Die Darstellung des Niflungenunterganges in der Thidrekssaga: Eine quellenkritische Untersuchung

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstü

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Die Darstellung des Niflungenunterganges in der Thidrekssaga: Eine quellenkritische Untersuchung

Table of contents :
Einleitung 1
I. Teil: Analyse
1. Werbung Attilas um Grimhild 23
2. Die verräterische Einladung 32
3. Vorbereitungen und Aufbruch 49
4. Die Fahrt der Niflungen bis Bakalar 62
5. Der Aufenthalt in Bakalar 98
6. Der Bote bei þorta 104
7. Grimhilds Ausschauen nach den Niflungen 107
8. Die Trocknungsszene in Susat 110
9. Fra Grimilldi oc brcedrvm 112
10. Fra attila konung oc brœdrum Grimilldar 120
II. Die vergeblichen Aufreizungsversuche und die Waffenabforderung 124
12. Attilas und þidreks Gespräch 133
13. Der Beginn des Kampfes 137
14. Der Kampf innerhalb des Gartens, Grimhilds und Attilas Verhalten während des ersten Kampftages 145
15. Der Ausbruch aus dem Garten und Gunnars Tod 146
16. Der Kampf in der Nacht 152
17. Die Zweikämpfe Blodlins und Irungs 153
18. Rodingeirs Tod, Folkers Aristie 165
19. þidreks Eingreifen, Folkers und Gernoz’ Tod 167
20. Giselhers und Högnis Ende. Grimhilds Tod 169
II. Teil: Auswertung der Analyse
Erstes Kapitel: Vergleich einzelner Personen- und Motivgestaltungen der beiden Quellen 175
1. Der Schauplatz 175
2. Högni 177
3. Gernoz und Giselher 181
4. Grimhild 187
5. Die Horterfragung 193
6. Die Rache für den Untergang der Niflungen 197
Zweites Kapitel: Gegenüberstellung der beiden Quellen 204
1. Die 'Ältere Not' 204
2. Die zweite Quelle 215
3. Vergleich der beiden Quellen 220
Drittes Kapitel: Die zweite Quelle 227
1. Literarische Gestalt 227
2. Entstehungsort und Entstehungszeit 261
Viertes Kapitel: Sagengeschichtliche Erwägungen 267
1. Eine Vorstufe der zweiten Quelle 267
2. Die gemeinsame Vorlage der 'Älteren Not' und der zweiten Quelle 291
3. Eine Vorstufe der 'Älteren Not' 302
Skizze 309
Register 310

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HERM AEA GERM ANISTISCHE FORSCHUNGEN N E U E FOLGE H E R A U S G E G E B E N VO N H E L M U T D E B O O R U N D H E R M A N N K U N IS C H

BAND 9 R O S W IT H A W IS N IE W S K I D IE D A R S T E L L U N G D E S N I F L U N G E N U N T E R G A N G E S IN D E R T H ID R E K S S A G A

DIE DARSTELLUNG DES NIFLUNGENUNTERGANGES IN DER THIDREKSSAGA E IN E Q U E L L E N K R IT IS C H E U N T E R S U C H U N G

VON

R O S W IT H A W IS N IE W S K I

M A X N IE M E Y E R V E R L A G / T Ü B IN G E N 1961

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Copyright by Max Niemeyer Verlag Tübingen 1961 Alle Rechte Vorbehalten Printed in Germany Gesamtherstellung: Buchdruckerei H.Laupp jr Tübingen

Herrn Professor Dr. Helmut de Boor zum 70. Geburtstag

IN H A L T SV E R Z E IC H N IS Seite E i n l e i t u n g ....................................................................................................................

