Entschädigung und Restorative Justice-Angebote thematisiert.562 Außerdem sind spezielle Maßnahmen für besonders schutzbedürftige Opfer vorgesehen.563 Prozessuale Rechte des Opfers waren in der ursprünglichen Version des Codes gar nicht enthalten, sondern wurden erst vereinzelt durch die Reformen in den Jahren 2013 und 2015 eingeführt. Erwähnt werden insofern der Anspruch auf Abgabe eines VPS und die Möglichkeit, eine Nichtverfolgungsentscheidung staatlicher Strafverfolger behördenintern überprüfen zu lassen.564 Außerdem werden die am Strafjustizsystem beteiligten staatlichen Akteure verpflichtet, die Ansicht des Opfers bei einigen ihrer Entscheidungen einzubeziehen. Wenn ein Verfahren durch eine außergerichtliche Vereinbarung beigelegt werden soll, soll die zuständige Stelle – zumeist die Polizei oder der CPS – z. B. die Meinung des Opfers einholen und bei ihrer Entscheidung berücksichtigen, wenn dies zweckmäßig ist.565 Auch wenn die Anhörung des Opfers vorgesehen ist, sind die Akteure gleichwohl nie verpflichtet, seinen Aussagen zu folgen.566 Außerdem kann der CPVC weder Richtern noch Mitarbeitern des CPS Verpflichtungen auferlegen, soweit sie Ermessensentscheidungen treffen.567 Die meisten strafverfolgungsbezogenen Entscheidungen des CPS werden deshalb durch die Vorgaben des CPVC nicht tangiert. Schwerpunktmäßig normiert der CPVC somit Servicerechte und nicht prozessuale Rechte. Darin spiegelt sich, dass Servicerechte mittlerweile weitgehend kon560

S. 25. 561

Hall, in: Hucklesby/Wahidin, Criminal Justice, S. 202, 210; ders., Victims of Crime,

Ministry of Justice, Revising the Victims’ Code, Consultation Document, S. 4, abrufbar unter goo.gl/0zTVz3 (11. 2. 2018). 562 Im Überblick CPVC, Introduction §§ 16 ff.; Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 730 ff. 563 CPVC, ch. 1. Diese betreffen vornehmlich die Zeugenaussage. Siehe zu weiteren Schutzvorgaben für (Opfer-)Zeugen z. B. den Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999, Part II sowie die rechtlich unverbindliche, vom Ministry of Justice verfasste Witness Charta, Standards of care for witnesses in the criminal justice system, 12.2013; dazu Hall, in Hucklesby/ Wahidin, Criminal Justice, S. 202, 212 ff.; Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 46, 54 ff. 564 CPVC, ch. 2 A § 1.12 ff., ch. 2 B § 1.7 ff und CPVC, ch. 2 A § 2.2, ch. 2 B §§ 2.2 f., 2.8, 2.13. 565 CPVC, ch. 2 A § 2.7. 566 Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 738. 567 DVCVA 2004, sec. 32 (5).

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sentiert sind, wohingegen die Legitimation prozessualer Rechte für Straftatopfer weiterhin kontrovers ist.568 Servicestandards und Schutzrechte verleihen Opfern keine Aktivposition im Prozess und ermöglichen so nicht die Verfolgung eines privaten Feststellungsinteresses. Auch die im Code vorgesehenen prozessualen Rechte dienen allerdings nicht der Verfolgung eines privaten Genugtuungsinteresses. Selbst soweit dem Opfer Anhörungsrechte eingeräumt werden, kann es die strafverfolgungsbezogenen Entscheidungen nicht zwingend beeinflussen. Insgesamt gestatten die Vorgaben im CPVC dem Opfer damit nicht die Verfolgung eines privaten Feststellungsinteresses. (b) Rechtlicher Status der Opfer„rechte“ und Reformpläne Darüber hinaus sind die im CPVC normierten Vorgaben als sog. entitlements nicht gerichtlich durchsetzbar. Verstoßen die zuständigen Akteure gegen die Vorgaben, können sie weder straf- noch zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.569 Stattdessen können Verstöße gegen den CPVC nur in Behörden-eigenen internen Beschwerdeverfahren moniert werden.570 Die internen Beschwerdeverfahren garantieren jedoch nicht, dass der Betroffene sein Recht bzw. ggf. eine Entschädigung erhalten würde. Bei Unzufriedenheit mit dem Ergebnis des internen Beschwerdeverfahrens kann sich der Betroffene in einem zweiten Schritt an ein Parlamentsmitglied wenden.571 Dieses leitet den Fall ggf. an den Parliamentary Commissioner for Administration (Ombudsmann) weiter. Der Ombudsmann kann den Sachverhalt untersuchen und bei Begründetheit des Antrags unverbindliche Vorschläge zur Abhilfe unterbreiten. Auch er verfügt jedoch nicht über Erzwingungsmöglichkeiten.572 Das Beschwerdeverfahren wird deshalb als zu kompliziert, politisiert und ineffektiv kritisiert.573 Zusätzlich soll der sog. Victims and Witness Commissioner 568 Fenwick, Modern L. Rev. 60 (1997), 317, 322; Manikis, Criminol. & Crim. Just 12 (2011), 149, 150; Sanders., in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 204. Grundlegend und die Debatte stark beeinflussend hat Ashworth gegen prozessuale Rechte argumentiert, z. B. in ders., Crim. L. F. 4 (1993), 277, 282 ff. Für eine Zusammenfassung der Argumente, die gegen prozessuale Rechte vorgebracht werden, siehe Hoyle, in: Magurie et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 411 (z. B. Beeinträchtigung der Verfahrensrechte des Angeklagten, Störung der Objektivität und Rationalität der Verfolgung/des Verfahrens und Weckung unerfüllbarer Erwartungen auf Seiten der Opfer). 569 Siehe DVCVA 2004, sec 34 (1): „If a person fails to perform a duty imposed on him by a code issued under section 32, the failure does not of itself make him liable to criminal or civil proceedings.“ 570 CPVC, ch. 2 A §§ 91 – 9.4, ch. 2 B § 9. 571 CPVC, ch. 2 A § 9.5; DVCVA 2004, sec. 47; Parliamentary Commissioner Act 1967 (c. 13). 572 Für eine Beschreibung des Verfahrens siehe Manikis, Criminol. & Crim. Just 12 (2012), 149, 154 ff. Der Beitrag bezieht sich zwar noch auf den Verfahrensstand vor der Reform des Codes im Jahr 2013, ist aber noch im Wesentlichen auch für die gegenwärtige Rechtslage zutreffend. 573 Hall, Victims of Crime, S. 25; Manikis, Criminol. & Crim. Just 12 (2012), 149, 160 ff.

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überwachen, dass der CPVC insgesamt eingehalten wird.574 Der Commissioner ist allerdings als Vertreter der „Opferallgemeinheit“ konzipiert und darf weder im Namen eines spezifischen Opfers noch in Bezug auf ein konkretes Strafverfahren aktiv werden.575Abhilfe bei einem Verstoß gegen den Code kann er nicht zusprechen. Insgesamt sind die im CPVC normierten „Rechte“ von Straftatopfern damit weder gerichtlich durchsetzbar noch ist ihre Einhaltung anderweitig effektiv erzwingbar. Im Vorfeld der Parlamentswahlen in 2015 traten alle großen Parteien mit dem Wahlversprechen an, die Rechte von Straftatopfern zu stärken.576 Erklärtes Ziel war, ein Victims‘ Law zu erlassen, um die Schlüsselrechte von Opfern in einem Parlamentsgesetz zu verankern und so gerichtlich erzwingbar auszugestalten. Auch die Queen‘s Speech to the Parliament 2015 nahm diese Idee auf.577 Diese Ankündigungen mündeten in den Entwurf des Victims‘ Bill, der am 4. März 2015 im Parlament vorgestellt wurde.578 Darin wurde u. a. vorgeschlagen, das Recht von Opfern, Einstellungsentscheidungen anzufechten, in einem Gesetz zu regeln und auf Entscheidungen der Polizei auszuweiten.579 Außerdem sollten die im CPVC vorgesehenen Positionen in ein Parlamentsgesetz überführt werden. Der Entwurf wurde jedoch 2016 nicht weiter verhandelt und der Victims‘ Bill nicht erlassen. Im Juli 2017 unternahm ein Mitglied des House of Lords durch Einbringung des Victims of Crime (Rights, Entitlements, and Notification of Child Sexual Abuse) Bill einen erneuten Versuch, einige Opferrechte in einem Parlamentsgesetz zu regeln.580 Bisher sind Opferrechte aus dem CPVC aber nach wie vor weder in ein Parlamentsgesetz überführt noch justiziabel ausgestaltet. (2) Sonstige Mitwirkungsrechte im Strafverfahren Neben dem CPVC normieren einige weitere Gesetze, Verordnungen und (unverbindliche) Richtlinien vereinzelte Rechte für Straftatopfer im Kontext der öf-

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DVCVA 2004, sec. 48 ff. DVCVA 2004, sec. 51 (1), (2). 576 Labour-Party, Press Release, abrufbar unter http://press.labour.org.uk/post/71354241 522/keir-starmer-to-advise-labour-on-first-victims (6. 11. 2017); Conservative Party, The Conservative Party Manifesto 2015, S. 59, abrufbar unter https://s3-eu-west-1.amazonaws.com/ma nifesto2015/ConservativeManifesto2015.pdf (6. 11. 2017); Liberal Democrats, Manifesto 2015, Punkt 9.3, abrufbar unter goo.gl/sh40ld (27. 9. 2016). 577 The Queen’s Speech 2015: background and briefing notes, S. 94, abrufbar unter https:// www.gov.uk/government/publications/queens-speech-2015-background-briefing-notes (27. 9. 2016). 578 Victims (Bill of Rights) Bill (HC Bill 181), abrufbar unter goo.gl/75VaRv (14. 11. 2016). 579 Siehe sec. 4 des Draft Bills: In the event of a criminal prosecution being discontinued by the investigating police force or the Crown Prosecution Service, a person affected by the alleged crime shall be entitled to request a review of that decision by the Crown Prosecution Service. 580 Siehe zu dem Gesetzesentwurf und dem Verfahren die Informationsseite des britischen Parlaments, abrufbar unter goo.gl/Kdht1n (6. 11. 2017). 575

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fentlichen Strafverfolgung.581 Für die Verfolgung seines Feststellungsinteresses im Strafverfahren wäre es insbesondere vorteilhaft, wenn das Opfer auf die Sachverhaltsauf-klärung einwirken könnte. Weder das kodifizierte Recht noch das Common Law verbürgen indes eine formale rechtliche Möglichkeit für das Opfer, die Aufklärung des Geschehens im Ermittlungs- und Hauptverfahren zu beeinflussen. Das Opfer kann die Polizei bzw. den CPS lediglich informell bitten, seinen Hinweisen nachzugehen oder bestimmte Beweise vor Gericht zu präsentieren. Der Staatsanwalt kontaktiert das Opfer allerdings in der Regel nicht von sich aus vor Entscheidungen, z. B. über die Anklageerhebung, sondern informiert Opfer erst, nachdem er eine Entscheidung getroffen hat.582 Selbst informelle Hinweise und Bitten sind deshalb praktisch nicht immer rechtzeitig möglich. Damit auf einer Linie wird das Opfer auch nicht an Absprachen zwischen dem CPS und der Verteidigung beteiligt. Die Richtlinien des CPS sehen insofern lediglich vor, dass der jeweilige Staatsanwalt die Interessen des Opfers als Teil des öffentlichen Interesses bei der Entscheidung über eine Absprache im Einzelfall einbeziehen kann und er das Opfer über etwaige Absprachen informieren und diese ggf. erklären muss.583 Unmittelbar beeinflussen oder verhindern kann das Opfer die Absprachen nicht. Weiterhin entscheiden prinzipiell allein die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung, welche Personen sie zur Darlegung ihrer Versionen des Geschehens in den Zeugenstand rufen.584 Praktisch wird das Opfer zwar häufig von dem CPS als Zeuge benannt.585 Verlangen kann das Opfer das aber nicht. Im Rahmen der Zeugenaussage ist es darauf beschränkt, die Fragen der Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu beantworten und kann nicht frei seine Sicht der Dinge darstellen.586 Auch ein Beweisantrags- oder Beibringungsrecht, ein Fragerecht oder ein Recht auf rechtliche Repräsentation hat das Opfer nicht.587 Eine rechtlich verbürgte Möglichkeit zur Äußerung hat es nur im Rahmen des VPS, das jedoch allenfalls für die Strafzumessung hinzugezogen wird.588 Insgesamt verfügt das Opfer damit über keine for581 Siehe z. B. Criminal Injuries Compensation Scheme (für die staatliche Entschädigung); erläuternd dazu Gibson/Cavadino, Introduction to the Criminal Justice Process, S. 182 f.; Powers of Criminal Courts (Sentencing) Act 2000, sec. 130 – 134 (für die Entschädigung durch den Täter); Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999, Part II (für den Zeugenschutz). 582 Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 215 (zu Entscheidungen allgemein); Spencer, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 155 (zur Anklageentscheidung). 583 Attorney General’s Office, The acceptance of pleas and the prosecutor’s role in the sentencing exercise, 11.2012, B 3, abrufbar unter goo.gl/x2zoPp (11. 2. 2018). 584 Doak, Victims’ Rights, S. 138, 193 ff. 585 So zur Praxis des CPS der Staatsanwalt Richard Crowely im persönlichen Gespräch mit der Verfasserin am 2. 8. 2013 in Leicester. 586 Doak, Victims’ Rights, S. 193 ff.; ders., J. L. Society 32 (2005), 294, 298; Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 163, 171 f., 175. Zu den mit dem Kreuzverhör verbundenen Belastungen des Zeugen Ellison, Adversarial Process, S. 111 ff. und passim; Höynck, Das Opfer, S. 118. 587 Doak, Victims’ Rights, S. 138. 588 Siehe zum VPS Kap. 3 A III 2 a) dd).

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male rechtliche Möglichkeit, um die Aufklärung der Schuld des Angeklagten im Strafverfahren zur Verfolgung eines eigenen Feststellungsinteresses zu beeinflussen. Ebenso wenig kann sich das Opfer gegen ein Strafurteil wehren. Die Revision steht ausschließlich den Parteien des Strafverfahrens zu und als solche gelten nur die Anklage und der Angeklagte.589 2015 entschied der Court of Appeal (Criminal Division) zwar erstmals, dass der CPS bei der Revisionsentscheidung das Interesse des Opfers neben den Interessen der Allgemeinheit und des Angeklagten berücksichtigen müsse.590 Denn die Entscheidung über die Revision sei für das Opfer ebenso final wie die initiale Entscheidung über die Strafverfolgung. Damit folgte das Gericht den Ausführungen der Killick-Entscheidung, dass bei Strafverfolgungsentscheidungen die Interessen des Staates, des Beschuldigten und des vermeintlichen Opfers einzubeziehen seien. Inwieweit dies eine Trendwende einläutet und Opferinteressen eigenständig neben dem öffentlichen Interesse zu beachten ist, ist derzeit noch offen.591 Jedenfalls ist es dem Opfer aber nicht möglich, selbst gegen ein Urteil vorzugehen. Die Möglichkeiten des Opfers, die öffentliche Strafverfolgung zu beeinflussen, sind im englischen Recht damit stark limitiert. 1999 erwog der Gesetzgeber deshalb, eine Parteiposition für das Opfer im öffentlichen Strafverfahren einzuführen.592 Angestoßen wurde die Diskussion von dem Abschlussbericht zur Untersuchung des prominenten Kriminalfalls um die Tötung von Stephen Lawrence. Darin wurde empfohlen, Opfern im englischen Strafverfahren die Möglichkeit zu geben, als „civil party“ am Strafverfahren teilzunehmen.593 Ziel der neuen Stellung sollte sein, Opfer besser über laufende Verfahren zu informieren. Das Innenministerium veranstaltete daraufhin eine private zweitägige Konferenz, während derer Rechtsexperten die Umsetzung des Vorschlags zur Einführung einer Parteiposition für Opfer im Strafverfahren debattierten. Auf Grundlage der Diskussionsbeiträge wurde die Idee mit der Begründung verworfen, dass Opfer schon in inquisitorisch organisierten Strafverfahren weder von der Einräumung einer Position als „civil party“ noch von der Einräumung einer Position als Nebenkläger profitierten.594 Vorteile wären daher auch 589 R (Bulger) v Secretary of State for the HomeDepartment [2001] EWHC Admin 119 Rn. 20 f. Der Ausschluss gilt für den appeal vor dem Strafgericht wie für die judicial review vor dem High Court. 590 R v Quillan and others [2015] EWCA Crim 538 Rn. 34 591 Siehe bereits ausführlich Kap. 3 A III 2 a) bb) (2), cc) (1) (b). 592 Siehe dazu Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 153. Zu den gescheiterten Versuchen, einen Opferanwalt im englischen Strafverfahren zu etablieren, siehe Doak, Victims’ Rights, S. 143 ff. 593 Macpherson, The Stephen Lawrence Inquiry, Report, Cm 4262-I, Recommendation 41: „That consideration should be given to the proposition that victims or victims’ families should be allowed to become ,civil parties‘ to criminal proceedings, to facilitate and to ensure the provision of all relevant information to victims or their families.“ 594 Home Office Special Conferences Unit, Criminal Justice Conferences, The Role of the Victims in the Criminal Justice Process, 13 – 15 September 1999, Shrigley Hall Hotel, Macclesfield, Conference Report, S. 42 (Der Report wurde nur an die Teilnehmer ausgegeben. Prof.

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im englischen, adversatorisch ausgestalteten System nicht zu erwarten. Um die Situation von Opfern im Strafverfahren zu verbessern, seien andere Maßnahmen, z. B. der Ausbau des VPS, besser geeignet. Die Reformidee, Opfern einen anwaltlichen Beistand zur Seite zu stellen, wurde ebenfalls nur in einem kurzen Pilotprojekt im Jahr 2006 erprobt, setzte sich aber nicht durch.595 Das Opfer kann damit in England und Wales bis heute nicht mit einer eigenständigen Rolle am öffentlichen Strafverfahren partizipieren. (3) Ergebnis Auch die sonstigen Rechte, über die das (mutmaßliche) Opfer (neuerdings) im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung in England verfügt, ermöglichen ihm weder die Verfolgung eines privaten Genugtuungsinteresses noch weisen sie auf die Anerkennung eines solchen Interesses im Strafjustizsystem hin. Das Opfer hat keinen Parteistatus im Strafverfahren und kann den Verfahrenslauf nicht unmittelbar beeinflussen, sondern verfügt primär über Servicerechte.596 Schließlich sind die „Rechte“, die dem Verletzten durch die Reformen der letzten Jahre eingeräumt worden sind, nicht justiziabel. b) Private Strafverfolgung Im englischen Recht verfügt jede Privatperson seit jeher über die power to prosecute, also über die Befugnis, Anklage zu erheben und die Strafverfolgung zu betreiben.597 Dieses Rechtsinstitut wird als private prosecution (Privatstrafklage) bezeichnet. Die Befugnis zur Erhebung der Privatstrafklage wurzelt im Common Law, wurde aber von der Regierung unter Thatcher zusätzlich kodifiziert.598 In PoOA 1985, sec. 6 (1) ist entsprechend normiert, dass jedermann berechtigt ist, Anklage zu erheben und die Strafverfolgung gegen eine andere Person zu betreiben.599 Praktisch John R. Spencer, University of Cambridge, hat die Autorin freundlicherweise seine private Kopie des Reports im Sommer 2013 einsehen lassen). Inoffiziell soll vor allem die Befürchtung ausschlaggebend gewesen sein, die Verfahren würden bei Beteiligung einer partie civile länger dauern und mehr kosten, Spencer, in: Bottoms/Ro-berts, Hearing the Victim, S. 141, 154 595 Das Pilotprojekt bezog sich auf sog. Family Impact Statements und stellte Familien getöteter Opfer testweise im Strafverfahren einen staatlich finanzierten Anwalt zur Seite; Ministry of Justice, Evaluation of the victims’ advocate scheme pilots, Ministry of Justice Research Series 17/08, Oktober 2008. 596 Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 163, 174. Krit. deshalb z. B. Hall, in: Hucklesby/Wahidin, Criminal Justice, S. 202, 216; Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 741. 597 Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435 (HL) 497 f. (Lord Diplock); Halsbury’s Laws of England, Vol. 27 § 23; Spencer, Isr. L. Rev. 31 (1997), 286, 288. 598 Halsbury’s Laws of England, Vol. 27 § 23 Fn. 1, 8. 599 PoOA 1986, sec. 6 lautet: „(1) Subject to subsection (2) below, nothing in this Part shall preclude any person from instituting any criminal proceedings or conducting any criminal proceedings to which the Director’s duty to take over the conduct of proceedings does not apply.

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werden Privatstrafklagen jährlich in geringer, aber nicht unbedeutender Anzahl erhoben.600 aa) Ablauf der privaten Strafverfolgung Das Attribut private im Kontext der Privatstrafklage bezieht sich ausschließlich auf den Status des Anklägers. Dieser wird als Privatperson und nicht als staatliche Anklagebehörde tätig. Davon abgesehen agiert der Privatstrafkläger wie der öffentliche Ankläger im Kontext des öffentlichen Strafjustizsystems. Um die Strafverfolgung gegen einen anderen Bürger anzustrengen, muss der Privatstrafkläger die summons and information procedure befolgen.601 Dazu muss er zunächst den Verdächtigen über die intendierte Anklage in Kenntnis setzen.602 Sodann hat er die Anklageentscheidung (decision to prosecute) zu treffen und eine sog. information vorzubereiten. Darin ist anzugeben, welche Delikte dem Beschuldigten zur Last gelegt werden, inklusive Angaben zu Ort und Zeit des Geschehens sowie zur Identität des Verdächtigen. Diese Information muss der Privatstrafkläger dem Magistrates’ Court schriftlich oder mündlich übermitteln.603 Das Gericht prüft überblicksartig, ob die information gültig ist. Dabei ist das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet, die Tragfähigkeit der Beweislage zu überprüfen. Allerdings kann es das weitere Vorgehen ablehnen, wenn die Strafverfolgung unseriös oder leichtfertig erscheint604 oder die Beweise eindeutig unzureichend sind.605 Der Privatstrafkläger muss also zumindest eine summarische gerichtliche Überprüfung überstehen, um Anklage erheben zu können.606 Außerdem unterliegt die Durchführung der Privat(2) Where criminal proceedings are instituted in circumstances in which the Director is not under a duty to take over their conduct, he may nevertheless do so at any stage.“ Er ist zu lesen zusammen mit PoOA 1985, sec. 3 (2), der beschreibt, welche Verfahren der DPP gem. sec. 6 (1) übernehmen muss. Siehe zu den Fällen, in denen die Privatstrafklage ausgeschlossen ist, Halsbury’s Laws of England, Vol. 27 § 23 Fn. 8, § 32; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 145. 600 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 223. R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 33 (Lord Wilson), erklärt sie sogar für häufig; ähnlich R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 89 (Lord Mance); Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 293. 601 Dieses Verfahren steht auch solchen öffentlichen Behörden offen, die nicht gem. CJA 2003, sec. 29 (4) die charge and requisition procedure anwenden müssen. Welche dies sind, ergibt sich im Umkehrschluss aus CJA 2003, sec. 29 (5). Siehe dazu Sprack, Criminal Procedure, 3.33. 602 Zu den folgenden Verfahrensschritten siehe Sprack, Criminal Procedure, 3.34. Siehe auch zu den Schritten vor Gericht Magistrates’ Court Act 1980, sec. 1. 603 Eine schriftliche information kann auch dem Clerk des Magistrates’ Court vorgelegt werden, Sprack, Criminal Procedure, 3.36. 604 Scopelight Ltd v Chief Constable of Northumbria Police Force [2009] EWCA (Civ) 1156 Rn. 45; Sprack, Criminal Procedure, 3.37 mwN. 605 Mead (1916) 80 JP 382, zitiert nach Sprack, Criminal Procedure, 3.37. 606 Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 427, 429 weist jedoch darauf hin, dass dies keine große Hürde sei.

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strafklage der Kontrolle des Strafgerichts, das sie später als abuse of process einstellen kann.607 Ist die information gültig, erlässt das Gericht eine Vorladung (summons) und stellt sie dem Angeklagten zu. In der Vorladung wird angegeben, wann der Angeklagte vor welchem Gericht zu welchen Vorwürfen Stellung zu beziehen hat und wer die Anklage erhoben hat.608 Wird der Fall vor dem Magistrates’ Court verhandelt, kann der Privatstrafkläger die Anklage persönlich vor Gericht vertreten.609 Vor dem Crown Court hingegen muss er einen Rechtsanwalt (barrister) verpflichten, weil Laien die Befugnis fehlt, vor dem Crown Court auf Anklageseite aufzutreten.610 Die anwaltlichen Dienste muss der Privatstrafkläger selbst bezahlen.611 Das gerichtliche Verfahren verläuft wie im Fall der Anklageerhebung durch eine öffentliche Anklagebehörde. Insbesondere ist der gleiche Beweisstandard zu erfüllen. Im Unterschied zum öffentlichen Strafverfolger hat der Privatstrafkläger allerdings keine rechtliche Möglichkeit, von der Polizei oder dem CPS zu verlangen, ihn bei der Aufklärung des Sachverhalts zu unterstützen oder ihm z. B. Akteneinsicht zu gewähren, sondern ist auf sich gestellt.612 Im Wesentlichen ist das Privatstrafklageverfahren damit wie die Strafverfolgung durch einen öffentlichen Ankläger strukturiert. Aus Sicht des Privatstrafklägers wird die Betreibung der Privatstrafklage als beschwerlich bewertet.613 Sie koste erhebliche Zeit, Mühe und Geld des Privatstrafklägers und führe – unabhängig von der Beweislage – meist nicht zur Verurteilung des Angeklagten.

607 R v Belmarsh Magistrates’ Court, ex parte Watts [1999] 2 Cr App R 188; Jones v Whalley [2006] UKHL 41; siehe zu diesen Fälle Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 146 ff. Allgemein zu dieser Möglichkeit Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 427, 430. 608 Sprack, Criminal Procedure, 3.39. 609 Gillespie/Weare, The English Legal System, 12.1.3; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 145. 610 Sprack, Criminal Procedure, 14.23. Gerichte können zwar nach ihrem Ermessen Privatstrafklägern gestatten, selbst vor dem Crown Court aufzutreten, sollen dies aber nur in Ausnahmefällen tun, R v Southwark Crown Court, ex parte Tawfick [1995] 7 Admin LR 410. Zweifelnd zu diesem Urteil Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 428 f., 431. Für Gründe, warum Gerichte dies in aller Regel nicht zulassen, siehe Saunders, N. L. J. 145 (1995), 1423, 1424. 611 Prozesskostenhilfe erhält der Privatkläger nicht, zu den Gründe siehe Saunders, N. L. J. 145 (1995), 1423, 1424; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 145. 612 R v DPP, ex parte Hallas [1988] 87 Cr App R 340; Scopelight Ltd v Chief Constable of Northumbria Police Force [2009] EWCA (Civ) 1156 Rn. 45. 613 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 221; Doak, Victims’ Rights, S. 125; Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 294; Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 41; ders., Isr. L. Rev. 31 (1997), 286, 288.

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bb) Die Privatstrafklage als Instrument zur Durchsetzung eines privaten Strafanspruchs? Erhebt eine Privatperson Privatstrafklage, wird sie zu einem autorisierten Strafverfolger und zu einer Partei im Strafverfahren. Sie kann erreichen, dass ein Straftäter verfolgt, verurteilt und bestraft wird. Diese Möglichkeit steht Privatpersonen grundsätzlich auch dann offen, wenn sich die Behörden zuvor gegen die Aufnahme von Ermittlungen bzw. die Anklage entschieden haben.614 Zumeist werden Privatstrafklagen von dem (vermeintlichen) Opfer einer Straftat betrieben. Die Privatstrafklage gibt dem Verletzten einer Straftat damit die Möglichkeit, selbst zu verfolgen, wenn er von der Entscheidung der staatlichen Behörden enttäuscht ist, einen Fall nicht oder wegen eines aus seiner Sicht zu leichten Delikts strafrechtlich zu verfolgen.615 Dies wirft die Frage auf, ob die Privatstrafklage dazu dient, ein privates Interesse an der Bestrafung eines anderen durchzusetzen. (1) Theoretische Konzeption der Privatstrafklage Eine staatliche Anklagebehörde, die Straftäter hätte vor Gericht bringen können, existierte in England und Wales über Jahrhunderte nicht. Vor Erlass des Prosecution of Offences Act 1879 hatten die Bürger deshalb nicht nur die Befugnis zur Strafverfolgung, sondern trugen auch die alleinige Verantwortung dafür (duty of imperfect obligation).616 Es existierte schlicht nur der private Strafankläger. Zugleich hatte sich bereits die straftheoretische Überzeugung durchgesetzt, dass die Straftat ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft sei.617 Das Recht der unerlaubten Handlung (tort law) und das Strafrecht (criminal law) wurden als getrennt erachtet und dem Strafrecht der Schutz der Gesellschaft zugeschrieben. Straftaten wurden im Interesse der Gemeinschaft geahndet. Obwohl sich also bereits die Auffassung von dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung herausgebildet hatte, existierte noch keine staatliche Verfolgungsbehörde, die das öffentliche Interesse hätte vertreten können. Diese Aufgabe übernahm stattdessen der Bürger als Privatstrafkläger. Aus der Tatsache, dass die Strafverfolgung Privatpersonen überlassen wurde, kann damit nicht geschlussfolgert werden, dass der Privatstrafkläger straftheoretisch ein privates Bestrafungsinteresse oder einen persönlichen Strafanspruch verfolgt hätte. Vielmehr oblag es jedem Bürger als civic duty und zugleich war es das Recht jeden Bürgers, das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des Strafrechts mittels Privatstrafklage zu

614 Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 145 ff.; Sprack, Criminal Procedure, 4.20. 615 Saunders, N. L. J. 145 (1995), 1423; Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 145; ders., Isr. L. Rev. 31 (1997), 286, 288. 616 Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435 (HL) 497 f.; Halsbury’s Laws of England, Vol. 27 § 23 Fn. 1. 617 Siehe oben Kap. 3 A I 2.

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verwirklichen.618 Der Ursprung des Privatstrafklagerechts im Common Law spricht damit gegen die Interpretation der Privatstrafklage als Instrument zur Durchsetzung eines privaten Bestrafungsinteresses/Strafanspruchs. Praktisch übernahm ab Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem die Polizei die Strafverfolgung und seit 1985 obliegt sie primär dem CPS als staatlicher Anklagebehörde.619 Diese Entwicklung hat die Notwendigkeit dafür reduziert, dass private Bürger die Strafverfolgung mittels Privatstrafklage betreiben müssten.620 Eine Veränderung der straftheoretischen Konzeption des Rechts auf Privatstrafklage ging damit jedoch nicht einher. So bestätigte Richter Mitting z. B. 2007 in einem Urteil die Argumentation, dass die Straftat, die ein Privatstrafkläger anklage, straftheoretisch als Unrecht gegenüber der Gesellschaft konzeptualisiert werde.621 Aus der Natur der Straftat folge, dass ein Privatstrafkläger stets stellvertretend für die Gesellschaft im öffentlichen Interesse handle. Der Privatstrafkläger und der Staatsanwalt verträten somit gleichermaßen das öffentliche Strafverfolgungsinteresse.622 Weiterhin muss eine Privatperson auch nach geltendem Recht über keine besondere persönliche Verbindung zu der Tat oder über ein besonderes Interesse an der Verfolgung verfügen, um die Privatstrafklage betreiben zu dürfen.623 Der Privatstrafkläger muss insbesondere nicht das (vermeintliche) Opfer der angeklagten Straftat sein. Vielmehr steht die Befugnis zur Erhebung der Privatstrafklage grundsätzlich jedermann zu. Dass keine besondere Verbindung des Privatstrafklägers zu der angeklagten Tat erforderlich ist, legt ebenfalls nahe, dass der Privatstrafkläger aus normativ-theoretischer Sicht kein privates, sondern das kollektiv geteilte Interesse an der Durchsetzung des Strafrechts verfolgt. Die praktische Ausgestaltung des Privatstrafklageverfahrens bestätigt diese Annahme. Der Privatstrafkläger darf sich im Rahmen des Privatstrafklageverfahrens 618 Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435 (HL) 497 f.; Doak, Victims’ Rights, S. 125. 619 Siehe ausführlich oben Kap. 3 A III 2 a) aa). 620 Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435 (HL) 498 (Lord Diplock): „It is a right which nowadays seldom needs to be exercised by an ordinary member of the public, for since the formation of regular police forces charged with the duty in public law to prevent and detect crime and to bring criminals to justice, and the creation in 1879 of the office of Director of Public Prosecutions, the need for prosecutions to be undertaken (and paid for) by private individuals has largely dis-appeared.“ Ähnlich Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 16 (Lord Bingham). 621 R (Ewing) v Davis [2007] EWHC (Admin) 1730 Rn. 21 (Mitting J): „As I have demonstrated in my analysis of the Victorian authorities, there never was any requirement that a private prosecutor had to demonstrate that it was in the public interest that he should bring a prosecution for an offence against the provision of a public general act. […] The public interest is established by the nature of the offence created by the statute not by the circumstances alleged or by the relation of the prosecutor to them.“ 622 Scopelight Ltd v Chief Constable of Northumbria Police Force [2009] EWCA (Civ) 1156 Rn. 36; Card/Molloy, Criminal Law, 1.3; Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 6. 623 R (Ewing) v Davis [2007] EWHC (Admin) 1730 Rn. 21, 23; Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 6.

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nicht allein von seinen privaten Interessen leiten lassen. Vielmehr ist er wie der öffentliche Strafverfolger an das Gesetz gebunden. Insbesondere ist er verpflichtet, wie ein Staatsanwalt als Minister of Justice zu agieren.624 Das bedeutet, dass er unparteiisch und fair vorgehen muss und gerade nicht versuchen darf, sein persönliches Interesse an der Verurteilung um jeden Preis durchzusetzen. Weiterhin hat der DPP die Befugnis, nach seinem Ermessen ein Privatstrafklageverfahren jederzeit zu übernehmen und entweder weiterzuführen oder einzustellen bzw. einen Freispruch zu erzwingen, indem er die Vorlage von Beweisen vor Gericht verweigert. 625 Für die Ausübung dieses Ermessens hat der DPP eine an die Staatsanwälte des CPS gerichtete Richtlinie erlassen. Danach sollen die Staatsanwälte Privatstrafklageverfahren übernehmen und weiterführen, wenn die Voraussetzung des Full Code Tests, der auch für die Anklageentscheidung des CPS gilt,626 erfüllt sind und ein besonderes Bedürfnis für die Übernahme der Verfolgung durch den CPS besteht.627 Privatstrafklageverfahren sollen hingegen übernommen und eingestellt werden, wenn nach der Beweislage keine realistische Verurteilungswahrscheinlichkeit und/oder kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht.628 Nur wenn die Kriterien des Full Code Tests erfüllt sind und kein Bedürfnis für die Übernahme der Verfolgung durch den CPS besteht, lässt der DPP den Privatstrafkläger gewähren. Der Supreme 624 R v Belmarsh Magistrates’ Court, ex parte Watts [1999] 2 Cr App R 188, 200. Kritisch dazu, weil es „hart“ für den Privatstrafkläger sei, Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 294. 625 PoOA 1985, sec. 6 (2), 23; Sprack, Criminal Procedure, 4.21. Diese Entscheidung des DPP ist gerichtlich überprüfbar, R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 37. 626 Nach der Beweislage muss also eine realistische Verurteilungswahrscheinlichkeit bestehen und die Strafverfolgung muss im öffentlichen Interesse sein, siehe oben Kap. 3 A III 2 a) bb) (2). 627 CPS, Legal Guidance, Private Prosecutions: When to take over and continue with the Prosecution, abrufbar unter http://www.cps.gov.uk/legal/p_to_r/private_prosecutions/ (11. 2. 2018). Bis zum Juni 2009 folgte der DPP einer anderen Praxis: es wurden nur solche Privatklageverfahren übernommen und eingestellt, die offensichtlich nicht in eine Verurteilung münden würden, sog. clearly no case for the defendant to answer-Verfahren; siehe zu dieser Praxis die Ausführungen des DPP v. 27. 7. 1998, zitiert in R v DPP, ex parte Duckenfield [2000] 1 WLR 55, 63; Sprack, Criminal Procedure, 4.21. Damit konnten auch Privatstrafklageverfahren betrieben werden, die nicht den für öffentliche Ankläger geltenden Verdachtsgrad des Full Code Tests erfüllten. Der DPP begründete den voraussetzungsärmeren Standard damit, dass andernfalls das Privatklagerecht ungerechterweise zu sehr eingeschränkt würde. In einem obiter hielt R v DPP, ex parte Duckenfield [2000] 1 WLR 55, 68 (Laws LJ) diese Praxis für rechtmäßig. R (Gujra) v CPS [2011] EWHC 472 (Admin) Rn. 26 (Richards LJ) erklärte jedoch, das Gericht sei in der Duckenfield-Entscheidung von der Argumentation der Parteien beeinflusst gewesen und habe nicht die volle Komplexität der Streitfrage erfasst. R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 72 (Lord Neuberger) erklärte die Ausführungen in Duckenfield für nicht bindend; R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 39 (Lord Wilson) erklärte es zudem für falsch, dass die Anwendung des Full Code Tests auf die Frage, ob eine Privatstrafklage übernommen und eingestellt werde, das Recht auf Privatstrafklage leer laufen lasse. Am 23. Juni 2009 änderte der DPP seine Praxis zu der jetzt Gültigen. 628 CPS, Legal Guidance, Private Prosecutions: When to take over a private prosecution in order to stop it, abrufbar unter http://www.cps.gov.uk/legal/p_to_r/private_prosecutions/ (11. 2. 2018).

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Court hat diese Praxis abgesegnet.629 In der Konsequenz bedeutet sie, dass an die Durchführung eines Privatstrafklageverfahrens die gleichen Anforderungen gestellt werden wie an die Strafverfolgung durch den CPS: ein Privatstrafklageverfahren wird nur dann nicht eingestellt, wenn eine ausreichende Verdachtslage besteht und die Verfolgung im öffentlichen Interesse liegt.630 Neben der Einstellung durch den DPP normiert das englische Recht zudem zahlreiche weitere Möglichkeiten, um Privatstrafklageverfahren zu beenden, deren Betreibung nicht dem öffentlichen Interesse entspricht.631 Dieser konstante Rückbezug auf das öffentliche Interesse zeigt, dass Privatstrafkläger den öffentlichen Strafanspruch durchsetzen und von der theoretischen Grundannahme her keine privaten Interessen verfolgen. Dass die öffentliche Strafverfolgungsbehörde die Befugnis hat, die Verfolgung zu übernehmen und fortzusetzen, bestätigt zusätzlich, dass der private und der öffentliche Strafverfolger das gleiche, nämlich öffentliche Interesse verfolgen. Die historischen Ursprünge der Privatstrafklage, ihre theoretische Konzeptualisierung und die Ausgestaltung des Verfahrens zeigen, dass der jeweilige Privatstrafkläger aus normativ-theoretischer Sicht das kollektiv geteilte Interesse an der Durchsetzung des Strafrechts und nicht sein privates (Genugtuungs-/Bestrafungs-) Interesse verfolgt.632 Dass praktisch ein privates Motiv – z. B. persönliche Vergeltung – einen Privatstrafkläger veranlassen mag, Privatstrafklage zu erheben, steht auf einem anderen Blatt. Allerdings ist nach den Richtlinien des DPP u. a. gerade ein wichtiger Grund für die Übernahme einer Privatstrafklage, dass der Privatstrafkläger 629 R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 (3:2-Mehrheitsentscheidung); zust. Besprechung bei Amirthalingam, L. Quaterly Rev. 2013, 325 ff.; Hungerford-Welch, Crim. L. Rev. 2013, 337 ff.; Stark, Cambridge L. J. 2013, 7 ff. Der Kritik des Klägers, dass diese Praxis das Privatstrafklagerecht praktisch leerlaufen lasse (siehe R (Gujra) v CPS [2011] EWHC 472 (Admin) Rn. 17) schlossen sich weder der Supreme Court noch der High Court an, zu letzterem siehe R (Gujra) v CPS [2011] EWHC 472 (Admin) Rn. 24. Vielmehr solle für alle Strafverfolgungen und Ankläger der gleiche Test gelten. 630 Die Gründe des DPP für die Vorgabe dieser Praxis werden wiedergegeben in R (Gujra) v CPS [2011] EWHC 472 (Admin) Rn. 16: „(i) It is wrong for a defendant potentially to be subjected to proceedings which the State’s principal prosecuting authority would not bring because of insufficient evidence. (ii) It is iniquitous for a defendant to be treated differently simply because of who the prosecutor is. (iii) Evidentially weak cases where there is not a realistic prospect of conviction consume the resources of the criminal justice system, prejudice those cases which properly should be there and introduce an unacceptable risk that a perverse verdict might be returned.“ 631 Siehe zu den Mitteln Scopelight Ltd v Chief Constable of Northumbria Police Force [2009] EWCA (Civ) 1156 Rn. 45 f.: ein Antrag des Attorney General gem. Senior Courts Act 1981, sec. 42; die Weigerung des Magistrates’ Court, eine Vorladung zu erlassen; die Übernahme und Einstellung durch den CPS sowie die Einstellung durch das Strafgericht als abuse of process. Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 12 (Lord Bingham) bezweifelt allerdings, dass diese Mittel wirklich jeden Missbrauch der Privatstrafklage effektiv verhindern können. 632 Doak, Victims’ Rights, S. 125; Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 6. Siehe auch R (Gujra) v CPS, [2012] UKSC 52 Rn. 64 (Lord Neuberger): „However, the right to institute and conduct a private prosecution is not in quite the same category of rights as a right to seek a remedy or compensation for a wrong by bringing a claim in the civil courts.“

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sie als Instrument zur Verfolgung einer persönlichen Agenda gegen den Beschuldigten (miss)braucht.633 (2) Bedeutung und Zweck der Privatstrafklage im Kontext der staatlichen Strafverfolgung Die Errichtung einer staatlichen Anklagebehörde hat die Notwendigkeit dafür reduziert, dass private Bürger die Strafverfolgung im öffentlichen Interesse betreiben.634 Zweck und auch Erwünschtheit des fortbestehenden Privatstrafklagerechts im Kontext der modernen, staatlich dominierten Strafverfolgung sind deshalb stark umstritten. Besonders veranschaulicht wird dieser Meinungsstreit durch Äußerungen der Richter in der House of Lords-Entscheidung Jones versus Whalley.635 In diesem Urteil entschieden die Lords, dass eine Privatstrafklage nicht mehr erhoben werden könne (ein abuse of process sei), wenn die Polizei dem Beschuldigten zuvor versichert habe, er werde nicht strafrechtlich verfolgt, wenn er eine Verwarnung (caution) akzeptiere, und der Beschuldigte in der Konsequenz der Verwarnung zugestimmt habe. Die Privatstrafklage könne in einem solchen Fall nur betrieben werden, wenn die Verwarnung zuvor mittels judicial review angegriffen und als rechtswidrig aufgehoben worden sei. Die grundsätzlichere Frage, ob eine Verwarnung der Polizei – ohne Hinweis auf den Ausschluss einer späteren Anklage – stets die Möglichkeit der Privatstrafklage präkludiert, entschieden die Lords nicht. Als Grund für diese Zurückhaltung nannten sie die hohe Tragweite, die eine solche Entscheidung für die Bedeutung des Rechts auf Privatstrafklage im modernen Strafjustizsystem gehabt hätte. In dieser Grundsätzlichkeit sei das Recht auf Privatstrafklage nicht ausreichend Gegenstand der Verhandlung gewesen.636 Nichtsdestotrotz äußerten einige Richter ihre persönlichen Ansichten zum Wert dieses historischen Rechtsinstituts im Kontext des modernen Strafjustizsystems und zeigen dabei die Spannbreite der hierzu vertretenen Meinungen auf. Am kritischsten äußerte sich Lord Bingham, der die Privatstrafklage für ein historisches Institut von fragwürdigem Wert hält, dessen Nutzung dem öffentlichen Interesse widersprechen könne: „A crime is an offence against the good order of the state. It is for the state by its appropriate agencies to investigate alleged crimes and decide whether offenders should be prosecuted. In times past, with no public prosecution service and ill-organised means of enforcing the law, the prosecution of offenders necessarily depended on the involvement of private individuals, but that is no longer so. The 633

CPS, Legal Guidance, Private Prosecutions: When to take over and continue with the Prosecution: „the prosecution is being used as a device to enable the prosecutor to pursue a personal agenda against the defendant arising from a form of relationship between them.“, abrufbar unter http://www.cps.gov.uk/legal/p_to_r/private_prosecutions/ (11. 2. 2018). 634 Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435 (HL) 498. 635 Jones v Whalley [2006] UKHL 41. Kritisch zu dem Urteil Blakeley, Cambridge L. J. 2007, 11 ff.; Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 291 ff. 636 Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 16, 32, 34, 38. Krit. zu dieser Unterscheidung der Streitfragen im Urteil Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 291.

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surviving right of private prosecution is of questionable value, and can be exercised in a way damaging to the public interest.“637 Vermittelnd attestierte Lord Carswell der Privatstrafklage einen Restwert von nicht zu großer Bedeutung: „I agree with your Lordships that the right to bring a private prosecution retains a residual value, although in modern circumstances I would not wish to overstate its importance.“638 Als Verfechter eines überragenden Wertes der Privatstrafklage trat Lord Mance auf: „The right of private prosecution operates and has been explained at the highest level as a safeguard against wrongful refusal or failure by public prosecuting authorities to institute proceedings.“639 Die Argumente, die gegen die Beibehaltung des Privatstrafklagerechts vorgebracht werden, sind zahlreich. Von einem theoretischen Standpunkt aus wird argumentiert, das Privatstrafklagerecht sei schlicht eine Anomalie in einem System öffentlicher Strafverfolgung und Strafjustiz.640 Außerdem ermögliche das Privatstrafklageverfahren systemfremd einer Privatpartei, das Strafrecht für private Rachenahme oder sonstige Beweggründe zu missbrauchen.641 Mit Blick auf eine gleichmäßige und allen Beschuldigten gegenüber zu rechtfertigende Strafverfolgungspraxis wird vorgebracht, dass der CPS geschaffen worden sei, um eine einheitliche, kohärenten Prinzipien folgende und faire Strafverfolgungspraxis sicher zu stellen. Dieses Ziel werde konterkariert, wenn Private weiterhin die Möglichkeit hätten, willkürlich Privatstrafklageverfahren anzustrengen.642 Die Verfahren kosteten zudem Justizressourcen und öffentliche Gelder. Außerdem würden in Privatstrafklageverfahren fundamentale Prinzipien, die die Fairness eines jeden Strafverfahrens garantieren sollten, nicht eingehalten.643 Im Zuge der Diskussion über die Errichtung des CPS als staatlicher Anklagebehörde wurde deshalb auch darüber debattiert, ob als Konsequenz das Institut der Privatstrafklage abgeschafft werden sollte. Die Royal Commission on Criminal Procedure, welche mögliche Reformen des englischen Strafjustizsystems untersuchte und die Einführung des CPS empfahl, schlug in ihrem Bericht eine Reform des

637

Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 16. Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 32. 639 Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 43. Zust. Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 291. 640 Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 15 f. (Lord Bingham); Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 107; Blakeley, Cambridge L. J. 2007, 11, 13; Doak, Victims’ Rights, S. 17. 641 Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 427 f.; Doak, Victims’ Rights, S. 126. In diese Richtung auch Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 223. 642 Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 42; ders., in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 148. Dieses Argument wird allerdings zumindest teilweise dadurch entkräftet, dass der CPS mittlerweile Privatstrafklagen an den Kriterien des Full Code Tests misst und sie bei Nichterfüllung einstellt. Damit unterliegen Privatstrafklagen, von denen der CPS erfährt und deren Übernahme er prüft, faktisch den gleichen Anforderungen wie Strafklagen, die der CPS selbst erhebt. 643 Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 427, 432. 638

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Privatstrafklageverfahrens vor.644 Jeder Privatstrafkläger sollte zunächst verpflichtet werden, den CPS um Anklage zu bitten, der das Gesuch anhand der regulären Kriterien prüfen sollte. Nur wenn der CPS die Verfolgung ablehnte, sollte der Bürger den Magistrates’ Court um die Erlaubnis bitten können, die Privatstrafklage anstrengen zu dürfen, und nur bei Erhalt der gerichtlichen Erlaubnis auf öffentliche Kosten die Verfolgung betreiben dürfen. So sollte das bis dato unbeschränkte Jedermannrecht, die Strafverfolgung zu betreiben, begrenzt werden. Die Regierung unter Thatcher folgte dem Reformvorschlag jedoch nicht. Stattdessen erließ sie den heute gültigen PoOA 1985, sec. 6, der normiert, dass grundsätzlich jedermann berechtigt ist, ein Strafverfahren anzustoßen und die Strafverfolgung auch zu betreiben. Damit entschied sich das Parlament, das Recht auf Privatstrafklage prinzipiell auch im modernen System staatlich dominierter Strafverfolgung beizubehalten.645 Politischer Grund für die Beibehaltung des Rechts auf Privatstrafklage soll vor allem gewesen sein, dass die Regierung Thatchers private Initiativen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und damit auch im Strafjustizsystem fördern wollte.646 Außerdem wird angeführt, dass das Privatstrafklagerecht (right to private prosecution) traditionell ein fundamentales Bürgerrecht sei.647 Der primäre Grund für die Beibehaltung der Privatstrafklagemöglichkeit ist laut ihrer Verfechter allerdings, dass die Privatstrafklage ein wichtiger Sicherungsmechanismus (constitutional safeguard) gegen ungerechte, korrupte oder parteiische Entscheidungen bzw. Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden sei.648 Mit diesem Argument hatte auch die Royal Commission on Criminal Procedure ihren Vorschlag begründet, die Privatstrafklage nicht gänzlich abzuschaffen, sondern nur zu reformieren. Gerade dieses Argument wird jedoch von den Kritikern der Privatstrafklage wiederum angegriffen.649 Seine Berechtigung stamme aus einer Zeit vor Schaffung des CPS, der die Strafverfolgung jetzt umfassend kontrolliere.650 Außerdem sei die Privatstrafklage 644

Siehe die Wiedergabe der Empfehlung in R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 19. R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 29 (Lord Wilson). 646 Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 143; ders., in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 42.; ders., Isr. L. Rev. 31 (1997), 286, 289. 647 So z. B. R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 113 (Lord Mance). Siehe zu diesem Argument in der politischen Reformdiskussion R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 19. 648 Dieses Argument nannten schon Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435 (HL) 477 (Lord Wilberforce) und 498 (Lord Diplock) für die Beibehaltung der Privatklagemöglichkeit. In jüngerer Zeit so auch Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 43 (Lord Mance); R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 116 (Lord Mance); etwas zurückhaltender aber zust. R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 28 f. (Lord Wilson) und Rn. 68 (Lord Neuberger). Zu diesem Beweggrund für ihre Beibehaltung bei Errichtung des CPS siehe Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 223. So auch im Schrifttum z. B. Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 293 f.; Saunders, N. L. J. 145 (1995), 1423. 649 Zweifelnd insofern z. B. Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 9 (Lord Bingham). 650 Buxton, Crim. L. Rev. 2009, 427, 428. Ähnlich Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 9 (Lord Bingham). A.A., dass es auch in Zeiten des CPS ein wichtiger Kontrollmechanismus sei, Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 43 (Lord Mance); R (Gujra) v CPS, [2012] UKSC 52 Rn. 29 (Lord Wilson). 645

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zur Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden unnötig, seit anerkannt sei, dass Verfolgungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft mittels judicial review gerichtlich überprüft werden könnten.651 Bilanzieren lässt sich damit, dass die Strafverfolgung im öffentlichen Interesse ursprünglich dem privaten Strafverfolger oblag. Um die ungleichmäßige, bisweilen ungerechte und parteiische private Strafverfolgung zu kontrollieren und zu vereinheitlichen, wurde die Aufgabe der Anklage einem öffentlichen Strafverfolger übertragen. Der öffentliche Strafkläger wurde gewissermaßen geschaffen, um die private Strafverfolgung zu kontrollieren. Durch die Schaffung des öffentlichen Anklägers büßte die Privatstrafklage einen erheblichen Teil ihrer traditionellen Funktion ein. Auf der Suche nach einer neuen Ratio für das althergebrachte Rechtsinstitut identifizierten einige ihren Zweck darin, dass der private Strafverfolger nun den öffentlichen Strafverfolger kontrollieren sollte. Mit Herausbildung der jüngeren Überzeugung und Praxis, dass die Entscheidungen von Strafverfolgungsbehörden auch von den Gerichten im Rahmen der judicial review kontrolliert werden können, verliert jedoch auch dieser neue Zweck an Überzeugungskraft. Insgesamt handelt es sich damit bei der Privatstrafklage um ein überkommenes Rechtsinstrument, dessen Bedeutung im modernen öffentlichen Strafverfolgungssystem verblasst.652 Jedenfalls ist sie aus theoretisch-normativer Sicht jedoch kein Instrument, das je dazu gedient hätte oder dazu dienen soll, ein privates Genugtuungsinteresse oder gar weitergehend einen privaten Strafanspruch im öffentlichen Strafjustizsystem durchzusetzen. Vielmehr dient sie der Verwirklichung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses. c) Zusammenfassende Bewertung Im englischen Recht ist die Gesellschaft bzw. der sie repräsentierende Staat Träger des Strafverfolgungsinteresses. Die öffentliche Strafverfolgung ist strukturiert als bipolare Auseinandersetzung zwischen dem Staat und dem Angeklagten und wird von staatlichen Behörden im ausschließlich öffentlichen Interesse betrieben. Der staatliche Strafverfolger ist kein Vertreter des Opfers, sondern agiert als objektiver Minister of Justice. Die Interessen des Opfers werden nur im Rahmen der Bewertung des öffentlichen Interesses berücksichtigt. Dem Opfer selbst kommt im Rahmen der öffentlichen Strafverfolgung traditionell keine Verfolgerrolle zu, und es 651 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 223; vgl. auch Spencer, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 141, 148; ders., in: Cape, Reconcilable rights, S. 37, 42. In diese Richtung auch Hungerford-Welch, Crim. L. Rev. 2013, 337, 341; Stark, Cambridge L. J. 2013, 7, 9. Dagegen wird wiederum vorgebracht, dass die judicial review nur unter sehr engen Voraussetzungen Erfolg habe und daher kein adäquater Ersatz sei, vgl. z. B. R (Gujra) v CPS [2012] UKSC 52 Rn. 132 (Baroness Hale); Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 292 f.; in diese Richtung auch Blakeley, Cambridge L. J. 2007, 11, 13. 652 Jones v Whalley [2006] UKHL 41 Rn. 15 f. (Lord Bingham); ähnlich Blakeley, Cambridge L. J. 2007, 11, 13 (historical hangover); Doak, Victims’ Rights, S. 126. A.A. Leigh, Crim. L. Rev. 2007, 289, 293 ff.

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kann die Aktivitäten des staatlichen Strafverfolgers in Bezug auf die Anklage und Verfolgung auch nicht lenken.653 Vielmehr tritt es nur als Anzeigeerstatter, Zeuge und Empfänger von Entschädigungsleistungen in Erscheinung. In den letzten dreißig Jahren ist zwar auch in England und Wales eine Reform der Rolle des Opfers im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung diskutiert worden. In der Folge sind allerdings primär Servicerechte in den Bereichen Schutz, Information und Unterstützung gestärkt worden. Prozessuale Rechte für Opfer im Strafverfahren wurden nur vereinzelt etabliert. So hat der Verletzte jetzt überwiegend die Möglichkeit, ein VPS abzugeben. Dieses Institut ermöglicht dem Opfer jedoch nicht, eigene Interessen in Bezug auf die Verhängung der Strafe zu verfolgen, und lässt die Struktur der bipolaren, dem öffentlichen Interesse dienenden Strafverfolgung unberührt. Weiterhin hat der Verletzte wie andere Personen auch die Möglichkeit, Nichtverfolgungsentscheidungen gerichtlich überprüfen zu lassen und so zumindest indirekt auf den Beginn der Strafverfolgung Einfluss zu nehmen. Traditionell dient diese Möglichkeit indes der Kontrolle der Verwaltung und nicht der Durchsetzung eines privaten Verfolgungsinteresses. Im Zuge der Umsetzung der RL 2012/29/EU ist zudem das Recht speziell vom (vermeintlichen) Opfer gestärkt worden, Nichtverfolgungsentscheidungen behördenintern überprüfen zu lassen. Unklar, gemessen an der praktischen Ausgestaltung aber eher unwahrscheinlich ist, ob das VRRS der Durchsetzung eines privaten Verfolgungsinteresses zu dienen bestimmt ist. Jedenfalls wird dem Opfer mit dem VRRS aber eine gewisse Stellung im Strafjustizsystem eingeräumt. In diesem Zusammenhang hat der Court of Appeals (Criminal Division) zudem erstmals angedeutet, dass die Interessen des Opfers eigenständig neben denen der Allgemeinheit und des Beschuldigten und nicht nur als Teil des öffentlichen Interesses im Strafverfahren zu berücksichtigen seien. Nicht konkretisiert wurde allerdings, welche Opferinteressen konkret Beachtung finden müssen. Noch offen ist zudem, ob es sich um eine echte Trendwende handelt. Bisher haben die Ausführungen des Gerichts kaum Widerhall und keine gesetzgeberische Bestätigung gefunden. Bei der Einordnung dieser Entwicklungen ist zu beachten, dass sie auf den Einfluss von Unionsvorgaben zurückgehen. Soweit damit abweichend von der Tradition im englischen Recht ein Genugtuungsinteresse des Opfers anerkannt werden soll, beruht dies jedenfalls auch auf dem Einfluss der EU. Neben der öffentlichen Strafverfolgung existiert in England weiterhin die Privatstrafklage. Private Initiative im Kontext der Strafverfolgung ist dem englischen Recht traditionell also nicht fremd. Träger des Strafverfolgungsinteresses ist allerdings auch hier die durch das öffentliche Unrecht betroffene Rechtsgemeinschaft. Die Verfolgung wird von einer privaten Instanz, jedoch nicht zur Durchsetzung eines privaten Genugtuungsinteresses, sondern zur Verwirklichung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses betrieben. 653 Sanders, in: Hoyle/Young, Visions, S. 197, 202; Spencer, in: Delmas-Marty/ders., European Criminal Procedures, S. 1, 36; Staatsanwalt Richard Crowely im persönlichen Gespräch mit der Verfasserin am 2. 8. 2013 in Leicester.

A. Rechtsvergleich

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Träger des Strafverfolgungsinteresses ist damit im englischen Recht stets die Allgemeinheit, unabhängig davon, ob ein staatlicher oder ein privater Strafverfolger aktiv wird. Die Verfolgung wird von dem öffentlichen Interesse an einer objektiven, gerechten und verhältnismäßigen Strafverfolgung determiniert, ein Genugtuungsinteresse des Opfers findet prinzipiell keine Berücksichtigung. Auch verfügt das Opfer über keine rechtliche Möglichkeit, sein Feststellungsinteresse im Strafprozess durchzusetzen oder dessen Beachtung sicherzustellen.

IV. Horizontal-vergleichende Querschnittbetrachtung Entsprechend der oben definierten Methodik654 wird im Folgenden als zweiter Schritt der horizontale Rechtsvergleich vorgenommen. Dazu werden die Ergebnisse der Länderberichte einander gegenüber gestellt. So kann offengelegt werden, ob sich in beiden Rechtstraditionen vergleichbare normative Hürden bei der Berücksichtigung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren stellen. Dies erlaubt auch die Überprüfung der referierten These, dass allein normative Besonderheiten des Common Law Systems die Zentrierung von Opferinteressen im Strafverfahren erschweren. 1. Konstruktive Elemente strafrechtlichen Unrechts Als erste Komponente wurde untersucht, welche konstruktiven Elemente in der deutschen und englischen Strafrechtsordnung strafrechtliches Unrecht ausmachen. Gemäß EG 9 RL 2012/29/EU soll eine Straftat durch die Komponenten eines Unrechts gegenüber der Gesellschaft und einer Verletzung der individuellen Rechte des Opfers definiert sein. Die Untersuchung der deutschen und englischen Strafrechtsdogmatik hat indes gezeigt, dass entgegen der Annahme in der Richtlinie die Verletzung des individuellen Opfers in beiden Rechtsordnungen traditionell für den materiellen Verbrechensbegriff nicht konstituierend ist. Nach der Dogmatik im deutschen Recht ist das konstruktive Element einer Straftat die Verletzung eines ideell-abstrahierten Rechtsguts bzw. einer abstrakten Norm, das bzw. die der Gesamtgesellschaft zugeordnet ist. Die häufig, aber nicht notwendig damit einhergehende empirisch-reale Verletzung des Opfers verkörpert nur den normativen Konflikt. Gemäß dem Schrifttum zum englischen Recht ist konstituierendes Element einer Straftat ein public wrong, also ein Unrecht, das die Gesellschaft als Ganze betrifft. Die häufig, aber nicht notwendig damit einhergehende faktische Verletzung einer Individualperson, das private wrong, spielt bei der Konzeptualisierung des Straftatunrechts auch im englischen Recht keine primäre Rolle. Weiterhin gehen beide Rechtsordnungen übereinstimmend davon aus, dass strafrechtliches Unrecht eine besondere Schwere (gravity) bzw. besondere Sozialschädlichkeit voraussetzt. In 654

Siehe Kap. 3 A.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

der Folge wird dem Staat als Repräsentant der Gesellschaft die Reaktion auf das die Gesellschaft betreffende strafrechtliche Unrecht im gesamtgesellschaftlichen Interesse übertragen. Schließlich ist in beiden Rechtsordnungen anerkannt, dass ein Realgeschehen zugleich ein strafrechtliches Unrecht konstituieren und die Interessen eines individuellen Rechtsgenossen verletzen kann. Allerdings trennen beide Rechtsordnungen zwischen Zivil- und Strafrecht und überantworten die Behandlung der Individualverletzung primär dem bürgerlichen Deliktsrecht. Während im Strafrecht traditionell der aufgrund des Unrechts gegenüber der Gesellschaft bestehende vertikale Konflikt zwischen Staat/Gesellschaft und Straftäter behandelt wird, widmet sich das Zivilrecht dem horizontalen Konflikt zwischen Schädiger und Geschädigtem und der Kompensation der Schäden des individuellen Opfers. Nach diesen Prämissen ist die empirisch-reale Betroffenheit des individuellen Opfers – anders als von der Richtlinie unterstellt – in beiden Rechtsordnungen gerade nicht Bezugspunkt des Straftatbegriffs. Das staatliche Strafrecht entsteht vielmehr in beiden Rechtsordnungen mit der Neutralisierung des Opfers. Wenn aber das dem Einzelnen individuell widerfahrene empirisch-reale Unrecht nicht Bezugspunkt des strafrechtlichen Unrechtsverständnisses und damit der Strafrechtsdogmatik ist, fehlt es aus dogmatischer Perspektive am legitimierenden Moment dafür, ein auf eben dieses Unrecht bezogenes Feststellungsinteresse des Opfers im Strafrecht/-verfahren zu behandeln. Die Verletzung des individuellen Opfers ist kein eigener Untersuchungs- und Feststellungsgegenstand im Rahmen der Untersuchung und Feststellung einer Straftat, wenn die Straftat allein als Unrecht gegenüber der Gesellschaft definiert ist. Die Definition des Verbrechens schließt das Opfer damit gewissermaßen aus dem Strafrecht und -verfahren aus. Dies gilt für beide Rechtsordnungen gleichermaßen. 2. Ziel(e) des Strafverfahrens Auch eine Gegenüberstellung der Strafverfahrenszwecke im deutschen und englischen Recht zeigt deutliche Parallelen in den Zielsetzungen. Zugleich beeinflusst die Konzeption des materiellen Verbrechensbegriffs in beiden Rechtsordnungen die Rolle des Opfers und seiner Interessen im Kontext der Strafverfahrenszwecke. Primärer Zweck des englischen Strafverfahrens ist die Verurteilung Schuldiger und der Freispruch Unschuldiger für die Begehung einer Straftat. Dieser Zweck ist im Wesentlichen funktional äquivalent zu dem Verfahrensziel im deutschen Recht, das materielle Strafrecht durchzusetzen. Beide Zielsetzungen umschreiben das Ansinnen, im Strafverfahren eine Entscheidung darüber herbeizuführen, ob ein vorwerfbarer Verstoß gegen eine strafsanktionsbewehrte Verhaltensnorm vorliegt, und je nach Ergebnis die strafrechtliche Sanktionsnorm gegenüber dem Angeklagten zur Anwendung zu bringen oder den Angeklagten freizusprechen. Dem englischen Verfahrenszweck der Verurteilung Schuldiger und des Freispruchs Unschuldiger ist

A. Rechtsvergleich

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zusätzlich der Gedanke des Individualrechtsschutzes inhärent. Bei allem Interesse an der Strafverfolgung und der damit verbundenen Verwirklichung des materiellen Rechts ist der Unschuldige stets vor einer ungerechtfertigten Verurteilung zu schützen. Dieser Schutzgedanke steht zwar nicht im Mittelpunkt der im deutschen Recht herrschenden Version dieses Verfahrensziels. Allerdings wird die materielle Norm auch gemäß dieser Version nicht korrekt durchgesetzt, wenn ein Unschuldiger verurteilt wird. Darüber hinaus ist der Schutz Unschuldiger im deutschen Recht in der Aufgabe des Strafverfahrensrechts, Grundrechtsschutz zu gewährleisten, verankert. Anerkannt ist dieses Schutzanliegen mithin in der Zieldebatte beider Rechtsordnungen. Die Verwirklichung des materiellen Strafrechts ist damit in beiden Rechtsordnungen gleichermaßen ein Ziel des Strafverfahrens. Diese Zielbestimmung hat in beiden Rechtsordnungen zur Folge, dass das rechtstheoretische Programm des materiellen Strafrechts in das Verfahren inkorporiert wird. Zum Zweck der Verwirklichung des materiellen Rechts soll entschieden werden, ob dem Angeklagten die Begehung einer Straftat vorzuwerfen und gegebenenfalls eine Kriminalstrafe gegen ihn zu verhängen ist. Eine Straftat wird im deutschen wie im englischen Recht als Unrecht gegenüber der Rechtsgemeinschaft als Ganzer konzipiert. In der Konsequenz geht es im Strafverfahren um das Interesse der Allgemeinheit an der Reaktion auf eine mögliche Verletzung ihrer Interessen. Das individuelle Leid des (vermeintlich) konkret betroffenen Rechtsgenossen und die Befriedigung seiner daraus resultierenden persönlichen Bedürfnisse hingegen stehen aufgrund dieses Zusammenspiels von materiellem und formellem Strafrecht nicht im Mittelpunkt des Strafverfahrens. Darüber hinaus ist die Aufklärung des Geschehens um die mögliche Straftat in beiden Rechtsordnungen ein anerkanntes Zwischenziel des Strafverfahrens. Ein Unterschied besteht insofern, dass im deutschen Strafverfahren idealtypisch die materielle Wahrheit zu ergründen versucht wird, während im englischen Strafverfahrensrecht das Prinzip formeller Wahrheit gilt. Davon unberührt wird allerdings in beiden Rechtsordnungen ein Geschehen im Strafverfahren nicht in seiner historischen Vollständigkeit und unter Einbezug seines gesamten Kontextes ermittelt. Stattdessen wird aufgrund des Verfahrensendziels, eine Entscheidung über die Verantwortlichkeit des Angeklagten für die Begehung einer Straftat zu treffen, beleuchtet, was aus straftatbestandlicher Perspektive relevant erscheint. Insofern erfolgt auch hier eine Rückbindung an den materiellen Straftatbegriff. In der Konsequenz steht die individuelle Verantwortlichkeit des Angeklagten für die Verwirklichung eines Unrechts gegenüber der Rechtsgemeinschaft als Ganzer im Mittelpunkt der Untersuchung. Um die Aufklärung des individuellen Schicksals des (vermeintlich) betroffenen einzelnen Rechtsgenossen geht es hingegen in beiden Verfahrensordnungen nicht. In beiden Rechtsordnungen wird zudem im Kontext der Zweckdebatte diskutiert, dass die menschenrechtlich verbürgten Rechte des Beschuldigten als der Hauptfigur

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

im Strafverfahren zu schützen sind.655 In Bezug auf das potentielle Opfer ist in beiden Rechtsordnungen damit verglichen abgeschwächt anerkannt, dass es vor unverhältnismäßigen Belastungen durch das Strafverfahren zu bewahren ist. Damit sind im englischen und deutschen Recht zu großen Teilen äquivalente Strafverfahrensziele konsentiert: die Durchsetzung des materiellen Strafrechts bzw. die Verurteilung schuldiger Täter gilt als Primärziel, die Sachverhaltsaufklärung ist wichtiges Zwischenziel und der Schutz kollidierender menschenrechtlicher Positionen wird als Ziel oder jedenfalls als Aufgabe des Strafverfahrensrechts bestätigt. Einzig das in der Diskussion zum deutschen Recht zudem überwiegend anerkannte Ziel der Rechtsfriedenschaffung spielt in der herrschenden Zweckdiskussion zum englischen Recht keine Rolle. Mit keinem dieser Ziele lässt sich indes stringent begründen, dass das Strafverfahren (auch) darauf ausgerichtet wäre, das individuelle Interesse eines einzelnen Rechtsgenossen an der Feststellung und Anerkennung des ihm widerfahrenen persönlichen Leids zu befriedigen. Dies ist eine Konsequenz der Ausgestaltung des materiellen Verbrechensbegriffs in beiden Rechtsordnungen und der wenigstens mittelbaren Rückbindung aller Verfahrensziele an das rechtstheoretische Programm des materiellen Strafrechts. Weil und soweit eine Straftat nicht als privates Delikt, sondern als entindividualisiertes Unrecht gegenüber der Gesamtgesellschaft konstruiert wird, ist der Prozess ihrer Bewältigung eine Auseinandersetzung zwischen der Rechtsgemeinschaft und dem Tatverdächtigen. Der Strafprozess ist mithin auf die Klärung der Verantwortlichkeit des Beschuldigten für ein die Rechtsgemeinschaft als Ganze betreffendes Unrecht und eine gesellschaftliche Reaktion darauf ausgerichtet. Das Interesse eines einzelnen Rechtsgenossen an dem ihm vermeintlich widerfahrenen privaten Delikt wird dabei, aus rechtstheoretischer Perspektive konsequent, ausgeblendet. In der Folge ist die Befriedigung eines Unrechtfeststellungsinteresses des (vermeintlichen) Opfers weder Verfahrensgegenstand noch Verfahrensziel. Anders wäre dies zu beurteilen, wenn der Verbrechensbegriff dual konzipiert würde als Verletzung des gesellschaftlichen Interesses und des individuellen Interesses. Dann ließe sich begründen, dass das Strafverfahren der Aufklärung und Ahndung eines solchen dual verstandenen Unrechts dienen würde und in der Konsequenz wäre die Befriedigung des Feststellungsinteresses des Opfers nicht nur bloßes Zugeständnis, sondern genuines Recht und entsprechend auszugestalten.656 Die Konzeption des strafrechtlichen Unrechts wirkt sich damit in beiden Rechtsordnungen auf die Rolle des (vermeintlichen) Opfers und seiner Interessen im Kontext der Strafverfahrenszwecke aus. In der Konsequenz ist es in den Verfahrenszielen beider Rechtsordnungen nicht angelegt, dass das Strafverfahren (auch) bezweckt, ein Interesse des (vermeintlichen) Opfers an der Prüfung und Feststellung des ihm widerfahrenen Unrechts zu erfüllen. 655

Dazu, ob dies Verfahrensziel oder Aufgabe des Strafverfahrensrechts ist, Kap. 3 A II 1

656

Ähnlich zum deutschen Recht Eser, in: FS Mestmäcker (1996), S. 1005, 1023 f.

e).

A. Rechtsvergleich

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3. Träger des Verfolgungsinteresses und Verfolgungsstruktur a) Verfolgungsinteresse und Verfolgungsstruktur Ein Vergleich der Länderberichte zu den Trägern des Verfolgungsinteresses und der Strafverfolgungsstruktur zeigt einige Unterschiede, aber auch grundlegende Gemeinsamkeiten des englischen und deutschen Strafverfahrens. Während das deutsche Strafverfahren durch das Offizialprinzip und das staatsanwaltschaftliche Anklagemonopol geprägt ist, kennt das englische Verfahren eine Vielzahl potentieller Ankläger und operiert zumindest theoretisch auf Grundlage eines Jedermannstrafklagerechts. Historisch blicken England und Wales auf eine deutlich stärkere Tradition privater Initiative bei der Strafverfolgung zurück als viele kontinentaleuropäische Systeme. Bis in die jüngere Vergangenheit basierte das dortige Strafjustizsystem auf einer überwiegend privat betriebenen Verfolgung. Auch heute noch ist der Anwendungsbereich der englischen private prosecution zumindest theoretisch umfassender als der der deutschen Privatklage. Insofern ist Civil LawSystemen nicht a priori eine stärkere Beteiligung des Opfers an der Strafverfolgung inhärent als Systemen des Common Law.657 Obwohl beide Rechtssysteme die anklagende und richtende Funktion strikt trennen, sind weiterhin die Rollen der entsprechenden Akteure unterschiedlich ausgestaltet. Im deutschen Recht hat der Richter im Zwischen- und Hauptverfahren die Verfahrensherrschaft inne, im englischen Prozess überwacht der Richter das Verhalten der das Verfahren bestimmenden Parteien. Im deutschen reformiert-inquisitorischen Offizialverfahren gilt die Instruktionsmaxime, im englischen Parteiprozess gilt die Dispositionsmaxime. Eine Zweiteilung der Hauptverhandlung kennt nur das englische Recht. Geschworene schließlich spielen im englischen Recht eine zwar schwindende, aber dennoch deutlich gewichtigere Rolle als im deutschen Recht. Weiterhin unterliegt die Strafverfolgung im deutschen Recht im normativen Regelfall dem Legalitätsprinzip, wohingegen im englischen Recht die Anklageentscheidung traditionell im Ermessen des Anklägers steht. Das englische Recht verpflichtet die staatlichen Ankläger, opferbezogene Belange als Faktor bei der Bewertung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses zu berücksichtigen. Weitergehend besteht in der Jurisprudenz als Reaktion auf die RL 2012/29/EU die Tendenz, Staatsanwälte zu verpflichten, die Interessen des vermeintlichen Opfers bei ihren Entscheidungen als eigenständigen Faktor neben dem Interesse der Rechtsgemeinschaft einzubeziehen. Dabei können Opferbelange für und wider die Verfolgung Beachtung finden. Das Legalitätsprinzip im deutschen Recht hingegen hat zwar aus Sicht eines verfolgungsinteressierten Verletzten den Vorteil, dass Straftaten im Regelfall staatlich geahndet werden (müssen). Zugleich demonstriert die Geltung 657 Ebenso Sebba, American J. Comp. L. 30 (1982), 217, 226. Diese Feststellung sagt aber noch nichts darüber aus, welche Interessen der einzelne Bürger bei der Strafverfolgung vertritt.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

dieses Prinzips aber auch, dass die Strafverfolgung im öffentlichen Interesse erfolgt. Außerdem ist ein Verzicht auf die Verfolgung aus Rücksicht auf konträre Interessen des Verletzten nur in den engen Ausnahmen der Antrags- und Privatklagedelikte vorgesehen. Entscheidungen aufgrund des Opportunitätsprinzips sind im deutschen Recht am öffentlichen Strafverfolgungsinteresse auszurichten. Die Sicht des mutmaßlich Verletzten muss weder gehört noch nach herrschender Ansicht als selbstständiger Entscheidungsparameter beachtet werden. Auch bei außergerichtlichen Vereinbarungen zwischen Anklage und Beschuldigtem soll die zuständige Stelle im englischen Verfahren die Meinung des Opfers einholen und, soweit zweckmäßig, bei ihrer Entscheidung berücksichtigen, wohingegen das mutmaßliche Opfer in Deutschland kein Gehörs- oder Vetorecht bei Verständigungen hat. Insgesamt eröffnet das englische Recht damit theoretisch mehr Spielräume, verschiedene Interessen des konkreten Opfers bei der Bewertung des öffentlichen Verfolgungsinteresses zu berücksichtigen als das deutsche Recht, und erscheint insofern als zugewandter zum konkreten Opfer. Unbeschadet dieser Unterschiede bestehen im Ergebnis hinsichtlich der Frage, welche Instanzen die Verfolgung betreiben und wessen Interessen sie mit welchem Gewicht dabei durchzusetzen verpflichtet sind, gewichtige Übereinstimmungen. Ganz überwiegend wird die Strafverfolgung in beiden Rechtskreisen heute von einem staatlichen Ankläger betrieben. In England ist dies in aller Regel ein Vertreter des CPS, in Deutschland ein Vertreter der Staatsanwaltschaft. Als Minister of Justice respektive als Organ der Strafrechtspflege sind diese staatlichen Instanzen in beiden Rechtsordnungen zu Fairness und Objektivität verpflichtet und repräsentieren primär das Interesse der Rechtsgemeinschaft an der Strafverfolgung und keine individuellen Partikularinteressen. Gegenüber dem mutmaßlichen Opfer obliegen beiden staatlichen Anklägern Informations-, Schutz- und Rücksichtnahmepflichten, aber nicht die Pflicht zur Vertretung eines privaten Genugtuungsinteresses. In beiden Rechtsordnungen existiert neben der öffentlichen Strafverfolgung zudem ein Privatklagesystem. Ursprung und Anwendungsbereich der beiden Privatklageverfahren unterscheiden sich erheblich. Die englische private prosecution ist historisch als Substitut anstelle eines institutionalisiert-staatlichen Anklägersystems entstanden und basiert auf dem im Common Law wurzelnden Jedermannstrafklagerecht. Auch heute noch steht sie grds. jedem Bürger offen. Praktisch wird ihre Durchführung allerdings nur gestattet, wenn ein öffentliches Verfolgungsinteresse besteht. Die Existenz der insofern jüngeren deutschen Privatklage ist hingegen das Resultat eines unvollständigen politischen Kompromisses und die Klage selbst ist in ihrem theoretischen Fundament und Telos seit jeher umstritten. Sie steht nur den mutmaßlich Verletzten einiger weniger Vergehen offen und das auch nur, wenn gerade kein öffentliches Verfolgungsinteresse besteht. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Zwecke, die den beiden Privatklagesystemen in der historischen und gegenwärtigen Diskussion zugeschrieben werden.658 Übereinstimmend 658

Ausführlich oben Kap. 3 A III 1 b), 2 b) bb) (2).

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besteht allerdings in beiden Rechtsordnungen die Tendenz, in der Privatklage (zumindest auch) ein Mittel zur Kontrolle der staatlichen Strafverfolgungsbehörden zu erblicken. Außerdem mehren sich in beiden Systemen die Stimmen, die de lege ferenda die Abschaffung der im Kontext einer staatlich dominierten Strafverfolgung als systemwidrig empfundenen Institute fordern. Strukturell weisen beide Privatklageverfahren zudem wichtige Gemeinsamkeiten auf. In beiden Systemen muss der Privatkläger den gleichen Beweisstandard erfüllen wie der staatliche Ankläger, erhält aber keine hoheitlichen Befugnisse oder Ermittlungsunterstützung durch die Polizei. Übereinstimmend wird die Privatklage nicht zuletzt deshalb aus Sicht des Verletzten vielfach als teure, zeitintensive, mühevolle und oft – unabhängig von der Sachlage – erfolglose Bürde kritisiert. Für die hier untersuchte Frage der Struktur der Strafverfolgung ist zudem relevant, dass beide Privatkläger im Rahmen des öffentlichen Strafverfolgungssystems agieren und der Ablauf des Privatklageverfahrens im Wesentlichen dem Ablauf eines staatlich betriebenen Strafprozesses gleicht. Insbesondere vertritt der Privatkläger in beiden Rechtsordnungen aus normativtheoretischer Perspektive den öffentlichen Strafanspruch und verwirklicht – wie die öffentliche Strafverfolgungsbehörde – das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung und Durchsetzung des materiellen Strafrechts. Die Privatklage dient nicht dazu, ein privates Bestrafungsinteresse oder einen privaten Strafanspruch zu verfolgen. Ein privates Genugtuungsinteresse mag zwar im Einzelfall Motiv für das Tätigwerden eines Privatklägers sein, seine Befriedigung ist aber in beiden Systemen nicht normativer Gegenstand des Privatklageverfahrens. Erkenntnisgegenstand des Prozesses ist in beiden Rechtsordnungen im privat wie im öffentlich betriebenen Strafverfahren vielmehr, ob sich der Angeklagte der Begehung der angeklagten, die Rechtsgemeinschaft als Ganze betreffenden Straftat(en) schuldig gemacht hat und wie darauf gegebenenfalls im öffentlichen Interesse gleichmäßig und verhältnismäßig zu reagieren ist. Darüber hinausgehende Facetten eines Lebenssachverhalts, die aus materiell-strafrechtlicher Perspektive irrelevant sind, werden in beiden Rechtsordnungen auch dann nicht zum Verfahrensgegenstand, wenn der mutmaßlich Verletzte dies wünscht. Im englischen Recht sorgen insofern Anklage und Verteidigung als dispositionsbefugte Verfahrensparteien für die entsprechende Restriktion des Verhandlungsstoffs, im deutschen Recht umfasst die Amtsaufklärungspflicht nur die materiell entscheidungserheblichen Tatsachen. Insgesamt ist die Grundstruktur der Verfolgung damit trotz aller Unterschiede zwischen reformiert-inquisitorischem und adversatorischem Prozess in beiden Rechtsordnungen vergleichbar: Der Strafprozess ist eine bipolare Auseinandersetzung zwischen der Rechtsgemeinschaft – vertreten durch einen staatlichen oder privaten Ankläger – und dem Beschuldigten. Trägerin des Strafverfolgungsinteresses ist im englischen wie im deutschen Recht stets die Rechtsgemeinschaft, unabhängig davon, ob ein staatlicher oder ein privater Ankläger die Verfolgung betreibt. Im Prozess geht es um die Durchsetzung ihres öffentlichen Strafverfolgungsinteresses, nicht um die Beilegung privater Konflikte oder die Befriedigung privater Genugtuungsbedürfnisse. Diese Grundstruktur spiegelt in beiden Rechtsordnungen, was die

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Untersuchung des Straftatbegriffs und der Strafverfahrenszwecke bereits nahegelegt hat. b) Spezifische Opferrechte Gleichwohl gewähren beide Rechtsordnungen dem mutmaßlich Verletzten verschiedene Rechte im Kontext der Strafverfolgung. Während England und Wales über die längere Tradition privater Beteiligung an der Strafverfolgung in Form der Privatstrafklage verfügen, verfügt das deutsche Recht über die längere Tradition, dem vermeintlich Verletzten Rechte im Rahmen einer öffentlich betriebenen Strafverfolgung einzuräumen. In den letzten dreißig Jahren sind allerdings Politik und Gesetzgebung beider Rechtsordnungen gleichermaßen dem globalen Reformtrend gefolgt, die Rechte von Straftatopfern im Strafjustizsystem zu stärken. Mittlerweile ist das mutmaßliche Opfer deshalb in beiden Systemen öffentlich betriebener Strafverfolgung als eigenständiger, sich von der Rechtsgemeinschaft abhebender Akteur anerkannt. Insbesondere ist es Träger besonderer Informations- und Schutzrechte in den Strafjustizsystemen. Prozessuale Rechte hingegen, mit denen das mutmaßliche Opfer den Verfahrensgang beeinflussen könnte, sind in beiden Rechtsordnungen zögerlicher eingeräumt worden und nach wie vor kontrovers. Notwendiges Prozesssubjekt bzw. Partei ist es weder im deutschen noch im englischen Strafverfahren, d. h. seine Beteiligung am Strafverfahren ist nicht obligatorisch. Bei der Zuerkennung von Rechten verfolgen die Jurisdiktionen einen unterschiedlichen systematischen Ansatz. Deutschland bedient sich eines zweigliedrigen Systems. Insofern offeriert das deutsche Recht zum einen definierten Gruppen mutmaßlich Verletzter mit der Neben- und Adhäsionsklage formell ausgestaltete Verfahrensrollen, die weitreichende prozessuale Beteiligungs- und Einflussnahmemöglichkeiten umfassen. Die Wahrnehmung der Verfahrensrechte unterliegt entsprechend der Funktion des jeweiligen Beteiligungsinstituts einer mitunter kontroversen, aber vorgegebenen Zielsetzung. Zum anderen werden einzelne Rechte allen mutmaßlich Verletzten zugesprochen. Mit Ausnahme des Akteneinsichtsrechts betreffen diese vorrangig Informations-, Schutz- und Unterstützungsbelange. Eine einflussreiche Rolle zur Durchsetzung eigener Interessen vermitteln sie nicht. Ein mutmaßlich Verletzter, der sich nicht der öffentlichen Klage als Nebenkläger anschließt, tritt damit im deutschen Strafprozess wenig in Erscheinung. England und Wales hingegen nutzen ein eingliedriges System. Soweit Opferrechte vorgesehen sind, werden sie in der Regel allen mutmaßlich Verletzten gleichermaßen gewährt ohne Ansehung von Spezifika des konkreten Falls. Eine formell ausgestaltete Verfahrensrolle mit einer Summe von Rechten, wie etwa die Nebenklage, wurde trotz entsprechender Reformvorschläge nicht eingeführt. Schwerpunktmäßig betreffen die Einzelrechte wie im deutschen System Information, Schutz und Unterstützung. Daneben erhalten mutmaßliche Opfer aber auch einige prozessuale Rechte. Insbesondere haben sie das Recht, sich mittels VPS Gehör im Rahmen der Strafzumessung

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zu verschaffen. Außerdem sind die am Strafjustizsystem beteiligten staatlichen Akteure verpflichtet, die Ansicht des mutmaßlichen Opfers bei einigen ihrer Ermessensentscheidungen einzubeziehen. In der englischen Rechtsordnung hat das mutmaßliche Opfer damit zwar keine definierte Rolle im staatlichen Strafverfahren, es tritt aber auch nicht durchgehend weniger in Erscheinung als der (nicht nebenklagende) Verletzte im deutschen Strafprozess. Aufgrund der Ergebnisse der Analyse der RL 2012/29/EU, insbesondere von Art. 11, wurden die nationalen Rechtslagen zur Kontrolle von Nichtverfolgungsentscheidungen besonders detailliert untersucht. Diese Untersuchung hat gezeigt, dass das englische und deutsche Recht Instrumente vorsehen, mit denen mutmaßliche Opfer Nichtverfolgungsentscheidungen überprüfen lassen können. Primär sind dies in Deutschland das Klageerzwingungsverfahren und in England die judicial review von Anklageentscheidungen und das VRRS. Teilweise wird zudem - im englischen Recht erst vergleichsweise kürzlich, aber mittlerweile stärker als im deutschen Recht - das jeweilige Privatklagesystem diesem Kontext zugeordnet.659 Aufgrund der historisch unterschiedlichen Kulturen öffentlicher und privater Strafverfolgung hat das deutsche Klageerzwingungsverfahren eine längere Tradition als die englische judicial review und das noch junge VRRS. Gleichwohl bestehen – aller Unterschiede im Detail zum Trotz – prinzipielle Parallelen zwischen den Verfahren. In beiden Rechtsordnungen ist das gerichtliche Kontrollverfahren ein aus dem eigentlichen Strafverfahren gegen den Beschuldigten ausgelagertes Zwischenbzw. Vorverfahren und wird nicht von der im Hauptverfahren zuständigen Instanz beschieden. Weiterhin wird in beiden Systemen das Verfolgungsermessen der Strafverfolgungsbehörden, soweit vorhanden, geschützt. In dem vom Opportunitätsprinzip dominierten englischen System wird die judicial review entsprechend als Ausnahmerechtsbehelf klassifiziert und die Gerichte überprüfen die behördliche Entscheidung nur, ersetzen sie aber nicht. Im deutschen Recht sind Opportunitätseinstellungen einer inhaltlichen Kontrolle entzogen. Die Überprüfung der Nichtverfolgungsentscheidung erfolgt zudem in beiden Systemen anhand der regulären Anklagekriterien. Dass das mutmaßliche Opfer die Kontrolle angestoßen hat, führt also nicht dazu, dass das Recht seinen Interessen bei der Überprüfung der Entscheidung einen besonderen Stellenwert einräumen würde. In beiden Systemen vermittelt die erfolgreiche Betreibung des Kontrollverfahrens dem mutmaßlichen Opfer auch keine primäre Ankläger-Position im staatlich dominierten, weiterhin auf das öffentliche Interesse ausgerichteten Strafverfahren.660 Praktisch führen die Kontrollbestrebungen zudem in beiden Rechtsordnungen nur selten zum Erfolg,

659 Allerdings unterscheidet sich die Dynamik zwischen den beiden Rechtsinstituten in den beiden Rechtsordnungen erheblich. So schließen sich im deutschen Recht Klageerzwingung und Privatklage gegenseitig aus, im englischen Recht sind sie grds. nebeneinander möglich. 660 Im deutschen Recht kann sich der mutmaßlich Verletzte der öffentlichen Klage aber zumindest als Nebenkläger anschließen.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

wenn auch aus partiell unterschiedlichen, jeweils systemimmanenten Gründen.661 Übereinstimmend wird der Nutzen der Kontrollinstrumente deshalb primär in ihrer Präventivwirkung erblickt, die Verfolgungsbehörden a priori zur pflichtgemäßen Wahrnehmung ihrer Kompetenzen anzuhalten. Damit eng verbunden ist die für die hier vorgenommene Untersuchung wichtigste Gemeinsamkeit: In beiden Rechtsystemen sind die Kontrollinstrumente traditionell keine Individualrechtsbehelfe zur Durchsetzung subjektiver Verfolgungsinteressen, sondern ihr primärer Zweck ist die objektive Kontrolle der staatlichen Verfolgungsbehörden. Insofern agiert der Verletzte konzeptionell als Sachwalter des öffentlichen Interesses an der Einhaltung des Legalitätsprinzips respektive als agent of accountability zur Herstellung der Verantwortlichkeit der Staatsanwaltschaft, und nicht als Vertreter eines subjektiven Genugtuungsanspruchs. Zwar mag die Antragsbefugnis gerade des mutmaßlich Verletzten die Verfolgungsbehörden mittelbar motivieren, präventiv bei ihren Entscheidungen dessen Interessen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.662 Gleichwohl sind die Institute zur Überprüfung von Nichtverfolgungsentscheidungen in beiden Systemen keine Mittel zur Verfolgung privater Genugtuungsinteressen. Daran hat bisher im Ergebnis auch der Erlass des insoweit anders konnotierten Art. 11 RL 2012/29/EU nichts geändert. Weder der deutsche noch der englische Gesetzgeber haben in Reaktion darauf ihre existierenden nationalen Rechtsinstitute umgewidmet. Allerdings ist im englischen Recht das VRRS neu geschaffen worden. Insofern besteht dort eine vergleichsweise deutlichere Tendenz, unter unionsrechtlichem Einfluss die Stellung von Opfern und ihrer Interessen im Strafjustizsystem zu stärken. Ein subjektives Recht des Opfers auf Kontrolle der Strafverfolgung zur Durchsetzung privater Verfolgungsinteressen wird aber auch damit nicht anerkannt. In der Gesamtschau räumen beide Rechtsordnungen den Interessen des Verletzten in Bezug auf die Strafverfolgung durchaus Bedeutung ein. Die pauschale These, es sei schwieriger, das mutmaßliche Opfer am adversatorischen Strafprozess des Common Law zu beteiligen als an Strafverfahren kontinentaleuropäischer Prägung, und es habe eine per se schwächere Stellung in ersterem, kann nicht bestätigt werden. Vielmehr sind Schwarz-Weiß-Zeichnungen verfehlt. So verfügt Deutschland zwar z. B. über die starke Nebenklage, deren Anwendungsbereich ist aber beschränkt. In England sind dafür Private in Theorie und Praxis historisch und bis heute stärker an der Strafverfolgung als privater Strafankläger beteiligt. Außerdem bieten die zahlreichen Ermessensentscheidungen im englischen System öffentlicher Strafverfolgung den staatlichen Strafverfolgern faktisch mehr Möglichkeiten zur Beachtung verschiedener Opferinteressen als sie die deutsche Staatsanwaltschaft hat, und der CPS unterliegt mehr Verpflichtungen zur Anhörung des mutmaßlichen Opfers. Auch 661

Im deutschen Recht scheitern Klageerzwingungsanträge oft schon an den hohen formalen Hürden, im englischen Recht führt selbst die erkannte Rechtswidrigkeit einer Nichtverfolgungsentscheidung nicht zwingend zur (Wieder-)Aufnahme der Verfolgung, im Detail Kap. 3 A III 2 a) cc) (1) (a) (bb). 662 Unter Geltung des Legalitätsprinzips sollte dies an sich allerdings ohne praktischen Belang sein.