1

I. Teil: A n a l y s e 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. II. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

Werbung Attilas um G r im h ild ...................................................................... 23 Die verräterische Einladung ...................................................................... 32 Vorbereitungen und A u f b r u c h ...................................................................... 49 Die Fahrt der N if lungen bis B a k a l a r ........................................................ 62 Der Aufenthalt in B akalar............................................................................... 98 Der Bote bei þ o r t a ............................................................................................. 104 Grimhilds Ausschauen nach den N if lungen...............................................107 Die Trocknungsszene in S u s a t ......................................................................110 Fra Grimilldi oc brcedrvm .................................................................................... 112 Fra attila konung oc broedrum G rim illd a r...............................................120 Die vergeblichen Aufreizungsversuche und die Waffenabforderung 124 Attilas und þidreks G e s p r ä c h ......................................................................133 Der Beginn des K a m p f e s ............................................................................... 137 Der K am pf innerhalb des Gartens, Grimhilds und Attilas Verhalten während des ersten K a m p f t a g e s .......................................................................145 Der Ausbruch aus dem Garten und Gunnars T o d .................................146 Der K am pf in der N a c h t ............................................................................... 152 Die Zweikämpfe Blodlins und I r u n g s ........................................................ 153 Rodingeirs Tod, Folkers A r i s t i e .......................................................................165 þidreks Eingreifen, Folkers und Gernoz’ T o d .......................................... 167 Giselhers und Högnis Ende. GrimhildsT o d ................................................. 169

11. Teil: A u s w e r t u n g d er A n a l y s e Erstes Kapitel: Vergleich einzelner Personen- und Motivgestaltungen der beiden Q u e l l e n .................................................................................................. 175 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Der S c h a u p la tz .......................................................................................................175 H ö g n i ........................................................................................................................ 177 Gernoz und G iselher............................................................................................. 181 Grimhild ................................................................................................................ 187 Die H orterfragung.................................................................................................. 193 Die Rache für den Untergang der N if l u n g e n .......................................... 197

Zweites Kapitel: Gegenüberstellung derbeiden Q uellen...................................204 1. Die ‘Ältere N ot’ .......................................................................................................204 2. Die zweite Q u e l l e ..................................................................................................215 3. Vergleich der beiden Q u e l le n ...........................................................................220

VIII Drittes Kapitel: Die zweite Q u e lle ........................................................................... 227 1. Literarische G e s t a l t ..............................................................................................227 2. Entstehungsort und Entstehungszeit............................................................. 261

Viertes K apitel: Sagengeschichtliche Erwägungen

......................................267

1. Eine Vorstufe der zweiten Q u e l l e ..................................................................267 2. Die gemeinsame Vorlage der ‘Älteren Not* und der zweiten Quelle 291 3. Eine Vorstufe der ‘Älteren N ot’ ...................................................................... 302 S k i z z e ...................................................................................................................................309 R e g i s t e r ............................................................................................................................. 310

E IN L E IT U N G Die Darstellung der Nibelungensage in der Thidrekssaga (Ths.) hat die Aufmerksamkeit der Forschung immer wieder auf sich gezo­ gen. Man erkannte, daß die Saga im großen und ganzen den Ablauf der Ereignisse ebenso wie das Nibelungenlied (NI.) schildert, daß aber auch bedeutende Unterschiede zwischen beiden Werken vor­ handen sind. Diese Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen NI. und Ths. wurden durch die Annahme erklärt, die Saga hätte neben nieder­ deutschen (ndd.) Quellen, die eine eigene, in Norddeutschland verbrei­ tete Sagenfassung repräsentierten, auch eine oberdeutsche (obd.) Quelle - das NI. selbst oder seine Vorstufe - entweder direkt oder indirekt, nämlich durch die Vermittlung ndd. Dichtungen, benutzt. Als Beispiel dieser ältesten, noch recht ungenauen und nicht auf gründlichem Vergleich beruhenden Auffassung, wie sie etwa von Jacob und Wilhelm Grimm, Massmann, W. Müller, Müllenhoff und Raßmann vertreten wurde1, sei hier ein Zitat aus A dolf Holtzmanns Untersuchungen über das Nibelungenlied (Stuttgart 1854) gegeben: ,,Die Viltinasaga und besonders der Teil derselben, der uns hier zunächst angeht, die Sage von Siegfried und Grimhild, ist ent­ standen aus den Erzählungen deutscher Männer aus Bremen, Mün1 J. Grimm, Altdeutsche Wälder II , S. 154f. — Massmann, von der Hagens Germania V II , S. 227. —W . Müller, Versuch einer mythologischen Erklärung der Nibelungensage. Berlin 1841, S. 27. — Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelunge N ot. Allgemeine Monatsschrift f. W iss. u. Lit., Braunschwei g 1855, S. 889.916.921.927. — A . Baßm ann, Die deutsche Heldensage und ihre Heim at. 2 Bde. Hannover 1857.1858, I, S. 8 ; II, S. Vff.