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das VPS als traditionell dem Common Law zugehöriges Instrument kann Straftatopfern grds. eine starke Beteiligungsoption im Strafverfahren vermitteln, zumindest wenn es weniger restriktiv ausgestaltet ist als derzeit im englischen Recht. Schließlich mag man auch das System der compensation order für opferfreundlicher halten als das funktional äquivalente Adhäsionsverfahren. Keine Rechtsordnung gewährt somit durchweg den verschiedenen Interessen des Verletzten mehr Gewicht oder befriedigt sie besser als die andere, sondern sie differieren insofern kontextabhängig. Letztlich bemühen sich beide um einen Interessensausgleich, wobei beiden die Integration prozessualer Opferrechte schwer fällt. Dabei gibt allerdings keines der beiden Systeme einem privaten Genugtuungsinteresse Raum im Rahmen der öffentlichen Strafverfolgung. Insofern sind auch die Verletztenrechte in den nationalen Rechtsordnungen nicht dafür konzipiert, ein privates Genugtuungsinteresse anzuerkennen und dem Opfer dessen Befriedigung im Kontext der öffentlichen Strafverfolgung zu ermöglichen.

V. Wertende Gesamtbetrachtung Der englische adversatorische und der deutsche reformiert-inquisitorische Strafprozess weisen naturgemäß verfahrensrechtliche Unterschiede auf. Historisch entspringen die beiden Verfahrensmodelle unterschiedlichen staatstheoretischen Konzeptionen, die sich insbesondere in der jeweiligen Ausgestaltung der Wahrheitssuche spiegeln.663 Das (reformiert-)inquisitorische Modell ist geprägt von der Vorstellung, dass das gerechteste Ergebnis erzielt werden kann, wenn der Staat bzw. seine Organe die Wahrheit ermitteln und das Recht durchsetzen. Demgegenüber soll das adversatorische Modell seinen Ursprung in einer größeren Skepsis gegenüber einem mächtigen Souverän finden. Diese Skepsis nährte die Überzeugung, dass ein Parteienwettstreit die „beste“ Wahrheit und das gerechteste Ergebnis erziele. Die daraus resultierenden Mechanismen zur Ermittlung der Wahrheit sind unterschiedlich gut darauf ausgelegt, einen Dritten an der Aufklärung mitwirken zu lassen. Im adversatorischen System prägt ein Wettstreit zwischen Anklagevertreter und Verteidigung die Wahrheitssuche.664 Im Vorfeld des Hauptverfahrens bestehen Offenlegungspflichten (disclosure) und im Gerichtssaal treten die Parteien mit ihren jeweiligen Versionen des Geschehens gegeneinander an. Zeugenvernehmungen sind an die Beteiligung von zwei Streitparteien angepasst und streng als examination in chief, cross-examination and re-examination strukturiert. In dieser parteiischen Struktur kann es schwieriger sein, einen Dritten an der Wahrheitssuche zu beteiligen, ohne die Verfahrensfairness zu gefährden, als im Kontext einer staatlich dominierten Wahrheitssuche. Auch können (Opfer-)Zeugen in einem solchen Verfahren ten-

663 664

Siehe z. B. grundlegend Damasˇka, Faces of Justice, S. 11, 71 ff., 119 ff. und passim. Choo, Evidence, S. 57; Sprack, Criminal Procedure, ch. 20.44.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

denziell stärkeren Belastungen ausgesetzt sein als in einer richterlich dominierten Hauptverhandlung.665 Die Ausgestaltung des Prozesses als adversatorisch oder inquisitorisch ist aber nicht die Ursache für die Schwierigkeit, das (mutmaßliche) Opfer als Träger eines privaten Genugtuungsanspruchs in das Strafverfahren zu integrieren. Denn der horizontale Rechtsvergleich hat gezeigt, dass das englische und das deutsche Strafjustizsystem beide kein privates Genugtuungsinteresse im Strafverfahren berücksichtigen und dem mutmaßlichen Opfer auch nicht die Verfolgung dieses Interesses im Strafprozess gestatten. Soweit sie private Initiative im Strafverfahren zulassen, geschieht dies vielmehr in beiden Systemen primär zur Durchsetzung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses und zur Kontrolle der öffentlichen Strafverfolgungsbehörden sowie sekundär zur Unterstützung von Entschädigungsbegehren des mutmaßlichen Opfers und zur Erfüllung von Schutz- und Rücksichtnahmepflichten ihm gegenüber. Adversatorisches wie inquisitorisches System haben somit gleichermaßen Schwierigkeiten, das mutmaßliche Opfer als Vertreter eines privaten Genugtuungsinteresses in den Strafprozess zu integrieren. Außerdem ist das deutsche Strafverfahren nicht kategorisch opferfreundlicher als der englische Prozess. Diese Feststellungen widersprechen der referierten These, dass normative Besonderheiten speziell des adversatorischen Common Law-Modells der Zentrierung von Opferinteressen im Strafverfahren entgegenstünden und kontinentaleuropäischen Systemen die Berücksichtigung des Opfers per se dogmatisch leichter falle. Damit übereinstimmend hat der vertikale Rechtsvergleich offengelegt, dass in beiden Rechtstraditionen sehr ähnliche, der Verfahrensstruktur vorgelagerte normative Grundprinzipien der Berücksichtigung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafjustizsystem entgegenstehen: In beiden Strafjustizsystemen bewirkt die Entindividualisierung des materiellen Unrechtsbegriffs im Zusammenspiel mit der Rückbindung der Verfahrensziele an das rechtstheoretische Programm des materiellen Strafrechts eine Ausblendung des individuellen Opfers und seines Genugtuungsinteresses.666 In der Konsequenz ist das Strafverfahren in beiden Rechtsordnungen als Auseinandersetzung zwischen der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft und dem Angeschuldigten ausgestaltet und auf die Realisierung des öffentlichen Interesses an der Verfolgung eines Unrechts gegenüber der Rechtsgemeinschaft ausgerichtet. Um die Befriedigung eines privaten Genugtuungsinteresses zum Verfahrensgegenstand zu erheben, müsste der Verbrechensbegriff unter Aufgabe dieser normativen Grundprämissen dual konzipiert werden. Unter Geltung der tradierten straftheoretischen Prinzipien aber fehlt es in beiden Systemen – unabhängig von der Kategorisierung des Prozessmodells als adversatorisch oder (reformiert-)inquisitorisch – an einem normativ-legitimierenden Anknüpfungspunkt für die Anerkennung und Befriedigung eines privaten Genugtu665 Ellison, Adversarial Process, S. 160 und passim; dagegen Hall, Victims of Crime, S. 10, 18, 42, 203 ff. 666 Siehe ausführlich Kap. 3 A IV 1, 2.

B. Konsequenzen der Anerkennung eines Genugtuungsinteresses

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ungsinteresses im Strafprozess. Im Ergebnis schließt die Konzeption des strafrechtlichen Unrechts in beiden Rechtsordnungen das private Genugtuungsinteresse des (vermeintlichen) Opfers dogmatisch aus dem Strafrecht und Strafverfahren aus. In der jüngeren Vergangenheit ist in beiden Rechtsordnungen eine Tendenz zu verzeichnen, diese Grundsätze partiell aufzuweichen und vermehrt private Ausgleichsinteressen in das Strafjustizsystem zu inkorporieren. Zu beobachten ist dies z. B. im Rahmen der Diskussion über den Zweck der Nebenklage sowie über die Legitimität und Relevanz von Strafzumessungspräferenzen des Opfers in einem VPS. Ähnliches gilt für die Überlegung des englischen Gesetzgebers, die compensation order für das Opfer zumindest in leichteren Fällen gegenüber der Strafe zu priorisieren, und den in beiden Rechtsordnungen unternommenen Ausbau von Restorative Justice-Mechanismen, teilweise innerhalb des Strafverfahrens. Auch die Tendenz in England, Opferinteressen bei Ermessensentscheidungen separat neben dem öffentlichen Verfolgungsinteresse zu berücksichtigen, ist diesem Trend zuzuordnen. Allerdings zeugt diese Entwicklung nicht von einer reflektierten grundlegenden Revision der normativen Grundsätze, sondern präsentiert sich als fragmentarisches Abrücken davon in Reaktion auf spezifische Einzelfallumstände. Zudem erfolgt im Rahmen solcher Reformen zumeist schlussendlich doch eine Rückbesinnung auf das tradierte, ausschließlich am öffentlichen Interesse ausgerichtete System, wie z. B. bei der Ausgestaltung des VPS im englischen Recht. Zumindest einige der Aufweichungstendenzen beruhen zudem nicht auf nationalem Reformdrang, sondern auf Unionseinfluss. Die Forderung, das Genugtuungsinteresse des Opfers im Strafverfahren zu berücksichtigen, lässt sich damit aus normativer Perspektive rechtstraditionsübergreifend wie folgt bewerten: Traditionell hat das private Genugtuungsinteresse des Opfers in beiden Rechtsordnungen keinen Platz im Strafverfahren. Zwar bestehen Tendenzen in beiden Rechtsordnungen, die strikte Trennung von öffentlichem und privatem Interesse und die Fokussierung des Strafverfahrens ausschließlich auf das öffentliche Interesse aufzuweichen. Diese Tendenzen gehen aber nicht so weit, ein privates Genugtuungsinteresse im Strafprozess anzuerkennen und zu befriedigen. Die Ergebnisse des Rechtsvergleichs legen damit insgesamt nahe, alternative Instrumente zur Befriedigung dieses Opferinteresses zu eruieren.

B. Konsequenzen der Anerkennung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren de lege ferenda Ungeachtet des Ergebnisses der rechtsvergleichenden Analyse und der zögerlichen Reaktion der Mitgliedstaaten besteht die Forderung in der RL 2012/29/EU und der Literatur fort, das Genugtuungsinteresse des Opfers im Strafverfahren zu befriedigen. Deshalb soll im Folgenden untersucht werden, welche Konsequenzen es

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

hätte, wenn das Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers entgegen den nationalen Traditionen gleichwohl künftig mit dem Strafurteil zu befriedigen gesucht würde.

I. Opferposition im Strafverfahren Soll das Strafurteil auch dazu dienen, das Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers zu erfüllen, könnte dies auf die Position des Opfers im Strafverfahren durchwirken. Insbesondere könnte es geboten sein, das Opfer mit Verfahrensrechten zur Durchsetzung dieses Interesses auszustatten. Einige Befürworter davon, das Unrechtfeststellungsinteresse des Opfers mit dem Strafurteil zu befriedigen, fordern als Konsequenz eine stärkere Position für den Verletzten im Strafverfahren.667 Das Opfer müsse prozessuale Rechte erhalten, mit denen es selbst sein Interesse am Erlass des unrechtfeststellenden Strafurteils durchsetzen könne. Andere vertreten die Ansicht, dem mutmaßlichen Opfer könne aufgrund der Unschuldsvermutung keine aktive Position im Strafverfahren zur Durchsetzung seines Unrechtfeststellungsanspruchs gewährt werden.668 Denn während des Strafverfahrens stünde noch nicht fest, ob es durch den Angeklagten viktimisiert worden sei und in der Folge ein legitimes Interesse an der Unrechtfeststellung im Strafurteil habe.669 Aus dem berechtigten Interesse des Opfers an dem Strafurteil folge daher nichts für seine Stellung im Strafverfahren.670 Stattdessen solle der Staat als Treuhänder das Feststellungsinteresse des Opfers im Strafverfahren vertreten. 671 Zu beachten ist jedoch, dass ein Interesse des Opfers an Unrechtfeststellung mittels Strafurteil nicht gegen den Angeklagten gerichtet wäre, sondern unmittelbar gegen den Staat als feststellende und strafende Instanz.672 Der Angeklagte wäre in Bezug auf das Feststellungsinteresse nicht Anspruchsgegner, sondern sein Verhalten wäre Teil des Feststellungsinhalts. Wenn aber ein gegen den Staat gerichtetes Interesse des Opfers an Unrechtfeststellung mittels Strafurteil anerkannt würde, müsste das Opfer konsequenterweise gegenüber dem Staat auch darauf hinwirken können, dass er das Bestehen dieses Interesses prüft und es ggf. erfüllt. Dies wiederum würde eine aktive Position des (potentiellen) Opfers im Strafverfahren oder zumindest eine 667

Bommer, Verletztenrechte, S. 257 f.; Dölling, in: FS Jung (2007), S. 77, 83; Rössner, in: FS Roxin (2001), S. 977, 986. 668 Kleinert, Mitwirkung, S. 220; Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 956, 959; ders., RW 2010, 39, 54; siehe auch ders., Deliktsopfer, S. 430 f. mit weiteren Argumenten. 669 Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 955, 959. 670 Kleinert, Mitwirkung, S. 220. 671 Hörnle, Straftheorien, S. 41; dies., JZ 2006, 950, 956 (in Andeutung); Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, S. 31, 38. 672 Ähnlich Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 664: wenn das Strafurteil auch eine Schutzpflicht gegenüber dem Opfer erfüllen solle, schaffe dies keine materiell-rechtliche Beziehung zwischen Täter und Opfer, sondern nur zwischen Opfer und strafendem Staat.

B. Konsequenzen der Anerkennung eines Genugtuungsinteresses

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mittelbare Einwirkungsmöglichkeit auf den Verfahrensbeginn und -verlauf voraussetzen, weil der Staat nun eben gerade in diesem Verfahren die Grundlage für die von ihm gegenüber dem Opfer im Strafurteil zu treffende Feststellung prüfen würde. Die Unschuldsvermutung schließt die Erfüllung eines Anspruchs des potentiellen Opfers gegenüber dem Angeklagten vor seiner Schuldfeststellung aus. Sie könnte aber nicht ausschließen, dass das (potentielle) Opfer gegenüber dem Staat auf die offizielle Prüfung der Voraussetzungen eines gegen den Staat gerichteten Interesses drängte. Beachtet werden sollte die Unschuldsvermutung deshalb vielmehr bei der vorgelagerten Frage, ob ein Interesse des Opfers an Unrechtfeststellung gerade mit dem Strafurteil befriedigt werden sollte. Will man dies aber, wäre notwendige Konsequenz, dass das Opfer auch eine Durchsetzungsmöglichkeit gegenüber dem Staat erhielte, die sich auf das Strafverfahren auswirken würde. Dies wäre eine der problematischen Folgen davon, dass die Anerkennung eines Opferinteresses am Strafurteil dem Strafverfahren eine Dimension beifügen würde, die ihm traditionell als Verfahren zwischen Staat und Beschuldigtem fremd ist. Auch der Vorschlag, zur Vermeidung dieser Konsequenz den Staat das Feststellungsinteresse des Opfers treuhänderisch durchsetzen zu lassen,673 überzeugt kaum, weil dann der Staat als Treuhänder gegen sich selbst agieren müsste.674 Würde ein Interesse des Opfers am Strafurteil anerkannt, müsste ihm also konsequenterweise eine aktive Position im Strafverfahren eingeräumt werden, damit es auf die Befriedigung seines Interesses hinwirken könnte. Es müsste z. B. über Kontroll- und Revisionsrechte verfügen, mit denen es (ungerechtfertigte) Verfahrenseinstellungen oder Freisprüche anfechten könnte.675 Es müsste an der Sachverhaltsfeststellung mitwirken können und die dazu erforderlichen Hilfsrechte wie etwa Akteneinsichts- und Beweisantragsrechte erhalten, und ihm müsste ein Antragsrecht auf Wiederaufnahme zustehen.676 Auch existierende prozessuale Opferrechte könnten so umzuwidmen sein, dass sie auch dazu eingesetzt werden könnten, das Opferinteresse am Erlass des Strafurteils durchzusetzen. Dass sich eine derartige Stärkung der Offensivrechte des potentiell Verletzten im Strafverfahren in rechtsstaatlich bedenklicher Weise auf die Verfahrensstellung und Verteidigungsoptionen des Angeklagten auswirken kann, ist bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt worden.677 Damit soll nicht den Unkenrufen eines unausweichlichen Nullsummenspiels zwischen den Interessen des vermeintlichen Opfers 673

Diesen Vorschlag macht z. B. Hörnle, Straftheorien, S. 41. Siehe ergänzend Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 888, der die These, das Opfer habe einen Anteil am Strafanspruch und nur der Staat vertrete es in der Ausübung dieses Rechts, mit dem Argument ablehnt, dass dann die Befangenheit des Opfers auf den Staat übertragen werde. 675 Vgl. Schöch, NStZ 1984, 385, 388. 676 Siehe z. B. Sautner, Opferinteressen, S. 296. 677 Satt vieler siehe Kunz, in: FS Burgstaller (2004), S. 541, 545 ff.; Safferling, ZStW 12 (2010), 87, 95, 98 ff.; Schünemann, NStZ 1986, 193, 198 f. 674

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und des Beschuldigten im Strafverfahren beigepflichtet werden.678 Bzgl. einiger Aspekte sind ihre Interessen sogar gleichlaufend.679 Zudem könnte und sollte trotz derartiger Opferrechte die Entscheidung darüber, ob dem Angeklagten ein strafrechtlich relevanter Vorwurf gemacht werden kann und er in der Folge zu bestrafen ist, den staatlichen Instanzen überlassen bleiben. Diese hätten die Entscheidung anhand des geltenden Rechts zu treffen. Das Opfer würde somit auch bei Anerkennung seines Interesses an Unrechtfeststellung mittels Strafurteil und Zuerkennung von Rechten zur Durchsetzung dieses Interesses nicht zur Entscheidungsinstanz über den Angeklagten. Nichtsdestotrotz kann sich eine stärkere Offensivposition des vermeintlich Verletzten im Verfahren nachteilig auf die Position des Angeklagten auswirken. Dies gilt gleichermaßen in einer adversatorischen wie in einer inquisitorischen Verfahrensstruktur. So könnte z. B. die offensive Beteiligung des potentiell Verletzten die Gruppendynamik im Strafverfahren zu Lasten der Verteidigungsposition des Angeklagten verändern.680 Die Garantie eines fairen Verfahrens würde zumindest gefährdet.

II. Tripolare Verfolgungsstruktur Wenn das Feststellungsinteresse des Opfers mit dem Strafurteil befriedigt werden soll, könnte dies des Weiteren die Verfolgungsstruktur grundlegend verändern.681 Bisher erfolgt die staatliche Strafverfolgung im adversatorischen wie im inquisitorischen System im öffentlichen Interesse. In der Folge ist der Strafprozess bipolar ausgestaltet als Verfahren zwischen dem Angeklagten und der im Staat verfassten Allgemeinheit. Ein Interesse der Allgemeinheit an Strafverfolgung um jeden Preis existiert nicht.682 Vielmehr bedingt gerade das öffentliche Interesse, dass die Strafverfolgung stets unter dem Vorbehalt der größtmöglichen Optimierung verfassungsmäßiger Werte steht, zu denen die Menschenrechte des Angeklagten – wie seine in Art. 6 EMRK sowie in Artt. 47, 48 GRC garantierten Rechte auf ein faires Verfahren und effektive Verteidigung – zählen. Bei Abwägungsentscheidungen im Strafverfahren sind stets das Interesse der Allgemeinheit an Strafverfolgung sowie das Interesse des Angeklagten an einem wirksamen Schutz seiner Freiheitsrechte zu einem bestmöglichen Ausgleich zu bringen. Soweit Interessen des Opfers an der Bestrafung des Täters berücksichtigt werden, geschieht dies im Rahmen des öffentlichen Interesses. Die Anerkennung eines separaten Opferinteresses an Un678

Siehe zum Nullsummenspiel Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 62. Doak, Victims’ Rights, S. 247; Leverick, Internat. Rev. Victimology 11 (2004), 177, 195. 680 Schünemann, NStZ 1986, 193, 198 f. 681 Ebenso Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 665. Zu Auswirkungen der Anerkennung eines solchen Interesses auf die Strafrechtsdogmatik siehe Hörnle, JZ 2006, 950 ff. 682 Statt vieler siehe für England: Ashworth, Oxford J. Legal Studies 6 (1986), 86, 114 f.; für Deutschland: BGHSt 14, 358, 365; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §§ 1 Rn. 2, 24 Rn. 19. 679

B. Konsequenzen der Anerkennung eines Genugtuungsinteresses

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rechtfeststellung durch das Strafurteil würde dieses Grundkonzept und die Struktur der strafrechtlichen Verfolgung verändern.683 Wird angenommen, das Straftatopfer habe ein berechtigtes Interesse an der Unrechtfeststellung mittels Strafurteil, so wäre dieses Individualinteresse in alle Abwägungsprozesse im Strafverfahren, die ein Unrecht-feststellendes Strafurteil vereiteln könnten, zu integrieren.684 Denn eine staatliche Entscheidung, die in das Ausbleiben einer Verurteilung mündet, würde unter dieser Prämisse zugleich unter Umständen das zu verwirklichende Opferinteresse missachten. Konkret bedeutet dies, dass z. B. Grenzen staatlicher Befugnisse, zum Zweck der Strafverfolgung in die Rechte des Angeklagten einzugreifen, nicht mehr nur gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung zu rechtfertigen wären, sondern auch gegenüber einem privaten Opferinteresse an dem Urteilsspruch. Gleichsam müsste das Individualinteresse am Ergehen des Strafurteils bei der Ausübung von Verfahrensermessen berücksichtigt werden, etwa bei einer Entscheidung über ein Verfahrenshindernis. Auch Abwägungsentscheidungen im Beweisrecht würden sich verändern. Unter Geltung des bipolaren Regimes kann der strafverfolgende Staat durch die Androhung von Beweisverwertungsverboten präventiv darauf hinwirken, dass die staatlichen Strafverfolgungsbehörden Beweise nicht grundrechtswidrig erheben.685 Außerdem kann der Staat auf eine grundrechtswidrige Beweisbeschaffung mit der Verhängung eines Beweisverwertungsverbotes reagieren und so der Rechtsverletzung abhelfen bzw. die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens wieder herstellen. In einem tripolaren Regime hätte der Staat neben der Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs auch das Opferinteresse am Strafurteil zu realisieren. Eine Abwägungsentscheidung über die Anwendung eines Beweisverwertungsverbots, das die Verurteilung präkludieren würde,686 würde entsprechend komplexer und tendenziell für den Beschuldigten belastender. Die Notwendigkeit, verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen, ist gewiss kein Phänomen, das nur aufträte, wenn ein Interesse des Straftatopfers an einer 683

Eine andere Dimension betrifft die staatliche Pflicht, im Rahmen der staatlichen Strafverfolgung grundrechtliche Schutzansprüche des (potentiellen) Opferzeugen zu berücksichtigen. Diese müssen vom Staat in die Abwägung, in welcher Form der staatliche Strafanspruch verfolgt werden kann, eingestellt werden, siehe ausführlich z. B. Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 80 ff. Diese Dimension unterscheidet sich aber von einem Opferinteresse an Genugtuung/Bestrafung. 684 So auch dezidiert krit. Gärditz, JZ 2015, 896, 900. Ähnlich, aber positiv Velten, in: SKStPO, Vor §§ 374 – 406h Rn. 9; im Kontext von Opportunitätseinstellungen so auch Sturm, GA 2017, 398, 404 ff. 685 Siehe zu Beweisverwertungsverboten und ihrer Ratio im englischen Recht statt vieler Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 344 ff.; zum deutschen Recht statt vieler Heghmanns, ZIS 2016, 404, 405 f., 409; Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, S. 69 ff. 686 Fälle, in denen die Verurteilungsmöglichkeit von der Verwertbarkeit eines einzelnen Beweises abhängt, sind praktisch selten, aber nicht ausgeschlossen. Hier geht es zudem um die Veranschaulichung eines Grundproblems der tripolaren Abwägung.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

strafrechtlichen Verurteilung des Täters anerkannt würde.687 Nichtsdestotrotz wäre eine solche Abwägung im Kontext der Strafverfolgung besonders heikel. Die Kriminalstrafe ist der schwerste Eingriff, den der Staat in die Rechtspositionen seiner Bürger vornehmen kann; für den Angeklagten steht in der Abwägung also besonders viel auf dem Spiel. Eine zusätzliche Komplexität entsteht dadurch, dass die im Staat verfasste Rechtsgemeinschaft selbst Ermittler und Strafverfolger ist. Verletzt sie im Rahmen des Strafverfahrens in massiv rechtsstaatswidriger Weise die Grundrechte des Angeklagten, kann dies im Extremfall die Durchsetzung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses unangemessen und „eines Rechtsstaates unwürdig“688 werden lassen und ein Verfahrenshindernis oder Verfolgungsverbot begründen.689 Dem Opfer könnte dieses Fehlverhalten aber kaum zugerechnet werden. Sein Individualinteresse an der Unrechtfeststellung durch Strafurteil bliebe folglich unberührt. Zu beantworten wäre daher, ob die im Staat verfasste Rechtsgemeinschaft – trotz Unangemessenheit der Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs – den Täter verurteilen müsste, um ihre Pflicht gegenüber dem Opfer zu erfüllen. Unabhängig davon, wie die Abwägungsentscheidung im jeweiligen Einzelfall ausfiele, und damit sei nicht unterstellt, dass sie stets zugunsten des Opfers und zu Lasten des Angeklagten ergehen müsste, lässt sich kaum leugnen, dass die Position des Angeklagten durch die Reduktion abwehrrechtlicher Schutzstandards aller Wahrscheinlichkeit nach geschwächt würde.690 Zudem müsste auch die umgekehrte, wenig diskutierte, aber mögliche Konstellation gelöst werden: Wie hätte der Staat zu verfahren, wenn ein Opfer im Einzelfall kein Interesse an der Realisierung seines Feststellunginteresses im Strafurteil hätte und eine Verfolgung explizit nicht wünschte, die Allgemeinheit die Straftat aber für verfolgungswürdig und aus gesamtgesellschaftlicher Sicht – etwa zur Prävention künftiger Taten, zur Stabilisation des öffentlichen Normvertrauens, zur Verhinderung einer Ungleichbehandlung von Straftätern – als notwendig erachtete? Sollte das Interesse des Opfers an Nichtverfolgung ebenfalls – dann wohl zumeist auf Seiten des Angeklagten und konträr zum öffentlichen Interesse – in Abwägungsprozesse im Strafverfahren eingestellt werden; müsste es gar aufgrund der unmittelbaren Betroffenheit des (vermeintlichen) Opfers stets überwiegen? Würde das Interesse als

687 Auch müssen sich die Interessen von Opfer und Beschuldigtem nicht zwingend widersprechen, zu möglichen gleichlaufenden Interessen siehe Leverick, Internat. Rev. Victimology 11 (2004), 177, 195. 688 Waßmer, ZStW 118 (2006), 159, 189 im Kontext staatsverschuldeter überlanger Verfahrensdauer. 689 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 272, 284 f., 286 f.; Sprack, Criminal Proceudre, 20.14 ff.; Katzorke, Die Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs, passim; Waßmer, ZStW 118 (2006), 159, 187 ff. Nach Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 6, ist die Verwirkung des staatlichen „Strafanspruchs“ nicht möglich u. a. aufgrund eines verfassungsrechtlich fundierten Anspruchs des Opfers auf Strafverfolgung Dritter, wohl aber ein Beweisverwertungsverbot bei groben Verstößen gegen Verfahrensnormen. Allgemein Kühne, in: LR-StPO, Einl. H Rn. 20 ff. 690 Ebenso Gärditz, JZ 2015, 896, 900; verhalten krit. auch Hörnle, JZ 2015, 893, 896.

B. Konsequenzen der Anerkennung eines Genugtuungsinteresses

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echter Anspruch konstruiert, müsste ein solcher schließlich auch disponibel sein.691 Und wie wäre zu verfahren, wenn eine Tat zwei Opfer beeinträchtigte, und eines die Feststellung wünschte, das andere nicht? Sollte dann eine Hierarchie von verschiedenen Individualinteressen aufgestellt werden?692 Insgesamt erscheint es in diesem Kontext jedenfalls nicht naheliegend, stets von einem Gleichlauf der Interessen der individuellen Opfer und der Allgemeinheit auszugehen. Realistischer ist vielmehr die Erwartung, dass sich oft divergierende Interessen von Opfern, Angeklagten und der Allgemeinheit gegenüber stünden. Diese divergierenden Interessen auszubalancieren wäre schwierig.693 Unter der Prämisse, dass Opfer ein anerkanntes Interesse an der Feststellung im Strafurteil hätten, müsste aber ein Ausgleich gefunden werden. Die Berücksichtigung eines individuell variierenden Opferinteresses in Abwägungsprozessen im Strafverfahren könnte weiterhin dazu führen, dass objektiv vergleichbare Sachverhalte nicht mehr gleich entschieden werden könnten, und könnte in der Folge die Gleichmäßigkeit und unter Umständen auch Rationalität der Strafverfolgung gefährden.694 Eine solche Entwicklung wäre nicht nur aus Sicht des Angeklagten bedenklich, sondern auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Über die Problematik der konkreten, verfahrensimmanenten Abwägungsentscheidungen hinaus wäre weitergehend diskussionsbedürftig, wie sich die Anerkennung eines Opferinteresses an Unrechtfeststellung durch das Strafurteil auf die Verfassung des prozessualen und materiellen Rechts auswirken würde. Konsequenterweise müsste ein vom Allgemeininteresse an effektiver Strafverfolgung zu trennendes Opferinteresse an Feststellung im Strafurteil auch berücksichtigt werden bei der Ausgestaltung von allgemeinen Regeln, die ein feststellendes Strafurteil ausschließen könnten, z. B. von Vorschriften zur Verjährung, Immunität oder materiellen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen. Dies bedeutet nicht, dass das Opferinteresse zwingend im Normgestaltungsprozess überwiegen müsste, wohl aber, dass die Ausgestaltung aller Vorschriften, die ein verurteilendes Strafurteil präkludieren und so die Erfüllung des Opferinteresses an Feststellung im Strafurteil vereiteln könnten, zumindest unter Einstellung dieses neuen Abwägungsfaktors zu überprüfen wären. Holz schlägt insoweit vor, dass das seiner Ansicht nach aus der Strafnorm abzuleitende subjektive Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters per se unter dem Vorbehalt jeglicher Beschränkungen des Normbefehls der strafrechtlichen Sanktionsnorm stünde.695 Allerdings lassen sich aus Holz’ Begründung weder Kriterien für die Ausübung des legislativen Ermessens noch für 691

Siehe dazu unten Kap. 4 A. Zu einem ähnlichen Dilemma in der englischen Rechtsprechung, die den Effekt der Strafe auf das Opfer strafmildernd, aber nicht strafschärfend berücksichtigt, Edwards, Crim. L. Rev. 2002, 689, 695 f. 693 Ähnlich krit. z. B. Ashworth, Oxford J. Legal Studies 6 (1986), 86, 113; Hörnle, JZ 2015, 893, 896. 694 Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 947, 959. 695 So Holz, Justizgewähranspruch, S. 146, 217. 692

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

dessen Grenzen ableiten. In der Folge stünde die Reichweite des Opferrechts ganz im legislativen Gutdünken, und der Gesetzgeber könnte das Recht durch Erlass entsprechender a priori Einschränkungen – z. B. durch die Regelung von Verfahrenshindernissen, Strafausschließungsgründen, Verfolgungsfreistellungen – sogleich ohne Rücksicht auf die Opferperspektive entleeren. Zumindest aus der Perspektive derjenigen, die ein Recht des Opfers auf Feststellung durch das Strafurteil anerkennen und umsetzen möchten, kann Holz’ Vorschlag deshalb nicht überzeugen. Über dieses Problem hinaus stellt sich bei der Ausgestaltung des formellen und materiellen Rechts schließlich die Frage, wie das Interesse des „individuellen Opfers“ zu quantifizieren wäre. Denn losgelöst vom Einzelfall lässt es sich naturgemäß schwer definieren. Würde insoweit auf „Durchschnittsbedürfnisse“ von individuellen Opfern abgestellt, wäre gegenüber der hergebrachten Berücksichtigung eines generalisierten Allgemeininteresses wenig gewonnen. Schwierigkeiten könnten sich darüber hinaus bei der Begründung von Straftaten ergeben, die (ausschließlich) Kollektivrechtsgüter schützen. Wenn mit dem Strafurteil ausgedrückt werden soll, dass auch dem individuell Betroffenen (und nicht nur der Allgemeinheit) ein Unrecht zugefügt worden ist, ist vorgelagert auch der Straftatbegriff auf die individuelle Verletzung des Einzelnen zu erstrecken. Eine solche Verletzung kann jedoch nur bei Straftaten zum Schutz von Individualrechtsgütern, nicht bei solchen zum Schutz von Kollektivrechtsgütern vorliegen. Notwendig wäre daher die Entwicklung einer zweispurigen Dogmatik für die Begründung von Delikten zum Schutz von Individualrechtsgütern und zum Schutz von Kollektivrechtsgütern.696 Die Anerkennung eines Opferinteresses an dem strafrechtlichen Urteilsspruch hätte damit eine Reihe aus grundrechtlicher Sicht nicht unproblematischer Konsequenzen für das Strafverfolgungssystem, die von Verfechtern der Anerkennung dieses Interesses adressiert werden müssten. Im Common Law wie im kontinentaleuropäischen Rechtskreis ist jahrhundertelang um ein Strafverfolgungssystem gerungen worden, das größtmögliche Objektivität, Grundrechtssensitivität und Willkürfreiheit und damit nicht zuletzt Gerechtigkeit garantiert.697 In beiden Rechtskreisen hat sich ein System staatlicher Strafverfolgung im allein öffentlichen Interesse herausgebildet. Dass die Strafverfolgung primär unter öffentlichen Vorzeichen betrieben wird und nicht im Individualinteresse des Verletzten, beruht damit nicht nur, wie von der Europäischen Kommission angedeutet,698 auf historisch und kulturell begründeten Einstellungen in den Mitgliedstaaten, sondern auf 696 Insofern positiv Hörnle, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, S. 11, 29 f.; dies., in: FS Roxin (2011), S. 3, 15; dies., JZ 2006, 950, 952; krit. hingegen Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 38 f.; Seelmann, JZ 1989, 670, 672; Weigend, in: von Hirsch/ Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, S. 31, 37; ders., RW 2010, 39, 42. 697 Zur geschichtlichen Entwicklung siehe Kleinert, Mitwirkung, S. 131 ff., insbesondere S. 184 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 27 ff. 698 Kommission, Impact Assessment, S. 16.

C. Strafverfahren aus der Opferperspektive

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rechtsstaatlichen Überlegungen.699 Ob es ratsam ist, von der ausschließlich im öffentlichen Interesse betriebenen staatlichen Strafrechtspflege abzurücken, ist daher zweifelhaft.700

III. Ergebnis Würde das Opferinteresse an Unrechtfeststellung entgegen den tradierten normativen Grundprinzipien des Common und des Civil Law mit dem Strafurteil zu befriedigen gesucht, hätte dies in beiden Verfahrenssystemen weitreichende problematische Konsequenzen für die Struktur der Strafverfolgung, die Positionen des (vermeintlichen) Opfers und des Angeklagten im Strafverfahren und die Dogmatik des materiellen und formellen Strafrechts insgesamt. Diese Konsequenzen werden in der Diskussion um die Befriedigung eines Feststellungsinteresses des Opfers im Strafprozess oft nicht (vollständig) abgebildet. Sie sollten indes nicht leichtherzig in Kauf genommen werden. Aufgrund der Schranken in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV ist es der EU auch kompetenzrechtlich untersagt, eine solche Grundprinzipien der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen tangierende Reform zu erzwingen.701 EUVorgaben zu Opferrechten sind deshalb nicht von der Kompetenzgrundlage gedeckt, soweit sie auf die Anerkennung und Durchsetzung eines solchen Interesses im Strafprozess zielen.

C. Die Konzentration auf das Strafverfahren aus der Opferperspektive Die EU ebenso wie andere Verfechter des privaten Unrechtfeststellungsinteresses unterstellen ohne Begründung, dass dieses Interesse aus Sicht des Opfers am besten im Strafjustizsystem erfüllt werden könne. Dies wirft die Frage auf, ob die Konzentration auf das Strafjustizsystem zur Erfüllung des Genugtuungsinteresses aus Perspektive des Opfers tatsächlich überzeugt.

699 Dazu, dass der Ausschluss des Verletzten aus dem Verfahren beabsichtigt war, um es zu entdramatisieren, Seelmann, JZ 1989, 670, 671. 700 Entschieden ablehnend auch Bung, StV 2009, 430, 437, der betont aus Gründen intrinsischer Zivilität, Rationalität und Fairness könne der Verletzte nicht Träger des Strafverfolgungsanspruchs sein; Eckstein, in: FS Schroeder (2006), S. 777, 796; Gaede, in: Böse, Enz EuR Bd. 9, § 3 Rn. 94; Jerouschek, JZ 2000, 185, 193; Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 888; Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 215; grds. auch Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 787; ders., FS Schöch (2010), S. 947, 959. 701 Die Struktur der mitgliedsstaatlichen Systeme stünde entgegen, siehe oben Kap. 1 D I 5. Siehe dort auch zu der Frage, ob den Mitgliedstaaten gemeinsame Grundstrukturen einer Vereinheitlichung entgegenstehen können.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

I. Notwendiger Inhalt der Unrechtfeststellung Ob das Interesse an Unrechtfeststellung aus Opferperspektive effektiv im Rahmen des Strafjustizsystems befriedigt werden kann, hängt zunächst davon ab, was genau die Unrechtfeststellung beinhalten muss. Autoren, die ein Opferinteresse an Unrechtfeststellung proklamieren, lassen überwiegend die Frage unbeantwortet, was genau zum festzustellenden „Unrecht“ zählt.702 Dies liegt vermutlich daran, dass die bisherige Diskussion zur Unrechtfeststellung überwiegend im straftheoretischen Kontext geführt wird. In diesem Rahmen wird der erforderliche Inhalt der Feststellung ohne weitere Spezifizierung gleichgesetzt mit dem Inhalt eines Strafurteils.703 Die Rückbindung des Feststellungsinhalts an die gesetzliche Definition einer Straftat ist als erster Orientierungspunkt naheliegend. Fraglich ist aber, ob tatsächlich Deckungsgleichheit zwischen dem aus Opfersicht erforderlichen Inhalt der Unrechtfeststellung und dem Inhalt des Strafurteils besteht. Mit der Feststellung soll dem Opfer nach ihren Verfechtern versichert werden, dass die Welt nach den Kategorien von Recht und Unrecht organisiert ist, das Opfer Unrecht erlebt hat und an der verletzten Norm auch für die Zukunft festgehalten wird. Diese bestätigende Wirkung erfordert die Bezugnahme auf eine Norm, die nach Recht und Unrecht unterteilt. Die Strafnorm leistet dies. Mit der Vorgabe eines Straftatbestandes hat zudem die im Staat verfasste Rechtsgemeinschaft a priori zum Ausdruck gebracht, dass sie die darunter zu subsumierenden Sachverhalte als Unrecht anerkennt. Dementsprechend ist es folgerichtig, die konkretisierte Unrechtsanerkennung im Einzelfall gegenüber dem Opfer an dieser generalisierten vorgelagerten Wertung zu orientieren.704 Aus der Rückanbindung des Inhalts der Unrechtfeststellung an die Wertung der Strafnorm folgt aber nicht, dass alle Voraussetzungen eines Strafurteils auch für die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer Relevanz entfalten. Ein verurteilendes Strafurteil stellt, grob kategorisiert, als materielle Hauptkomponenten fest, dass eine bestimmte Person der abstrakten Beschreibung einer sanktionsbewehrten Verhaltensnorm zuwider gehandelt hat, dass das konkrete Verhalten im Einzelfall im Widerspruch zur Rechtsordnung im Ganzen steht und dass der Person die Tat persönlich vorgeworfen werden kann.705 Welche von diesen materiellen Komponenten 702 Eine Ausnahme bildet z. B. Hörnle, JZ 2006, 950, 957; dies., in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 109 f., die feststellt, dass es für das Opfer nur auf die Unrechtfeststellung, nicht aber auf den im Strafurteil enthaltenen Schuldvorwurf ankomme. 703 Z. B. Dölling, in: FS Jung (2007), S. 77, 82; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 135 ff.; Weigend, RW 2010, 39, 50 Fn. 52. 704 Außerdem ist die staatliche Obliegenheit, Straftatopfer mittels Feststellung zu unterstützen, mit der Definition von Straftatbeständen verknüpft. Deshalb liegt es nahe, auch den Feststellungsinhalt an die Straftatbestände rückzubinden, siehe ausführlich unten Kap. 4 F I. 705 Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 12; Freund, in: MüKo-StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 13, dort auch zu anderen Rechtsordnungen in Rn. 115 ff.; Lackner/Kühl, StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 6. Diese Kategorien finden sich, wenn auch unter anderen Namen und Zuteilungen, grds. auch im Common Law-Strafrecht, siehe Horder, Ashworth’s Principles of

C. Strafverfahren aus der Opferperspektive

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für die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer relevant sind, ergibt sich aus dem konkreten Zweck, der mit der Feststellung verfolgt wird. Dieser Zweck soll darin bestehen, dem Opfer mittels Identifizierung des Unrechts Rückversicherung zu geben. Daraus folgt, dass nur die Komponenten festzustellen sind, die aus der Perspektive des Opfers das Unrecht konstituieren und dementsprechend für seine Stabilisierung herausgearbeitet werden müssen. Es kommt also darauf an, ob die jeweilige Komponente aus der Opferperspektive für die Bewertung des Geschehens als Unrecht signifikant ist.706 Aus der Perspektive des Opfers ist für die Bewertung eines Geschehens als Unrecht jedenfalls relevant, ob der ihm zugestoßene Schaden bzw. die Gefährdung auf ein objektiv strafnormwidriges Verhalten einer Person, die nicht das Opfer selbst ist, zurückzuführen ist. Die Feststellung muss inhaltlich also mindestens das umfassen, was den objektiven Verhaltensnormverstoß ausmacht. Weiterhin sind für die Bewertung des Geschehens als Unrecht aus der Opferperspektive auch subjektive Komponenten wie der Vorsatz bzw. deliktspezifische Absichten signifikant. Denn das äußere Erscheinungsbild eines menschlichen Verhaltens ist oft mehrdeutig. Der soziale Sinngehalt einer Körperbewegung (oder des Unterlassens einer Bewegung) wird von den damit verfolgten Intentionen bestimmt. So erhält ein objektiv neutrales Verhalten wie das Ergreifen eines fremden Gegenstandes seinen spezifischen Charakter erst dadurch, dass der Ergreifende dabei die Absicht hat, den Gegenstand gegen den Willen des Eigentümers zu behalten. Zudem beeinflusst die mit dem Verhalten verbundene Intention, wie das Gegenüber das Verhalten aufnimmt und bewertet. Jemand, dessen Geldbörse von einem anderen ergriffen wird, bewertet das Ergreifen in der Regel anders, wenn er weiß, dass der erste dem Irrtum unterlag, es sei seine eigene, als wenn er sie in Kenntnis der Eigentumsverhältnisse ergriffen hat, um sie sich widerrechtlich zuzueignen. Ohne die entsprechende subjektive Komponente ist folglich aus der Außenperspektive des Opfers nicht zu beurteilen, wann ein menschliches schädigendes Verhalten ein Unglück, aber kein Unrecht darstellt.707 Die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer muss inhaltlich also auch umfassen, was im deutschen Recht den subjektiven Tatbestand eines Strafgesetzes ausmacht. Außerdem setzt sie die Feststellung voraus, dass die in den Blick genommene Handlung nicht von einem Eingriffsrecht gedeckt war und somit nicht ausnahms-

Criminal Law, S. 101 ff. (act and causation requirements, absence of permission, capacity and fault requirements, excusatory defences); Ormerod/Laird, Criminal Law, S. 50, 113, 321 f.; Simester et al., Criminal Law, S. 8 ff. 706 Ähnlich auch Hörnle, in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 118. 707 Dies spiegelt sich auch im heute ganz überwiegend im deutschen Recht vertretenen dreigliedrigen Verbrechensbegriff. Danach prägen das Unrecht neben objektiven Komponenten auch Vorsatz, Fahrlässigkeit und deliktspezifische Absichten. Statt vieler siehe Freund, MüKOStGB, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 13, 24; Hörnle, in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 115 f.; Kühl, in: FS Kühne (2013), S. 15, 23. Eine vergleichbare Wertung gilt im Common Law, siehe instruktiv z. B. Williams, Textbook of Criminal Law (1983), S. 70 f.; statt vieler Horder, Ashworth’s Principles of Criminal Law, S. 98 f., 173 ff.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

weise in Einklang mit der Rechtsordnung stand. Denn ein bewusst wahrgenommenes Eingriffsrecht würde ein Unrecht im Sinne der Rechtsordnung ausschließen. Fraglich ist aber, ob sich die Unrechtfeststellung auch darauf beziehen muss, dass einer bestimmten Person die Unrechtsverursachung persönlich vorzuwerfen ist; in strafdogmatischen Termini ausgedrückt: Ob ein Schuldvorwurf gegenüber einem bestimmten Individuum erforderlich ist. Diejenigen, die die Unrechtfeststellung mit Bezug auf das Strafurteil diskutieren, scheinen dies zu großen Teilen zumindest implizit anzunehmen.708 Argumentiert wird, dass mit dem Schuldspruch dem Opfer gegenüber die wichtige Mitteilung überbracht werde, dass eine bestimmte Person identifiziert worden sei, die das Geschehen determiniert habe.709 Auch insoweit ist jedoch auf den Zweck der Unrechtfeststellung abzustellen: Es geht nach ihren Verfechtern darum, dem Opfer zur Stabilisierung eine Ursache für das Geschehen zu benennen, die nicht in ihm selbst und nicht in schicksalhaften Unglücksverläufen liegt. Dafür ist es aber ersichtlich nicht notwendig, einen bestimmten Täter zu identifizieren, dem die Unrechtsverwirklichung persönlich vorzuwerfen ist.710 Wird festgestellt, dass das Opfer von einem menschlichen, unrechtmäßigen Verhalten betroffen ist, erlaubt dieses Erklärungsmuster dem Opfer die für die Stabilisierung notwendige Differenzierung des Geschehens von einem unerklärbaren schicksalhaften Unglücksfall und erübrigt Selbstvorwürfe. Ob das als Ursprung identifizierte Verhalten einer konkret benannten Person zugeordnet und einer bestimmten Person ein persönlicher Vorwurf für die Verursachung gemacht werden kann, ist für diese Differenzierung irrelevant. Der in einem Strafurteil enthaltene persönliche Schuldvorwurf betrifft die Sphäre des Opfers nicht und beeinflusst so auch nicht seine Außenperspektive auf das unrechtmäßige Verhalten. Außerdem wird auch die Geltung der Norm allein durch die Unrechtfeststellung bestätigt, ohne dass die 708 In diese Richtung scheinen etwa zu tendieren Baier, GA 2005, 81, 87 f.; Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 218; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 131; Hörnle/von Hirsch, GA 1995, 261, 275; Jäger, StV 1997, 222, 223; Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51, 73. Die Annahme mag aber nicht stets Resultat einer bewussten Entscheidung, sondern Folge davon sein, dass die Feststellung im Kontext des Strafurteils diskutiert wird und das Strafurteil einen Schuldvorwurf erfordert. 709 In diese Richtung Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 131. 710 Ähnlich Jerouschek, JZ 2000, 185, 193. In diese Richtung könnte auch Weigend, RW 2010, 39, 44 ff. zu verstehen sein. (Er stellt fest, dass die berechtigterweise vom Verletzten geforderte Unrechtanerkennung nicht zwingend im Strafurteil erfolgen müsse. Dementsprechend setzt sie nach ihm wohl nicht zwingend einen Schuldvorwurf voraus. Allerdings lässt Weigend offen, in welcher Form die Feststellung ansonsten erfolgen sollte.) Schließlich ähnlich Hörnle, JZ 2006, 950, 957; dies., in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 109. Anders noch dies./von Hirsch, GA 1995, 261, 275: „Tadel als Bestandteil der verhängten Strafe ist deshalb unverzichtbar, da er neben der Botschaft an den Täter auch das Opfer adressiert, und damit anerkennt, daß es durch den Fehler eines anderen (und nicht etwa durch ein einem Unfall oder einer Naturkatastrophe vergleichbares Ereignis) verletzt wurde.“ Charakteristikum des Begriffs Tadels sei, dass er personenbezogen sei und beinhalte, dass dem Täter die Tat zum Vorwurf gemacht werde, id., S. 265. Dementsprechend hielt Hörnle offenbar 1995 noch die Vorwurfskomponente gegenüber dem Täter für die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer für unverzichtbar.

C. Strafverfahren aus der Opferperspektive

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Verwirklichung dieses Unrechts einem Individuum persönlich vorgeworfen werden müsste. Die Feststellung würde damit auch ohne das Element des Schuldvorwurfs das gewünschte Stabilisierungsziel erreichen. Deswegen sind im Ergebnis Voraussetzungen, die einen Schuldvorwurf gegenüber einem individuellen Täter ermöglichen bzw. einschränken, für die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer irrelevant.711 Untermauert wird diese Erkenntnis dadurch, dass auch aus Sicht der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft eine Person, die von einem rechtswidrigen Verhalten betroffen worden ist, bereits als Opfer qualifiziert wird, unabhängig von der Schuldhaftigkeit des viktimisierenden Verhaltens.712 Die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer ist deshalb strikt vom Schuldvorwurf gegenüber einem Täter zu trennen. Um das Stabilisierungsziel zu erreichen, muss die Unrechtfeststellung somit folgende Komponenten umfassen: das Opfer wurde von einem menschlichen Verhalten betroffen, dieses Verhalten erfüllt die Voraussetzungen, die nach der deutschen Strafrechtsdogmatik den objektiven und subjektiven Straftatbestand ausmachen, und diese Verhalten war von keinem Erlaubnissatz gedeckt. Nicht festgestellt werden müssen die Identität eines bestimmten Verursachers und die persönliche Vorwerfbarkeit des Verursachers. Der weitere Zweck der Unrechtfeststellung, dem Betroffenen die gesellschaftliche Solidarisierung auszudrücken, erfordert schließlich zudem, dass die Feststellung unmittelbar an das Opfer adressiert wird.

II. Befriedigung des Genugtuungsinteresses mit dem Strafurteil Vor diesem Hintergrund fragt sich, ob das Strafurteil ein geeignetes Instrument ist, um das Feststellungsbedürfnis des Opfers zu erfüllen. Die Länderberichte zum deutschen und englischen Recht haben gezeigt, dass die Rekonstruktion eines Geschehens im Strafverfahren selektiv erfolgt. Sie wird beschränkt durch menschenrechtliche Vorgaben, äußere Faktoren wie Ressourcenknappheit und vor allem durch die verfahrensrechtliche Zielsetzung, die Verantwortlichkeit des Beschuldigten für die Verwirklichung eines Straftatbestandes aufzuklären. Erhoben wird deshalb zum einen kein vollständiger historischer Sachverhalt, wie es das individuelle Opfer unter Umständen wünschen mag. Zum anderen geht es bei der strafverfahrensrechtlichen Aufklärung ebenso wie im Strafurteil um die Feststellung der Verantwortlichkeit des Beschuldigten für die Verwirklichung eines Unrechts gegenüber der Gesamtgesellschaft. Das individuelle Unrecht gegenüber dem mutmaßlichen Opfer ist normativ nicht der Feststellungsgegenstand. Das Opfer wird im Strafurteil auch nicht als 711

Irrelevant sind folglich die Schuldfähigkeit, Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, Unrechtseinsicht sowie etwaige Entschuldigungsgründe desjenigen, der das Unrecht verursacht hat. 712 Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 265.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

von einem individuellen Unrecht unmittelbar Betroffene/r explizit identifiziert und adressiert.713 Vielmehr wird seine Verletzteneigenschaft allenfalls en passant in den Urteilsgründen vermerkt.714 Eine ausdrückliche, unmittelbar an das Opfer adressierte Anerkennung seiner individuellen Verletzung erfolgt mit dem Ausspruch des Strafurteils gegen den Täter, das das öffentliche Unrecht abbildet, damit nicht.715 Weiterhin wird teilweise vertreten, dass für die Befriedigung des Opferinteresses zusätzlich zu dem mit dem Strafurteil ausgesprochenen Tadel die Verhängung einer Sanktion gegenüber dem Täter notwendig sei.716 Dieser Annahme liegt die Vorstellung zugrunde, dass die mit dem Urteil gegen den Täter verhängte Sanktion ein Bedürfnis des Opfers nach Genugtuung stille oder doch seine Situation sonst verbessere. Insofern weist Renzikowski jedoch zutreffend darauf hin, dass die Entscheidung, was Genugtuung verschafft, individuell ist und allein vom Opfer getroffen werden kann.717 Die Kriminalstrafe als staatlicher Eingriff in die Freiheitsgrundrechte des Täters unterliegt indes rechtsstaatlichen Schranken und kann in der Konsequenz immer nur eine objektivierte und begrenzte Reaktion sein, die blind ist für die individuelle Ausprägung des Rachewunsches des Opfers.718 Die Strafe kann ein Genugtuungsbedürfnis, soweit vorhanden, deshalb nicht notwendigerweise stillen. Weiterhin macht die Sanktionierung des Täters die Viktimisierung des Opfers weder praktisch ungeschehen noch gleicht sie sein Leid aus oder verbessert seine Situation in normativer Weise.719 Empirische Befunde deuten bisher ebenfalls nicht darauf hin, dass eine Bestrafung des Täters die durch die Viktimisierung hervorgerufenen Schäden des Opfers lindert.720 Schließlich betonen Verfechter der Befriedigung eines Unrechtfeststellungsinteresses im Strafverfahren, dass Straftatopfer nach der Tat ein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Solidarisierung und Inklusion in die Gesellschaft haben.721 Das Strafurteil bewirkt jedoch nicht automatisch die gewünschte gesellschaftliche So713

Adressiert wird der Verletzte insofern nur als Teil der Allgemeinheit. A.A. wohl Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 60. Zudem umfasst die Rechtskraft des Urteils auch nicht die Feststellung der Person des Verletzten, Weigend, Deliktsopfer, S. 424 Fn. 161. 714 Bommer, Verletztenrechte, S. 253. 715 Lüderssen, in: Prittwitz/Manoledakis, Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 63, 72, stellt fest, dass das Opfer nur etwas gewonnen hätte, wenn das Strafurteil ausdrücklich seine Genugtuung feststellen würde. Ähnlich kritisch Bommer, Verletztenrechte, S. 253. 716 Vgl. oben Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2) (b) (bb). 717 Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 215. 718 Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 215. 719 Ebenso Kleinert, Mitwirkung, S. 221; Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 725; ähnlich bereits auch Janka, Staatliches Klagmonopol, S. 14. Ambivalent Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406h Rn. 9. Anders Weigend, in: FS Schöch (2010), S. 947, 959, der davon ausgeht, die Bestrafung des Täters gleiche das Leid des Opfers aus. 720 Kleinert, Mitwirkung, S. 351; Sautner, Opferinteressen, S. 262; Schneider, MschrKrim 1998, 316, 333. 721 Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2).

C. Strafverfahren aus der Opferperspektive

383

lidarisierung mit dem Opfer und seine (Re-)Integration in die Gesellschaft. Zwar stellt Reemtsma die These auf, dass die Strafe den Täter ausgrenze und damit das Opfer hereinnehme, es gleichsam wieder willkommen heiße in der Gesellschaft.722 Diese These vermag jedoch weder auf praktischer noch auf normativer Ebene zu überzeugen. Auf praktischer Ebene wird das Opfer durch die Ausgrenzung des Täters mittels in der Strafe enthaltenen Tadels und Sanktionierung nicht unmittelbar in die Gemeinschaft wieder aufgenommen.723 Auf normativer Ebene suggeriert Reemtsmas These, das Opfer könne nur über die Ausgrenzung des Täters in die Gesellschaft reintegriert werden, dass in der Gesellschaft nur Platz für entweder den Täter oder das Opfer wäre. Eine einem Solidaritätsideal verschriebene Gesellschaft sollte aber beiden Platz bieten.724 Das Strafurteil stellt damit nicht das dem Opfer individuell widerfahrene Unrecht explizit und unmittelbar an das Opfer adressiert fest. Auch verschafft die Sanktionierung des Täters dem Opfer nicht notwendigerweise Genugtuung. Schließlich symbolisiert das Strafurteil auch nicht zwingend die gesellschaftliche Solidarisierung, die für die Rehabilitation des Opfers für notwendig erachtet wird.

III. Selektive (hypothetische) Befriedigung des Genugtuungsinteresses Selbst wenn man einmal unterstellt, das Strafurteil erreiche die für das Opfer notwendige Feststellungs- und Solidarisierungswirkung, so besteht ein weiterer Nachteil, wenn die Befriedigung von Opferinteressen von einem Strafurteil abhängig gemacht wird. Im Einzelfall können Faktoren, die das Unrecht gegenüber dem Opfer nicht tangieren, den Ausspruch eines verurteilenden und damit (hypothetisch) das Unrecht für das Opfer feststellenden Urteils im Strafverfahren verhindern. Auch dieser Umstand ist eine Folge der Täterzentriertheit des Strafverfahrens.725 Für einige Opfer bedeutete dies in der Konsequenz, dass ihnen die Unrechtsanerkennung und gesellschaftliche Solidarisierung qua Strafurteil ohne eine in ihrer Sphäre liegende Rechtfertigung vorenthalten würden. Unrechtfeststellung und Solidarisierung qua Strafurteil stünden damit nur einer Selektion von Opfern zur Verfügung. Veranschaulichen lässt sich dieses Phänomen z. B. anhand des Schulderfordernisses. Ein Strafurteil enthält einen persönlichen Vorwurf gegenüber dem Täter, 722

Reemtsma, Im Keller, S. 216; zust. Baier, GA 2005, 81, 87; Sautner, Opferinteressen, S. 290. 723 Ebenso Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51, 72. 724 Zur Bedeutung von Solidarität als Grundwert der EU siehe unten Kap. 4 G. 725 Das Strafverfahren ist primär auf die Bestrafung des Täters gerichtet, für ihn steht alles auf dem Spiel. Daraus folgt die Notwendigkeit der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze – z. B. in Bezug auf den Nachweis der Schuld, Beweisgrundsätze, Regeln zu Verfahrenshindernissen, etc. –, die dem Erlass eines Strafurteils entgegenstehen können. Siehe auch Spencer, in: Cape, Reconcilable rights, S. 37.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

weshalb sein Erlass Feststellungen zur Schuld des Täters erfordert. Die Schuld betrifft allerdings, wie dargelegt, nur die Sphäre des Täters und nicht die des Opfers.726 Auf Feststellungen zur persönlichen Vorwerfbarkeit an den Täter kann folglich für den Erlass des Strafurteils keinesfalls verzichtet werden, für die Feststellung des dem Opfer individuell widerfahren Unrechts und die gesellschaftliche Solidarisierung mit dem Opfer sind sie hingegen irrelevant. Kann ein Strafurteil bei Vorliegen von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit mangels Schuld nicht ausgesprochen werden, blieben dem betroffenen Opfer Unrechtfeststellung und gesellschaftliche Solidarisierung damit ohne einen in seiner Sphäre liegenden Grund verwehrt. Eine vergleichbare Situation ergäbe sich, wenn ein Strafverfahren aufgrund eines Verfahrenshindernisses gar nicht erst aufgenommen oder eingestellt würde. Wird die Möglichkeit von Straftatopfern, Feststellung und Solidarisierung zu erfahren, an das Strafjustizsystem gebunden, ist diese daher a priori beschränkt. Partiell diesem Einwand abhelfen könnte nur die Einführung eines Schuldinterlokuts im Strafverfahren in der von Jerouschek vorgeschlagenen Form. Nach ihm soll die Hauptverhandlung in zwei Teile geteilt werden: Der Richter soll zunächst förmlich das Unrecht, das dem Opfer widerfahren ist, nach Feststellung einer rechtswidrig begangenen Tat anerkennen, um so die Traumatisierung des Verbrechensopfers zu lindern, und erst danach die Schuld des Täters untersuchen.727 Auch die Einführung eines solchen Schuldinterlokuts würde jedoch nur bei einigen der genannten Selektions-Fälle Abhilfe schaffen. Außerdem würde auch die Einführung eines Schuldinterlokuts den Fokus des Strafverfahrens nicht vom Täter auf das Opfer lenken.

IV. Täterzentrierung des Strafjustizsystems Weiterhin fordert die Unionspolitik, das Opfer in den Mittelpunkt des Strafjustizsystems zu stellen, um sein Feststellungsbedürfnis zu erfüllen.728 Fraglich ist indes, ob das Strafjustizsystem und insbesondere das Strafverfahren strukturell darauf ausgelegt sind. Ziel des Strafverfahrens ist im englischen wie deutschen Recht eine Entscheidung darüber herbeizuführen, ob ein vorwerfbarer Verstoß gegen eine strafsanktionsbewehrte Verhaltensnorm vorliegt, und den Angeklagten entsprechend

726

Siehe oben Kap. 3 C I. Jerouschek, JZ 2000, 185, 191; ähnlich Bommer, Verletztenrechte, S. 254, der die Einführung eines „Leidinterlokuts“ im Strafverfahren vorschlägt. Ebenfalls zur Einführung eines Schuldinterlokuts, allerdings in abweichender Form und Zielsetzung (Unterteilung des Strafverfahrens in zwei Teile und Opferbeteiligung erst nach Schuldfeststellung), Hamel, Strafen als Sprechakt, S. 202 ff.; Hanloser, Gehör, S. 224 – 227; Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung, S. 703 f.; Krauß, in: FS Lüderssen (2002), S. 269, 275 f. 728 Vgl. oben Kap. 1 D II 1, III. 727

C. Strafverfahren aus der Opferperspektive

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entweder zu bestrafen oder freizusprechen.729 Das auf die Klärung der Verantwortlichkeit des Angeklagten gerichtete Erkenntnisinteresse und seine im Fall einer Verurteilung auf dem Spiel stehenden Freiheitsrechte bedingen, dass das Strafverfahren den Angeklagten/Täter und seine Rechte in den Mittelpunkt stellt. Dieser strukturell vorgegebene Fokus wiederum bewirkt, dass das Opfer und seine Interessen – entgegen dem politischen Slogan der Union – nicht im Mittelpunkt des Strafverfahrens stehen können.730 Dieses Strukturproblem ließe sich auch nicht vollständig dadurch beseitigen, dass ein Individualinteresse des Opfers an Unrechtfeststellung mit dem Strafurteil anerkannt würde. Denn auch unter der Bedingung, dass das dem Verletzten individuell zugefügte Unrecht zu einem konstitutiven Element der Straftat erklärt und das Individualinteresse des Verletzten an einer strafrechtlichen Reaktion anerkannt würden, müsste dem Straftatbegriff konstruktiv immer auch ein Element immanent sein, das über die Individualverletzung hinausginge und so das Geschehen als strafrechtliches Unrecht auszeichnete. Dieses Element öffentlichen Unrechts würde eine bleibende Beteiligung der Rechtsgemeinschaft an der Antwort auf die Straftat begründen. Dass die Interessen der Rechtsgemeinschaft und des Einzelnen an der Strafverfolgung und dem Erlass des Strafurteils stets gleichläufig wären, ist indes nicht zu erwarten.731 In der Konsequenz müsste die Strafverfolgung abwägen zwischen den Interessen des (potentiell) Verletzten und der Rechtsgemeinschaft. Im Ergebnis wäre es daher möglich, dass das getroffene Urteil hinter den Erwartungen des (potentiellen) Opfers an die damit erstrebte Unrechtfeststellung zurückbliebe. Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn eine Abwägungsentscheidung gegen das Interesse des Opfers an einem (oder keinem) Ausspruch des Strafurteils gefällt würde. Weiterhin bliebe der Hauptfokus des Strafverfahrens auch unter Anerkennung eines Verletzteninteresses am Strafurteil die Verantwortlichkeit des Angeklagten. Lediglich der Inhalt der Verantwortlichkeitsprüfung verschöbe sich von der Prüfung der Verantwortlichkeit für ein öffentliches Unrecht zur Prüfung auch der Verantwortlichkeit für ein individuelles Unrecht. Im Mittelpunkt des Strafjustizsystems stünde das (potentielle) Opfer aber noch immer nicht. Weil das Strafverfahren und das Strafurteil nie einzig und vollständig auf die Sicht des (potentiellen) Opfers konzentriert werden könnten, würde die Propagierung eines Individualinteresses am Strafurteil letztlich auf Opferseite Wünsche wecken, die der Staat nicht vollständig erfüllen könnte. Ob dies zur Steigerung der allgemeinen Zufriedenheit von Straftatbetroffenen beitragen würde, ist zweifelhaft.732 729

Ausführlich oben Kap. 3 A II, IV 2. Ebenso Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 270; Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 216. Vgl. auch Rieß, Gutachten, Rn. 71. 731 Ebenso Hörnle, JZ 2015, 893, 896; Sanders/Young/Burton, Criminal Justice, S. 726. 732 Kritisch in dieser Hinsicht auch Barton, in: ders./Kölbel, Ambivalenzen, S. 111, 134 f.; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406h Rn. 9 (es bestünde eine Asymetrie zwischen den Erwartungen des Opfers an das Strafverfahren und dem, was dieses leisten könne). Ezendam/ Wheldon, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 51, 54 f., untermauern dies, indem sie darauf 730

386

Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Schließlich wurde bereits dargelegt, dass die Anerkennung eines Individualinteresses am Erlass des Unrecht-feststellenden Strafurteils auch bedingen würde, dass dem potentiellen Opfer eine aktive Position im Strafverfahren eingeräumt würde.733 Weigend weist insofern auf ein weiteres Konfliktpotential für den Verletzten hin. Mit steigendem Einfluss auf den Erlass des Strafurteils entstünde die Gefahr, dass im Verhältnis vom Opfer zum Angeklagten Spannungen aufträten und ein ggf. bestehendes Machtgefälle zulasten des Opfers perpetuiert würde.734 Als ebenfalls nachteilige Konsequenz könnte zudem ein sozialer Druck auf das Opfer entstehen dadurch, dass das soziale Umfeld von ihm erwartet, seine Möglichkeit zur aktiven Intervention im Strafjustizsystem zu nutzen.735 Nicht alle Opfer möchten aber eine aktive Rolle im Zusammenhang mit der Verfolgung des Täters einnehmen.736 Diese verschiedenen Spannungen ließen sich jedoch kaum vermeiden, wenn der Staat das Opferinteresse an Unrechtfeststellung mit dem Strafurteil befriedigen sollte.

V. Beschränkung auf das Hellfeld der Devianz Schließlich ist der Ansatz, sich zur Unterstützung von Opfern auf die Rolle des Betroffenen im Strafjustizsystem zu konzentrieren bzgl. aller damit verfolgten Ziele ineffektiv. Denn wenn die Unterstützung für Opfer auf das Strafverfahren und Strafurteil konzentriert wird, wird sie dem ganz überwiegenden Teil von ihnen vorenthalten. Dies liegt an zwei Selektionsfiltern, die kontinentaleuropäischen und Common Law-Strafjustizsystemen gleichermaßen immanent sind.737 Zunächst wird nur ein ganz kleiner Teil der tatsächlich begangenen Straftaten angezeigt oder gelangt auf sonstige Weise zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden.738 Der größte hinweisen, dass empirische Studien gezeigt haben, dass staatliche Versprechen gegenüber Opfern deren Erwartungen an das Strafjustizsystem gesteigert hätten und bei mangelnder Erfüllung der gesteigerten Erwartungen die erlebte Enttäuschung größer gewesen sei. In der Folge sei das Vertrauen in das Strafjustizsystem gesunken. 733 Kap. 3 B I. 734 Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, S. 31, 37. 735 Auch Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 114; Yoshida, in: FS Roxin (2011), S. 1863, 1871. 736 Dies ist z. B. deutlich geworden in der Diskussion über die Wirkung von VPS, näher dazu Kap. 3 A III 2 a) dd). Viele Verletzte gaben an, mit ihren Ausführungen keinen Einfluss auf die Verfolgung des Täters ausüben zu wollen, Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 46, 58 f.; Reeves/Mulley, in: Crawford/Goodey, Integrating, S. 125, 140; Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 178 f. Allgemein zu diesem Phänomen Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 52. 737 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 2; Schünemann, NStZ 1986, 193, 195. Dazu, dass die Selektionswirkung der staatlichen Devianzkontrolle aus Sicht der Allgemeinheit und des Beschuldigten positiv sein kann, id., S. 197. 738 Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 2. Ob Delikte angezeigt werden, hängt u. a. vom Delikttyp ab, siehe Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung, S. 211 ff. Eigentumsdelikte werden grds. häufiger angezeigt als Gewaltdelikte aufgrund von Versicherungs-

C. Strafverfahren aus der Opferperspektive

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Teil strafrechtlicher Devianz hingegen verbleibt im Dunkelfeld. Ohne die Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden kann ein öffentlich betriebenes Strafverfahren, in dessen Rahmen Opfer Solidarisierung erfahren und hypothetisch das Unrecht festgestellt werden könnte, nicht stattfinden. Zweitens wird von den Delikten, die angezeigt werden, nur ein ganz geringer Teil im gerichtlichen Verfahren verhandelt. Nach Unionskonzeption erhält das Opfer indes die meisten Rechte im gerichtlichen Verfahren.739 Und nur im gerichtlichen Verfahren könnte bei Nachweis der Tat das hypothetisch rückversichernde und Solidarität spendende Strafurteil ergehen. Der weit überwiegende Teil der Strafsachen wird jedoch vorher anderweitig zum Abschluss gebracht.740 Die meisten Verletzten haben damit a priori keine Möglichkeit, die für sie im Strafverfahren vorgesehenen Maßnahmen wahrzunehmen und Rückversicherung durch eine im Strafurteil hypothetisch enthaltene Unrechtfeststellung zu erfahren. Wird die Hinwendung zum Opfer auf eine Hinwendung im Strafjustizsystem reduziert, bleibt die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und die Erreichung von „Opfergerechtigkeit“ folglich einer „privilegierten Opferelite“ vorbehalten.741

VI. Ergebnis Die Konzentration auf das Strafjustizsystem und insbesondere auf den Ausspruch des Strafurteils ist aus der Perspektive des Opfers kein effektiver Weg, um sein Interesse an Unrechtfeststellung und gesellschaftlicher Solidarisierung zu erfüllen. Dies gilt sowohl in gegenwärtigen, auf das öffentliche Unrecht fokussierten Strafjustizsystemen als auch in einem hypothetischen, auch auf das Individualinteresse an Unrechtfeststellung ausgerichteten Strafverfolgungssystem.

bedingungen, Steffen, in: Marks/dies., Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 51, 67 Fn. 44. Der größte Teil jedoch bleibt im Dunkelfeld, id., S. 67. Zu den niedrigen Erwartungen von anzeigenden Verbrechensopfern an die Hilfe durch Strafverfolgungsbehörden siehe Baurmann/ Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 283 f. 739 Siehe oben Kap. 1 D III 1, 2 A. 740 So ist etwa im Jahr 2010 in Deutschland nur in 11,9 % der angezeigten Fälle Anklage erhoben und in 11,6 % Strafbefehlsantrag gestellt worden. In 76,5 % der angezeigten Fälle wurde das Verfahren eingestellt, siehe Heinz, Sanktionensystem. In England wurden 1999 nur 43 % aller Straftaten angezeigt, davon wurden 75 %, also 28 % aller Taten verfolgt. Nur etwa 1/4 der verfolgten Taten wurde aufgeklärt, die Hälfte davon endete in einer Verurteilung. D. h. nur etwa 2 – 3 % aller Straftaten führten zu einem Strafurteil. Im Jahr 2007/08 lag die Zahl der Straftaten, deren Begehung in eine strafrechtliche Verurteilung mündete, bei ca. 3 %, Ashworth/ Remayne, Criminal Process, S. 2 f. 741 Schünemann, NStZ 1986, 193, 197; ähnlich Dignan/Cavadino, Internat. Rev. Victimology 4 (1996), 153, 160; Reeves/Dunn, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 46, 66 f.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

D. Exkurs: Befriedigung des Genugtuungsinteresses mit privat-rechtlichen und Restorative JusticeInstrumenten? Bevor Schlussfolgerungen aus der Analyse des privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren gezogen werden, soll abschließend geprüft werden, ob privatrechtliche und Restorative Justice-Instrumente dieses Interesse effektiv befriedigen könnten.

I. Das Zivilverfahren Privatrechtlich steht dem Opfer einer Straftat meist ein Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger zu, der materiellen Ausgleich und ggf. auch Genugtuung verschaffen soll. Für seine Erfüllung wird das zivilrechtliche Delikt in der Regel im Zivilprozess verhandelt und ein etwaiger Schadensersatzanspruch des Opfers gegen den Schädiger festgestellt. In einigen Rechtsordnungen kann das Opfer seinen Schadensersatzanspruch gegen den Täter zudem im Rahmen des Strafverfahrens betreiben, z. B. im Adhäsionsverfahren oder als partie civile.742 Art. 16 Abs. 1 RL 2012/29/EU forciert den Ausbau solcher Möglichkeiten. Letztlich stellt es die EU den Mitgliedstaaten aber frei, in welchem nationalen gerichtlichen Verfahren sie dem Opfer ermöglichen, eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Straftäter zu ersuchen.743 Unabhängig davon, in welchem Verfahren die zivilrechtlichen Ansprüche durchgesetzt werden, sind die dem Opfer privatrechtlich eingeräumten Möglichkeiten isoliert betrachtet jedoch unzureichend, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.744 Zum einen steht das Zivilverfahren – wie auch das Strafverfahren – ausschließlich zur Verfügung, wenn der vermeintliche Schädiger greifbar ist. Einer nicht unerheblichen Anzahl von Opfern ist diese Maßnahme damit ebenso verwehrt wie das Strafverfahren. Eine weitere Unzulänglichkeit folgt daraus, dass die zivilrechtliche Abhilfe auf die materielle Dimension der Tatfolgen beschränkt ist. Denn zum einen bringt ein Schadensersatzanspruch nur bei einem solventen Täter reale Vorteile.745 Zum anderen erschöpfen sich die Bedürfnisse von Straftatopfern oft gerade nicht in dem Verlangen nach der Zahlung einer Geldsumme. Am wichtigsten 742

Siehe z. B. Brienen/Hoegen, Victims of Crime, S. 1069 ff. Art. 16 Abs. 2 RL 2012/29/EU verpflichtet die Mitgliedstaaten lediglich dazu, eine angemessene Entschädigung des Opfers durch den Täter überhaupt zu fördern. 744 Ebenso Hörnle, JZ 2006, 950, 953; Sautner, Opferinteressen, S. 290. A.A. Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 888 ff.; ders, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466 ff.; ders., in: Prittwitz/ Manoledakis, Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 63 ff. 745 Auch die staatliche Opferentschädigung vermag aufgrund ihrer Anwendungsbeschränkungen sowohl im deutschen wie im englischen Recht nicht alle hierdurch begründeten Einbußen aufzufangen. 743

D. Exkurs

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für den hier untersuchten Zusammenhang ist aber die Tatsache, dass das Opfer aufgrund der Parteizusammensetzung eines zivilen Rechtsstreites darin keine staatliche bzw. gesellschaftliche Zuwendung erfährt. Den Zivilprozess muss das Opfer selbst initiieren, und in den Blick nimmt das Verfahren nicht die Beziehung zwischen Staat und Opfer, sondern die Beziehung zwischen Opfer und Schädiger. Der Staat ist an dem Prozess nur als Verfahrensmittler beteiligt. Das Urteil bestätigt ggf. einen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger, es erkennt aber weder öffentlich das dem Opfer widerfahrene Unrecht an, noch symbolisiert es die gesellschaftliche Solidarisierung mit dem Geschädigten. Die gewünschte offizielle staatliche Reaktion erfährt das Opfer im Rahmen der Privatrechtsordnung folglich nicht.

II. Restorative Justice-Konzepte Einen weiteren Ansatz zur Beantwortung der Bedürfnisse von Straftatopfern bieten die auf ganzheitliche Konfliktlösung angelegten Restorative Justice-Konzepte. In ihren Details differierend liegt ihnen der Kerngedanke zugrunde, dass die Bedürfnisse des Opfers, des Täters und möglichst der Gesellschaft simultan zum Ausgleich gebracht und gestörte soziale Beziehungen geheilt werden sollen.746 Ziel ist die Wiedergutmachung materieller wie immaterieller Schäden zwischen dem Täter, dem Opfer und ggf. weitergehend auch der Gesellschaft und/oder sonstigen Personen, die von der Tat betroffen sind.747 Dazu setzt der Prozess in der Regel voraus, dass der Täter sich zur Tatbegehung bekennt und über die im Strafverfahren getroffenen Feststellungen hinaus die Verantwortung für die Tat aktiv übernimmt.748 Soll das Verfahren Erfolg haben und rechtsstaatlichen Anforderungen genügen, müssen ihm außerdem alle Beteiligten zustimmen und freiwillig daran teilnehmen.749 Restorative Justice-Ansätze werden auch in Art. 12 RL 2012/29/EU behandelt. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten allerdings nicht zur Einführung derartiger Verfahren, sondern zielt darauf, Mindestschutzstandards für Opfer zu normieren, für den Fall, dass Wiedergutmachungsverfahren in den nationalen Sys746 Siehe statt vieler die Ausführungen eines der Begründer restaurativer Gerechtigkeit Zehr, Fairsöhnt. Restaurative Gerechtigkeit (das Buch ist die deutsche Übersetzung der von Zehr verfassten Originalausgabe, The Little Book of Restorative Justice, erschienen 2002 in Pennsylvania, USA), S. 20 ff., 27: „Restaurativer Gerechtigkeit geht es mehr um die Bedürfnisse der Opfer, der Gemeinschaft und um die Bedürfnisse der Täter“. [Hervorhebung i.O.]; S. 44: „Restaurative Gerechtigkeit unterstützt Konsequenzen, Verantwortungsübernahme, Wiedergutmachung und Heilung für alle Beteiligten.“ Zu den verschiedenen Modellen siehe id., S. 62 ff. 747 Zehr, Fairsöhnt, S. 20, 39 f. 748 Siehe z. B. zum Täter-Opfer-Ausgleich in § 46a StGB, BGHSt 48, 134, 141; Maier, in: MüKo-StGB, § 46 a Rn. 31 f.: der Täter müsse die Verantwortung für das begangene Unrecht übernehmen und ein Geständnis ablegen. Allgemein Zehr, Fairsöhnt, S. 34, 44, 61. 749 Zehr, Fairsöhnt, S. 61.

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

temen zur Anwendung kommen.750 Die von der EU normierten Anforderungen entsprechen den gängigen Voraussetzungen, die in der Restorative Justice-Bewegung vertreten werden.751 Insgesamt ist der Richtlinie eine kritisch-differenzierte Einstellung gegenüber Wiedergutmachungsdiensten zu entnehmen. Sie stuft diese als nicht unter allen Umständen opferfreundlich ein und empfiehlt sie nicht uneingeschränkt.752 Unabhängig davon, ob die kritische Zurückhaltung der Richtlinie gegenüber Restorative Justice-Ansätzen gerechtfertigt ist oder nicht, sind auch solche Wiedergutmachungsdienste jedenfalls nicht dazu geeignet, die Interessen des Opfers an offizieller Unrechtfeststellung, gesellschaftlicher Solidarisierung und praktischer Unterstützung vollumfänglich zu befriedigen. Erstens ist ihre Verfügbarkeit wie die des Strafjustizsystems und des Zivilverfahrens begrenzt. Denn ebenso wie diese setzt die Durchführung eines Wiedergutmachungsverfahrens die Identifikation eines Täters voraus, der dem Verfahren zudem noch zustimmen, die Tat im Wesentlichen zugeben und die Verantwortung dafür freiwillig übernehmen muss. Außerdem ist die Einführung eines solchen Dienstes für die Staaten nicht obligatorisch, seine Verfügbarkeit ist also unabhängig von dem Willen der Beteiligten nicht immer garantiert.753 Zweitens sind die praktischen Angebote, die Opfer in Wiedergutmachungsverfahren erhalten können, in der Regel durch die Ressourcen des Täters begrenzt. Diese Ressourcen sind jedoch nicht immer deckungsgleich mit den Bedürfnissen des Opfers.754 Weiterhin hält z. B. Jerouschek die Durchführung von auf Wiedergutmachung angelegten Verfahren zwischen Opfer und Täter unter Traumapsychologischen Gesichtspunkten für nachteilig bis gefährlich.755 Ob gefährlich oder nicht – es streben jedenfalls nicht alle Verletzten nach dem, was die Wiedergutmachungsansätze als Herzstück offerieren: ein (versöhnendes) Gespräch mit dem Täter.756 Der dritte Nachteil der restorativen Ansätze ist schließlich, dass sie keine offizielle staatliche Unrechtsbestätigung bieten und die Gesellschaft darin nicht unmittelbar ihre Solidarität mit dem Opfer bekundet. Denn selbst wenn der Täter die 750

Siehe ausführlich Kap. 2 A IV 3. Siehe z. B. Walker, Restorative Practices EForum 2004, 1, 2; vgl. dazu Kap. 2 A IV 3. 752 So auch FRA, Victims of Crime in the EU, S. 62. Diese Tendenz begrüßend Groenhuijsen, Internat. Rev. Victimology 20 (2014), 31, 42; eher enttäuscht Gavrielides, in: ders., A victim-led criminal justice system, S. 83, 89. A.A. ohne Begründung Allegrezza, in: Lupária, Victims and Criminal Justice, S. 3, 16. Die Kommission allerdings empfiehlt, zumindest bei leichten Taten den Einsatz von Mediationsdiensten anzupreisen, Kommission, Guidance Document, S. 33 f. 753 Ebenso krit. Herman, in: Zehr/Towes, Critical Issues in Restorative Justice (2004), S. 75, 76. 754 Ähnlich Herman, in: Zehr/Towes, Critical Issues in Restorative Justice, S. 75, 76 f., die betont, dass Verbrechensopfer oft therapeutische Behandlung und praktische Hilfe wie Kinderbetreuung, Drogentherapie oder Hausreparaturen benötigen, die Resotrative Justice-Systeme nicht bieten können. 755 So Jerouschek, JZ 2000, 185, 190. 756 Herman, in: Zehr/Towes, Critical Issues in Restorative Justice, S. 75, 76 f. 751

E. Fazit

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Verantwortung für die Tat dem Opfer gegenüber übernimmt, hat dies nicht zwingend für den Betroffenen dasselbe Gewicht wie eine offizielle Rückversicherung und vermittelt ihm keine gesellschaftliche Solidarität. Diese Ausführungen zielen nicht darauf, Restorative Justice-Ansätze als solche zu beurteilen. Sie zeigen aber, dass der Staat seine Verantwortung gegenüber Straftatopfern nicht alleine durch die Vorhaltung solcher Instrumente erfüllen kann.

E. Fazit: Alternativen für die Befriedigung des Genugtuungsinteresses? Die EU stellt im neunten EG der Richtlinie 2012/29/EU fest, dass eine Straftat nicht nur ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft begründet, sondern zugleich die individuellen Rechte des Opfers verletzt. Dass Straftatopfer als Folge einer solchen Verletzung ein Interesse an Unrechtfeststellung und gesellschaftlicher Solidarisierung haben, ist in Literatur und Rechtspolitik vielfach festgestellt und als legitim anerkannt worden. Als Konsequenz wird auf nationaler wie auf Unionsebene gefordert, diese Opferinteressen im Strafjustizsystem zu befriedigen. Die vorhergehende Analyse hat jedoch aufgezeigt, dass das englische Common Law ebenso wie das deutsche Civil Law- Strafjustizsystem dazu ungeeignet sind. In beiden konfligiert die Berücksichtigung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren mit tradierten normativen Grundprinzipien. Würde das private Unrechtfeststellungsinteresse gleichwohl zukünftig in die Verfahren integriert, hätte dies in beiden Systemen problematische Implikationen für die Struktur der Strafverfolgung, die Position des (vermeintlichen) Opfers und des Angeklagten im Strafverfahren sowie für die Dogmatik des materiellen und formellen Strafrechts insgesamt. Häufig übersehen wird zudem, dass die Konzentration auf das Strafjustizsystem auch aus Sicht des Opfers im adversatorischen wie im inquisitorischen Verfahren unbefriedigend ist. Schließlich können auch privatrechtliche und Restorative Justice-Mechanismen die genannten Opferinteressen nicht effektiv befriedigen. Ein Instrument, das diese Bedürfnisse adäquat beantworten könnte, fehlt vielmehr im gegenwärtigen System. Wenn die Rechtspolitik ihr Credo, die individuelle Verletzung des Opfers in den Mittelpunkt zu rücken, ernst meint, kann sie sich deshalb nicht darauf beschränken, eine Stärkung der Stellung des Opfers im Strafverfahren zu propagieren. Vielmehr müsste sie erwägen, die Opferunterstützung von der selektiven formellen Sozialkontrolle im Strafjustizsystem abzukoppeln. Ein möglicher Ansatz könnte sein, ein von der Strafverfolgung getrenntes System einzuführen, in dem sich die im Staat verfasste Gesellschaft ganz auf die Bedürfnisse von Straftatopfern konzentrieren könnte. In einem solchen System könnte die Gesellschaft Opfer und ihre Bedürfnisse wie von der EU propagiert wirklich in den Mittelpunkt rücken und gegenüber dem

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Kap. 3: Genugtuungsinteresse im deutschen u. englischen Strafjustizsystem

Betroffenen das ihm persönlich widerfahrene Unrecht gemäß den erläuterten Grundsätzen offiziell anerkennen.757 Das System müsste sich also der unmittelbar an den Verletzten adressierten Feststellung widmen, dass er von einem menschlichen Verhalten betroffen wurde, welches die Voraussetzungen erfüllt, die nach der deutschen Strafrechtsdogmatik den objektiven und subjektiven Straftatbestand ausmachen, und welches von keinem Erlaubnissatz gedeckt war. Nicht festgestellt würde die persönliche Vorwerfbarkeit eines bestimmten Verursachers, und auch eine repressive Reaktion einem solchen gegenüber dürfte in dem Alternativsystem gerade nicht erfolgen. Auf diese Weise könnte das System die Mängel der derzeit existierenden Reaktionsmöglichkeiten vermeiden und die Bedürfnisse von Straftatopfern effektiver erfüllen. Zugleich könnte es zu einer Schonung der Position des Beschuldigten im Strafverfahren beitragen und das Strafjustizsystem als Ganzes entlasten. Und schließlich könnte es der Gesellschaft die Möglichkeit eröffnen, sich gezielt mit dem Leid der Betroffenen auseinander zu setzen.758 Es erscheint deshalb lohnenswert, die Möglichkeiten sowie die Vor- und Nachteile der Installation eines solchen Alternativsystems für Straftatopfer näher zu untersuchen. Zur Veranschaulichung wird das hier angedachte, potentielle Alternativsystem im Folgenden als „additives Betroffenenforum“ bezeichnet werden.759 Dabei inspirieren die Grundsätze dieses Konzepts zugleich seine Bezeichnung: Die Interessen von Personen, die von einer Straftat betroffen worden sind, sind in der Regel dilemmatisch, d. h. sie wünschen, dass ihre Umwelt zur Kenntnis nimmt, was ihnen passiert ist, und darauf reagiert, zugleich möchten sie aber nicht auf eine Opferrolle festgelegt oder reduziert werden. Eine Zuschreibung der Opferrolle behindert zudem die Wiedererlangung von Kontrolle über das eigene Leben und ist damit für die Resozialisierung der viktimisierten Person hinderlich. Vor diesem Hintergrund erkennt der Begriff des Betroffenen an, was der viktimisierten Person geschehen ist, ohne sie auf die Opferrolle zu reduzieren. Der Begriff Forum signalisiert, dass das Konzept öffentlich, für alle Betroffenen zugänglich und auf Austausch gerichtet ist. Das Attribut additiv kennzeichnet, dass das System die herkömmlichen Reaktionen auf eine Straftat im Zivil- und Strafjustizsystem ergänzt, aber nicht ersetzt.

757

Siehe dazu Kap. 3 C I. – Damit ist im Übrigen nicht gemeint, dass das Strafjustizsystem und die Bestrafung des Täters abzuschaffen wären. Beides dient anderen wichtigen gesellschaftlichen/verfassungsrechtlichen Zielen. 758 Ähnlich Herman, in: Zehr/Towes, Critical Issues in Restorative Justice, S. 75, 81 f. 759 Siehe zur praktischen Ausgestaltung des Konzepts Kap. 5 B.

Kapitel 4

Normatives Fundament der staatlichen Verantwortung zur (alternativen) Befriedigung des Genugtuungsinteresses von Straftatopfern Akzeptiert man die Prämissen, dass Straftatopfer ein Interesse an Unrechtfeststellung haben und dieses Interesse berechtigt ist, und dass der Staat Opfer theoretisch wie praktisch am besten unabhängig vom Strafjustizsystem unterstützen könnte, stellt sich die Frage, ob der Staat auch verpflichtet ist, das Unrechtfeststellungsinteresse in einem Alternativsystem zu befriedigen. Normativ folgt nicht schon aus der Berechtigung eines Interesses auch eine positive Pflicht des Staates zu seiner Befriedigung oder weitergehend ein Anspruch gegen den Staat auf dessen Befriedigung. Praktisch würde die Einsetzung des vorgeschlagenen additiven Betroffenenforums zudem staatliche und gesellschaftliche Ressourcen kosten, deren Investition einer Rechtfertigung bedürfte. Die bloße Nachvollziehbarkeit des Opferinteresses kann diese Rechtfertigung nicht alleine liefern, wie der Vergleich mit anderen Gruppen vulnerabler Gesellschaftsmitglieder zeigt – z. B. Personen, die Schaden durch eine Umweltkatastrophe genommen haben und ebenfalls von externer Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer Lebensgrundlage profitieren würden. Eine Pflicht der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft, gerade Straftatopfer bei der Bewältigung der Viktimisierung zu unterstützen, bedarf deshalb einer darüber hinausgehenden Begründung. Ohne eine solche Begründung bliebe die Forderung danach bloßes Postulat. Gerade Ansätze, die das Unrechtfeststellungsinteresse von Straftatopfern durch seine Berücksichtigung in den Straftheorien und dem Strafurteil befriedigen wollen, lassen eine solche Begründung häufig vermissen.1 Der Vorschlag, das Feststellungsinteresse außerhalb des Strafverfahrens zu erfüllen, soll daher zusätzlich mit einem normativen Fundament für eine entsprechende staatliche Verantwortung verknüpft werden.2 1

So schließt etwa Hörnle, JZ 2006, 950, 955, ohne Begründung von dem als berechtigt identifizierten Feststellunginteresse des Opfers auf dessen Recht auf Feststellung im Strafurteil. Gleichfalls ohne Begründung bejaht Rössner, in: FS Roxin (2001), S. 977, 985 f., ein Recht des Opfers auf Bestrafung zur Differenzierung zwischen unrichtigen und unglücklichen Ereignissen. Krit. zu Hörnles Ansatz, aus dem Interesse ohne Weiteres eine staatliche Verpflichtung zu folgern, Kleinert, Mitwirkung, S. 198. 2 Neben den im Folgenden vorgestellten normativen Begründungsansätzen werden auch kriminalpolitische Argumente für die Verpflichtung des Staates, Opfer zu unterstützen, vorgebracht. Spinellis, Isr. L. Rev. 31 (1997), 337, 338, führt z. B. an, die Unterstützung des Opfers

394

Kap. 4: Normatives Fundament

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze Die Suche nach einem normativen Fundament ist bei den die EU und alle Mitgliedstaaten bindenden Vorgaben an der Spitze der Normenpyramide zu beginnen. Insofern sind die GRC und die EMRK darauf zu untersuchen, ob ihnen eine staatliche Verpflichtung zur Unrechtfeststellung gegenüber dem jeweiligen Straftatopfer sowie ein mit der staatlichen Verpflichtung korrespondierender subjektiver Anspruch des Opfers auf Unrechtfeststellung (und Solidarisierung) entnommen werden kann.3 Es wurde bereits erläutert, dass die Unionsorgane gem. Art. 6 Abs. 1, 3 EUV, Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC an die in der GRC und in der EMRK gewährleisteten Grundrechte gebunden sind.4 Auch bei Erlass von Richtlinienvorgaben zu Opferrechten gem. Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV muss die EU gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GRC die Grundrechte beachten. Dabei unterliegt sie den in der Anweisungskompetenz normierten Grenzen.5 Diese Grenzen können ihrerseits wiederum im Lichte der GRC auszulegen sein.6 Ergäbe sich folglich aus den Menschenrechten ein Anspruch von Straftatopfern gegen den Staat auf Befriedigung ihres Unrechtfeststellungsinteresses und bewegte sich die Normierung eines solchen Anspruchs innerhalb der von der Anweisungskompetenz in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV gesteckten Grenzen, die ggf. ihrerseits im Lichte der Grundrechte auszulegen wären, müsste die EU dies im Rahmen ihrer Richtliniengesetzgebung beachten.7 Die EU-Mitgliedstaaten sind ausnahmslos Vertragsstaaten der EMRK und unterliegen als solche deren Gewährleistungsverpflichtungen. Soweit sie Richtlinienvorgaben in nationales Recht umsetzen, sind sie zudem ebenfalls an die GRC gem. Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC gebunden. Ein Blick in die relevanten grundrechtlichen Vorgaben zeigt, dass keines der Dokumente explizit ein Recht von Straftatopfern auf Unrechtfeststellung und gereduziere dessen negative Gefühle und erleichtere so eine moderne, nicht punitive, auf die Resozialisierung des Täters ausgerichtete Kriminalpolitik. Andere betonen, die staatliche Opferunterstützung verbessere die Zufriedenheit des Opfers mit dem staatlichen Justizsystem und motiviere es so, an der Strafverfolgung mitzuwirken, was wiederum letztere effektiviere, statt vieler siehe Shapland, Brit. J. Criminol. 24 (1984), 131, 138. Unabhängig von solchen kriminalpolitischen Argumenten soll hier ein normatives Fundament für die staatliche Verpflichtung zur Opferunterstützung identifiziert werden. 3 Der ebenfalls im Primärrechtsrang stehende Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV vermittelt Opfern keine individuellen Ansprüche auf die Vorgabe spezifischer Rechte, siehe Kap. 1 D I. – Zur notwendigen Differenzierung von staatlichen Pflichten und korrespondierenden subjektiven Rechten siehe Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 103 ff. 4 Siehe oben Kap. 1 D I 6. 5 Siehe ausführlich Kap. 1 D I. 6 Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Unionsrecht, Art. 6 EUV Rn. 4; Jarass, EUGRC, Art. 51 Rn. 8. 7 Siehe zum Verhältnis der Kompetenzschutzklauseln in Art. 6 Abs. 1 S. 2 EUV, Art. 51 Abs. 2 GRC und der Unionskompetenz zur Erfüllung grundrechtlicher Ansprüche im Kontext der Gesetzgebung zu Opferrechten Kap. 1 D I 6.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

395

sellschaftliche Solidarisierung verbürgt. Keines der Dokumente enthält überhaupt ausdrücklich für Straftatopfer normierte Rechte.8 Im Gegensatz dazu räumen Artt. 6 EMRK, 48 GRC Personen, die wegen der vermeintlichen Begehung einer Straftat angeklagt sind, explizit Rechte ein. Dieser Unterschied liegt darin begründet, dass Grundrechte historisch primär als Freiheitsgarantien der Bürger gegen staatliche Eingriffe konzipiert sind und die Grundrechtsdokumente insofern die Verfahrensgarantien des Angeklagten als Schutzmechanismus gegen den im Strafverfahren übermächtigen Staat verbürgen.9 Dass Straftatopfer in den Grundrechtsdokumenten nicht ausdrücklich erwähnt werden, bedeutet jedoch nicht, dass eine grundrechtlich verbürgte staatliche Verpflichtung zur Unrechtfeststellung ihnen gegenüber von vornherein ausgeschlossen wäre. Vielmehr werden grundrechtlich verbürgte Verpflichtungen des Staates gegenüber Straftatopfern seit einiger Zeit intensiv diskutiert. Dabei geht es um eine staatliche Verpflichtung und einen potentiell korrespondierenden Anspruch des Straftatopfers auf Aufklärung einer Straftat und Bestrafung des Verantwortlichen, in anderen Worten also um einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Straftatopfers auf staatliche Strafverfolgung.10 In einem individuellen Anspruch des Opfers auf ein verurteilendes Strafurteil wäre konzeptionell ein Anspruch auf Feststellung des Unrechts im hier gemeinten Sinne enthalten. Dass sich eine staatliche Verpflichtung zur Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer und u. U. ein damit korrespondierender Anspruch des Opfers aus grundrechtlichen Vorgaben herleiten lässt, erscheint damit zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen. Ob dies tatsächlich der Fall ist und – inzidenter – ob die für den propagierten, weitergehenden verfassungsrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung und Bestrafung vorgebrachten Argumentationslinien zu tragen vermögen, wird im folgenden Abschnitt analysiert.11

I. Unrechtfeststellung als Inhalt einer Schutzpflicht aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen In Betracht kommt zunächst, eine staatliche Pflicht und einen damit korrespondierenden Anspruch des Straftatopfers auf Unrechtfeststellung und gesellschaftliche 8

Act. 9

Gleiches gilt im Übrigen für das deutsche Grundgesetz und den englischen Human Rights

Rock, Constructing Victims’ Rights, S. 232 f.; ähnlich Wemmers, Temida 15 (2012), 71, 74. Allgemein siehe auch Kreicker, in: Sieber et al., EuStrR, § 51 Rn. 11. Laut Ashworth/ Redmayne, Criminal Process, S. 51, hingegen erwähnt die EMRK Opferrechte nicht, weil politisch kein Konsens zu ihrer Reichweite habe gefunden werden können. 10 Zu den insofern vorgebrachten, unterschiedlichen Begründungsansätzen siehe im Folgenden Kap. 4 A. Daneben werden Ansprüche von Opfern auf Schutz im Strafverfahren aus der Verfassung abgeleitet, die aber für den hier diskutierten Zusammenhang ohne Belang sind. Siehe dazu auch Kap. 4 E. 11 Dafür, welche Auswirkungen die Bejahung eines verfassungsrechtlichen Bestrafungsanspruchs auf die Ausgestaltung eines additiven Betroffenenforums hätte, siehe Kap. 4 A I 2.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Solidarisierung aus einer aus den Grundrechten abgeleiteten staatlichen Schutzpflicht aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen herzuleiten. Die Befürworter eines grundrechtlichen Anspruchs des Opfers auf Genugtuung durch Strafurteil und Bestrafung eines Dritten nehmen dies teilweise unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR an.12 Im Folgenden wird daher zunächst die Rechtsprechung des EGMR zu Ermittlungs- und Strafverfolgungspflichten, die dem Staat gegenüber dem konkreten Straftatopfer auf Grundlage grundrechtlicher Schutzpflichten obliegen sollen, vorgestellt. Sodann wird erörtert, welche Ansprüche von Opfern inhaltlich aus dieser Herleitung gefolgert werden könnten und tatsächlich gefolgert werden. Schließlich wird geprüft, ob die Herleitung eines grundrechtlichen Anspruchs des Opfers auf Unrechtfeststellung (und Bestrafung) aus grundrechtlichen Schutzpflichten wegen verwirklichter Menschenrechtsverletzungen trägt. Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf Fälle, in denen private Dritte unter Verdacht stehen, ein durch eine Konventionsgarantie geschütztes Rechtsgut durch eine Straftat verletzt zu haben.13 Ausgeblendet werden damit die Sonderfälle, in denen dem Staat selbst unmittelbar oder mittelbar die Verletzung einer Konventionsgarantie im Kontext der Begehung einer Straftat zugerechnet werden kann.14 Staatliche Verpflichtungen im Nachgang einer möglichen staatlichen Beteiligung an einer Straftat werfen im Vergleich zu Straftaten unter Privaten anders gelagerte verfassungsrechtliche Fragestellungen auf, deren Beantwortung das verfassungsrechtliche Schrifttum bereits unternommen hat.15

12 Z. B. Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81 ff.; verhalten Holz, Justizgewähranspruch, S. 100, 104; Kuhn, ZRP 2005, 125, 127; Mayer-Ladewig, EMRK, Art. 2 Rn. 26; vgl. auch Robbers, in: Lüderssen, Kriminalpolitik, Bd. I, S. 147, 150 f.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 801. 13 Private sind nicht unmittelbar an die EMRK-Garantien gebunden und können sie auch nicht unmittelbar verletzen. Allerdings entfalten die Garantien vermittelt durch einfache Gesetze, z. B. Strafnormen, mittelbare Wirkung im Bürger-Bürger-Verhältnis, vgl. Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 19 Rn. 8 f. 14 Eine unmittelbare Zurechnung der Verletzung an den Staat wäre anzunehmen, wenn ein staatlicher Aufgabenträger im Rahmen der Amtsausübung eine Straftat, die eine Konventionsgarantie verletzt, begeht. Eine mittelbare Zurechnung wäre zu erwägen, wenn der Staat aufgrund einer präventiven Schutzpflicht – z. B. aufgrund eines besonderen Fürsorgeverhältnisses im Strafvollzug – verpflichtet gewesen wäre, die Straftat eines privaten Dritten zu verhindern und dies unterlassen hat; vgl. dazu Altermann, Ermittlungspflichten, S. 128 f.; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 107. Davon zu unterscheiden ist, in welchem Umfang der Staat grds. verpflichtet ist, Straftaten privater Dritter zu verhindern, und welche nachträglichen Pflichten daraus folgen könnten, dazu Kap. 4 B. 15 In diesen Fällen kann eine staatliche Aufklärungspflicht aus Art. 13 EMRK folgen; ausführlich Altermann, Ermittlungspflichten, S. 94 ff., 129 ff. mwN; auch Esser, Strafverfahrensrecht, S. 107 f.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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1. EGMR-Rechtsprechung zu staatlichen Ermittlungs- und Strafverfolgungspflichten Die Garantien der EMRK verbürgen – auch nach ständiger Rechtsprechung des EGMR – keinen allgemeinen Anspruch von Straftatopfern auf staatliche Strafverfolgung eines Dritten.16 Allerdings hat der EGMR in einigen Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen die staatliche Verpflichtung begründet, wirksame amtliche Untersuchungen (investigation) zu betreiben, die geeignet sind, die für die Verletzung verantwortliche Person zu identifizieren und zu bestrafen, und den von der Verletzung Betroffenen wirksam am Verfahren zu beteiligen. Zuerst bestätigt worden ist eine solche Ermittlungsverpflichtung in Bezug auf mögliche Verletzungen des Rechts auf Leben aus Art. 2 EMRK. In diesem Kontext hatte der EGMR die Rechtsprechung ursprünglich für Fälle entwickelt, in denen ein Mensch durch die Gewalteinwirkung eines Repräsentanten des Staates getötet worden war. Heute erstreckt er sie auf alle verdächtigen Todesfälle, unabhängig von einer materiellen Verantwortlichkeit des Staates für den Tod der Person.17 Eine im Wesentlichen inhaltsgleiche staatliche Ermittlungspflicht hat der EGMR zudem mittlerweile – wenn auch weniger umfangreich als im Kontext des Rechts auf Leben – in Bezug auf Art. 3 EMRK und vereinzelt bei Art. 8 EMRK angenommen.18 Die Strafverfolgungspflicht folgt laut EGMR zum einen aus der Schutzpflichtdimension der jeweiligen materiellen Garantie, z. B. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 EMRK. Denn nach dem Schutzpflichtkonzept des EGMR enthalten zumindest Artt. 2 und 3 EMRK nicht nur abwehrrechtliche Garantien gegen Eingriffe durch den 16 EGMR, Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, § 306 (Giuliani u. Gaggio/Italien); Urt. v. 9. 4. 2009, App. No. 71463/01, § 194 (Sˇ ilih/Slowenien); Urt. v. 16. 11. 2006, App. No. 11801/ 04, § 29 (Tsalkitzis/Griechenland); Urt. v. 12. 2. 2004, App. No. 47287/99, § 70 (Perez/ Frankreich); Urt. v. 17. 1. 2002, App. No. 32967/96, § 51 (Calvelli u. Ciglio/Italien); Kommission, Entscheidung v. 4. 10. 1976, App. No. 7116/75 (X/Deutschland). Siehe auch Bock, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 67, 70; Mayer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 59; Schmid, in: FS Zäch (1999), S. 807, 812; Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 3; Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 3 Rn. 30. 17 EGMR, Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, § 298 ff. (Giuliani u Gaggio/Italien); Urt. v. 24. 10. 2002, App. No. 37703/97, § 89 (Mastromatteo/Italien); Urt. v. 28. 7. 1998, App. No. 23818/94, § 82 (Ergi/Türkei). Zur Entwicklung der Rspr. siehe Chevalier-Watts, Europ. J. Internat. L. 21 (2010), 702, 703 ff.; Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 41; de Than, J. Crim. L. 67 (2003), 165, 171 ff. Zur Übertragung dieser Rechtsprechung auf den zu Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK gleichlautenden Art. 2 Abs. 1 GRC siehe Jarass, EU-GRC, Art. 2 Rn. 1, 9. 18 Zu Art. 3 EMRK: EGMR, Urt. v. 28. 5. 2015, App. No. 41107/10, § 95 ff. (Y./Slowenien); Urt. v. 17. 1. 2013, App. No. 38906/07, §§ 264 ff. (Karabet u. a./Ukraine); Urt. v. 6. 4. 2000, App. No. 26772/95, § 131 (Labita/Italien); Esser, Strafverfahrensrecht, S. 386 ff.; Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 3 Rn. 30. Zu Ermittlungspflichten bei Artt. 2, 3, 5, 8 und 14 EMRK Altermann, Ermittlungspflichten, S. 22 ff. mwN; zu Artt. 2, 3, 8 EMRK auch Szczekalla, Schutzpflichten, S. 737 ff., 770 f., 801 mwN. Zur Übertragung dieser Rspr. auf den zu Art. 3 EMRK gleichlautenden Art. 4 GRC Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 4 GRC Rn. 5; Jarass, EU-GRC, Art. 4 Rn. 1, 14.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Staat, sondern begründen in Verbindung mit der allgemeinen Verpflichtung in Art. 1 EMRK darüber hinaus die positive Pflicht der Konventionsstaaten, die Konventionsrechte wirksam vor Gefährdungen und Eingriffen Dritter zu schützen.19 Wenn eine Verletzung einer dieser Konventionsgarantien begründet behauptet wird, soll die Schutzpflicht als prozessuale Dimension auch die Verpflichtung zu wirksamen amtlichen, (in der Regel) strafrechtlichen Ermittlungen enthalten, die zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen geeignet sein müssen.20 Werden Ermittlungen gar nicht oder nicht entsprechend der vom Gerichtshof entwickelten Standards durchgeführt, soll dies eine Verletzung der prozessualen Ausprägung der materiellen Konventionsgarantie begründen.21 Neben der Herleitung aus den materiellen Konventionsgarantien hat der EGMR zusätzlich eine im Wesentlichen inhaltsgleiche Untersuchungspflicht auf Art. 13 EMRK gestützt.22 Gemäß Art. 13 EMRK hat jede Person ein Recht auf eine wirksame Beschwerde, wenn eines ihrer in der Konvention anerkannten Rechte verletzt worden ist. Die Rechtsschutzgarantie verlange bei der begründeten Behauptung einer schweren Verletzung von Artt. 2, 3 und in Ausnahmefällen Art. 8 EMRK23, dass zusätzlich zu ggf. zu leistendem materiellen Schadensersatz eine eingehende und wirksame Untersuchung stattfinde, die geeignet sei, die Verantwortlichen zu iden19 Meyer-Ladewig, NVwZ 2009, 1531, 1533; Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 3, 30 ff. 20 Der EGMR verwendet hier stets eine sehr ähnliche Formel, siehe z. B. EGMR, Urt. v. 14. 3. 2001, App. No. 30054/96, § 94 (Kelly u. a./Vereinigtes Königreich): „The obligation to protect the right to life under Article 2 of the Convention, read in conjunction with the State’s general duty under Article 1 of the Convention to ,secure to everyone within [its] jurisdiction the rights and freedoms defined in [the] Convention‘, also requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force.“ Identisch: EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 209 (Isayeva/ Russland); Urt. v. 14. 3. 2002, App. No. 46477/99, § 69 (Edwards/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 20. 5. 1999, App. No. 21594/93, § 88 (Og˘ ur/Türkei); Urt. v. 27. 9. 1995 (GK), App. No. 18984/91, § 161 (McCann u. a./Vereinigtes Königreich). Weitere Nachweise bei Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 83 f. (zu Art. 2), 86 (zu Art. 3); Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 31 f. Zu Art. 3 siehe: EGMR, Urt. v. 20. 7. 2000, App. No. 33951/96, § 89 (Caloc/Frankreich); Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 3 Rn. 30. 21 EGMR, Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, § 299 (Giuliani u. Gaggio/Italien); Meyer-Ladewig, NVwZ 2009, 1531, 1533. 22 Laut EGMR ist die verfahrensmäßige Pflicht aus Art. 13 EMRK weiter als die verfahrensmäßigen Pflichten aus Artt. 2 und 3 EMRK, vgl. EGMR, Urt. v. 18. 3. 2010, App. No. 43233/02, § 60 (Maksimov/Russland); Urt. v. 18. 6. 2002, App. No. 25656/94, § 384 (Orhan/Türkei); Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 37715/97, § 135 (Shanghan/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 19. 2. 1998, App. 22729/93, § 107 (Kaya/Türkei). Nach einigen Autoren hingegen sind die vom EGMR an die Ermittlungen gestellten Anforderungen in beiden Fällen deckungsgleich, Altermann, Ermittlungspflichten, S. 82 ff.; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 39. Zu dem Verhältnis auch Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 84. 23 EGMR, Urt. v. 16. 11. 2000, App. No. 23819/94, § 114 (Bilgin/Türkei). In dem Fall ging es um die Zerstörung von Häusern entgegen Art. 8 EMRK i.V.m. Art. 1 Zusatzprotokoll 1.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

399

tifizieren und zu bestrafen.24 Anknüpfungspunkt für die Anwendung von Art. 13 EMRK in diesem Kontext ist nach der EGMR-Rechtsprechung eine mögliche materielle Konventionsverletzung durch den Staat (z. B. eine behauptete gewaltsame Tötung durch einen Hoheitsträger) und nicht eine mögliche Verletzung der prozessualen Dimension der Konventionsgarantien (also das Unterlassen der Strafverfolgung als solcher).25 Deshalb ist eine Ermittlungspflicht aus Art. 13 EMRK bisher ganz überwiegend auf Fälle begrenzt worden, in denen eine Rechtsgutsverletzung durch Repräsentanten des Staates oder in staatlichem Auftrag im Raum stand.26 In den hier untersuchten Fällen einer Straftatbegehung unter Privaten ohne (un-)mittelbare Beteiligung des Staates fehlt es an einer solchen staatlichen materiellen Konventionsverletzung. Die Ermittlungspflicht aus Art. 13 EMRK greift folglich hier nicht.27 Die inhaltlichen Anforderungen an die Ermittlungen leitet der Gerichtshof aus ihrem Zweck ab, die effektive Durchsetzung der grundrechtsschützenden nationalen Rechtsnormen sicherzustellen, und die für die Grundrechtsverletzung verantwortlichen Personen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen.28 Dazu unterstellt er sie einem Effektivitätsgebot, das die Ausschöpfung aller vernünftigerweise verfügbaren Ermittlungsmöglichkeiten einschließt.29 Entsprechend den vom EGMR stets in ähnlicher Weise formulierten Standards müssen die Ermittlungen von Amts

24 Der stets ähnlich rezipierte Originaltext einer der ersten Entscheidungen des EGMR, Urt. v. 18. 12. 1996, App. No. 21987/93, § 98 (Aksoy/Türkei), hierzu lautet: „[…] the notion of an ,effective remedy‘ entails, in addition to the payment of compensation where appropriate, a thorough and effective investigation capable of leading to the identification and punishment of those responsible and including effective access for the complainant to the investigatory procedure.“ 25 Altermann, Ermittlungspflichten, S. 82 ff. 26 EGMR, Urt. v. 13. 12. 2012, App. No. 39630/09, § 255 (El-Masri/Mazedonien); Urt. v. 10. 10. 2002, App. No. 38719/97, § 135 (D.P. & J. C./Vereinigtes Königreich); Urt. v. 19. 2. 1998, App. No. 22729/93, § 107 (Kaya/Türkei); Breuer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 39; Holz, Justizgewähranspruch, S. 101 (Fn. 260) mwN. Entsprechend wird die Ermittlungspflicht bei Fehlen eines pflichtwidrigen Vorverhaltens des Staates überwiegend verneint, Altermann, Ermittlungspflichten, S. 138 mwN; Dröge, Verpflichtungen, S. 69 f.; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 106 f. (dort auch zu neueren Tendenzen in der EGMR-Rspr.); Holz, Justizgewähranspruch, S. 102. 27 A.A. Altermann, Ermittlungspflichten, S. 145, der als Anknüpfungspunkt auf ein völkergewohnheitsrechtlich verbürgtes Recht auf aktive Rechtsverfolgung abstellt bzw. auf S. 149 auf die Verletzung des in der EMRK geschützten Rechtsguts durch den Privaten. 28 Statt vieler EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 210 (Isayeva/Russland); Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 28883/95, § 111 (McKerr/Vereinigtes Königreich). 29 Im Überblick zu den Anforderungen Esser, Strafverfahrensrecht, S. 105 f.; MeyerLadewig, NVwZ 2009, 1531, 1533; Paeffgen, in: SK-StPO, Art. 2 EMRK Rn. 37 f., Art. 3 EMRK Rn. 19; Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 43; ausführlich Mowbray, Internat. Comp. L. Quarterly, 51 (2002), 437 ff. Zu den unter Umständen vorzunehmenden Ermittlungsmaßnahmen siehe z. B. Satzger, in: SSW-StPO, Art. 2 EMRK Rn. 11.

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Kap. 4: Normatives Fundament

wegen unabhängig von einer Anzeigeerstattung erfolgen,30 und die Ermittlungspersonen müssen hierarchisch, institutionell sowie praktisch unabhängig sein von denjenigen, auf die sich die Ermittlungen beziehen.31 Die Ermittlungen müssen prompt begonnen und ohne unnötige Verzögerungen betrieben werden.32 Außerdem müssen sie der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Der Grad der öffentlichen Kontrolle könne angepasst an die Umstände des Einzelfalls variieren, in jedem Fall aber seien die Angehörigen des verstorbenen Opfers bzw. das Opfer selbst in einem Maße an dem Ermittlungsverfahren zu beteiligen, das ihnen erlaube, ihre legitimen Interessen durchzusetzen.33 Das setze in der Regel ihre ausreichende Unterrichtung über Ermittlungsergebnisse und den Zugang zu den maßgeblichen Verfahrensakten voraus,34 beinhalte aber keine ermittlungsbehördliche Pflicht, jedem Antrag von Opfern oder ihren Angehörigen auf Durchführung einer bestimmten Ermittlungsmaßnahme nachzukommen.35 Hervorzuheben ist weiterhin, dass der EGMR in den meisten Fällen eine staatliche Verpflichtung annimmt, strafrechtliche Ermittlungen durchzuführen, die geeignet sind zu bestimmen, ob die in Frage stehende Handlung gerechtfertigt war, und die zur Identifikation und unter Umständen zur Bestrafung der verantwortlichen Personen führen können. Die Durchführung eines zivil-, verwaltungs- oder disziplinarrechtlichen Verfahrens genügt nur in leichteren Fällen.36 Ob davon abweichend im Kontext der aus Art. 13 EMRK hergeleiteten Ermittlungspflicht stets zivilrechtliche Verfahren ausreichen, ist derzeit aufgrund einiger vager Ausführungen des EGMR unklar.37 Die Ermittlungspflicht aus Art. 13 EMRK 30 EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 210 (Isayeva/Russland); Urt. v. 14. 3. 2002, App. No. 46477/99, § 69 (Edwards/Vereinigtes Königreich). 31 EGMR, Urt. v. 25. 7. 2013, App. No. 32133/11, §§ 83 ff. (Kummer/Tschechien); Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, § 300 (Giuliani u. Gaggio/Italien); Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 211 (Isayeva/Russland); Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 28883/95, § 112 (McKerr/ Vereinigtes Königreich); Urt. v. 14. 3. 2001, App. No. 30054/96, §§ 95, 114 (Kelly u. a./Vereinigtes Königreich); Urt. v. 20. 5. 1999, App. No. 21594/93, §§ 91 f. (Og˘ ur/Türkei). 32 EGMR, Urt. v. 6. 11. 2008, App. No. 33185/04, § 95 (Magamadova/Russland); Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 213 (Isayeva/Russland). 33 EGMR, Urt. v. 28. 2. 2012, App. No. 31682/07, § 141 (Khamzatov u. a./Russland); Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 214 (Isayeva/Russland); Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 28883/ 95, §§ 115, 148 (McKerr/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 24746/94, § 109 (Jordan/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 14. 3. 2001, App. No. 30054/96, § 98 (Kelly u. a./ Vereinigtes Königreich). Zu Art. 13 EMRK: EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002, App. No. 38719/97, § 135 (D.P. u. J. C./Vereinigtes Königreich). 34 Z. B. EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 28883/95, § 148 (McKerr/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 20. 5. 1999, App. No. 21594/93, § 92 (Og˘ ur/Türkei). So Esser, Strafverfahrensrecht, S. 106. 35 EGMR, Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, § 304 (Giuliani u. Gaggio/Italien). 36 EGMR, Urt. v. 17. 1. 2002 (GK), App. No. 32967/96, § 51 (Calvelli u. Ciglio/Italien); Urt. v. 24. 10. 2002, App. N. 37703/97, § 90 (Mastromatteo/Italien); siehe auch zum Kontext fahrlässiger Tötungen im medizinischen Sektor Chevalier-Watts, Europ. J. Internat. L. 21 (2010), 702, 709. 37 In diese Richtung deutet z. B. EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 37715/97, §§ 137 f. (Shanaghan/Vereinigtes Königreich). Darin führt der EGMR aus, dass die frühere Annahme

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wird jedoch nur bei den hier ausgeklammerten Sachverhalten relevant, in denen der Staat an der primären Konventionsverletzung beteiligt war. Die aus der prozessualen Dimension der materiellen Konventionsgarantien abgeleitete Ermittlungspflicht ist demgegenüber in der Regel auf Strafverfolgung gerichtet. Deshalb tangiert diese Unklarheit in der Rechtsprechung die hier angestellten Überlegungen nicht. Eine absolute staatliche Bestrafungspflicht normiert der Gerichtshof schließlich auch im Kontext der aus den materiellen Garantien abgeleiteten Verfolgungspflicht nicht, sondern betont, dass es sich um eine Handlungs- und nicht um eine Erfolgspflicht handele.38 2. Konsequenzen der EGMR-Rechtsprechung für die Ansprüche von Straftatopfern Erörterungsbedürftig ist, ob sich auf Grundlage der EGMR-Judikatur zur staatlichen Strafverfolgungspflicht aus der EMRK ein Anspruch des Opfers gegen den Staat auf Unrechtfeststellung ableiten lässt. Ein solcher Anspruch könnte auch den staatlichen Einsatz für die Errichtung eines additiven Betroffenenforums rechtfertigen. einer aus Art. 13 EMRK resultierenden Verpflichtung zur Durchführung eines Strafverfahrens den Besonderheiten des türkischen Rechtssystems geschuldet gewesen sei. Denn dort sei die staatsanwaltschaftliche Ermittlung auch für den Versuch, zivilrechtliche Verfahren anzustrengen, essentiell gewesen. Im nordirländischen Rechtssystem hingegen sei das Zivilverfahren vollständig unabhängig von einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und könne ausreichend Ersatz verschaffen. Dies sei bei der Anwendung von Art. 13 EMRK zu berücksichtigen. Die staatliche Verpflichtung, die Umstände des Todesfalls aufzuklären, sei ausreichend von der prozessualen Komponente des Art. 2 EMRK erfasst. Dies erweckt den Eindruck, dass Art. 13 EMRK keinen Anspruch auf strafrechtliche Ermittlungen und Verfolgungen per se vermittelt, sondern ein solcher nur aus Art. 2 EMRK folgt. Krit. zu dieser Rspr. als widersprüchlich Altermann, Ermittlungspflichten, S. 88 f. Gegen eine einschränkende Interpretation der strafrechtlichen Ermittlungspflicht aufgrund dieser Rspr. Holz, Justizgewähranspruch, S. 103. 38 EGMR, Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, §§ 301 f., 306 (Giuliani u. Gaggio/Italien): „The investigation must also be effective in the sense that it is capable of leading to a determination of whether the force used was or was not justified in the circumstances and of identifying and – if appropriate – punishing those responsible. This is not an obligation of result, but of means. The authorities must take whatever reasonable steps they can to secure the evidence concerning the incident […]. Any deficiency in the investigation which undermines its ability to establish the cause of death or the person responsible will risk falling foul of this standard. In particular, the investigation’s conclusions must be based on thorough, objective and impartial analysis of all relevant elements. […] Nevertheless, the nature and degree of scrutiny which satisfy the minimum threshold of the investigation’s effectiveness depend on the circumstances of the particular case […] However, it cannot be inferred from the foregoing that Article 2 may entail the right to have third parties prosecuted or sentenced for a criminal offence […] or an absolute obligation for all prosecutions to result in conviction, or indeed in a particular sentence.“ Ähnlich EGMR, Urt. v. 1. 6. 2010, App. No. 22978/05, §§ 116 f. (Gäfgen/ Deutschland); Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 212 (Isayeva/Russland); Urt. v. 14. 3. 2002, App. No. 46477/99, §§ 69 ff. (Edwards/Vereinigtes Königreich).

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Der EGMR hat die staatliche Ermittlungs- und Strafverfolgungspflicht aus der Schutzpflichtdimension der materiellen Konventionsgarantien hergeleitet und damit subjektiviert.39 Denn der EGMR unterstellt, dass das Unterbleiben eines effektiven Strafverfahrens die in Artt. 2, 3 und 8 EMRK verbürgten Rechte des Opfers verletze. Dies impliziert, dass das Opfer über ein subjektives Recht auf Durchführung eines Strafverfahrens und auf Zugang zu diesem verfügt.40 Dementsprechend ist aus der Rechtsprechung des EGMR gefolgert worden, dass sich aus den materiellen Konventionsgarantien ein subjektives Recht des individuellen Opfers bzw. seiner Angehörigen auf eine effektive Strafverfolgung Dritter ergebe.41 Da der EGMR zudem davon ausgeht, dass die Ermittlungen grundsätzlich geeignet sein müssen, die Bestrafung des Verantwortlichen sicherzustellen,42 könnte man daraus weiter folgern, dass nicht nur ein Individualanspruch auf die Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen als solcher, sondern – innerhalb der Grenzen des tatsächlich und rechtlich Möglichen – auch auf die Bestrafung des Verantwortlichen besteht. Notwendige Bedingung einer Bestrafung des Verantwortlichen wiederum ist die Feststellung, dass ein als strafrechtlich relevant definiertes Unrecht verwirklicht worden ist. Damit würden die materiellen Konventionsgarantien über ihre Schutzpflichtdimension nach der Rechtsprechung des EGMR auch einen Anspruch des Straftatopfers auf öffentliche Unrechtfeststellung verbürgen. Eine grundrechtlich verbürgter Anspruch des Opfers auf Unrechtfeststellung seinerseits könnte die nötige Begründung liefern für den staatlichen Einsatz zur Errichtung eines additiven Betroffenenforums, das die Unrechtfeststellungspflicht erfüllen könnte. Dafür müsste allerdings weitergehend auch gezeigt werden können, dass der Staat mit der Errichtung eines additiven Betroffenenforums seinen gegenüber Opfern bestehenden grundrechtlichen Verpflichtungen vollständig nachkommen könnte. Denn wenn aus den EMRK-Garantien tatsächlich ein subjektiver Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung und ein – unter einen Vorbehalt des Möglichen gestellter – Anspruch auf Sanktionierung des Verantwortlichen folgte, wäre dieser Anspruch nicht allein mit der in einem additiven Betroffenenforum möglichen Feststellung des rechtswidrigen Unrechts zu erfüllen. Vielmehr würde der Staat weitergehend dem individuellen Opfer auch die Verhängung eines Tadels und eines Sanktionsübels gegen die Verantwortlichen schulden. Das könnte ein Alter39 Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 82, 90; Holz, Justizgewähranspruch, S. 100; Gärditz, JZ 2015, 896, 899. 40 Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 82, 90. 41 FRA, Victims of crime in the EU, S. 27; Holz, Justizgewähranspruch, S. 100; Kuhn, ZRP 2005, 125, 127; Meyer-Ladewig/Huber, in: NK-EMRK, Art. 2 Rn. 26, 28; Novokmet, Utrecht L. Rev. 12 (2016), 86, 87; Robbers, in: Lüderssen, Kriminalpolitik, S. 147, 150 f.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 316, 801 (jedenfalls für Art. 2, ambivalent bzgl. Art. 8 EMRK); Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 53 f. Zur parallelen BVerfGK-Rechtsprechung Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 6. Zumindest für prozessuale Beteiligungsrechte des Opfers am Strafverfahren auf Grundlage dieser Rspr. votiert Esser, Strafverfahrensrecht, S. 106. 42 An dieser grundsätzlichen Anforderung ändert auch die Einschränkung durch den EGMR nichts, dass die Bestrafung unter einen Möglichkeitsvorbehalt gestellt wird, siehe Kap. 4 A I 1.

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nativsystem wie das additive Betroffenenforum konzeptionell nicht leisten, sondern diese Ansprüche könnten nur in einem Strafverfahren befriedigt werden.43 3. Würdigung der Unrechtfeststellung als Inhalt einer Schutzpflicht aufgrund von Menschenrechtsverletzungen a) Dogmatische Einwände gegen die Begründung des EGMR Fragwürdig ist aber, ob die These, Artt. 2, 3 oder 8 EMRK i.V.m. Art. 1 EMRK vermittelten dem Straftatopfer bzw. seinen Angehörigen auf Grundlage einer menschenrechtlichen Schutzverpflichtung des Staates einen grundrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung, überhaupt dogmatisch haltbar ist. Der EGMR argumentiert in diesem Zusammenhang folgendermaßen: Gemäß der Schutzpflichtdimension der Konventionsgarantien seien die Konventionsstaaten verpflichtet, die darin verbürgten Garantien – im Kontext von Art. 2 EMRK z. B. das Leben – wirksam zu schützen.44 Zu diesem Zweck müssten Strafnormen – im Kontext von Art. 2 EMRK z. B. § 212 StGB – aufgestellt werden. Der durch die Strafnormen vermittelte Schutz wiederum könne nur dann praktisch wirksam werden, wenn ungeklärte Verletzungen der in den Konventionsgarantien verbürgten Rechtsgüter – im Kontext von Art. 2 EMRK das Leben – offiziell und effektiv verfolgt würden. Insofern diene die strafrechtliche Ermittlungspflicht dazu, die wirksame Durchsetzung der nationalen, das jeweilige Konventionsrecht schützenden Normen sicherzustellen. In Fällen, in denen Repräsentanten des Staates in die 43 In der Konsequenz müsste die Konzeption des Strafprozesses als bipolares, im öffentlichen Interesse durchgeführtes Verfahren modifiziert und durch ein zumindest in Bezug auf die begründende Basis teilprivatisiertes, der Erfüllung privater Opferinteressen dienendes Verfahren ersetzt werden. 44 Statt vieler siehe EGMR, Urt. v. 27. 9. 1995 (GK), App. No. 18984/91, § 161 (McCann u. a./Vereinigtes Königreich): „The Court confines itself to noting, like the Commission, that a general legal prohibition of arbitrary killing by the agents of the State would be ineffective, in practice, if there existed no procedure for reviewing the lawfulness of the use of lethal force by State authorities. The obligation to protect the right to life under this provision (art. 2), read in conjunction with the State’s general duty under Article 1 (art. 2+1) of the Convention to ,secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in [the] Convention‘, requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force by, inter alios, agents of the State.“ EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 37715/97, § 88 (Shanaghan/Vereinigtes Königreich): „The obligation to protect the right to life under Article 2 of the Convention, read in conjunction with the State’s general duty under Article 1 of the Convention to ,secure to everyone within [its] jurisdiction the rights and freedoms defined in [the] Convention‘, also requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force […]. The essential purpose of such investigation is to secure the effective implementation of the domestic laws which protect the right to life and, in those cases involving State agents or bodies, to ensure their accountability for deaths occurring under their responsibility.“ Ebenso EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 210 (Isayeva/ Russland).

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Konventionsverletzung involviert seien, solle die Ermittlungspflicht ihre Haftung gewährleisten. Parallel verläuft die Begründung auch im Kontext der anderen Konventionsgarantien, aus denen eine Ermittlungspflicht abgeleitet wird, z. B. bei Artt. 3, 1 EMRK.45 Die Standardformel hier lautet, dass der Staat verpflichtet sei, Vorfälle von Folter und erniedrigender Behandlung zu untersuchen, weil andernfalls die rechtlichen Verbote von Folter und erniedrigender Behandlung trotz ihrer fundamentalen Bedeutung in der Praxis ineffektiv wären und es staatlichen Repräsentanten möglich wäre, diese Rechte ohne Konsequenzen zu verletzen. Damit wird die staatliche Ermittlungs- und Verfolgungspflicht konstruiert als Ergänzung der staatlichen Pflicht, zum Schutz bestimmter Konventionsgarantien ein System materiellen Strafrechts und einen effizienten Polizeiapparat zu errichten. Dieser Argumentation ist zunächst insofern zuzustimmen, dass nach einhelliger Auffassung die Konventionsgarantien nicht nur im Sinne einer abwehrrechtlichen Dimension vor staatlichen Eingriffen in die Freiheitssphäre des Einzelnen schützen, sondern auch positive Gewährleistungspflichten, zu deren Erfüllung der Staat aktiv handeln muss, begründen können.46 Zu diesen Gewährleistungspflichten zählt auch die staatliche Schutzpflicht, Angriffe privater Dritter auf Rechtspositionen anderer abzuwehren.47 Das Bestehen der Schutzpflicht einem konkreten Grundrechtsberechtigten gegenüber setzt jedoch voraus, dass das Unterlassen der verlangten staatlichen Handlung den Grundrechtsberechtigten in einer Rechtsposition berührt, die in den Schutzbereich einer EMRK-Garantie fällt.48 An dieser Voraussetzung scheitert die Konstruktion eines individuellen Strafverfolgungsanspruchs als Konsequenz der konventionsrechtlichen Schutzpflicht. Das Unterlassen der Strafverfolgung nach einem erfolgten Angriff eines Privaten auf eine konventionsrechtlich garantierte Rechtsposition kann das konkrete Opfer der begangenen Tat nicht mehr in seiner durch den konkreten Angriff betroffenen Rechtsposition berühren. Denn die konkrete Gefahr für das Rechtsgut, die noch unmittelbar vor Begehung des Angriffs und währenddessen bestand, ist durch die Vornahme der Straftat überholt, die Gefahr hat sich im Schaden realisiert.49 Damit erlischt mangels Gefährdung auch die 45

Statt vieler siehe EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57942/00 und 57945/00, § 177 (Khashiyev und Akayeva/Russland): „[Art. 3 i.V.m. Art. 1 EMRK] requires by implication that there should be an effective official investigation. […] Otherwise, the general legal prohibition of torture and inhuman and degrading treatment and punishment would, despite its fundamental importance, be ineffective in practice and it would be possible in some cases for agents of the State to abuse the rights of those within their control with virtual impunity […].“ Ebenso EGMR, Urt. v. 6. 4. 2000, App. No. 26772/95, § 131 (Labita/Italien). 46 Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 1 Rn. 11 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rn. 1 ff.; Kreicker, in: Sieber et al., EuStrR, § 51 Rn. 11. Zur Auffassung des EGMR siehe die Nachweise oben Kap. 4 A I 1. 47 Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 63 f., 80; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rn. 3. 48 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rn. 5. Vgl. auch Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 80, 104; a.A. wohl Holz, Justizgewähranspruch, S. 100. 49 Vgl. Holz, Justizgewähranspruch, S. 104.

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staatliche Pflicht, gerade diese konventionsrechtlich abgesicherte Rechtsposition dieses konkreten Grundrechtsträgers vor dem konkreten Angriff zu schützen.50 Zum Zeitpunkt der Strafverfolgung der konkreten Tat mangelt es damit regelmäßig an einer spezifischen, auf das konkrete Opfer bezogenen Schutzpflicht. Zudem ist die dem Angriff nachgelagerte Strafverfolgung keine geeignete Maßnahme, um das individuelle Konventionsrecht des Grundrechtsträgers, dessen Rechtsverletzung den Gegenstand der strafrechtlichen Untersuchung bildet, vor der von der Straftat ausgehenden Gefahr zu schützen.51 Denn auch die effizienteste Strafverfolgung ist untauglich, die konkret eingetretene irreversible Realverletzung zu verhindern oder ex tunc zu beseitigen.52 Evident wird dies im Fall von vollendeten Tötungsdelikten. Die Strafverfolgung der Tötungshandlung kann das unwiederbringlich verlorene Recht auf Leben des getöteten Opfers weder schützen noch zurückbringen; das verstorbene Opfer partizipiert nicht mehr an einem vom Strafrecht vermittelten Lebensschutz.53 Logisch kann die Strafverfolgung damit keine Konkretisierung einer gegenüber dem tatsächlichen Opfer bestehenden Schutzpflicht aufgrund der begangenen Tat darstellen. Damit kann aus der Schutzpflichtdimension der Konven50 Ebenso krit. zu der parallelen Begründung der BVerfGK Hörnle, Straftheorien, S. 42; dies., JZ 2015, 893, 894. Zu der Voraussetzung einer Gefährdungslage für das Bestehen einer Schutzpflicht siehe Robbers, Sicherheit, S. 124 f.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 171; zum nationalen Recht Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, § 8 Rn. 13; Epping, Grundrechte, Rn. 123 f. A.A. Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 662, siehe Kap. 4 A II 1. 51 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rn. 12. Vgl. im Kontext des Grundgesetzes auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 84 f.; Sachs, JuS 2015, 876, 877. – A.A. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 151 f., der davon ausgeht, dass ein Strafverfahren nicht nur dem Schutz potentieller zukünftiger Opfer vergleichbarer Straftaten diene, sondern auch dem Schutz des konkret Verletzten. Grund sei der „unlösbare[n] Zusammenhang zwischen den präventiven und repressiven Wirkungen des Strafrechts“, S. 151. Da der präventive Schutz, der durch das Aufstellen der Strafnorm geschaffen würde, in seiner Wirksamkeit von ihrer repressiven Anwendung abhänge, sei das konkrete Strafverfahren eine Fortsetzung des durch die Strafnorm vermittelten präventiven Schutzes und in der Folge seien Strafdrohung und Strafverfahren Ausfluss der gleichen grundrechtlichen Schutzpflicht. Auch die repressive Strafverfolgung sei deswegen Ausdruck einer dem konkreten Opfer gegenüber bestehenden Schutzpflicht. Zust. Sturm, GA 2017, 398, 409. Möstls Argumentation, dass die repressive Ahnung von Verstößen gegen Strafnormen notwendig ist, um die allgemeine Befolgung von Strafnormen sicherzustellen und so den durch ihre Existenz vermittelten präventiven Schutz zu gewährleisten, ist zuzustimmen. Diese Argumentation vermag jedoch nur eine staatliche Verpflichtung zur grds. effektiven Strafverfolgung gegenüber der Allgemeinheit zu begründen, an der der konkret Verletzte in seiner Eigenschaft als gleichermaßen potentiell zukünftig von einem Übergriff Betroffener partizipiert. Die Argumentation begründet jedoch nicht, warum die grundrechtliche Schutzpflicht gegenüber dem konkret Verletzten über den Zeitpunkt der Schutzgutsverletzung hinaus fortbestehen soll. Krit. auch Holz, Justizgewähranspruch, S. 107 f.; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 84 f. 52 Ebenso Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 85; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rn. 12. – Anderes mag gelten in Bezug auf den durch die Straftat ausgelösten sozialen Idealkonflikt, der durch die Normrehabilitation geheilt werden mag. Eingetretene Realschäden werden durch die Strafverfolgung unstreitig nicht beseitigt, vgl. Gärditz, JZ 2015, 896, 898. 53 Ebenso Gärditz, JZ 2015, 896, 898.

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Kap. 4: Normatives Fundament

tionsgarantien auch kein subjektives Recht des konkreten Opfers auf Strafverfolgung abgeleitet werden.54 Das gilt in gleicher Weise für einen etwaigen Anspruch des Opfers auf reine Feststellung des ihm widerfahrenen Unrechts, wie sie nach der hier entwickelten Konzeption im additiven Betroffenenforum erfolgen sollte. Denn auch diese nachträgliche Unrechtfeststellung würde das Opfer nicht mehr vor den von dem Angriff auf seine Rechtsposition ausgegangenen Gefahren schützen oder die Tat ungeschehen machen. In der Konsequenz kann auch kein Anspruch auf Unrechtfeststellung aus einer Schutzpflicht wegen der Gefahr, die von der begangenen Tat ausging, resultieren. Auch wenn die Strafverfolgung im Einzelfall somit nicht als Konkretisierung einer Schutzpflicht gegenüber dem konkreten Grundrechtsträger in Bezug auf die Verletzung, die durch die begangene Tat verursacht wurde, qualifiziert werden kann, ist die Argumentation des EGMR nicht vollständig zu verwerfen. Denn die Strafverfolgung der konkreten Tat kann eine Schutzfunktion in anderer Dimension erfüllen, nämlich in Bezug auf die Gefahr, die von der potentiellen Begehung künftiger Straftaten ausgeht. Insofern ist die Argumentation des EGMR plausibel, dass Strafnormen ihre (erhoffte) kriminalpräventive Wirkung auf lange Sicht nur dann effektiv entfalten, wenn bei dem Verdacht eines Verstoßes gegen eine Strafnorm zumindest grds. eine wirksame Verfolgung und ggf. Bestrafung erfolgen.55 Insoweit wie die strafrechtliche Verfolgung einer Konventionsverletzung zur Prävention künftiger, gegen das in der Konventionsgarantie verbürgte Rechtsgut gerichteter Straftaten beiträgt, erfüllt die Strafverfolgung damit eine staatliche Schutzpflicht zugunsten der jeweiligen Konventionsgarantie. Mit einem konkreten Beispiel unterfüttert, bedeutet dies: Insoweit wie die strafrechtliche Verfolgung eines konkreten Totschlags i.S.d. § 212 Abs. 1 StGB zur Prävention potentieller künftiger Totschläge i.S.d. § 212 Abs. 1 StGB beiträgt, erfüllt die strafrechtliche Verfolgung des einzelnen Delikts eine staatliche Schutzpflicht zugunsten des in Art. 2 EMRK geschützten Lebens. Unterließe der Staat die Schutzmaßnahme „Strafverfolgung im Einzelfall“, wären von diesem Unterlassen mittelbar all diejenigen Grundrechtsberechtigten betroffen, die möglicherweise in der Zukunft von den (dann nicht verhinderten) Straftaten in ihrer in der Konvention verbürgten Rechtsposition potentiell verletzt würden. Damit betrifft die Strafverfolgung im Einzelfall als Schutzmaßnahme bzw. 54

Ebenso Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 85. Ebenso im Kontext des Grundgesetzes Robbers, Sicherheit, S. 125; Sachs, JuS 2015, 876, 877. 55 Bekanntermaßen ist die präventive Wirkung von Strafe umstritten und die empirische Evidenzlage ambivalent. Allerdings weisen Studien daraufhin, dass insbesondere die Wahrscheinlichkeit der Verfolgung (im Gegensatz zur reinen Existenz einer Strafnorm und zur Strafhöhe) durchaus abschreckende und damit präventive Wirkung erzielt, vgl. von Hirsch et al., Criminal Deterrence, S. 47; Nagin, Crime and Justice: A Review of Research 23 (2003), 1, 36. Auch die positiv-generalpräventive Wirkung von Strafe ist zwar nicht empirisch belegbar, aber zumindest plausibel. Insofern ist die vom EGMR vorgenommene Argumentation nicht schon aus diesem Grund zurückzuweisen. – Vgl. auch BVerfG NStZ 2002, 606, 607; Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 85.

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ihr Unterlassen alle potentiellen Opfer; die Schutzpflicht besteht somit primär gegenüber der Allgemeinheit.56 Da das konkrete Opfer der verfolgten Tat in Bezug auf mögliche zukünftige Taten im Regelfall – zum Ausnahmefall sogleich – nicht mehr gefährdet ist als andere Personen,57 wird es von dieser Schutzmaßnahme zwar ebenfalls berührt, allerdings lediglich als Teil der Allgemeinheit. Das Interesse an der Strafverfolgung als staatlicher Schutzmaßnahme für die in Frage stehende Konventionsgarantie ist also ein Allgemeininteresse und kein Individualinteresse.58 Ein Allgemeininteresse vermag jedoch erstens keinen subjektiven Anspruch eines Einzelnen auf Vornahme einer Schutzmaßnahme zu vermitteln.59 Sähe man dies anders, so wäre daraus zudem die Konsequenz zu ziehen, dass jedermann (und nicht nur das konkrete Opfer der verfolgten Tat) einen individuellen Anspruch auf Strafverfolgung hätte.60 Zweitens ist die der Allgemeinheit gegenüber bestehende staatliche Schutzpflicht schon ihrem Inhalt nach nicht auf die Verfolgung jeder einzelnen Tat gerichtet. Die Strafverfolgungspflicht soll die Wirksamkeit von Strafnormen sicherstellen. Um die Wirksamkeit von Strafnormen zu gewährleisten, genügt jedoch die grundsätzliche Verfolgung von Verstößen. Nicht zwingend erforderlich und unter Umständen auch nicht wünschenswert ist hingegen die ausnahmslose Verfolgung jeder einzelnen Tat. Eine absolute Verfolgungsverpflichtung würde zudem potentiell Konflikte mit Konventionsrechten anderer Grundrechtsträger auslösen, die einer Verfolgung entgegen stehen könnten.61 Dies gilt zum Beispiel, wenn für eine Strafverfolgung Informationen über einen Zeugen unter Gefährdung dessen Leben entgegen Art. 2 EMRK offengelegt werden müssten. Eine Verletzung der gegenüber der Allgemeinheit bestehenden, auf die Gewährleistung der Befolgung von Strafnormen gerichteten Schutzpflicht läge damit erst dann vor, wenn durch ein flächendeckendes Vollzugsdefizit die Einhaltung von Strafnormen insgesamt nicht mehr gewährleistet wäre und ein rechtloser Zustand eintreten würde.62 Diese 56 Ebenso Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rn. 12; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 84. A.A. Prittwitz, in: Polizei-Führungsakademie Münster, Materielles und formelles Strafrecht als Mittel zur Gewährleistung des inneren Friedens, S. 241, 256, der die Tauglichkeit von Strafverfolgung zum Schutz der Allgemeinheit ebenso wie zum Schutz des konkreten Opfers anzweifelt. 57 Ebenso Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 85. Das gilt freilich nur, wenn das Opfer nicht gestorben ist. 58 Ebenso Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 85; Göhler, N. J. Europ. Crim. L. 6 (2015), 102, 114. Im nationalen Kontext Schmidt-Jortzig, in: FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 505, 511. 59 Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 104; Göhler, N. J. Europ. Crim. L. 6 (2015), 102, 114. A.A. Holz, Justizgewähranspruch, S. 100, mit dem Argument, die Schutzpflichtdimension in der EMRK sei vollständig subjektiviert. 60 Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 86; Gärditz, JZ 2015, 896, 897. 61 So krit. Leverick, Internat. Rev. Victimology 11 (2004), 177, 191 f. 62 Holz, Justizgewähranspruch, S. 98 mwN. Vgl. auch Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 660 (nur Pflicht zur Gewährleistung eines bestimmten Schutzniveaus; allerdings im nationalen Kontext).

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Überlegungen zeigen, dass die aus den Konventionsgarantien resultierende Pflicht, künftige Straftaten durch die Verfolgung begangener Straftaten zu verhindern, dem konkreten Opfer einer bereits begangenen Tat grds. keinen individuellen Anspruch auf Strafverfolgung im Einzelfall vermittelt.63 In Bezug auf eine gesonderte Unrechtanerkennung gegenüber dem Opfer in einem additiven Betroffenenforum gilt Vergleichbares. Zwar könnte eine derartige gesellschaftliche Unterstützung des Opfers ebenso wie die Strafverfolgung kriminalpräventive Wirkung entfalten und so ähnlich einem Strafverfolgungssystem zum Schutz der Allgemeinheit vor weiterer Kriminalität beitragen.64 Unter diesem kriminalpräventiven Aspekt stünde die Errichtung des Forums jedoch wie die Strafverfolgung primär im Allgemeininteresse und wäre zudem nur eine unter mehreren Möglichkeiten des Staates, seiner Pflicht zum Schutz der Konventionsgarantien durch die Ergreifung kriminalpräventiver Maßnahmen nachzukommen. Die Auswahl der Mittel zur Erfüllung von grundrechtlichen Schutzpflichten steht jedoch im staatlichen Ermessen.65 Ein subjektiver Anspruch von Straftatopfern auf Unrechtfeststellung und Unterstützung gerade im Rahmen eines additiven Betroffenenforums lässt sich aus der Schutzpflicht folglich nicht ableiten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Rechtslage in einem Ausnahmeszenario anders zu beurteilen sein und die staatliche Strafverfolgung zumindest im Einzelfall als Konkretisierung einer grundrechtlichen Schutzpflicht gegenüber dem konkret betroffenen Opfer konstruiert werden könnte. Dies könnte dann der Fall sein, wenn das konkrete Opfer ausnahmsweise nicht nur der allgemein-generellen Gefahr möglicher zukünftiger Straftaten ausgesetzt ist, sondern eine konkrete Gefahr besteht, dass derselbe Grundrechtsträger fortwährend von demselben Dritten in vergleichbarer Weise angegriffen und viktimisiert wird und nur die strafrechtliche Sanktionierung den Dritten bremsen könnte.66 Praktisch vorstellbar sind solche 63

Ebenso Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 86 f.; Göhler, N. J. Europ. Crim. L. 6 (2015), 102, 114; wohl auch Lagodny, in: Renzikowski, Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht, S. 83 ff. Ein subjektives Recht jedenfalls ablehnend auch Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 3 Rn. 33. Ebenso parallel zum Grundgesetz Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 84 f.; Schmidt-Jortzig, in: FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 505, 511 Fn. 21. – A.A. Holz, Justizgewähranspruch, S. 100, im Kontext der EMRK, zust. allerdings im nationalen Kontext, S. 98. 64 Insofern ist zu erwarten, dass die Unterstützung konkreter Opfer die Wahrscheinlichkeit ihrer wiederholten Viktimisierung sowie die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst in der Zukunft zum Täter werden, senkt, vgl. Kap. 5 C. – Noch einmal: der Vorschlag zum additiven Betroffenenforum sieht keine Abschaffung des Strafjustizsystems vor, sondern würde dieses ergänzen. 65 Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 80; Esser, in: LRStPO, Art. 1 EMRK Rn. 50; Holz, Justizgewähranspruch, S. 106. Zum deutschen Recht Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 660; Epping, Grundrechte, Rn. 127 ff.; Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, § 5 Rn. 6, § 8 Rn. 13; Kingreen/Poscher, Grundrechte, § 4 Rn. 142. 66 Hörnle, JZ 2015, 893, 895 erwägt als weiteren Anwendungsfall den hypothetischen Sachverhalt, dass sich das Opfer derart über die unterlassene Strafverfolgung aufrege, dass es deshalb körperlichen Schaden – etwa in Form eines Herzinfarktes – zu nehmen drohe. Sie lehnt

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Sachverhalte zum Beispiel in Fällen perpetuierter häuslicher Gewalt. In diesem Szenario könnte die repressive Reaktion auf die vergangene Straftat mittels negativspezialpräventiver Effekte gerade dem Schutz der konventionsrechtlich verbürgten Rechtsposition des konkreten Opfers dienen. Dabei wäre unschädlich, dass die Strafverfolgung in einer solchen Situation zusätzlich auch Zwecke der positiven und negativen Generalprävention zu erreichen suchen würde, die sich nicht auf das konkrete Opfer in spezifischer Weise, sondern auf die Allgemeinheit bezögen.67 Denn dies würde nichts daran ändern, dass die Verfolgung zumindest auch gerade dem Schutz des konkret Gefährdeten vor einer konkret auf ihn bezogenen zukünftigen Gefahr dienen würde. Als Konsequenz ist unter diesen Voraussetzungen angenommen worden, dass die Strafverfolgung die Schutzpflicht gegenüber dem individuellen Opfer konkretisiere und damit korrespondierend ein verfassungsrechtlicher Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung bestünde.68 Auch diese Begründung eines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Strafverfolgung im Einzelfall hat allerdings Schwächen. Zum einen mag man wie Prittwitz die Tauglichkeit des Strafrechtseinsatzes bezweifeln, in solchen Fällen überhaupt die objektive Sicherheit für das konkret betroffene Opfer zu steigern.69 So erscheint es plausibel, dass der Strafrechtseinsatz in derlei Fällen den Täter reizen kann und so die Gefahr für das konkrete Opfer sogar erhöht, anstatt sie zu verringern. Zweitens vermitteln Schutzpflichten stets nur die Garantie eines bestimmten Schutzniveaus. Wie der Staat dieses Schutzniveau erreicht, steht in seinem Ermessen.70 Anstatt den Täter zum Schutz des konkreten Opfers vor einer wiederholten Viktimisierung strafrechtlich zu verfolgen, könnte der Staat sich – unter der Prämisse, dass dies ebenfalls einer sachgerechten Ermessensausübung entspräche – z. B. auch für die Einrichtung von Polizeischutz für den konkret Gefährdeten entscheiden.71 Zugleich reicht ein

dies als Anwendungsfall jedoch richtigerweise selbst ab, da nicht die individuelle Fragilität des Betroffenen für die Anspruchsentstehung ausschlaggebend sein sollte. 67 Diesen Aspekt scheint Holz, Justizgewähranspruch, S. 105 zu übersehen, wenn er davon ausgeht, dass die Strafverfolgung in derlei Fällen nur noch dem Schutz des realen Opfers diene. 68 So Dietlein, Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 218 („verfassungsunmittelbarer Gesetzesvollzugsanspruch“); zust. Sturm, GA 2017, 398, 408. Den verfassungsrechtlichen Anspruch unter dieser Bedingung zumindest einschränkend bejahend Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 85 f. Einschränkend auch Holz, Justizgewähranspruch, S. 105 f. (die Schutzpflicht sei gesetzesmediatisiert, der Anspruch auf Strafverfolgung ergäbe sich also nicht unmittelbar aus der Verfassung). In diese Richtung auch BVerfG, Beschl. v. 4. 2. 2010, 2 BvR 2307/06, Rn. 19 (ausführlich sogleich). 69 Prittwitz, in: Polizei-Führungsakademie Münster, Materielles und formelles Strafrecht als Mittel zur Gewährleistung des inneren Friedens, S. 241, 251 f., 255. Grds. zust. Holz, Justizgewähranspruch, S. 105 Fn. 272. 70 Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 80; Esser, in: LRStPO, Art. 1 EMRK Rn. 50; Holz, Justizgewähranspruch, S. 106. Zum deutschen Recht Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 660; Epping, Grundrechte, Rn. 127 ff.; Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, § 5 Rn. 6, § 8 Rn. 13; Kingreen/Poscher, Grundrechte, § 4 Rn. 142. 71 Ebenso Holz, Justizgewähranspruch, S. 106.

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subjektives Recht seinem Inhalt nach nicht weiter als die objektive Staatsaufgabe.72 Dies hat zur Konsequenz, dass allenfalls ein Anspruch des Opfers auf sachgerechte Ermessensausübung bestünde, nicht aber auf die Vornahme einer bestimmten Schutzmaßnahme, etwa in Form der Inhaftierung des Gefährders anstatt des Polizeischutzes des Gefährdeten. Dass aufgrund einer Ermessensreduzierung tatsächlich einmal ein (Schutz-)Recht auf Strafverfolgung bestehen sollte, dürfte angesichts vieler möglicher effektiver Schutzmittel selten sein.73 Begrenzt der EGMR den Handlungsspielraum der Konventionsstaaten in diesem Kontext dennoch auf das Mittel der Strafverfolgung, ist des Weiteren inkonsequent, dass er nur eine Pflicht zur effektiven Ermittlung, nicht aber eine Pflicht zur Bestrafung in Form sichernder Maßnahmen begründet. Denn wäre die Strafverfolgung im Einzelfall notwendig, um das konkrete Opfer vor zukünftigen Taten des Täters zu schützen, dürfte dies im Regelfall eine dauerhafte Sicherung des Täters – also seine Inhaftierung – erfordern. Konsequenterweise müsste der EGMR zumindest in diesen Fällen eine Erfolgspflicht bejahen. Während die Ablehnung der Erfolgspflicht unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten freilich überzeugt, ist sie aus theoretischer Perspektive unter Annahme einer auf Strafverfolgung gerichteten Schutzpflicht inkonsequent. Dieser Widerspruch verdeutlicht die rechtsstaatlich problematischen Folgen eines verfassungsrechtlich fundierten Anspruchs des Straftatopfers auf Strafverfolgung und die theoretisch unbefriedigenden Brüche in der den Anspruch befürwortenden Argumentation. Schließlich ist zu bemerken, dass die hier diskutierten Sachverhalte, in denen die Strafverfolgung tatsächlich notwendig wäre, um ein konkretes Opfer vor einer erneuten Viktimisierung durch den zu Täter zu schützen, praktisch die absolute Ausnahme bilden.74 Denn in den allermeisten Fällen steht das tatsächliche Opfer der Allgemeinheit gleich in Bezug auf die Gefahr, die von dem Täter ausgeht.75 Selbst wenn man in diesen Fällen entgegen den genannten Bedenken einen verfassungsrechtlichen Anspruch des konkreten Opfers auf Strafverfolgung anerkennen wollte, bestünde dieser Anspruch deshalb nur in wenigen Sachverhalten. Ein umfassender verfassungsrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung aller konkreten Opfer lässt sich auch mit dieser Argumentation nicht begründen. Für einen grundrechtlichen Anspruch des Opfers auf gesonderte Unrechtanerkennung und Unterstützung in einem additiven Betroffenenforum gilt wiederum Vergleichbares. Da die Unrechtfeststellung dort gerade nicht mit einer repressiven Reaktion gegenüber dem konkreten Täter verbunden sein soll, wäre sie in den 72

Isensee, in: HStR, Bd. IX, § 191 Rn. 322; vgl. auch Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 108. 73 Szczekalla, Schutzpflichten, S. 317. 74 Ebenso Dietlein, Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 218; Holz, Justizgewähranspruch, S. 105, 107; Hörnle, JZ 2015, 893, 894. 75 Dies gilt erst Recht, wenn wie in vielen Fällen vor dem EGMR und auch vor dem BVerfG Angehörige verstorbener Straftatopfer einen Anspruch auf Strafverfolgung geltend machen möchten, deren Gefährdungslage sich ganz überwiegend nicht von der Situation der Allgemeinheit unterscheiden dürfte.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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Sachverhalten, in denen eine konkrete Gefährdung des Opfers durch den Täter besteht, schon keine taugliche Schutzmaßnahme. Schutz bieten könnte das Forum allenfalls eingeschränkt durch Unterstützungsmaßnahmen, die das Opfer zum Selbstschutz vor einer wiederholten Viktimisierung durch den Täter befähigen könnten. Solche Unterstützungsmaßnahmen wären jedoch wiederum nur eine von möglichen Maßnahmen, die der Staat nach seinem Ermessen zur Ausfüllung der Schutzpflicht ergreifen könnte. Eine staatliche Pflicht zur Errichtung des additiven Betroffenenforums, das solche Maßnahmen anböte, und ein korrespondierender Anspruch lassen sich folglich auch in diesen Spezialfällen nicht aus der grundrechtlichen Schutzpflicht ableiten. Insgesamt überzeugt entgegen den stets identisch, aber lediglich vage begründeten Entscheidungen des EGMR76 die dogmatische Herleitung eines aus der prozessualen Dimension der materiellen Konventionsgarantien resultierenden verfassungsrechtlichen Strafverfolgungsanspruchs des konkreten Opfers nicht. Ebenso wenig könnte der staatliche Einsatz für die Errichtung eines additiven Betroffenenforums derart begründet werden. b) Schlussfolgerungen aus der Genese der Judikatur des EGMR zu staatlichen Ermittlungs- und Verfolgungspflichten Neben den erläuterten dogmatischen Unstimmigkeiten könnten auch die Genese der EGMR-Judikatur zu den Ermittlungs- und Strafverfolgungspflichten und eigene Äußerungen des Gerichtshofs dagegen sprechen, aus dieser Judikatur ein subjektives Recht des Straftatopfers auf Strafverfolgung oder sonstige Ansprüche von Straftatopfern gegen den Staat abzuleiten. Der Gerichtshof und die Literatur fordern, bei der Auslegung und Rezeption von EGMR-Judikatur ihren Entstehungs- und Entscheidungskontext zu berücksichtigen.77 Entsprechend hat der EGMR im Jahr 2001 in einem Verfahren gegen das Vereinigte Königreich darauf hingewiesen, dass er die Rechtsprechung zu staatlichen Strafverfolgungspflichten für Sachverhalte im besonderen Kontext des Konflikts zwischen der PKK und Sicherheitskräften in der Südost-Türkei entwickelt habe.78 Dieser Entstehungskontext sowie die Einzelheiten der Rechtsordnung, in der sich der verhandelte Sachverhalt abgespielt habe, seien bei der Auslegung der Judikatur zu berücksichtigen und könnten ihrer Übertragung auf andere Rechtssysteme bzw. Sachverhalte entgegen stehen. Entwickelt hat der EGMR die amtliche Ermittlungsund Strafverfolgungspflicht zuerst in Verfahren gegen die Türkei, in denen Operationen türkischer Sicherheitskräfte gegen die kurdische Minderheit und ungeklärte 76

Ebenso krit. zu der Begründungstiefe des EGMR Altermann, Ermittlungspflichten, S. 18, 82; Hörnle, JZ 2015, 893, 894; Weigend, RW 2010, 39, 47 f. 77 Gärditz, JZ 2015, 896, 898 f. 78 EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 37715/97, §§ 136 ff. (Shanaghan/Vereinigtes Königreich).

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Todesfälle in Polizeigewahrsam im Raum standen, sowie in Verfahren gegen das Vereinigte Königreich aufgrund von Vorfällen im Nordirlandkonflikt.79 In jüngerer Vergangenheit weiter ausdifferenziert hat er den Inhalt der Ermittlungspflicht vor allem in Verfahren gegen Russland wegen ungeklärter Gewaltanwendung und Verschwindens tschetschenischer Personen.80 Entstanden sind die Entscheidungen zur Ermittlungspflicht damit in spezifischen politischen Konfliktsituationen, in denen die systematische Unterlassung staatlicher Ermittlungstätigkeit und damit einhergehend der Übergriff von Rechtslosigkeit und staatlicher Willkür ernsthaft zu befürchten waren. In diesen Kontexten ging es primär um die generalpräventive Abwehr systematischer Verletzungen der objektiven staatlichen Pflicht, wirksame Strafverfolgung zu betreiben, und nicht um das Ziel, einen Individualanspruch auf Strafverfolgung zur Befriedigung privater Genugtuungsinteressen zu begründen.81 Vor diesem Hintergrund wird die subjektivierende Verknüpfung der objektiven Strafverfolgungspflicht mit den materiellen Konventionsgarantien durch den EGMR auch als „prozessualer Kunstgriff“ bezeichnet, der letztlich nur ermöglichen sollte, Fälle des Verschwindens und der Tötung in rechtsstaatswidrigen Kontexten überhaupt judizieren und so Rechtslosigkeit verhindern zu können. Ziel dieser Rechtsprechung war es damit gerade nicht, subjektive Ansprüche auf Strafverfolgung zu begründen.82 Zudem sprechen eigene Äußerungen des Gerichtshofs für die Deutung, Hintergrund der Bejahung der Ermittlungspflicht sei primär gewesen, das allgemein-öffentliche Vertrauen in die staatliche Strafverfolgung zu bewahren.

79 Bzgl. Verfahren gegen die Türkei siehe z. B. EGMR, Urt. v. 20. 5. 1999, App. No. 21594/ 93 (Og˘ ur/Türkei); Holz, Justizgewähranspruch, S. 101 Fn. 260 mwN. Bzgl. Verfahren gegen GB siehe EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 28883/95 (McKerr/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 30054/96 (Kelly u. a./Vereinigtes Königreich). Zur Entwicklung insgesamt Dearing, in: ders. /Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 82 f.; MeyerLadewig, NVwZ 2009, 1531, 1532. 80 Siehe z. B. EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00 (Isayeva/Russland); zur Entwicklung der Rechtsprechung in den Tschetschenen-Fällen Meyer-Ladewig, NVwZ 2009, 1531, 1533. 81 Gärditz, JZ 2015, 896, 899. Dafür, dass es um generalpräventive Zwecke geht, i.E. wohl ebenso Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rn. 12 ff.; Lagodny, in: Renzikowski, Die EMRK im Privat- Straf- und Öffentlichen Recht, S. 83, 88 f.; Mowbray, Internat. Comp. L. Quarterly 51 (2002), 437, 444; Paeffgen, in: SK-StPO, Art. 2 EMRK Rn. 38; Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 33; implizit Tulkens, J. Internat. Crim. Just. 9 (2011), 577, 585 ff.; Weigend, RW 2010, 39, 48. A.A. Robbers, in: Lüderssen, Kriminalpolitik, S. 147, 151 (Begründung eines subjektiven Rechts auf Generalprävention). Ausführlich zu den Zielen der Ermittlungspflicht Altermann, Ermittlungspflichten, S. 113 ff. 82 Gärditz, JZ 2015, 896, 899. Zudem wird vorgebracht, der EGMR habe die Ermittlungspflicht aus der Not heraus wegen der ihm selbst kaum noch möglichen Aufklärung von Sachverhalten begründet, so krit. Meyer-Ladewig/Huber, in: NK-EMRK, Art. 2 Rn. 31; positiver Altermann, Ermittlungspflichten, S. 114 ff.; Schübel-Pfister, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 33.

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So argumentierte der EGMR z. B. in einem Verfahren gegen Russland aufgrund des Tschetschenen-Konflikts: „While there may be obstacles or difficulties which prevent progress in an investigation in a particular situation, a prompt response by the authorities in investigating a use of lethal force may generally be regarded as essential in maintaining public confidence in their adherence to the rule of law and in preventing any appearance of collusion in or tolerance of unlawful acts.“83 Im Jahr 2011 stellte der Gerichtshof in einem Verfahren gegen Italien fest: „However, it cannot be inferred from the foregoing that Article 2 may entail the right to have third parties prosecuted or sentenced for a criminal offence […] or an absolute obligation for all prosecutions to result in conviction, or indeed in a particular sentence […] On the other hand, the national courts should not under any circumstances be prepared to allow life-endangering offences to go unpunished. The Court’s task therefore consists in reviewing whether and to what extent the courts, in reaching their conclusion, may be deemed to have submitted the case to the careful scrutiny required by Article 2 of the Convention, so that the deterrent effect of the judicial system in place and the significance of the role it is required to play in preventing violations of the right to life are not undermined […].“84 In einem Verfahren, in dem die mangelnde Strafverfolgung einer Körperverletzung zwischen Privaten im Raum stand, bemerkte der Gerichtshof schließlich: „[T] he Court notes that the obligation on the State to bring to justice perpetrators of acts contrary to Article 3 of the Convention serves mainly to ensure that acts of illtreatment do not remain ignored by the relevant authorities […].“85 Diese Aussagen rücken die staatliche Verpflichtung zur Aufklärung der Umstände der Konventionsverletzung und ggf. zur Bestrafung der Verantwortlichen in einen Zusammenhang mit dem öffentlichen Interesse an einer Effektivierung des Schutzes der Konventionsgarantien und nicht mit dem privaten Interesse des Verletzten bzw. seiner Angehörigen an durch die Verfolgung vermittelter Genugtuung. Nichts anderes ergibt sich im Ergebnis auch aus der Judikatur des EGMR, dass das Opfer bzw. im Fall seines Todes seine Angehörigen in einem Maße an dem Ermittlungsverfahren zu beteiligen sind, das ihnen erlaubt, ihre legitimen Interessen durchzusetzen. Zwar könnte diese Rechtsprechung prima facie als Indiz dafür gewertet werden, dass der EGMR doch ein spezielles Interesse des Opfers an der staatlichen Strafverfolgung/Bestrafung und nicht nur eine objektive Strafverfolgungspflicht im Allgemeininteresse anerkennen will.86 Eine nähere Analyse der Rechtsprechung belegt diese erste Annahme indes nicht. In den allgemeinen Festlegungen der Ermittlungsstandards konkretisiert der EGMR nicht, was die „legiti83

EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, § 213 (Isayeva/Russland). EGMR, Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, § 306 (Giuliani u. Gaggio/Italien). 85 EGMR, Urt. v. 26. 3. 2013, App. No. 33234/07, § 77 (Valiuliené/Litauen). 86 In diese Richtung de Than, J. Crim. L. 67 (2003), 165, 175, 178; in der Tendenz auch Esser, Strafverfahrensrecht, S. 106, 108; zurückhaltend Leverick, Internat. Rev. Victimology 11 (2004), 177, 183 ff. 84

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Kap. 4: Normatives Fundament

mate interests“ des Opfers bzw. seiner Angehörigen inhaltlich umfassen. Stattdessen stellt er die Forderung, dass das Opfer bzw. seine Angehörigen am Verfahren zu beteiligen seien, in den Kontext der öffentlichen Kontrolle des Ermittlungsverfahrens. Insofern führt der Gerichtshof in seinen stets gleichen Formeln zu den Anforderungen an die Untersuchungen aus, eine ausreichende öffentliche Kontrolle der Ermittlungen und ihrer Ergebnisse sei essentiell, um das öffentliche Vertrauen in die Einhaltung rechtlicher Standards zu erhalten und jedem Eindruck vorzubeugen, dass der Staat mit den Schädigern kollusiv zusammenarbeite oder die rechtswidrigen Akte toleriere.87 Während der Grad der erforderlichen öffentlichen Kontrolle variieren könne, müssten jedenfalls das Opfer bzw. seine Angehörigen am Verfahren beteiligt werden, soweit es zur Durchsetzung ihrer Interessen erforderlich sei. Diese Kontextualisierung der Forderung nach einer Beteiligung des Opfers bzw. seiner Angehörigen an den Ermittlungen legt nahe, dass die Beteiligung primär der öffentlichen Kontrolle des Verfahrens dienen soll und nicht der Durchsetzung individueller Strafverfolgungsinteressen.88 Für diese Auslegung spricht auch, dass es aus Sicht des EGMR naheliegend ist, das Opfer bzw. seine Angehörigen zur öffentlichen Kontrolle des Verfahrens daran zu beteiligen. Denn von allen denkbaren Repräsentanten der anonymen Öffentlichkeit bringen das Opfer bzw. seine Angehörigen aufgrund ihrer Betroffenheit am wahrscheinlichsten genug Eigeninitiative auf, um die öffentliche Kontrolle zu vertreten, und verfügen über eine ausreichende Nähe zum aufzuklärenden Sachverhalt, um diese Kontrolle effektiv auszuüben. Diese Prädisposition zur Repräsentanz der öffentlichen Kontrolle spiegelt sich auch darin, dass das Opfer bzw. dessen Angehörige das Verfahren vor dem EGMR anstrengt haben. Ihre Instrumentalisierung zur Effektivierung der öffentlichen Kontrolle erscheint daher naheliegend. Soweit der EGMR die Anforderungen an die Verfahrensbeteiligung des Opfers bzw. seiner Angehörigen in Einzelfällen weiter konkretisiert hat, folgt auch daraus nicht, dass die Beteiligung der Verwirklichung eines Individualinteresses an der Strafverfolgung/Bestrafung dienen soll. Bejaht hat der EGMR eine Verletzung des Beteiligungsstandards in Fällen, in denen den Opferangehörigen während der Ermittlungen keine ausreichende oder rechtzeitige Akteneinsicht gewährt worden war.89 Dadurch sei die Möglichkeit, effektiv an Zeugenbefragungen teilzunehmen, unverhältnismäßig beschränkt worden. Auch eine effiziente Kontrolle von Vernehmungen kann jedoch dem öffentlichen Interesse an einer Überwachung der Ermittlungen dienen. Ihre Übertragung auf das Opfer bedingt damit noch nicht die Schlussfolgerung, die Verfahrensteilnahme werde zur Verwirklichung individueller 87 Statt vieler siehe EGMR, Urt. v. 24. 2. 2005, App. No. 57950/00, §§ 213 f. (Isayeva/ Russland). Ähnlich EGMR, Urt. v. 24. 3. 2011, App. No. 23458/02, § 303 (Giuliani u. Gaggio/ Italien). 88 So wohl auch Altermann, Ermittlungspflichten, S. 31 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn. 23. 89 EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 28883/95, § 148 (McKerr/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 20. 5. 1999, App. No. 21594/93, § 92 (Og˘ ur/Türkei).

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(Genugtuungs-)Interessen und nicht als Teil öffentlicher Kontrolle gestattet. Schließlich hat der Gerichtshof in einem Verfahren zwar festgestellt, dass die Interessen der Opferfamilie mit den Interessen der Polizei konfligieren könnten, was darauf hindeuten könnte, dass die Beteiligung doch einem separaten Individualinteresse an der Verfolgung dienen soll.90 Gemeint war in dem konkreten Verfahren jedoch gerade nicht ein möglicher Konflikt zwischen einem privaten Strafverfolgungsinteresse und einem von der Polizei repräsentierten öffentlichen Strafverfolgungsinteresse. Vielmehr stellte der EGMR das Angehörigeninteresse den Interessen der möglichen Täter gegenüber, die in dem zugrunde liegenden Sachverhalt nur gerade Polizei- bzw. Sicherheitskräfte waren. Die Interessen der Angeklagten dürften aber in den meisten Fällen sowohl mit dem öffentlichen wie mit einem privaten Strafverfolgungsinteresse konfligieren. Auch dieses Urteil legt folglich nicht nahe, dass die Beteiligung der Opfer/Angehörigen nach dem EGMR der Durchsetzung privater (Genugtuungs-)Interessen dienen soll. Eine Analyse der EGMR-Judikatur zu den staatlichen Ermittlungs- und Strafverfolgungspflichten unter Berücksichtigung ihrer Genese und den Äußerungen des Gerichtshofs legt damit den Schluss nahe, dass ihr primär die Intention zugrunde liegt, die individuellen Opfer zur Kontrolle und Effektivierung einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung im Allgemeininteresse zu mobilisieren. Das Klagerecht ist dafür ein Mittel zum Zweck und nicht Ausdruck der Überzeugung, überkommene Strukturen des öffentlichen Strafrechts sollten aufgelöst und ein subjektiver Anspruch auf Strafverfolgung sollten bejaht werden. Der spezifische Kontext der Genese der Judikatur spricht weiterhin dagegen, die Argumentation auf die Situation herkömmlicher Kriminalität zu übertragen und erst recht, die Argumentation zur Begründung weiterer subjektiver Rechte des Straftatopfers gegen den Staat – etwa auf Unrechtfeststellung in einem Alternativsystem – zu adaptieren. c) Hilfsweise Heranziehung von Argumenten aus der bundesverfassungsgerichtlichen Begründung eines Strafverfolgungsanspruchs? Das BVerfG ist der Judikatur des EGMR zu den Ermittlungs- und Strafverfolgungspflichten im Jahr 2010 gefolgt.91 Für den Kontext von Schutzverpflichtungen 90

EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001, App. No. 28883/95, § 148 (McKerr/Vereinigtes Königreich): „The Court considers that the right of the family of the deceased whose death is under investigation to participate in the proceedings requires that the procedures adopted ensure the requisite protection of their interests, which may be in direct conflict with those of the police or security forces implicated in the events.“ 91 BVerfG, Beschl. v. 4. 2. 2010 – 2 BvR 2307/06, Rn. 20; krit. Anmerkung Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 82 Fn. 390. Diese Entscheidung verweist noch ausdrücklich auf die EGMR-Rspr. als Ursprung der neuen Judikationslinie, nachfolgende Kammerbeschlüsse erwähnen nur noch, dass die Kammer-Rspr. in Einklang mit der EGMR-Rspr. stehe, BVerfGK, Beschl. v. 4. 2. 2010, 2 BvR 2307/06, Rn. 20 – 22; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/ 12, Rn. 18; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 16; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6.

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Kap. 4: Normatives Fundament

der EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten ist dies freilich nicht unmittelbar relevant. Weil die dogmatische Erläuterung des EGMR, wie gezeigt, einen Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung nicht schlüssig zu begründen vermag, soll aber die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung insofern hilfsweise auf Argumente untersucht werden, die ggf. auch auf übergeordneter Ebene fruchtbar gemacht werden könnten. Vor Übernahme der EGMR-Rechtsprechung hat das BVerfG stets bezugnehmend auf eine Senatsentscheidung aus dem Jahr 1979 betont, dass kein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf staatliche Strafverfolgung eines Dritten – auch nicht aus Art. 1 Abs. 1 GG – existiere.92 Dementsprechend verfügte auch das Straftatopfer nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung über keinen grundrechtlich radizierten Anspruch auf Aufklärung oder Unrechtfeststellung. Im Jahr 2010 führte die zweite Kammer des zweiten Senats erstmals in einem Nichtannahmebeschluss aus, dass zwar grds. kein grundrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung eines Dritten bestehe, ein Straftatopfer bzw. seine Angehörigen im Einzelfall aber gestützt auf den grundrechtlichen Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG die staatliche Strafverfolgung verlangen könnten.93 Die EGMR-Rechtsprechung zu staatlichen Ermittlungspflichten sei insofern als Auslegungshilfe bei der Beantwortung der Frage zu berücksichtigen, ob sich aus dem Grundgesetz ein Anspruch auf effektive Untersuchung von Todesfällen ergebe.94 Die Ermittlungen müssten im Übrigen die hierfür vom EGMR aufgestellten Standards erfüllen.95 Nachfolgende Kammerbeschlüsse haben diese Rechtsprechung weitergeführt.96 Zwar halten alle Beschlüsse beinahe wortgleich daran fest, dass es keinen allgemeinen grundrechtlich radizierten Anspruch auf Strafverfolgung Dritter gebe.97 Aber die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 16 ff. Krit. dazu Gärditz, JZ 2015, 896, 898. BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 17 erwähnt den Ursprung in der Judikatur des EGMR nicht mehr, sondern bezeichnet die Entscheidung als ständige Kammer-Rspr. 92 BVerfGE 51, 176, 187. Bestätigt in BVerfGK NJW 2002, 815, 816; NStZ, 2002, 606, 607; NJW 2002, 2861 (dort als ständige Rspr. bezeichnet); BVerfGK 17, 1, 5. Krit. Isensee, in: HStR, Bd. IX, § 191 Rn. 152: diese herkömmliche Position widerspreche den neueren Bestrebungen einer Verbesserung des Opferschutzes. 93 BVerfGK, Beschl. v. 4. 2. 2010, 2 BvR 2307/06, Rn. 19; krit. Kaspar, Verhältnismäßigkeit, Fn. 390. 94 BVerfGK, Beschl. v. 4. 2. 2010, 2 BvR 2307/06, Rn. 20 – 22. 95 BVerfGK, Beschl. v. 4. 2. 2010, 2 BvR 2307/06, Rn. 22. 96 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11 = NJW 2015, 3500 m. Bespr. bei Esser/ Lubrich, StV 2017, 418 ff.; Gärditz, JZ 2015, 896 ff.; Hörnle, JZ 2015, 893 ff.; Sachs, JuS 2015, 376 ff.; Vahle, Kriminalistik 2015, 190 ff.; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12 = NStZ-RR 2015, 347; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12 = NJW 2015, 150 m. Bespr. bei Kröpil, Jura 2015, 1282 ff.; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10 = NJW Spezial 2015, 17. Zu allen vier Beschlüssen und positiv Sturm, GA 2017, 398, 407 ff.; Würdinger, HRRS 2016, 29 ff. 97 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 18; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 13; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 9 (zust. Beulke, in: SSW-StPO, Einl. Rn. 6); BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 8.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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sei eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, die wiederum Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte sein könne.98 Gestützt auf diese staatliche Schutzpflicht könne der Einzelne deshalb unter Umständen die Strafverfolgung verlangen.99 Bei Kapitaldelikten könne ein solcher Anspruch auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen des Verstorbenen zustehen.100 Auch inhaltlich haben die Kammern die Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung konkretisiert.101 In enger Anlehnung an die Ausführungen des EGMR stellen sie fest, Ziel der Ermittlungen sei die Gewährleistung einer wirksamen Anwendung der Strafvorschriften zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person. Es sei sicherzustellen, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter zur Verantwortung gezogen würden. Ebenfalls parallel zu der Aussage des EGMR, es sei keine Erfolgspflicht, betonen allerdings auch die Kammern, dass nicht stets eine Anklageerhebung (und damit auch nicht stets die Bestrafung) notwendig seien.102 Vielmehr käme es darauf an, dass die Strafverfolgungsbehörden die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Befugnisse nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes auch tatsächlich zur Sachverhaltsaufklärung und Beweismittelsicherung nutzten. Eine nähere Betrachtung der Begründung dieser verfassungsgerichtlichen Judikatur empfiehlt sich besonders deshalb, weil der erste Kammerbeschluss noch die hier vertretene Auffassung zur Differenzierung zwischen der Erfüllung der Schutzpflicht einerseits und der Strafverfolgung andererseits zu teilen scheint. Insofern führt die Kammer aus, dass der Staat gem. der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG resultierenden Schutzpflicht zwar verpflichtet sei, das Leben

98 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 19; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 14; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 11; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 10. 99 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 20; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 14; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 11; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 10. Zu den weiteren Bedingungen dieses Anspruchs siehe sogleich. 100 Krit. hierzu Gärditz, JZ 2015, 896, 897 f.; Sachs, JuS 2015, 376, 378. 101 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 23; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 16 f.; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 14 f.; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 13 ff. 102 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 24; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 15; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 14. Dass ein solcher Anspruch des Opfers auf Pönalisierung des Täters, auch wenn er unter den Vorbehalt des Möglichen gestellt ist, gravierende Folgen für die Struktur und Ausgestaltung der staatlichen Strafverfolgung hätte, wurde bereits in Kap. 3 B dargelegt. Krit. insofern auch Gärditz, JZ 2015, 896, 899.

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Kap. 4: Normatives Fundament

vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu schützen.103 Ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Untersuchung verdächtiger Todesfälle sei davon aber zu unterscheiden. Deshalb bestünde auch im Allgemeinen kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf staatliche Strafverfolgung bei der Verletzung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter durch Private. Damit erkennt die Kammer zunächst ausdrücklich an, dass die Strafverfolgung kein taugliches Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht für das Leben des bereits Verletzten darstellt,104 und liegt damit auf einer Linie mit der erläuterten Kritik an der Begründung des EGMR. Dies lässt eine alternative tragfähigere Begründung erwarten. Allerdings bezeichnet die Kammer schon im nächsten Satz die wirksame Ahndung von Gewaltverbrechen im Widerspruch zu den eigenen Ausführungen doch als Teil der Schutzpflicht. In den späteren Kammerentscheidungen findet sich die Differenzierung zwischen einem Anspruch auf staatlichen Schutz und einem Anspruch auf effektive Untersuchung selbst rhetorisch nicht mehr.105 Vielmehr wird nur festgestellt, dass der Staat gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG die Pflicht habe, das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu schützen, diese Pflicht jedoch grundsätzlich keinen Anspruch auf eine konkrete Schutzmaßnahme vermittele. Insbesondere bestünde in der Regel kein grundrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung. Allerdings könne die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten unter bestimmten Umständen eine Konkretisierung dieser staatlichen Schutzpflicht darstellen und die so konkretisierte Pflicht könne in der Folge einen Anspruch auf Strafverfolgung vermitteln. Insofern wird der Unterschied zwischen der Schutzpflicht für die entsprechenden Rechtsgüter und der Strafverfolgung begangener Rechtsgutsverletzungen nicht mehr wie noch in dem ersten Beschluss verdeutlicht, sondern die Strafverfolgung wird als Schutzmaßnahme für die entsprechenden (bereits verletzten) Rechtsgüter bezeichnet. Lediglich die Tatsache, dass die Art und Weise der Erfüllung von Schutzpflichten allgemein im staatlichen Ermessen steht, verhindert offenbar nach Ansicht der Kammern die Anerkennung eines allgemeinen grundrechtlichen Anspruchs auf Strafverfolgung. Weitergehend definieren die Kammern deshalb Bedingungen, die das staatliche Ermessen zur Bestimmung des Schutzinstruments so reduzieren sollen, dass nur die Strafverfolgung als Instrument in Frage komme und in der Folge ein Individualanspruch auf Strafverfolgung bestehe. So erkennt der Kammerbeschluss von 2010 einen aus der grundrechtlichen Schutzpflicht resultierenden Strafverfolgungsan103

BVerfGK, Beschl. v. 4. 2. 2010 – 2 BvR 2307/06, Rn. 19. Freilich darf der Staat seine Schutzpflicht grds. durch Strafverfolgung konkretisieren, allerdings kann er dies nur in Bezug auf Gefahren, die von zukünftig zu erwartenden Taten ausgehen, und nicht in Bezug auf die Verletzung einer bereits eingetretenen Tat. 105 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 18; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 14; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 10 f.; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 9 f. Krit. dazu Hörnle, JZ 2015, 893, 894; Sachs, JuS 2015, 376, 377. 104

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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spruch einschränkend nur für den Fall an, dass „ernstlich zu besorgen ist, dass ein Verzicht auf effektive Untersuchung verdächtiger Todesfälle zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt oder im Einzelfall zu einer Gefahrenlage für Leben und Gesundheit führt.“106 Zwar konkretisiert die Kammer diese Herleitung der Verfolgungspflicht nicht weiter, doch lassen sich darin zwei verschiedene Begründungsstränge erkennen. Der eine Strang – Abwendung einer Gefahrenlage für Leben oder Gesundheit im Einzelfall – betrifft offenbar die bereits im Kontext der EGMR-Judikatur diskutierten Fälle, in denen bei Ausbleiben der Strafverfolgung ausnahmsweise eine spezifische Gefahr für das bereits verletzte Individuum besteht, z. B. weil das konkrete Opfer der realen Gefahr ausgesetzt ist, durch denselben Täter in naher Zukunft wiederholt verletzt zu werden. Diese Begründung trägt, wie dargelegt, einen Anspruch auf Strafverfolgung – wenn überhaupt – nur in seltenen Ausnahmefällen.107 Die späteren Kammerbeschlüsse greifen diese Begründung nicht wieder auf. Den zweiten Begründungsstrang hingegen – die Verhinderung eines Klimas der Rechtsunsicherheit und Gewalt – verfolgen die späteren Kammerbeschlüssen leicht modifiziert weiter. Insofern heißt es in allen Beschlüssen im Wesentlichen wortgleich, dass die Strafverfolgung verlangt werden könne, wenn der Einzelne nicht in der Lage sei, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen könne.108 Damit unterstellt die Kammerrechtsprechung die Entstehung des Anspruchs auf Strafverfolgung als Schutzmaßnahme in dieser Fallgruppe zwei einschränkenden Bedingungen: Erstens muss eine schwere Straftat gegen ein höchstpersönliches Rechtsgut im Raum stehen, zweitens muss die Nichtverfolgung zur Auflösung rechtsstaatlicher Zustände und zur Erosion des Vertrauens in den Staat führen. Allerdings sind auch diese einschränkenden Bedingungen, die sich letztlich in einer Behauptung erschöpfen,109 nicht unproblematisch. Zum einen ist schon die Bedeutung der ersten Bedingung unklar: Dass der Einzelne nicht in der Lage war, eine erhebliche Straftat gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter abzuwehren, ist bereits notwendige Voraussetzung für das Ereignis der Straftat und damit auch der Strafverfolgung. Hat gar keine Straftat stattgefunden, bedarf es schon keiner Strafverfolgung und damit auch keines Anspruchs darauf. Die Bedeutung der Passage scheint sich folglich darin zu erschöpfen, den Verfolgungsanspruch auf Opfer bestimmter Straftaten zu beschränken. Bei Zugrundelegung dieser Auslegung – dass die Passage die zu verfolgende Straftat in Bezug nimmt – ist allerdings unverständlich, warum die Kammern sie in der Ge106

BVerfGK, Beschl. v. 4. 2. 2010 – 2 BvR 2307/06, Rn. 19. Krit. auch Hörnle, JZ 2015, 893, 894 f. Siehe auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 85 f. 108 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 20; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 14; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 11; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 10. 109 Krit. Gärditz, JZ 2015, 896, 899; Sachs, JuS 2015, 376, 377. 107

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Kap. 4: Normatives Fundament

genwartsform („in der Lage ist“) formulieren. Das deutet darauf hin, dass mit der Passage die oben erläuterte Fallgruppe, dass das konkrete Opfer der Gefahr einer künftig erneuten Viktimisierung durch denselben Täter ausgesetzt ist, in Bezug genommen werden soll. Diese Auslegung passt jedoch zu keinem der Sachverhalte, die den Kammerentscheidungen zugrunde lagen. In vier Entscheidungen war das Opfer verstorben. Dessen Angehörige begehrten die Strafverfolgung, ohne selbst einer erhöhten Gefahr zukünftiger Viktimisierung ausgesetzt zu sein.110 Lediglich in einem Sachverhalt verlangte der überlebende Beschwerdeführer selbst die Strafverfolgung von polizeilichen Maßnahmen im Kontext eines eskalierten Fankonflikts nach einem Fußballspiel.111 Allerdings ist auch bei diesem Sachverhalt zweifelhaft, dass der Beschwerdeführer der Gefahr einer zukünftigen Verletzung durch die angeklagten Beamten ausgesetzt war. Außerdem gründete die Kammer den Anspruch auf Strafverfolgung im Ergebnis in diesem Fall nicht auf die erste, hier diskutierte Fallgruppe.112 Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die erste Bedingung unglücklich formuliert doch zum Ausdruck bringen soll, dass der Strafverfolgungsanspruch auf Opfer schwerer Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter beschränkt sein soll. Damit ist dieser Begründungsteil aber der bereits im Kontext der EGMR-Rechtsprechung erhobenen Kritik ausgesetzt. Keine noch so effiziente Strafverfolgung kann die an den Rechtsgütern des konkreten Opfers eingetretenen Schäden ex tunc rückgängig machen; namentlich das tote Opfer partizipiert nicht mehr an einem Lebensschutz durch das Strafrecht.113 Die nachträgliche Strafverfolgung kann damit keine Konkretisierung einer wegen der begangenen Tat bestehenden Schutzpflicht sein. Gemäß dem zweiten Begründungsstrang soll mit der Strafverfolgung im Einzelfall verhindert werden, dass sich ein allgemeines Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt herausbildet und sich das Vertrauen in das staatliche Gewaltmonopol auflöst. Auch wenn dieses Ziel grundsätzlich erstrebenswert ist, handelt es sich bei dem Interesse an der Erreichung dieses Ziels um ein Allgemeininteresse und gerade nicht um ein Individualinteresse des Straftatopfers.114 Denn alle Bürger wären gleichermaßen von einer Auflösung rechtsstaatlicher Zustände und der Erosion des Vertrauens in selbige betroffen oder anders gewendet, jeder profitiert prinzipiell von der institutionellen Normstabilisation.115 Ein Allgemeininteresse kann jedoch al110

BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 2; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 1; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 1; BVerfG, Beschl. v. 4. 2. 2010 – 2 BvR 2307/06, Rn. 2. 111 BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12. 112 BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 19. Stattdessen bezog sich die Kammer auf die Fallgruppe einer möglichen Begehung einer Straftat durch einen Amtsträger. 113 So auch Gärditz, JZ 2015, 896, 898; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 85; ähnlich krit. Weigend, in: FS Streng (2018), S. 781, 789. 114 Esser/Lubrich, StV 2017, 418, 419; Gärditz, JZ 2015, 896, 897; Hörnle, JZ 2015, 893, 895; Sachs, JuS 2015, 376, 377. 115 Ebenso Gärditz, JZ 2015, 896, 897.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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lenfalls eine objektive staatliche Schutzpflicht begründen, nicht aber einen Individualanspruch auf staatliches Tätigwerden.116 Außerdem ist zweifelhaft, dass die Nichtverfolgung einer einzelnen Tat zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt und einer Erschütterung des Vertrauens in das staatliche Gewaltmonopol führen könnte, sodass die Geltendmachung eines Individualanspruchs auf Strafverfolgung im Einzelfall zur Abwendung eines Zustands der allgemeinen Rechtslosigkeit notwendig sein könnte.117 Insofern ist der Staat den Bürgern gegenüber im Rahmen seiner grundrechtlichen Schutzaufgabe auch nur dazu verpflichtet, überhaupt ein Strafrechtssystem zu errichten und das Strafrecht grds. durchzusetzen, um so ein Gesamtschutzniveau zu garantieren, nicht aber dazu, jede einzelne Tat zu verfolgen.118 Wenn man trotzdem annehmen wollte, dass die Nichtverfolgung einer einzelnen Tat tatsächlich ein Klima der Rechtslosigkeit und Verunsicherung auslösen kann, wäre außerdem zu beantworten, warum nur Delikte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter die Schutzpflicht aktivieren sollen, nicht aber andere schwere Delikte, z. B. gegen das Eigentum, die eine ähnliche Breitenwirkung haben könnten.119 Schließlich ist Hörnles praktischem Einwand gegen die Kammerrechtsprechung zuzustimmen, dass es aus der Perspektive der Allgemeinheit wenig zielführend erscheint, Bürgerrechte mit dem Argument zu begründen, dass andernfalls die Entstehung eines Unrechtsstaats drohe.120 Das Säen derartigen Misstrauens gegen die staatlichen Verfolgungsbehörden mag die zu perhorreszierenden Phänomene von Rechtsunsicherheit und Vertrauensverlust eher befördern als ihnen entgegen zu wirken. All diese Bedenken werden in der Kammerrechtsprechung jedoch weder erörtert noch widerlegt. Schließlich bejahen die Kammern einen Individualanspruch auf Strafverfolgung in zwei weiteren Fallgruppen, in denen jeweils eine staatliche Beteiligung an der Straftatbegehung im Raum steht: Zum einen soll ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung bei dem Vorwurf bestehen, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen hätten.121 Zum anderen könne sich ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung aus einer spezifischen Fürsorge- und Obhutspflicht des Staates gegenüber Personen ergeben, die ihm anvertraut seien.122 Die 116 Gärditz, JZ 2015, 896, 897; Sachs, JuS 2015, 376, 377, beide mit ausführlichen Erläuterungen aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum. 117 Krit. auch Gärditz, JZ 2015, 896, 898; Hörnle, JZ 2015, 893, 895. Insgesamt positiver Esser/Lubrich, StV 2017, 418, 421, 424. 118 Holz, Justizgewähranspruch, S. 106. 119 Gärditz, JZ 2015, 896, 898; ähnlich Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 790. 120 Hörnle, JZ 2015, 893, 895. 121 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 22; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 16; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 12; BVerfGK, Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 11. Denn ein Verzicht auf effektive Verfolgung solcher Taten könne zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen. 122 BVerfGK, Beschl. v. 19. 5. 2015, 2 BvR 987/11, Rn. 21; BVerfGK, Beschl. v. 23. 3. 2015, 2 BvR 1304/12, Rn. 15; BVerfGK, Beschl. v. 6. 10. 2014, 2 BvR 1568/12, Rn. 13; BVerfGK,

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Kap. 4: Normatives Fundament

dargebotenen Begründungen beruhen wiederum auf Allgemeininteressen und vermögen insofern einen subjektiven Anspruch auf Strafverfolgung nicht zu begründen.123 Da es hier um Fälle geht, in denen Private ohne staatliche Beteiligung eine Straftat begangen haben, kann offen gelassen werden, ob sich für diese beiden Fallgruppen ein Anspruch auf effektive Ermittlungen anderweitig schlüssig herleiten ließe. Die Kammerrechtsprechung des BVerfG ist den gleichen Begründungsschwierigkeiten wie die EGMR-Rechtsprechung ausgesetzt und vermag im Ergebnis zur dogmatischen Unterfütterung eines möglichen Anspruchs des Opfers auf Ermittlung, Unrechtfeststellung oder Bestrafung nichts beizutragen. Dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass die Kammern die EGMR-Rechtsprechung ohne ausführliche Auseinandersetzung mit der Herleitung des Strafverfolgungsanspruchs durch den EGMR oder den Versuch einer eigenen fundierten Begründung dieses neuen Anspruchs entgegen der überkommenen Senatsrechtsprechung übernommen haben.124 4. Zwischenergebnis Die Untersuchung hat gezeigt, dass weder ein grundrechtlicher Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung/Bestrafung noch auf reine Unrechtfeststellung aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht aufgrund verwirklichter Menschenrechtsverletzungen abgeleitet werden kann. Einer solchen Herleitung stehen zwingende dogmatische Erwägungen entgegen. Hinzu kommt, dass auch die Genese der Rechtsprechung des EGMR sowie eigene Ausführungen des Gerichtshofs zu den staatlichen Ermittlungspflichten, auf die ein Anspruch des Opfers auf Bestrafung „seines“ Täters vornehmlich gegründet worden ist, zeigen, dass die Strafverfolgungspflichten allgemeinen generalpräventiven Zwecken und nicht individuellen Genugtuungsinteressen dienen sollen. Der staatliche Einsatz zur Etablierung eines additiven Betroffenenforums, das Unrecht gegenüber dem Opfer feststellen würde, lässt sich damit folglich ebenso wenig begründen wie ein Anspruch des Straftatopfers gegen den Beschl. v. 26. 6. 2014, 2 BvR 2699/10, Rn. 12. Dies gelte vor allem in strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnissen, die den Verletzten nur eingeschränkte Möglichkeiten ließen, sich gegen strafrechtlich relevante Übergriffe in ihre Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG zu wehren (z. B. im Maßregel- oder Strafvollzug). 123 Ausführlich Gärditz, JZ 2015, 896, 897 f.; Hörnle, JZ 2015, 893, 895; Sachs, JuS 2015, 376, 377. A.A. Sturm, GA 2017, 398, 410. 124 Umso fragwürdiger ist es deshalb, dass die Kammern die Entscheidung über eine solche fundamentale Kehrtwende nicht dem jeweiligen Senat überlassen haben. Da es sich ausschließlich um Nichtannahmebeschlüsse handelt, hätten die gleichen Entscheidungen auch mit Verweis auf die ständige Senatsrechtsprechung, dass kein Strafverfolgungsanspruch besteht, getroffen werden können. Gärditz, JZ 2015, 896, 898 f., spricht sogar von einem „Missbrauch des Kammerverfahrens“; krit. auch Esser/Lubrich, StV 2017, 418, 421; Hörnle, JZ 2015, 893, 896. Zwar handelt es sich insoweit nur um Kamerbeschlüsse und der Senat hat bisher noch nicht über diesen Anspruch entschieden; zumindest partiell dürfte eine künftige Senatsrechtsprechung aber bereits faktisch präformiert sein, Gärditz, id.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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Staat auf Bestrafung „seines“ Täters. Schließlich bejaht der EGMR (wie im Übrigen auch das BVerfG im nationalen Kontext) die Strafverfolgungspflichten nur bei Verletzungen einiger weniger fundamentaler Konventionsgarantien.125 Selbst wenn man also entgegen der dargelegten Argumente einen subjektiven Anspruch auf Strafverfolgung aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht aufgrund verwirklichter Menschenrechtsverletzungen ableiten wollte, ließe sich ein solcher nach dieser Judikatur nur für Opfer einiger weniger Deliktskategorien und nicht umfassend begründen.126

II. Unrechtfeststellung als Inhalt einer Schutzpflicht zur Abwendung eines Normvertrauensschadens Nachdem gezeigt wurde, dass die Verletzung eines Rechtsguts durch eine Straftat nach der Schutzpflichtdogmatik keinen Anspruch des Opfers auf Unrechtfeststellung bzw. Bestrafung des Täters begründet, soll in diesem Abschnitt untersucht werden, ob stattdessen, wie teilweise vertreten wird, ein subjektiver Normvertrauensschaden nach der Schutzpflichtdogmatik einen solchen Anspruch auslösen kann. Beide Argumentationslinien zur Begründung eines Opferanspruchs auf Unrechtfeststellung bzw. Bestrafung knüpfen also an eine grundrechtlich fundierte, staatliche Schutzpflicht an, beziehen sich aber auf unterschiedliche Schadensarten. Auch diese Argumentationslinie ist von ihren Verfechtern vordergründig entwickelt worden, um einen Anspruch des Opfers gegen den Staat auf Bestrafung des Täters zu begründen.127 Dabei geht es den Verfechtern aber primär um die Notwendigkeit, für das Opfer offiziell zwischen Unrecht und Unglück zu differenzieren. Ziel der grundrechtlichen Schutzpflicht gegenüber dem Opfer ist daher nicht wie bei der oben vorgestellten Herleitung, die grundrechtlich verbürgten Rechtsgüter vor 125

Bisher wurden Ermittlungspflichten nur aus Artt. 2, 3, 5 und 8 EMRK hergeleitet. Göhler, N. J. Europ. Crim. L. 6 (2015), 102, 114; Weigend, RW 2010, 39, 47; entgegen der Rspr. des EGMR noch enger Kuhn, ZRP 2005, 125, 127. Ähnlich in Bezug auf Teilnahmerechte von Opfern Leverick, Internat. Rev. Victimology 11 (2004), 177, 194. A.A. Altermann, Ermittlungspflichten, S. 152 f., der davon ausgeht, dass Ermittlungspflichten ein umfassendes Institut zur Sicherung der materiellen Konventionsrechte seien und insofern aus Art. 1 EMRK und dem Erfordernis eines effektiven Menschenrechtsschutzes die Verpflichtung zur Durchführung von Ermittlungen auch im Zusammenhang mit der möglichen Verletzung anderer materieller Konventionsrechte folge. 127 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 664 (bejaht eine staatliche Strafpflicht zur Erfüllung einer Schutzpflicht gegenüber dem Opfer, lässt aber die Frage eines damit korrespondierenden Bestrafungsanspruchs des Opfers offen, S. 660); Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 134 ff.; Holz, Justizgewähranspruch, passim; Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 26 f.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 364 ff. (bejaht eine Staatspflicht, zur Befriedigung des Genugtuungsinteresses des Opfers zu strafen); Walther, Rechtsbruch, S. 268 f. (bejaht eine aus der grundrechtlichen Schutzpflicht folgende Staatsaufgabe, das Opfer bei der Bewältigung der realen Tatfolgen zu unterstützen; einen damit korrespondierenden Anspruch des Opfers lässt sie offen). In diese Richtung auch Jerouschek, JZ 2000, 185, 193. 126

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Kap. 4: Normatives Fundament

bzw. aufgrund einer objektiven Verletzung durch eine Straftat zu schützen. Stattdessen soll das subjektive Normvertrauen des Verbrechensopfers bzw. sein subjektives Sicherheitsgefühl durch die (in der Bestrafung enthaltene) Unrechtfeststellung re-stabilisiert und dem Opfer gesellschaftliche Solidarität vermittelt werden.128 Zur Begründung werden in der Literatur zwei verschiedene Herleitungen vorgeschlagen, die im Folgenden nacheinander auf ihre Tragfähigkeit untersucht werden. 1. Staatliche Folgenbeseitigungspflicht als Inhalt einer grundrechtlichen Schutzpflicht Ausgehend von einer staatlichen Schutzpflicht für grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wird teilweise eine Art staatlicher Folgenbeseitigungsanspruch für den Fall konstruiert, dass solche Rechtsgüter durch Eingriffe Dritter verletzt werden.129 In diesem Sinne wird argumentiert, dass der Staat zum Schutz der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter – jedenfalls von Leben, körperlicher Unversehrtheit und persönlicher Freiheit – verpflichtet sei.130 Diese Schutzpflicht umfasse die Pflicht, die Schutzgüter vor Eingriffen privater Dritter zu schützen.131 Inhaltlich erschöpfe sich die Schutzpflicht aber nicht in einer Prävention von Verletzungen, sondern sei weiterhin auch auf die Beseitigung einer bereits eingetretenen Beeinträchtigung gerichtet, wie ein Vergleich mit dem Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruchs bei staatlichen Verstößen gegen grundrechtliche Abwehrrechte demonstriere.132 Unschädlich sei daher, dass der private Eingriff in das Schutzgut in Form der Straftatbegehung bereits vollzogen sei. Der rechtswidrige Zustand, auf dessen Beseitigung die Folgenbeseitigungspflicht gerichtet sei, bestehe zum einen in ggf. fortbestehenden physischen und psychischen Folgen der Straftat, zum anderen und primär im verbleibenden, wohl immateriell zu verstehenden „Zustand des Verletztseins“.133 128 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 663; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 134; Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 26 f.; ähnlich Jerouschek, JZ 2000, 185, 193: „Obliegenheit strafrechtsvermittelter Verarbeitungshilfe“. In diese Richtung auch Walther, Rechtsbruch, S. 268 f., die aus der grundrechtlichen Schutzpflicht die Staatsaufgabe folgert, das Opfer bei der Bewältigung der realen Tatfolgen zu unterstützen; sowie Walther, JR 2008, 405, 407, 409 (Recht auf Unrechtfeststellung und Bestrafung aus grundrechtlichem Schutzrecht). 129 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 661 ff.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 365 f.; Walther, Rechtsbruch, S. 268 f. 130 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 661. 131 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 662; Walther, Rechtsbruch, S. 268. 132 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 662; Walther, Rechtsbruch, S. 268. In diese Richtung wohl auch Walther, in: FS Jung (2007), S. 1045, 1052; dies., JR 2008, 405, 407, 409 (die ohne Begründung unterstellt, dass das Opfer aufgrund eines grundrechtlichen Schutzrechtes in Bezug auf die eigene Sicherheit sowie einen damit verbundenen Justizgewährungsanspruch ein subjektiv-öffentliches Recht auf Unrechtfeststellung und Bestrafung des Täters habe); dies., GA 2007, 615. 133 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 662.

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Dieser rechtswidrige Zustand fortdauernden Verletztseins könne nur durch den Ausspruch des staatlichen Strafurteils beseitigt werden, weil nur die Bestrafung des Täters das „Rund-um-Vertrauen“ des Opfers durch Unrechtfeststellung und Solidaritätsbekundung wiederherstellen könne.134 In der Konsequenz folge aus dem grundrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch ein Anspruch des Opfers auf Unrechtfeststellung und Bestrafung des Täters. Die Annahme eines staatlichen Folgenbeseitigungsanspruchs auf Grundlage grundrechtlicher Schutzpflichten weckt jedoch Zweifel. Zum einen basiert die Annahme stillschweigend auf der voraussetzungsreichen anspruchsbegründenden Prämisse, dem Staat sei die Verletzung des Rechtsguts durch den privaten Dritten zuzurechnen. Dies setzt voraus, dass dem Staat die mangelnde Verhinderung der Straftatbegehung durch den privaten Dritten vorzuwerfen ist. Wird der Folgenbeseitigungsanspruch verallgemeinernd für alle Straftatopfer bejaht, wird damit in der Folge implizit zugleich unterstellt, der Staat sei zur Gewährung absoluter Sicherheit in Form der Verhinderung jeglicher Straftaten verpflichtet bzw. ihm könne die Nichtgewährung absoluter Sicherheit zum Vorwurf gemacht werden. Eine staatliche Verpflichtung zur Gewährung absoluter Sicherheit existiert indes nicht und kann in einem rechtsstaatlichen System auch nicht gefordert werden.135 Damit fehlt es bereits am Zurechnungsgrund für die Substantiierung des Folgenbeseitigungsanspruchs. Weiterhin beziehen sich Schutzrechte stets auf Gefährdungslagen.136 Ist die Verletzung eines Schutzgutes bereits eingetreten, betrifft die Bewältigung der Schadensabwicklung keine Gefährdungslage mehr und kann folglich auch nicht mehr als Konkretisierung eines Rechts auf Schutz subsumiert werden.137 Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die Beseitigung eingetretener Schäden zugleich den Eintritt neuer weitergehender Schäden verhindert. Dass die Unrechtfeststellung (bzw. Bestrafung) den Eintritt neuer weitergehender Schäden vereitelt, wird von den Verfechtern einer Verpflichtung zur Unterstützung des Opfers als Inhalt eines Folgenbeseitigungsanspruchs jedoch gerade nicht angenommen. Stattdessen soll die Unrechtfeststellung (bzw. Bestrafung) bestehende reale sowie immaterielle (Normvertrauens-)Schäden beseitigen.138 Selbst wenn man einen Folgenbeseitigungsanspruch aus der grundrechtlichen Schutzpflicht dem Grunde nach unterstellen wollte, wäre weiterhin nicht einsichtig, 134 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 663, spricht auf dieser Grundlage dem Opfer einen Bestrafungsanspruch zu, S. 664. Nach Walther, Rechtsbruch, S. 269 ist Inhalt der staatlichen Folgenbeseitigungsaufgabe die Unterstützung des Opfers bei der Bewältigung der realen Tatfolgen. 135 Siehe ausführlich Kap. 4 B. Sczekalla, Schutzpflichten, S. 365 erkennt dies, folgert aber trotzdem eine grundrechtlich fundierte, durch Strafrecht zu erfüllende Folgenbeseitigungspflicht, S. 366. 136 Epping, Grundrechte, Rn. 124; Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, § 8 Rn. 13; Robbers, Sicherheit, S. 124; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 171. 137 Robbers, Sicherheit, S. 125. 138 Z. B. Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 662.

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wie die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer oder auch weitergehend die Sanktionierung des Täters die realen Tatfolgen in Form physischer und psychischer Verletzungen – wie von Burgi unterstellt139 – beseitigen könnte. Auch das Mittel auf Rechtsfolgenseite erscheint insoweit zur Erfüllung des Anspruchs zumindest partiell untauglich. Anderes könnte nur in Bezug auf die Stabilisierung des Normvertrauens gelten. Insofern kann das Strafurteil, besser aber noch die direkt an das Opfer gerichtete Unrechtfeststellung rückversichernde Wirkung entfalten. Darauf basierend eine staatliche Pflicht zur Unrechtfeststellung bzw. Bestrafung zu unterstellen, widerspricht jedoch dem dogmatische Grundsatz staatlichen Ermessens bei der Konkretisierung von Schutzmaßnahmen.140 In der Gesamtschau vermag daher auch diese Herleitung eine staatliche Pflicht zur Unrechtfeststellung und/oder Bestrafung und einen entsprechenden Anspruch des Opfers nicht überzeugend zu begründen. 2. Staatliche Schadensbegrenzungspflicht als Inhalt einer grundrechtlichen Schutzpflicht Etwas anders, nämlich auf die Abwendung zukünftigen Schadens gerichtet, argumentiert Reemtsma. Er leitet ein subjektives Recht des Straftatopfers auf Unrechtfeststellung (durch das Strafurteil) aus einer Schadensbegrenzungspflicht des Staates ab.141 Die dem Täter gegenüber verhängte Strafe sei entgegen dem insoweit weit verbreiteten Irrglauben gar nicht in der Lage, die durch die Straftat verursachten immateriellen Schäden des Opfers auszugleichen.142 Für das Opfer sei die Bestrafung des Täters mithin auch keine Wiedergutmachung eines eingetreten Schadens, sondern vielmehr die Abwendung weiteren Schadens.143 Ein Verbrechen führe nämlich dazu, dass das Opfer seine sichere Orientierung im sozialen Leben aufgrund plötzlich erlebter Rechtlosigkeit verliere.144 Die mit der Bestrafung einhergehende Re-Etablierung des Rechts signalisiere dem Opfer, dass die verletzte Norm weiterhin gelte und es sich keine Gedanken über seine Sicherheit machen müsse, sowie, dass es in der Gesellschaft willkommen sei und Solidarität genieße.145 Diese Bestätigung wende die psychischen Folgen, die das Opfer ansonsten zukünftig durch die erlebte Orientierungslosigkeit erleiden würde, für die Zukunft ab.146 Weil nur mit der Bestrafung des Täters ein zukünftiger Schaden vom Opfer abgewendet werden könne, 139

Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 662. Ausführlich dazu sogleich. 141 Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 136; Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 27; ähnlich Jerouschek, JZ 2000, 185, 193: „Obliegenheit strafrechtsvermittelter Verarbeitungshilfe“, der aber anders als Reemtsma der Tatsache Bedeutung zumisst, dass der Staat die Tat nicht verhindert hat. 142 Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 24. 143 Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 27. 144 Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 26. 145 Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 134. 146 Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 26 f. 140

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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habe das Opfer einen Anspruch darauf und der Staat eine damit korrespondierende Bestrafungspflicht: „Das Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters erwächst aus der Pflicht des Staates, den sozialen Schaden, den ein Verbrechen anrichtet, zu begrenzen.“147 Anknüpfungspunkt für Reemtsma ist damit nicht die durch das Verbrechen verursachte objektive oder subjektive Verletzung, sondern die von dieser Verletzung ausgehende Gefahr für die Fähigkeit des Opfer, sich künftig im sozialen Leben sicher zu fühlen und zu orientieren, also kein eingetretener, sondern ein drohender Schaden. Dies unterscheidet Reemtsmas Herleitung von der zuvor dargestellten Begründung einer Unrechtfeststellungspflicht als Inhalt eines Folgenbeseitigungsanspruchs. Auch den Anknüpfungspunkt für eine staatliche Pflicht, zur Abwendung des drohenden Schadens aktiv zu werden, wählt Reemtsma abweichend. Insbesondere lehnt er explizit die Argumentationslinie ab, der Staat müsse Verbrechensopfer deshalb unterstützen, weil er (schuldhaft) versagt habe, die Bürger vor einem Verbrechen zu schützen.148 Vielmehr gelte die Schadensbegrenzungspflicht ganz unabhängig davon, ob der Staat selbst für den Eintritt des Schadens verantwortlich sei oder nicht. Denn die staatliche Schadensbegrenzungspflicht sei schlicht Ausfluss der Aufgabe eines modernen Staates, als Einrichtung drohende Schäden und Scha-

147 Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 26; zust. Burgsmüller, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkte, S. 173, 176. Auf Reemtsmas Gedankengang aufbauend hat auch Holz, Justizgewähranspruch, passim, argumentiert, dass das Verbrechensopfer einen Anspruch gegen den Staat auf Verhängung des sozialethischen Unwerturteils durch Schuldspruch im Strafverfahren habe (nicht aber auf Verhängung der Sekundärsanktion, S. 149). Ähnlich wie Reemtsma geht Holz davon aus, dass ein Verbrechen das Vertrauen des Opfers in die soziale Wirksamkeit der Verhaltensnorm beeinträchtige und der Staat das Sicherheitsgefühl des Opfers wiederherstellen müsse, indem er mit dem Ausspruch des Unwerturteils in der strafrechtlichen Primärsanktion die Verhaltenserwartung symbolisch re-stabilisiere und Solidarität mit dem Opfer bekunde, S. 108 f., 128 ff., 202 ff. Der Anspruch folge allerdings nicht unmittelbar aus der Schutzfunktion verfassungsrechtlich verbürgter Grundrechte, sondern aus einfachem Recht, das die verfassungsrechtliche Schutzpflicht konkretisiere, S. 106, 108 f. Die Individualrechtsgüter schützenden Strafnormen im deutschen StGB hätten auch den Zweck, das Interesse des tatsächlichen (in der Terminologie von Holz potentiellen) Opfers an der Wiederherstellung des Normvertrauens durch den Schuldspruch zu schützen und vermittelten ihm so ein subjektiv-öffentliches Recht auf Verwirklichung seines Genugtuungsinteresses durch Ausspruch eines Unwerturteils im Strafverfahren, S. 120 ff., 202 ff.; zust. Meyer, Strafrechtliche Sanktionen, S. 38; ähnlich schon Schöch, NStZ 1984, 384, 387. Dieses einfache Recht sei gem. Art. 19 Abs. 4 GG justiziabel, S. 217. Holz’ Argumentation ist allerdings in einigen Punkten der gleichen Kritik ausgesetzt wie eine Herleitung eines Bestrafungsanspruchs unmittelbar aus den grundrechtlichen Schutzpflichten, vgl. unten im Text und Weigend, RW 2010, 39, 48 ff. Hinzu kommt, dass die seiner Argumentation zugrunde liegende Auslegung, dass sich aus verschiedenen Normen des StGB und der StPO in der Zusammenschau ein umfassendes Recht des Opfers auf die Durchführung eines Strafverfahrens ergebe, nicht überzeugt, vgl. Kap. 3 A III 1; krit. auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S.88. 148 Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 136; Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 9 Fn. 8, 23.

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Kap. 4: Normatives Fundament

densfolgen im öffentlichen Raum zu mindern.149 Wohl als Verdeutlichung dessen führt Reemtsma an, der Staat sei schließlich auch im Falle eines Deichbruches verpflichtet, Katastrophenschutzkräfte auszuschicken, selbst wenn der Küstenschutz optimal gewesen sei.150 Reemtsmas Argumentation ist zugute zu halten, dass sie die Bedingung des Bestehens von Schutzpflichten und -rechten – nämlich die Existenz einer Gefährdungslage für das konkrete Opfer151 – beachtet. Denn im Mittelpunkt seiner Argumentation steht weder die Beseitigung des durch die Tat bereits verursachten (Vertrauens-)Schadens per se, noch die die Allgemeinheit und nicht speziell das konkrete Opfer betreffende Gefährdungslage, die durch die potentielle Begehung zukünftiger Straftaten entsteht. Den Ausgangspunkt bilden stattdessen zukünftige Schäden, die gerade für das konkrete Opfer durch das Fortbestehen der Verunsicherung aufgrund der durch die Straftat hervorgerufenen Orientierungslosigkeit eintreten könnten. Im Ergebnis zu überzeugen vermag die Argumentation jedoch trotzdem nicht. Ihre größte Schwäche besteht darin, dass Reemtsma eine Schadensabwendungspflicht des Staates schlicht unterstellt, ohne ihren Ursprung zu substantiieren. Auch wenn zu begrüßen ist, dass er eine Pflichtverletzung des Staates aufgrund der unterbliebenen Verhinderung der Straftat als Ursprung der Schadensbegrenzungspflicht ablehnt, müsste er eine alternative Begründung liefern. Insofern zieht sich Reemtsma jedoch zurück auf die generalisierende Unterstellung einer umfassenden Schadensabwendungspflicht des modernen Staates und unterstellt damit ein Recht auf absolute Schadensfreiheit, welches dem von ihm verworfenen Recht auf absolute Sicherheit strukturell stark ähnelt. Um Reemtsmas an sich vielversprechenden Ansatz auf ein rechtliches Fundament zu heben, liegt es nahe, eine Herleitung der propagierten staatlichen Schadensbegrenzungspflicht aus grundrechtlichen Schutzpflichten zu versuchen.152 Auch diese Herleitung stößt jedoch auf Schwierigkeiten. Zunächst wäre dem Grundansatz von Reemtsma folgend zu begründen, dass Menschenrechte auch die sichere Orientierung im sozialen Leben in Bezug auf Recht und Unrecht verbürgten. Voraussetzung dafür wäre, dass Grundrechte nicht nur die objektive Integrität von Rechtsgütern schützten, sondern auch die subjektive Gewissheit bzgl. der fortdauernden Integrität von Rechtsgütern (subjektives Sicherheitsgefühl), was in der verfassungsrechtlichen Literatur auf europäischer (und deutscher) Ebene umstritten ist.153 Weiterhin wären 149

Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 136. Sich anschließend Burgsmüller, in: Pollähne/Rode, Opfer im Blickpunkte, S. 173, 176. 150 Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 136; Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 23. 151 Vgl. Robbers, Sicherheit, S. 124 f. 152 Zur grds. Anerkennung der Schutzpflichtdimension von Grundrechten auch auf Unionsebene siehe Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 GRC Rn. 5; Gärditz, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 4 Rn. 62; Cremer, in: id., § 1 Rn. 64 f., 77 ff. 153 Den Schutz eines subjektiven Sicherheitsgefühls bejahend Holz, Justizgewähranspruch, S. 68, 78 f., 108, et passim; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 51 f.; krit. hingegen Szczekalla,

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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die Implikationen davon zu diskutieren, dass die Begehung einer Straftat die soziale Orientierungsfähigkeit und die subjektive Gewissheit bzgl. der Integrität der eigenen Rechtsgüter faktisch nicht bei jedem Opfer für die Zukunft stört. Denn es sind zwar alle Straftatopfer normativ von einem Unrecht betroffen. Es lässt sich aber nicht behaupten, dass alle Straftatopfer auch empirisch-faktisch die Rückbestätigung, dass ihnen Unrecht geschehen ist, zur Reorganisation ihres Lebens und Rückgewinnung der subjektiven Gewissheit bzgl. der fortbestehenden Integrität ihres durch die Straftat betroffenen Rechtsguts benötigten.154 Es sind also nicht alle Opfer faktisch in ihrem Sicherheitsgefühl für die Zukunft beeinträchtigt. Ist aber eine faktische Erschütterung der Orientierungsfähigkeit für die Aktivierung der grundrechtlichen Schutzpflicht erforderlich, könnte eine Pflicht zur Unrechtfeststellung (durch Bestrafung) nur solchen Betroffenen gegenüber begründet werden, die tatsächlich an einer nachweisbaren Einbuße an Orientierungsfähigkeit und subjektiver Gewissheit ob der Integrität ihres durch die Straftat betroffenen Rechtsguts leiden. In der Konsequenz ließe sich so kein allgemeiner Anspruch auf Unrechtfeststellung/Bestrafung für alle Opfer begründen.155 Dafür müsste vielmehr das normative Interesse an der Rückbestätigung, dass Unrecht geschehen ist, unabhängig von einer drohenden faktischen Orientierungslosigkeit für die Aktivierung der staatlichen Schutzpflicht für ausreichend gehalten werden, was wiederum zweifelhaft erscheint.156 Die nächste Hürde besteht darin, dass grundrechtliche Schutzpflichten stets nur auf die Gewährung eines bestimmten Schutzniveaus gerichtet sind und es im staatlichen Ermessen liegt, wie dieses Schutzniveau – im konkreten Fall hier das Normvertrauen bzw. die Fähigkeit sicherer Orientierung im sozialen Leben – erreicht wird.157 Die staatliche Pflicht, eine bestimmte Schutzmaßnahme – im Fall von Reemtsmas Argumentation die Bestrafung des Täters – zu ergreifen und ein damit korrespondierendes subjektives Recht auf Ergreifung eben dieser Schutzmaßnahme besteht im Regelfall gerade nicht. Es obläge folglich dem Staat, selbst zu entscheiden, wie er Straftatopfer bei der subjektiven Resozialisierung nach der Tat unterstützte. Schließlich ist praktisch zweifelhaft, ob die Bestrafung des Täters das effektivste oder auch nur ein geeignetes Mittel ist, um die Orientierungsfähigkeit im sozialen Leben und das auf die zukünftige Integrität des verletzten Rechtsguts bezogene subjektive Sicherheitsgefühl wiederherzustellen, ob also die Bestrafung des Täters Schutzpflichten, S. 174, 305 ff.; Weigend, RW 2010, 39, 48, jeweils mwN zum verfassungsrechtl. Schrifttum. Allg. zum Recht auf Freisein von Furcht Robbers, Sicherheit, S. 225 f. 154 Siehe oben Kap. 3 A. 155 Ähnlich Weigend, RW 2010, 39, 49. 156 Vgl. Weigend, RW 2010, 39, 48. 157 So auch konkret im Zusammenhang mit einer Bestrafungs-/Unrechtfeststellungspflicht gegenüber dem Opfer Holz, Justizgewähranspruch, S. 106, 108 f. Allgemein zu staatlichem Ermessen bei der Ausfüllung von Schutzpflichten vgl. schon oben Kap. 4 A I 3 a).

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Kap. 4: Normatives Fundament

taugliches Mittel zur Schadensbegrenzung ist.158 Wie ausgeführt, ist zumindest der Ausspruch des staatlichen Strafurteils nicht optimal geeignet, um die mit der Unrechtfeststellung angestrebte Rückversicherung des Opfers zu erreichen. Insofern wäre die Unrechtfeststellung in einem auf das Opfer fokussierten additiven Betroffenenforum gepaart mit praktischen Unterstützungsmaßnahmen geeigneter, um das Normvertrauen und die Orientierungsfähigkeit im Leben zu re-stabilisieren. Diese bessere Geeignetheit bedeutet jedoch letztlich nur, dass staatliche Instanzen bei der Ausübung ihres Ermessens das Parallelverfahren vor dem Strafverfahren als Unterstützungsmedium vorzuziehen hätten. Damit wäre aber noch keine Ermessensreduzierung in dem Sinne begründet, dass eine grundrechtlich fundierte staatliche Pflicht zur Errichtung gerade des Betroffenenforums und ein damit korrespondierender Anspruch des Opfers gegen den Staat bestünden. Zudem ändert auch die bessere Geeignetheit des Betroffenenforums auf Rechtsfolgenseite nichts daran, dass die von Reemtsma vorgebrachte, zusätzlich grundrechtlich unterfütterte Argumentation die staatliche Pflicht zu seiner Errichtung wie dargelegt schon auf Rechtsgrundseite nicht fundieren kann. Damit lässt sich aus den Menschenrechten auch keine Schutzpflicht des Staates ableiten, zukünftigen subjektiven Schaden vom Straftatopfer durch die Unrechtfeststellung in einem additiven Betroffenenforum oder durch Bestrafung des Täters im Strafverfahren abzuwenden. Ein Anspruch des Opfers auf Unrechtfeststellung oder Bestrafung kann damit folglich ebenso wenig begründet werden.

III. Unrechtfeststellung als Inhalt eines abwehrrechtlichen Anspruchs Nachdem festgestellt wurde, dass Menschenrechte jedenfalls in ihrer Ausprägung als Schutzgewährleistungen keine staatliche Verpflichtung gegenüber Straftatopfern zu Unrechtfeststellung oder Bestrafung des Täters begründen, soll im Folgenden untersucht werden, ob eine solche Verpflichtung aus der Abwehrfunktion der Menschenrechte hergeleitet werden kann. Weigend hat zuerst die These vorgebracht, dass es die Würde von Straftatopfern schwerer Straftaten verletzen könne, wenn staatliche Organe den angezeigten Vorgang nicht im Rahmen des Möglichen redlich untersuchten oder das Strafgericht den Täter unrechtsunangemessen mild sanktioniere und damit eine Geringschätzung des

158 Vgl. krit. zur Wirkung von Strafrecht zur Stabilisierung von Vertrauen in Verhaltensnormen Harrendorf, ZIS 2007, 486, 488; Weigend, RW 2010, 39, 49 f. Zudem wird bezweifelt, dass ein Recht auf Freisein von Furcht Grundlage für staatliche Eingriffe in die Rechtsgüter Dritter sein könnte, vgl. Robbers, Sicherheit, S. 226. Danach könnte die Bestrafung des Täters, die einen Grundrechtseingriff darstellt, nicht mit dem Recht des Opfers auf Freisein von Furcht legitimiert werden.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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Opfers ausdrücke.159 Deshalb hätten zumindest Opfer schwerer Verbrechen einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass staatliche Organe die Verantwortlichkeit für die Straftat sorgfältig und zügig prüften, das geschehene Unrecht und die Verantwortlichkeit des Täters ggf. formell feststellten und die Tat unrechtsangemessen sanktionierten.160 Der Anspruch auf unrechtsangemessene Sanktionierung sei jedenfalls dann verletzt, wenn Tenor und Begründung eines Urteils eine Geringschätzung des Opfers deutlich machten.161 Tragender Gedanke dieser Argumentation ist, dass staatliches Desinteresse am Schicksal des Opfers und der dadurch konkludent vermittelte Eindruck, das Opfer müsse sich die Tat gefallen lassen bzw. das Opfer sei der staatlichen Aufmerksamkeit nicht wert, dessen in der Menschenwürde verbürgten Achtungsanspruch verletze.162 Wenn diese Prämisse trägt, ließe sie sich grds. auch für die Rechtfertigung des staatlichen Einsatzes für die Errichtung eines additiven Betroffenenforums fruchtbar machen. Das würde zweierlei voraussetzen. Erstens müsste das staatliche Unterlassen, unmittelbar und gezielt gegenüber dem Opfer das Unrecht festzustellen, und das Fehlen einer ausdrücklichen gesellschaftlichen Solidarisierung mit dem Opfer aufgrund des damit zum Ausdruck gebrachten Desinteresses an seinem Schicksal dessen Menschenrechte in ihrer abwehrrechtlichen Ausprägung verletzen. Zweitens müsste der Staat als Rechtsfolge zur Unrechtfeststellung (in einem additiven Betroffenenforum) verpflichtet sein.163 159 Weigend, RW 2010, 39, 51 ff.; zust. Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 659. Zust. noch Hörnle, in: FS Roxin (2011), S. 4, 16; dies., in: Hirsch et al., Strafe – Warum?, S. 11, 27, wenn es keine sachliche Erklärung für die staatliche Untätigkeit gebe; krit. aber dies., JZ 2015, 893, 896. 160 Weigend, RW 2010, 39, 51 ff., der für das deutsche Recht als Anspruchsgrundlage auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Artt. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG abstellt; zust. Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 659. A.A. offenbar noch Weigend, Deliktsopfer, S. 413 Fn. 129 (die öffentliche Strafe diene nicht der Befriedigung von Interessen des Verletzten). Einen Bruch enthält Weigends Argumentation insofern, als er zwar einen Anspruch auf Ermittlung und Sanktionierung bejaht, einen Anspruch auf Anklageerhebung aber ablehnt, S. 52. Geht man davon aus, dass das Unterlassen der Ermittlung die Menschenwürde verletzen kann, muss das Gleiche für die Ablehnung der Anklageerhebung gelten. Denn auch die Ablehnung der Anklage kann die Aussage beinhalten, dass der Vorgang niemanden interessiere, das Opfer sich den Schaden selbst zuzuschreiben habe oder der eigentlich Schuldige sei, was nach Weigend gerade die Menschenwürdeverletzung konstituieren soll, S. 51. 161 Weigend, RW 2010, 39, 53. 162 Der Ansatz von Weigend bleibt in seiner verfassungsrechtlichen Herleitung etwas unscharf und erweckt – soweit ein Anspruch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auf staatliches Tätigwerden begründet wird – den Eindruck, als ginge es Weigend um eine schutzrechtliche Ausprägung der Grundrechte. Dagegen spricht jedoch, dass er selbst die Herleitung eines Bestrafungsrechts aus der grundrechtlichen Schutzpflichtdimension ausdrücklich ablehnt, vgl. S. 50, und auf ein staatliches Verhalten abstellt, das das Persönlichkeitsrecht unmittelbar verletze. Vgl. auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 86. 163 Vgl. auch Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 660, der davon ausgeht, dass u. U. aus dem Aspekt der Achtung der Persönlichkeit und Menschenwürde die staatliche Pflicht zur Unterstützung des Opfers bei der Bewältigung der Tatfolgen und bei der Reintegration in die Gesellschaft folgen könne.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Zu untersuchen ist daher zunächst, ob das Unterbleiben der staatlichen Aufklärung und Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer, oder weitergehend das Unterbleiben eines Schuldspruchs und einer unrechtsangemessenen Sanktionierung des Täters den Anspruch des Opfers auf Achtung seiner Menschenwürde verletzt. Die Menschenwürde ist in Art. 1 GRC als einklagbares Grundrecht verbürgt164 und liegt auch der EMRK als Wert zu Grunde.165 Gem. Art. 1 S. 2 GRC ist die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Inhaltlich umfasst sie den sozialen Wert- und Achtungsanspruch, der einem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommt.166 Sie verbietet damit staatlichen Organen, die Subjektqualität des Einzelnen zu relativieren, z. B. durch Erniedrigung, Demütigung oder Ächtung.167 Angesichts der Unantastbarkeit der Menschenwürde sind Eingriffe generell unzulässig und nicht zu rechtfertigen, was eine restriktive Auslegung der Garantie bedingt.168 Deshalb werden nur staatliche Maßnahmen mit dem notwendigen Gewicht als Eingriffe qualifiziert. Die staatliche Ignoranz einer dem Einzelnen widerfahrenen Straftat müsste folglich in gravierender Weise die Subjektqualität des Opfers in Frage stellen, um eine Verletzung der Menschenwürde zu konstituieren. Weigend argumentiert insoweit unter Bezugnahme auf einen vom BGH im Kontext von Holocaust-Leugnungen formulierten Gedanken169, dass das schwere Schicksal eines Menschen zu einem prägenden Teil seiner individuellen Würde werden könne.170 Ignoriere der Staat ein solches schweres, die Würde prägendes Schicksals, verletze er den Anspruch des Betroffenen auf Achtung seiner Würde. Das Erlebnis der Viktimisierung durch eine schwere gegen die Person gerichtete Straftat sei ein solches die Würde prägendes Schicksal.171 Unterlasse der Staat die redliche Untersuchung einer angezeigten Straftat, die förmliche Feststellung des Opferstatus oder verhänge er ein allzu mildes Urteil, missachte dies die Person des Opfers172 und soll so offenbar dessen Subjektqualität relativieren. Es ist allerdings fraglich, ob das Erlebnis einer kriminellen Viktimisierung tatsächlich ein untrennbar prägender Teil der individuellen Würde eines Menschen 164 Zum Charakter als eigenständiges Grundrecht siehe Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, EU-ABl. 2007 C 303/17; Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 1 Rn. 32 ff.; Jarass, EU-GRC, Art. 1 Rn. 2. 165 EGMR, Urt. v. 29. 4. 2002, App. No. 2346/02, § 65 (Pretty/Vereinigtes Königreich): „The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.“ Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 1 GRC Rn. 25. Ausdrücklich normiert ist die Menschenwürde in der EMRK nicht. 166 Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 1 Rn. 36; Jarass, EU-GRC, Art. 1 Rn. 6. 167 Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 1 Rn. 39; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 1 GRC Rn. 29; Jarass, EU-GRC, Art. 1 Rn. 8. 168 Jarass, EU-GRC, Art. 1 Rn. 12. 169 BGHSt 40, 97, 105. 170 Weigend, RW 2010, 39, 51. 171 Weigend, RW 2010, 39, 52. 172 Weigend, RW 2010, 39, 52 f.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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wird. Die Situation von Opfern des Holocausts ist – wie Weigend selbst bemerkt173 – eine ganz Besondere. Die Annahme, dass ihr durch Kollektivität geprägtes Schicksal, das mit normalen Maßstäben nicht zu erfassen ist, persönlichkeitsprägend sein kann,174 ist damit nicht ohne Weiteres auf die Situation „herkömmlicher“, auch schwerer Kriminalität übertragbar.175 Selbst wenn man dies anders sähe, ist zudem zweifelhaft, dass das bloße Unterlassen der expliziten Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer oder, im Sinne Weigends, das bloße Fehlen der Untersuchung und der angemessenen Bestrafung der Verantwortlichen, stets einer Leugnung des persönlichen Opfer-Schicksals gleichkäme. Zweifelhaft ist also, ob reine staatliche Passivität den Achtungsanspruch der das Opfer-Schicksal umfassenden Menschenwürde verletzen kann.176 Insofern besteht ein qualitativer Unterschied zwischen der reinen Untätigkeit und dem aktiven Leugnen eines Schicksals, das noch dazu, wie im Fall der Aussch-witzlüge, einen nach außen evident herabwürdigenden Charakter hat. Die bloße staatliche Ignoranz einer einem Einzelnen widerfahrenen Straftat greift den Ach-tungsanspruch des Opfers nicht in gleicher Weise an und kann kaum ein vergleichbar demütigendes Gewicht aufweisen wie eine aktive Verleugnung. Zudem kann das Absehen von Strafverfolgung in vielen Fällen auf einem sachlichen, rechtlich normierten Grund beruhen, der nicht im Geringsten in Zusammenhang mit einer Missachtung der Würde des verletzten Opfers steht. Man denke z. B. an die Verjährung der „ignorierten“, zu spät zur Kenntnis der Verfolgungsbehörden gebrachten Tat.177 In der Nichtverfolgung steckt in solchen Fällen keine abfällige, die Subjektqualität angreifende Aussage über das Opfer der Straftat. Eine Verletzung der Menschenwürde durch bloßes Unterlassen der Unrechtfeststellung, strafrechtlichen Untersuchung oder Bestrafung des Verantwortlichen lässt sich daher nicht begründen. Stattdessen erscheinen nur drastische aktive staatliche Handlungen, die das Opfer widerrechtlich und aktiv nach außen demütigen oder erniedrigen, zu einer Relativierung des Achtungsanspruchs des einzelnen Verbrechensopfers tauglich.178 Insoweit ist Weigend zuzustimmen, dass ein Strafurteil, das eine unrechtunangemessene milde Strafe verhängt und im Tenor sowie in der Begründung explizit eine Geringschätzung des Opfers deutlich macht, eine Verletzung des Achtungsanspruchs 173

Weigend, RW 2010, 39, 51. So BGHSt 40, 97, 105: „Untrennbarer Bestandteil der Würde eines Menschen können auch die besonderen Umstände seines Todes sein. Hat er, wie die in den Gaskammern der Konzentrationslager ermordeten Juden, ohne persönliche Schuld, allein auf Grund seiner Abstammung („Rasse“) durch staatlich organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen auf grausame Weise sein Leben verloren, so prägt dieses schwere Schicksal seine individuelle Würde […].“ Siehe auch BGHZ 75, 160, 162 ff. 175 So auch BVerfGK, NJW 1993, 916, 917 (Leugnung anderer durch Verfolgung gekennzeichneter Schicksale als das der Holocaust-Opfer konstituierten daher keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts); vgl. auch BGHZ 75, 160, 162 f. 176 Auch krit. Hörnle, JZ 2015, 893, 896; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 87; Sturm, GA 2017, 398, 402. 177 Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 87. 178 Ähnlich Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 87. 174

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Kap. 4: Normatives Fundament

des Opfers konstituieren kann.179 Solche Fälle dürften praktisch allerdings die Ausnahme bilden. Tendenzen in der Rechtsprechung des EGMR unterstützen die Annahme, dass ein passives Verhalten staatlicher Behörden nach einer Straftat allenfalls in extremen Ausnahmefällen eine menschenrechtliche Abwehrgarantie des konkreten Opfers verletzt. Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass die (gleichgültige) Reaktion und Haltung staatlicher Behörden, denen der Verdacht des Verschwindens einer Person angezeigt wurde, nur unter extremen Bedingungen das in Art. 3 EMRK verbürgte Abwehrrecht des Aufklärung suchenden Angehörigen des Opfers verletzen könne.180 Art. 3 EMRK und der wort- und inhaltsgleiche Art. 4 GRC181 schützen unter anderem vor einer menschenunwürdigen bzw. erniedrigenden Behandlung durch den Staat. Eine (gleichgültige) Reaktion und Einstellung der Ermittlungsbehörden gegenüber den Angehörigen einer verschwundenen Person können laut EGMR solche Qualen auslösen, dass dieses staatliche Verhalten eine eigenständige erniedrigende Behandlung gem. Art. 3 EMRK statuiert. Allerdings sei eine solche Verletzung nur in Ausnahmefällen unter Zusammenschau zahlreicher Faktoren anzuerkennen und erfordere, dass die durch das behördliche Gebaren verursachten Qualen der Angehörigen in Umfang und Charakter über das ohnehin mit der Begehung einer Straftat verbundene Leid hinausgingen.182 179

Weigend, RW 2010, 39, 53. Vgl. nur EGMR, Urt. v. 31. 7. 2012, App. No. 23016/04, §§ 94 ff. (ER u. a./Türkei); Urt. v. 18. 9. 2009, App. No. 16064/90, §§ 200 ff. (Varnava/Türkei); Urt. v. 6. 11. 2008, App. No. 33185/04, §§ 105 ff. (Magamadova/Russland); Urt. v. 17. 2. 2004, App. No. 25760/94, §§ 181 ff. (Ipek/Türkei), jeweils mwN. Siehe auch Paeffgen, in: SK-StPO, Bd. X, Art. 3 EMRK Rn. 46; Satzger, in: SSW-StPO, Art. 3 EMRK Rn. 38. 181 In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, EU-ABl. 2007 C 303/18, wird Art. 4 GRC auf Art. 3 EMRK gestützt mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass Art. 4 GRC gem. Art. 53 Abs. 3 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite wie dem Vorbild in der EMRK zukomme. Deshalb ist auch die zu Art. 3 EMRK ergangene Rechtsprechung des EGMR als wesentliche Rechtserkenntnisquelle bei der Auslegung von Art. 4 GRC heranzuziehen, siehe Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 4 Rn. 1, 3; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 4 GRC Rn. 6; Jarass, EUGRC, Art. 4 Rn. 1. 182 Statt vieler EGMR, Urt. v. 31. 7. 2012, App. No. 23016/04, § 94 (ER u. a./Türkei): „The Court reiterates that the question whether a family member of a ,disappeared person‘ is a victim of treatment contrary to Article 3 of the Convention will depend on the existence of special factors which gives the suffering of the applicant a dimension and character distinct from the emotional distress which may be regarded as inevitably caused to relatives of a victim of a serious human rights violation. Relevant elements will include the proximity of the family tie […] the particular circumstances of the relationship, the extent to which the family member witnessed the events in question, the involvement of the family member in the attempts to obtain information about the disappeared person and the way in which the authorities responded to those enquiries […]. The Court further emphasises that the essence of such a violation does not so much lie in the fact of the ,disappearance‘ of the family member but rather concerns the authorities’ reactions and attitudes to the situation when it is brought to their attention. It is especially in respect of the latter that a relative may claim directly to be a victim of the authorities’ conduct.“ [Hervorhebung im Text nicht iO]. 180

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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Festzustellen ist damit, dass behördliche Gleichgültigkeit nach dem Verschwinden einer Person eine menschenunwürdige bzw. erniedrigende Behandlung der Angehörigen gem. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC darstellen kann.183 In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt die Überlegung, dass es auch das Opfer selbst erniedrigen könnte, wenn die staatlichen Behörden seinem Verlangen nach Untersuchung und Feststellung der Straftat mit gleichgültigem Desinteresse und Passivität begegnen und das Opfer so mit seinem Schicksal allein lassen.184 Allerdings ist bei einer solchen Parallelisierung zu beachten, dass Auslöser der EGMR-Judikatur zur unmenschlichen Behandlung von Angehörigen der Umstand völliger Ungewissheit über das Wohl eines nahen Angehörigen war, wodurch die Sorge um das Familienmitglied in unerträglicher Weise gesteigert wurde.185 Diese besondere Situation unterscheidet sich von der des Opfers einer Straftat, das über die eigene physische und psychische Verfasstheit gerade nicht im Unklaren ist, sondern dessen Qualen sich vor allem daraus ergeben, dass es vergeblich Unterstützung bei der Verarbeitung eines ihm bekannten Geschehens durch staatliche Unrechtfeststellung erstrebt. Damit fehlt eine die menschenunwürdige bzw. erniedrigende Behandlung begründende Komponente in Sachverhalten, in denen das Opfer selbst Aufklärung und Unrechtfeststellung verlangt. Zudem ist zu beachten, dass der EGMR eine erniedrigende Behandlung durch das desinteressierte Verhalten staatlicher Behörden nur bei schwersten Straftaten und bei Hinzukommen besonders erschwerender Umstände angenommen hat.186 Diese Einschränkung wäre folglich auch auf die Situation des Straftatopfers zu übertragen. Nicht jedes staatliche „Desinteresse“ an einer Straftat wäre danach sogleich als menschenunwürdige bzw. erniedrigende Behandlung des jeweiligen Opfers einzustufen. Dies ist auch folgerichtig. Denn auch wenn die Varianten der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung die schwächeren Formen einer Verletzung von Art. 3 EMRK, Art. 4 GRC darstellen, setzen sie dennoch eine staatliche Maßnahme von gewisser Schwere und Intensität voraus.187 Unmenschlich ist eine Behandlung nur dann, wenn sie lange anhält und 183 Diese Rechtsprechung des EGMR ist auch auf Art. 4 GRC zu übertragen, Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 4 Rn. 15; Jarass, EU-GRC, Art. 4 Rn. 5. 184 In diese Richtung Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 89 f., der aus Art. 3 i.V.m. Art. 13 EMRK folgert, dass Opfer besonders schwerer Menschenrechtsverletzungen ein Recht darauf hätten, dass sich staatliche Behörden für das Unrecht interessierten und es aufzuklären versuchten, das Unrecht feststellten, die Verantwortlichen identifizierten und eine unrechtsangemessene Sühne gegen den Täter verhängten. 185 Vgl. Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 4 Rn. 15. 186 Siehe ausdrücklich EGMR, Urt. v. 8. 4. 2004, App. No. 26307/95, § 239 (Tahsin Acar/ Türkei): „Although the inadequacy of the investigation into the disappearance of his brother may have caused the applicant feelings of anguish and mental suffering, the Court considers that, in so far as the applicant has substantiated this claim, it has not been established that there were special factors which would justify finding a violation of Article 3 of the Convention in relation to the applicant himself.“ [Hervorhebung im Text nicht iO]. Ebenso Dearing, in: ders./ Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 85. 187 Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 4 Rn. 16; Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 4 GRC Rn. 10; Meyer-Ladewig/Lehnert, in: NK-EMRK, Art. 3 Rn. 19.

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Kap. 4: Normatives Fundament

intensives physisches oder psychisches Leiden verursacht.188 Dass das Unterlassen einer staatlichen Unrechtfeststellung oder strafrechtlichen Ermittlung und ggf. der Sanktionierung des Verantwortlichen aufgrund des damit zum Ausdruck gebrachten Desinteresses am Schicksal des Opfers tatsächlich derart intensives, anhaltendes psychisches Leiden verursacht, dürfte wohl regelmäßig nicht anzunehmen sein. Eine erniedrigende Behandlung wiederum muss geeignet sein, den Betroffenen bloßzustellen oder herabzuwürdigen, also zu demütigen.189 Dies wird insbesondere dann angenommen, wenn die Behandlung das Opfer entwürdigt, indem sie seine Menschenwürde missachtet oder angreift.190 Insofern ist bereits oben erörtert worden, dass die bloße staatliche Passivität gegenüber dem Opfer diese Schwelle im Regelfall wohl nicht überschreitet. In der Zusammenschau lässt sich damit schlussfolgern, dass das Unterbleiben der staatlichen Untersuchung einer Straftat und der Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer nur bei schwersten Straftaten und nur bei Hinzukommen zusätzlicher, das Opfer konkret erniedrigender Begleitumstände als Verletzung von Artt. 3 EMRK/4 GRC qualifiziert werden kann. Das ist nur in extrem gelagerten Ausnahmefällen denkbar. Dieses Ergebnis zu Artt. 3 EMRK/4 GRC ist aufgrund des Verhältnisses der Menschenwürdegarantie zum Verbot der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung auch im Rahmen von Art. 1 GRC von Relevanz. Denn soweit eine hoheitliche Maßnahme in den Schutzbereich eines spezifischen, die Menschenwürde konkretisierenden Grundrechts fällt, genießt dieses Grundrecht Vorrang vor Art. 1 GRC. Steht in einem konkreten Fall fest, dass eine Maßnahme keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung gem. Artt. 3 EMRK/4 GRC darstellt, kann daher in aller Regel zur Begründung einer Verletzung auch nicht mehr auf die allgemeine Menschenwürdegarantie zurückgegriffen werden.191 Neben der Frage, ob das Unterlassen einer Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer bzw. das Unterlassen strafrechtlicher Ermittlungen und Sanktionierung des Täters tatbestandlich eine Verletzung menschenrechtlicher Abwehrgarantien konstituieren kann, ist weiterhin zu hinterfragen, ob sich die aus einer solchen Verletzung gefolgerte Rechtsfolge bruchlos in die Grundrechtsdogmatik einfügen lässt. Nach den Befürwortern einer Verletzung der Abwehrgarantie soll das Opfer als Rechtsfolge einen Anspruch auf Durchführung der Ermittlungen, Feststellung des Opfer-

188 Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 4 Rn. 16; Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 4 GRC Rn. 8, 10; Jarass, EU-GRC, Art. 4 Rn. 9; Meyer-Ladewig/Lehnert, in: NK-EMRK, Art. 3 Rn. 22. 189 Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 4 Rn. 16; Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 4 GRC Rn. 9; Jarass, EU-GRC, Art. 4 Rn. 9; Meyer-Ladewig/Lehnert, in: NK-EMRK, Art. 3 Rn. 22. 190 Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 4 GRC Rn. 8; Meyer-Ladewig/Lehnert, in: NK-EMRK, Art. 3 Rn. 22. 191 Borowsky, in: Meyer, EU-GRC, Art. 1 Rn. 33; Heyde, in: EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights, Commentary EU-GRC, Art. 1 S. 29.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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status und (unrechtsangemessene) Bestrafung des Täters haben.192 Als Primärrechtsfolge einer Verletzung von Menschenrechten in ihrer abwehrrechtlichen Dimension wird folglich ein Anspruch des Grundrechtsberechtigten auf aktives staatliches Tun konstruiert. Grundsätzlich sind Menschenrechte in ihrer Abwehrfunktion jedoch durch einen Monismus der Rechtsfolge gekennzeichnet und auf ein Unterlassen des fortdauernden staatlichen Schutzbereichseingriffs, der durch aktives staatliches Verhalten erfolgt, gerichtet.193 Ein Abwehranspruch wird also typischerweise durch schlichtes Unterlassen des Eingriffs erfüllt. Einen primären Anspruch auf staatliches Tätigwerden verbürgen Grundrechte hingegen in der Regel nur in den engen Grenzen ihrer Schutz- und Leistungsgewährungsfunktionen.194 Die sind hier aber beide gerade nicht Ausgangspunkt der Überlegungen. Daneben kann aus der abwehrrechtlichen Komponente nur ein Hilfsanspruch abgeleitet werden, der auf die Beseitigung der Folgen eines Eingriffs durch aktives Tun gerichtet ist.195 Für die hier diskutierte Sachverhaltskonstellation bedeutet dies, dass die Unrechtfeststellung bzw. Verfolgung und Bestrafung des Täters nur über eine Art Folgenbeseitigung eines Eingriffs durch Unterlassen – gleichsam über eine Verdrehung der abwehrrechtlichen Garantie – konstruiert werden könnte. Vielleicht ist es die Einsicht in diese Schwäche der Argumentation über die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte, die Weigend dazu bewegt, festzustellen: „Eine Verletzung dieses Anspruchs [auf unrechtsangemessene Sanktionierung des Täters] mit Grundrechtsrelevanz ist freilich nur dann denkbar, wenn das Urteil – ausnahmsweise – durch Tenor und Begründung eine Geringschätzung des Opfers deutlich macht.“196 In diesem Sonderfall läge zumindest ein aktives eingreifendes staatliches Verhalten – die ausdrückliche Geringschätzung des Opfers durch Aussagen im Urteil – vor, das als Primärrechtsfolge unterlassen werden könnte.197 Wirklich zu überzeugen vermag die Ableitung eines Anspruchs auf Unrechtfeststellung bzw. Verfolgung und Bestrafung des Täters als Rechtsfolge der abwehrrechtlichen Komponente der Menschenrechte dogmatisch jedenfalls nicht.

192 Dearing, in: ders./Löschnig-Gspandl, Opferrechte in Österreich, S. 81, 89 f.; Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 659 f.; Weigend, RW 2010, 39, 51 ff. 193 Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 63, 67, 71, 114; Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, § 5 Rn. 4; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 381 ff. 194 Cremer, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 1 Rn. 63, 65, 77 ff., 97 ff.; Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, § 5 Rn. 8 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 383. 195 Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, § 5 Rn. 4; Kingreen/Poscher, Grundrechte, § 4 Rn. 124. 196 Weigend, RW 2010, 39, 53; bestätigt ders., in: FS Streng (2017), S. 781, 790. 197 Nicht ganz einsichtig ist allerdings trotzdem, wie aus der unrechtsunangemessenen Bestrafung als Eingriff ein Anspruch aus der abwehrrechtlichen Grundrechtsgarantie auf unrechtsangemessene Bestrafung resultieren soll, der dann nur verletzt sein soll, wenn das Urteil mit der unrechtsunangemessenen Sanktionierung das Opfer zusätzlich erniedrigt. Insofern bleibt Weigends Herleitung insgesamt verschwommen.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Insgesamt ergeben sich damit auch aus der Abwehrfunktion der Menschenrechte im Regelfall keine Verpflichtung des Staates und kein allgemeiner Anspruch aller Straftatopfer auf staatliche Unrechtfeststellung und Solidarisierung. Gleiches gilt für einen Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung und Bestrafung des Täters.

IV. Pflicht zur Unrechtfeststellung aus dem Rechtsstaatsprinzip Des Weiteren ist auf nationaler Ebene erwogen worden, aus dem Rechtsstaatsprinzip einen Anspruch des Straftatopfers gegen den Staat auf Unrechtfeststellung und Bestrafung des Täters herzuleiten.198 Das Rechtsstaatsprinzip zählt gem. Art. 2 S. 2 EUV und Absatz 2 der Präambel der GRC auch zu den Werten, auf die sich die EU gründet, und ist als Grundsatz allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemein.199 Damit ist es nicht a priori verfehlt, den aus diesem Prinzip hergeleiteten Begründungsansatz auf seine Tragfähigkeit für ein Engagement der EU für Straftatopfer zu untersuchen. Die These zum Rechtsstaatsprinzip als Anspruchsgrundlage wird damit begründet, dass Straftatopfer ein legitimes Interesse an einer Bestrafung des Täters hätten. Dieses Interesse sei auf Genugtuung gerichtet und erfordere, dem Opfer zu bestätigen, dass ihm Unrecht und kein Unglück zugestoßen sei. Das staatliche Gewaltmonopol untersage dem Opfer jedoch, selbst auf die Verletzung seiner individuellen Rechte zu reagieren und so seine emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Als Kompensation für diese aus dem Gewaltmonopol resultierende Zurückhaltungspflicht sei der Staat verpflichtet, schwere Straftaten strafrechtlich zu verfolgen und durch die Kriminalstrafe die Befriedigung des Genugtuungsinteresses des Opfers zu ermöglichen.200 Das Gewaltmonopol seinerseits sei Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, weshalb das Rechtsstaatsprinzip die staatliche Pflicht zur Befriedigung des Genugtuungsinteresses mittels Kriminalstrafe begründe. Wenn somit eine staatliche Verpflichtung zur Befriedigung von Genugtuungsinteressen des 198 Hörnle, JZ 2015, 893, 895 f. I. E. lässt sie dies allerdings offen. Dort auch zu den folgenden Ausführungen. Kintzi, DRiZ 1998, 65, 66, leitet aus dem Rechtsstaatsprinzip zumindest einen Anspruch des Opfers auf eine Position als selbstständiger Verfahrensbeteiligter ab. In diese Richtung scheint neuerdings auch Weigend, in: FS Streng (2017), S. 781, 790 ff., zu tendieren: Weil das Straftatopfer immateriellen Ausgleich für die erlittenen Verletzungen nur durch staatliches Handeln erlangen könne, verfüge es über einen im Rechtsstaatsprinzip verankerten Justizgewährungsanspruch. Weil der Gesetzgeber außerdem durch die Kombination von § 158 Abs. 1 StPO und § 172 StPO das besondere Interesse des Verletzten an der ordnungsgemäßen, auf Verurteilung des Schuldigen gerichteten Verfahrensdurchführung rechtlich anerkannt habe, könne der Verletzte eine ernsthafte Verfolgung der Tat und ggf. eine ordnungsgemäße Entscheidung über die Sanktionierung des Schuldigen verlangen. Gegen diese Theorie sprechen indes die im Text genannten Argumente. Zudem ist nicht belegt, dass §§ 158 Abs. 1, 172 StPO subjektiven Interessen des Verletzten dienen sollen, vgl. auch Kap. 3 A III 1 a) cc). 199 Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 2 EUV Rn. 25 f. 200 Hörnle, JZ 2015, 893, 896.

A. Verfassungsrechtlich fundierte Ansätze

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Opfers durch Strafverhängung bestehe, sei insoweit unter Umständen auch ein mit der staatlichen Verpflichtung korrespondierendes subjektives Recht des Opfers auf effektive Strafverfolgung begründbar.201 Gegen diesen Vorschlag sind jedoch verfassungsrechtliche Bedenken zu erheben: Die Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip als Anspruchsgrundlage überzeugt nicht, weil das Rechtsstaatsprinzip als objektiv-rechtliche Gewährleistung allenfalls grundrechtliche Ansprüche verstärken, nicht aber begründen kann.202 Zu weiteren staatstheoretischen und rechtshistorischen Einwänden gegen die Argumentation sei zudem auf Kap. 4 B verwiesen. Insgesamt kann bereits hier festgehalten werden, dass sich der Staat das Gewaltmonopol und die Strafverfolgungspflicht nicht auf Kosten eines Strafanspruchs des Opfers verschafft hat und dem Opfer nicht die Bestrafung schuldet. Insofern vermag auch dieser Ansatz keinen verfassungsrechtlichen Anspruch des Opfers auf Unrechtfeststellung oder weitergehend auf Bestrafung zu begründen.

V. Ergebnis Es mag moralisch und rechtspolitisch legitim sein, zu fordern, dass der Staat Straftatopfer bei der Viktimisierungsbewältigung unterstützt, ihnen gegenüber auf Wunsch das Unrecht symbolisch feststellt und ihnen gesellschaftliche Solidarität vermittelt. Eine verfassungsrechtlich fundierte staatliche Verpflichtung dazu bzw. ein entsprechender grundrechtlicher Anspruch des Opfers bestehen jedoch nicht. Gleiches gilt für den mitunter postulierten Anspruch des Opfers gegen den Staat auf strafrechtliche Ermittlungen und ggf. Bestrafung „seines“ Täters: Auch hierfür lässt sich kein verfassungsrechtliches Fundament konstruieren. Insofern hat die vorhergehende Analyse gezeigt, dass die Menschenrechte weder in ihrer Funktion als Schutzverpflichtungen noch in ihrer Ausprägung als abwehrrechtliche Garantien derartige generalisierbare staatliche Pflichten bzw. individuelle Ansprüche des Straftatopfers zu begründen vermögen.203 Gleiches gilt für die Prozessgrundrechte, Art. 6 EMRK, Art. 47 GRC. Sie können Straftatopfern erst dann 201 Hörnle, JZ 2015, 893, 896. I. E. lässt Hörnle die Frage des Rechtsstaatsprinzips als Ursprung eines subjektiven Rechts offen. In Straftheorien, S. 42, bejaht sie ein subjektives Recht auf effektive Strafverfolgung aus einer „umgewandelten staatlichen Schutzpflicht“. 202 Gärditz, JZ 2015, 896, 899 (Fn. 35) mwN zum verfassungsrechtlichen Schrifttum. Siehe mit weiteren Argumenten gegen ein Abstellen auf Art. 20 Abs. 3 GG auch Holz, Justizgewähranspruch, S. 61. 203 Die Untersuchung hat aber zugleich verdeutlicht, dass Staaten andere verfassungsrechtliche Pflichten, auch gegenüber Straftatopfern, im Spannungsfeld der Strafverfolgung haben. Z. B. müssen Staaten im Allgemeininteresse, und damit auch für das individuelle Opfer als Teil der Allgemeinheit, einen funktionierenden Strafverfolgungsapparat unterhalten, in einem fairen Strafverfahren die Rechte des Angeklagten/Verurteilten und weiterer Beteiligter – etwa Opferzeugen – wahren und dürfen nicht den Anspruch des Opfers auf Achtung seiner Menschenwürde durch erniedrigendes Verhalten verletzen.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Ansprüche vermitteln, wenn überhaupt ein Verfahren geführt wird, an dem das Opfer mit einem eigenen Interesse beteiligt ist oder beteiligt werden müsste. Solange aus materiellem Recht kein Anspruch des Opfers auf Unrechtfeststellung oder weitergehend auf strafrechtliche Ermittlungen oder Bestrafung folgt, können Prozessgrundrechte weder einen unmittelbaren Zugang zu einem Verfahren verschaffen noch selbst einen materiellen Anspruch auf Durchführung eines Verfahrens oder auf ein Verfahrensergebnis – etwa Unrechtfeststellung – vermitteln.204 Schließlich lässt sich eine solche staatliche Verpflichtung auch nicht unter Berufung auf allgemeine Verfassungsprinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip begründen. Die gesetzgeberische Entscheidung über die Errichtung eines additiven Betroffenenforums ist folglich nicht verfassungsrechtlich prädeterminiert. Der rechtspolitischen Legitimität der Forderung danach tut dies keinen Abbruch. Vielmehr wohnt dem Bestreben, jede kriminalpolitisch für wünschenswert erachtete Regelung auf eine verfassungsrechtliche Grundlage zu stellen und ihr so den Anstrich von Unumstößlichkeit zu verleihen, die genuine Gefahr des Missbrauchs von Verfassungswerten inne. Man sollte diesem Bestreben nicht leichtfertig durch ein „Hineininterpretieren“ von Regelungen in verfassungsrechtliche Vorgaben nachgeben.205 Denn dies entwertet nicht nur allgemein das Argument einer verfassungsrechtlichen Garantie, sondern belastet auch konkret den an sich wünschenswerten Vorschlag. Zudem würde ein Alternativsystem wie das additive Betroffenenforum keine Konflikte mit Rechten anderer – vor allem nicht eines potentiellen Beschuldigten oder Täters – auslösen, weil es konzeptionell keinen Vorwurf und auch keine Sanktion gegen einen Dritten verhängen soll.206 Aus abwehrrechtlicher Perspektive erfordert seine Umsetzung daher keine verfassungsrechtliche Grundlage zur Rechtfertigung etwaiger Grundrechtseingriffe. Dies unterscheidet die Forderung nach Unrechtfeststellung und Unterstützung des Straftatopfers im additiven Betroffenenforum wesentlich von der Forderung nach Anerkennung eines individuellen Anspruchs des Opfers auf strafrechtliche Ermittlungen und die Bestrafung „seines“ Straftäters. Die Anerkennung eines Anspruchs auf Bestrafung würde, wie gezeigt, Grundlage und Struktur der Strafverfolgung grundlegend ändern und hätte unmittelbare Auswirkungen auf die Stellung des Beschuldigten, Angeklagten bzw. verurteilten Täters.207 Die Anerkennung dieses Anspruchs sollte daher nur unter der Prämisse erfolgen, 204 Aus Art. 6 EMRK folgt daher nach allg. Ansicht auch kein Recht auf Bestrafung eines Dritten, siehe z. B. EGMR, Urt. v. 12. 2. 2004, App. No. 47287/99, § 70 (Perez/Frankreich); Esser, in: LR-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 63, 69; ders., Strafverfahrensrecht, S. 805, 816. Zu Art. 47 GRC, der ebenfalls kein Recht auf Strafverfolgung und Verurteilung eines Dritten vermittelt, siehe EuGH, 21. 12. 2011, Rs. C-507/10 (XX), Slg. 2011 I-14241 Rn. 43. A.A. ohne Begründung FRA, Victims of crime in the EU, S. 30. – Vgl. ebenso im parallel gelagerten Kontext von Artt. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 88; Weigend, RW 2010, 39, 50 f. A.A. im Kontext von Art. 103 Abs. 1 GG, allerdings ohne Begründung, Walther, GA 2007, 615, 617 f. 205 So explizit auch in diesem Kontext Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 660. 206 Siehe dazu Kap. 3 E und ausführlich Kap. 5 B I 1. 207 Vgl. die Ausführungen oben Kap. 3 B.

B. Staatstheoretischer Ansatz

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dass sie zwingend verfassungsrechtlich geboten ist. Diese Prämisse hat sich jedoch gerade nicht bestätigt. Daraus folgt des Weiteren, dass die EU primärrechtlich nicht verpflichtet ist, in Anlehnung an entsprechende Forderungen in der Literatur ein Recht des Opfers auf Bestrafung samt der daraus folgenden Konsequenzen für das Strafjustizsystem anzuerkennen und auf seine Umsetzung in den Mitgliedstaaten hinzuwirken. Dies entspricht im Übrigen der auch bisher vom EuGH vertretenen Ansicht, dass der Strafanspruch den Mitgliedstaaten selbst und nicht dem Opfer zuzuordnen ist.208 Damit verbunden ist schließlich zugleich die wichtige Erkenntnis, dass die Mitgliedstaaten mit der Errichtung eines additiven Betroffenenforums ihren etwaigen gegenüber Straftatopfern bestehenden Verpflichtungen grundsätzlich nachkommen könnte und nicht darüber hinausgehend einen subjektiven Verfolgungs- und Bestrafungsanspruch des Opfers in das öffentliche Strafjustizsystem integrieren müssten. Dass verfassungsrechtliche Vorgaben nicht zur Errichtung eines additiven Betroffenenforums verpflichten, bedeutet schließlich nicht, dass es hierfür keine andere theoretische Begründung geben könnte, die über ein reines Gerechtigkeitsempfinden oder Moral hinausgeht. Dem wird im Folgenden weiter nachgegangen.

B. Staatstheoretischer Ansatz: Gewaltmonopol und Opferwerdung Nachdem verfassungsrechtliche Vorgaben zur Begründung einer staatlichen Verpflichtung zur Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer ausscheiden, sollen im Folgenden theoretische, partiell dem positiven Recht vorgelagerte Begründungsmodelle darauf untersucht werden, ob sie die Forderung nach staatlichem Engagement für das Opfer durch Unrechtfeststellung zu untermauern vermögen. Begonnen wird mit der Untersuchung eines staatstheoretischen Begründungsmodells. So könnte man erwägen, ob das staatliche Gewaltmonopol zugleich eine staatliche „Fürsorge“-Pflicht für Opfer von Straftaten begründet.209 Das Gewaltmonopol wird definiert als „die alleinige Legitimität des Staates, physische Gewalt im Rahmen des geltenden Rechts auszuüben und anzudrohen

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EuGH, 15. 09. 2011, Rs. C-483/09 u. C 1/10 (Gueye u. Sánchez/Spanien), Slg. 2011 I-8263 Rn. 61. 209 In diese Richtung argumentieren z. B. Herman, Parallel Justice, S. 2; Manikis, Ohio St. J. Crim L. 13 (2015), 163, 185; Jerouschek, JZ 2000, 185, 193 (Bestrafung als Minus zur geschuldeten Verhinderung der traumatisierenden Tat); Spinellis, Isr. L. Rev. 31 (1997), 337, 338; wohl auch Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 221; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 49 (der Staat sei zur Opferunterstützung verpflichtet, weil er die Straftat nicht verhindert habe, ohne Bezug auf das Gewaltmonopol). Siehe auch Shapland, Brit. J. Criminol. 24 (1984), 131, 138.

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Kap. 4: Normatives Fundament

[…]“210. Dem liegt das staatstheoretische Konzept zugrunde, dass der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols zugleich Hüter von Recht und Ordnung ist.211 Die Übertragung des Gewaltmonopols auf den Staat durch die Bürger ist demnach getragen von dem Vertrauen darauf, dass der Staat dieses Monopol zu ihrem Schutz nutzt. Daraus ließe sich zugleich die Verpflichtung des Staates ableiten, den Einzelnen vor Straftaten zu schützen. Denn eine Straftat ist, anders als z. B. eine Umweltkatastrophe, kein zufälliges Ereignis, sondern ein bewusster Angriff eines Bürgers auf die Rechtsgüter bzw. Interessen eines anderen. Verhindert der Staat die Tat nicht, enttäuscht er damit das Vertrauen des Bürgers auf staatlichen Schutz. Als Kompensation für die Verletzung des gesellschaftsvertraglichen Gegenseitigkeitsverhältnisses könnte der Staat verpflichtet sein, dem Betroffenen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen bei der Bewältigung des Geschehens beizustehen. Die Einsetzung eines additiven Betroffenenforums könnte als Erfüllung dieser Verpflichtung zur Erbringung von Wiedergutmachungsmaßnahmen angesehen werden. Diese Sicht ließe sich noch untermauern mit einer Parallelbetrachtung zur Strafverfolgung: Aus dem Gewaltmonopol resultiert – zumindest im deutschen Recht212 – auch das Legalitätsprinzip, das Staatsanwaltschaft und Polizei als Träger des Gewaltmonopols bei Anfangsverdacht einer Straftat verpflichtet, die (vermeintliche) Tat aufzuklären und zur Anklage zu bringen.213 Wenn damit aus der Übertragung des Gewaltmonopols die staatliche Pflicht zur Strafverfolgung im Verhältnis Gesellschaft-Täter folgt, könnte man parallel hierzu die Pflicht zu einer Reaktion im Verhältnis Gesellschaft-Opfer in Form eines Unterstützungssystems konstruieren. In der Vergangenheit sind derartige staatstheoretische Überlegungen zur Begründung für die Errichtung von Opferunterstützungssystemen bereits fruchtbar gemacht worden. Der Erlass des deutschen Opferentschädigungsgesetzes im Jahr 1976 etwa wurde auf die Begründung gestützt, dass der Staat, wenn ihm die Verhinderung eines Gewaltverbrechens misslinge, als Kehrseite des von ihm über-

210

Weber. 211

Schwind, Kriminologie, § 18 Rn. 33, in Anlehnung an Polizeilexikon 1995, 238 und Max

Theorien zum Gesellschaftsvertrag finden sich in zahlreichen staatstheoretischen Schriften, z. B. bei Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Zur Möglichkeit zumindest nach Hobbes’ Theorie vom Gesellschaftsvertrag die Pflicht des Staates zur Unterstützung des Opfers aus dem staatlichen Versagen herzuleiten, seine aus dem Gesellschaftsvertrag resultierenden Pflichten zu erfüllen, siehe Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 9 Fn. 8; für eine Herleitung mit Bezugnahme auf John Rawls’ Theorie siehe Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 104, sich anschließend auf S. 107. 212 Siehe § 152 Abs. 2 StPO. 213 Zur Folge des Legalitätsprinzips aus dem Gewaltmonopol, siehe Schwind Kriminologie, § 18 Rn. 33.

B. Staatstheoretischer Ansatz

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nommenen Gewaltmonopols verpflichtet sei, das Opfer der Tat zu unterstützen.214 Der gleiche Begründungsansatz wird im englischen und US-amerikanischen Recht diskutiert, um eine staatliche Pflicht zur Entschädigung von Straftatopfern herzuleiten.215 Und ebenso rechtfertigt Herman, eine US-amerikanische Verfechterin eines stärkeren staatlichen Einsatzes für Verbrechensopfer außerhalb des Strafverfolgungskontexts, ihr Parallel Justice-Konzept mit der Überlegung, dass eine Straftat eine Verletzung des Gesellschaftsvertrags darstelle und damit eine Verpflichtung der Gesellschaft begründe, Gerechtigkeit für das Opfer herzustellen.216 Wer die staatliche Beistandsverpflichtung auf diese Weise staatstheoretisch fundiert, legt allerdings zugleich implizit – und wie es scheint teils unbedacht – drei nicht unproblematische Prämissen zugrunde. Denn wie Reemtsma es ausdrückt, „wer Honig will, will Bienen“217. Erste Prämisse dieser Herleitung ist, dass der Staat aus dem Gewaltmonopol verpflichtet wäre, jegliche Straftaten zu verhindern und für absolute Sicherheit zu sorgen.218 Daraus erst könnte als zweite Prämisse folgen, dass jede Straftat eine kompensationspflichtbegründende staatliche Pflichtverletzung darstellte.219 Diese beiden Voraussetzungen zusammen bedingen die dritte Prämisse, nämlich wie allmächtig ein Staat für die Geltung der beiden ersten Prämissen ausgestaltet und mit welchen umfassenden Mitteln er ausgestattet sein müsste. Denn eine staatliche Verpflichtung zur Verhinderung jeder Straftat kann nur dann angenommen und an ihre Verletzung können nur dann Haftungsfolgen geknüpft werden, wenn der Staat über die notwendigen Ressourcen verfügt, um diese Verpflichtung überhaupt erfüllen zu können. Dies entspricht dem Grundsatz, dass jede Haftung wegen Unterlassens die tatsächliche Möglichkeit zur Erfolgsabwendung voraussetzt.220 Vergleichbar steht auch die verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates unter einem Vorbehalt des Möglichen.221 Ein Staat aber, der überall und jederzeit 214 BT-Drucks. 7/2506, S. 7, 10; zust. BSGE 49, 104, 105; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 365 f.; Walther, GA 2007, 615. Deskriptiv dazu Schädler, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 51, 52 f. 215 Zu England siehe Miers, State Compensation, S. 4. Zu den USA Karmen, Crime Victims, S. 442. 216 Herman, Parallel Justice, S. 2. Sie untermauert ihr Konzept zusätzlich mit kriminalpolitischen Überlegungen, S. 3, 16, 25 f. Ausführlich zu Herman siehe Kap. 5 A II. 217 Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 9 Fn. 8. 218 Zu Recht krit. zu einer staatlichen Pflicht zur Gewährleistung absoluter Sicherheit Isensee, in: HStR, Bd. IX, § 191 Rn. 275; Lagodny, Strafrecht, S. 259. Ebenso EGMR, Urt. v. 26. 3. 2013, App. No. 33234/07, § 75 (Valiuliené/Litauen): „[T]he obligation on the State under Article 1 of the Convention cannot be interpreted as requiring the State to guarantee through its legal system that inhuman or degrading treatment is never inflicted by one individual on another […].“ 219 Dies bejaht Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 49, allerdings ohne sich mit den aus ihrer These folgenden Konsequenzen auseinander zu setzen. 220 Dieser Grundsatz ist z. B. in der allgemeinen Strafrechtslehre allgemein anerkannt, siehe statt vieler Fischer, StGB, § 13 Rn. 77; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 616 f. 221 Esser, in: LR-StPO, Art. 1 EMRK Rn. 48; Isensee, in: HStR, Bd. IX, § 191 Rn. 274.

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Kap. 4: Normatives Fundament

jedes Verbrechen verhindern kann, müsste auch überall und jederzeit alle Geschehnisse überwachen und mit akuter Eingriffsmöglichkeit präsent sein. Nur so könnte absoluter Schutz gewährleistet werden. Das wäre aber weder faktisch machbar noch rechtlich möglich.222 Zu groß wären die damit verbundenen Kosten für die grundrechtlichen Freiheiten aller Bürger. Denn die Ausübung von positivem Schutz durch den Staat im Verhältnis von Bürgern untereinander ist ein zweischneidiges Schwert.223 Während sie die Grundrechtspositionen des einen Bürgers vor Eingriffen des anderen schützt, beschränkt sie zumeist zugleich Grundrechte desjenigen, gegen dessen Handlung sich die Schutzmaßnahme richtet. Auch dessen Freiheitsrechte zu schützen ist der Staat aber aufgrund der negativen Abwehrfunktion von Grundrechten grds. verpflichtet. Deshalb muss stets ein Ausgleich zwischen Schutzinteressen und Abwehrrechten erfolgen, der zugleich der Gewährung absoluten Schutzes entgegen steht.224 Zudem wäre bereits die bloße Annäherung an einen solchen Zustand des totalen Überwachungsstaates aus freiheitlicher Bürgersicht unerträglich.225 Um im Bild des Gesellschaftsvertrages zu bleiben, bedeutet dies: Es wäre wohl unmöglich, einen Konsens unter den Vertragsschließenden darüber zu erzielen, für die Gewinnung absoluter Sicherheit derart weitgehend kollektiv die eigene Freiheit preiszugeben. Wenn aber für den Staat gar nicht die Möglichkeit besteht bzw. geschaffen werden kann und soll, jegliche Straftaten zu verhindern, kann das auch nicht in legitimer Weise von ihm verlangt werden. Darum kann mit der Übertragung des Gewaltmonopols nur die staatliche Pflicht verbunden sein, überhaupt Strafnormen aufzustellen und ein funktionierendes Strafverfolgungssystem zu unterhalten,226 nicht aber die Pflicht zur absoluten Verhinderung jeglicher Straftaten. In der Konsequenz stellt die Nichtverhinderung einer Straftat deshalb im Regelfall auch keine Verletzung einer mit dem Gewaltmonopol übernommenen Verpflichtung dar und kann in der Folge keine gesellschaftsvertraglichen Kompensationspflichten auslösen.

222 Isensee, in: HStR, Bd. IX, § 191 Rn. 275 f., der darauf hinweist, dass nicht einmal totalitäre Staaten in der Lage seien, absolute Sicherheit zu garantieren; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 84; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 150; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 365. Zur faktischen Unmöglichkeit auch Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 549, 657. – Nach Miers, State Compensation, S. 4, kennt auch das Common Law keine solche absolute Verfolgungspflicht. 223 Lazarus, University of Oxford Legal Research Paper Series, Paper No. 41/2013, S. 16. 224 Ausführlich Lazarus, University of Oxford Legal Research Paper Series, Paper No 41/ 2013, S. 24 ff.; siehe auch Dröge, Verpflichtungen, S. 50. 225 Ebenso ablehnend Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 133, 136; Reemtsma, Was sind eigentlich Opferinteressen?, S. 4; ders., Recht auf Bestrafung, S. 9 Fn. 8, S. 23; Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51, 67 (Fn. 68). 226 EGMR, Urteil v. 26. 03. 1985, App. No. 8978/80, §§ 23, 27 (X u. Y./Niederlande); zur EGMR-Rspr. siehe Dröge, Verpflichtungen, S. 84; Holz, Justizgewähranspruch, S. 53; Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, S. 73. Zur Herleitung zwingender Verhaltensnormen aus dem Gewaltmonopol und daraus folgend zwingender strafrechtlicher Sanktionsnormen Lagodny, Strafrecht, S. 263 ff., 449.

B. Staatstheoretischer Ansatz

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Diese Argumentation steht in Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, der ebenfalls keine absolute positive Pflicht von Staaten annimmt, Straftaten Privater gegen Dritte zu verhindern.227 Basierend auf der Grundannahme, dass Staaten gem. Art. 2 Abs. 1 EMRK verpflichtet sind, das Leben umfassend zu schützen, geht der Gerichtshof zwar davon aus, dass diese Schutzverpflichtung im Einzelfall mehr umfassen könne als die Pflicht, abschreckende Strafnormen aufzustellen und einen effektiven Strafverfolgungsapparat zu unterhalten. Vielmehr könne Art. 2 Abs. 1 EMRK in Ausnahmefällen verlangen, dass staatliche Behörden konkrete präventive Maßnahmen unternähmen, um das Leben eines Bürgers vor einer Straftat durch einen anderen Bürger zu schützen.228 Zugleich legt der EGMR aber großen Wert darauf, diese konkrete Pflicht zur Verhinderung von Straftaten im Einzelfall eng zu begrenzen:229 In Anbetracht der Schwierigkeiten, in modernen Gesellschaften für Recht und Ordnung zu sorgen, der Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens und der Beschränktheit von Ressourcen dürfe den Behörden zum einen mit der Verpflichtung zur Verhinderung von Straftaten keine unmögliche oder unverhältnismäßige Bürde auferlegt werden. Nicht jede Gefahr könne verhindert werden. In diesen Ausführungen spiegelt sich der oben angeführte Einwand einer schon rein faktischen Limitierung der Möglichkeit des Staates, für absolute Sicherheit zu sorgen. Zum anderen gibt der Gerichtshof zu bedenken, dass die Möglichkeit des Staates zur Verhinderung von Straftaten unter dem Vorbehalt der Einhaltung weiterer Konventionsgarantien stehe, wie etwa Artt. 5, 6, 8 EMRK. Das entspricht der obigen Annahme, dass die Gewährung absoluter Sicherheit aufgrund der damit verbundenen hohen Kosten für die grundrechtlichen Freiheiten auch rechtlich nicht möglich ist. Insgesamt stellt der EGMR damit hohe Anforderungen an eine staatliche Verpflichtung, eine konkrete Straftat zu verhindern, und nimmt einen Verstoß gegen diese nur an, wenn „[…] the authorities knew or ought to have known at the time of the existence of a real and immediate risk to the life of an identified individual or individuals from the criminal acts of a third party and that they failed to take measures within the scope of their powers which, judged reasonably, might have been expected to avoid that risk.“230 Damit existiert auch nach der EGMR-Judikatur keine staatliche Pflicht, für absolute Sicherheit zu sorgen und jede Straftat zu verhindern. 227

Grundlegend EGMR, Urt. v. 28. 10. 1998, App. No. 23452/94, §§ 115 ff. (Osman/Vereinigtes Königreich); siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn. 18 mwN. Diese Ansicht wird in der Literatur im Wesentlichen geteilt, vgl. Altermann, Ermittlungspflichten, S. 132. 228 EGMR, Urt. v. 28. 10. 1998, App. No. 23452/94, § 115 (Osman/Vereinigtes Königreich): „It is thus accepted by those appearing before the Court that Article 2 of the Convention may also imply in certain well-defined circumstances a positive obligation on the authorities to take preventive operational measures to protect an individual whose life is at risk from the criminal acts of another individual.“ Zu dem relevanten nationalen Recht in England Sanders/Young/ Burton, Criminal Justice, S. 727 ff. 229 EGMR, Urt. v. 28. 10. 1998, App. No. 23452/94, § 116 (Osman/Vereinigtes Königreich). Siehe hierzu auch Esser, Strafverfahrensrecht, S. 108 f. 230 EGMR, Urt. v. 28. 10. 1998, App. No. 23452/94, § 116 (Osman/Vereinigtes Königreich). Zur sehr eingeschränkten Annahme des EGMR von generellen Schutzpflichten gegenüber der

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Kap. 4: Normatives Fundament

Die Argumentation, der Staat müsse Straftatopfer als Kompensation für die Verletzung einer im Gegenzug für die Übertragung des Gewaltmonopols übernommenen Verpflichtung unterstützen, scheitert damit bereits daran, dass mit der Übernahme des Gewaltmonopols keine absolute Schutzpflicht verbunden ist. Das auf staatstheoretischen Erwägungen basierende Begründungsmodell vermag daher keine staatliche Verpflichtung zur alternativen Unterstützung von Straftatopfern zu begründen.

C. Straftheoretischer Ansatz: Strafzwecke Weiterhin ließe sich in Betracht ziehen, das theoretische Fundament für den staatlichen Einsatz, Straftatopfer mittels Unrechtfeststellung zu unterstützen, in der Straftheorie, konkret in den Strafzwecken zu suchen. So findet eine noch relativ junge und stärker im deutschen als im englischen Rechtsraum verbreitete rechtswissenschaftliche Diskussion dazu statt, ob das Interesse des Opfers an der Unrechtfeststellung in den Strafzwecktheorien repräsentiert werden könne bzw. müsse.231 Allerdings ist ein prägendes Charakteristikum des hier antizipierten alternativen Modells, dass die Unterstützung von Opfern qua Unrechtfeststellung in einem additiven Betroffenenforum mit dem Strafverfahren gerade nicht konzeptionell verbunden ist und auch nicht auf ein Urteil über das Verhalten des Täters abzielt. Es stünde in direktem Widerspruch zu diesem Charakteristikum des Alternativsystems, die Begründung für seine Errichtung gerade aus den mit dem Strafjustizsystem verfolgten Zwecken ableiten zu wollen. Deshalb muss für die Fundierung des Alternativsystems die staatliche Aufgabe der Unrechtfeststellung losgelöst von den Zwecken begründet werden, die Verantwortlichkeit des Täters festzustellen und ihn zu bestrafen.

Gesellschaft als Ganzer vor einem konkreten Täter, siehe zudem Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn. 18. 231 Burgi, in: FS Isensee (2007), S. 655, 664; Fletcher, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 75 ff.; Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 207 ff., 218; Hörnle, Strafrechtstheorien, S. 36 ff.; dies., JZ 2006, 950, 955 f.; Jerouschek, JZ 2000, 185, 193 f.; Reemtsma, Recht auf Bestrafung, S. 26 f.; Rössner, in: FS Lüderssen (2001), S. 977, 985 f.; Roxin, GA 2015, 185, 200 f.; Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51 ff.; Sautner, Opferinteressen, S. 267 ff.; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 58 ff. – Krit. zur Verortung des Genugtuungsinteresses des Opfers in den Straftheorien hingegen z. B. Bommer, Verletztenrechte, S. 256 f.; Lüderssen, Rechtsfreie Räume, S. 25; ders., in: Prittwitz/Manoledakis, Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 63 ff.

D. Entwicklungshistorischer Ansatz

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D. Entwicklungshistorischer Ansatz: Surrogat für das verlorene Selbstheilungsrecht des Betroffenen Ein Fundament für die Forderung nach staatlicher Unterstützung von Straftatopfern durch Unrechtfeststellung könnte auch aus entwicklungshistorischen Überlegungen abgeleitet werden. Dazu müsste aus der Entwicklungsgeschichte des staatlichen Strafverfolgungssystems die Notwendigkeit begründet werden können, ein Surrogat zu schaffen für einen ehemals existenten, heute verlorenen Selbstheilungsanspruch des Straftatopfers. Mit einem vergleichbaren entwicklungshistorischen Argument des Verlustes eines Selbstjustizanspruchs aus vergangenen Zeiten begründen einige Stimmen im Schrifttum einen Anspruch des Straftatopfers gegen den Staat auf Justizgewährung in Form klassischer Strafverfolgung des Täters. Denn ursprünglich - also vor Herausbildung des modernen Staates - sei Inhaber der „Strafgewalt“232 das von dem Angriff betroffene Individuum gewesen. Im Rahmen dieses früheren Systems habe das Opfer selbst das erfahrene Unrecht rächen können.233 Erst mit Herausbildung des modernen Staates habe dieser die Strafverfolgung vom Verletzten übernommen und ein Strafmonopol zu Lasten dessen individuellen Interventionsrechts begründet.234 Gewissermaßen als Surrogat für das ehemals eigene Recht, die Tat zu rächen, schulde der Staat daher dem Opfer – nicht nur als Teil der Allgemeinheit, sondern als individuellem Anspruchsinhaber – Justizgewährung in Form effektiver Strafverfolgung.235

232 „Strafgewalt“ kann freilich nicht im Sinne des heutigen Verständnisses gemeint sein, denn Strafrecht in dem Sinne und das staatliche Strafmonopol existierten damals noch nicht, Rössner, in: Schädler et al., Kriminalitätsopfer, S. 7, 8. Gemeint ist wohl vielmehr die Befugnis, irgendwie sanktionierend auf abweichendes Verhalten zu reagieren. 233 Zur Rolle des Verletzten im Fehdesystem in der geschichtlichen Entwicklung allgemein Weigend, Deliktsopfer, S. 27 ff.; auch Schmidt, Lehrkommentar StPO, Teil I, S. 35 f. Zur Rolle des Verletzten in unterschiedlichen vorchristlichen und früh-mittelalterlichen Gesellschaften Rössner, in: Schädler et al., Kriminalitätsopfer, S. 7, 8 ff. 234 Siehe Rössner, in: Schädler et al., Kriminalitätsopfer, S. 7, 12; Schmidt, Lehrkommentar StPO, Teil I, S. 36 f. In diese Richtung auch Jerouschek, JZ 2000, 185, 193, dem nach „Strafe in der hoheitlichen Usurpation der privaten Rache bis hin zur staatlichen Gewaltmonopolisierung“ wurzelt. Eine Reprivatisierung des Strafmonopols lehnt er ab. 235 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 3; Heger, JA 2007, 244; Hirsch, in: GS Kaufmann (1989), S. 699, 704 f.; Hörnle, Straftheorien, S. 42; dies., JZ 2015, 893, 895 f.; dies., JZ 2006, 950, 956; Schmidt, Lehrkommentar StPO, Teil I, S. 37. Von Galen, StV 2013, 171, 172; dies., BRAK-Mitt. 3/2002, 110, 113 geht davon aus, dass der Verletzte im Gegenzug dafür, dass ihm unter Geltung des staatlichen Gewaltmonopols die Übung von Selbstjustiz untersagt sei, einen Anspruch gegen den Staat auf Konfliktregelung in Form von Strafverfolgung habe; daraus folge aber nicht, dass er am Strafprozess auch zu beteiligen sei. Dagegen z. B. Kühne, in: LRStPO, Einl. H Rn. 16 f.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Diese Begründung eines strafrechtlich gefärbten Justizgewährungsanspruchs des Opfers ließe sich auch heranziehen für die Herleitung eines Anspruchs des Straftatopfers gegen den Staat auf Unterstützung und Unrechtfeststellung. Dafür wäre die historische Begründung wie folgt zu ergänzen: Vor Herausbildung des Staates hatte der Verletzte die Möglichkeit, im Rahmen des Individualverhältnisse regelnden Systems für sich selbst klarzustellen, dass ihm Unrecht und kein Unglück geschehen ist. Ihm stand also gewissermaßen die Möglichkeit zur Selbstheilung qua Intervention mittels Schadenszufügung zu. Mit Herausbildung des staatlichen Strafmonopols sind diese Möglichkeit und damit der „Selbstheilungsmechanismus“ des Betroffenen eliminiert worden. Als Surrogat nicht (nur) für das Recht auf Selbstjustiz, sondern (auch) für das Recht auf Selbstheilung schuldet der moderne Staat daher dem Opfer die Unrechtfeststellung und Unterstützung bei der Bewältigung der Tatfolgen. Auch diese Herleitung eines Anspruchs des Straftatopfers auf staatliche Unterstützung und Unrechtfeststellung hat jedoch mindestens zwei Schwächen. Die erste Schwäche liegt in der Inhaltsrichtung eines solchen als Surrogat begründeten Anspruchs. Denn selbst unter der hypothetischen Annahme, die mit Entstehung des modernen Staates einhergegangene Aufhebung des Rechts des Betroffenen, selbst auf eine „Straftat“236 zu reagieren, begründe die staatliche Pflicht, ihm ein Surrogat zur offerieren, könnte dieses Surrogat inhaltlich nur auf etwas gerichtet sein, das dem ehemaligen Recht auf Selbstintervention entspräche. Ein Recht auf Selbstintervention aus vergangenen Zeiten aber wäre auf eine Reaktion des Opfers gegenüber dem Täter gerichtet gewesen. Ein modernes Surrogat für dieses frühere Recht müsste deshalb auf eine Reaktion des Staates gegenüber dem Täter, ggf. im Namen des Opfers, gerichtet sein. Dementsprechend ist die moderne Justizgewährungspflicht des Staates auch gerade auf Konfliktregelung und wirksame Strafverfolgung gerichtet, also primär auf eine staatliche Reaktion gegenüber dem Verursacher des Konflikts. Das hier vorgeschlagene System eines additiven Betroffenenforums konzentriert sich jedoch ausschließlich auf die Beziehung zwischen Staat und Opfer und ist gerade nicht auf eine Reaktion gegenüber dem Täter gerichtet. Eine Verpflichtung zur Gewährung eines Surrogats für einen Selbstheilungsanspruch kann daher schon aufgrund der inhaltlich anderen Stoßrichtung nicht die Grundlage für den staatlichen Einsatz zur Errichtung eines additiven Betroffenenforums bilden. Die zweite Schwäche der historisch motivierten Herleitung ergibt sich aus der Grundannahme, das heutige System begründe überhaupt eine Surrogationspflicht für Rechte aus vergangenen Zeiten – seien es Selbstjustiz- oder Selbstheilungsrechte. Diese Grundannahme setzt nämlich voraus, dass der moderne Staat zur Straftataufklärung und -verfolgung nur deshalb berechtigt sei, weil das Opfer ihm diese Befugnis zuvor übertragen habe. Nur dann wäre es folgerichtig, dem Opfer ein Surrogat für diese Übertragung zuzuerkennen. Dafür müsste das Opfer aber über236 Vor Herausbildung des staatlichen Strafjustizsystems wurde eine solche Verletzung freilich noch nicht als Straftat im heutigen Sinne aufgefasst.

E. Kompensatorischer Ansatz

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haupt über eine Art Naturrecht auf Justiz in Form von Bestrafung und Selbstheilung verfügt haben, das es hätte übertragen können. Das wird vielfach bezweifelt.237 Wichtiger ist zudem, dass die Berechtigung zur Durchführung der modernen Strafrechtspflege nicht auf einen imaginären Übertragungsakt von Deliktsopfern zurück geht. Stattdessen basiert das staatliche Strafjustizsystem auf einem demokratisch legitimierten Willensbildungsprozess und dem Verständnis einer Straftat als überindividuelles Unrecht, es ist also etwas kategorial anderes als die frühere Fehde.238 Mangels Übertragungsakt besteht folglich schon keine Pflicht seitens des Staates, ein Surrogat in Form eines parallelen Opferunterstützungssystems – oder der Bestrafung des Täters für das Opfer – zu errichten als Ausgleich für ein etwaiges frühzeitliches Recht. Damit lässt sich die Forderung nach staatlicher Unrechtfeststellung und Unterstützung von Straftatopfern auch nicht auf das entwicklungshistorische Argument stützen, der Staat wäre verpflichtet, ein Surrogat zu offerieren für einen verlorenen Selbstheilungsanspruch des Opfers. Gleiches gilt für die These, der Staat sei dem Opfer als Surrogat für ein früheres Recht auf Selbstjustiz zur Justizgewährung verpflichtet und das Opfer habe korrespondierend einen Anspruch auf Bestrafung des Täters. Auch insofern trägt die historische Herleitung nicht.

E. Kompensatorischer Ansatz: Ausgleich für Sonderopfer Die Forderung nach staatlicher Opferunterstützung könnte auch mit einem kompensatorischen Begründungsmodell zu unterfüttern versucht werden. Danach könnte der Staat dem Opfer Unterstützung als Ausgleich für ein von diesem zu tragendes Sonderopfer schulden.239 Grundannahme dieses Modells wäre, dass dem Opfer durch die Straftat sowie, zumindest partiell, durch die Einbindung in die Durchführung des Strafverfahrens Leid zugefügt wird. Zur Kompensation dieser Sonderopfer könnte der Staat gehalten sein, dem Verletzten in einem separaten System beizustehen und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Das durch die Straftat zugefügte Leid kann eine staatliche Kompensationspflicht nur dann begründen, wenn die Verursachung dieses Leids dem Staat zugerechnet werden kann. Dafür müsste der Staat entweder als primärer Verursacher des straf237 So auch bzgl. eines Anspruchs auf Selbstjustiz Weigend, RW 2010, 39, 45. Kleinert, Mitwirkung, S. 134, 149 f.; Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 215 f., zweifeln zudem die tragende Rolle des Verletzten im Fehdesystem insgesamt an, Bezugspunkt sei vielmehr der Familienverband gewesen, der mit der Allgemeinheit gleichzusetzen sei. A.A. Rössner, in: Schädler et al., Kriminalitätsopfer, S. 7, 10 f. 238 Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 87; Weigend, RW 2010, 39, 45; ihm zust. Hörnle, in: von Hirsch et al., Strafe – Warum?, S. 11, 27; i.E. ebenso Holz, Justizgewähranspruch, S. 60. 239 So Weigend, Deliktsopfer, S. 424; Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 49.

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rechtlichen Unrechts einzustufen sein. Diese seltene Sachverhaltskonstellation wurde aber bereits ausgeklammert.240 Alternativ müsste dem Staat das Leid mittelbar angelastet werden können, weil er die Straftat nicht verhindert hat. Insofern wurde aber bereits dargelegt, dass der Staat weder aus verfassungsrechtlicher noch aus staatstheoretischer Perspektive der absoluten Verpflichtung unterliegt, Straftaten zu verhindern.241 Eine Verpflichtung zu staatlichem Beistand kann deshalb nicht mit einer Kompensationspflicht wegen des durch die Straftat verursachten Leids begründet werden.242 Diskussionswürdig ist aber, ob das durch das Strafverfahren verursachte zusätzliche Leiden des Opfers ein anderes Ergebnis rechtfertigt. Der Verletzte ist im Strafprozess als Zeuge oft die wichtigste Erkenntnisquelle. Zugleich sind die Aussagesituation und die damit verbundene Konfrontation mit dem Angeklagten gerade für ihn häufig besonders belastend. Dies kann zusätzliches Leid auf Opferseite verursachen. Beschrieben und umfassend diskutiert wird dieses Phänomen als sekundäre Viktimisierung.243 Weiterhin werden auch Verletzte, die keine sekundäre Viktimisierung erfahren, durch das Strafverfahren zumindest mit einem Sonderaufwand, z. B. in Form aufgewendeter Zeit, belegt. Diese verfahrensinduzierten Sonderopfer könnten eine Kompensation in Form einer separaten staatlichen Zuwendung notwendig machen. Dafür könnte sprechen, dass vornehmlich die staatlichen Mitwirkungspflichten am Strafverfahren den Opferzeugen zwingen, sich den damit verbundenen Gefahren für seine Grundrechte – zumindest für die allgemeine Handlungsfreiheit, aber ggf. auch für z. B. die körperliche Unversehrtheit oder informationelle Selbstbestimmung – auszusetzen.244 Deshalb besteht heute auch die allgemeine Überzeugung, dass das vermeintliche Opfer als Zeuge im Strafverfahren im Einzelfall über einen grundrechtlichen Schutzanspruch gegen den Staat verfügt – freilich stets unter dem Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten.245 Dieser Konsens bzgl. der Gebotenheit staatlichen Schutzes spiegelt sich auch darin, dass viele nationale Strafverfahrensordnungen Verfahrensschutzregeln für (Opfer-)Zeugen vorsehen246 und die RL 2012/29/EU ebenfalls ausführliche Vorgaben zum Schutz potentieller Opfer im Strafverfahren enthält, die gerade auf die Prävention sekundärer 240

Siehe Kap. 4 A I. Siehe Kap. 4 A II 1, B. 242 A.A. unter Berufung auf „staatliches Versagen“ Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 49. 243 Die Literatur zu sekundärer Viktimisierung und ihrer Vermeidung aus therapeutischer und rechtlich-prozesstaktischer Sicht ist umfangreich. Statt vieler siehe zu den empirischen Grundlagen dieses Phänomens sowie möglicher Abhilfemaßnahmen Volbert, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 197 ff. 244 Siehe Kap. 1 D I 6 mwN. 245 Siehe Kap. 1 D I 6 mwN. 246 Siehe z. B. zum deutschen Recht statt vieler Wollmann, Mehr Opferschutz, S. 20 ff.; zum französischen Recht Leblois-Happe/Stuckenberg, GA 2015, 670, 676 f.; rechtsvergleichend Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 37 ff. 241

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Viktimisierung besonders vulnerabler Personen zielen.247 Zur Befriedigung dieses grundrechtlichen Schutzanspruchs ist aber die Einführung von Verfahrensschutzregeln, die schon die Belastungsursachen bekämpfen, die geeignetere Maßnahme als eine Ersatzkompensation an anderer Stelle. Folglich sollte auf verfahrensinduzierte Sonderopfer vorrangig mit systemimmanenten Verbesserungen reagiert werden, um die strafverfahrensveranlassten Belastungen schon in ihrer Entstehung zu reduzieren – z. B. in Form respektvoller Behandlung potentiell Verletzter, spezieller Informationsangebote und Zeugenschutzmaßnahmen248 – und nicht mit der Installation eines kompensatorischen Wiedergutmachungssystems. Ein zweites Manko dieser Herleitung besteht in ihrer begrenzten Reichweite. Würde die staatliche Verpflichtung zur Unterstützung eines Straftatopfers außerhalb des Strafverfahrens mit seiner Belastung innerhalb bzw. durch das Strafverfahren begründet, so wäre diese Herleitung per se auf solche Opfer beschränkt, die in ein Strafverfahren involviert sind. All diejenigen, deren Viktimisierung durch das Raster des Selektionsprozesses staatlicher Strafverfolgung fällt und die damit gerade nicht den Folgen eines Strafverfahrens und damit auch nicht den damit einhergehenden Belastungen ausgesetzt sind, wären nicht erfasst. Auch stünde die Begründung auf wackeligen Beinen, wenn ein potentielles Opfer trotz Involvierung in das Verfahren keine Belastungen erfährt, und somit das Vorliegen eines Sonderopfers zweifelhaft ist.249 Damit sähe sich ein derart fundiertes Kompensationssystem der gleichen Kritik ausgesetzt wie der Ansatz, der die Opferunterstützung auf Maßnahmen innerhalb des Strafverfahrens reduziert: Beide schlössen einen Großteil der Betroffenen aus. Auch das auf eine Ausgleichspflicht für Sonderopfer aufbauende kompensatorische Begründungsmodell liefert damit im Ergebnis keine Grundlage für den staatlichen Einsatz zur Unrechtfeststellung und Etablierung eines additiven Betroffenenforums.

F. Normtheoretisch-soziologische Begründung: Konstitutive Wirkung der staatlichen Kriminalisierungsentscheidung Schließlich könnte eine Begründung für die staatliche Unrechtfeststellung und Unterstützung von Straftatopfern aus normtheoretisch-soziologischen Überlegungen folgen. Insofern könnte man erwägen, an die konstitutive Wirkung einer staatlichen 247 Siehe Kap. 2 A V; van der Aa, N. J. Europ. Crim. L. 7 (2016), 39, 48 ff.; Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 219 ff. 248 Für die Beschreibung und Evaluation solcher Maßnahmen aus dem Blickwinkel der Verhinderung sekundärer Viktimisierung siehe z. B. Volbert, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 197, 202 ff. 249 Dazu, dass sekundäre Viktimisierung keine zwingende Folge einer Prozessbeteiligung ist, siehe Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, passim.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Entscheidung anzuknüpfen, bestimmte Verhaltensweisen als strafbar zu definieren. Dafür müsste die Kriminalisierungsentscheidung der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft die Natur des Übergriffs für das konkrete Opfer determinieren und so eine besondere Verantwortung der Rechtsgemeinschaft für den betroffenen Rechtsgenossen begründen.

I. Herleitung der Begründung Wird eine Person von einem strafrechtlich relevanten Verhalten betroffen, also Opfer einer Straftat, so geht damit notwendigerweise der Verstoß gegen eine Verhaltensnorm durch einen anderen einher.250 Verhaltensnormen sind Normen, die abstrakt-generelle Ge- und Verbote normieren.251 Indem sie dem Einzelnen ein Handeln oder Unterlassen rechtlich bindend vorschreiben, beschränken Verhaltensnormen ab ihrem Inkrafttreten jedenfalls die allgemeine Handlungsfreiheit, ggf. auch weitere Grundrechte des Einzelnen.252 Zugleich korrespondiert mit dieser Freiheitsbeschränkung ein durch die Verhaltensnorm vermittelter Schutz eines Interesses253 eines jeden Rechtsgenossen.254 Verhaltensnormen dienen folglich dazu, mittels eines 250 Die normtheoretische Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen wird Karl Binding zugeschrieben, Renzikowski, in: FS Gössel (2002), S. 3 f., der zusätzlich auf Thomas Hobbes und Jeremy Bentham als Begründer verweist; ebenso Lagodny, Strafrecht, S. 80. Binding selbst wies darauf hin, „das Gesetz, welches der Verbrecher übertritt, geht begrifflich und regelmäßig aber nicht notwendig auch zeitlich dem Gesetze, welches Art und Weise seiner Verurteilung anordnet, voraus“, Binding, Die Normen und ihre Übertretungen, S. 4. (Er nannte die Typen von Rechtssätzen allerdings Normen und Strafgesetze, siehe Binding, id. S. 7). Diese normtheoretische Unterscheidung wird auch hier zugrunde gelegt. Für einen Überblick über abweichende Strafrechtskonzeptionen siehe Gössel, in: Maurach/ders./Zipf, StrafR AT, § 39 Rn. 18 – 22. Zur Ablehnung der teilweise vorgebrachten Argumentation, Verhaltensnormen hätten keine eigenständige Bedeutung neben Sanktionsnormen, da sie zum Rechtsgüterschutz überflüssig seien, zum Rückgriff auf naturrechtliche Begründungsmuster zwängen und auf einem autoritären Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger beruhten, Hörnle, in: Hefendehl, Empirische Fundamente, S. 105, 112 f. 251 Freund, StrafR AT, § 1 Rn. 9; Gössel, in: Maurach/ders./Zipf, StrafR AT, § 39 Rn. 1. 252 Lagodny, Strafrecht, S. 75 f., 89 ff. 253 Die strafrechtliche Rechtsgutslehre geht davon aus, dass Schutzgut der Verhaltensnorm ein Rechtsgut sei, siehe z. B. Freund, StrafR AT, § 1 Rn. 9, 11a. Aus Perspektive der Grundrechtslehre dienen Verhaltensnormen nicht dem Schutz von Rechtsgütern im Sinne der strafrechtlichen Rechtsgutslehren, sondern dem Schutz von Gemeinwohlinteressen. Der Kreis der Gemeinwohlinteressen könne nicht positiv bestimmt werden (wie die Rechtsgutslehre in Bezug auf Rechtsgüter argumentiert), sondern nur negativ darüber, welche Zwecke nicht als Gemeinwohlinteressen vom Gesetzgeber ausgewiesen werden dürften, Lagodny, Strafrecht, S. 139 ff., 162. (Lagodny bezeichnet deshalb die Suche nach einem positiven Rechtsgutsbegriff in der Strafrechtslehre als „sinnlos“ und lehnt die Rechtsgutslehre zur Begründung von Verhaltensnormen ab, S. 146 f.). Für den hier dargestellten Zusammenhang ist diese Unterscheidung ohne Belang, weshalb der Streit hier nicht ausgeführt und entschieden wird. 254 Freund, StrafR AT, § 1 Rn. 13, 17. Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 49, beschreibt das gleiche Phänomen aus der umgekehrten Perspektive, dass ein Recht des

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Interessensausgleichs die wesentlichen Grundsätze menschlichen Zusammenlebens zu sichern, auf deren Geltung alle Rechtsgenossen vertrauen dürfen.255 In rechtlich verfassten Gesellschaften existiert eine Vielzahl solcher Verhaltensnormen – im öffentlichen Recht wie im Zivilrecht.256 Sie alle gehen auf eine Gesetzgebungsentscheidung der im Staat verfassten Allgemeinheit zurück und enthalten die Wertung, dass die darin erfassten Interessen rechtlich schützenswert sind.257 Aus dem generellen Verhaltensimperativ, den jede Verhaltensnorm vermittelt, lässt sich auch eine konkrete Pflicht ableiten,258 beispielsweise „A soll nicht das Eigentum von B zerstören“. Diese konkrete Verpflichtung korrespondiert mit der konkreten Berechtigung, die Erfüllung der Verpflichtung zu verlangen, sodass sich stets Verpflichteter (im Beispiel A) und Berechtigter (im Beispiel B) gegenüberstehen.259 Der Verpflichtete (A) ist der Adressat der Verhaltensnorm, der Berechtigte (B) ist derjenige, dessen Interesse die Norm schützen soll.260 Im Fall einer Norm, die ein Individualinteresse schützt, ist der einzelne Rechtsgenosse der Berechtigte. Die Gegenauffassung, dass stets die im Staat verfasste Allgemeinheit die durch eine Verhaltensnorm konkret Berechtigte sei, ließe sich nur mit der Annahme begründen, dass der Staat selbst Inhaber von Individualinteressen wäre und diese dem Bürger lediglich als Destinatär zuteilte.261 Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass ent-

Einzelnen auf Achtung mit einer Pflicht gleichen Inhalts der anderen Rechtsunterworfenen korrespondiere. 255 Lampe, in: Curiel B, Memoria, S. 113, 114; Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 164 f. Aus der Perspektive der deutschen Strafrechtsdogmatik bezwecken in Strafgesetze aufgenommene Verhaltensnormen wie erwähnt den Schutz von Rechtsgütern, Freund, StrafR AT, § 1 Rn. 6, 9, 11a; Gössel, in: Maurach/ders./Zipf, StrafR AT, § 39 Rn. 2 f. 256 Lagodny, Strafrecht, S. 88. Teilweise decken sich zivil- und öffentlich-rechtliche Verhaltensnormen, z. B. im Fall der deliktisch geschützten Verhaltensnormen in § 823 BGB. 257 Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 177. Daneben mögen in einer Gesellschaft auch rein moralisch verankerte Verhaltensnormen existieren, die hier aber nicht in Bezug genommen werden. 258 Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 168. 259 Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 182 (darauf hinweisend, dass Recht und Pflicht korrelate Begriffe sind); ders., Die Normen und ihre Übertretungen, S. 97 (betonend, dass im Falle von Verhaltensnormen der Nachdruck auf der Verpflichtung, nicht auf der Berechtigung liege); Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 168. 260 Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 169. 261 In diese Richtung scheint Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 188, zu argumentieren, wenn er schreibt „Das Subjekt des Rechtes auf Botmässigkeit [=Recht auf Befolgung der Norm] fällt regelmäßig mit dem Urheber der Norm zusammen. […] Indessen ist hier auch eine Gesetzgebung zugunsten Dritter denkbar. Das Reich erteilt vielleicht den Bundesstaaten, der Staat einem Privaten ein Recht in bestimmter Weise Gehorsam zu heischen.“ Und weiter in Binding, Die Normen und ihre Übertretungen, S. 98: „Auch in letzterem Falle [dass der Staat einer Privatperson ein Gehorsamsrecht einräumt] ist der bindende Befehl obrigkeitlicher Wille; für ihn allein kann Gehorsam verlangt werden, nie für den privaten Willen als solchen. Die Gehorsamsverweigerung ist also stets Verneinung des obrigkeitlichen Willens, stets Zuwiderhandlung gegen ein dem Staate allein zustehendes, von ihm freilich öfter delegirtes [sic]

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sprechend dem individualistischen Charakter der modernen Grundordnung dem Bürger unveräußerliche Menschenrechte um seiner Person willen zukommen, sie ihm gewissermaßen kraft seiner Autonomie immanent sind, und nicht, weil sie ihm vom Staat verliehen werden.262 Deshalb ist der konkret Berechtigte im Fall einer Verhaltensnorm, die ein Individualinteresse schützt, der einzelne Rechtsgenosse.263 Dass der Staat unter bestimmten Voraussetzungen die Verletzung einer ein Individualinteresse schützenden Verhaltensnorm im öffentlichen Interesse strafrechtlich sanktioniert und den strafrechtlichen Sanktionierungsprozess beherrscht, ändert daran nichts. Die staatliche Beherrschung des Sanktionierungsprozesses ist lediglich Folge davon, dass die Übertretung der Verhaltensnorm zugleich ein öffentliches Unrecht verwirklicht.264 Da die Pflichten in Verhaltensnormen für die Zukunft aufgestellt werden, wirkt ihr Schutz zudem stets prospektiv. Die Verhaltensnorm nimmt folglich nicht den tatsächlich Betroffenen, sondern den potentiell Berechtigten in den Blick.265 Von der Verhaltensnorm zu trennen, aber unmittelbar mit ihr im Zusammenhang steht die Sanktionsnorm. Eine Sanktionsnorm normiert die Reaktion auf den Bruch einer Verhaltensnorm und ggf. weitere Voraussetzungen dieser Reaktion.266 Rechtsordnungen kennen unterschiedliche Konsequenzen, die der Gesetzgeber unter differierenden Voraussetzungen als Reaktion auf den Verstoß gegen eine Verhaltensnorm vorsehen kann. Neben zivilrechtlichen Schadensersatzpflichten und ordöffentliches Recht.“ Die im Text in Bezug genommene Annahme ausführlicher erklärend und ablehnend Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 169 f. 262 Isensee, in: HStR, Bd. IX, § 191 Rn. 322; Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 211 f.; ders., Notstand und Notwehr, S. 169. 263 Dies wird auch durch die rechtliche Beachtlichkeit der rechtfertigenden Einwilligung untermauert, Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 169 f. 264 Ausführlich Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 218. I. E. ebenso Frister, GA 1988, 291, 300. In Fn. 39 weist Frister darauf hin, „[d]aß allein der Staat zur Sanktionierung einer Rechtsverletzung berechtigt ist, beruht allein auf der Notwendigkeit der Sicherung des Rechtsfriedens und bedeutet nicht, daß die verletzte Rechtsnorm allein oder auch nur in erster Linie im Interesse des Staates oder der Gesellschaft gelten würde.“ Dies wird dadurch bestätigt, dass der Bürger bei einem Verstoß gegen die vorgelagerte Verhaltensnorm unter definierten Bedingungen vor dem Zivilgericht einen eigenen Anspruch in eigenem Namen geltend machen kann, Renzikowski, Notstand und Notwehr, S. 170. – Unabhängig davon, ob man Fristers Ansicht zum Grund für die staatliche Sanktionierung teilt, folgt jedenfalls aus der staatlichen Strafverfolgung nicht, dass die Verhaltensnorm, deren Verstoß sanktioniert wird, kein Individuum, sondern den Staat schützen würde. Die hier dargelegte Argumentation wirkt sich damit nicht auf das Verständnis aus, dass eine Straftat öffentliches Unrecht verwirklicht. 265 Kleinert, Mitwirkung, S. 71. 266 Freund, StrafR AT, § 1 Rn. 26; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, S. 55. Im Strafrecht hängen die spezifischen Voraussetzungen der Sanktionsvorschrift zumeist mit den Regeln des Schuldprinzips zusammen, Lagodny, Strafrecht, S. 83. – Gerade im Kernstrafrecht erfolgt die Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm häufig nicht explizit, sondern das Gesetz dekliniert ausdrücklich nur die Sanktionsnorm, aus der mittels kontradiktorischer Umformulierung die vorgelagerte Verhaltensnorm ermittelt werden kann, Lagodny, Strafrecht, S. 79; Lampe, in: Curiel B, Memoria, S. 113, 114.

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nungswidrigkeitenrechtlichen Geldbußen zählt hierzu auch die Kriminalstrafe.267 Entsprechend der Funktion staatlichen Strafens im sozialen Gesamtgefüge als nur einem – besonders einschneidenden – Teilbereich der Sozialkontrolle, ist die Strafe damit nur eine von mehreren Reaktionsmöglichkeiten auf ein von einer Verhaltensnorm abweichendes Verhalten.268 Konsequenz davon ist, dass nur einige wenige der in einer Rechtsordnung existierenden Verhaltensnormen unter bestimmten Voraussetzungen mit einer strafrechtlichen Sanktionsnorm flankiert269 und ihre Geltung und Unverbrüchlichkeit auf diesem Weg auf besonders nachdrückliche Weise betont werden.270 Das rechtstheoretische Differenzierungskriterium, nach dem nur bestimmte Verhaltensnormen mit strafrechtlichen Sanktionsnormen untermauert werden, ist umstritten. Es dürfte jedenfalls in der besonderen Natur des Unrechts sowie dem Verhältnis des Verursachers zu dem Unrecht begründet liegen, das durch den erfassten Verhaltensnormverstoß verursacht wird.271 Unabhängig von der rechtstheoretischen Begründung für den Erlass einer strafrechtlichen Sanktionsnorm sind jedenfalls deren Existenz und die damit verbundene Bewertung eines Sachverhalts als strafrechtlich relevant rechtspraktisch durch die normsetzende Entscheidung der im Staat verfassten Allgemeinheit bedingt.272 Diese Kriminalisierungsentscheidung ist im Wesentlichen eine Ermessensentscheidung, 267 Lagodny, Strafrecht, S. 88. Eine Verhaltensnorm kann mit unterschiedlichen Sanktionsnormen belegt sein, z. B. mit einer straf- und einer zivilrechtlichen, Lampe, in: Curiel B, Memoria, S. 113, 116. 268 Appel, Verfassung und Strafe, S. 28. 269 Die Sanktionsnorm schützt die Geltungskraft der Verhaltensnorm, Freund, StrafR AT, § 1 Rn. 7. Nach Lagodny, Strafrecht, S. 290 f., dient die Sanktionsnorm der Erreichung der Strafzwecke, deren übergeordneter Zweck wiederum der Schutz des Gemeinwohlinteresses sei, das die Verhaltensvorschrift legitimiere. 270 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 77. 271 Ähnlich Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 98. Einen Überblick verschiedener Ansichten, was spezifisch strafrechtliches Unrecht ausmacht, gibt Wolff, in: Hassemer, Strafrechtspolitik, S. 137 ff. Ebenso überblicksartig Kleinert, Mitwirkung, S. 71 ff. (Für Kleinert ergibt sich die strafrechtliche Relevanz einer Rechtsverletzung aus einer damit verbundenen Ausschaltung der Subjektivität des Opfers und eines Angriffs auf die Rechtszuweisungsordnung, S. 128 ff.). Zur Auffassung, nach der die Straftat eine symbolisch-expressive Bedeutung hat, die über die Kränkung des unmittelbar Verletzten hinausgeht, Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 218. Zur Auffassung, das Kriterium sei rein quantitativer Natur Frister, Strafrecht AT, Kap. 1 Rn. 13 (entscheidend sei die Wertentscheidung des Gesetzgebers, dass die Beachtung der Rechtsnorm für das gesellschaftliche Zusammenleben von besonders zentraler Bedeutung sei); ähnlich Gärditz, Der Staat 40 (2010), 331, 365 (sein demokratischer Verbrechensbegriff erfasst schlicht dasjenige Verhalten, das der Gesetzgeber unter Strafe stellt); dagegen wohl Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 52 (Strafrecht sei singuläres Aliud, keine Steigerung). Für eine formelle Definition Williams, Current Legal Problems 8 (1955), 107 ff. 272 Ähnlich Ashworth, Oxford J. Legal Stud. 6 (1986), 86, 98; Williams, Current Legal Problems 8 (1955), 107, 123 ff.; vgl. auch Gärditz, JZ 2016, 641 ff.; ders., Der Staat 40 (2010), 331, 365. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, S. 155, formuliert dies so: „Das Strafrecht wirkt in zweifacher Weise originär und konstitutiv: Einmal trifft es unter strafrechts-teleologischen Aspekten eine Auswahl; […]“ [Hervorhebungen i.O.].

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die nur wenigen aus den Grundrechten abgeleiteten Bindungen unterliegt. Diese Bindungen resultieren daraus, dass Strafrecht gleichermaßen Bedrohung und Schutz für Grundrechte ist, gewissermaßen Schwert und Schild zugleich.273 Da mit einer strafrechtlichen Sanktionsnorm flankierte Verhaltensnormen für die Bürger in besonders starker Weise freiheitsbeschränkend wirken, folgt aus der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte ein Übermaßverbot.274 Nicht jede Verhaltensnorm darf demnach mit einer strafrechtlichen Sanktionsnorm untermauert werden, sondern gemäß dem Charakter der Strafe als ultima ratio der Sozialkontrolle bzw. Sozialpolitik nur solche, die ein besonders sozialschädliches Verhalten verbieten, das das geordnete Zusammenleben der Menschen erschüttert.275 Diese Grenze spiegelt sich im fragmentarischen Charakter des Strafrechts.276 Wichtiger als die Frage, wann die im Staat verfasste Allgemeinheit eine strafrechtliche Sanktionsnorm erlassen darf, ist für den hier herzustellenden Zusammenhang allerdings die dazu entgegengesetzte Frage, wann sie eine strafrechtliche Sanktionsnorm erlassen muss. Eine solche staatliche Pönalisierungsverpflichtung kann – in Ausnahmefällen – aus der Schutzfunktion der Menschenrechte folgen, die der Staat gegenüber denjenigen wahrnehmen muss, die potentiell von einem Verstoß gegen die Verhaltensnorm betroffen sein könnten.277 Da verfassungsrechtliche Schutzpflichten allerdings stets nur auf die Herbeiführung eines Schutzerfolges gerichtet sind und dem Gesetzgeber die Einschätzungsprärogative überlassen, wie er diesen Schutz herstellt, kann eine aus dem Untermaßverbot resultierende Pönalisierungspflicht nur in Ausnahmefällen

273 Rosanò, N. J. Europ. Crim. L. 7 (2016), 59, 75 (in der in Bezug genommenen englischen Version heißt es wörtlich: „On the other hand, criminal law may be considered both as a protection for and as a threat to human rights, both as a shield and a sword.“) Zu der Beschreibung von Menschenrechten als „shield“ und „sword“ von Strafrecht auch Tulkens, J. Internat. Crim. Just. 9 (2011), 577, 578 f. 274 BVerfGE 88, 203, 257 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 12, 96 ff., 416 ff.; zur EGMR-Rspr. in diesem Bereich siehe Tulkens, J. Internat. Crim. Just. 9 (2011), 577, 579 ff. 275 BVerfGE 88, 203, 258; Jescheck, in: FS Miyazawa (1995), S. 363, 363, 375; Kaufmann, in: FS Henkel (1974), S. 89, 102 f.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. I, § 2 Rn. 97. Zur fehlenden verfassungsrechtlichen Fundierung des ultima ratio-Grds. als Strafrecht-begrenzendes Prinzip Gärditz, JZ 2016, 641, 642 ff. 276 Zur Herkunft des Begriffs „fragmentarisches Strafrecht“ Kaufmann, in: FS Henkel (1974), S. 89, 103. 277 Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 77; Lagodny, Strafrecht, S. 12. Rrechtsvergleichend Robbers, in: Lüderssen, Kriminalpolitik, S. 147, 148 f. – Die gleiche Frage stellt sich auf der vorgelagerten Stufe beim Erlass der Verhaltensnorm. Auch hierzu ist der Staat nur verpflichtet, wenn die Schutzfunktion der Opfergrundrechte zwingend den Erlass des Verhaltensverbotes erfordert. Da nur wenige private Eingriffe in die Grundrechte anderer überhaupt eine Schutzpflicht des Staates auszulösen vermögen, und der Gesetzgeber über eine weite Einschätzungsprärogative verfügt, auf welche Art und Weise er den ggf. geforderten Schutz herstellt, kann schon diese vorgelagerte Frage, ob überhaupt zwingend eine Verhaltensnorm aufgestellt werden muss, nur in den seltensten Fällen bejaht werden, siehe ausführlich Lagodny, Strafrecht, S. 256 ff. Zur Frage, welche Verhaltensnormen zwingend sind, siehe id., S. 262 ff.

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angenommen werden.278 Dementsprechend geht auch der EGMR davon aus, dass die Wahl der Mittel, die ein Vertragsstaat einsetzt, um die Einhaltung der Konventionsgarantien zwischen Privaten sicherzustellen, grundsätzlich in seinen Beurteilungsspielraum fällt und der erforderliche Schutz nicht notwendigerweise durch den Erlass von Strafvorschriften hergestellt werden muss.279 Eine Pflicht zur Pönalisierung hat der EGMR deshalb nur in Ausnahmefällen angenommen, z. B. zum Schutz des Lebens vor vorsätzlichen Angriffen, Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 EMRK,280 zum Schutz körperlicher Integrität, Art. 1 i.V.m. Art. 3 EMRK,281 und in einigen Fällen zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, Art. 1 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK282. Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist ähnlich restriktiv bei der Bejahung staatlicher Kriminalisierungsverpflichtungen.283 Damit steht es innerhalb des Korridors zwischen Über- und Untermaßverbot in der weiten Gestaltungskompetenz und Einschätzungsprärogative der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft, ob sie – vertreten durch die jeweilige staatliche Entscheidungsinstanz284 – eine 278 Appel, Verfassung und Strafe, S. 28, 69 f.; Holz, Justizgewähranspruch, S. 88 ff., insbes. S. 92; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 78 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 420, 445 ff., bes. S. 448 (Lagodny bejaht die Pönalisierungspflicht nur für eindeutige Fälle zwingender Verhaltensvorschriften, z. B. vorsätzliche Tötung und Körperverletzung); Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 19 f.; Schmidt-Jortzig, in: FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 505, 513 (zur Ausübung der Strafgewalt insgesamt). Allgemein zum gesetzgeberischen Ermessen bei der Erfüllung von Schutzpflichten siehe z. B. Isensee, in: HStR, Bd. IX, § 191 Rn. 293 ff. Siehe auch bereits Kap. 4 A I 3 a), II 1, 2. 279 EGMR, Urt. v. 26. 3. 1985, App. No. 8978/80, § 24 (X u. Y./Niederlande); Urt. v. 4. 12. 2003, App. No. 39272/98, § 150 (M.C./Bulgarien). Siehe zur Rechtsprechung des EGMR auch Appel, Verfassung und Strafe, S. 261; Tulkens, J. Internat. Crim. Just. 9 (2011), 577, 583 ff. 280 EGMR, Urt. v. 18. 1. 1998, App. No. 23452/94, § 115 (Osman/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 28. 3. 2000, App. No. 22492/93, § 62 (Kilic/Türkei); Urt. 28. 3. 2000, App. No. 22535/ 93, § 85 (Mahmut Kaya/Türkei); Urteil v. 24. 10. 2002, App. No 37703/97, § 67 (Mastromatteo/ Italien); Meyer-Ladewig/Huber, in: NK-EMRK, Art. 2 Rn. 12; Schädler/Jakobs, in: KK-StPO, Art. 2 EMRK Rn. 11; Schübel/Pfister, in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art. 2 Rn. 35. Krit- zu dieser Pönalisierungspflicht Paeffgen, in: SK-StPO, Art. 2 EMRK Rn. 31 f. Im Fall fahrlässiger Tötung hingegen statuiert der EGMR gerade nicht immer eine staatliche Pönalisierungspflicht, siehe z. B. EGMR, Urt. v. 17. 1. 2002, App. No. 32967/96, § 51 (Calvelli u. Ciglio/Italien). 281 EGMR, Urt. v. 23. 9. 1998, App. No. 25599/94, § 22 (A/Vereinigtes Königreich); Urt. v. 4. 12. 2003, App. No. 39272/98, §§ 149, 153 (M.C./Bulgarien); zurückhaltend Urt. v. 26. 3. 2013, App. No. 33234/07, §§ 75 f. (Valiuliené/Litauen). 282 EGMR, Urteil v. 26. 3. 1985, App. No. 8978/80, § 27 (X u. Y./Niederlande) [dies ist die Leitentscheidung des EGMR zur staatlichen Pönalisierungspflicht, siehe Tulkens, J. Internat. Crim. Just. 9 (2011), 577, 584]; Urt. v. 4. 12. 2003, App. No. 39272/98, §§ 150, 153 (M.C./ Bulgarien). 283 Siehe insbes. die Entscheidungen zur Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs BVerfGE 39, 1, 35 ff.; 88, 203, 258 ff. Zur Rspr. des BVerfG Appel, Verfassung und Strafe, S. 68 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 418 ff.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 193 f.; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 50 ff. Allgemein zu verfassungsrechtlichen Strafpflichten Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331, 339 ff. 284 Welcher staatliche Repräsentant diese Entscheidung trifft, differiert zwischen den Rechtsordnungen. Aus dem Verbot ungeschriebenen strafrechtlichen Gewohnheitsrechts in Art. 103 Abs. 2 GG folgt, dass die Entscheidung in Deutschland ausschließlich dem Gesetz-

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Kap. 4: Normatives Fundament

strafrechtliche oder eine andersartige (oder auch gar keine) Sanktionsnorm für den Fall eines Verstoßes gegen eine bestimmte Verhaltensnorm erlässt.285 Die Existenz der meisten strafrechtlichen Sanktionsnormen beruht damit unmittelbar auf einer im Rahmen des Ermessens frei getroffenen Entscheidung der im Staat verfassten Allgemeinheit. Sie bringt damit zum Ausdruck, dass dem von der zugrundeliegenden Verhaltensnorm geschützten Interesse besondere Bedeutung zukommt. Die strafrechtlichen Sanktionsnormen, die aufgrund der ausnahmsweise bestehenden Pönalisierungspflicht erlassen wurden, sind zumindest mittelbar auf die Entscheidung der im Staat verfassten Allgemeinheit rückführbar. Denn auch Existenz und Struktur des Menschenrechtesystems, aus dem ausnahmsweise die Kriminalisierungspflicht abgeleitet wird, sowie die darin verwirklichten Wertentscheidungen beruhen auf vorpositivrechtlichen, kontextuell getroffenen gesellschaftlichen Entscheidungen.286 Zudem kreiert die staatliche Kriminalisierungsverpflichtung noch nicht die strafrechtliche Sanktionsnorm. Vielmehr erfordern die Existenz und Wirkung einer strafrechtlichen Sanktionsnorm entsprechend dem in Artt. 7 EMRK, 49 Abs. 1 S. 1 GRC verankerten Grundsatz nulla poena sine lege stets einen rechtsetzenden Akt der zuständigen staatlichen Instanz, also eine Kriminalisierungsentscheidung.287 Damit ist es rechtspraktisch in allen Fällen die Entscheidungsmacht der im Staat verfassten Allgemeinheit, auf der die Existenz einer strafrechtlichen Sanktionsnorm beruht. Festzuhalten ist folglich, dass rechtspraktisch die Existenz einer strafrechtlichen Sanktionsnorm stets rückführbar ist auf eine Kriminalisierungsentscheidung der im Staat verfassten Allgemeinheit. Diese von politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflusste Kriminalisierungsentscheidung ist zugleich das praktisch entscheidende Element, das einen Übergriff als strafrechtlich

geber obliegt. Im englischen Strafrecht, das auch gewohnheitsrechtlich begründete strafbewehrte Verbote anerkennt, kann die Entscheidung hingegen auch auf die Richterschaft zurückgehen, siehe dazu Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 49 (mit Fn. 1). 285 Ebenso Roxin, StrafR AT Bd. I, § 2 Rn. 95, 98, 101. Zu den Kriterien der Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit von Verhaltensnormverstößen für die Entscheidung über die Kriminalisierung siehe Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 50 f. Für eine besonders weite Auslegung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit beim Erlass von Strafnormen Gärditz, JZ 2016, 641 ff. 286 Vgl. auch Robbers, in: Lüderssen, Kriminalpolitik, S. 147, 153 f. 287 Aus Art. 7 Abs. 1 EMRK, Art. 49 Abs. 1 GRC folgt, dass nur ein Gesetz Straftatbestände definieren und Strafsanktionen vorschreiben darf. Als Gesetz gilt auch materielles Recht und damit auch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht in den Common Law Staaten, wenn es auf einer kontinuierlichen, konsistenten Entwicklung beruht. Zu Art. 7 Abs. 1 EMRK Meyer-Ladewig/ Harrendorf/König, in: NK- EMRK, Art. 7 Rn. 13 Zu Art. 49 GRC Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 49 GRC Rn. 5; Eser, in: Meyer, EU-GRC, Art. 49 Rn. 13 f; Jarass, EU-GRC, Art. 49 Rn. 10.

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relevant determiniert288 und damit die rechtliche wie auch die gesellschaftliche Bewertung dieses Übergriffs bestimmt.289 Die gesellschaftliche Entscheidung über die Kriminalisierung eines Übergriffs hat Auswirkungen in zwei vertikalen Beziehungen. Im Verhältnis zwischen der im Staat verfassten Allgemeinheit und dem aus der Verhaltensnorm Verpflichteten hat die normative Determinierung seines Verstoßes als kriminalrechtlich relevant zur Konsequenz, dass sich der Normbrecher einem autoritativen Unwerturteil über sein Verhalten sowie einem Vorwurf für seine Auflehnung gegen die Rechtsordnung durch die Gesellschaft ausgesetzt sieht.290 Im Fall seiner Bestrafung mit einem Sanktionsmittel darf er zudem auf Unterstützung bei der Resozialisierung durch die Gesellschaft hoffen. Die im Staat verfasste Allgemeinheit widmet sich diesem Verhältnis im Regelfall mit den Instrumentarien des Strafjustizsystems. Die Kriminalisierungsentscheidung wirkt sich darüber hinaus auch aus auf das vertikale Verhältnis zwischen dem unmittelbar von dem Übergriff betroffenen Rechtsgenossen und der im Staat verfassten Allgemeinheit. Denn die Kriminalisierungsentscheidung determiniert die Natur und Rezeption des Übergriffs auf den Betroffenen und begründet über diese konstitutive Definitionswirkung eine besondere Verantwortung der Allgemeinheit für den betroffenen Rechtsgenossen. Diese Verantwortung rechtfertigt den für die Unterstützung des unmittelbar Betroffenen nötigen staatlichen Einsatz. Ausführlich begründet sich die Herleitung dieser These wie folgt: Der aus der Verhaltensnorm im Einzelfall konkret Berechtigte erlebt in Konsequenz der staatlichen Entscheidung, die Verhaltensnormverletzung zu kriminalisieren, nicht einen neutralen, von der Gesellschaft primär undefinierten Übergriff wie ihm z. B. das Opfer einer Umweltkatastrophe ausgesetzt ist. Stattdessen wird er mit einem Übergriff konfrontiert, dem aufgrund der vorherigen Kriminalisierungsentscheidung rechtlich und tatsächlich eine besondere Qualität anhaftet. Selbstredend ist einem als strafbar qualifizierten Übergriff per se und damit unabhängig von der Kriminalisierungsentscheidung eine besondere Unwertqualität immanent, die auch die theoretische Basis bilden sollte für die Kriminalisierungsentscheidung. Die rechtstat288 Ebenso Binding, Die Normen und ihre Übertretungen, S. 134 („Der Strafgesetzgeber erzeugt also das Verbrechen.“); Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, S. 155; Kleinert, Mitwirkung, S. 124 Fn. 253. 289 Diese determinierende Wirkung kommt ihr zu unabhängig davon, ob sie auf eine verfassungsrechtliche Kriminalisierungspflicht zurückgeht oder nicht. 290 Zu den Kennzeichen der Kriminalstrafe im deutschen Rechte BVerfGE 43, 101, 105 (ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Betroffenen, Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung und Feststellung der Berechtigung des Vorwurfs). Die Sanktionsnorm zeitigt ihre Vorwurfswirkung bzgl. dem konkreten Rechtsbrecher allerdings nicht bereits ab Erlass der Norm, sondern erst ab Erhebung des Vorwurfs durch das Gericht im Laufe des Strafverfahrens, Lagodny, Strafrecht, S. 108 f. (Lagodny, S. 110, weist weiter darauf hin, dass mit dem Strafurteil zwei getrennte Konsequenzen verbunden sind: der staatliche Vorwurf und die Auferlegung des Sanktionsmittels.)

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Kap. 4: Normatives Fundament

sächliche Anerkennung dieser Qualität und die damit verbundenen Konsequenzen für den Betroffenen beruhen allerdings auf der Kriminalisierungsentscheidung, die von der im Staat verfassten Allgemeinheit getroffen wurde. Denn ohne die vorgelagerte Definition als strafbar hätte das Ereignis rechtlich wie gesellschaftlich eine andere Bedeutung – trotz der damit verwirklichten besonderen Unwertqualität. Erst die Kriminalisierungsentscheidung macht den Übergriff zum strafrechtlich relevanten Ereignis, dem damit ein qualitativ anderes Gepräge verliehen ist als zufälligen Unglücksfällen oder auch rein zivilrechtlich regulierten Schadenszufügungen. Zugleich bestimmt die Kriminalisierungsentscheidung, wie der Betroffene (und die Gesellschaft) den Übergriff wahrnehmen und einordnen. Diese Rezeption ihrerseits wirkt sich darauf aus, wie der Betroffene und die Gesellschaft mit dem Ereignis umgehen. Dabei legt die Kriminalisierungsentscheidung erst die Grundlage dafür, dass der Betroffene das Geschehen als strafrechtlich relevantes Unrecht (im Gegensatz zu Unglück) einordnen kann. Außerdem wohnt der Entscheidung, eine Verhaltensnorm mit einer strafrechtlichen Sanktionsnorm zu flankieren und den Bruch der Verhaltensnorm so mit der schärfsten staatlichen Reaktion zu ahnden, die gesellschaftliche Wertung inne, dass das in der Verhaltensnorm geschützte Interesse besonders wichtig ist für die Funktions- und Bestandsfähigkeit der Rechtsgemeinschaft, und dass es sich bei dem strafrechtlich sanktionierten Verhaltensnormverstoß um einen besonders qualifizierten Verstoß handelt.291 Diese Wertung vermittelt auch dem konkret Betroffenen einen besonderen Stellenwert, indem die Bedeutung seines betroffenen Interesses und die Gravität des tatsächlichen Übergriffs auf ihn a priori anerkannt werden. Dieses Argument ignoriert nicht die Tatsache, dass Verhaltensnormen auf die Zukunft gerichtet sind und bei Normerlass nur potentiell Berechtigte und noch keine tatsächlich Betroffenen in Bezug nehmen können.292 Vielmehr basiert das Argument auf der weitergehenden Überlegung, dass mit dem Erlass der Sanktionsnorm implizit eingestanden wird, dass von Verstößen gegen die Verhaltensnorm und damit von Verletzungen tatsächlicher Individuen trotz des bestehenden Verhaltensimperativs ausgegangen wird.293 Mit dieser Antizipation der Verletzung des Verhaltensimpe291 Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, S. 55, 162; Jescheck/ Weigend, StrafR AT, S. 7; Kleinert, Mitwirkung, S. 95; Schmidt-Jortzig, in: FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 505, 510. In diese Richtung auch BVerfGE 88, 203, 257 f.; Schlussantrag GA Mazák v. 28. 6. 2007, Rs. C-440/05 (Rat/Kommission), Slg. 2007 I-9097, Rn. 67, 95: „Strafrecht[s] als Barometer für die Bedeutung, die eine Gesellschaft einem Rechtsgut oder rechtlichen Wert beimisst“. – Vor dem Hintergrund einer Tendenz moderner Gesellschaften zur Überkriminalisierung mag theoretisch daran gezweifelt werden, ob alle mit Sanktionsnormen untermauerte Verhaltensimperative dieser Kategorisierung genügen. Eine solche Kritik an bestimmten Straftatbeständen würde jedoch nichts daran ändern, dass auch solche (ungerechtfertigten) Kriminalisierungen die nachfolgend beschriebenen Konsequenzen für die Gesellschaft auslösen würden. Denn diese hängen von der Definitionsentscheidung als solcher ab, nicht von der Angemessenheit der Definition unter strafrechtstheoretischen Gesichtspunkten. 292 Freund, StrafR AT, § 1 Rn. 6; Kleinert, Mitwirkung, S. 71. 293 Kleinert, Mitwirkung, S. 71.

F. Normtheoretisch-soziologische Begründung

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rativs wird die zukünftige Individualisierung von konkreten Opfern anerkannt. Die genannte Wertung erstreckt sich damit mittelbar auch auf denjenigen, an dem sich der antizipierte Übergriff konkretisiert. Das wiederum rechtfertigt das Vertrauen des im Einzelfall konkret Betroffenen darauf, dass die mit der Kriminalisierungsentscheidung ausgedrückte Wertung auch für ihn gilt und ihm gegenüber von der im Staat verfassten Allgemeinheit anerkannt und bestätigt wird. Die Kriminalisierungsentscheidung wirkt sich damit in zweierlei Hinsicht elementar auf die Rezeption des Übergriffs durch den unmittelbar Betroffenen aus: Erstens determiniert sie die spezifische Qualität des Übergriffs auf ihn und zweitens weckt sie in ihm das Vertrauen, dass die Allgemeinheit den Wert seines betroffenen Interesses sowie die Bedeutung des Übergriffs auf ihn anerkennt.294 Diese mit der Kriminalisierungsentscheidung vorgenommene Einwirkung auf das gesellschaftliche Gefüge durch die damit verbundene rezeptionsdeterminierende und vertrauensstiftende Kategorisierung eines Übergriffs begründet eine besondere Beziehung zwischen dem Staat und dem Betroffenen, die sich qualitativ unterscheidet von der zwischen dem Staat und z. B. dem Opfer einer Naturkatastrophe oder einem „nur“ zivilrechtlich Geschädigten. Deshalb begründet die Kriminalisierungsentscheidung zugleich eine besondere Verantwortung der im Staat verfassten Allgemeinheit, den Betroffenen bei der Bewältigung eines als strafrechtlich relevant qualifizierten Übergriffs effektiv zu unterstützen.295 Dazu muss die im Staat verfasste Allgemeinheit mindestens das durch die Kombination von Verhaltens- und Sanktionsnorm antizipiert begründete Vertrauen des Betroffenen darauf, dass die mit der Kriminalisierungsentscheidung ausgedrückte Wertung auch für ihn gilt und das Unrecht ihm gegenüber anerkannt wird, durch offizielle Unrechtfeststellung einlösen und sich mit ihm solidarisieren. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont, dass mit dieser Herleitung nicht der Charakter strafrechtlichen Unrechts als überindividuell in Frage gestellt wird. Der Erlass von Verhaltensnormen bringt den Wert besonderer Interessen, die Individuen zugeordnet sind, zum Ausdruck. Die Untermauerung einer Verhaltensnorm mit einer strafrechtlichen Sanktionsnorm unterstreicht die Bedeutung der Verhaltensnorm und reagiert auf die überindividuelle Dimension des durch bestimmte Verstöße verursachten Unrechts. Zugleich bestimmt die Sanktionsnorm das rechtstatsächliche Verständnis des Verstoßes für den Betroffenen. Die Wirkung der Sanktionsnorm, die Bedeutung des Sachverhalts auch für den Betroffenen zu determinieren, besteht unabhängig davon, dass Basis für ihren Erlass die zusätzliche

294 Ähnlich Amelung, in: FS Eser (2005), S. 3, 7 (das Opfer könne sich auf die Strafnorm als sozialen Schutzmechanismus verlassen); auch Holz, Justizgewähranspruch, S. 50 (die Verhaltensnorm generiere Vertrauen in die Geltung der Sanktionsnorm). 295 In der Begründung differierend, aber i.E. ähnlich fordert auch Kleinert, Mitwirkung, S. 129, dass neue Wege zu ergründen sind, wie das Straftatopfer als „Destinatär der staatlichen Gewährleistungsgarantien“ in die gesellschaftlichen Strukturen reingeriert werden kann, auch wenn es nicht im Fokus des strafrechtlichen Schutzes stünde.

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Kap. 4: Normatives Fundament

überindividuelle Relevanz des Normverstoßes und dessen Bedeutung für die Gesellschaft als Ganze ist. Zu erörtern ist schließlich noch, warum die im Staat verfasste Allgemeinheit die im vertikalen Verhältnis zum Straftatopfer bestehenden Aufgaben in einem parallelen, auf dieses vertikale Verhältnis ausgerichteten System erfüllen sollte. Die konstitutive Wirkung der Kriminalisierungsentscheidung begründet die staatliche Verantwortung zur effektiven Unterstützung von Straftatopfern. Zugleich ist der Staat grundsätzlich bei seinen Aktivitäten zur Grundrechtsschonung aller Bürger verpflichtet. Eine effektive sowie für alle Beteiligten und insbesondere für den Beschuldigten grundrechtsschonende Unterstützung von Straftatopfern ist indes, wie dargelegt, besser in einem parallelen System als im Strafverfahren möglich.296 In der Konsequenz empfiehlt die normtheoretisch-soziologische Begründung mittelbar auch die Unterstützung in einem parallelen System. Eine staatliche Verpflichtung dazu im eigentlichen rechtlichen Sinne kann sie aber freilich nicht begründen. Bei Einführung eines parallelen Systems für Straftatopfer würden schließlich die drei Beziehungen, in denen sich ein Verhaltensnormverstoß auswirkt, auf drei unterschiedlichen Ebenen sachgerecht behandelt.297 Das horizontale Verhältnis von Berechtigtem zu Verpflichtetem bliebe primär dem Zivilrecht und sonstigen Konfliktbeilegungsmechanismen vorbehalten. Im vertikalen Verhältnis zwischen der im Staat verfassten Allgemeinheit und dem Verpflichteten würde die Verantwortlichkeit eines Individuums für die Verursachung eines überindividuellen Unrechts gegenüber der Gesellschaft aufgeklärt und ggf. die Verhaltensnorm durch Vollzug der Sanktionsnorm bestätigt. Und im vertikalen Verhältnis zwischen der im Staat verfassten Allgemeinheit und dem konkret Berechtigten würden in einem Parallelsystem die individuellen Auswirkungen des Übergriffs behandelt, das Unrecht anerkannt und Solidarität vermittelt.

II. Anwendung der Begründung im EU-Mehrebenen-System Soll die normtheoretisch-soziologische Begründung für die staatliche Verantwortung zur Unrechtfeststellung gegenüber Straftatopfern und ihre Unterstützung im EU-Mehrebenen-System angewandt werden, müssen die unterschiedlichen Verantwortungs- und Entscheidungsebenen in diesem System berücksichtigt werden. Insofern ist zwischen verschiedenen Sachverhaltskonstellationen zu differenzieren. Bisher agiert die EU nicht als genuiner Urheber von unmittelbar im Verhältnis zu den Unionsbürgern wirksam werdenden Kriminalisierungsentscheidungen. Supra296

Vgl. ausführlich Kap. 3. Ähnlich Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, der allerdings die hier als bilateralvertikales Verhältnis zwischen Staat und Berechtigtem beschriebene Dimension als Dimension zwischen Sozialstaat und Opfer beschreibt und vom Opferentschädigungsgesetz, das der Rehabilitation diene, abschließend geregelt sieht. 297

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national-europäische Strafnormen, die die EU kompetenzrechtlich grds. auf Grundlage von Art. 325 Abs. 4 AEUV erlassen könnte, existieren (noch) nicht.298 Stattdessen erfolgt die Normierung strafrechtlicher Sanktionsnormen auf mitglied-staatlicher Ebene. In diesem Kontext sind zwei Bereiche zu differenzieren. In einigen Strafrechtsgebieten verfügt die EU über keine Anweisungskompetenz bzw. hat eine bestehende Anweisungskompetenz bisher nicht wahrgenommen. In diesen Bereichen liegt die Verantwortung für Kriminalisierungsentscheidungen allein bei den Mitgliedstaaten. In anderen Strafrechtsgebieten verfügt die EU hingegen über eine Harmonisierungskompetenz, z. B. in den in Art. 83 Abs. 1 AEUV angeführten Bereichen schwerer Kriminalität, und macht auch von dieser Kompetenz Gebrauch.299 In diesem zweiten Bereich ist die EU folglich befugt, Richtlinien mit Mindestvorgaben für die Festlegung von Strafnormen zu erlassen, und kann so die Kriminalisierungsentscheidungen der Mitgliedstaaten beeinflussen. Die primäre Verantwortung für die Kriminalisierungsentscheidungen und damit auch für deren konstitutive Wirkung ist aber aus mehreren Gründen auch in diesem Kontext den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern zuzuordnen – jedenfalls soweit es den hier diskutierten Zusammenhang einer Herleitung für die staatliche Verantwortlichkeit zur Unterstützung von Straftatopfern betrifft. Denn erstens begründen strafrechtharmonisierende Richtlinienvorgaben der EU keine unmittelbare Strafbarkeit von Verhalten, sondern bedürfen zwingend einer Transformation in nationales Recht.300 Folglich verbleibt die Urheberschaft der unmittelbar kriminalisierenden Sanktionsnormen auch in diesen Fällen bei den Mitgliedstaaten. Im Rahmen der Umsetzung in nationales Recht verfügen die Mitgliedstaaten des Weiteren stets über einen Spielraum, da die Richtlinien nur Mindestvorgaben normieren. Ferner sind die Mitgliedstaaten am EU-Gesetzgebungsverfahren über ihren Ratsvertreter beteiligt und können so Einfluss auf den Richtlinieninhalt nehmen.301 Sie setzen also nicht lediglich als völlig einflussloses Ausführungsorgan die Entscheidung einer übergeordneten Autorität um. Über das in Art. 83 Abs. 3 AEUV vorgesehene Notbremseverfahren können Mitgliedstaaten zudem die Wirkung einer Richtlinie auf ihre Rechtsordnung ausschließen. Schließlich könnten Mitgliedstaaten zumindest 298

Ob der EU die Kompetenz zum Erlass supranationalen Strafrechts auf Grundlage des Art. 325 Abs. 4 AEUV zukommt, ist umstritten, wird aber zu Recht von der überwiegenden Meinung bejaht, siehe z. B. Ambos, Internationales Strafrecht, § 9 Rn. 22; Hecker, EuStrR, § 4 Rn. 81 f.; Noltenius, ZStW 122 (2010), 604, 617 ff.; Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 325 AEUV Rn. 21; Weißer, GA 2014, 433, 439; Weißer/Göhler, JuS 2016, 532, 533. Für Argumente der Gegenansicht, dass Art. 325 Abs. 4 AEUV nur zum Erlass von Richtlinien ermächtige, Sturies, HRRS 2012, 273, 276 ff. Angesichts der überzeugenden Argumente der h.M. mag es, ein politisch günstiges Klima vorausgesetzt, nur noch eine Frage der Zeit sein, bis supranationale Strafnormen erlassen werden; derzeit existieren sie nicht. 299 Ausführlich hierzu Hecker, in: Sieber et al., EuStrR, § 10 Rn. 15 ff.; Satzger, IEuStrR, § 9 Rn. 31 ff. 300 EuGH, 8. 10. 1987, Rs. C-80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987 3969 Rn. 13; 3. 5. 2005, Rs. C-387/02 (Berlusconi), Slg. 2005 I-3562 Rn. 74. 301 Siehe z. B. Art. 83 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 AEUV.

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Kap. 4: Normatives Fundament

theoretisch – auf die Gefahr hin, wegen eines Verstoßes gegen die Umsetzungspflicht mit einem Vertragsverletzungsverfahren überzogen zu werden – die Umsetzung einer bestehenden Richtlinie in nationales Recht verweigern. Diese multiplen Einflussmöglichkeiten und notwendigen Mitwirkungsschritte der mitgliedstaatlichen Organe am Prozess des Erlasses auch der richtlinienrechtlich determinierten strafrechtlichen Sanktionsnormen zeigen, dass die primäre Verantwortlichkeit für die konstitutiven Kriminalisierungsentscheidungen auch in diesem Bereich den Mitgliedstaaten zugeordnet werden kann. Zudem ist die Verfolgung von Verstößen gegen strafrechtliche Sanktionsnormen im EU-Mehrebenen-System in ähnlicher Weise wie die Strafgesetzgebungskompetenz verteilt. Bisher wird die Strafverfolgung ausschließlich auf nationalstaatlicher Ebene durch nationalstaatliche Behörden betrieben, wobei die mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsorgane freilich unter Mitwirkung von EU-Institutionen und Einrichtungen miteinander kooperieren. Eine Strafverfolgung auf supranationaler Ebene durch genuin supranationale Behörden findet (bisher) nicht statt.302 Diese Entscheidungs- und Aufgabenverteilung im EU-Mehrebenen-System wirkt sich aus auf die Verteilung der Verantwortlichkeit zur staatlichen Unterstützung von Straftatopfern. Insoweit wie bisher die Mitgliedstaaten hauptverantwortlich die konstitutiven Kriminalisierungsentscheidungen treffen und sie auch die Strafverfolgung in eigener Verantwortung ohne supranationale Beteiligung betreiben, sind sie primär und allein dafür verantwortlich, praktisch „ihre“ Straftatopfer zu unterstützen. Sollte die EU in Zukunft von ihrer Kompetenz Gebrauch machen, selbst auf supranationaler Ebene Kriminalisierungsentscheidungen zu treffen, und strafrechtliche Sanktionsnormen in einer EU-Verordnung erlassen, würde daraus für sie in diesem Kontext eine grds. inhaltsgleiche Verantwortung zur Unterstützung von Straftatopfern resultieren, wie sie bereits gegenwärtig für die nationalen Gesetzgeber aufgrund ihrer nationalen Kriminalisierungsentscheidungen besteht. Zu beachten ist aber, dass die EU derzeit mit Art. 325 Abs. 4 AEUV nur über eine Kompetenz verfügt zum Erlass supranationaler Strafnormen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union. Durch solche Straftaten unmittelbar betroffen wäre in den meisten Fällen die EU selbst,303 sodass sich die Notwendigkeit einer besonderen Unterstützung zumindest vorerst praktisch kaum stellen würde. Sollten aber die primärvertraglichen Kompetenzen der EU zum Erlass supranationalen Strafrechts zukünftig ausgeweitet werden und sollte der Unionsgesetzgeber von einer solchen hypothetischen Ausweitung auch praktisch Gebrauch machen, könnte sich eine unmittelbare Verantwortlichkeit der EU zur praktischen Unterstützung von Straftatopfern aktualisieren.

302

Selbst das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, OLAF, ist keine supranationale Strafverfolgungsbehörde, sondern eine Verwaltungsbehörde, die verwaltungsrechtliche Tätigkeiten entfaltet. 303 So schon Göhler, N. J. Europ. Crim. L. 6 (2015), 102, 115.

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Etwas komplexer würde sich schließlich die Verantwortungsverteilung in einem verwobenen Mehrebenen-Gefüge darstellen, wie bei der Tätigkeit der zukünftigen europäischen Staatsanwaltschaft (im Folgenden: EUStA). Die EUStA wird als supranationale Ermittlungs- und Verfolgungsbehörde mit dezentralem KollegiumsAufbau Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU vor nationalen Gerichten gemäß nationalem und partiell supranationalem Verfahrensrecht in Zusammenarbeit mit nationalen Strafverfolgungsbehörden verfolgen.304 Es handelt sich also um ein hybrides System, in dem die EUStA in den nationalen Systemen operieren wird. Da die EUStA ihre Verfolgungstätigkeit auf der Grundlage zwar unionsrechtlich harmonisierter, aber nationaler Strafvorschriften entfalten wird,305 wird die Urheberschaft der Kriminalisierungsentscheidungen auch in diesem Kontext bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Ihnen obliegt damit nach dem hier vorgeschlagenen Konzept auch bei Sachverhalten, die in Zusammenarbeit mit der zukünftigen EUStA verfolgt werden, die Verantwortung zur außerstrafverfahrensrechtlichen Unterstützung der Deliktbetroffenen. In Bezug auf die respektvolle Behandlung und den Schutz etwaiger potentieller Opfer im Strafverfahren wird die EUStA allerdings aufgrund ihrer Involvierung in das Verfahren neben den zuständigen nationalen Strafverfolgungsbehörden eine Mitverantwortung treffen. Da potentiell Betroffene im Rahmen der zukünftigen Tätigkeit der EUStA aufgrund ihrer Zuständigkeit für Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU allerdings in aller Regel die EU selbst sein wird,306 dürfte sich die Notwendigkeit einer gesonderten Unterstützung auch hier praktisch kaum stellen. Erst eine Ausweitung der Kompetenzen der EUStA gem. Art. 86 Abs. 4 AEUV auf weitere Delikttypen könnte dies ändern. Von der Verteilung der staatlichen Verantwortlichkeiten zur konkreten Unterstützung von Straftatopfern getrennt zu beurteilen ist die kompetenzrechtliche Frage, ob und ggf. inwieweit die EU befugt ist, durch Richtlinienvorgaben die mitgliedstaatliche Verantwortung zur Unterstützung von Straftatopfern inhaltlich zu konkretisieren. Denn während jene Verteilung die Ebene Staat/EU-Straftatopfer betrifft, tangiert letztere die Ebene zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Dieses Verhältnis wird u. a. von dem primärrechtlichen Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 2 EUV, bestimmt. Es besagt, dass die EU eine primärrechtlich normierte Ermächtigungsgrundlage benötigt, um die mitgliedstaatliche Verantwortung zur Opferunterstützung mittels Richtlinienvorgaben inhaltlich prägen und harmonisieren zu dürfen. Ob ihr eine solche Kompetenz zusteht, wird noch 304 Die Europäische Staatsanwaltschaft wird im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit voraussichtlich 2020 ihre Aktivitäten aufnehmen, siehe dazu Verordnung (EU) 2017/1939 v. 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), EU-ABl. L 283/1 v. 31. 10. 2017. Siehe aus dem jüngeren Schrifttum zu dem geplanten Aufbau z. B. Jähnke/Schramm, EUStrafR, Kap. 12 Rn. 48 ff. 305 Siehe Art. 4 Verordnung (EU) 2017/1939 und RL 2017/1371 v. 5. 7. 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, EU-ABl. L 198/29 v. 28. 7. 2017. 306 Siehe hierzu Göhler, N. J. Europ. Crim. L. 6 (2015), 102, 115.

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Kap. 4: Normatives Fundament

untersucht.307 Die Unterscheidung dieser beiden Ebenen verdeutlicht für den hier diskutierten Kontext aber, dass es für die dargelegte Argumentation unschädlich ist, dass die EU derzeit nicht selbst als Urheber konstitutiver Kriminalisierungsentscheidungen auftritt. Denn um die Ausgestaltung der Opferunterstützung, die den Mitgliedstaaten dem Grunde nach bereits aufgrund ihrer konstitutiven Kriminalisierungsentscheidungen obliegt, zu konkretisieren, muss die EU nicht selbst als Strafgesetzgeber auftreten und selbst Adressat der Verantwortung zur unmittelbaren Opferunterstützung sein, sondern über eine Anweisungskompetenz gegenüber den Mitgliedstaaten verfügen. Dass eine solche Kompetenz inhaltlich am besten dazu genutzt werden sollte, auf die unionsweite Einführung eines parallelen Unterstützungssystems für Straftatopfer hinzuwirken, ergibt sich schließlich ebenfalls nicht umittelbar aus der Verantwortung für etwaige konstitutive Kriminalisierungsentscheidungen, sondern, wie dargelegt, vor allem aus der Effektivität und den Vorzügen eines solchen Systems.

G. Ergebnis Auf Grundlage einer normtheoretisch-soziologischen Begründung lässt sich ein normativ-theoretisches Fundament für die Rechtfertigung des staatlichen Einsatzes für die Unrechtfeststellung und besondere Unterstützung von Straftatopfern aus der konstitutiven Wirkung der staatlichen Kriminalisierungsentscheidung ableiten. Zusätzlich entspräche eine staatliche Opferunterstützung auch dem Ideal gegenseitiger Solidarität, wie es die EU und ihre Mitgliedstaaten anstreben. Denn Solidarität spielt als Leitwert im EU-Primärrecht eine besondere Rolle.308 Gem. Art. 2 S. 2 EUV zeichnet sich die Unionsgesellschaft durch ihre Solidarität aus und gem. Art. 3 Abs. 3 Uabs. 2 EUV bekämpft die EU soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit. Im zweiten Erwägungsgrund der Präambel der GRC wird der Grundsatz der Solidarität sogar zu einem der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ebenbürtigen Wert erhoben.309 Diesem Leitwert entspricht es, dass die Gesellschaft durch staatliche Organe dem einzelnen Betroffenen in einer besonderen Leidenssituation, die ihn in der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit hemmt und die er nicht aus eigener Kraft bewältigen kann, unterstützend beisteht.310 Die Etablierung eines additiven Betrof307

Siehe Kap. 5 C. Zur Bedeutung von Solidarität als Leitwert im Rechtsgefüge der EU Calliess, in: ders./ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 2 Rn. 29; Meyer, in: ders., EU-GRC, Präambel Rn. 33. 309 In der Präambel des EUV wird Solidarität ebenfalls erwähnt, allerdings in Bezug auf das völkerrechtliche Verhältnis. In Art. 2 EUV und in der GRC hingegen wird Solidarität normiert als Grundsatz zwischen den Bürgern. Artt. 34 – 38 GRC verkörpern zudem ein gesamtgesellschaftliches Solidaritätsverständnis, Rudolf, in: Meyer, EU-GRC, Vorb. Art. 27 – 38 Rn. 32. 310 Soziale/gesellschaftliche Solidarität nennen auch Rafaraci, in: Ruggeri, Human Rights in European Criminal Law, S. 215, 219; Shapland, Brit. J. Crimino. 24 (1984), 131, 138; 308

G. Ergebnis

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fenenforums wäre eine Möglichkeit, um diesen Auftrag zu erfüllen. Damit soll aus dem Solidaritätsgrundsatz keine staatliche Pflicht zur Gewährleistung bestimmter Opferunterstützungsinstrumente oder gar ein damit korrespondierender Anspruch des Einzelnen auf Errichtung bestimmter Unterstützungseinrichtungen abgeleitet werden. Dies wäre eine normative Überbeanspruchung dieses Leitprinzips.311 Gleichwohl findet der Ruf nach Errichtung eines derartigen Unterstützungsinstruments einen Wiederhall im Wertekanon der Union, was die rechtspolitische Legitimität der Forderung, die Gesetzgeber sollten ihr Ermessen in diese Richtung wahrnehmen, untermauert. Den Anspruch, ein justiziables, gar verfassungsrechtlich fundiertes Recht von Straftatopfern auf Errichtung eines Parallelsystems zu begründen, erhebt die normtheoretisch-soziologische Herleitung nicht. Wohl aber bietet sie eine theoretische Begründung für die Annahme einer staatlichen Verantwortung, Straftatopfer effektiv zu unterstützen. Dass diese Verantwortung am effektivsten und grundrechtsschonendsten in einem vom Strafjustizsystem getrennten Parallelsystem erfüllt werden kann, wurde bereits im dritten Kapitel ausführlich dargelegt. Diese Argumentationsbasis unterscheidet die hiesige Herleitung von Ansätzen, die Forderungen nach einer Unterstützung von Opfern durch Unrechtfeststellung aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen ableiten möchten, aber auch von solchen, die sie auf (mitleidige) Wohltätigkeit basieren.312 Dies ist deshalb bedeutsam, weil erstere Begründungsansätze dogmatisch nicht zu fundieren sind, und weil letztere sich zwar auf hehre moralische Beweggründe stützen, diese in einem Rechtssystem aber nicht als alleiniges Fundament tragen. Der vorgeschlagene Ansatz antizipiert ein Parallelsystem, das ganz auf die ReIntegration des Deliktsbetroffenen und die Versicherung ihm gegenüber, dass ihm Unrecht geschehen ist, gerichtet ist. Worum es in diesem Parallelsystem nicht geht, sind staatliche Reaktionen – wie etwa die Bestrafung – gegenüber dem Täter im Namen oder für den Betroffenen. Verfassungsrechtlich verbürgt ist ein solches subjektives Recht auf Bestrafung nicht, weshalb der Staat auch nicht zu seiner Anerkennung verpflichtet ist und es auch nicht anerkennen sollte.313 Die vorgebrachten staatstheoretischen, entwicklungshistorischen und kompensatorischen Spinellis, Isr. L. Rev. 31 (1997), 337, 338; Weigend, Deliktsopfer, S. 424, als Argument für staatliche Unterstützung von Opfern. Zum social welfare-Argument im Kontext von Opferrechten im englischen Recht Miers, State Compensation, S. 7; zu den USA Karmen, Crime Victims, S. 442. 311 Vgl. parallel so auch zum Sozialstaatsprinzip im deutschen Recht, das ebenfalls nicht als Ursprung einer staatlichen Verpflichtung zur Erfüllung eines konkreten Leistungskatalogs für Verbrechensopfer taugt, Müller-Dietz, in: FS Dünnebier (1982), S. 75, 84 f. 312 Siehe z. B. Sielaff, Kriminalistik 4/2010, 212, 213, und oben Kap. 4 A – E. 313 In Erinnerung gerufen sei insofern zudem, dass die Anerkennung eines individuellen Bestrafungsinteresses de lege ferenda eine fundamentale Veränderung des gültigen Strafprozessregimes mit problematischen Implikationen für die Stellung des Angeklagten bedeuten würde.

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Kap. 4: Normatives Fundament

Ansätze zur Begründung eines Bestrafungsanspruchs des Opfers vermochten ebenso wenig zu überzeugen. Schließlich ist auch das hier entwickelte normtheoretischsoziologische Fundament nicht darauf ausgerichtet, einen Anspruch auf eine staatliche Reaktion gegenüber einem Dritten zu tragen, sondern begründet nur die Verantwortung zur Unterstützung der Betroffenen. Diese umfasst die offizielle Anerkennung des Unrechts, nicht aber den Ausspruch eines Vorwurfs gegenüber dem Verursacher.

Kapitel 5

Additives Betroffenenforum – ein Alternativmodell für die Befriedigung des Genugtuungsinteresses von Straftatopfern und ihre Unterstützung? Die EU-Gesetzgebung zu Rechten von Straftatopfern will primär die Stellung des Opfers im Strafjustizsystem stärken. Getragen ist dies von dem Ziel, aus wohlfahrtstaatlichen Gründen eine verletzte Person bei der Verarbeitung strafrechtlich relevanter Erlebnisse auf dem Weg „zurück ins Leben“ zu unterstützen.1 Diese gesetzgeberische Zielsetzung ist zu begrüßen. Dieses Ziel durch die verstärkte Einbindung des Verletzten in die staatliche Strafverfolgung erreichen zu wollen, ist aber, wie gezeigt, kein optimaler Ansatz.2 Insbesondere die Anerkennung eines Genugtuungsinteresses des Opfers im Strafjustizsystem konfligiert mit Grundannahmen der nationalen Strafverfolgungssysteme und gefährdet die durch die Aufklärung errungene Balance im Strafverfahren. Weil Straftatopfer über keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung und Bestrafung des Täters verfügen, besteht auch keine staatliche Pflicht, sie derart in das Strafjustizsystem zu integrieren. Außerdem ist die Konzentration auf das Strafjustizsystem aus Perspektive der Opfer unbefriedigend. Denn das Strafjustizsystem kann der Aufgabe, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, konzeptionell nicht gerecht werden. Zugleich trifft die Rechtsgemeinschaft aber, wie dargelegt, die Verantwortung, Straftatopfer effektiv bei der Verarbeitung des Geschehens zu unterstützen und das Unrecht ihnen gegenüber anzuerkennen. Bislang fehlt es an einem Vorschlag, der dieses Spannungsfeld auflöst und Opferinteressen adäquat abbildet. Deshalb soll in diesem letzten Kapitel der Vorschlag für ein mögliches neues Instrument konkretisiert werden, mit dem der Staat seine Verantwortung gegenüber Opfern erfüllen und sie entsprechend dem Unionsziel konfliktfrei und effektiv unterstützen könnte. Ziel ist es, die im horizontalen und vertikalen Rechtsvergleich sowie bei der Analyse der internationalen Bemühungen um Straftatopferrechte übereinstimmend festgestellten Problemkreise einer adäquaten Lösung zuzuführen. Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse erscheint es sinnvoll, der Ausgestaltung dieses Vorschlags fünf Annahmen zugrunde zu legen. Erstens müsste ein Alternativsystem die mehrheitlich propagierten Bedürfnisse von Straftatopfern befriedigen: 1 2

Siehe oben Kap. 1 D II 1, III 1. So auch auf nationaler Ebene, Bung, StV 2009, 430, 432.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Es müsste offiziell anerkennen, dass ihnen Unrecht zugestoßen ist,3 und ihnen gesellschaftliche Solidarität, praktische Unterstützung bei der Bewältigung der Tatfolgen und eine Möglichkeit zur kathartischen Kommunikation über das Geschehen gewähren. Zweitens müsste das Alternativsystem vom Strafjustizsystem unabhängig sein. Drittens würde ein alternatives Modell den Staat nicht davon entbinden, den vermeintlich Verletzten innerhalb des Strafverfahrens mit Respekt und Würde zu behandeln und, soweit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar, durch geeignete Maßnahmen zu schützen. Das Modell müsste aber entbehrlich machen, darüber hinausgehende (Bestrafungs-)Interessen des vermeintlich Verletzten in den Strafprozess zu integrieren. Viertens dürfte dem Verletzten in diesem Modell kein Anspruch auf eine staatliche Verfolgung eines vermeintlichen Täters zuerkannt oder ein Recht auf eine sonstige staatliche Reaktion gegen einen Dritten begründet werden. Vielmehr sollte das Alternativsystem ausschließlich die vertikale Beziehung zwischen Staat und Opfer betreffen. Fünftens dürfte die Ausgestaltung des Alternativsystems in keiner Weise die Position des Beschuldigten im Strafverfahren beeinträchtigen. Das Alternativmodell soll in drei Schritten entwickelt werden. Zunächst werden bisherige Vorschläge für ein Engagement für Straftatopfer außerhalb des Strafjustizsystems analysiert, um mögliche Kriterien für die konkrete Ausgestaltung zu ermitteln. Nach diesen Vorarbeiten wird die praktische Ausgestaltung des hier vorgeschlagenen Alternativmodells, eines sog. additiven Betroffenenforums,4 skizziert. Zuletzt wird der Vorschlag des additiven Betroffenenforums in seiner konkreten Gestaltung bewertet und in den Kanon bestehender EU-Opferschutzpolitiken eingeordnet.

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem Die Errichtung eines vom Strafjustizsystem unabhängigen, opferzentrierten Parallelsystems ist bisher nur sehr vereinzelt Gegenstand von Vorschlägen in den Strafrechtswissenschaften gewesen. Im Folgenden werden die wenigen Vorschläge untersucht, die aus dem Strafjustizsystem hinausführende Wege aufzeigen, um eine potentielle Vorbildfunktion für die praktische Ausgestaltung eines Alternativmodells zur Opferunterstützung auszuloten.

3

C I. 4

Zu diesem Grundbedürfnisse siehe ausführlich mit Nachweisen Kap. 2 A II 2 b) bb) (2), 3 Zur Namensgebung siehe Kap. 3 E.

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem

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I. Lüderssen: nicht-strafrechtliches Ausgleichsystem In der deutschen Literatur ist insbesondere Klaus Lüderssen dafür eingetreten, Opferinteressen in einem „nicht-strafrechtlichen Ausgleichsystem mit klarer und legitimer Interessenzuweisung“ zu befriedigen.5 Gedankliches Fundament dieser Forderung ist seine Überzeugung, dass eine Integration von Straftatopfern in das Strafjustizsystem verfehlt sei und der Staat seiner besonderen Verantwortung ihnen gegenüber stattdessen durch die Aktivierung behördlicher Kompetenzen im Zivil-, Sozial- und sonstigen öffentlichen Recht gerecht werden müsse. Entwickelt hat Lüderssen diesen Ansatz in Reaktion auf die Diskussion, ob das Opfer einen Anspruch gegen den Staat auf Bestrafung „seines Täters“ zur Verschaffung von Genugtuung habe. Lüderssen negiert den Anspruch mit Verweis auf den Gemeinwohlbezug des Strafrechts.6 Genugtuung für das Opfer als Strafzweck sei weder de lege lata im öffentlichen Strafrecht angelegt, weil es den Strafanspruch dem Volk zuspreche, noch sei ein solcher Genugtuungsanspruch de lege ferenda unter der deutschen Verfassungsordnung einführbar.7 Darüber hinaus bezweifelt Lüderssen die Existenz eines privaten Genugtuungsinteresses. Nur die „grandiose Unterversorgung des Opfers durch das Zivil- und Sozialrecht [habe] das Ersatzbedürfnis nach Strafe […] entstehen lassen“.8 Denn das Schadensersatzrecht für Opfer sei primitiv, weil das dominante Strafrecht Opferbelange okkupiert und so die Entwicklung des Zivilrechts blockiert habe.9 Opfern bleibe unter diesen Umständen nur die „Möglichkeit der strafrechtlichen Überkompensation“.10 Tatsächlich wollten Opfer nicht Genugtuung, sondern individualisierten Ausgleich bzw. reale Kompensation.11 Lüderssen geht weiter davon aus, dass Straftatopfer eine besonders schwere Last tragen und sich deshalb in einer anderen Lage befinden als Personen, die durch eine nur zivilrechtliche Folgen auslösende unerlaubte Handlung oder Vertragsverletzung geschädigt worden sind.12 Verbrechensopfer verdienten deshalb mehr staatliche 5

Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 889. Dagegen Krauß, in: FS Lüderssen (2002), S. 269, 276 ff. 6 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466. Zu seiner Konzeption des Gemeinwohlbezuges des Strafrechts siehe Lüderssen, StV 2004, 97, 100 ff. 7 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 470 ff.; ders., in: Prittwitz/Manoledakis, Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 63, 67 ff.; ders., in: FS Hirsch (1999), S. 879, 887 ff. 8 Lüderssen, in: Prittwitz/Manoledakis, Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 63, 70. Mit anderen Worten, aber inhaltsgleich auch Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 470. 9 Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 890 f. 10 Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 894. 11 Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 890; ders., in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 470. 12 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 475; ders., Im Zweifel gegen den Täter. Ähnlich Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 892.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Aufmerksamkeit und Fürsorge. Ihre Unterversorgung durch das seiner Ansicht nach unterentwickelte zivilrechtliche Schadensersatzrecht sei unhaltbar. Vielmehr müsse der Staat für sie ein spezielles Schadensersatzrecht installieren.13 Konkret entwirft er ein vom Strafprozess getrenntes Verfahren in der Zivilprozessordnung, das die Haftung eines Tatverdächtigen für den beim vermeintlich Verletzten angerichteten Schaden besonders regelt und das Adhäsionsverfahren überflüssig macht.14 Durch die Unabhängigkeit vom Strafprozess soll das Verfahren „ganz frei vom Odium der Strafe sein“.15 Die Zurechnung des Schadens, für den in diesem Verfahren gehaftet werden soll, soll sich allerdings nach strafrechtlichen Kriterien richten. Denn das Opfer erhalte das besondere Schadensersatzrecht überhaupt nur, weil es von fremder Schuld betroffen worden sei, die schwerer wiege als die herkömmliche zivilrechtliche Zurechnung.16 Um das Opfer gegenüber dem normalen Schadensersatzrecht zu begünstigen, solle in dem Ausgleichsverfahren aber der Amtsermittlungsgrundsatz gelten und das Verfahren solle nicht durch zivilprozessuale Beweislastregeln erschwert werden.17 Weiterhin solle das Strafverfahren zur Effizienzsteigerung des Schadensersatzverfahrens ausgesetzt werden, solange in letzterem die zivilrechtlichen Verhältnisse geklärt würden.18 Zugleich dürfe aber die Begünstigung des Opfers im Schadensersatzrecht nicht das Kräfteverhältnis im Strafprozess zu Lasten des Beschuldigten verändern. Daher sollten in dem Ausgleichsverfahren alle strafprozessualen Beschuldigtenrechte, insbesondere das Schweigerecht, gewahrt werden; zivilrechtlich nicht gelten solle nur das Prinzip in dubio pro reo bzw. die Unschuldsvermutung.19 Die Verbesserung der Kompensation durch das modifizierte Zivilprozessrecht dürfe sich schließlich nicht auf materielle Bedürfnisse beschränken.20 Insgesamt, so Lüderssen, könne sich das modifizierte zivilprozessuale Schadensersatzrecht „zu einem Teil eines umfassenden, das Strafrecht relativierenden Interventionsrechts entwickeln“.21 Insoweit, wie die Gemeinschaft für den Schadensausgleich gegenüber dem Opfer aufzukommen habe, will Lüderssen das Schadensersatzsystem durch ein sozialrechtliches System öffent-licher Opferentschädigung ergänzen.22 Die staatliche Verantwortung gegenüber Opfern grds. durch eine Ausweitung staatlicher Entschädigung zu erfüllen, anstatt die Anspruchsdurchsetzung gegenüber dem zivilen Schädiger zu effektivieren, lehnt er hingegen ab. Eine solche Herangehensweise 13

Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 475; ders., in: FS Hirsch (1999), S. 879, 892; ders., Im Zweifel gegen den Täter. 14 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 478. 15 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 478. 16 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 476. 17 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 477; ders., Im Zweifel gegen den Täter. 18 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 478. 19 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 477 f., 480. 20 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 481. 21 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 481. 22 Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 892.

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem

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käme einer Versicherungslösung gleich, die aus Präventionsgesichtspunkten kontraproduktiv sei, und letztlich dem Prinzip, dass der haften müsse, der für einen Schaden verantwortlich sei, widerspreche.23 Für das Verhältnis von Täter- und Opferinteressen sei vielmehr primär das Zivilrecht zuständig, lediglich unterstützt durch ein System öffentlicher Opferentschädigung.24 Einige von Lüderssens Prämissen decken sich mit den hier zugrunde gelegten Annahmen. So geht auch Lüderssen davon aus, dass Straftatopfer in anderer Weise betroffen sind als Personen, die „nur“ durch eine unerlaubte Handlung im zivilrechtlichen Sinne geschädigt worden sind.25 Diese besondere Betroffenheit soll eine besondere staatliche Verantwortung ihnen gegenüber begründen. Weiterhin argumentiert auch Lüderssen, dass das Strafjustizsystem nicht geeignet ist, um diese besondere Verantwortung zu erfüllen und die Interessen von Straftatopfern zu befriedigen, sondern dass der Staat ihnen ein alternatives, vom Strafverfahren unabhängiges System bieten sollte.26 Außerdem bindet auch Lüderssen seinen Schadensersatzanspruch an strafrechtliche Zurechnungsvoraussetzungen, weil Grund für die Errichtung des besonderen Ersatzsystems gerade die Betroffenheit des Anspruchsberechtigten durch eine Straftat sei. Diese Argumentation ähnelt der hier vertretenen Annahme, dass die Unrechtfeststellung gegenüber dem Opfer zumindest partiell von strafrechtlichen Voraussetzungen abhängen muss, weil sich die staatliche Verpflichtung zur Opferunterstützung aus der staatlichen Kriminalisierungsentscheidung ableitet.27 Zuzustimmen ist Lüderssen auch darin, dass in einem Alternativsystem für Straftatopfer zu ihrer Entlastung der Amtsermittlungsgrundsatz gelten sollte und dass zugleich die Installation des Alternativsystems die Position des Beschuldigten im Strafverfahren keinesfalls verschlechtern darf. Auf diese zwei Aspekte ist bei der konkreten Ausgestaltung des Vorschlags für ein Alternativsystem besonderes Augenmerk zu richten.28 Lüderssens Folgerungen unterscheiden sich allerdings von dem hier angedachten Konzept. Zusammenfassend lassen sich Lüderssens Ausführungen so interpretieren, dass ihm eine Art Zwitterverfahren, angelegt zwischen Zivil- und öffentlichem Recht, vorschwebt, in dem der Staat als amtlicher Aufklärer ohne Bindung an den in dubio pro reo-Grundsatz die Schuld des Täters für das Opfer feststellt, und in dem sodann das Opfer auf Basis dieser Feststellungen seine Entschädigungsansprüche gegen den Täter geltend machen kann.29 Der Vorschlag konzentriert sich damit auf 23

Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 475 f. Lüderssen, in: FS Hirsch (1999), S. 879, 890. 25 Siehe zur hier zugrunde gelegten Herleitung oben Kap. 4 F I. 26 Siehe zur hier vertretenen Begründung ausführlich oben Kap. 3. 27 Siehe oben Kap. 3 C I, Kap. 4 F I. 28 Siehe hierzu unten Kap. 5 B. 29 Ähnlich wird Lüderssen interpretiert von Weigend, RW 2010, 39, 50 Fn. 52, der Lüderssen die Forderung nach einem „isolierten Schuldfeststellungsverfahren“ nachsagt; ähnlich auch von Galen, StV 2013, 171, 174, die allerdings davon ausgeht, Lüderssen habe vorge24

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

die Durchsetzung der materiellen Ansprüche des Opfers gegen „seinen Täter“. Der Staat spielt darin nur als Mittler und Unterstützer eine Rolle. Das hier ins Auge gefasste System hingegen soll sich gerade auf das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Betroffenen konzentrieren, der (vermeintliche) Täter soll darin keine primäre Rolle einnehmen. Auch sollen nicht wie bei Lüderssen monetäre Entschädigungsansprüche – weder gegen den Staat noch gegen den Schädiger – im Mittelpunkt stehen,30 sondern die immaterielle Anerkennung von Unrecht und praktische Unterstützungsleistungen. Das hier anvisierte Konzept träfe damit anders als Lüderssen auch keine Wertung über die Notwendigkeit des Adhäsionsverfahrens oder vergleichbarer Systeme. Diese abweichende Schwerpunktsetzung erklärt sich nicht daraus, dass die Entschädigung des Opfers durch den Täter als irrelevant erachtet würde. Sie resultiert aus der Erkenntnis, dass dem Verhältnis vom Staat zum Betroffenen eine eigene, davon losgelöste Bedeutung zukommt. Gerade in diesem Verhältnis besteht echter Innovationsbedarf. Aus dieser anderen Zweckrichtung folgt auch, dass Lüderssens Forderung, sein alternatives Verfahren müsse zwingend zeitlich vor dem Strafverfahren ablaufen, keine Vorbildfunktion für das additive Betroffenenforum entfalten sollte.31 Lüderssens Vorschlag für ein außerstrafrechtliches Ausgleichssystem für Straftatopfer teilt und bestätigt einige der hier getroffenen Annahmen. 32 Insgesamt ist er aber auf ein anderes Themenfeld gerichtet als das hier anvisierte Konzept. Insofern bleibt seine Inspirationswirkung dafür gering und beschränkt sich auf den allerdings wichtigen Aspekt, zu bestätigen, dass ein Parallelsystem für Straftatopfer die Balance im Strafverfahren nicht zum Nachteil des Beschuldigten verändern darf.33

schlagen, dass der Staat das Opfer zunächst selbst entschädigen und dann beim Täter Regress nehmen solle. Lüderssens eigenen Ausführungen ist das allerdings gerade nicht zu entnehmen. 30 Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume?, S. 466, 481, verweist zwar darauf, dass nicht nur materielle Ansprüche kompensiert werden müssten, allerdings ist das von ihm vorgeschlagene Verfahren allein auf deren Befriedigung ausgerichtet. Der Ausgleich immaterieller Interessen wird nicht erläutert. 31 Siehe ausführlich unten Kap. 5 B. 32 Der Klarstellung halber sei zudem betont, dass hier nicht die Legitimation des Strafjustizsystems negiert, sondern nur ein davon zu unterscheidendes, additives System für Opfer vorgeschlagen wird. Lüderssen hingegen scheint zumindest partiell die Ersetzung des öffentlichen Strafrechts durch andere Modi der Streitbeilegung zu erwägen, siehe z. B. in: Prittwitz/ Manoledakis, Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, S. 63, 73; krit. dazu Jerouschek, KJ 1992, 250, 254 f. 33 Siehe ausführlich Kap. 5 B I 1.

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem

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II. Herman: Parallel Justice Das bisher wohl umfangreichste Konzept für ein vom Strafjustizsystem unabhängiges Parallelsystem für Straftatopfer hat Susan Herman, Strafrechtsprofessorin an der Pace University, Beraterin der New Yorker Polizei im Umgang mit Verbrechensopfern und ehemalige Leiterin des amerikanischen National Center for Victims of Crime, in den USA entwickelt: Parallel Justice for Victims of Crime.34 Schlüsselprinzip von Parallel Justice ist die Differenzierung zweier selbstständiger, parallel agierender Systeme, die nach einer Straftat Gerechtigkeit herstellen: ein System für den Beschuldigten/Täter und ein System für das Opfer.35 Hermans Konzept ist im Inund Ausland positiv rezipiert worden36 und wurde in einigen US-amerikanischen Kommunen bereits pilotweise umgesetzt, z. B. in Burlington, Vermont, und Redlands, Kalifornien.37 Anlass für Herman, das Parallel Justice-Konzept zu entwickeln, war ihre kritische Beobachtung, dass eine Straftat einen Täter und ein Opfer hervorbringe, sich die gesellschaftliche Antwort auf die Straftat in den USA aber ausschließlich dem Täter widme. Ob Gerechtigkeit wiederhergestellt worden sei, würde nur danach beurteilt, ob der Täter entsprechend dem öffentlichen Interesse in einem fairen Verfahren angemessenen sanktioniert und anschließend erfolgreich resozialisiert worden sei.38 34 Herman, Parallel Justice, passim; dies., in: Davis/Lurigio/dies., Victims of Crime, S. 491 ff.; dies., in: Zehr/Toews, Critical issues in restorative justice, S. 75 ff.; dies., Seeking Parallel Justice. Siehe auch die offizielle Homepage, abrufbar unter http://paralleljustice.org/ (11. 2. 2018) und die Informationen des National Center for Victims of Crime zu Parallel Justice, abrufbar unter https://victimsofcrime.org/library/publications/other-topics/parallel-justi ce (11. 2. 2018). 35 Herman, Parallel Justice, S. 56 f. 36 Aus amerikanischer Sicht Zweig, Peace and Conflict 17 (2011), 193 ff.; aus australischer Sicht Gear, Deakin L. Rev. 17 (2012), 191 ff. Aus deutscher Sicht Kreuzer, Opferschutz, S. 3 f.; Schöch, in: Dölling/Jehle, Täter, Taten, Opfer, S. 217, 218; ders., in: FS Pfeiffer (2014), S. 565 ff.; Steffen, in: Marks/dies., Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 51, 107 ff. Von Galen, StV 2013, 171 ff. und Pfeiffer, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 179, 192 ff. unterbreiten beide Vorschläge zur Umsetzung von Hermans Konzept im deutschen Justizsystem; dazu Kap. 5 A III, IV. 37 Siehe den Internetauftritt der pilotweise umgesetzten Initiativen in Burlington und Redlands, abrufbar unter http://pjburlington.org/home.htm; http://www.cityofredlands.org/poli ce/paralleljustice (31. 1. 2018). Die Verwaltung von Rochester, Minnesota erörterte 2013 mit Herman die Umsetzung von Parallel Justice in Rochester, siehe DFO Community Corrections Advisory Board, Minutes, 16. 10. 2013, S. 1, abrufbar unter https://goo.gl/QzhNNW (30. 1. 2018). Zudem wies Herman im Gespräch mit der Verfasserin im NYC Police Department im März 2016 darauf hin, dass viele US-amerikanische Kommunen ihr Konzept umsetzten, ohne es explizit als Parallel Justice zu bezeichnen oder auf sie zu verweisen. Nur die Wirtschaftskrise habe aufgrund angespannter Haushaltslagen zu einem Rückgang des kommunalen Engagements bei der Umsetzung von Parallel Justice geführt, z. B. in Burlington, Vermont. Siehe auch Gear, Deakin L. Rev. 17 (2012), 191, 196 ff. zur praktischen Umsetzung des Konzepts. 38 Herman, Parallel Justice, S. 1.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Dem Täter werde so mit dem Strafjustizsystem ein eigenes Forum zur Herstellung von Gerechtigkeit bereitgestellt.39 Für das Opfer hingegen unternähme die Gesellschaft keine äquivalenten Bemühungen, ihm ein eigenes Forum zur Verarbeitung des Geschehens und zur Herstellung von Gerechtigkeit zu bieten. Stattdessen würde primär auf das Strafjustizsystem rekurriert, um auch den Opfern Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Dieser Ansatz sei in vielerlei Hinsicht verfehlt und vor allem ineffektiv.40 Dies stünde im Widerspruch dazu, dass die Gesellschaft bzw. der Staat verpflichtet sei, auch für Opfer Gerechtigkeit herzustellen.41 Denn die Begehung einer Straftat sei ein Bruch des Gesellschaftsvertrags,42 und die Fürsorge für Opfer sei deshalb eine echte staatliche Verpflichtung und nicht nur eine im Ermessen stehende wohlfahrtstaatliche Aufgabe.43 Zudem geböten kriminalpräventive, sicherheits- und fiskalpolitische Argumente ein spezifisches Engagement für Straftatopfer.44 Das Parallel Justice-System erfülle diese gesellschaftliche Verpflichtung, indem es die Herstellung von Gerechtigkeit für Opfer zur eigenständigen gesellschaftlichen Aufgabe erhebe. Herzstück von Hermans Konzept ist, dass die Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber dem Täter und dem Opfer in separaten Systemen nachkommen soll.45 Das Parallel Justice-System soll deshalb unabhängig sein von der Identifikation oder Mitwirkung eines Täters und dem eventuellen Stattfinden eines Strafverfahrens.46 Dabei ist der Ansatz additiv-parallel und nicht alternativ zum Strafjustizsystem angelegt, er ersetzt letzteres also nicht. Herman fasst diese Grundsätze und ihre Wirkung so zusammen: „Parallel Justice decouples the pursuit of justice for victims from the administration of justice for offenders. As a result, justice for victims becomes a distinct goal rather than an occasional byproduct of a system focused elsewhere.“47 Inhaltlich soll das Parallel Justice-System jedem Straftatopfer unabhängig von etwaigen Abläufen im Strafjustizsystem folgende Leistungen gewähren: Sicherheit vor wiederholter und sekundärer Viktimisierung sowie praktische, auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützung, finanzielle Hilfe und ma39

Herman, Parallel Justice, S. 57. Herman, Parallel Justice, S. 53. Ausführlich zu den nach Herman existierenden Nachteilen gegenwärtiger Ansätze zur Befriedigung von Opferinteressen id., S. 4 f., 29 ff. 41 Eine prägnante Zusammenfassung ihrer Argumente hierfür gibt Herman z. B. in: Davis/ Lurigio/ dies., Victims of Crime, S. 491, 495. Ausführlicher Herman, Parallel Justice, S. 9 – 27. 42 Herman, in: Davis/Lurigio/dies., Victims of Crime, S. 491, 495. Sie substantiiert dieses Argument nicht ausführlich. Es erinnert an eine Begründung der staatlichen Verpflichtung gegenüber Straftatopfern auf Grundlage des gesellschaftsvertraglich übertragenen staatlichen Gewaltmonopols. Zu dieser Herleitung und den Contra-Argumenten siehe Kap. 4 B. 43 Herman, Parallel Justice, S. 6, 55. 44 Herman, Parallel Justice, S. 2. Insbesondere ihr Argument, dass Hilfe für Opfer dazu beitrage, weitere Straftaten zu verhindern, durchzieht ihr gesamtes Werk. 45 Herman, Parallel Justice, S. 2. 46 Herman, Parallel Justice, S. 55 ff. 47 Herman, Parallel Justice, S. 56. 40

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem

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terielle Entschädigung. Besonders hervorzuheben ist außerdem die von Herman statuierte Aufgabe des Parallel Justice-Systems, Opfern einen Ort zu bieten, an dem sie öffentlich über das Erlebte und ihre daraus resultierenden Bedürfnisse berichten können und an dem das ihnen widerfahrene Unrecht offiziell anerkannt werde.48 Durch Hilfe zur Selbsthilfe sollen diese Angebote die Resilienz der Opfer fördern und sie in die Lage versetzen, möglichst zügig die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen. Übergeordnetes Ziel der Bemühungen sei, Opfer in das gesellschaftliche Leben zu re-integrieren.49 In Übereinstimmung mit ihrem Grundkonzept fordert Herman keine Einflussnahmemöglichkeiten der Opfer auf den Strafprozess oder die Bestrafung des Täters.50 Für die praktische Umsetzung von Parallel Justice-Initiativen definiert Herman zehn „Guiding Principles”51: Erstens müsse Opfern geholfen werden, die Kontrolle über ihr Leben nach der Tat zurück zu erlangen. Zweitens verdienten alle Opfer gleichermaßen Gerechtigkeit. Insbesondere dürfe zwischen ihnen nicht anhand der Art des Verbrechens, ihrer Mitwirkung an der Strafverfolgung oder der Person des Täters oder Opfers differenziert werden. Drittens sei die Glaubwürdigkeit von Opfern zu unterstellen, solange keine triftigen Gründe bestünden, an der Wahrheit ihrer Aussage zu zweifeln. In Parallele zur Unschuldsvermutung im Strafjustizsystem will Herman die Opfereigenschaft vermuten. Viertens solle die Sicherheit von Opfern oberste Priorität haben und fünftens sollten sie kein weiteres Leid erfahren.52 Sechstens sollten die Opfern gesetzlich eingeräumten Rechte praktisch eingehalten werden. Siebtens sollten Opfer die Möglichkeit erhalten, ihre Erlebnisse und Bedürfnisse öffentlich mitzuteilen. Achtens müsse die Gesellschaft bzw. der Staat Opfern explizit versichern, dass ihnen ein Unrecht widerfahren sei und alles zu ihrer Unterstützung unternommen werde. Neuntens müssten die Bedürfnisse von Opfern 48

Herman, Parallel Justice, S. 6, 56 f. Herman, Parallel Justice, S. 58. 50 Zwar unterstützt Herman eine respektvolle Behandlung von Opfern im Strafverfahren und begrüßt darauf ausgerichtete Reformen, die konkrete Ausgestaltung der Rolle des Opfers im Strafverfahren ist aber nicht Hauptgegenstand ihrer Arbeit. Im Gespräch mit der Verfasserin im NYC Police Department im März 2016 betonte sie, sie nehme explizit keine Stellung dazu, wie die Rechte des Opfers im Strafverfahren auszugestalten seien, sondern trete lediglich dafür ein, dass zugestandene Rechte durchsetzbar sein müssten. Jedenfalls sei die Konzentration auf Opferrechte im Strafverfahren verfehlt, um Gerechtigkeit für Opfer herzustellen, Herman, Parallel Justice, S. 4 f., 44, 53. Dem Opfer ein Recht auf ein spezifisches Vorgehen im Strafverfahren oder die Sanktionierung zuzugestehen, lehnt sie ebenso ab wie ein Recht von Straftatopfern, Entscheidungen, ein Strafverfahren einzustellen, anzufechten, Herman im persönlichen Gespräch mit der Verfasserin im NYC Police Department im Juni 2015. 51 Für eine Übersicht siehe Herman, Parallel Justice, S. 63; Erklärungen zu den Prinzipien auf S. 59 – 63. 52 Unter dem Punkt, dass Opfer kein weiteres Leid erfahren sollen, fasst Herman mehrere Forderungen zusammen: Opfer sollten mit Respekt und Würde behandelt werden, ihr Zugang zu Ressourcen sollte vereinfacht und beschleunigt werden, und Kosten, die dem Opfer durch die Straftat entstehen, sollten möglichst von der Öffentlichkeit getragen werden, Herman, Parallel Justice, S. 61. 49

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

in koordinierter, umfassender Weise befriedigt werden. Zehntens sollten kriminalpolitische Entscheidungen zur Opferunterstützung auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Personell zielt Herman für die Realisierung ihres Konzepts auf Ganzheitlichkeit und fordert die Mitwirkung zahlreicher Aufgabenträger. Regierung, Kommunen und Täter müssten darauf hinwirken, dass der gesellschaftliche Umgang mit Straftatopfern an den zehn „Guiding Principles“ ausgerichtet würde.53 Insbesondere die der Regierung auferlegten Pflichten sind dabei sehr umfangreich und ressourcenintensiv.54 In die konkrete praktische Implementierung seien darüber hinaus Akteure wie Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte und Strafvollzugsbehörden, Opferanwälte, das Gesundheitssystem, Sozialbehörden, aber auch Träger der Zivilgesellschaft wie Arbeitgeber, Unternehmen und das soziale Nahfeld der Betroffenen – Nachbarn, Freunde und Familie – einzubinden.55 Die Strafverfolgungsbehörden erklärt Herman zu den wichtigsten Akteuren bei der praktischen Umsetzung von Parallel Justice. Die Polizei müsse u. a. die Glaubwürdigkeit von Opfern bei der Anzeigeerstattung unterstellen, sie mit Informationen versorgen und ihnen den Zugang zu Parallel JusticeLeistungen vermitteln.56 Staatsanwälte sollten im Strafverfahren Opfern gegenüber offiziell anerkennen, dass ihnen Unrecht widerfahren sei.57 Strukturell basiert Hermans Konzept damit wesentlich auf gesellschaftlichem Engagement und erfordert als wohl wichtigsten Bestandteil ein gesellschaftliches Umdenken, nämlich die Verankerung der gesamtgesellschaftlichen Überzeugung, dass alle Verbrechensopfer ein Anrecht auf Gerechtigkeit außerhalb des Strafjustizsystems haben und jeder in der Gesellschaft an der Herstellung davon mitwirken könne und müsse.58 Hermans Analyse ist insoweit beizupflichten, dass ein Perspektivenwechsel weg vom Strafjustizsystem, hin zu einem unabhängigen Parallelsystem für Opfer notwendig ist. Viele der von ihr genannten Argumente, warum insbesondere das Strafjustizsystem ungeeignet ist, um die Bedürfnisse von Straftatopfern zu erfüllen, stimmen mit dem hier erhobenen Befund inhaltlich überein.59 Eine weitere Kongruenz besteht in der Annahme, dass eine staatliche Verpflichtung gegenüber Opfern 53

Siehe näher Herman, Parallel Justice, S. 64 ff. Herman, Parallel Justice, S. 66 f., 114 ff.; dies., Seeking Parallel Justice, S. 6 ff.: es brauche einen priorisierten Zugang zu Sozialleistungen, weitreichende staatliche Entschädigung, subventionierte Kredite, Steuererleichterungen etc. 55 Herman, Parallel Justice, S. 77 ff. 56 Herman, Parallel Justice, S. 78 ff. 57 Herman, Parallel Justice, S. 89. 58 Siehe Herman, Parallel Justice, S. 76. Die Prämisse, dass jedes Opfer ein Recht auf Unterstützung im Rahmen von Parallel Justice habe, gelte auch für juristische Personen. Allerdings stünde diese Prämisse immer unter dem Vorbehalt verfügbarer öffentlicher Ressourcen. Insofern könne die Gesellschaft bei der Erfüllung der Opferansprüche unter Umständen zwischen den Betroffenen priorisieren, Herman, im persönlichen Gespräch mit der Verfasserin im NYC Police Department im März 2016. 59 Kap. 3 C, siehe dort auch zu Übereinstimmungen mit Hermans Argumentation. 54

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem

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existiert, auch wenn Hermans Herleitung aus dem Bruch des Gesellschaftsvertrags nicht geteilt wird.60 Weiterhin ist den meisten ihrer zehn Leitprinzipien zuzustimmen, und auch einige ihrer Vorschläge zur praktischen Umsetzung des Parallel Justice-Modells lassen sich fruchtbar machen als Inspirationsquelle für die Ausgestaltung des additiven Betroffenenforums. Dies gilt insbesondere für ihren Vorschlag, sogenannte staatliche Parallel Justice-Spezialisten einzusetzen, die als offizielle Anlaufstelle für Opfer unabhängig vom Strafverfahren agieren und mit ihnen ihre Bedürfnisse erörtern und Unterstützungsmaßnahmen koordinieren und vermitteln.61 Hermans Vorschläge zur Realisierung der beiden primären Funktionen eines Parallelsystems für Verbrechensopfer – die offizielle Unrechtfeststellung und die Gehörsgewährung – überzeugen allerdings nicht. Grds. plädiert auch Herman in ihrem siebten und achten Leitprinzip dafür, dass Opfern als Teil von Parallel Justice Gehör zu gewähren sei und ihnen gegenüber das Unrecht anerkannt werden müsse. Beides will sie über zwei Mechanismen umsetzen.62 Zum einen sollen alle öffentlichen Behörden – besonders Strafverfolgungsbehörden, aber auch z. B. Sozial- oder Gesundheitsämter – regulär eine kontinuierliche Kommunikationsbeziehung zu Opfern unterhalten, womit das notwendige Gehör gewährleistet würde. Außerdem sollten die staatlichen Stellen dem Opfer während dieser ohnehin stattfindenden Kommunikation vermitteln, dass anerkannt würde, dass ihnen Unrecht zugestoßen sei.63 Die Polizei könne z. B. Opfern nach einer Anzeigeerstattung eine Karte mit einem Passus zur Unrechtanerkennung schicken, oder die Staatsanwaltschaft könne die Unrechtanerkennung in einem Schreiben erwähnen, das an sich strafverfahrensrechtliche Belange behandele. Zweitens schlägt Herman vor, Kommissionen zu errichten, vor denen Opfer von den Auswirkungen der Tat auf ihr Leben und ihren Bedürfnisse berichten könnten. Die Kommissionen sollten sodann offiziell anerkennen, dass dem Opfer Unrecht zugestoßen sei, und seinen Zugang zu weiteren Hilfsdiensten koordinieren.64 Damit will Herman allerdings kein offizielles eigenständiges Verfahren installieren, in dem das Opfer öffentliches Gehör erhält, seine Aussagen geprüft werden und dann auf Grundlage dieser Prüfung das verwirklichte Unrecht ihm gegenüber offiziell anerkannt wird.65 Stattdessen sind nach Herman 60

Siehe Kap. 4 B. Herman, Parallel Justice, S. 122. Siehe zur Umsetzung dieser Idee hier Kap. 5 B I 4. 62 Herman, Parallel Justice, S. 68. 63 Herman, Parallel Justice, S. 86, 89. Im Gespräch mit der Verfasserin im NYC Police Department im März 2016 wies Herman daraufhin, dass entsprechend diesem Prinzip mittlerweile ein Commissioner des New York Police Department jedem (vermeintlichen) Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung eine E-Mail sende, in der ihm die Polizei versichere, ihm sei Unrecht widerfahren. 64 Herman, Parallel Justice, S. 68 f., 122 ff. 65 Die folgenden Erläuterungen zu Hermans Konzept beruhen auf dem Verständnis der Verfasserin, das sie sich auf Grundlage persönlicher Gespräche mit Herman im NYC Police Department im Juni 2015 und März 2016 gebildet hat. Etwaige Fehlinterpretationen sind der Verfasserin anzulasten. 61

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

diese sog. Foren bzw. Kommissionen so unbürokratisch und informell wie möglich auszugestalten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Betrachtung der Parallel Justice-Kommission in Burlington, Vermont, USA, wo das Parallel JusticeKonzept als Pilotprojekt nach Hermans Grundsätzen praktiziert wird.66 Diese Modellkommission hört nur eine kleine Auswahl von Opfern, und zwar solche, die sich über die Bearbeitung ihres Falls durch die Behörden oder den Parallel JusticeSpezialisten beschweren möchten. Primäre Aufgabe der Kommission ist – in Übereinstimmung mit Hermans Konzept67 –, eine Qualitätskontrolle von Opferhilfsdiensten zu garantieren, indem sie Beschwerden über das System entgegen nimmt und Verbesserungsvorschläge für das Opferunterstützungssystem entwickelt.68 Die Gehör- und Anerkennungsfunktion der Kommission wird so zu einem Nebeneffekt. Insgesamt strebt Herman eine informelle Erfüllung der Bedürfnisse nach Unrechtfeststellung und Gehör an. Es geht ihr nicht darum, ein offizielles, diesen Zwecken dienendes Instrument zu errichten, sondern um einen Einstellungswandel bei den staatlichen Aufgabenträgern.69 Diese sollen en passant ihrer regulären Tätigkeit Opfern jederzeit unbürokratisch rückversichern, dass ihnen Unrecht widerfahren sei, und sie anhören. Auch Hermans These zu der faktischen Grundlage für die Unrechtfeststellung ist fragwürdig. Denn nach Herman sollen die insofern relevanten Fakten vor der informellen, aber offiziellen staatlichen Unrechtanerkennung nicht überprüft werden. Stattdessen sollen die Polizeibeamten, die primäre „Gate-Keeper“ des Parallel Justice-Systems seien, aufgrund ihrer professionellen Erfahrungen im Umgang mit Straftatopfern darüber befinden, ob ein vermeintliches Opfer als glaubwürdig eingestuft werden könne.70 Entsprechend Hermans drittem Leitprinzip ist davon aus-

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Siehe http://www.pjburlington.org/commission.htm (30. 1. 2018). Herman, Parallel Justice, S. 123: „These forums can serve a number of important purposes. First, they can be vehicles for establishing accountability for the quality of services for victims. Specifically, they should provide opportunities for victims to lodge complaints about inadequate services, unreasonable policies, or systematic neglect by government agencies. The forum can also provide a hearing for victims to talk about issues that cut across government and nonprofit agencies.“ 68 Herman, Parallel Justice, S. 123 f. 69 Ihre Intention, von jedem separaten formellen Verfahren abzusehen, betonte Herman nachdrücklich in Gesprächen mit der Verfasserin im NYC Police Department im März 2016 und Juni 2015. 70 Diese Lösung zur Überprüfung der Faktenlage schlug Herman im Gespräch mit der Verfasserin im Juni 2015 vor. In ihrem Buch schreibt Herman, dass eine Person, die von einem Polizeibeamten nicht als Opfer anerkannt worden sei, „should be able to ,appeal‘ that determination to a supervisor or other high-ranking police official“, Parallel Justice, S. 80. Im Gespräch stellte Herman jedoch klar, dass mit „appeal“ kein offizielles Verfahren gemeint sei. Vielmehr genüge es, wenn der Betroffene in einem Telefonat die Einschätzung von einem Vorgesetzten überprüfen lassen und eine Erklärung erhalten könne, die Missverständnisse ausräume; ein offizielles Beschwerde- oder Überprüfungsverfahren brauche es nicht. Das Opfer solle offizielle Entscheidungen nicht anfechten können, da ansonsten das System überfordert 67

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem

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zugehen, dass die Polizeibeamten auch in diesem Kontext die Glaubwürdigkeit von Opfern grds. unterstellen müssen.71 Konsequenz ist, dass nach Herman schlicht die als glaubwürdig unterstellten Ausführungen des (vermeintlichen) Opfers die ungeprüfte Basis bilden (würden) für die offizielle Unrechtanerkennung und Zuerkennung weiterer Serviceleistungen im Parallel Justice-System. Dieser Ansatz besticht zweifelsohne durch seine unbürokratische Herangehensweise. Ob eine offizielle staatliche Unrechtanerkennung auf die ungeprüfte Aussage eines Interessenträgers gefußt werden sollte, ist aber mehr als zweifelhaft. In diesem Zusammenhang ist Hermans drittes Leitprinzip, die Opfereigenschaft einer Person zu unterstellen, solange sie nicht eindeutig die Unwahrheit sage, grds. zu hinterfragen.72 Herman konstruiert die Vermutung der Opfereigenschaft in Parallele zur Unschuldsvermutung des Beschuldigten und fordert, dass alle Staatsbediensteten –auch Polizei und Staatsanwaltschaft – sie im Umgang mit (vermeintlichen) Opfern befolgen. Davon erhofft sie sich, dass die Polizei, Staatsanwaltschaft und andere offizielle Stellen Opfer besser behandeln.73 Eine solche rechtlich verbindliche Opfervermutung ist allerdings problematisch. Dies gilt insbesondere, wenn Herman auch Personen zu ihrer Anwendung verpflichtet, die im Kontext des Strafverfahrens agieren. Zwar konfligiert die Vermutung, dass eine Person Opfer einer Straftat geworden ist, nicht zwangsläufig mit der Unschuldsvermutung.74 Konflikte können aber auftreten, wenn nur eine bestimmte Person als einzig möglicher Täter identifiziert wird. Vermuten Strafverfolgungsbehörden in einem solchen Fall die Opfereigenschaft der anschuldigenden Person, enthält diese Vermutung implizit die Unterstellung, die angeschuldigte Person sei Straftäter. Vor dem gesetzlichen Beweis der Schuld der identifizierten Person verletzt ein solches Vorgehen das Recht auf Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK, 48 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta.75 Die Forderung einer rechtlich zwingenden Opfervermutung begründet damit unausweichlich Spannungen mit der Unschuldsvermutung und der Fairness des Strafverfahrens.76 Unabhängig von der Festlegung auf einen vermeintlichen Täter prädeterminiert die Vermutung der Opfereigenschaft einer Person darüber hinaus stets zumindest partiell die staatliche Ermittlungstätigkeit. Denn die Vermutung schließt jedenfalls a priori das Ermittlungsergebnis aus, dass sich gar keine Straftat ereignet hat. Strafverfolgungsbehörden sollten jedoch ergebnisoffen an ihre Aufgabe und zu sehr bürokratisiert werde. Auch sei mit dem Recht auf „appeal“ nicht die Existenz eines Rechts auf Aufklärung oder Verfolgung der Straftat impliziert. 71 Herman, Parallel Justice, S. 60. 72 Herman, Parallel Justice, S. 60. 73 Siehe Interview von Susan Herman mit Ronnie M. Eldrige in der Sendung Eldrige & Co des Senders der City University of New York, abrufbar unter https://goo.gl/nGd2T6 (30. 1. 2018). 74 Ausführlich Kap. 2 A II 2. 75 Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: NK-EMRK, Art. 6 Rn. 212 f. 76 Zum Recht auf Unschuldsvermutung als Teil des Rechts auf ein faires Strafverfahren siehe EGMR, Urt. v. 5. 7. 2001, App. No. 41087/98, § 40 (Phillips/Vereinigtes Königreich).

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

herangehen. Ihnen zwei Hüte aufzusetzen, die je nach Ansprechpartner – (vermeintliches) Opfer bzw. Beschuldigter – ausgetauscht werden müssten, erscheint ebenfalls kaum praktikabel. Innerhalb des Strafjustizsystems darf deshalb aus rechtsstaatlichen Gründen keine generalisierte verbindliche Opfervermutung gelten. Aber auch außerhalb des Strafverfahrens sollten öffentliche staatliche Feststellungen und Leistungen nur auf einer gesicherten Tatsachengrundlage und nicht auf einer ungeprüften Vermutung gewährt werden. Insgesamt plant Herman eine informelle Ausgestaltung der Unrechtfeststellungsund Gehörsfunktion: Beides soll auf vermuteter Tatsachengrundlage en passant zu anderen staatlichen Aufgaben erfolgen. Herman will kein substantiiertes System installieren, das auf eine formelle öffentliche Prüfung und Anerkennung des Unrechts angelegt ist, sondern zielt primär auf eine Einstellungsänderung bei Staatsbediensteten, die Opfer-zugewandter werden soll. Um den beschriebenen Stabilisierungseffekt beim Opfer durch offizielle Rückversicherung, gesellschaftliche Solidarisierung und Gehör zu erreichen, bedarf es jedoch eines förmlichen Rahmens, in dem Betroffene gehört und anerkannt werden. Die ohnehin stattfindende Kommunikation mit Strafverfolgungsbeamten und die mehr beiläufige Versicherung in anderen Kontexten – etwa einem Ladungsschreiben –, dass Unrecht geschehen sei, erscheinen insofern unzureichend. Außerdem ist eine offizielle staatliche Unrechtanerkennung basierend auf der pauschalierten Vermutung der Opfereigenschaft und ohne Überprüfung der zugrunde gelegten Ausführungen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten schwer hinnehmbar. Schließlich überzeugt es nicht, den Zugang zu einem Parallelsystem, dessen wesentliches Charakteristikum gerade seine Unabhängigkeit vom Strafjustizsystem sein soll, bei der Polizei als sog. Gate-Keeper zu verorten. Diesen Vorschlägen zur konkreten Ausgestaltung des Parallel JusticeKonzepts kann daher nicht gefolgt werden. Darauf ist – in Abweichung von Hermans Konzept – bei der Entwicklung der konkreten Ausgestaltung des hier vorgeschlagenen Betroffenenforums zurück zu kommen: Es sollte einen offiziellen, vom Strafjustizsystem losgelösten Rahmen für die Unrechtanerkennung bieten und auf gesicherter Tatsachengrundlage agieren.77 Weiterhin ist zu gewährleisten, dass die Ausgestaltung des Parallelsystems keinesfalls die Position des Angeklagten im Strafjustizsystem beschwert.78 Schließlich plädiert Herman dafür, Straftatopfern im Rahmen von Parallel Justice eine Sonderstellung bei der Gewährung von Sozialleistungen einzuräumen. Die spezifischen Erfahrungen von Opfern variierten, weshalb staatliche Reaktionen individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten werden müssten.79 Daher sollten Opfer 77

Siehe Kap. 5 B I 1. Dies ist bei Hermans Konzeption nicht vollständig ausgeschlossen. Zum einen erscheint insofern die geforderte Opfervermutung problematisch, zum anderen fordert Herman die umfangreiche Berücksichtigung von Opferinteressen in verschiedenen Kontexten, die den Beschuldigten belasten können, etwa bei der Haftentlassung des Täters, siehe Herman, Parallel Justice, S. 94 ff. 79 Herman, in: Davis/Lurigio/dies., Victims of Crime, S. 491, 495. 78

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z. B. einen priorisierten Zugang zu Sozialleistungen, Steuererleichterungen und besondere öffentliche Kreditkonditionen erhalten.80 Offen lässt Herman, ob der Opferstatus einzige Voraussetzung der Leistungsgewährung sein soll oder ob weitere Voraussetzungen anzulegen wären.81 Insoweit ist jedoch zu beachten, dass Sozialsysteme eigene Zulassungskriterien definieren, die zumindest im Rahmen der EU nicht ohne Weiteres pauschal durch die vermutete Eigenschaft als Straftatopfer ersetzt werden könnten. Stattdessen sollte die Entscheidung über die Gewährung solcher Leistungen den Entscheidungsträgern in den jeweiligen Sozialsystemen entsprechend der speziell in diesen Systemen geltenden Vorgaben vorbehalten bleiben. Ein additives Betroffenenforum sollte deshalb nicht automatisch Leistungen gewähren, sondern nur eine Informations- und Vermittlungsrolle übernehmen.82 Viele praktische Forderungen des Parallel Justice-Konzepts – wie die nach einer Gleichbehandlung aller Opfer83, ihrer würde- und respektvollen Behandlung84, ihrem Schutz85, ihrer praktischen individualisierten Unterstützung unabhängig vom Ablauf eines konkreten Strafverfahrens86, Ausgleich der durch die Straftat verursachten finanziellen Nachteile87, die forschungsbasierte Überprüfung der Effizienz von Unterstützungsprogrammen für Opfer88 – sind konsensfähig und bereits als Forderungen in der RL 2012/29/EU angelegt. Die wichtigste Komponente des Parallel Justice-Konzepts enthält die EU-Opferrechtepolitik allerdings gerade noch nicht: die Forderung nach einem eigenständigen, vom Strafjustizsystem gelösten, öffentlichstaatlichen System für Opfer. In dieser Hinsicht kann der Parallel Justice-Ansatz 80

Herman, Parallel Justice, S. 66 f., 114 ff. Auf Nachfrage der Verfasserin im März 2016 äußerte Herman, dass sie die Voraussetzungen der Leistungsgewährung von der Gesellschaftsstruktur abhängig machen würde. In den USA etwa sei es nicht ungewöhnlich, einen Anspruch z. B. auf Prozesskostenhilfe trotz eigener finanzieller Leistungsfähigkeit des Antragsstellers zu gewähren, in Europa hingegen müssten aufgrund anderer Traditionen Ansprüche wohl von der Bedürftigkeit des Anspruchsstellers abhängig gemacht werden. 82 Siehe Kap. 5 B II. Dem Gespräch der Verfasserin mit Herman im NYC Police Department im März 2016 zufolge will auch Herman das System auf eine Vermittlungsrolle reduzieren: Parallel Justice-Spezialisten sollten nur den Zugang zu Leistungen vermitteln, sie aber nicht selbst gewähren. 83 Siehe die Opferdefinition in Art. 2 Abs. 1 RL 2012/29/EU, die keine Opferhierarchien bildet, vertiefend Kap. 2 A II 1, und Art. 8 Abs. 5 RL 2012/29/EU, der praktische Unterstützung unabhängig von einem Strafverfahren zusichert, dazu Kap. 2 A III 3. 84 Siehe Art. 1 Abs. 2 RL 2012/29/EU. 85 Siehe Art. 1 Abs. 1 und Art. 18 ff. RL 2012/29/EU, wobei der Schutz in der Richtlinie sich vor allem auf das Strafverfahren bezieht (vgl. Kap. 2 A V), das Parallel Justice-Konzept hingegen auch Schutz außerhalb davon fordert, z. B. durch staatliche Unterstützung bei der Installation von Verriegelungsmechanismen an der Wohnung eines verängstigten Opfers nach einem Wohnungseinbruch. 86 Siehe insbes. Artt. 8 und 9 RL 2012/29/EU zu Opferunterstützungsdiensten und Kap. 2 A III 3. 87 Siehe insbes. Artt. 13 – 16 RL 2012/29/EU und Kap. 2 A IV 3. 88 Siehe insbes. Art. 26 Abs. 1 RL 2012/29/EU. 81

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Vorbildfunktion entfalten für den hier auszuarbeitenden Vorschlag für eine neue Opferschutzpolitik auf Unionsebene. Für die konkrete Ausgestaltung des Systems, insbesondere in Bezug auf die Gehör- und Feststellungsfunktion, sind allerdings aus den dargestellten Gründen andere Maßstäbe zu entwickeln.

III. Gräfin von Galen: opferorientiertes Verwaltungsverfahren Ein an das Parallel Justice-Konzept von Herman angelehnter und auch von Lüderssens Ausführungen zu einem nicht-strafrechtlichen Ausgleichsystem inspirierter Vorschlag für eine Opferzuwendung außerhalb des Strafverfahrens findet sich des Weiteren bei Margarete Gräfin von Galen.89 Sie schlägt vor, ein vom Strafverfahren unabhängiges, opferorientiertes Verwaltungsverfahren einzurichten, in dem auf Grundlage einer Opfervermutung staatliche Entschädigung für materielle und immaterielle Schäden des Opfers geleistet werde.90 Der deutsche Anwaltverein griff diesen Vorschlag auf und empfahl ihn dem deutschen Gesetzeber im Zuge der Ausarbeitung des 3. Opferrechtsreformgesetzes, dem deutschen Umsetzungsgesetz zur RL 2012/29/EU, als Alternative zur Erweiterung der Opferrechte in der StPO.91 Der Gesetzgeber hat auf diesen Vorschlag – soweit ersichtlich – nicht reagiert. Primäre Motivation für von Galens Vorschlag zur Installation eines Parallelsystems für Opfer ist ihre Sorge um die verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Beschuldigten, die ihrer Ansicht nach durch die derzeit vom Gesetzgeber unerlässlich betriebene Stärkung der Position des Opfers im Strafverfahren zwangsläufig beeinträchtigen würden.92 Außerdem würde der Staat auch den Belangen der Opfer nicht gerecht, wenn er sich darauf konzentrierte, sie am Strafverfahren zu beteiligen, weil ihre Interessen darin unausweichlich mit denen des Beschuldigten konfligierten.93 Die Aufnahme des Opfers in das Strafverfahren sei deshalb insgesamt „ein Irrweg“.94 Durch die Einrichtung eines eigenen Verwaltungsverfahrens für Opfer hingegen könne der rechtsstaatliche Strafprozess für den Beschuldigten bewahrt und zugleich den Opferinteressen besser entsprochen werden.95 89

Von Galen, StV 2013, 171 ff. = dies., „Parallel Justice“ für Opfer von Straftaten. Zust. Kreuzer, Opferschutz, S. 4. Krit. Meier, JZ 2015, 488, 494; Schöch, in: FS Pfeiffer (2014), S. 565, 566 f. 90 Von Galen, StV 2013, 171, 176. 91 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins, Nr. 66/2014, zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren, Dez. 2014, S. 9, abrufbar unter http://goo.gl/va247P (30. 1. 2018). 92 Von Galen, StV 2013, 171, 173 ff. 93 Von Galen, StV 2013, 171, 175. 94 Von Galen, StV 2013, 171. 95 Von Galen, StV 2013, 171, 175.

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Praktisch plädiert von Galen für ein eigenständiges, vom Ausgang des Strafverfahrens unabhängiges, opferorientiertes Verwaltungsverfahren, in dem der Verletzte eine staatliche Entschädigung für seine materiellen und immateriellen Schäden erhält. Dem Täter käme in diesem Verfahren keine Rolle zu: Weder soll die Kompensation abhängig sein von einer förmlichen Feststellung seiner Schuld noch von seiner Leistungsfähigkeit.96 Beweisrechtlich solle das Verfahren von einem in dubio pro victima-Grundsatz bestimmt werden, d. h. die Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit der Ausführungen des (mutmaßlichen) Opfers wären - offenbar ohne weitere Prüfung - und ohne Geltung der Unschuldsvermutung zu unterstellen.97 Dass in einem später durchgeführten Strafprozess die Strafbarkeit des vermeintlichen Täters anders beurteilt werden könnte, sei als notwendige Folge der gegensätzlichen Vermutungen in dubio pro reo bzw. pro victima in den beiden Verfahren hinzunehmen und vom Rechtsstaat auszuhalten.98 Außerdem solle das Verfahren so rasch wie möglich und zeitlich vor dem Strafprozess stattfinden.99 Insgesamt würde dieses Verfahren so alle Bedürfnisse des Opfers erfüllen: Es würde das Unrecht dem Opfer gegenüber anerkennen, seiner Aussage Glauben schenken und seine Schäden finanziell kompensieren.100 Im Gegenzug dafür, dass seine Schäden durch staatliche Mittel ausgeglichen würden, müsse das Opfer seine potentiellen Ansprüche gegen den vermeintlichen Täter an den Staat abtreten.101 Der Staat könne sie zur Regressnahme gegen den Täter geltend machen. Der finanzielle Aufwand, der dem Staat dadurch entstünde, dass er nicht in allen Fällen die Regressansprüche erfolgreich beitreiben könne, soll nach von Galen zumindest teilweise durch die Abschaffung der Nebenklage kompensiert werden.102 Denn Opfern, die das außerstrafrechtliche Entschädigungsverfahren in Anspruch nehmen können, will sie im Gegenzug die Nebenklagebefugnis versagen.103 Von Galens Analyse, dass Straftatopfer von der Installation eines eigenen, vom Strafjustizsystem unabhängigen Systems profitieren würden, ist grds. beizupflichten. Die Konsequenzen, die sie aus diesem Ergebnis zieht, überzeugen indes nicht. Im 96

Von Galen, StV 2013, 171, 176. Von Galen, StV 2013, 171, 176. 98 Von Galen, StV 2013, 171, 176. Zust. Kreuzer, Opferschutz, S. 4: divergierende Entscheidungen seien in diesem Fall im Sinne eines konsequenten Opferschutzes vom Rechtsstaat in Kauf zu nehmen. 99 Die Annahme dieser zeitlichen Reihenfolge basiert auf von Galens Aussage, die vorherige Kompensation im Verwaltungsverfahren erleichtere dem Opfer die spätere Zeugenaussage im Strafprozess, weil seine Bedürfnisse bereits erfüllt seien, StV 2013, 171, 176. 100 Von Galen, StV 2013, 171, 176. 101 Von Galen, StV 2013, 171, 176. 102 In der Abschaffung der Nebenklage sieht von Galen, StV 2013, 171, 176, Einsparpotential, weil Ausgaben für die Prozesskostenhilfe entfielen, Strafverfahren ohne Nebenklagebeteiligung zügiger abgeschlossen würden und in kürzere Haftstrafen mündeten. 103 Von Galen, StV 2013, 171, 176, 178. 97

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Mittelpunkt ihres Konzepts steht die monetäre Kompensation der Opfer, die Unrechtanerkennung erscheint allenfalls als Nebenprodukt.104 Dabei kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass ihr Vorschlag letztlich von der Intention getragen wird, mit der Versprechung ausschweifender Geldzuwendungen für alle Straftatopfer, deren Zuerkennung „nur eine Frage des politischen Willens“105 sei, das Strafverfahren von seiner „Bürde“ der Opferbeteiligung freizukaufen. Denn zum einen betont sie auf Grundlage einer Untersuchung einiger verfassungsrechtlicher Vorgaben, dass der Gesetzgeber den Verletzten weitestgehend aus dem Strafverfahren verbannen könne.106 Zum anderen will sie die Zugeständnisse bei der außerstrafrechtlichen Kompensation mit einer Reduktion der Opferrechte im Strafverfahren verrechnen.107 Von Galens offenbarer Beweggrund für diesen Vorschlag die Annahme eines unausweichlichen Nullsummenspiels zwischen den Positionen des Beschuldigten und eines vermeintlich Verletzten im Strafverfahren - ist in dieser Grundsätzlichkeit indes zweifelhaft.108 Jedenfalls steht dieser Ansatz in scharfem Kontrast zu ihrer angegebenen Inspirationsquelle, dem Parallel Justice-Modell. Das führt sie zwar als Vorbild an, folgt ihm aber nur sehr selektiv. Denn die Schwächung der Position des vermeintlich Verletzten im Strafverfahren als Ausgleich für eine Zuwendung außerhalb des Strafverfahrens ist kein Ziel von Parallel Justice.109 Wichtiger noch ist, dass sich gesellschaftliche Zuwendung zum Opfer außerhalb des Strafverfahrens nicht in einer finanziellen Entschädigung erschöpfen kann, sondern dass sie Opferbedürfnisse ganzheitlich angehen müsste.110 Finanzielle Kompensation ist deshalb auch nur einer von mehreren Bestandteilen von Parallel Justice. Insbesondere die Unrechtanerkennung sollte in einem opferorientierten Parallelverfahren nicht nur ein Nebeneffekt sein.111

104 Dies wird besonders in ihrem Fazit deutlich, von Galen, StV 2013, 171, 178, in dem sie die Einrichtung von Hilfsfonds für Opfer als den richtigen Ansatz bezeichnet. Die Forderung nach Errichtung eines außerstrafrechtlichen Entschädigungsverfahrens und Abschaffung der Nebenklage werden wiederholt betont, andere mögliche Funktionen eines Parallelverfahrens – Feststellung, Gehör etc. – hingegen nicht aufgegriffen. 105 Von Galen, StV 2013, 171, 176. 106 Von Galen, StV 2013, 171, 172 f. 107 Krit. Schöch, in: FS Pfeiffer (2014), S. 565, 566 f. 108 Ausführlich Kap. 3 B. 109 Herman, Parallel Justice, S. 43 ff. Im Gespräch mit der Verfasserin im Department der New Yorker Polizei im Juni 2015 unterstrich Herman, dass sie eine bessere Behandlung von Opfern im Strafverfahren begrüße, dieser Themenkomplex aber nicht im Zentrum ihres vom Strafverfahren unabhängigen Konzepts stehe. Krit. zu von Galen auch Schöch, in: FS Pfeiffer (2014), S. 565, 566, 572. 110 Krit. zur Befriedungsfunktion so einer staatlichen Opferentschädigung Meier, JZ 2015, 488, 494. 111 Zwar erkennt von Galen unter Verweis auf Reemtsma an, dass Opfer ein Interesse an Unrechtanerkennung haben, und betont, dass ihr opferorientiertes Verwaltungsverfahren es auch befriedige, StV 2013, 171, 175 f. Im Mittelpunkt ihres Vorschlags scheint es aber nicht zu stehen.

A. Bisherige Vorschläge für ein opferzentriertes Parallelsystem

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Weiterhin erscheint von Galens Vorschlag, auf jede Prüfung des Vorbringens des mutmaßlichen Opfers zu verzichten und die finanzielle Kompensation und Unrechtanerkennung durch den Staat auf eine Opfervermutung zu stützen, aus den gleichen Gründen fragwürdig, aus denen der ähnliche Vorschlag von Herman zurückgewiesen wurde.112 Damit wird nicht in Frage gestellt, dass divergierende Ergebnisse zwischen dem Strafverfahren und einem davon unabhängigen, Opferbedürfnissen gewidmeten Verfahren möglich und auch rechtsstaatlich zu rechtfertigen sind. Bestritten wird aber, dass das parallele Verfahren ganz ohne Überprüfung der zugrunde zu legenden Fakten auskommen kann. Unklar bleibt bei von Galens Vorschlag zudem, was faktisch in dem von ihr vorgeschlagenen Verwaltungsverfahren unterstellt werden soll. Setzt die staatliche Kompensation die Annahme voraus, dass der Antragssteller Opfer einer im Antragszeitpunkt verfolgbaren Straftat geworden ist, oder bedeutet „Unrecht“ für von Galen etwas anderes? Unabhängig davon, ob ein Parallelverfahren auf materielle Kompensation oder immaterielle Solidarisierung zielt, ist zwingend der Rechtsgrund zu definieren, auf dessen Grundlage die Kompensation oder Solidarisierung erfolgen soll. Diese Schwachpunkte in von Galens Argumentation geben Anlass, diesen Aspekten bei der praktischen Ausgestaltung des Betroffenenforums besonderes Augenmerk zu widmen und sie zu lösen.113 Insgesamt vermag von Galens Vorschlag damit allenfalls eingeschränkte Inspirationswirkung für das hier entwickelte Konzept zu entfalten. In Abgrenzung von dem opferorientierten Verwaltungsverfahren sollte das additive Betroffenenforum jedenfalls einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgen, mit einem Fokus auf der immateriellen gesellschaftlichen Solidarisierung mit dem Opfer durch Anerkennung des ihm widerfahrenen Unrechts auf gefestigter Tatsachengrundlage.

IV. Pfeiffer: Parallel Justice im deutschen Recht Schließlich hat auch Christian Pfeiffer 2013 das Parallel Justice-Konzept von Herman aufgegriffen und dafür plädiert, ihr Konzept als Ganzes in das deutsche Strafverfolgungssystem zu übertragen.114 Hierfür unterbreitet er drei praktische Umsetzungsvorschläge. Erstens fordert er ganz allgemein in Übereinstimmung mit den von Herman aufgestellten Grundsätzen, dass alle Menschen, die beruflich oder privat mit Straftatopfern in Kontakt treten, die von Herman aufgestellten Leitprinzipien umsetzen und so zur Stabilisierung der Opfer beitragen.115 Zweitens kon112

Siehe Kap. 5 A II. Siehe Kap. 5 B I 1 b). 114 Pfeiffer, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 179, 192 ff. Wiedergegeben und begrüßt bei Schöch, in: FS Pfeiffer (2014), S. 565, 567 ff. 115 Pfeiffer, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 179, 194. 113

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

kretisiert er die Rolle der Polizei. Unter Geltung von Parallel Justice solle sie eine Doppelfunktion ausfüllen als Strafverfolger und dazu gleichrangig als Opferunterstützer. In ihrer Funktion als Opferunterstützer müsse sie allen Opfern gleichermaßen mit Respekt, Empathie und Sensibilität begegnen und ihnen vor allem die Botschaft übermitteln: „Du bist nicht Leidtragender eines Unglücks geworden. Nein, Dir ist durch einen Täter Unrecht widerfahren. Das wird von uns nicht akzeptiert“.116 In diesem Zusammenhang fordert Pfeiffer wie bereits Herman, dass die Polizei grds. jedes Opfer als glaubwürdig behandelt.117 Praktische Aufgabe der Beamten in ihrer neuen Funktion sei, den dem Opfer entstandenen Schaden zu bestimmen und alle Opfer umfassend über das Strafverfahren und Opferunterstützungsangebote zu informieren.118 Besonders hervorzuheben ist schließlich sein dritter Umsetzungsvorschlag, unter nicht ganz korrekter Berufung auf Herman: Die Einführung eines gesonderten Verfahrens zur Feststellung des Opferstatus.119 Dieses Feststellungsverfahren solle völlig unabhängig vom Strafverfahren stattfinden und könne partiell anderen Wertungen unterworfen werden, z. B. indem es von der im Strafrecht geltenden Verjährungsfrist entbunden würde. Wie dieses Verfahren konkret auszugestalten wäre, erläutert Pfeiffer nicht. Pfeiffers Ausführungen orientieren sich sehr eng an den Grundsätzen von Herman, sodass auf sie die gleiche Zustimmung, aber auch die gleiche Kritik zutrifft.120 Insbesondere ist auch sein Vorschlag problematisch, der Polizei einen Doppelhut aufzusetzen und sie in der Funktion als Opferunterstützer zu einer Opfervermutung zu verpflichten. Die Einsetzung eines speziellen Opferbeauftragten in einem parallelen Verfahren könnte insofern vorzugswürdiger sein. Besonderen Beifall verdient Pfeiffers weitergehender Vorschlag zur Errichtung eines formellen Feststellungsverfahrens, das losgelöst von den Wertungen des Strafjustizsystems agieren soll. Bedauerlich ist, dass sein Vorschlag zu vage bleibt, als dass daraus Anhaltspunkte für die praktische Ausgestaltung des Betroffenenforums abgeleitet werden könnten.

V. Erkenntnisse aus den bisherigen Vorschlägen für ein opferzentriertes Parallelsystem Die Untersuchung der bisherigen Vorschläge zu opferzentrierten Parallelsystemen hat gezeigt, dass auf nur sehr wenige Vorarbeiten in diesem Bereich zurückgegriffen werden kann. Einige der bestehenden Arbeiten konzentrieren sich zudem 116

Pfeiffer, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 179, 194. Pfeiffer, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 179, 194. 118 Pfeiffer, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer. S. 179, 194 f. 119 Pfeiffer, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer. S. 179, 195. Der Verweis auf Herman ist nicht ganz korrekt, weil diese nach eigenen Angaben kein gesondertes förmliches Verfahren zur Feststellung des Opferstatus anstrebt, siehe oben Kap. 5 A II. 120 Siehe hierfür oben Kap. 5 A II. 117

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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auf das Bedürfnis des Opfers nach materieller Kompensation, das hier nicht im Mittelpunkt steht. Außerdem wurden die existierenden Vorschläge für die nationale Ebene ausgearbeitet; die Unionsebene ist, soweit ersichtlich, bisher nicht einbezogen worden. Nichtsdestotrotz lassen sich aus der Analyse und Kritik der bisherigen Vorschläge einige Koordinaten für die praktische Ausgestaltung eines Alternativsystems wie das hier anvisierte additive Betroffenenforum ableiten: Ein additives Betroffenenforum müsste als offizielles, eigenständiges, vom Strafjustizsystem institutionell und personell getrenntes System angelegt werden. Primäre Funktion müsste die offizielle Unrechtanerkennung und gesellschaftliche Solidarisierung mit dem Betroffenen in formellem Rahmen sein, nicht seine monetäre Kompensation. Als sekundäre Funktion könnte der Zugang zu anderen Leistungen vermittelt werden, die eigentliche Gewährung von Leistungen sollte jedoch den spezifischen Aufgabenträgern entsprechend den jeweils geltenden Konditionen im Sozialrecht vorbehalten bleiben. Während die Unrechtanerkennung im Betroffenenforum zumindest partiell auf anderen Wertungen basieren könnte als die Unrechtfeststellung im Strafjustizsystem, wäre darauf zu bestehen, dass sie nur auf einer gesicherten Tatsachengrundlage erfolgt. Außerdem müsste der Gegenstand der Unrechtanerkennung klar definiert werden. Weiterhin dürfte das staatliche Engagement für Betroffene im Parallelverfahren nicht mit einem staatlichen Engagement für vermeintliche Opfer im Strafverfahren verrechnet werden. Vielmehr müssten beide Systeme getrennt voneinander betrachtet werden. Insbesondere könnte die Errichtung eines Betroffenenforums den Staat nicht davon entbinden, vermeintlich Verletzte im Strafverfahren mit Respekt und Würde zu behandeln und, soweit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar, durch geeignete rechtliche Maßnahmen zu schützen. Schließlich müsste unbedingt sichergestellt werden, dass die Ausgestaltung des additiven Betroffenenforums die Position des Beschuldigten im Strafjustizsystem nicht beschwert. Im folgenden Abschnitt wird die mögliche praktische Ausgestaltung eines solchen additiven Betroffenenforums unter Berücksichtigung dieser Koordinaten entwickelt.

B. Mögliche praktische Ausgestaltung eines additiven Betroffenenforums Ein strafbewehrtes Verhalten löst einen mehrdimensionalen Konflikt aus.121 Zum einen verwirklicht das Verhalten ein Unrecht gegenüber der im Staat verfassten Allgemeinheit, die die Verbotsnorm aufgestellt hat, und begründet so eine vertikale Beziehung zwischen Täter und Staat. Der Staat reagiert in diesem vertikalen Ver121 Ähnlich Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210: jede Straftat weise drei Dimensionen auf, die im Zivilrecht (Wiedergutmachung und Schadensersatz für das verletzte Individuum), im Strafrecht (Vergeltung und Prävention im Namen der Gesellschaft) und im Opferentschädigungsrecht (Rehabilitation des Opfers durch den Sozialstaat) behandelt würden.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

hältnis in der Regel mit strafrechtlichen Ermittlungs- und Verfolgungstätigkeiten, die er im Interesse der Allgemeinheit durchführt, um das Unrecht gegenüber der Gesellschaft festzustellen und zu sühnen. Zweitens verletzt das Verhalten, das gegen ein Strafgesetz verstößt, in vielen Fällen zugleich ein individuelles Opfer in seinen Rechtspositionen.122 Daraus entsteht zum einen in einer zweiten Dimension ein horizontaler Konflikt zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten aufgrund der Verletzung individueller Interessen, dessen Lösung primär der Privatrechtsordnung überantwortet wird. Zum anderen wird in einer dritten Dimension ein vertikales Verhältnis zwischen der im Staat verfassten Allgemeinheit und dem individuell Betroffenen begründet.123 Eine staatliche Reaktion, die sich speziell diesem vertikalen Staat-Betroffener-Verhältnis und den Belangen des Betroffenen in diesem Verhältnis widmen würde, existiert im gegenwärtigen System nicht. Gerade dieser dritten Dimension sollte sich deshalb das hier zu entwickelnde Alternativsystem „additives Betroffenenforum“ widmen. Dabei sollte ein additives Betroffenenforum konzeptionell – angelehnt an Hermans Parallel Justice-Modell124 – auf folgendem grundlegenden Prinzip basieren: Eine Person, die von einer Straftat betroffenen worden ist, sollte nicht wie herkömmlicherweise das Straftatopfer über den Täter definiert werden, sondern originär als Person, der Unrecht geschehen ist und der gegenüber die im Staat verfasste Gesellschaft eine Verantwortung zur Solidarisierung und Unterstützung trägt. Zu diesem Zweck müsste das Betroffenenforum den einzelnen Betroffenen und das ihm widerfahrene Unrecht in den Mittelpunkt rücken und seine Reintegration in die Gesellschaft durch gesellschaftliche Solidarisierung mit ihm befördern. Zugleich sollte dem Betroffenen im Forum die Rolle eines Initiators vermittelt werden. Diese Rolle würde ihn in einen status activus versetzen und ihn so weiter aus der passiven Rolle des Opfers befreien.125 Eine Reaktion gegenüber dem Straftäter wäre konzeptionell gerade nicht Aufgabe eines solchen Betroffenenforums. Weder die Durchsetzung des staatlichen Bestrafungsanspruchs aufgrund der Verwirklichung öffentlichen Unrechts noch die Ver122 Siehe auch Renzikowski, in: FS Höland (2015), S. 210, 211: ohne Anknüpfung an die Rechtsposition eines Rechtssubjekts sei eine Straftat gar nicht denkbar. – Nicht in allen Fällen wird allerdings ein individuelles Opfer verletzt. Ein solches fehlt z. B. bei einem Verstoß gegen eine Strafnorm, die Kollektivrechtsgüter schützt, und in vielen Fällen des (untauglichen) Versuchs. 123 Vgl. Kap. 4 F I. 124 Ähnlich wird der Ansatz auch von Steffen, in: Marks/dies., Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 51, 109, interpretiert. 125 In der Diskussion um die Rolle des Opfers im Strafverfahren wird betont, dass Opfer sich Partizipationsrechte bei der Reaktion auf eine Straftat wünschen, um durch den damit vermittelten status activus aus der passiven Opferrolle befreit zu werden, Sautner, Opferinteressen, S. 264. Während im Strafverfahren der Wunsch nach einem solchen status activus allerdings aufgrund rechtsstaatlich gebotener Schranken kaum durch eine umfassende strafprozessuale Stellung des Opfers erfüllt werden kann, könnte dieser Wunsch besser über das Konzept des Betroffenenforums befriedigt werden.

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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folgung etwaiger zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche durch den Geschädigten aufgrund individueller Interessenverletzungen würden daher im Betroffenenforum behandelt. Zugleich würde ein Betroffenenforum die Systeme, die sich mit den anderen Dimensionen der Straftat befassen, nicht tangieren. Das bedeutet, dass die Installation eines Betroffenenforums den Staat nicht davon entbinden würde, das vermeintliche Opfer im Rahmen der staatlichen Strafverfolgung rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechend respektvoll zu behandeln und, soweit erforderlich, zu schützen, sowie ein System zur Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche zu unterhalten. Diesem Konzept entsprechend sollte ein solches Forum mehrere praktische Funktionen erfüllen. Vor allem müsste es dem Betroffenen die offizielle, zur Tatverarbeitung wichtige Bestätigung zollen, dass ihm ein Unrecht und kein Unglück zugestoßen ist. Außerdem sollte es ihm einen Raum zur kathartischen Kommunikation bieten, in dem er frei von dem Erlebnis berichten und Gehör und Empathie erfahren kann. Darüber hinaus sollte es für den Betroffenen eine Informations-, Lotsen- und Koordinationsfunktion im Umgang mit den Folgen der Unrechtserfahrung übernehmen. Auf diese Weise könnte die im Staat verfasste Rechtsgemeinschaft mit Errichtung eines solchen additiven Betroffenenforums ihre Verantwortung gegenüber Betroffenen erfüllen und zugleich das Strafjustizsystem entlasten.

I. Funktionen 1. „Genugtuungsfunktion“: Unrechtfeststellung zur Selbststabilisierung Verbreitet wird propagiert, Straftatopfer wünschten sich primär die offizielle Bestätigung, dass ihnen Unrecht widerfahren sei. Auch die RL 2012/29/EU erkennt dieses Interesse an. Zumeist wird diese These mit der Forderung verbunden, ein privates Genugtuungsinteresse im Strafverfahren zu befriedigen. Wie gezeigt, ist dies im Strafjustizsystem jedoch weder effektiv noch rechtsstaatlich konfliktfrei möglich.126 Wichtigste Funktion eines Alternativsystems für Straftatbetroffene müsste deshalb sein, einen geeigneteren Raum für eine offizielle Unrechtsbestätigung ihnen gegenüber zu eröffnen. Das additive Betroffenenforum müsste der im Staat verfassten Allgemeinheit also ermöglichen, unmittelbar gegenüber dem Betroffenen das Unrecht und seine Betroffenheit anzuerkennen und ihm so ihre Solidarität zu bekunden.

126

Vgl. Kap. 3 A, B, C.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

a) Feststellungsinhalt Inhaltlich müsste die Unrechtfeststellung im Betroffenenforum umfassen, dass die Person, die sich an das Forum wendet (im Folgenden: Antragssteller), von einem menschlichen Verhalten betroffen wurde, das die objektiven und subjektiven tatbestandlichen Voraussetzungen einer strafrechtlich relevanten Unrechtsverwirklichung aufweist und von keinem Erlaubnissatz gedeckt war.127 Die Feststellung im Betroffenenforum dürfte keinen individuellen Schuldvorwurf gegenüber einem bestimmten Unrechtverursacher enthalten und müsste unabhängig sein von einer staatlichen Reaktion gegenüber einem eventuellen Straftäter. Diese inhaltliche Begrenzung der Unrechtfeststellung folgt zunächst daraus, dass ein individueller Schuldvorwurf gegenüber einem bestimmten Verursacher für die Erreichung des Feststellungsziels – nämlich die Stabilisierung des Weltbildes des Betroffenen und die gesellschaftliche Solidarisierung mit ihm –, wie gezeigt, nicht erforderlich ist.128 Auch setzt die Identifikation des Geschehens als Unrecht im hier relevanten Sinn keinen individuellen Schuldvorwurf voraus. Außerdem soll sich das Alternativsystem konzeptionell gerade dem bipolaren Verhältnis Staat-Betroffener widmen, damit die im Staat verfasste Allgemeinheit damit ihre Verantwortung gegenüber Straftatbetroffenen erfüllen kann. Von diesem Fokus würde zum einen abgelenkt, wenn auch eine tadelnde Reaktion gegenüber dem Täter als zusätzlicher Zweck im Forum verfolgt würde. Zum anderen ist in dem bipolaren Verhältnis StaatBetroffener ein staatlicher Vorwurf gegenüber einem Täter nicht geboten. Weder hat das Straftatopfer einen aus den Menschenrechten begründbaren Anspruch auf die staatliche Reaktion (Bestrafung) gegenüber dem Täter,129 noch vermag das theoretische Fundament für die staatliche Verantwortung gegenüber Opfern130 die staatliche Verpflichtung zu einer solchen Reaktion zu tragen. Wegen der Konzentration auf den Betroffenen könnte dem Täter im Betroffenenforum schließlich auch kein Vorwurf gemacht werden. Denn sollte ihm gegenüber im Betroffenenforum eine (nachteilige) Reaktion verhängt werden, müsste das Forum ganz anders konzipiert werden: Der vermeintliche Täter und der Vorwurf gegen ihn müssten im Mittelpunkt stehen. Wenn der Inhalt der Unrechtfeststellung unabhängig von einem persönlichen Vorwurf gegenüber dem Verursacher definiert würde, ließe sich zudem sicherstellen, dass die Rückversicherung gegenüber dem Betroffenen nicht von Kriterien abhängig gemacht würde, die aus seiner Perspektive die Unrechtsbewertung nicht tangieren. Denn ist der Schuldvorwurf gegenüber einem bestimmten Verursacher nicht Voraussetzung der Unrechtsbestätigung, könnte sie beispielsweise auch dann erfolgen, wenn zwar sicher feststeht, dass entweder A oder B das Unrecht gegenüber dem 127 128 129 130

Siehe zur Herleitung dieses Inhalts oben Kap. 3 C I. Siehe oben Kap. 3 C I. Siehe ausführlich oben Kap. 4 A. Siehe oben Kap. 4 F, G.

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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Betroffenen rechtswidrig verursacht haben, aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellbar ist, wer von beiden der Verursacher ist. Für das dem Betroffenen gegenüber eingetretene Unrecht ist diese Unsicherheit über die genaue Urheberschaft irrelevant, solange feststeht, dass ein menschliches unrechtmäßiges Verhalten Quelle des ihm widerfahrenen Leides ist. Wäre die Unrechtfeststellung gegenüber dem Betroffenen aber von einem persönlichen Schuldvorwurf gegenüber A oder B abhängig, müsste ihm die Feststellung versagt werden. Gleiches gilt für die praktisch häufigen Fälle, in denen sich ein dem Betroffenen widerfahrenes Unrecht zwar sicher rekonstruieren lässt, ein individueller Verursacher aber nicht identifiziert werden kann – also die Fälle, in denen kein Täter ermittelt und strafrechtlich verfolgt werden kann. Ähnliches gilt, wenn der Verursacher in strafrechtlichen Kategorien entschuldigt oder schuldunfähig gehandelt hat. Würde die Unrechtfeststellung im Betroffenenforum unabhängig von einem persönlichen Vorwurf gegenüber dem Verursacher ausgestaltet, könnte der Betroffene Rückversicherung unbeschadet davon erfahren, dass einem schuldlos handelnden Verursacher die Verursachung persönlich nicht vorgeworfen werden kann. Die Trennung der Unrechtfeststellung im Forum von einem persönlichen Vorwurf gegenüber dem Verursacher würde also eine Rückversicherung losgelöst von strafrechtlichen Kategorien ermöglichen, die ihre Legitimation nicht aus einer Minderung des Unrechts gegenüber dem Opfer ableiten, sondern aus dem Schutz des Beschuldigten. Wenn und weil die Unrechtfeststellung im Betroffenenforum keinen individuellen Vorwurf gegenüber dem Unrechtverursacher enthalten würde, könnte dort zudem unter Umständen von einigen strafverfahrensrechtlichen Kategorien abgewichen werden, die eine strafrechtliche Verurteilung ausschließen. Denn Beweggründe, die z. B. einem strafverfahrensrechtlichen Verfahrenshindernis zugrunde liegen und im Einzelfall die strafrechtliche Verurteilung ausschließen, können irrelevant sein für die Bewertung, ob ein Feststellungsverfahren erfolgen darf. Die Limitierung des Feststellungsinhalts auf das Unrecht gegenüber dem Betroffenen würde damit erlauben, von bestimmten im Strafjustizsystem getroffenen Wertungen zu divergieren. Insgesamt könnte das Forum so das Unrechtfeststellungsbedürfnis umfassender und effektiver befriedigen als ein strafgerichtliches Urteil.131 b) Feststellungsverfahren Von herausragender rechtsstaatlicher Bedeutung ist, dass eine offizielle Unrechtfeststellung in einem Alternativsystem für Straftatopfer nur in einem sorgsam ausbalancierten Verfahren und auf gesicherter Grundlage erfolgen sollte. Insbesondere müsste zwingend sichergestellt werden, dass das Verfahren vor dem Betroffenenforum die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren nicht belastet.

131 Vgl. zu den Schwächen einer Unrechtfeststellung mittels Strafurteil aus Opfersicht Kap. 3 C.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Denn eine Beeinträchtigung der Position des Beschuldigten würde den Rechtsstaat gefährden und die Legitimität des Betroffenenforums a priori konterkarieren. In jedem Fall dürfte die Unrechtanerkennung in einem Betroffenenforum nur nach Überprüfung der Tatsachengrundlage erfolgen. Hermans und von Galens Vorschläge, in einem Alternativsystem für Straftatopfer das Unrecht ohne Erkenntnisverfahren allein auf Grundlage der als wahr unterstellten Schilderungen des jeweiligen (vermeintlichen) Opfers offiziell anzuerkennen, ist nicht zu folgen.132 Und auch der vorgeschlagene in dubio pro victima-Grundsatz sollte nicht übernommen werden. Denn die offizielle Unrechtfeststellung in einem additiven Betroffenenforum wäre eine staatlich autorisierte Versicherung und könnte als solche nicht aufgrund einer vagen Vermutung erfolgen. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Feststellung gegenüber dem Betroffenen und die gesellschaftliche Solidarisierung mit ihm überhaupt erst durch das Vorliegen der das Unrecht konstituierenden Umstände legitimiert werden. Diese Umstände müssen folglich nachgewiesen sein. Zum anderen würden der Staat an Glaubwürdigkeit und die Unrechtfeststellung an Symbolkraft verlieren, wenn die Anerkennung und Solidarisierung auf Grundlage einer ungeprüften, unter Umständen unwahren Behauptung ausgesprochen würde. Eine offizielle staatliche Versicherung gegenüber dem Opfer, dass ihm Unrecht widerfahren ist, setzt daher eine in einem Erkenntnisverfahren abgesicherte Tatsachengrundlage voraus.133 Vor der Unrechtfeststellung durch ein Betroffenenforum müsste als Grundlage der Anerkennung sicher festgestellt werden, dass ein menschliches Verhalten die objektiven und subjektiven tatbestandlichen Voraussetzungen einer strafrechtlich relevanten Unrechtsverwirklichung aufweist und von keinem Erlaubnissatz gedeckt war, sowie, dass der Antragssteller von diesem Verhalten betroffen worden ist. Kein Gegenstand der Feststellung und damit auch nicht des Erkenntnisverfahrens wäre die Schuld des Unrechtsverursachers. Denn ein Betroffenenforum könnte und sollte ihm, wie dargelegt, keinen Vorwurf machen oder sonst eine Reaktion gegen ihn verhängen. Auch wenn somit die Erkenntnisinteressen vor dem Strafgericht und einem additiven Betroffenenforum gerade nicht deckungsgleich wären, bestünde eine faktische Nähe der Feststellungsgegenstände. Deshalb müsste, das sei noch einmal nachdrücklich betont, unter allen Umständen sichergestellt werden, dass ein Verfahren vor einem Betroffenenforum die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren nicht belastet. Denn für einen Beschuldigten im Strafverfahren steht stets auf dem Spiel, ob er durch staatliches Handeln, möglicherweise unberechtigt, Einbußen an seinen Grundrechten hinnehmen muss. Für den Betroffenen einer Straftat hingegen geht es darum, inwieweit er in Folge eines in aller Regel vom Staat nicht unmittelbar zu vertretenen, durch einen Dritten verwirklichten Unrechts angemes132

Siehe ausführlich dazu Kap. 5 A II, III. Eine so abgesicherte Feststellung hätte zudem den Vorteil, dass sie zugleich, soweit gesetzgeberisch gewollt, auch bei weiteren Entscheidungen, z. B. über die staatliche Opferentschädigung, synergetisch genutzt werden könnte. 133

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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sene Unterstützung und Solidarisierung erfährt. Zwar trifft die im Staat verfasste Rechtsgemeinschaft auch ihm gegenüber, wie gezeigt, eine Verantwortung.134 Konfligieren die verfassungsrechtlich garantierten Abwehrrechte des Beschuldigten und die Unterstützungsbelange des Betroffenen aber einmal unmittelbar, muss die Waage aus rechtsstaatlichen Gründen zulasten des Betroffenen ausschlagen. Deshalb sind bei der Ausgestaltung eines Betroffenenforums zwingend Schutzvorkehrungen für den Beschuldigten geboten. Wäre der im Strafverfahren Beschuldigte z. B. verpflichtet, vor dem Betroffenenforum zu sprechen, könnte das sein verfassungsrechtlich garantiertes Schweigerecht im Strafprozess konterkarieren und so den Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare gefährden. Um dem vorzubeugen, könnte das vor dem Betroffenenforum Geäußerte einem Verwertungsverbot im Strafverfahren unterworfen werden. Allerdings weist Lüderssen im Rahmen seines nicht-strafrechtlichen Ausgleichsystems für Verbrechensopfer darauf hin, dass derlei Verwertungsverbote nie garantieren können, dass Informationen nicht doch zwischen den Verfahrensträgern ausgetauscht werden.135 Vorzugswürdig könnte es deshalb sein, die Unrechtanerkennung vor dem Betroffenenforum zum Schutz des Beschuldigten so lange auszusetzen, wie sich ein paralleles Strafverfahren mit dem gleichen Lebenssachverhalt beschäftigt. Im zeitlich nachgelagerten Verfahren könnte sich das Betroffenenforum sodann auf die im Strafprozess rechtskräftig unter Wahrung der Beschuldigtenrechte getroffenen Faktenfeststellungen dazu beziehen, ob ein menschliches Verhalten die objektiven und subjektiven tatbestandlichen Voraussetzungen einer strafrechtlich relevanten Unrechtsverwirklichung aufweist und von keinem Erlaubnissatz gedeckt war. Gesondert müsste das Forum nur stets prüfen, ob der Antragssteller von diesem Verhalten auch betroffen war. Denn dessen individuelle Betroffenheit ist kein Gegenstand des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens. Eine solche zeitliche Nachordnung würde zwar von dem Prinzip abweichen, das Alternativsystem für Straftatopfer ganz unabhängig von jeglichem strafprozessualen Geschehen auszugestalten. Diese Abweichung scheint aber zur Sicherung der verfassungsrechtlich garantierten Beschuldigtenrechte gerechtfertigt. Zudem würde eine solche Ausgestaltung staatliche Ressourcen schonen, weil doppelte Feststellungen vermieden würden. Praktisch sind aber letztlich unterschiedliche Gestaltungen des zeitlichen Ineinandergreifens der verschiedenen Instrumente und Verfahren denkbar. Weil vorliegend nur eine erste Skizzierung der Grundzüge des Alternativmodells unternommen werden soll, muss die detailierte Abwägung dieser Optionen der weiteren Diskussion überlassen bleiben. Für den Betroffenen würde die zeitliche Nachordnung bedeuten, dass er ggf. auf die ausdrückliche gesellschaftliche Solidarisierung warten müsste. Gleichwohl hätte die Unrechtanerkennung im Betroffenenforum aus Opferperspektive noch erhebli134 135

Kap. 4 F. Lüderssen, in: ders., Rechtsfreie Räume, S. 466, 477.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

che Vorteile gegenüber dem Versuch, das Rückversicherungsinteresse von Opfern mit dem strafgerichtlichen Urteil zu befriedigen. Denn anders als im Strafprozess wäre der Betroffene vor dem Forum wirklich die Hauptfigur und das Forum könnte unmittelbar an ihn adressiert das ihm individuell widerfahrene Unrecht und seine persönliche Betroffenheit explizit anerkennen.136 Außerdem müsste ein Betroffenenforum nicht an die rechtlichen Schlussfolgerungen gebunden sein, auf denen ein paralleles strafgerichtliches Urteil beruht. Das Fehlen einer solchen Bindungswirkung des Strafurteils ist anerkannt für die ähnliche Situation, dass eine Verwaltungsbehörde oder das Sozialgericht über eine staatliche Opferentschädigung nach dem OEG entscheiden.137 Die Unrechtfeststellung im Betroffenenforum würde, wie dargelegt, anders als das Strafurteil keinen persönlichen Vorwurf gegenüber dem Verursacher enthalten. In der Konsequenz wären einige materiell-strafrechtliche und strafprozessuale Wertungen für die Feststellung im Betroffenenforum irrelevant und abweichende Ergebnis daher auch in diesem Kontext gerechtfertigt. So könnte das Forum das individuelle Unrecht dem Betroffenen gegenüber z. B. auch dann offiziell anerkennen, wenn eine strafgerichtliche Verurteilung mangels schuldhaften Verhaltens des Angeklagten unterbleibt.138 Ebenso müsste nicht jedes im Strafverfahren bestehende Verfahrenshindernis die Anerkennung im Betroffenenforum ausschließen. Stattdessen könnte ein Betroffenenforum jeweils prüfen, ob die zugrunde liegende Wertung auch in seinem Verfahren Relevanz entfaltet. Betroffene könnten so vor dem Forum insgesamt häufiger Rückversicherung erhalten. In vielen Fällen findet allerdings kein Strafverfahren statt, weil der vermeintliche Täter nicht ermittelt werden kann.139 Ein Betroffenenforum, das gerade keinen Vorwurf und keine Sanktion gegen einen Verursacher erhebt, könnte das dem Opfer objektiv widerfahrene Unrecht trotzdem anerkennen. Eine vergleichbare Situation kennt das Recht bereits, wenn das Opfer eines Gewaltverbrechens eine staatliche Entschädigung nach dem OEG erhält, ohne dass der Straftäter verurteilt wird. Diese größere Reichweite wäre auch gerade einer der Vorteile eines Alternativsystems für Straftatopfer gegenüber der stets nur selektiv möglichen Unterstützung von Opfern im Strafjustizsystem. Allerdings könnte sich das Forum in diesen Fällen nicht auf etwaige Tatsachenfeststellungen aus einem Strafprozess beziehen. Stattdessen müsste es die Faktengrundlage für die Unrechtanerkennung selbst erheben. Deshalb bräuchte es zumindest für diese Fälle Vorgaben für die Erkenntnisgewinnung. Ratsam erscheint es insofern, die Tatsachenfeststellung vor einem additiven Betroffenenforum dem Amtsermittlungsgrundsatz zu unterwerfen. Denn es würde dem Zweck eines solchen Forums kaum gerecht, wenn dem Antragssteller die Beweisbeibringung allein auferlegt und er so überfordert würde. Auch Lüderssen 136

Vgl. insofern zu den Nachteilen des Strafprozesses aus Opfersicht Kap. 3 C II, IV. Siehe Doering-Striening, in: dies., Opferrechte, § 3 Rn. 155; Gelhausen/Weiner, OEG, § 1 Rn. 66. 138 Siehe insofern zu den Nachteilen des Strafprozesses aus Opfersicht Kap. 3 C III. 139 Siehe Kap. 3 C V. 137

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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geht im Rahmen seines nicht-strafrechtlichen Ausgleichsystems für Straftatopfer davon aus, dass der Staat darin zur ihrer Unterstützung von Amtswegen ermitteln müsste.140 Im Rahmen der Amtsermittlungen sollte der Antragssteller herangezogen werden können. Pate für die Regelung könnte z. B. § 103 SGG stehen. Freilich läge es schon im eigenen Interesse des Antragsstellers, an den Ermittlungen mitzuwirken. Die weitere Ausgestaltung des Feststellungsverfahrens könnte an die nationalen Regeln zur staatlichen Opferentschädigung angelehnt werden. Denn das deutsche Opferentschädigungsrecht z. B. unternimmt bereits Unrechtfeststellungen außerhalb des Strafverfahrens und normiert entsprechende Verfahrensvorschriften.141 Da die Angebote des Betroffenenforums ebenfalls der sozialen Leistungsverwaltung zugehörig wären, läge es nahe, insofern die im Sozialrecht geltenden Grundsätze heranzuziehen. Das deutsche Opferentschädigungsrecht fordert grundsätzlich den Vollbeweis der festzustellenden Tatsachen.142 Für das Betroffenenforum würde dieser Standard bedeuten, dass die beweispflichtigen Tatsachen zur Überzeugung des Forums mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssten und Restzweifel, die keine gewichtigen Zweifel sind, unbeachtlich wären.143 Dieser Standard würde sicherstellen, dass an den Nachweis der für die Unrechtfeststellung relevanten Tatsachen nicht zu niedrige Anforderungen gestellt würden und die Feststellung auf gesicherter Tatsachengrundlage erfolgen würde. Zudem müsste der besonderen Situation Rechnung getragen werden, dass der vermeintliche Verursacher des zu beweisenden menschlichen Verhaltens nicht identifiziert oder verfügbar wäre. Dies kann insbesondere die Feststellung erschweren, ob die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer strafrechtlich relevanten Unrechtsverwirklichung vorliegen. Ein möglicher Lösungsansatz wäre, das Betroffenenforum in Parallele zum deutschen Opferentschädigungsrecht zu ermächtigen, aus der Rekonstruktion äußerer Hergänge vereinfacht auf die innere Seite des Verhaltens rückzuschließen, wenn der vermeintliche Verursacher nicht auffindbar ist.144 Außerdem kann gem. § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 S. 1 KriegsopfVwVfG die Entscheidung über die staatliche Gewaltopferentschädigung auf die Angaben des Antragsstellers zu den beweispflichtigen Tatsachen gestützt werden, wenn keine anderen Beweismittel zu beschaffen sind und die Angaben nach den Umständen des Falls glaubhaft erscheinen.145 Im Entschädigungsrecht soll diese 140

Siehe Kap. 5 A I. Die Verfahrensregeln sind im OEG normiert, das für das Verfahren zusätzlich auf Vorschriften des KriegsopfVwVfG und des SGG verweist, vgl. § 6 Abs. 3 OEG. 142 Gelhausen/Weiner, OEG, § 1 Rn. 69. 143 Dies entspräche dem Inhalt des Vollbeweises im OEG, siehe Gelhausen/Weiner, OEG, § 1 Rn. 72. 144 Zu solchen Rückschlüssen im Opferentschädigungsrecht siehe BSG, NJW 1999, 2207, 2208; Doering-Striening, in: dies., Opferrechte, § 3 Rn. 153; Gelhausen/Weiner, OEG, § 1 Rn. 65. 145 § 15 S. 1 KriegsopfVwVfG lautet: Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht 141

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Vorschrift der Beweisnot von Verbrechensopfern Rechnung tragen, wenn z. B. wegen Flucht des vermeintlichen Täters und Mangel an anderen Tatzeugen ausschließlich die Angaben des (vermeintlichen) Gewaltopfers als Beweismittel zur Verfügung stehen.146 Die Vorschrift gilt auch, wenn der vermeintliche Täter unerkannt geblieben ist, schweigt oder die schädigende Handlung bestreitet.147 Personen, die sich zu Anerkennungszwecken an das Betroffenenforum wendeten, könnten sich in einer vergleichbaren Beweisnot-Situation befinden. Daher erscheint es erwägenswert, einem Betroffenenforum analog zur Wertung des § 15 S. 1 KriegsopfVwVfG zu gestatten, die Angaben des Antragsstellers der Sachverhaltsfeststellung zugrunde zu legen, wenn keine anderen Beweismittel zur Verfügung stehen und zumindest die überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich der Sachverhalt wie berichtet zugetragen hat.148 Um die Gewähr zu erhöhen, dass ein Antragssteller in einem solchen Fall die Wahrheit sagt, könnte zudem eine eidesstaatliche Versicherung seiner Aussage verlangt werden.149 Damit würde der Antragssteller die strafrechtliche Verantwortung dafür übernehmen, dass seine Angaben zumindest nach seiner subjektiven Vorstellung den Tatsachen entsprechen. Eine etwaige Restunsicherheit über den Wahrheitsgehalt der Aussage erscheint vor dem Hintergrund hinnehmbar, dass das hier vorgeschlagene Betroffenenforum primär ideelle Feststellung und Solidarität für den Betroffenen vermitteln und keinen Vorwurf gegen einen Dritten erheben oder Sanktionen verhängen würde. Die Gefahr eines falschen Vorbringens zu unlauteren Zwecken dürfte vor diesem Hintergrund verhältnismäßig gering einzuschätzen sein. Im Ergebnis ließe sich so eine Balance herstellen zwischen dem Anliegen, eine realistische Feststellungsmöglichkeit zu bieten, und eine willkürliche Unrechtanerkennung auszuschließen. Auch in Fällen, in denen zuvor kein Strafurteil ergeht, müssten die Beschuldigtenrechte geschützt werden, falls die strafrechtlichen Ermittlungen später doch (wieder) aufgenommen werden. Insofern könnte erwogen werden, ein ggf. bereits anhängiges Feststellungsverfahren vor einem Betroffenenforum vorübergehend bis zur Klärung der strafrechtlichen Rechtslage auszusetzen. Außerdem dürfte das Strafgericht nicht an Feststellungen eines Betroffenenforums gebunden sein, sondern müsste alle für den Strafprozess nötigen Feststellungen unter Beachtung der strafprozessualen Grundsätze selbst treffen. Zudem müsste der vermeintliche Verursavorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. 146 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 5. 6. 2008, L 13 VG 1/05; Gelhausen/Weiner, OEG, § 1 Rn. 74. 147 BSGE 113, 205, 213: „Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KriegsopfVwVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind.“ 148 Zum Begriff der überwiegenden Wahrscheinlichkeit im Kontext des § 15 S. 1 KriegsopfVwVfG siehe ausführlich Gelhausen/Weiner, OEG, § 1 Rn. 74. 149 Auch § 15 S. 2 KriegsopfVwVfG normiert die Möglichkeit einer eidesstattlichen Versicherung.

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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cher vor dem Betroffenenforum mindestens ein Aussageverweigerungsrecht erhalten. Schließlich würden das Strafgericht und das hier vorgeschlagene Betroffenenforum in den meisten Fällen zu parallelen Ergebnissen gelangen.150 Es sind aber auch divergierende Ergebnisse denkbar. So könnte ein Betroffenenforum das Unrecht gegenüber dem Betroffenen auch dann anerkennen, wenn mangels Ermittlung des Täters kein Strafverfahren stattfindet oder eine strafrechtliche Verurteilung aufgrund mangelnder Schuld des Angeklagten oder wegen eines Verfahrenshindernisses unterbleibt. Diese mögliche Diskrepanz der Verfahrensergebnisse ist aber, auch aus Sicht des Beschuldigten, rechtlich unbedenklich.151 Denn die Untersuchungsgegenstände und die Parteien der beiden Verfahren wären nicht deckungsgleich. Im Strafverfahren stehen sich Staat und Beschuldigter gegenüber, untersucht wird die individuelle Vorwerfbarkeit eines bestimmten Fehlverhaltens des Angeklagten. Im Betroffenenforum hingegen ginge es um das Verhältnis vom Staat zum Betroffenen. Betrachtet würde das Unrecht gegenüber einem bestimmten potentiellen Betroffenen, ohne dass ein Vorwurf gegenüber einem potentiellen Verursacher erhoben würde. Derart unterschiedliche Untersuchungsgegenstände bedingen naturgemäß (gelegentlich) abweichende Ergebnisse. Entsprechend kennt und löst das Recht bereits Situationen, in denen sich verschiedene Verfahren mit demselben Lebenssachverhalt aus unterschiedlicher rechtlicher Perspektive beschäftigen und in der Konsequenz notwendigerweise auch zu differierenden Ergebnissen gelangen können. Insofern erkennt das deutsche Recht z. B. aufgrund des Trennungsdogmas an, dass keine Bindung besteht zwischen einem Strafverfahren und einem nachfolgenden Zivilverfahren, in dem der privatrechtliche Ausgleich innerhalb des strafrechtlich abgeurteilten Lebenssachverhalts verhandelt wird.152 Gleiches gilt für das Verhältnis vom Strafverfahren zu dem Verwaltungsverfahren, in dem über die staatliche Opferentschädigung entschieden wird.153 Auch Unterschiede zwischen dem Strafverfahren und einem Verfahren vor einem Betroffenenforum sollten deshalb bei entsprechendem Beschuldigtenschutz rechtsstaatlich handhabbar und für die Rechtsgemeinschaft nachvollziehbar sein.

150 Dies liegt schon daran, dass statistisch Falschaussagen über die eigene angebliche Viktimisierung selten unrichtig sind, vgl. Horovitz/Weigend, Isr. L. Rev. 44 (2011), 263, 270. Zum anderen dürfte die Missbrauchsgefahr beim Betroffenenforum aufgrund der primär ideellen Leistungen gering sein. 151 So i.E. auch Kreuzer, Opferschutz, S. 4 zu einem parallelen Zivilverfahren zur Entschädigung von Opfern nach dem Vorbild von Galens und Lüderssens. Divergierende Entscheidungen zwischen Straf- und Zivilgericht seien im Sinne konsequenten Opferschutzes in Kauf zu nehmen. 152 Für das Verhältnis vom Straf- zu Zivilverfahren siehe BGHZ 8, 288, 293; 85, 32, 37 f., mit zust. Anm. Grunsky, JZ 1983, 114 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 170, § 262 Rn. 2 ff. 153 Doering-Striening, in: dies., Opferrechte, § 3 Rn. 155; Gelhausen/Weiner, OEG, § 1 Rn. 66; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 262 Rn. 5.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

c) Bedeutung der Feststellung für Betroffene Zu diskutieren ist schließlich, ob eine Unrechtbestätigung in einem Betroffenenforum die intendierte Rückversicherung des Opfers erreichen könnte. Diejenigen, die zur Befriedigung des Genugtuungsinteresses eine Beachtung des Opferinteresses im Strafurteil fordern, vertreten teilweise, die rein verbale Kommunikation des Urteils sei nicht ausreichend.154 Die verbale Zusicherung müsse zwingend durch eine Sanktionierung symbolisch untermalt werden, um die Ernsthaftigkeit der Feststellung zu unterstreichen und Abstufungen in der Intensität des verwirklichten Unrechts auszudrücken. Dies gelte nicht nur gegenüber dem verurteilten Täter, dem durch die Sanktionshöhe der Nachdruck des Tadels verdeutlicht werde, sondern auch gegenüber dem Opfer.155 Gegen die Notwendigkeit einer solchen Unterstreichung der verbalen Versicherung spricht jedoch, dass die Sanktionierung des Täters für Opfer gemäß empirischen Befunden eine nur untergeordnete Rolle spielt und, soweit „Strafe“ verlangt wird, die gewünschte Reaktion meist keine Strafe im strafrechtlichen Sinne ist.156 Hinzu kommt, dass für die Unrechtbestätigung gegenüber dem Opfer und insbesondere für die gesellschaftliche Solidarisierung mit ihm nicht einmal der Vorwurf gegenüber dem Täter notwendig ist. Viel weniger kann dessen Sanktionierung relevant sein.157 Sollte eine symbolische Untermalung der verbalen Zusicherung und Solidarisierung tatsächlich notwendig sein, wäre diese zudem bei Errichtung eines additiven Betroffenenforums gegeben. Denn wie sollte die im Staat verfasste Allgemeinheit deutlicher symbolisieren, dass sie sich mit dem Straftatopfer solidarisiert und das ihm widerfahrene Unrecht anerkennt, als durch die Errichtung eines Forums eigens für die Zuwendung und Rückversicherung ihm gegenüber. Reformforderungen im deutschen Opferentschädigungsrecht bekräftigen diese These, dass die offizielle Anerkennung des Unrechts und die gesellschaftliche Solidarisierung in vielen Fällen für die Betroffenen hinreichend sind. Die Reform154 Dafür, dass das Unwerturteil mit einem Strafübel verknüpft werden muss, votiert z. B. Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 659; Hörnle, Straftheorien, S. 43 ff.; dies., JZ 2006, 950, 956. Differenzierend nach Intensität des Genugtuungsinteresses des Opfers z. B. Sautner, Opferinteressen, S. 294. 155 Dölling, in: GS Brugger (2013), S. 649, 659; Hörnle, Straftheorien, S. 45; dies., JZ 2006, 950, 956; zust. wohl Roxin, GA 2015, 185, 201. 156 Viele Opfer wünschen sich als „Strafe“ primär Auflagen, erzieherische Maßnahmen für den Täter und Schadenswiedergutmachung, nur wenige fordern traditionelle Geld- bzw. Freiheitsstrafen, Sautner, Opferinteressen, S. 287; Velten, in: SK-StPO, Vor §§ 374 – 406h Rn. 29. 157 Im Ergebnis zust. z. B. Baier, GA 2005, 81, 87; Günther, in: FS Lüderssen (2002), S. 205, 219 (für die symbolisch-expressive Wirkung bedürfe es keiner Übels zufügung; explizit krit. zu diesem Vorschlag Roxin, GA 2015, 185, 201); Jäger, StV 1997, 222, 223; Prittwitz, in: Schünemann/Dubber, Stellung, S. 51, 73. Im Übrigen sei noch einmal betont, dass der hier unterbreitete Vorschlag nicht darauf abzielt, die Strafe gegenüber dem Täter abzuschaffen; Roxins Kritik an Günthers Vorschlag trifft den hiesigen Vorschlag daher auch nicht. Er stellt lediglich die These auf, dass für die Rückversicherung des Opfers, um die es im Betroffenenforum allein ginge, keiner Übelzufügung gegenüber dem Täter bedarf.

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forderungen basieren auf Ergebnissen empirischer Opferbefragungen zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland.158 Danach ist die staatliche Anerkennung des erlittenen Unrechts ein universales Begehren der Betroffenen.159 Aufbauend auf diesem Ergebnis wird die Einführung einer neuen Bescheid-Kategorie der „unrechtsanerkennenden Versagung“ gefordert. Damit soll offiziell das dem Antragssteller widerfahrene Unrecht als solches anerkennt werden, auch wenn die staatliche materielle Entschädigungsleistung aufgrund fehlender Voraussetzungen versagt würde.160 Im Vordergrund stünden bei diesem Feststellungsbescheid folglich die rein immaterielle Anerkennung des Unrechts sowie die Solidarisierung der Gesellschaft mit dem Antragssteller und nicht die repressive Reaktion gegenüber dem Täter oder eine materielle Kompensation durch den Staat oder den Täter. Schließlich mag für einige Straftatopfer eine vergeltende Bestrafung des Täters mit Geld- oder Freiheitsstrafe relevant sein. Dieser private Wunsch nach Bestrafung oder Rache wird hier weder geleugnet noch bewertet. Allerdings ist er praktisch weit weniger verbreitet als die geläufige Unterstellung nahelegt, alle oder wenigstens viele Opfer hegten einen starken Wunsch nach harscher Repression und Vergeltung. In Befragungen verlangt nur ein kleiner Prozentsatz der Straftatopfer nach Rache oder einer möglichst harten Bestrafung des Täters.161 Rechtlich korrespondiert ein solcher Wunsch nach Bestrafung zudem weder mit einem verfassungsrechtlich verbürgten noch mit einem einfach gesetzlich normierten Recht des Straftatopfers auf staatliche Bestrafung.162 Das Betroffenenforum könnte und sollte einen solchen Wunsch daher auch nicht erfüllen. Davon unberührt bleibt, dass der Staat im öffentlichen Strafverfahren eine Sanktion verhängen kann. Diese im öffentlichen Interesse erfolgende Bestrafung mag als Nebeneffekt ein privates Racheverlangen des Opfers befriedigen. Im Mittelpunkt des Betroffenenforums aber stehen nicht Bestrafungs- und Racheinteressen, sondern die Unrechtfeststellung und gesellschaftliche Solidarisierung.

158

Zu dieser Befragung siehe Bergmann, Abschlussbericht, passim. Bergmann, Abschlussbericht, S. 169. 160 Bergmann, Abschlussbericht, S. 181; BMJ et al., Abschlussbericht sexueller Kindesmissbrauch, S. 73 f. 161 Zur Unterstellung eines ubiquitären Interesses von Opfern an Genugtuung durch die Strafe z. B. Krauß, in: FS Lüderssen (2002), S. 269, 273. Zu konträren empirischen Daten siehe Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 121; Bommer, Verletztenrechte, S. 244; Kilching, NStZ 2002, 57, 62; Sautner, Opferinteressen, S. 235 (Auswertung verschiedener empirischer Studien); Schneider, JZ 2002, 231, 232. Allerdings fand Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung, S. 655, dass immerhin 3/4 aller Opfer grds. an einer Bestrafung „ihres“ Täters interessiert seien; nur ein kleiner Teil wünsche aber tatsächlich eine förmliche strafrechtliche Verurteilung oder besonders punitive Reaktion, S. 671 f. 162 Ausführlich oben Kap. 3 A, 4 A. 159

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

2. Kathartische Kommunikation Zusätzlich könnte ein additives Betroffenenforum Betroffenen die Option eröffnen, mittels kathartischer Kommunikation das Geschehen zu verarbeiten. Auch der europäische Gesetzgeber geht davon aus, dass ein Bedürfnis nach kathartischer Kommunikation zur Tatverarbeitung besteht. Denn der in Art. 10 Abs. 1 RL 2012/ 29/EU normierte Anspruch auf Gehör soll dem Opfer ermöglichen, das Erlebte im öffentlichen Strafverfahren zu beschreiben und auf diese Weise zu verarbeiten.163 Dieses Vorgabenziel demonstriert, dass auf Unionsebene ein Bedürfnis von Betroffenen nach öffentlicher kathartischer Kommunikation anerkannt ist. Diese Anerkennung wird auf nationaler Ebene geteilt und hat bereits vor Erlass der Opferrechterichtlinie in zahlreichen Rechtsordnungen die Einführung von Kommunikationsinstrumenten für (vermeintliche) Opfer im Strafverfahren veranlasst.164 Um ein Kommunikationsbedürfnis zu therapeutischen Zwecken gerade im Strafverfahren effektiv befriedigen zu können, wäre allerdings eine erhebliche Umgestaltung der Prozessstrukturen erforderlich. Es müssten Äußerungen in das Verfahren eingeführt werden können, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu seinem Untersuchungsgegenstand stehen, emotionale, persönliche sowie mitunter den Angeklagten angreifende Passagen enthalten und in der Folge das auf Objektivität angelegte Verfahren emotionalisieren und eine gegenüber dem Angeklagten voreingenommene Atmosphäre schaffen könnten. Die Mitteilungen müssten ungeprüft und unwidersprochen bleiben. Erhebliche Verzögerungen aufgrund ausführlicher und bei mehreren potentiellen Opfern zahlreicher Stellungnahmen wären zu akzeptieren. Bestenfalls müsste das Verfahren zudem informell gestaltet und auf die Kommunikationsbedürfnisse des Vortragenden abgestimmt werden. Richter müssten das Leid des vermeintlichen Opfers, das im Strafverfahren beinahe unausweichlich Antagonist des Angeklagten ist, noch vor der endgültigen Urteilsfindung empathisch und solidarisch anerkennen. Dass bei einer solchen Umgestaltung zwangsläufig die Rechte des Angeklagten beeinträchtigt würden und die Garantie eines fairen Verfahrens nicht mehr uneingeschränkt gewährleistet werden könnte, ist offensichtlich.165 Aber selbst wenn im Sinne reduzierter Zugeständnisse ausschließlich die emotionale Beschreibung des Geschehens im Strafverfahren zugelassen würde, ohne dass grundlegende Verfahrensstrukturen verändert würden, und die Beschreibung offiziell die Entscheidungsfindung im Verfahren nicht beeinflussen dürfte, bestünden Gefahren für die Beschuldigtenrechte. Noch immer wären mindestens eine Emotionalisierung und Verzögerung des Strafverfahrens sowie eine unterbewusste Beeinflussung der Entscheidungsträger zu Ungunsten des Angeklagten und damit eine Beeinträchtigung der Garantien eines fairen, objektiven und zügigen Verfahrens zu 163

Siehe ausführlich zu den Zwecken des Gehörsrecht in der Opferrechterichtlinie Kap. 2 A IV 1 b). 164 Auf nationaler Ebene wird dieses Bedürfnis zumeist mit VIS im Strafverfahren zu befriedigen gesucht. Dazu ausführlich Kap. 2 A IV 1 a) und b) cc). 165 Siehe ausführlich Kap. 2 C II 2 a).

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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befürchten.166 Unter rechtsstaatlichen Bedingungen lässt sich das Ziel, dem vermeintlichen Opfer mittels Kommunikation im Strafverfahren die Verarbeitung des Geschehens zu ermöglichen, damit nicht effektiv umsetzen. Wird das Kommunikationsrecht im Strafverfahren hingegen so umgesetzt, dass die Garantie eines fairen Verfahrens soweit als möglich gewahrt bleibt, ist das damit verfolgte therapeutische Ziel kaum zu erreichen. Die kathartische Wirkung würde durch die notwendige inhaltliche Restriktion des Beitrags und seine eventuelle Überprüfung oder Außerachtlassung konterkariert. Außerdem stünden die Struktur und Atmosphäre des Strafverfahrens der effektiven Verarbeitung des Geschehens entgegen. Vor dem Strafgericht können die für die Erzielung eines therapeutischen Effekts erforderlichen Bedingungen und die Anforderungen eines fairen Verfahrens damit entgegen der Art. 10 RL 2012/29/EU zugrunde liegenden Annahme kaum zu einem Ausgleich gebracht werden. Ein additives Betroffenenforum hingegen könnte, nicht zuletzt weil es unter gänzlich anderen Bedingungen operieren würde als das Strafgericht, eine solche Kommunikationsfunktion effektiv und rechtsstaatlich konfliktfrei ausfüllen. Darin könnten die Bedingungen geschaffen werden, die notwendig sind, um dem Betroffenen die Verarbeitung des Geschehens mittels kathartischer Kommunikation zu ermöglichen, ohne dass dadurch die Rechte des Angeklagten oder die Garantie eines fairen Strafverfahrens beeinträchtigt würden. Mehr noch: Würde diese Funktion aus dem Kontext der Strafverfolgung in das Betroffenenforum verlagert, könnte das Strafverfahren nachhaltig entlastet und rechtsstaatliche Grundsätze darin könnten gestärkt werden. Zugleich könnte das Forum einen Beitrag dazu leisten, ein Ziel der Richtlinie bezüglich des Gehörs Betroffener effektiv umzusetzen.167 Die Ausgestaltung der Kommunikationsfunktion des Betroffenenforums sollte dafür an den Ergebnissen der oben durchgeführten Analyse orientiert werden, welche strukturellen Bedingungen für die Erreichung des kommunikativ-therapeutischen Zwecks notwendig sind und woran deren Umsetzung im Strafverfahren scheitert.168 So könnte ein Betroffenenforum die Schwierigkeiten lösen, die der Erzielung dieses Zwecks im Strafverfahren entgegen stehen, und dem Betroffenen so effektiv die

166

Siehe oben Kap. 2 C II 2 a). Freilich würde das Gehör im Betroffenenforum keine Teilnahme am Strafverfahren vermitteln. Somit könnte es nicht den zweiten verfahrensbezogenen Zweck des Gehörsanspruchs in Art. 10 Abs. 1umsetzen, die Zufriedenheit des vermeintlichen Opfers mit dem Strafverfahren zu steigern. Dieser Zweck ist aber auch mit dem Anspruch auf Gehör im Strafverfahren kaum erreichbar. Damit das vermeintliche Opfer das Verfahren aufgrund seines Gehörs als gerechter wahrnehmen würde, müsste sein Beitrag Einfluss auf den Prozessausgang haben können. Um diesen Einfluss zu entfalten, müsste sein Inhalt angreifbar und überprüfbar sein. Diese Überprüfung kann aber so traumatisch sein, dass sie die mit dem Gehör verbundenen positiven Effekte aufhebt, siehe auch Kap. 2 C II 2 a). Das Gehörsrecht im Strafverfahren ist damit ebenso wenig geeignet, die Wahrnehmung des Verfahrens als fair durch das vermeintliche Opfer zu steigern, wie es das Gehör vor dem Betroffenenforum wäre. 168 Siehe ausführlich oben Kap. 2 A IV 1, C II 2 a). 167

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

gewünschte, für die Tatverarbeitung wichtige Option kathartischer Kommunikation eröffnen. a) Praktische Ausgestaltung der Kommunikationsfunktion Primäres Ziel eines Verfahrens vor einem Betroffenenforum wäre die Unterstützung des Betroffenen und nicht die Prüfung der Verantwortlichkeit eines Dritten und dessen eventuelle Sanktionierung. Aufgrund dieser anderen Zielrichtung und der daraus resultierend anders ausgeprägten Interessengemengelage könnte die Kommunikation vor einem Betroffenenforum freier gestaltet werden als im Strafprozess, ohne dass rechtsstaatliche Grundsätze gefährdet würden. Vor einem Betroffenenforum könnte dem Betroffenen so gestattet werden, frei zu berichten, was ihm passiert ist, und welche Auswirkungen das Geschehen auf sein Leben und sein Umfeld genommen hat. Inhaltliche Restriktionen seines Beitrags wie im Strafverfahren wären nicht notwendig. Auch die Mitteilung persönlicher Wertungen und Emotionen, die für einige Betroffene für die Verarbeitung wichtig ist, könnte zugelassen werden. Denn anders als im Strafprozess müsste eine emotionale Atmosphäre nicht zum Schutz des Beschuldigten vermieden werden. Weil keine strafprozessualen Verfahrensgrundsätze einzuhalten wären, könnte dem Betroffenen zudem formelle Freiheit bei der Gestaltung der Ausführungen gewährt werden. Gerade die formelle Gestaltungsfreiheit bei dem Bericht über das Geschehen ist für viele Betroffene ein wichtiges, aber im Strafverfahren nur bedingt erfüllbares Anliegen.169 Weiterhin könnte vor einem Betroffenenforum – anders als im Strafverfahren – konfliktfrei allen Betroffenen die Möglichkeit eröffnet werden, Gehör zu erhalten. Denn auch bei vielen Betroffenen müsste das Gehör nicht aus Beschleunigungsgründen auf eine Auswahl von ihnen beschränkt werden. Der Unmut über die mitunter in Strafverfahren praktizierte Vorgehensweise, nur einigen (vermeintlichen) Opfern die Stellungnahme zu gestatten, könnte so vermieden werden.170 Außerdem könnte die Entscheidung für oder gegen die Kommunikation vor dem Forum ganz in das Ermessen des Betroffenen gestellt werden. Denn anders als etwa eine Zeugenaussage vor dem Strafgericht wäre die Kommunikation vor dem Forum keine Bürgerpflicht, sondern ein freiwilliges Angebot. Freiwilligkeit ist zum einen wichtig, weil nicht alle Opfer die öffentliche Kommunikation über die Tat und deren Folgen auf ihr Leben als hilfreich ansehen – ihnen sollte es offen stehen, sich dagegen 169 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 146; van Camp/de Mesmaecker, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 277, 284. 170 Siehe zu der Problematik, nur einigen Opfern die Abgabe eines VIS in Massenverfahren zu gestatten, Logan, Georgetown L. J. 96 (2007), 721, 749 ff. In diesem Zusammenhang ist zudem beobachtet worden, dass die Auswahl derjenigen, die Stellung beziehen dürfen, zum Teil anhand diskriminierender Kriterien erfolgt. Gruber, Wm. & Mary L. Rev. 52 (2010), 1, 55 z. B. stellte insofern fest, dass in den USA Opfer, die sich gegen die Todesstrafe aussprechen wollten, kein VIS hatten abgeben dürfen.

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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zu entscheiden. Zum anderen kann die Verfügbarkeit von einen status activus vermittelnden Handlungsoptionen die psychische Gesundheit positiv beeinflussen und posttraumatischen Belastungsstörungen vorbeugen.171 Die Analyse des Gehörsanspruchs vor dem Strafgericht hat ferner gezeigt, dass die Atmosphäre und Struktur des Strafverfahrens zur Erreichung eines therapeutischen Effekts mittels kathartischer Kommunikation ungeeignet sind.172 Um diese Hürde im Strafprozess zu überwinden, müssten rechtsstaatliche Garantien aufgegeben und der Prozess in ein Aliud verwandelt werden. Die Umsetzung der Kommunikationsmöglichkeit vor einem Betroffenenforum hingegen könnte diese Schwierigkeiten auflösen, ohne die Verfahrensfairness oder die Rechte des Angeklagten zu belasten. Damit die Kommunikation einen kathartischen Effekt entfalten kann, muss sie in einer Atmosphäre, die Emotionen wie Empathie, Solidarität und Zugehörigkeitsgefühl zulässt und Unterstützung fördert, stattfinden.173 Während eine solche Atmosphäre im auf Objektivität und Formalität angelegten Strafverfahren nicht ohne Beeinträchtigung von Fairness-Standards gewährleistet werden kann, könnte sie vor einem gerade auf die Unterstützung des Betroffenen ausgerichteten Forum konfliktfrei kreiert werden. In einem eigens für den Betroffenen errichteten Verfahren bestünde auch nicht das im Strafverfahren strukturell bedingte, für die kathartische Kommunikation aber abträgliche Phänomen, dass sich der Betroffene nur geduldet, aber nicht willkommen fühlen würde. Zudem kommt es Opfern primär darauf an, einem offiziellen Repräsentanten des Staates die Folgen der Tat aufzuzeigen und von ihm Empathie, Solidarität und Anerkennung des eigenen Leides zu erfahren. Diese Funktion könnte ein Betroffenenforum als offizielle staatliche Stelle besser und vor allem aus rechtsstaatlicher Sicht konfliktfreier ausfüllen als ein Strafgericht. Weil das Forum nicht über die persönliche Verantwortlichkeit eines Angeklagten entscheiden müsste, könnte es dem Betroffenen offener, empathischer und solidarischer gegenüber treten als das Strafgericht. Dabei könnte ein Betroffenenforum das dem Betroffenen widerfahrene Leid anerkennen. Gerade eine solche Rückversicherung fehlt häufig bei der Wahrnehmung des Gehörsanspruchs im Strafverfahren, was als wesentlicher Grund für die Unzufriedenheit von Opfern mit der Kommunikationsmöglichkeit im Strafverfahren reklamiert wird.174 Auch strukturell könnte ein Verfahren vor einem Betroffenenforum mehr 171

Pemberton/Reynaers, in: Erez et al., Therapeutic Jurisprudence, S. 229, 240. Bandes, L. & Contemp. Probs. 72 (2009), 1, 16; de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 142; Rock, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 200, 217 ff.; van Camp/de Mesmaecker, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 277, 284. Siehe ausführlich Kap. 2 A IV 1, C II 2 a). 173 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 142; Rock, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 200, 219. 174 Van Camp/de Mesmaecker, in: Vanfraechem et al., Justice, S. 277, 284 f., 287, plädieren daher dafür, alle Richter zu verpflichten, im Strafverfahren mündlich die Anerkennung des VIS auszudrücken. Während dies im Strafverfahren aufgrund entgegenstehender Rechte des Angeklagten nicht unproblematisch möglich ist, könnte ein Betroffenenforum dies widerspruchsfrei tun. 172

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Flexibilität bieten als der notwendigerweise auf Förmlichkeit angelegte Strafprozess. Alle Beteiligten könnten sich, wie für die Erreichung eines kathartischen Effekts gefordert wird,175 auf einer Ebene treffen, das Verfahren könnte informeller gestaltet sein und die zeitliche Abfolge könnte an den persönlichen Bedürfnissen des Beteiligten orientiert werden. Insgesamt könnte das Betroffenenforum so die Anforderungen an eine kommunikationsfördernde Umgebung erfüllen, ohne dass dafür – anders als im Strafverfahren – rechtsstaatliche Garantien zugunsten des Angeklagten preisgegeben werden müssten. Weiterhin wird die Zusammensetzung des Adressatenkreises im Strafgerichtssaal als suboptimal eingeschätzt für die Erzielung des kathartischen Kommunikationseffekts. Erstens empfinde die Mehrheit der (potentiellen) Opfer die Anwesenheit des Angeklagten während der Wahrnehmung ihres Gehörsrechts als Belastung.176 Viele (potentielle) Opfer entschieden sich sogar gerade deswegen gegen die Abgabe einer Stellungnahme im Strafverfahren, um zu verhindern, dass der Beschuldigte/Täter sie lesen/hören könne.177 Grund dafür sei die Befürchtung, dass der Täter dadurch persönliche Daten über sie erfahre, sich später dafür rächen könne, oder dass die Kenntnis der emotionalen Lage des Betroffenen dem Täter Befriedigung verschaffe.178 Ein Betroffenenforum, das gerade nicht über die Schuld eines Angeklagten zu verhandeln hätte, könnte auch diesen Schwierigkeiten abhelfen, indem es dem Betroffenen die Option böte, seine Geschichte in Abwesenheit des möglichen Schädigers mitzuteilen.179 Opfer, die gerade die Auseinandersetzung mit dem Täter wünschen, könnten davon unbeschadet weiterhin dafür geeignete Angebote, etwa im Restorative Justice-Bereich, wahrnehmen.180 Empirische Studien zeigen allerdings, dass der positive Effekt einer Entschuldigung durch den Täter für das Opfer ebenso wie der positive Effekt der Auseinandersetzung mit der Perspektive des Opfers für den Täter als eher gering einzuschätzen sind.181 Zweitens geht es in Bezug auf die 175 Siehe zu diesen Anforderungen de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 147. 176 So im Kontext von VIS de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 140 ff. Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 174 f., beschreibt, Opfer hätten versucht, bei Verlesung des VIS im Gerichtssaal wenigstens die physische Nähe zum Angeklagten zu vermeiden. 177 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 140 ff. (mwN zu empirischen Studien). 178 De Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 141; Sweeting et all, Ministry of Justice Research Series 17/08, S. 28. 179 Dass Gesprächsplattformen ohne Anwesenheit des Beschuldigten erfolgsversprechend bei der Verarbeitung des Geschehens durch das Opfer beitragen können, indiziert auch ein Pilotprojekt in Honolulu, das Opfern restorative Gespräche ohne den Beschuldigten angeboten hat, Walker, Restorative Practices EForum, 2004, 1 ff. Das privat durchgeführte Programm hatte großen Erfolg, id. S. 5. 180 Dafür, dass einige Opfer die Konfrontation mit dem Täter wünschen, Cassell, Ohio St. J. Crim. L. 6 (2009), 611, 621; DRiB, Gutachten Gehör im Strafverfahren, S. 78; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 242. 181 Booth, Griffith L.R. 22 (2013), 430, 439, 445 ff.

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Zuhörerschaft vielen Straftatopfern auch darum, die weitere Öffentlichkeit zu adressieren.182 Während dieses Bedürfnis verständlich ist, ist das Strafverfahren kein angemessener Ort dafür. Kommunikationsebenen, die in keinem Verhältnis zum Erkenntnisinteresse im Strafverfahren stehen, überlasten das Verfahren.183 Das Betroffenenforum hingegen würde gerade mit Blick auf die vertikale Beziehung zwischen dem von der Straftat Betroffenen und der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft errichtet. Es könnte damit auch den richtigen Ort bieten, um Kommunikationsinhalte an die breitere Öffentlichkeit zu richten.184 Schließlich hätten die Äußerungen vor einem Betroffenenforum keinerlei Einfluss auf die Strafzumessung bzw. überhaupt auf die Bestrafung des Angeklagten im Strafverfahren. Dies wäre aus der Perspektive des Rechtsstaates und des Betroffenen zu begrüßen. Aus Rechtsstaatssicht sollte die Entscheidung über die Strafe allein einem neutralen, professionell dafür ausgebildeten Richter oder justiziellen Spruchkörper obliegen.185 Für die Betroffenen ergäbe sich aus dem Kontext der Kommunikation vor einem Betroffenenforum eindeutig, dass sie mit ihrer Aussage die Strafe nicht beeinflussen könnten. Eine solche Sicherheit wird im Kontext von Stellungnahmen vermeintlicher Opfer im Strafverfahren immer wieder gefordert,186 weil gerade ihre Unsicherheit, ob sie die Strafe beeinflussen könnten oder nicht, Unzufriedenheit auslöse.187 Zudem würde gerade die Entbindung von einem instrumentellen Zweck im Strafverfahren ermöglichen, die Kommunikation in einem Betroffenenforum ganz auf die Bedürfnisse des Betroffenen abzustimmen und von inhaltlichen und formellen Restriktionen und einer schmerzhaften Überprüfung 182 Booth, in: Wilson/Ross, Crime, Victims and Policy, S. 161, 162; de Mesmaecker, Internat. Rev. Victimology 18 (2012), 133, 146; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 242; Szmania/Gracyalny, Internat. Rev. Victimology 13 (2006), 231, 242, 244. 183 So auch Szmania/Gracyalny, Internat. Rev. Victimology 13 (2006), 231, 242, 247. 184 In diese Richtung auch Szmania/Gracyalny, Internat. Rev. Victimology 13 (2006), 231, 242, 248, die berichten, dass im von ihnen untersuchten Ridgways-Verfahren die Opferfamilien nach Abschluss der Verhandlung die Möglichkeit hatten, in einer Pressekonferenz noch einmal die Auswirkungen der Tat darzulegen. Inhaltlich hätten die Aussagen mit denen in den VIS übereingestimmt. Die Möglichkeit, auf diesem Weg in einer Art Parallel Justice-Forum die Öffentlichkeit zu adressieren, ihre Gefühle auszudrücken und gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren, sei aber unter Umständen angemessener als der Vortrag im Strafverfahren. 185 Siehe oben Kap. 2 C II 2 a). Diese Ansicht teilt auch der EGMR, der Opfern die notwendige „impartiality“ abspricht, um Strafmaßentscheidungen zu beeinflussen, Kommission, Entscheidung v. 2. 12. 1992, App. No. 20433/92 (McCourt/Vereinigtes Königreich). 186 Erez, Crim. L. Rev. 1999, 545, 552; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 248 f.; Sanders, in: Cape, Reconcilable rights, S. 97, 107. Der CPVC, Okt. 2015, ch. 2 A sec. 1 (ii) 1.12, weist zwar mittlerweile darauf hin, dass nur das Gericht über Bestrafung und Strafhöhe entscheidet und die Stellungnahme des Opfers keine Aussage dazu enthalten darf, verdeutlicht aber nicht, welchen Einfluss die Angaben des VIS im Prozess haben bzw. nicht haben dürfen. 187 Hoyle, in: Maguire et al., Oxford Handbook of Criminology, S. 398, 412; Roberts/Erez, in: Bottoms/Roberts, Hearing the Victim, S. 232, 247; Sanders, in: Cape, Reconcilable rights, S. 97, 103.

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abzusehen. Schließlich müssten Betroffene nicht befürchten, dass der (vermeintliche) Täter ungehörigen Zwang oder Repressionen zur Beeinflussung ihrer Aussage oder als Rache für etwaige Auswirkungen auf das Strafverfahren auf sie ausübt. Insgesamt könnte ein Forum dem Betroffenen damit eine effiziente Möglichkeit zur Verarbeitung des Geschehens mittels kathartischer Kommunikation bieten. Damit könnte es zugleich einen Zweck des Gehörsrechts aus Art. 10 Abs. 1 effektiver erfüllen als eine Gehörsoption im Strafverfahren. Außerdem könnte eine Gehörsoption vor einem Forum Forderungen nach einer Option zur kathartischen Kommunikation im Strafprozess obsolet machen. Insofern könnte ein Betroffenenforum eine Kanalisationswirkung entfalten und die verarbeitende Kommunikation in ein separates Medium überführen. Die Übertragung dieser Funktion auf ein Forum würde damit zugleich das Strafverfahren von emotionalen Auseinandersetzungen entlasten und die Rechte des Angeklagten und rechtsstaatliche Grundsätze stärken. b) Empirische Belege für die positive Wirkung kathartischer Kommunikation in strafverfahrensunabhängigen Foren Dass eine Möglichkeit öffentlichen Gehörs in der hier vorgeschlagenen Ausgestaltung schließlich auch tatsächlich einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Straftatopfern zu leisten vermag, implizieren Studien zu den Wirkungen sog. Victim Impact Panels, die z. B. in Arkansas, USA, praktiziert werden.188 In diesen Panels referieren Straftatopfer öffentlich über die Auswirkungen, die eine Straftat auf ihr Leben hatte, vor einer Gruppe von Straftätern, denen die Teilnahme an dem Panel als resozialisierende Strafmaßnahme verordnet worden ist. Während eine positive Einwirkung auf die Täter in Form reduzierter Rückfallraten nach der Teilnahme an den Panels bisher nicht verzeichnet werden konnte,189 berichten die Opfer ganz überwiegend, dass ihre Zufriedenheit gesteigert worden sei durch die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen in den Panels öffentlich zu referieren.190 Eine Studie stellte zudem zumindest eine Korrelation fest zwischen der Teilnahme als Referent an einem Victim Impact Panel und einer im Verhältnis zu einer Vergleichsgruppe geringeren Betroffenheit mit posttraumatischen Belastungsstörungen und psychologischen Problemen.191 In diesen Panels ist den Opfern bewusst, dass ihre Berichte keinen Einfluss auf die Strafe der bereits verurteilten Zuhörer haben konnten. Zudem sind Referent und Zuhörer vor den Panels gerade nicht Täter und Opfer derselben Straftat; im Mittelpunkt steht also nicht die restorative Kommunikation zwischen Täter und Opfer. Der dennoch verzeichnete positive Effekt der Teilnahme an solchen 188

Siehe zu Victim Impact Panels Wheeler et al., Accident Analysis and Prevention 36 (2004), 29 f. 189 Wheeler et al., Accident Analysis and Prevention 36 (2004), 29, 34. 190 Fulkerson, Contemporary Just. Rev. 2001, 355, 358, 364; Roberts/Erez, in: Bottoms/ Roberts, Hearing the Victim, S. 246. 191 Fulkerson, Contemporary Just. Rev. 2001, 355, 358, 364.

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Panels gerade für die Opfer kann also weder auf die Kommunikation mit dem „eigenen“ Täter, noch auf eine Beteiligung am Strafverfahren oder die Befriedigung von Vergeltungswünschen zurückzuführen sein. Vielmehr implizieren die Ergebnisse, dass die Einräumung einer öffentlichen Kommunikationsmöglichkeit eo ipso zum Wohlbefinden der Opfer beigetragen hat. Dies legt nahe, dass ein Betroffenenforum mit dem Angebot öffentlichen Gehörs außerhalb des Strafverfahrens eine Lücke auch im gegenwärtigen europäischen Opferrechtekanon schließen könnte.192 3. Informationsvermittlung Des Weiteren könnte ein Betroffenenforum eine wichtige Informationsfunktion übernehmen. Betroffene über ihre Rechte und Serviceangebote zu informieren, ist ein wichtiges Element zur Umsetzung des Grundkonzepts des hier unterbreiteten Alternativsystems, nämlich Betroffene als autonome Subjekte mit eigenen Ansprüchen anzuerkennen. Zum einen versetzen Informationen über die bestehenden Möglichkeiten Opfer überhaupt erst in die Lage, Rechte und Serviceangebote wahrzunehmen.193 Zum anderen sind Informationen zugleich der Schlüssel zur selbstbestimmten Entscheidung gegen deren Inanspruchnahme. Insofern tragen Informationen wesentlich zur Würdigung der Subjektqualität und Achtung der Selbstbestimmung von Straftatbetroffenen bei und vermitteln ihnen die Voraussetzungen zur Wahrnehmung eines status activus. Auch die EU erkennt die Bedeutung von Informationen an. Kapitel 2 der RL 2012/29/EU widmet sich der Information und Unterstützung von Straftatopfern und legt den Mitgliedstaaten in Artt. 4, 6 und 9 umfangreiche Informationspflichten gegenüber Straftatopfern auf.194 Welche Instanz die Informationspflichten erfüllen soll, legt die Richtlinie nicht ausdrücklich fest. Art. 4 Abs. 1 normiert, dass die Informationen „ab der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde“ zur Verfügung zu stellen sind. Damit ist die Richtlinienvorgabe offener gestaltet als ihre Vorgängernorm in Art. 4 Abs. 1 RB 2001/220/JI, in dem eine Informationspflicht ab dem Erstkontakt mit den Strafverfolgungsbehörden normiert war. Die Handreichung der Kommission zur Umsetzung der Opferrechterichtlinie bestätigt diese Einschätzung, erachtet es al192 Das heißt nicht, dass die Äußerungen vor dem Betroffenenforum als Therapiemaßnahme für Täter dienen sollten wie im Kontext der Victim Impact Panels in Arkansas. Zum einen hat sich die Hoffnung, mittels solcher Panels Wiederholungstaten zu reduzieren, nicht erfüllt, weshalb ihre Einführung zu diesem Zweck nicht nahe liegt. Zum anderen soll das Betroffenenforum einzig auf die Beziehung Staat/Gesellschaft-Betroffener ausgerichtet sein. – Auch Logan, Georgetown L. J. 96 (2007) 721, 774, schlägt vor, dass in Verfahren mit einer Vielzahl von Verletzten (z. B. Terrorismusverfahren) ein kommissionsähnliches Forum etabliert werden sollte, in dem Opfer gehört werden können. Dies offeriere ein besseres Umfeld für ihre Heilung als der Strafprozess und entlaste letzteren gleichzeitig. 193 Übereinstimmend FRA, Victims of crime in the EU, S. 13; VSE, Manifesto 2014 – 2019, S. 6. Ähnlich Buczma, ERA Forum 2013, 235, 249; Rasquete/Ferreira/Marques, ERA-Forum 2014, 119, 121 ff. 194 Ausführlich Kap. 2 A III 1, 2.

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lerdings für notwendig, dass die zuständige Stelle wenigstens öffentlichen Charakter hat.195 Die Übertragung der Informationspflichten aus Art. 4 Abs. 1 RL 2012/29/EU auf eine staatliche Stelle, die explizit für den Umgang mit den Bedürfnissen von Straftatopfern geschaffen würde, wäre insofern jedenfalls richtlinienkonform. Auch in Art. 6 RL 2012/29/EU wird die Stelle nicht näher bestimmt, die die dort aufgezählten verfahrensspezifischen Informationen übermitteln soll. Aufgrund des verfahrensspezifischen Inhalts der zur Verfügung zu stellenden Informationen wird aber insoweit eine mit der jeweiligen Phase des Strafverfahrens befasste Behörde tätig werden müssen.196 Die in Art. 9 Abs. 1 RL 2012/29/EU vorgesehenen Informationspflichten werden explizit Opferunterstützungsdiensten auferlegt. In Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 4 RL 2012/29/EU können solche Dienste ihrerseits als öffentliche oder nicht-staatliche Organisationen auf hauptberuflicher oder ehrenamtlicher Basis ausgestaltet werden. Der Übertragung dieser Informationspflichten auf das Betroffenenforum stünde die Richtlinie folglich nicht entgegen. Insgesamt überlässt die Richtlinie es damit überwiegend den Mitgliedstaaten zu bestimmen, durch welche öffentliche Stelle Opfer informiert werden sollen. National werden die Informationspflichten zumeist Strafverfolgungsbehörden auferlegt. Deutschland z. B. hat mit dem 3. Opferrechtsreformgesetz die unionsrechtlich normierten Informationspflichten durch Aufnahme eines umfangreichen Hinweiskatalogs in §§ 406d, i-k StPO umgesetzt. 197 Außer im Kontext des § 406d Abs. 2 StPO ist zwar nicht explizit geregelt, welche Stelle die Information zu überbringen hat. Aus dem Kontext der Vorschriften ergibt sich aber, dass in der Regel die Polizei oder Staatsanwaltschaft zuständig ist. Auch in England wurde mit Einführung des sog. One-Stop-Shop-Ansatzes primär der Polizei die Verpflichtung auferlegt, Opfer, falls gewünscht, über den Fortgang „ihres“ Verfahrens zu informieren und auch mit sonstigen Informationen zu versorgen.198 Gleichlaufend fordert auch Herman im Rahmen ihres Parallel Justice-Konzepts, dass der Polizei eine umfassende Informationsfunktion auferlegt wird.199 Gerade die Strafverfolgungs195 Kommission, Guidance Document, S. 13. Zumindest die Erfüllung der Informationspflicht durch private Krankenhäuser, die im Rahmen eines Strafverfahrens tätig werden, sei nicht ausreichend. 196 Dies bestätigt auch die Kommission, Guidance Document, S. 20, die die Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafgerichte in der Pflicht sieht. 197 Drittes Opferrechtsreformgesetz, in Kraft seit 31. 12. 2015, BGBl. I S. 2525; zur Intention der Richtlinienumsetzung durch die Neufassung der Vorschriften siehe BT-Drucks. 18/ 4621, S. 14 f. – In § 406d StPO sind Informationspflichten, die das Strafverfahren an sich betreffen, geregelt, § 406i StPO regelt Informationen über Verletztenrechte im Strafverfahren, § 406j StPO Informationen über Verletztenrechte außerhalb des Strafverfahrens. § 406k StPO enthält allgemeine, alle Informationspflichten betreffende Vorgaben. Viele dieser Informationspflichten waren bereits vor dem 3. ORRG in der StPO geregelt; im Zuge der Umsetzung der RL 2012/29/EU sind die Hinweispflichten neu geordnet und in Einzelbereichen erweitert worden. 198 Sanders et al., Crim. L. Rev. 2001, 447, 452. 199 Herman, Parallel Justice, S. 83 f. Siehe auch Kap. 5 A II.

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behörden sind jedoch – zumindest soweit nicht unmittelbar strafverfahrensbezogene Informationen in Frage stehen – nur bedingt geeignet, die Opfer mit den notwendigen, umfangreichen, ganz unterschiedliche Themenkomplexe betreffenden Informationen effektiv zu versorgen. Dies liegt vor allem in den Bedingungen begründet, die erfüllt sein müssen, damit Informationen effektiv vom Sender an den Empfänger übertragen werden. Damit der Verletzte seine Rechte und Möglichkeiten vollumfänglich erfassen und deren Wahrnehmung für sich abwägen kann – und somit einen status activus erhält –, sind sehr umfangreiche Informationen notwendig. Damit die Informationen die gewünschte Wirkung entfalten können, müssen sie zudem in einer an das Individuum und die jeweilige Situation individuell angepassten Art vermittelt werden.200 Eine derart qualifizierte und individualisierte Vermittlung von Informationen setzt – auch wenn sie freilich keine Rechtsberatung ist201 – regelmäßig spezifisch rechtlichen sowie unter Umständen auch psychologischen Sachverstand voraus. Weiterhin haben empirische Untersuchungen der Informationsvermittlung durch die Polizei in England ergeben, dass Opfer dort trotz umfangreicher Hinweise, die sie zentralisiert bei der Polizei erhalten hatten, mit der Informationspolitik unzufrieden waren.202 Es reichte demzufolge nicht aus, dass umfangreiche Informationen zu Rechten und Angeboten nach der Straftat gesammelt zur Verfügung gestellt wurden. Ohne das simultan eröffnete Angebot, die Bedeutung der Informationen auch inhaltlich zu erörtern, steigerte die Informationsvermittlung vielmehr die subjektiv empfundene Hilflosigkeit der Informationsempfänger. Damit legt die Untersuchung nahe, dass die Information allein – z. B. in einer Informationsbroschüre – nicht nur nicht ausreichen, sondern im Einzelfall sogar kontraproduktive, nämlich subjektiv überfordernde und damit entmachtende Wirkung entfalten kann. Um den gewünschten ermächtigenden Effekt zu erzielen, sollte die Informationsvermittlung deshalb in direkter zwischen-menschlicher Interaktion erfolgen und Raum lassen für Diskussion, Nachfragen und Erläuterungen.203 Eine derart gestaltete Informationsvermittlung erfordert insgesamt erhebliche zeitliche Kapazitäten der zuständigen Stelle. Strafverfolgungsbehörden sind jedoch praktisch oft bereits mit ihrer Straftatermittlungsfunktion mehr als ausgelastet und verfügen auch nicht notwendigerweise 200 So auch die Anforderungen in Art. 3 Abs. 1 a.E., Art. 4 Abs. 2 RL 2012/29/EU. Verstehen im Sinne der Richtlinie ist dabei nicht auf die sprachliche Dimension beschränkt, sondern umfasst auch sonstige Hindernisse, wie z. B. Sinnesstörungen, siehe Kommission, Guidance Document, S. 14. 201 Der Deutsche Anwaltverein fordert dementsprechend einen Anspruch für jedes Straftatopfer auf eine staatsfinanzierte anwaltliche Erstberatung, siehe DAV, Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz), 12.2014, S. 17. 202 Sanders et al., Crim. L. Rev. 2001, 447, 452. 203 Diese Bilanz zieht auch Sanders aus seiner Untersuchung, Sanders et all, Crim. L. Rev. 2001, 447, 453.

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über die genannten erforderlichen Fachkenntnisse. Praktisch kann deshalb oft zur Erfüllung der ihnen auferlegten Informationspflichten nicht mehr als das Überreichen einer vorgefertigten Informationsbroschüre geleistet werden. Diese Vorgehensweise ist zwar vorzugswürdig gegenüber einer gänzlich unterbleibenden Information, aber gemessen an den beschriebenen Maßstäben nicht die erfolgversprechendste Methode, um das Ziel der Übermittlung der Information und der Ermächtigung der Betroffenen zu erreichen. Hinzu kommt, dass Straftatopfer gerade in der Situation der Strafanzeige oder Zeugenaussage im Ermittlungsverfahren, in der sie praktisch von den Strafverfolgungsbehörden informiert werden, oft emotional aufgeregt und deshalb zur Informationsaufnahme mitunter nur bedingt in der Lage sind. Ein additives Betroffenenforum hingegen könnte strukturell besser aufgestellt werden, um die Bedingungen für eine effektive Informationsübermittlung zu erfüllen, als die Strafverfolgungsbehörden. Es könnte sich durch eigens dafür qualifiziertes Personal auf die Informationsvermittlung konzentrieren, ohne zugleich Aufgaben der Strafverfolgung gerecht werden zu müssen. Dem Betroffenen könnte so das Gefühl vermittelt werden, tatsächlich – entsprechend dem unionsrechtlichen Leitmotiv – im Mittelpunkt des staatlichen Fürsorgeinteresses zu stehen, und die Informationen könnten ihm personalisiert und so an die Situation angepasst erklärt werden, dass der Betroffene sie tatsächlich versteht. Situativ wäre die Informationsvermittlung zudem losgelöst von der mitunter belastenden Situation der Anzeigeerstattung oder Zeugenvernehmung, was die Rezeption der Informationen in aller Regel erleichtern dürfte. Ein persönliches und professionelles Umfeld der Informationsvermittlung in einem Betroffenenforum böte zudem die Gelegenheit, im Gespräch den individuellen Umständen entsprechend unmittelbar auf eine realistische Einschätzung der unterbreiteten Informationen seitens der Betroffenen hinzuwirken und so Missverständnissen und späteren Enttäuschungen vorzubeugen. Die reine Übergabe einer Informationsbroschüre vermag das kaum zu erreichen. Die Übertragung der Informationspflichten auf ein Betroffenenforum hätte außerdem den Vorteil, dass die Vermischung verschiedener Rollen vermieden würde. Primäre Funktion der Strafverfolgungsbehörden ist die Aufklärung und Verfolgung von Straftaten. Für diese Aufgabe müssen sie unvoreingenommen sein und die Unschuldsvermutung eines jeden Verdächtigen und Beschuldigten unbedingt achten. Die Opferrechterichtlinie fordert allerdings berechtigterweise in Art. 4 Abs. 2, die Informationsvermittlung im Einzelfall an die Bedürfnisse des Opfers und das Wesen und die Art der Straftat anzupassen. Eine solche Berücksichtigung setzt voraus, dass der Informant zumindest temporär unterstellt, dass sich die Straftat wie geschildert ereignet hat. Eine solche Vorbefassung wiederum kann sich suggestiv auf die Einstellung der informierenden Ermittlungsperson zu dem aufzuklärenden Fall auswirken. Würde die Informationsvermittlung auf ein additives, mit den Ermittlungen nicht befasstes Betroffenenforum übertragen, würde diese Gefahr vermieden.

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Die Wahrnehmung der Informationsverpflichtung durch ein Betroffenenforum würde zudem einem weiteren Problem abhelfen. Wird die Information von Straftatopfern bei den Strafverfolgungsbehörden verortet, werden nur solche Personen informiert, die in den Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden kommen, sich also z. B. zur Anzeige entschließen. Wie ausgeführt, ist dies jedoch nur ein kleiner Teil derjenigen, die von einer Straftat betroffen werden.204 Dies hat auch die Europäische Kommission erkannt und vorgeschlagen, die entsprechenden Informationen bzw. wie man Zugang zu ihnen erhält, zusätzlich in öffentlichen Informationskampagnen, z. B. in Kranken- oder Frauenhäusern, zu verbreiten.205 Eine effektivere Lösung dieses Problems wäre allerdings, die Informationsvermittlung a priori vom Strafverfolgungsapparat zu lösen und z. B. einem additiven Betroffenenforum zu übertragen. Schließlich könnte die Zentralisierung der gesamten Informationsversorgung bei einem Betroffenenforum einen Vorschlag der Kommission effektiv umsetzen. Sie regt die Zusammenarbeit von Behörden und Opferunterstützungsdiensten und die Einrichtung zentraler Stellen an, um den Informationsfluss zu Opfern zu gewährleisten.206 Ein Betroffenenforum könnte insofern als primärer Kontaktpunkt fungieren, an dem Informationen aus verschiedenen Bereichen zusammen fließen und deren Weiterleitung koordiniert wird, und so eine kontinuierliche Verbindung zwischen dem Opfer und den verschiedenen zuständigen Stellen sichergestellt wird. Inhaltlich sollte die Informationsbereitstellung durch ein Betroffenenforum umfassend sein und könnte sich insofern an den in der Richtlinie enthaltenen, sehr ausführlichen Vorgaben zu den inhaltlichen Anforderungen an die Aufklärung von Straftatopfern orientieren. Maßgebend sind insofern Art. 4 Abs. 1 RL 2012/29/EU und der bzgl. dem geforderten Informationsinhalt im Wesentlichen deckungsgleiche Art. 9 Abs. 1 RL 2012/29/EU. Die meisten der in Artt. 4 Abs. 1, 9 Abs. 1 RL 2012/ 29/EU aufgezählten Informationen beziehen sich nicht unmittelbar auf den Fortlauf eines konkreten Strafverfahrens, sondern sind allgemeiner Natur. Artikel 4 Abs. 1 RL 2012/29/EU fordert in diesem Zusammenhang auch gerade nicht, dass Opfer Informationen über das strafrechtliche Ermittlungsverfahren oder den Inhalt der Verfahrensakten erhalten.207 Dementsprechend könnten diese Informationen, wie dargelegt sogar effektiver, von einer Instanz wie dem additiven Betroffenenforum übermittelt werden, die nicht in die strafrechtliche Aufklärungsarbeit involviert ist.208 Gleiches gilt grds. auch für die zunächst notwendige Information darüber, dass eine Person auch über einen Anspruch auf strafverfahrensbezogene Informationen ver204

Vgl. oben Kap. 3 C V. Kommission, Guidance Document, S. 16. 206 Kommission, Guidance Document, S. 16. 207 Kommission, Guidance Document, S. 15. 208 Die von Art. 4 Abs. 1 lit. i RL 2012/29/EU geforderte Information zu Kontaktdaten für den Fall betreffende Mitteilungen müsste von einem Betroffenenforum und der zuständigen Strafverfolgungsbehörde jeweils getrennt übergeben werden. 205

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fügt.209 Insbesondere durch die fachgerechte Übermittlung der in Art. 9 Abs. 1 lit. e RL 2012/29/EU geforderten Hinweise zum Schutz vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung und Repressionen durch den Beschuldigten/Täter könnte ein Betroffenenforum zudem nicht nur einen Informationsauftrag erfüllen und die Opfer so zur selbstbestimmten Interaktion befähigen, sondern auch zu ihrem Schutz außerhalb des Strafverfahrens beitragen. Damit könnte zugleich ein weiteres Leitkonzept der Richtlinie 2012/29/EU gefördert werden.210 Lediglich die in Art. 6 RL 2012/29/EU geforderte Mitteilung von Informationen zum Strafverfahren211 und die in Art. 4 Abs. 1 lit. i verlangte Kontaktangabe für das Strafverfahren betreffende Mitteilungen könnte ein Betroffenenforum nicht vornehmen. Vielmehr fordert die Natur dieser Informationen, dass eine Strafverfolgungsbehörde sie übermittelt. Insgesamt könnte ein additives Betroffenenforum, auch im Geist der Richtlinie 2012/29/EU, eine wichtige Aufgabe im Bereich der Informationsvermittlung ausfüllen und so weiter zur Ermächtigung der Betroffenen (status activus) beitragen. 4. Lotsen- und Koordinationsfunktion Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Personen nach einer Straftat viele unterschiedliche praktische Bedürfnisse haben, die zudem erwartungsgemäß individuell stark differieren.212Am dominantesten ist der Bedarf nach psychosozialer Behandlung, emotionaler Unterstützung und Beratung.213 Daneben sind materielle Hilfe, medizinische Betreuung, praktische Lebensunterstützung bei Haushaltsführung und Kinderbetreuung sowie Beratung bei durch die Straftat veranlassten bürokratischen Vorgängen, wie z. B. der Stellung von Anträgen bei Versicherungen, gewünscht.214 Bei der Befriedigung dieser unmittelbar mit der Tatverarbeitung zusammenhängenden Bedürfnisse benötigen viele Betroffene externe Unterstützung. Das Strafverfahren allerdings ist weder strukturell noch im Hinblick auf die notwendigen Ressourcen darauf ausgelegt, soziale Hilfen zu vermitteln oder ein Be209

Art. 6 Abs. 1, 2, 5 RL 2012/29/EU differenzieren insofern ausdrücklich zwischen der Pflicht, Opfer über ihr Recht auf Information in Kenntnis zu setzen, und dem Recht, auf Antrag die beschriebenen Informationen selbst zu erhalten. 210 Die Richtlinie widmet das 4. Kapitel dem Schutz der Straftatopfer. 211 Siehe oben Kap. 2 A III 1. 212 Siehe Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung, S. 180 ff., 635; Reemtsma, Was sind eigentlich Opferinteressen; Richter, Opfer krimineller Gewalttaten, S. 84. 213 Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 284 ff.; Richter, Opfer krimineller Gewalttaten, S. 86 ff., 164 ff. (psychische und soziale Unterstützung kennzeichne vor allem eine emotionale Komponente, S. 84); Schneider, JZ 2002, 231, 232, 235. Ähnlich Bergmann, Abschlussbericht, S. 169: die Betroffenen forderten primär individuelle Anerkennung des erlittenen Unrechts, Entgegenkommen des Täters, Entschädigung, materiellen Ausgleich und Hilfeleistung in Form von Beratung und Therapie. 214 Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 140 ff.; Richter, Opfer krimineller Gewalttaten, S. 84 ff., 164 ff.; Steffen, in: Marks/Steffen, Mehr Prävention – weniger Opfer, S. 51, 77 ff.; Weigend, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen, S. 29, 30 f. mwN zu Studien.

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dürfnis nach menschlicher Wärme zu befriedigen.215 Ein additives Betroffenenforum hingegen könnte auch in diesem Bereich effektiv eingesetzt werden und so die Bedürfnisse der Betroffenen einheitlich aus einer Hand befriedigen. Dabei könnte die Aufgabe des Forums vor allem darin bestehen, gemeinsam mit Betroffenen zu ermitteln, welche Bedürfnisse nach Unterstützung sie haben, sie bedarfsentsprechend über Unterstützungsdienste zu informieren und den Kontakt zu spezifischen Unterstützungsdiensten zu vermitteln.216 Dabei sollte das Forum die verschiedenartigen Unterstützungsleistungen nicht selbst erbringen müssen. Dies wäre aufgrund der Vielfältigkeit der unterschiedlichen Bedürfnisse und Leistungen und der für deren Befriedigung erforderlichen fachlichen Kompetenzen und Ressourcen weder realistisch noch ratsam. Ein Betroffenenforum sollte dementsprechend nicht die Rolle der Opferunterstützungsdienste im Sinne von Artt. 8, 9 RL 2012/29/EU übernehmen, die auf die praktische Ausführung von Hilfen ausgerichtet sind. Stattdessen sollte Aufgabe eines Betroffenenforums vielmehr sein, Betroffene wie ein Lotse durch die Vielfalt an Unterstützungsangeboten zu navigieren.217 Im Rahmen dieser Vermittlung könnte ein Betroffenenforum außerdem die wichtige und von der Richtlinie vorausgesetzte staatliche Qualitätskontrolle der verfügbaren Opferhilfedienste übernehmen. Nach Artt. 8 und 9 RL 2012/29/EU müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Opferunterstützungsdienste hohe Qualitätsstandards erfüllen.218 Einem Betroffenenforum könnte die Aufgabe übertragen werden, die Qualifikation entsprechender Dienste zu überprüfen. Durch die Vermittlung an entsprechend qualifizierte und akkreditierte Dienste könnte es zudem unmittelbar zur Einhaltung dieser Qualitätskontrolle beitragen. Zudem könnte ein Betroffenenforum auch als Stelle dienen, die Beschwerden von Straftatopfern über andere Aufgabenträger entgegennimmt und bearbeitet.219 Die Beschränkung auf eine Vermittlungsfunktion unterscheidet den hiesigen Vorschlag eines Betroffenenforums von dem von Herman unterbreiteten Parallel 215 Ebenso Müller-Dietz, in: FS Dünnebier (1982), S. 75, 88; Weigend, Deliktsopfer, S. 403 f. Ähnlich Bung, StV 2009, 430, 436: das Strafverfahren sei kein Ort für ein „Enttraumatisierungsprogramm“. 216 Zur Notwendigkeit eines solchen Angebots staatlicher Stellen zur Vermittlung von Hilfen siehe Schneider, JZ 2002, 231, 236; ebenso Bergmann, Abschlussbericht, S. 287; VSE, Manifesto 2014 – 2019, S. 11 (die eine Zusammenarbeit staatlicher Behörden mit freiwilligen Opferhilfeorganisationen fordern). Auch Art. 8 Abs. 2 RL 2012/29/EU fordert eine Vermittlung an Opferunterstützungsdienste allgemeiner und spezieller Art (Art. 9 Abs. 1, 3) durch staatliche Behörden. 217 Einen solchen Lotse fordert auch BMJ et al., Abschlussbericht sexueller Kindesmissbrauch, S. 27. 218 Siehe hierzu auch FRA, Victims of crime in the EU, S. 66. 219 Herman, Parallel Justice, S. 123, schlägt ebenfalls vor, dass die von ihr anvisierten Opferkommissionen als Beschwerdestelle fungieren, bei der Betroffene eine mangelhafte Qualität von Opferunterstützungsdiensten melden können, und die die Qualitätssicherung dieser Dienste übernimmt.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Justice-Konzept. Herman fordert als Teil dieses Konzepts, dass Verbrechensopfer priorisierten Zugang zu allen sozialrechtlichen Angeboten erhalten, z. B. staatliche Kinderbetreuung oder staatlich subventionierte Kredite.220 Eine solche pauschale Priorisierung aller Straftatopfer in der sozialstaatlichen Leistungsverwaltung griffe aber zu sehr in sozialrechtliche Grundsätze ein und könnte unverhältnismäßige Ergebnisse hervorrufen. Die Vergabe sozialstaatlicher Leistungen sollte vielmehr entsprechend den im Sozialrecht geltenden Grundsätzen erfolgen. Aufgabe eines Betroffenenforums könnte in diesem Zusammenhang lediglich sein, auf solche Angebote im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten zu verweisen und den Zugang dazu über Vermittlung an entsprechende Stellen zu erleichtern. Abzulehnen wäre daher auch, ein Betroffenenforum entsprechend dem von von Galen vorgebrachten Vorschlag221 damit zu betrauen, Straftatopfer ohne jede weitere Voraussetzung monetär zu entschädigen und sodann beim Täter Regressansprüche geltend zu machen. Deshalb greift auch die Kritik, die an von Galens Vorschlag berechtigterweise geäußert worden ist, das Opferforum in der hier vorgeschlagenen Form nicht an. Kritiker bezeichnen die von von Galen geforderte Verlagerung der Entschädigung als Irrweg, weil das Opfer nicht von der Allgemeinheit geschädigt worden sei und dementsprechend den Ausgleich der Tatfolgen nicht vom Staat, sondern vom Täter erwarte.222 Ziel eines Betroffenenforums wäre aber, anders als bei von Galens Vorschlag, nicht die Regulierung der materiellen Entschädigung – weder der staatlichen, noch der durch den Täter. Ansonsten ist die Feststellung, das Opfer sei vom Täter und nicht von der Allgemeinheit geschädigt worden, zwar zutreffend. Sie sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass auch zwischen dem Betroffenen und dem Staat bzw. der Gesellschaft ein besonderes Verhältnis besteht. Diesem sollte sich ein Betroffenenforum widmen.

II. Institutionelle Verfassung und organisatorische Ausgestaltung Die institutionelle Verfassung und Organisation eines additiven Betroffenenforums sollten die Mitgliedstaaten in Anlehnung an ihre bestehenden nationalen Rechts- und Verwaltungssysteme gestalten. Untersuchungen haben insofern ergeben, dass nationale Unterschiede bestehen, in welcher praktischen Ausgestaltungsform Straftatopfer staatliche Unterstützung am besten annehmen.223 Auf diese

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Herman, in: Zehr/Towes, Critical Issues in Restorative Justice (2004), S. 75, 82 f. Von Galen, StV 2013, 174 ff.; siehe auch oben Kap. 5 A III. 222 So Meier, JZ 2015, 488, 494 zu dem Vorschlag von von Galen, StV 2013, 174 ff. Zu von Galen siehe auch oben Kap. 5 A III. 223 Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat, S. 281 f., zu Unterschieden in Deutschland, England und Italien, Opferunterstützung als Angebot oder als aufsuchende Sozialarbeit zu konzipieren. 221

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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Unterschiede sollten die Mitgliedstaaten reagieren. Einige elementare Grundstrukturen eines Betroffenenforums lassen sich aber gleichwohl skizzieren. Zunächst sollte ein Betroffenenforum institutionell und personell von der Strafrechtspflege getrennt und unabhängig sein. Hermans Vorschlag, die Parallel JusticeInitiative zumindest partiell personell bei der Polizei anzusiedeln,224 sollte insofern nicht auf ein Betroffenenforum übertragen werden. Ein solcher Doppelhut als Strafverfolger und Opferbeauftragter würde die Beamten unnötig belasten. Vor allem würde er entgegen dem Grundprinzip, dass ein Alternativsystem für Straftatopfer nicht die Stellung des Beschuldigten belasten dürfte, Konflikte mit der Objektivität gegenüber Verdächtigen im Strafverfahren heraufbeschwören. Außerdem würden auch Opfer davon profitieren, wenn sich eine staatliche Stelle ausschließlich ihren Belangen widmen würde.225 Darüber hinaus würde eine institutionelle Trennung vom Strafjustizsystem unterstreichen, dass ein Betroffenenforum nicht mit einem Vorwurf gegenüber dem Täter, sondern ausschließlich mit der Solidaritätsbekundung gegenüber dem Betroffenen befasst wäre. Außerdem sollte ein Betroffenenforum als offizielle staatliche Stelle ausgestaltet werden. Damit würde zum einen unterstrichen, dass die Gesellschaft ihre Verantwortung gegenüber Straftatbetroffenen ernst nimmt und ihr selbst nachkommen möchte. Zum anderen hat die offiziell-staatliche Anerkennung von Unrecht besondere Symbolwirkung für die Selbststabilisierung von Straftatopfern.226 Schließlich sollte ein Betroffenenforum die aufgezählten Leistungen so niederschwellig wie möglich und aus einer Hand anbieten. Der Einsatz einheitlicher Anlaufstellen hat sich bereits bei anderen Formen staatlicher Opferunterstützung bewährt, z. B. in England, wo Witness Care Units, besetzt mit Witness Care Officers, als Single-Point-of-Contact für Opferzeugen ausgestaltet sind.227 Vergleichbar schlägt Herman im Rahmen ihres Parallel Justice-Konzepts vor, sog. Parallel JusticeSpezialisten als zentralisierte Anlaufstelle für Opfer einzurichten.228 Und auch die EU fordert in EG 62 RL 2012/29/EU die Einrichtung sog. „zentraler Anlaufstellen“, die auf alle Bedürfnisse der an einem Strafverfahren beteiligten Opfer eingehen sollen.229

224

Siehe Kap. 5 A II; Pfeiffer schloss sich diesem Vorschlag an, Kap. 5 A IV. Auch FRA, Victims of crime in the EU, S. 69, 75, betont, dass Opferunterstützungsstellen sich nur auf die Belange von Opfern konzentrieren sollten, um jeden Verdacht einer parteiischen Einstellung zu vermeiden und so das Vertrauen der Opfer in die Stelle zu gewährleisten. 226 Siehe oben Kap. 2 A IV 2 b) bb) (2) (b) (bb). 227 Siehe hierzu z. B. Hoyle, in: Maguire et al., Handbook of Criminology, S. 398, 408 f. 228 Siehe oben Kap. 5 A II. 229 Die Kommission, Guidance Document, S. 16, bekräftigt diesen Ansatz. 225

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

III. Zugang zu einem additiven Betroffenenforum Der Zugang zu einem additiven Betroffenenforum sollte so breit und niederschwellig wie möglich ausgestaltet werden. Dazu sollte das Forum im Grundsatz allen Straftatopfern gleichermaßen offenstehen. Aus Praktikabilitätsgründen könnten allerdings Ausnahmeregelungen zur verhältnismäßigen Beschränkung des Zugangs bei bagatellhaften Ereignissen geboten sein. Bedarfsentsprechend und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und praktischen Machbarkeit sollten zudem auch Angehörige bzw. das soziale Nahfeld in den Wirkkreis des Forums einbezogen werden können.230 Außerdem müssten Zugangskriterien für Personen aufgestellt werden, die in grenzüberschreitenden Sachverhalten von einer Straftat betroffen worden sind. Europäische Vorgaben zur Unterstützung von Straftatopfern untersagen weiterhin, die Unterstützung von der Mithilfe der Opfer bei der staatlichen Strafverfolgung abhängig zu machen.231 Deshalb sollte der Zugang zu einem der sozialrechtlichen Leistungsverwaltung zugehörigen Betroffenenforum nicht von einer Kooperation des Betroffenen bei der Strafverfolgung abhängig gemacht werden. Eine Verzahnung der beiden Systeme wäre aber insoweit vertretbar, wie ein Forum den Betroffenen zur Unterstützung der Strafverfolgung, z. B. mittels Anzeige, ermuntern, und spiegelbildlich die Strafverfolgungsbehörden Betroffene, die dort z. B. Anzeige erstatten, auf das Angebot eines Betroffenenforums aufmerksam machen würden. Außerdem sollte der Zugang zu einem Betroffenenforum und seinen verschiedenen Angeboten optional ausgestaltet werden. Dies schlösse auch die Nichtwahrnehmung ein. Ein solches auf Freiwilligkeit basierendes Konzept würde Straftatopfer angemessener als autonome, selbstbestimmte Personen anerkennen und ihre differierenden Bedürfnisse akzeptieren als der partiell paternalistische Ansatz der RL 2012/29/EU.232 Entsprechend sollte der Zugang zu einem Betroffenenforum 230 Vorbild hierfür könnten Art. 2 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 RL 2012/29/EU sein. Sie erstrecken einige Rechte auf Familienangehörige und gestatten, den Kreis der Personen unter Berücksichtigung des Einzelfalls zu begrenzen und bestimmte Kategorien von Angehörigen zu priorisieren. 231 Siehe z. B. Art. 8 Abs. 5 RL 2012/29/EU im Kontext von Opferunterstützungsdiensten. Ähnlich die Rechtsprechung des EGMR, Urt. v. 3. 9. 2013, App. No. 15762/10, § 30 (Cadirog˘ lu/ Türkei): „The right of the victim to have access to justice is not predicated on his or her active contribution, such as reporting to the police or supporting investigations or prosecution.“ 232 Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung, S. 704, belegt mit seiner empirischen Studie, dass aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse von Straftatopfern Reformvorschläge im Opferunterstützungssektor stets mehrere Mitwirkungsoptionen vorsehen sollten. Der partiell paternalistische Ansatz der Richtlinie 2012/29/EU wird z. B. im Schutzbereich offenbar, ausführlich Kap. 2 A V. Die deutsche Umsetzung der Richtlinienvorgaben führt diesen paternalistischen Ansatz fort. Gemäß dem neu gefassten § 48 Abs. 3 StPO werden Opfer ungefragt einer Schutzbedürftigkeitsprüfung unterzogen und können dann Schutzmaßnahmen unterstellt werden. Ein Widerspruchsrecht für die Opferzeugen ist nicht vorgesehen; krit. hierzu, DAV, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren, 12.2014, S. 8.

B. Mögliche Ausgestaltung eines Betroffenenforums

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schließlich als additiv und nicht als alternativ zu anderen Angeboten ausgestaltet werden. Opfern sollte es folglich frei stehen, neben dem Forum weitere Angebote, z. B. im Restorative Justice-Bereich, zusätzlich oder auch ausschließlich wahrzunehmen. Schließlich ist zu erörtern, ob der Zugang zu einem Betroffenenforum im Fall eines vorwerfbar selbst-gefährdenden Verhaltens des Opfers zu beschränken wäre. Denkbar wäre insofern, eine Parallele zu ziehen zu den von der Viktimodogmatik aufgestellten Überlegungen, den Strafrechtsschutz zu reduzieren, wenn der Rechtsgutsträger vorwerfbar die konkrete Gefahrintensität für sein Rechtsgut erhöht hat.233 Tragende Grundidee dieses in seinen Einzelheiten stark umstrittenen Konzepts ist es, als Reaktion auf den Verzicht zumutbarer Selbstschutzmaßnahmen durch das Opfer bzw. bei sonstigem mitwirkenden Opferverhalten die Strafbedürftigkeit und/ oder Strafwürdigkeit eines Vorfalls abzulehnen.234 Analog ließe sich argumentieren, dass Betroffene, die zumutbare Selbstschutzmaßnahmen unterlassen haben, nicht die besondere gesellschaftliche Solidarität in Form des Zugangs zu den Angeboten eines Betroffenenforums verdienten. Neumann z. B. geht davon aus, dass ein Mitverschulden des Opfers für die Solidarisierung mit ihm hinderlich sei: „[…] die Solidarisierung mit dem Opfer wird beeinträchtigt, wenn diesem ein Mitverschulden zuerkannt wird; es erscheint dann der Solidarität unbeteiligter Dritter nicht oder doch nur in geringem Maße würdig“.235 Ähnlich scheint Hörnle zu argumentieren. Nach ihr muss ein Strafurteil neben der Übelzufügung an den Täter zugleich die Einbußen des Opfers anerkennen und sich mit ihm solidarisieren.236 Aufgrund dieser Doppelwirkung müssten sich Entscheidungen über das strafrechtliche Unwerturteil nicht nur gegenüber dem Täter, sondern auch gegenüber dem Opfer begründen lassen. Könne dem Opfer vorgeworfen werden, in Bezug auf die konkrete Tat eine Obliegenheit verletzt zu haben, könne dieser Vorwurf das Unrecht mindern oder sogar ganz eliminieren.237 Fehlt es aufgrund des Opfermitverschuldens am Unrecht, mangelt es nach Hörnles Theorie zugleich an der Grundlage für ein solidarisierendes 233 Ausführlich zur Viktimodogmatik in ihren verschiedentlich vertretenen Ausprägungen z. B. Anastasopoulou, in: FS Roxin (2011), S. 1927 ff.; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, passim; Schünemann, NStZ 1986, 439 ff. Krit. z. B. H.-L Günther, in: FS Lenckner (1998), S. 69 ff.; Hirsch, in: GS Kaufmann (1989), S. 699, 720 f.; partiell krit. Roxin, Strafrecht AT Bd. I, § 14 Rn. 14 ff. 234 Anastasopoulou, in: FS Roxin (2011), S. 1927, 1928; Günther, in: FS Lenckner (1998), S. 69, 71; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, S. 1, 17; Neumann, in: Hassemer, Strafrechtspolitik, S. 225, 229. 235 Neumann, in: Hassemer, Strafrechtspolitik, S. 225, 237. Diese These stellt er freilich nicht in Bezug auf die Reichweite des Zugangs zu einem additiven Betroffenenforum auf, sondern in Bezug auf die Strafwürdigkeit eines Verhaltens im Falle einer Mitverantwortung des Opfers. 236 Hörnle, JZ 2006, 950, 956. 237 Hörnle, JZ 2006, 950, 957. Eine Obliegenheitsverletzung liegt nach Hörnle dann vor, wenn das Opfer im konkreten Fall sich aufdrängende Vorsichtsmaßnahmen nicht beachtet hat, obwohl diese Vorsichtsmaßnahmen nicht mit legitimen Freiheitsinteressen des Opfers kollidiert hätten.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Strafurteil. Opfer(mit)verschulden an der Straftat rechtfertigt damit offenbar nach dieser Theorie das Absehen von einer Solidarisierung mit dem Opfer. Übertragen auf den Zugang zu einem Betroffenenforum implizieren diese Argumentationen Folgendes: Ein vorwerfbar selbstgefährdendes Verhalten des Betroffenen rechtfertigt, dem Betroffenen die gesellschaftliche Solidarisierung zu versagen. Die gesellschaftliche Solidarität mit dem Betroffenen wäre aber gerade ein Grund für die Bereitstellung eines Betroffenenforums. Mangelt es an der Solidarität als Fundament, müsste der Zugang zum Forum in diesen Fällen folglich verwehrt werden. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass von allen Bürgern normgerechtes Verhalten erwartet wird, unabhängig davon, wie sorglos andere mit ihren eigenen Interessen umgehen.238 Die Deklaration eines Verhaltens als strafbar in einem Straftatbestand impliziert gerade, dass Bürger sorglos agieren dürfen in Bezug auf die Gefahr, die von dem verbotenen Verhalten ausgeht. Das strafrechtliche Verbot erlaubt gewissermaßen einen Ausschluss dieser Gefahr aus der persönlichen Risikoabwägung und in der Folge das insofern sorglose Verhalten. Würde das sorglose Verhalten dem Betroffenen bei der Beurteilung, ob er gesellschaftliche Solidarität wegen des gegen ihn gerichteten verbotenen Verhaltens eines anderen verdient, später aufgrund seines selbstgefährdenden Charakters trotzdem zur Last gelegt, würde das Versprechen der Strafnorm, gerade dieses sorglose Verhalten in Vertrauen auf die Geltung der Norm an den Tag legen zu dürfen, ex tunc zurückgenommen. Das aber würde das System in Selbstwidersprüche verstricken. Daraus folgt, dass ein vorwerfbar selbstgefährdendes Verhalten des Betroffenen für den Zugang zu einem Betroffenenforum grds. irrelevant sein müsste. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Gesetzgeber bereits die Strafnorm selbst ausdrücklich in dieser Hinsicht relativierte und damit die Zurücknahme der Solidarität der Gesellschaft von vornherein begründete.239 Insofern könnte jeder Strafgesetzgeber den Zugang zu einem Betroffenenforum begrenzen. Ansonsten sollte umfassender Zugang entsprechend den dargelegten Grundsätzen gewährt werden.

C. Abwägung: Additives Betroffenenforum und Unionsrecht Prämisse der Bemühungen der EU um Straftatopfer ist, Opfer in den Mittelpunkt des Strafjustizsystems zu stellen. Im Rahmen dieser Prämisse erkennt die EU an, dass die Stellung des Opfers in den mitgliedstaatlichen Strafjustizsystemen differiert. Als Kompromiss können die Mitgliedstaaten einige der unionsrechtlich vorgegebenen Verletztenrechte in Abhängigkeit von der traditionellen Rolle des Opfers in ihrem jeweiligen Strafjustizsystem umsetzen. Dabei gerät jedoch aus dem Fokus, dass das 238

Ebenso Anastasopoulou, in: FS Roxin Bd. 2 (2011), S. 1927, 1932. Zur Berücksichtigung von Opferschutzmöglichkeiten auf Ebene der Strafrechtssetzung siehe z. B. Anastasopoulou, in: FS Roxin (2011), S. 1927, 1933 ff. 239

C. Additives Betroffenenforum und Unionsrecht

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Strafjustizsystem sowohl aus dogmatischen wie aus praktischen Gründen unabhängig von der jeweiligen Verfahrensordnung zur Befriedigung von Opferinteressen nicht gut geeignet ist. Besonders deutlich wird dies anhand der in der Opferrechterichtlinie implizit geforderten Anerkennung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren. Die Befriedigung eines privaten Genugtuungsinteresses ist in den nationalen, auf das öffentliche Unrecht konzentrierten Strafrechtsordnungen de lege lata nicht angelegt und wäre de lege ferenda kaum ohne Einbußen bei den Beschuldigtenrechten integrierbar. Zwar sehen die verglichenen nationalen Rechtsordnungen z. B. die von Art. 11 RL 2012/29/EU geforderte Möglichkeit einer Kontrolle von Einstellungsentscheidungen vor. Diese dient traditionell aber nicht der Durchsetzung eines privaten Interesses an Unrechtanerkennung und gesellschaftlicher Solidarisierung, sondern der Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden im öffentlichen Interesse. Aus Opfersicht können seine Bedürfnisse nach Unrechtfeststellung und gesellschaftlicher Solidarisierung mit dem Strafurteil zudem nicht effektiv befriedigt werden. Die politische Rhetorik weckt so Erwartungen, die sie nicht vollständig erfüllen kann. Insgesamt ist die Konzentration auf das Strafjustizsystem zur Umsetzung des kriminalpolitischen Postulats, Opfer in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Fürsorge zu stellen, nicht empfehlenswert. In der Gesamtschau lässt der gegenwärtige Ansatz so alle beteiligten Akteure unbefriedigt zurück, den Beschuldigten/Täter, das (vermeintliche) Opfer und auch die Rechtsgemeinschaft, die ihrer Verantwortung beiden gegenüber gerecht werden will. Ein Vorschlag, der Opferinteressen effektiv und friktionslos abbilden würde, fehlt bisher. Um diese Lücke zu schließen und eine Lösung anzubieten, die die verschiedenen Interessen miteinander in Einklang bringen könnte, wurde das additive Betroffenenforum entwickelt. Die Installation eines additiven Betroffenenforums wäre ein Paradigmenwechsel: Es würde die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Straftatopfern als eigenständige, von der staatlichen Strafverfolgung unabhängige, gesellschaftliche Aufgabe anerkennen und ausgestalten. Betroffene würden aus ihrer derzeitigen Definition über den Täter gelöst und eigenständig sichtbar gemacht. Für sie würde ein eigenes staatliches, sozialrechtlich ausgerichtetes System als zweiter Strang neben dem Strafjustizsystem etabliert. In diesem System könnten Betroffene entsprechend dem Postulat der EU tatsächlich in den Mittelpunkt gerückt werden. Ihre primären Interessen an Unrechtanerkennung, gesellschaftlicher Solidarisierung und Gehör könnten so unabhängig und nicht nur in Ableitung vom staatlichen Bestrafungsinteresse anerkannt und befriedigt werden. Insgesamt könnte damit Gerechtigkeit für das Opfer entsprechend den EU-Vorgaben zu einem eigenen Ziel erhoben werden. Auf diese Weise könnte das Forum die dominierende Intention der Richtliniengesetzgeber, Opfern einen Zugang zum Recht zu vermitteln, aus strafverfahrensrechtlicher Perspektive friktionsfreier und aus Opferperspektive effektiver umsetzen. Denn das Forum könnte die aus Opfersicht bestehenden Mängel der derzeit existierenden rechtlichen Antworten auf eine Straftat vermeiden und die Bedürfnisse von

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

Straftatopfern besser erfüllen.240 Konkret könnte die Rechtsgemeinschaft im Forum unmittelbar gegenüber dem Betroffenen das ihm persönlich widerfahrene Unrecht offiziell anerkennen und ihm umfassendes Gehör und die Möglichkeit einer kathartischen Kommunikationserfahrung einräumen. Dabei könnte ein solches auf das Opfer zugeschnittene System mehr gesellschaftliche Solidarität transportieren und zur Resozialisierung des Opfers beitragen als die Bestrafung des Täters. Weil das Alternativmodell unabhängig von der Identifikation und Mitwirkung des Täters ausgestaltet wäre, unterlägen seine Angebote zudem nicht den Selektionsfiltern, die die Reichweite der Angebote in Straf-, Zivil- und Wiedergutmachungssystemen limitieren. Stattdessen könnte es alle Opfer erreichen. Bei einer Doppelspurigkeit von Opferunterstützung und Strafverfolgung bestünde zudem nicht mehr die Gefahr, dass (vermeintlich) Verletzte am Strafverfahren teilnehmen, in der Hoffnung, dort als Hauptverfahrensfigur ihre Bedürfnisse befriedigt zu erhalten, und dann von der durch die Unschuldsvermutung und Verfahrensgrundsätze bedingten Realität enttäuscht würden.241 Außerdem wurde auf den unangemessenen Druck hingewiesen, den der Beschuldigte und das soziale Umfeld auf das Opfer ausüben könnten, wenn es für eine Unrechtfeststellung zu seinen Gunsten das Strafverfahren beeinflussen könnte.242 Auch dieser Nachteil würde bei einer Opferfürsorge außerhalb des Strafverfahrens vermieden. Die Verortung der Opferinteressen in einem Alternativsystem und des staatlichen Strafanspruchs im Strafverfahren würde zudem eine klare Abgrenzung von Sphärenund Interessenbereichen ermöglichen. Die Anerkennung des Unrechts gegenüber dem Opfer könnte so von der strafrechtlichen Bewertung der Verantwortlichkeit des Täters abgekoppelt werden. Dies wäre folgerichtig, da das Unrecht gegenüber dem Opfer und der Schuldvorwurf gegenüber dem Täter nicht deckungsgleich sind.243 Auf diese Weise würde z. B. die Rückversicherung des Betroffenen auch in Fällen rechtswidrigen, aber schuldlosen Verhaltens des Unrechtsverursachers möglich. Ein Betroffenenforum würde die Reichweite potentieller Rückversicherung so vergrößern. Außerdem könnte ein Betroffenenforum dazu beitragen, weitere der in der Richtlinie 2012/29/EU angelegten Maßnahmen umzusetzen. Es könnte als zentrale Stelle die Bedürfnisse der Betroffenen ermitteln und Informationen, Unterstützungsleistungen sowie Schutzoptionen erklären, koordinieren und vermitteln. Auf diese Weise könnte es in mehrfacher Hinsicht effektiver und konfliktfreier zu den in der Opferrechterichtlinie verankerten Zielen der Unterstützung, Information und des Schutzes von Straftatopfern beitragen als die Strafverfolgungsorgane. Die Errichtung eines Betroffenenforums hätte zudem aus dogmatischer Perspektive Vorteile. Anders als bei dem Versuch, das Opferinteresse an Unrechtfest240 241 242 243

Siehe zu diesen Mängeln ausführlich Kap. 3 C, D. Vgl. von Galen, StV 2013, 171, 175. Kap. 3 C IV. Siehe Kap. 3 C I, III. Zu den Konsequenzen im Betroffenenforum siehe Kap. 5 B I 1 a).

C. Additives Betroffenenforum und Unionsrecht

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stellung in das Strafverfahren zu integrieren, würden bei Befriedigung dieses Opferinteresses in einem Alternativsystem Konflikte mit der Stellung des Beschuldigten und den Zielen des Strafverfahrens vermieden. Auf diese Weise könnte ein Betroffenenforum auch das in der obigen Analyse flächendeckend identifizierte Problem lösen, dass die bisherigen Bemühungen um eine Stärkung von Opferrechten stets Gefahr liefen, die Balance zu den Beschuldigtenrechten zu stören. Bei Trennung von Unrechtanerkennung gegenüber dem Opfer und Strafverfolgung gegenüber dem Täter könnte das Strafverfahren entsprechend seiner ursprünglichen Funktion auf die Klärung der individuellen Verantwortlichkeit des Beschuldigten gegenüber der Gesellschaft konzentriert bleiben. Forderungen nach der Befriedigung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafjustizsystem, die systemimmanent nicht friktionsfrei zu bewerkstelligen ist, würden sich erübrigen.244 Dabei müsste freilich, wie oben dargestellt, gewährleistet werden, dass ein Verfahren vor einem Betroffenenforum keine nachteiligen Auswirkungen auf die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren hätte.245 Denn im Fall eines Konflikts zwischen Beschuldigten- und Opferinteressen muss die Waage aus rechtsstaatlichen Gründen im Zweifel stets zugunsten etwaiger Beschuldigtenrechte ausschlagen. Deshalb wären bei der Ausgestaltung der Angebote eines Betroffenenforums Abstriche zu machen, z. B. bei der zeitlichen Verfügbarkeit.246 Eine Ideallösung, die die Interessen aller Beteiligten vollumfänglich verwirklicht, existiert insofern nicht. Ein sozialrechtlich orientiertes Betroffenenforum könnte aber zumindest einen besseren Interessensausgleich erzielen als der gegenwärtige, auf das Strafjustizsystem konzentrierte Ansatz. Aus Sicht des Beschuldigten bzw. Täters wäre die Errichtung eines Betroffenenforums jedenfalls die eingriffsärmere Option gegenüber der derzeit häufig propagierten Forderung, ein Genugtuungsinteresse des Opfers im Strafjustizsystem zu befriedigen. Denn die Anerkennung eines Anspruchs des Opfers auf Strafverfolgung des Täters hätte gravierende systemtransformierende Implikationen für das staatliche Strafjustizsystem (und wäre im Übrigen auch aus Opfersicht unbefriedigend). Die Doppelspurigkeit von Opferunterstützung und Strafverfolgung brächte also auch Vorteile für die Verfahrensfairness im Strafprozess. Weiterhin sprächen kriminalpräventive und fiskalpolitische Argumente für die Einrichtung eines additiven Betroffenenforums. So weist Herman auf Grundlage empirischer Studien darauf hin, dass eine effiziente Betreuung von Opfern außerhalb des Strafverfahrens die Kriminalitätsrate reduzieren sowie die der Gesellschaft durch die Folgen von Verbrechen entstehenden Kosten nachhaltig senken kann.247 Dies liegt darin begründet, dass Personen, die Opfer einer Straftat geworden sind, sta244

Die rechtsstaatliche Pflicht, (mutmaßliche) Opfer im Strafverfahren respektvoll zu behandeln und zu schützen, bliebe davon freilich unberührt. 245 Kap. 5 B I 1 b). 246 Ausführlich Kap. 5 B I 1 b). 247 Herman, Parallel Justice, S. 9 – 27; dies., in: Davis/Lurigio/dies., Victims of Crime, S. 491, 495. So auch die Kommission, Guidance Document, S. 24.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

tistisch gesehen einem erhöhten Risiko unterliegen, zum einen re-viktimisiert,248 zum anderen selbst deviant zu werden.249 Insbesondere dadurch, dass die offizielle Unrechtfeststellung das Selbstbild des Opfers und sein Normvertrauen stärkt, kann sie das Risiko der erneuten Opferwerdung und der eigenen Devianz des Opfers senken.250 Eine gute praktische Versorgung der Opfer im additiven Betroffenenforum würde zusätzlich dazu beitragen, diese beiden Risiken zu reduzieren sowie sonstige Folgen der Viktimisierung zu lindern. Schließlich könnten die im Rahmen des Verfahrens vor dem Forum erlangten Einblicke in das Geschehen aus der Perspektive des Betroffenen dazu beitragen, Verbrechen besser zu verstehen und in der Folge besser zu verhindern.251 Die so mit dem Alternativsystem erreichte Kriminalprävention und zügigere Reintegration der Betroffenen würde wiederum die die Gesellschaft treffenden Folgekosten von Kriminalität und Viktimisierung verringern. Die zu erwartende Kostenersparnis könnte im Übrigen dazu beitragen, die für die Installation des Betroffenenforums notwendigen Ausgaben aufzuwiegen. Diese kriminal- und fiskalpolitischen Erwägungen sind insbesondere deshalb interessant, weil die EU in ihren Begründungen zum Erlass der RL 2012/29/EU selbst auf Kostenaspekte verweist.252 Im Kontext der Regelungsaktivitäten auf Unionsebene kommt schließlich noch ein besonders wichtiger sowohl dogmatischer wie rechtspolitischer Aspekt zum Tragen. Für die Mitgliedstaaten wäre der Vorschlag eines Betroffenenforums komplikationsloser umzusetzen als die Integration eines privaten Genugtuungsinteresses in das öffentliche Strafverfahren. Denn der sozialrechtliche Ansatz stünde außerhalb aller bisherigen Verfahrenssysteme und liefe in der Folge nicht Gefahr, mit überkommenen Traditionen der nationalen Strafverfolgungssysteme zu konfligieren, wie es im Kontext der Umsetzung der Vorgaben der RL 2012/29/EU zur Opferposition im Strafverfahren beklagt worden ist.253 Dass Straftatopfer als solche unabhängig von dem öffentlichen Unrecht der Straftat anzuerkennen sind und gesellschaftliche Unterstützung verdienen, ist zudem schon jetzt im unionsrechtlichen Opferrechtekanon angelegt. In EG 9 RL 2012/29/EU haben sich die Mitgliedstaaten darauf geeinigt, dass eine Straftat ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft und eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers darstellt und die Opfer von Straftaten als solche anerkannt und respektvoll, einfühlsam und professionell behandelt werden 248

Für eine Übersicht verschiedener, diese Wahrscheinlichkeit belegender Untersuchungen siehe Herman, Parallel Justice, S. 13 – 16; Schneider, MschrKrim 1998, 316, 330 f. 249 Herman, Parallel Justice, S. 20; dies., in: Davis/Lurigio/dies, Victims of Crime, S. 491, 495, mit umfassenden Nachweisen zu Studien, die diese Annahme belegen. Ebenso zeigt Schneider, MschrKrim 1998, 316, 329 f., anhand empirischer Untersuchungen, dass eine Viktimisierung die Wahrscheinlichkeit eigener Straffälligkeit erhöht. 250 Sautner, Opferinteressen, S. 290. 251 So auch Herman, in: Zehr/Toews, Critical Issues in Restorative Justice, S. 75, 81 f., im Kontext ihres ähnlich gelagerten Parallel Justice-Konzepts. 252 Kommission, KOM(2011)274 endg. v. 18. 5. 2011, S. 5. 253 Siehe oben Kap. 1 B II 2, D II 2.

C. Additives Betroffenenforum und Unionsrecht

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sollen. In EG 19 haben sie sich darauf verständigt, dass eine Person unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde, und unabhängig davon, ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Täter und der betroffenen Person besteht, als Opfer betrachtet werden soll. Der Ansatz des Betroffenenforums, die Fürsorge für Straftatbetroffene von der Strafjustizpflege zu lösen, sollte vor diesem Hintergrund konsensfähig sein. Ein separates Forum müsste deshalb für alle Mitgliedsstaaten vergleichsweise einfach umzusetzen sein, würde die unterschiedlichen Traditionen in den Strafverfolgungssystemen unberührt lassen und dürfte aufgrund der zu erwartenden Kosten-senkenden Wirkung auch fiskalpolitisch wenig Protest ernten. Auf diese Weise könnte ein Betroffenenforum somit auch den zweiten Problemkreis der inter- und supranationalen Gesetzgebung zu Straftatopferrechten einer Lösung zuführen, nämlich die Sorge der Nationalstaaten um die Kohärenz ihrer Strafjustizsysteme. In der Gesamtschau könnte die Installation eines additiven Betroffenenforums damit eine wesentliche Errungenschaft darstellen auf dem Weg, das politische Unionsziel umzusetzen, Straftatopfer in den Mittelpunkt der Rechtspflege bzw. staatlichen Fürsorge zu stellen. Um diesen neuen Weg zur Opferunterstützung einzuschlagen, könnte sich die EU nach geltendem Recht nur auf Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV als Ermächtigungsgrundlage berufen. Als sozialrechtliches Konstrukt ließe sich das Betroffenenforum allerdings kaum als Maßnahme zur Förderung gegenseitiger Anerkennung im Strafverfahren rechtfertigen. Auch wenn in der Vergangenheit solche Begründungsschwierigkeiten den Unionsgesetzgeber nicht von der Vorgabe sozialrechtlich geprägter Opferschutzstandards auf dieser Grundlage abgehalten haben (z. B. Art. 8 und 9 der RL 2012/29/EU), soll eine solche Überdehnung der Ermächtigungsgrundlage hier nicht unterstützt werden. Allerdings wurde bereits dargelegt, dass die Kompetenz zum Erlass von Rechten für Straftatopfer aus dem Kontext der gegenseitigen Anerkennung im Strafverfahren gelöst werden sollte.254 Würde diesem Vorschlag gefolgt, ließe sich das Betroffenenforum auf einer sozialrechtlich orientierten Grundlage widerspruchsfrei etablieren. Ansonsten könnten Unionsorgane zumindest informell und rechtlich unverbindlich für die Einführung eines solchen Konzepts werben. Insofern könnte die EU ihre Rhetorik, dass Opfer in den Mittelpunkt des Strafjustizsystems zu stellen sind, durch eine Rhetorik der sozialrechtlichen Zuwendung ersetzen, und in Stellungnahmen dafür eintreten, dass die Unterstützung von Opfern als eine eigene, vom Strafjustizsystem und der Verfolgung des Täters unabhängige gesellschaftliche Aufgabe anerkannt wird. In der Gesamtschau muss die gesellschaftliche Antwort gegenüber Straftatopfern mehrteilig sein. Opfer müssen im Strafverfahren respektvoll behandelt und im Rahmen des rechtsstaatlich Möglichen geschützt werden. Daneben verdienen sie eine Anerkennung, die sie im Strafjustizsystem nicht erhalten können. Eine Möglichkeit, ihnen diese Zuwendung zu zollen, könnte die Errichtung eines Systems wie 254

Siehe oben Kap. 1 D I.

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Kap. 5: Additives Betroffenenforum

das hier vorgeschlagene additive Betroffenenforum sein. In einem solchen sozialrechtlich orientierten System könnten Straftatopfer, wie von der EU gefordert, wirklich im Mittelpunkt stehen.255 Trotz prinzipieller Unabhängigkeit vom Strafjustizsystem müsste ein solches Forum mit genauem Augenmaß für die Position des Beschuldigten ausgestaltet werden und würde in der Folge aus Sicht der Opfer Einschränkungen aufweisen. Bisher fehlt es allerdings an einem alternativen Vorschlag zur Opferunterstützung, der alle widerstreitenden Interessen optimal ausgleichen würde. Die hiesigen Überlegungen zu einem möglichen additiven Betroffenenforum nehmen sich der beiden im horizontalen und vertikalen Rechtsvergleich sowie bei der Analyse der inter- und supranationalen Bemühungen um Straftatopferrechte übereinstimmend festgestellten Problemkreise an, und bemühen sich darum, sie einer adäquaten Lösung zuzuführen. Dabei verstehen sie sich als Anstoß für eine Diskussion, wie die Rechtsgemeinschaft ihrer Verantwortung gegenüber Straftatbetroffenen losgelöst vom Strafjustizsystem und für alle Beteiligten zufriedenstellend erfüllen könnte. Das additive Betroffenenforum soll insofern nur einen bescheidenen, weiter zu diskutierenden Vorschlag und Anfangspunkt bieten für die notwendigen Überlegungen zu einer alternativen, rechtsstaatlich konfliktfreien, die Unschuldsvermutung wahrenden Unterstützung von Straftatopfern – auf nationaler wie auf supranationaler Ebene.

255 Dies fordert Vivian Reding, Putting Victims first, SPEECH/11/424, S. 2: „Victims should be given a voice in the criminal justice systems, and their needs should come first.“

Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit hat die strafprozessualen Rechte des Verletzten in der EU ausführlich aus der Perspektive aller Ebenen des EU-Mehrebenensystems untersucht. An dieser Stelle werden die wesentlichen Leitlinien und Ergebnisse in einen Gesamtkontext gestellt. Eine detaillierte Darstellung der Untersuchungsergebnisse findet sich in den ausführlichen Ergebniszusammenfassungen der einzelnen Kapitel. Das erste Kapitel hat aufgezeigt, welche spezifischen Herausforderungen eine supranationale Gesetzgebung zu Opferrechten lösen muss und unter welchen primärrechtlichen und rechtspolitischen Rahmenbedingungen sie agiert. Dabei wurde deutlich, dass sich die inter- und supranationale Gesetzgebung zur Stärkung der Rolle des Opfers im Strafprozess stets zwei wiederkehrenden Herausforderungen gegenüber sieht: Der Wahrung der Balance zu den Beschuldigtenrechten und der Sorge der Nationalstaaten um die Kohärenz ihrer jeweiligen Strafjustizsysteme. Immer wieder war in diesem Kontext die These zu vernehmen, Common Law-Strafjustizsysteme hätten per se größere Schwierigkeiten mit der Integration von Opferrechten in das Strafverfahren als Civil Law-Strafjustizsysteme. Die Untersuchung legte zudem einige interessante Parallelen in den Dynamiken und Motiven der Opferrechtegesetzgebung auf nationaler, internationaler und supranationaler Ebene offen. So ist auf allen Ebenen eine relativ starke Beteiligung von Lobbygruppen zu verzeichnen, die zudem ähnliche Ideologien repräsentieren. Die Reformen erfolgen stets vergleichsweise zügig, was auch auf die flächendeckend hohe politische Konsensfähigkeit von Vorschlägen zur Stärkung von Opferrechten zurückzuführen sein dürfte. Außerdem kennzeichnet alle Reformen eine auffallend ähnliche Rhetorik, die dazu neigt, die Figur eines idealen Opfers zu verschiedenen Zwecken zu instrumentalisieren. Während die Instrumentalisierung auf nationaler Ebene partiell zur Legitimierung punitiver Zwecke erfolgen mag, ließ sich eine solche Tendenz auf Unionsebene nicht feststellen. Vielmehr zeigte die Analyse der Unionspolitik, dass das Konsens-stiftende Potential des Opferthemas vor allem genutzt wurde, um politische Legitimation im Mehrebenensystem und Zustimmung zur Unionsgesetzgebung im kompetenzrechtlich gerade neu erschlossenen Bereich strafjustizieller Zusammenarbeit zu generieren. Insofern stehen hier Spezifika des EU-Mehrebenensystems und keine kriminalpolitisch repressiven Tendenzen hinter der rhetorischen Instrumentalisierung. Insgesamt folgt die EU mit ihrer politischen und legislativen Priorisierung der Belange von Straftatopfern einem nationalen wie internationalen Trend. Die Untersuchung der inhaltlichen Ausrichtung der Unionspolitik zu Opferrechten zeigte weiter, dass sie sich prae Lissabon vor allem dem Schutz des (mutmaßlichen) Opfers im Strafprozess widmete. Ein Interesse des Opfers an der

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Strafverfolgung und Bestrafung des Täters wurde nicht anerkannt und dem Opfer wurde auch keine aktive Rolle im Strafverfahren eingeräumt. Post Lissabon propagiert die EU als neues Leitmotiv, die Opferinteressen zu priorisieren und Opfer in den Mittelpunkt der nationalen Strafjustizsysteme zu rücken. Politisch in den Blick genommen werden deshalb vermehrt auch Wünsche nach einer aktiven Beteiligung an der Strafverfolgung und repressive Interessen des Verletzten. Bedauerlicherweise unterstellt die EU dabei schlicht, dass eine solche Konzentration auf das Strafjustizsystem aus der Perspektive aller beteiligten Akteure – der Rechtsgemeinschaft, des Opfer und des Beschuldigten/Täters – alternativlos, sinnvoll und konfliktfrei sei. Die Ausgestaltung des EU-Primärrechts spiegelt die prioritäre Bedeutung, die die politische Ebene den Belangen von Straftatopfern beimisst. Während prae Lissabon fraglich war, ob die EU überhaupt Opferrechtemindeststandards vorgeben durfte, verfügt sie post Lissabon mit Art. 82 Abs. 2 AEUV über eine explizite Ermächtigungsgrundlage dafür. Art. 82 Abs. 2 AEUVenthält die Wertung, dass dem Opfer ein angestammter Platz im Strafjustizsystem zukomme. Allerdings errichtet er zugleich ein komplexes Schrankenregime, das die rechtlichen Möglichkeiten der EU zur Regulierung von Opferrechten stark limitiert. Dabei verpflichtet er die EU, die Beschuldigtenrechte und die Besonderheiten der nationalen Strafjustizsysteme zu beachten, und fordert sie so implizit auf, die aufgezeigten Problemfelder inter- und supranationaler Opferrechtegesetzgebung zu lösen. Die Verfolgung des von der EU politisch favorisierten umfassenden, koordinierten und wohlfahrtstaatlich ausgerichteten Ansatzes zu Opferrechten ist auf seiner Grundlage hingegen kaum vertretbar. Denn kompetenzrechtlich ist die Harmonisierung von Opferrechten ausschließlich zur Förderung strafjustizieller Zusammenarbeit gestattet. Die umfassende Analyse der RL 2012/29/EU anhand der im ersten Kapitel erarbeiteten Kriterien im zweiten Kapitel offenbarte allerdings, dass die kompetenzrechtlichen Schranken bei der Formulierung der Opferrechterichtlinie wenig Beachtung gefunden haben. Viele ihrer Vorgaben lassen sich nicht unter die Voraussetzungen des Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV subsumieren. Zugleich statuiert das Teilnahmekonzept der RL 2012/29/EU einen Paradigmenwechsel, der das politische Leitmotiv der EU spiegelt, Straftatopfer in den Mittelpunkt der nationalen Strafjustizsysteme zu rücken. Entgegen der traditionellen Konzeptionalisierung einer Straftat als ein die Allgemeinheit tangierendes Unrecht und der Ausrichtung der Strafverfolgung auf das öffentliche Interesse, vertritt die RL 2012/29/EU ein Straftat- und Strafjustizverständnis, das öffentliche und private Elemente verbindet. Ohne die formale Rolle des Opfers im Strafverfahren vorzugeben, weist die Opferrechterichtlinie ihm aufgrund der Realdimension einer Straftat einen eigenen Platz im Strafprozess zu. Dazu verankert sie einen umfassenden Kanon an Opferrechten, die in justiziabler Form in den nationalen Rechtsordnungen zu implementieren sind und dem Opfer die Position eines Rechtssubjekts im Strafprozess vermitteln. In Übereinstimmung mit einer neueren Tendenz in der aktuellen rechtswissenschaftlichen Diskussion soll insbesondere auch ein privates Interesse des Opfers an Unrechtfeststellung bzw. Genugtuung im staatlichen Strafverfahren Be-

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rücksichtigung finden. Diese Annahmen machen den Strafprozess zu einem Dreiecksverhältnis. Die Mitgliedsstaaten sind zur Umsetzung der Richtlinienziele verpflichtet. Auch wenn sie dem vermeintlichen Opfer keine eigene Verfolgerrolle im Strafverfahrenssystem einräumen und das Verfahren auch nicht nach restorativen Grundsätzen umgestalten müssen, müssen sie doch die Perspektive des (vermeintlichen) Opfers entsprechend den Unionsvorgaben (neu) in ihren Systemen gewichten. Aus Sicht des Straftatopfers thematisiert die Opferrechterichtlinie eine Vielzahl seiner Bedürfnisse. Allerdings werden zahlreiche Rechte, besonders im Verfahrensbereich, vage oder nur eingeschränkt normiert bzw. nicht allen Opfern zugestanden. Außerdem hat die Richtlinie partiell paternalistische Tendenzen. Insgesamt sind die Regelungen ersichtlich auf ein (mutmaßliches) Opfer abgestimmt, das die Strafverfolgung befürwortet. Opfer, die keine Strafverfolgung oder keine Teilnahme daran wünschen oder „deren“ Tat nicht verfolgt wird, werden kaum bedient. Die Analyse des Sekundärrechts zeigte weiterhin, dass die EU die wiederkehrenden Problemfelder internationaler Opferrechtegesetzgebung teilweise entschärfen, aber nicht vollständig auflösen konnte. So erkennt die Richtlinie das potentielle Spannungsfeld zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechten ausdrücklich an. Allerdings stellt sie nicht selbst die notwendige Balance zwischen den Positionen im Strafverfahren her, sondern überträgt den Mitgliedstaaten die Verantwortung dafür. Sie müssen die Vorgaben so in ihr nationales Recht implementieren, dass die Beschuldigtenrechte und die Garantie eines fairen Verfahrens gewahrt bleiben. Maßgaben, wie sie diese Balance praktisch erreichen könnten, finden sich in der RL 2012/ 29/EU bedauerlicherweise nicht. Zudem sollte die Definition des Opferbegriffs in der Richtlinie reformiert werden. In der gegenwärtigen Fassung läuft sie Gefahr, mit der Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten zu konfligieren. Zur Lösung des zweiten Problemkreises lässt die Richtlinie den nationalen Gesetzgebern an vielen Stellen erheblichen Umsetzungsspielraum und nimmt so Rücksicht auf die Kohärenz der nationalen Strafjustizsysteme. So sah die EU z. B. auf Initiative der Mitgliedsstaaten davon ab, eine formale Rolle für den Verletzten im Strafprozess vorzugeben. Ansonsten waren sich supranationale und nationale Entscheidungsträger offenbar einig in dem politisch opportunen Ziel, sich der Bedürfnisse von Straftatopfern zu widmen. Dies scheint nicht zuletzt auch dazu beigetragen zu haben, dass die Mitgliedstaaten die Kompetenzüberschreitungen durch die EU nicht monierten. Gleichwohl zeigte die Analyse der Opferrechterichtlinie anhand der Problemkreise, dass die Neujustierung des Strafjustizsystems als dreipolig zusammen mit der impliziten Vorgabe, ein privates Genugtuungsinteresse des Opfers im Strafverfahren zu berücksichtigen, aus Perspektive aller beteiligten Akteure konfliktträchtig ist. Deshalb unterzog das dritte Kapitel die Berücksichtigung des Genugtuungsinteresses des Opfers im Strafverfahren einer vertikal und horizontal rechtsvergleichenden Analyse. Exemplarisch wurde das deutsche Recht als Vertreter des Civil

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Law-Rechtskreises mit reformiert-inquisitorischem Strafprozessmodell und das englische Recht als Vertreter des Common Law-Rechtskreises mit adversatorischem Strafprozessmodell untersucht. Dabei wurde deutlich, dass in Civil und Common Law-Strafjustizsystemen sehr ähnliche, der Verfahrensstruktur vorgelagerte normative Grundprinzipien der Berücksichtigung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafjustizsystem entgegenstehen. In beiden Systemen bewirkt die Entindividualisierung des materiellen Unrechtsbegriffs im Zusammenspiel mit der Rückbindung der Verfahrensziele an das rechtstheoretische Programm des materiellen Strafrechts eine Ausblendung des individuellen Opfers und seines Genugtuungsinteresses. In der Konsequenz ist das Strafverfahren in beiden Rechtsordnungen als Auseinandersetzung zwischen der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft und dem Angeschuldigten ausgestaltet und auf die Realisierung des öffentlichen Interesses an der Verfolgung eines Unrechts gegenüber der Rechtsgemeinschaft ausgerichtet. Um die Befriedigung eines privaten Genugtuungsinteresses zum Verfahrensgegenstand zu erheben, müsste der Verbrechensbegriff unter Aufgabe dieser normativen Grundprämissen dual konzipiert werden. Unter Geltung der tradierten straftheoretischen Prinzipien aber fehlt es in beiden Systemen – unabhängig von der Kategorisierung des Prozessmodells als adversatorisch oder (reformiert-)inquisitorisch – an einem normativ-legitimierenden Anknüpfungspunkt für die Anerkennung und Befriedigung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafprozess. In der jüngeren Vergangenheit sind in der englischen und deutschen Rechtsordnung zwar Tendenzen zu verzeichnen, diese Grundsätze partiell aufzuweichen und vermehrt private Ausgleichsinteressen in das Strafjustizsystem zu inkorporieren. Zu beobachten ist dies z. B. im Rahmen der Diskussion über den Zweck der Nebenklage im deutschen Recht und über die Berücksichtigung von Opferinteressen bei Ermessensentscheidungen im englischen Recht. Allerdings ist diese Entwicklung keine reflektierte grundlegende Revision der normativen Grundsätze, sondern präsentiert sich als fragmentarisches Abrücken davon in Reaktion auf spezifische Einzelfallumstände. Zudem erfolgt im Rahmen solcher Reformen zumeist schlussendlich doch eine Rückbesinnung auf das tradierte, ausschließlich am öffentlichen Interesse ausgerichtete System. Zumindest einige der Aufweichungstendenzen beruhen zudem nicht auf nationalem Reformdrang, sondern auf Unionseinfluss. Insofern widerlegte die rechtsvergleichende Analyse zugleich auch die in der reformpolitischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion immer wieder zu vernehmende These, dass normative Besonderheiten speziell des adversatorischen Common Law-Systems der Zentrierung von Opferinteressen im Strafverfahren entgegenstünden und kontinentaleuropäischen Systemen die Berücksichtigung des Opfers per se dogmatisch leichter falle. Der englische adversatorische und der deutsche reformiert-inquisitorische Strafprozess weisen naturgemäß verfahrensrechtliche Unterschiede auf. Auch sind die jeweiligen Mechanismen zur Wahrheitsermittlung unterschiedlich gut darauf ausgelegt, einen Dritten an der Aufklärung mitwirken zu lassen. In einem adversatorischen System kann es schwieriger sein, den Verletzten an der Wahrheitssuche zu beteiligen, ohne die Verfahrensfairness

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zu gefährden, als im Kontext einer staatlich dominierten Wahrheitssuche. Auch können (Opfer-)Zeugen in einem solchen Verfahren tendenziell stärkeren Belastungen ausgesetzt sein als in einer richterlich dominierten Hauptverhandlung. Die Ausgestaltung des Prozesses als adversatorisch oder (reformiert-)inquisitorisch ist aber, wie dargestellt, nun gerade nicht die Ursache für die Schwierigkeit, das (mutmaßliche) Opfer als Träger eines privaten Genugtuungsanspruchs in das Strafverfahren zu integrieren. Vielmehr konfligiert die Berücksichtigung eines privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren in beiden Systemen mit ähnlichen tradierten normativen Grundprinzipien. Soweit die Systeme schließlich private Initiative im Strafverfahren zulassen, geschieht dies in beiden primär zur Durchsetzung öffentlicher Interessen sowie sekundär zur Unterstützung materieller Entschädigungsbegehren des mutmaßlichen Opfers und zur Erfüllung von Schutz- und Rücksichtnahmepflichten ihm gegenüber. Um die Verfolgung privater Genugtuungsinteressen geht es traditionell nicht. Rechtstraditionsübergreifend hat das private Genugtuungsinteresse des Opfers damit traditionell in beiden Rechtsordnungen keinen Platz im Strafverfahren. Zwar bestehen in beiden Systemen Tendenzen, die strikte Trennung von öffentlichem und privatem Interesse und die Konzentration des Strafverfahrens ausschließlich auf das öffentliche Interesse aufzuweichen. Diese Tendenzen gehen aber nicht so weit, ein privates Genugtuungsinteresse im Strafprozess anzuerkennen und zu befriedigen. Diese rechtsvergleichenden Ergebnisse veranlassten die Prüfung, welche Konsequenzen die Anerkennung eines privaten Genugtuungsinteresses in den nationalen Strafverfahren de lege ferenda hätte. Auch hier lautet das Resümee indes, dass von der zukünftigen Integration dieses Interesses in den Strafprozess abzuraten ist. Denn würde das private Genugtuungsinteresse entgegen den tradierten normativen Grundprinzipien zukünftig in die nationalen Strafjustizsysteme integriert, hätte dies in beiden Systemen weitreichende problematische Implikationen für die Struktur der Strafverfolgung, die Position des (vermeintlichen) Opfers und des Angeklagten im Strafverfahren sowie für die Dogmatik des materiellen und formellen Strafrechts insgesamt. Diese Konsequenzen werden in der Diskussion um die Befriedigung eines Genugtuungsinteresses des Opfers im Strafprozess bedauerlicherweise oft nicht (vollständig) abgebildet. Aufgrund der Schranken in Art. 82 Abs. 2 lit. c AEUV erscheint es zudem fraglich, ob die EU kompetenzrechtlich eine solche Grundprinzipien der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen tangierende Reform erzwingen dürfte. Um die Forderung nach der Zentrierung des Opfers im Strafverfahren und der Berücksichtigung seines privaten Genugtuungsinteresses im Prozess aus allen relevanten Perspektiven beurteilen zu können, wurde schließlich untersucht, ob aus Sicht des Opfers seine Interessen effektiv im Strafjustizsystem befriedigt werden können. Diese Facette wird in der Diskussion um das Genugtuungsinteresse häufig übersehen oder jedenfalls nicht hinterfragt. Insofern wurde offengelegt, dass die Konzentration auf das Strafjustizsystem auch aus Sicht des Opfers im adversatori-

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schen wie im inquisitorischen Verfahren unbefriedigend ist. Seine Interessen können im strafprozessualen Kontext schlicht nicht immer und unbedingt effektiv beantwortet werden. Dies gilt sowohl im gegenwärtigen, am öffentlichen Unrecht orientierten Strafjustizsystem als auch in einem hypothetischen, auch auf das Individualinteresse an Unrechtfeststellung ausgerichteten Strafverfolgungssystem. Insgesamt hat die Analyse im dritten Kapitel demonstriert, dass derzeit ein Instrument fehlt, das die Bedürfnisse von Straftatopfern, insbesondere das viel zitierte Genugtuungsinteresse, effektiv und ohne Belastung der Position des Beschuldigten beantwortet. Auch der gegenwärtige legislative Ansatz der EU ist ungeeignet, um das politische Unionsziel, die Interessen von Opfern umfassend zu befriedigen, normativ konfliktfrei und faktisch effektiv zu erreichen. Wenn die Rechtspolitik ihr Credo, Opfer und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu rücken, ernst meint, sollte sie sich deshalb nicht darauf beschränken, eine Stärkung der Stellung des Opfers im Strafverfahren zu propagieren. Vielmehr müsste sie alternative Instrumente zur Befriedigung der Bedürfnisse von Opfern erwägen. In Zusammenführung und Reaktion auf die Erkenntnisse aus der Studie des supranationalen und nationalen Rechts loteten deshalb Kapitel vier und fünf Optionen für eine alternative konfliktfreiere und effektivere Befriedigung von Opferinteressen aus. In einem ersten Schritt analysierte das vierte Kapitel dafür mögliche normative Begründungsansätze für die staatliche Verantwortung zur alternativen Unterstützung von Straftatopfern und den damit verbundenen besonderen staatlichen Ressourceneinsatz. Im Zuge dieser Untersuchung konnte zum einen gezeigt werden, dass Straftatopfer nicht – wie oft propagiert wird – über einen Anspruch gegen den Staat auf Verfolgung und Bestrafung des Täters verfügen. Die insoweit vorgebrachten verfassungsrechtlichen, staatstheoretischen, entwicklungshistorischen und kompensatorischen Ansätze zur Begründung eines Bestrafungsanspruchs des Opfers vermögen nicht zu überzeugen. Dieses Ergebnis bestätigt den Ansatz, nach Alternativen zur Befriedigung von Opferinteressen zu suchen. Denn wenn die Berücksichtigung des privaten Genugtuungsinteresses im Strafverfahren die aufgezeigten problematischen Implikationen für das Strafjustizsystem und die strafprozessuale Stellung des Angeklagten zeitigt und sich ein Anspruch des Opfers auf Bestrafung nicht fundieren lässt, sollte Forderungen danach weder auf nationaler noch auf unionsrechtlicher Ebene nachgegeben werden. Zum anderen legte die Untersuchung aber auch offen, dass die im Staat verfasste Rechtsgemeinschaft durchaus eine besondere Verantwortung trägt, Straftatopfer bei der Bewältigung der Viktimisierungsfolgen zu unterstützen und dafür Ressourcen aufzuwenden. Diese Verantwortung leitet sich auf Grundlage einer normtheoretisch-soziologischen Begründung aus der konstitutiven Wirkung der staatlichen Kriminalisierungsentscheidung ab. Sie umfasst, Straftatopfer durch Unrechtfeststellung, praktische Unterstützung und Solidarisierung zu unterstützen. Einen Anspruch des Opfers auf eine staatliche Reaktion gegenüber dem Täter, z. B. in Form eines Unwerturteils oder einer Sanktion, begründet die normtheoretisch-soziologische Herleitung indes nicht.

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Abschließend erörterte das fünfte Kapitel deshalb konkret alternative Wege, wie die Rechtsgemeinschaft diese Verantwortung gegenüber Straftatopfern effektiv und grundrechtsschonend erfüllen könnte. Bisherige Vorschläge zur Unterstützung von Straftatopfern konzentrieren sich wie auch die Unionspolitik ganz überwiegend auf das Strafjustizsystem. Zielführender erscheint indes ein Ansatz, der die Unterstützung von Straftatopfern von der Strafverfolgung trennt. Als möglichen Vorschlag für einen solchen Ansatz entwickelte das fünfte Kapitel das sozialrechtlich ausgerichtete additive Betroffenenforum. In einem solchen, vom Strafjustizsystem unabhängigen, auf die vertikale Beziehung zwischen Staat und Opfer konzentrierten Forum könnte die Rechtsgemeinschaft ihre Verantwortung gegenüber Opfern erfüllen, sie wie von der EU gefordert in den Mittelpunkt rücken und zugleich die im Rechtsvergleich und bei der Analyse der inter- und supranationalen Bemühungen um Straftatopferrechte identifizierten Probleme lösen. Denn ein separates Forum könnte das Opfer als solches anerkennen und seine Interessen adäquat abbilden, ohne mit der Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme zu interferieren oder die Balance zu den Beschuldigtenrechten im Strafverfahren zu stören. Aus Sicht des Beschuldigten wäre es die eingriffsärmere Option gegenüber der verbreiteten Forderung, ein Genugtuungsinteresse des Opfers im Strafjustizsystem zu befriedigen. Zugleich könnte ein Betroffenenforum die aus Opfersicht bestehenden Mängel der derzeit existierenden rechtlichen Antworten auf eine Straftat vermeiden und die Bedürfnisse von Straftatopfern effektiver erfüllen. Denn es könnte sich ausschließlich darauf konzentrieren, das viel zitierte Unrechtfeststellungsinteresse von Straftatopfern zu erfüllen, und ihnen gesellschaftliche Solidarität, praktische Unterstützung bei der Bewältigung der Tatfolgen und eine Möglichkeit zur kathartischen Kommunikation über das Geschehen zu gewähren. Die im öffentlichen Interesse betriebene Strafverfolgung des vermeintlichen Täters könnte und müsste weiterhin und ausschließlich dem Strafjustizsystem in seiner herkömmlichen Ausgestaltung überantwortet bleiben. Ein Vorschlag, der die Spannungen im Dreiecksverhältnis Beschuldigter, Opfer und Rechtsgemeinschaft auflöst und alle Interessen adäquat abbildet, fehlt bisher. Die Überlegungen zu dem sozialrechtlich ausgerichteten Betroffenenforum möchten deshalb eine Diskussion anstoßen, wie die Rechtsgemeinschaft ihrer Verantwortung gegenüber Straftatopfern konfliktfreier und für alle Beteiligten zufriedenstellender gerecht werden könnte als mit der herkömmlichen Konzentration auf das Strafjustizsystem. Der Vorschlag zu dem additiven Betroffenenforum nimmt freilich nicht für sich in Anspruch, eine finale Lösung zu bieten, sondern soll vielmehr nur einen bescheidenen ersten Beitrag zu einer Neuorientierung der Diskussion über die Befriedigung von Opferinteressen auf nationaler und auf Unionsebene leisten.

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Sachverzeichnis Abweichungskompetenz 55 f. Additives Betroffenenforum siehe Betroffenenforum Adhäsionsverfahren 143, 181, 300, 367, 388, 472, 474 Adversatorische Verfahrensstruktur 89, 91, 109, 210 f., 310 f. Akkusationsprinzip 281 f. Akteneinsicht 155, 299 f., 347, 372 Amtsaufklärungsgrundsatz 259 f., 282 f., 496 f. Anklageentscheidung 278 – 282, 301 f., 306 – 309, 314 – 317, 350 f. Anklagemonopol 288, 309, 313 f. Anspruch des Verletzten auf – Akteneinsicht 155 – Beeinflussung der Strafzumessung 230 – 232 – bei Verzicht auf Strafverfolgung 150 – 179, 197 f., 234 f., 288 – 294, 317 – 334 – Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen 132 f., 200 – Information 130 f., 155 f., 198 f., 509 – Kostenerstattung 180, 200 – Plädoyer 149 – Prozesskostenhilfe 180 – rechtliches Gehör 135 – 150, 222 – 234, 300, 336, 343 f., 479, 482 – Revision 151, 293, 300, 344, 371 – Schutz im Strafverfahren 166, 188 f., 209 f., 215 – 218, 221, 296 f., 450 f. – Teilnahme am Strafverfahren 37, 56 f., 140 f., 183 – 188, 209 f. – Unrechtfeststellung 451 – 462 – verstehen und verstanden zu werden 132 f. Anspruch des Verletzten auf Strafverfolgung/ Bestrafung des Täters – Anerkennung im Rahmenbeschluss 2001/ 220/JI 110

– Anerkennung in der Richtlinie 2012/29/ EU 138 – 148, 168 – 179, 187 – Auswirkungen auf den Beschuldigten 369 – 377 – (theoretische) Begründungsansätze 394 – 466 – Diskussion auf internationaler Ebene 29 – im deutschen Strafprozessrecht 163 – 166, 173 – 179, 288 – 294, 303 f. – im englischen Strafprozessrecht 319 – 322, 326 f., 331 – 334, 336 f., 348 – 352, 355 – im Kontext eines additiven Betroffenenforums 470, 490, 492 – menschenrechtliche Verbürgung 173, 440 f., 467 f. – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 415 – 422 – nach der Rechtsprechung des EGMR 395 – 415 – nach der Rechtsprechung des EuGH 38 – Rechtsvergleich 369 Anweisungskompetenz 45 – 82, 202 – 205, 465 f. Anzeigeerstattung 134 Artikel 31 EUV a.F. 32 Artikel 82 AEUV 45 – 84, 109, 162, 205, 238 Balance zu den Beschuldigtenrechten 28, 43, 82, 91 f., 110, 215 ff., 240 f. (individuelle) Begutachtung von Opfern 190 f., 218 – 221 Beschleunigtes Verfahren 284 Beschleunigungsgrundsatz 227 f. Beschuldigtenrechte 82, 101, 121 f., 125 f., 209 – 237, 240, 268 f., 369 – 377, 385, 470, 472 f., 484, 494 f., 498 f., 502, 523 Betroffenenforum, additives – Ausgestaltung 489 – 520 – Funktionen 491 – 516

Sachverzeichnis – Grundlagen 391 – 393, 469 – 470, 489 – 491 – im Kontext der Unionspolitik 391 – 393, 520 – 525 – organisatorische Verfassung 516 f. – Rechte und Stellung des Beschuldigten/ Täters 494 f., 498 f., 502, 523 – staatliche Verpflichtung zur Errichtung 451 – 462 – theoretische Begründungsansätze 393 – 466 – Zugang 518 – 520 Bewährung des materiellen Rechts 262 – 264, 271 – 273, 358 f. Blaming the Victim Syndrom 174, 178 Brexit 22 Code for Crown Prosecutors 314 Code of Practice for Victims of Crime 313, 339 – 342 Common Law 89 f., 243 f., 252 f., 527 Compensation Order 275 – 277, 367, 369 Crime Control 271 Crown Prosecution Service 308 f., 311 Director of Public Prosecution 322 Due Process 271, 274

307, 309,

Einschätzungsprärogative 204 f., 456 – 458 Einstellungsentscheidung 151, 279 f., 289 f., 315 – 317 Elemente strafrechtlichen Unrechts 244 – 257 Entschädigung des Opfers 19, 31, 180 f., 185 f., 300, 388 f., 472 – 474, 484 f., 516 Erforderlichkeit zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung 47, 57 – 69, 72, 83, 202 Ermessenseinstellungen 151, 156, 314 EU-Mehrebenen-System 20, 105 – 107, 205, 462 – 466, 527 Europäische Staatsanwaltschaft 464 f. Europäischer Rat von Tampere 31, 34 European Forum for Victims Services 30, 32

571

Fair Trial Grundsatz 169 – 173, 271, 502 f. Fiktives Opfer 100 f., 102 Folgenbeseitigungspflicht 424 – 426 Fragmentarischer Charakter des Strafrechts 456 Full Code Test 314 f., 330, 333, 350 Gegenseitige Anerkennung 47, 57 – 69, 83 f., 99, 202 Gegenseitiges Vertrauen 47 f., 59 – 65, 83, 96 f., 99, 202 f., 236 Gemeinsamkeiten der Rechtsordnungen und -traditionen 78 f., 83 Genugtuungsinteresse, privates 167 – 176, 187, 208, 242, 286 – 290, 297 f., 369, 52 siehe auch Unrechtfeststellung Genuine Opferinteressen 54 – 56, 64, 82, 162 f. Gesellschaftsvertrag 250, 442 f., 444, 475 f. Gesetzgebungskompetenz 32 – 35, 45 – 85, 105 f., 109, 162, 202, 238 Gesetzgebungsverfahren 41 f., 87 – 89, 107, 195, 205 Gewaltmonopol 419 f., 438 f., 441 – 446 Grenzüberschreitende Dimension der Viktimisierung 69, 73, 98 f., 204 Haager Programm 85, 96 Harm Principle 256 f. Hellfeld der Devianz 386 f. Ideales Opfer 101 f., 103, 106 Informationsvermittlung 509 – 514 Inquisitorische Verfahrensstruktur 91, 210 f. Intensiver Transgouvernementalismus 41 Internationale Vorgaben zu Opferrechten 27 Judicial Review 158, 318 – 328, 354 f., 365 Kathartische Kommunikation 147, 186, 223 – 227, 502 – 509 Klageerzwingungsverfahren 158, 164, 288 – 293 Kohärenz der nationalen Strafjustizsysteme 27 f., 40 f., 80, 83, 88 – 91, 109, 129, 149 f., 185, 194 – 208, 239 f.

572

Sachverzeichnis

Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden 158 – 163, 289 f., 295 f., 303, 319 – 321, 332 f. Kostensenkung 40, 99, 128, 199 f., 523 f. Kriminalisierungsentscheidung – Begriff 451 f. – Grenzen und Rahmenbedingungen 455 – 459 – im EU-Mehrebenen-System 463 f., 466 – Konstitutive Definitionswirkung 459 – 461 Legalitätsprinzip 157, 278, 286, 289 – 291, 361 Lobbyverbände 25, 32, 43, 45, 86, 94 f., 108 Locus Standi 158, 160, 318 – 322 Mehrfachvernehmungen 216, 221 Menschenrechtliche Mindeststandards 66, 83, 100, 202 Mindestvorschriften 35, 48, 56 f., 59, 81 Nationale Sicherheit 201 Nebenklage 183, 295 – 299 Neutralisierung des Opfers 252, 358 Nicht-strafrechtliches Ausgleichsystem 471 – 474 Normvertrauensschaden 248 f., 423 – 430 Notbremse 79 Nothing works 26 Nullsummenspiel 101, 209, 371 f., 486 Offizialprinzip 278, 301, 305, 361 One-Stop-Shop-Ansatz 510, 517 Opferbegriff 115 – 129 Opferimperativ siehe politischer Opferimperativ Opfer in grenzüberschreitenden Verfahren 33 f., 36, 44, 69, 182 f., 201, 204 Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen 189 f. Opferorientiertes Verwaltungsverfahren 484 – 487 Opferrechterichtlinie siehe Richtlinie 2012/ 29/EU Opferunterstützungsdienste 134, 510, 513, 515 Opferzeuge 138, 300, 343, 450 f.

Opportunitätsprinzip 362, 365

157, 279, 291, 314,

Parallel Justice – Grundlagen 475 – 478 – Guiding Principles 477 – 478 – im deutschen Recht 487 – 488 – Kritik 479 – 483 – praktische Umsetzung 480 Parteistellung im Strafverfahren 37, 344 f. Partie civile 183 Prinzip gegenseitiger Anerkennung siehe gegenseitige Anerkennung Privater Strafanspruch siehe Anspruch des Verletzten auf Strafverfolgung/Bestrafung Privatstrafklage 290, 301 – 307, 345 – 355 Pönalisierungspflicht 400 f., 426 f., 417, 456 – 458 Politischer Opferimperativ 42, 50, 84 f., 100 – 108 Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen 32, 47, 58 f., 61, 71, 83, 97, 105 f. Position des Opfers im Strafprozess 148, 179, 183 – 188, 207, 240 Private Prosecution siehe Privatstrafklage Private wrong/privates Unrecht 114, 172, 184 f., 187 f., 207, 244 – 257 Public wrong/öffentliches Unrecht 114, 184, 187 f., 207, 244 – 257, 454, 461 f. R vs. Killick 324 – 328, 344 Rahmenbeschluss 2001/220/JI 32, 35 – 40, 95, 136, 140, 181 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 30, 46, 61, 75, 96, 204 Rechtsfrieden 264 – 268, 360 Rechtsgut – Begriff 247 f., 257, 263 – Entindividualisierung des Rechtsgutsbegriffs 248, 368, 530 – Handlungsobjekt 247 f., 257 – Rechtsgutstheorie 245 – 252, 256 f., 452 – Rechtsgutsträger 248 f. – Rechtsgutsverletzung 245 f., 251, 263 Rechtsmittel 192 f., 238 f. Rechtsvergleich – Methodik 243 f.

Sachverzeichnis

573

– horizontaler Vergleich 357 – 369 Restorative Justice 181 f., 186, 198, 340, 389 – 391 Richtlinie 2012/29/EU 60, 85 – 88, 112 – 242, 521 – 525

Transnational Betroffene siehe Opfer in grenzüberschreitenden Verfahren Trennungsgrundsatz 250 f., 255, 499 Trilog 87, 195, 206 – 209, 235 Tripolare Verfolgungsstruktur 372 – 377

Sanktionierung 38, 269, 382 – 384, 500 f. Sanktionsnorm 454 – 455, 458, 460 f. Schadensbegrenzungspflicht 426 – 430 Schuldinterlokut 384 Schutzpflicht 81, 214, 394 – 430, 443 – 445 Schwere Straftat 150 f., 165 Sekundäre Viktimisierung 26, 37 f., 140, 188, 220, 450 Selbstheilungsanspruch 447 – 449 Selbstjustizanspruch 447 – 449 Service-Rechte 179 – 183, 199, 338 f. Sicherheitsgesellschaft 100 Sicherheitsgewährleistungsanspruch 404 – 406, 425, 427 f. Solidarisierung, gesellschaftliche 175, 381 – 384, 389, 391, 466 f., 489, 495 – 502, 521 f. Sonderopfer 449 – 451 Sozialstaatliche Leistungen 482 f., 515 f. Staatliche Strafermittlungs- und Verfolgungspflicht 397 – 401, 415 – 422 Stellung des Opfers in der nationalen Strafrechtsordnung 56 f., 128 f., 135, 142 f., 150, 196 f. Strafverfolgung, effektive 104 f., 239 Strafzumessungsverhandlung 149 Subsidiaritätsprinzip 72 – 75, 83, 203 f., 208 Subsidiaritätsrüge 205 Stockholmer Programm 85 Strafantrag 286 – 288 Strafantragsdelikte 285 – 288 Strafbefehl 283 f. Strafrechtsspezifischer Schonungsgrundsatz 53 f., 70, 75 Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension 69 – 71, 73, 204 Strafzumessung 228 – 233 Strafzwecke 446 Supranationale Strafnormen 462, 464 Symbolisch-expressive Wirkung von Strafe 177

Umsetzung in nationales Recht 38 – 40, 148 – 157, 192, 194, 208, 218, 233 Umsetzungsermessen 195, 206 UN Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power 27 f. Unrechtanerkennende Versagung 501 Unrechtfeststellung – Anspruch auf Unrechtfeststellung 393 – 468 – erforderlicher Inhalt 378 – 381, 491 – 493 – im Betroffenenforum 491 – 501, 522 – im Kontext von Parallel Justice 479 – 482 – mit dem Strafurteil 381 – 383 – Unrechtfeststellungsinteresse 168, 173 – 176, 208, 242, 252, 259 – 262, 273 f., 281 f., 286 – 288, 298 f., 369 – 377 – Unrechtfeststellungsverfahren 493 – 499 Unschuldsvermutung 122 – 128, 211 – 214, 219, 267 f., 481 f., 494 f., 512, 526 Unterschiede der Rechtsordnungen und -traditionen 75 – 80, 83, 206 Verfahrenseinstellung durch Vergleich 152 – 154, 178 f. Verhaltensnorm 261, 263 f., 267, 358, 384, 452 – 454, 460 f. Vermutung der Opfereigenschaft 120 – 128, 481 f., 485, 487, 494 Verteidigung, effektive 210, 213 f., 218 f., 222, 224, 235 f. Vertrag von Amsterdam 30, 33, 46, 73 f. Vertrag von Lissabon 45 – 48, 109 Vertragsverletzungsverfahren 36, 194 Victims‘ Bill 341 f. Videovernehmung 217 f. Victim Impact Panel 508 f. Victim Impact Statements 144 – 148, 229, 275, 335 – 338 Victim Statements of Opinion 145 f., 229 Victim Support Europe 45

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Sachverzeichnis

Victims‘ Right to Review Scheme 328 – 334, 356, 365 f. Viktimodogmatik 519 f. Viktimologie 25, 86, 114 Voruntersuchung der Opfereigenschaft 120

Waffengleichheit 210 Wahrheitserforschung 223 f., 258 – 262, 282 f., 300, 310 f. Wiener Aktionsplan 31 Ziele des Strafverfahrens 258 – 277, 523 Zivilverfahren 388, 472 Zugang zum Recht 139, 147, 163, 168