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Einleitung

ster und Soest. Aber der Verfasser kennt und benützt auch das Gedicht Konrads1... Dazu kommt, daß wirklich die Saga oft ganz genau, fast wörtlich mit dem Lied übereinstimmt. Eine weitere Quelle der Viltinasaga waren aber doch auch die nordischen Ge­ dichte, welche wenigstens auf die Auffassung und Darstellung der Saga Einfluß hatten. Scheiden wir nun aus, was der nordischen Ein­ wirkung zuzuschreiben ist, und dasjenige, was aus schriftlichen deutschen Gedichten, dem Werke Konrads und anderen der Dietrich­ sage angehörenden Dichtungen genommen ist, so erhalten wir die Siegfrieds- und Nibelungensage, wie sie in Westfalen und Bremen im 12.Jhd. noch im Volke erzählt und ohne Zweifel gesungen wurde. Sie zeigt hier eine ganz auffallende Reinheit und ist ohne Zweifel in manchen Stücken echter, als sogar die ältesten nordischen Auf­ fassungen.“ (S. 174f.). - Diese für die früheste Nibelungenforschung typische Darstellung des Verhältnisses von Ths. und NI., die das Vorwiegen der ndd. Sagentradition in der Ths. annimmt, daneben aber auch die Benutzung des Nibelungenliedes (also einer obd. Quelle) und der speziell nordischen Überlieferungen vermutet, wurde im Jahre 1870 von B. Döring angegriffen1 2. Döring gibt als erster einen genauen Vergleich zwischen dem Text des Nibelungenliedes und der Saga und behauptet, daß die vielen fast wörtlichen Übereinstimmungen darauf hin weisen, daß der Saga­ mann das NI. als einzige Quelle benutzte. Es wurde ihm „durch Erzählungen deutscher Männer (aus Soest, Bremen, M ünster...) bekannt“ (S. 70). Die Unterschiede zwischen den Darstellungen des Nibelungenliedes und der Saga lassen sich als Gedächtnisfehler oder willkürliche Abweichungen - oft zugunsten der Eddalieder, die dem Sagamann vertraut waren - erklären (S. 72ff.). Döring lehnt also die Annahme einer eigenen ndd. Sagentradition völlig ab. Diese Arbeit forderte August Raßmann 3 dazu heraus, eine genaue Darstellung jener alten These zu geben, daß die Saga sehr wohl eine eigene ndd. Tradition der Nibelungensage zeige, eine Tradition, die allerdings schon v o r der Aufnahme in die Ths. nicht rein existierte, sondern sich mit der süddeutschen vermischt hatte. 1 D .i. das Nibelungenlied. 2 B . Döring, Die Quellen der Niflungasaga in der Darstellung der Thidrekssaga und der von dieser abhängigen Fassung. Z.f.d. Phil. 2 (1870), S. 1 -7 9. 2 6 5 -2 9 2. 3 August Raßmann, Die Niflungasaga und das Nibelungenlied. Heilbronn 1877.

Einleitung

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Er stellt sich das so vor: Ursprünglich war die Nibelungensage in einheitlicher Gestalt in Nord- und Süddeutschland verbreitet. Wäh­ rend nun die norddeutsche Fassung - auf der seiner Meinung nach auch die eddischen Lieder beruhen - „sicher bis ins 10. und teil­ weise sogar bis ins 11. und 12. Jahrhundert in ihrer ursprünglichen Fassung fortlebte“ , veränderte sich die süddeutsche Fassung „schon im 5. Jahrhundert durch die Verschmelzung mit historischen Per­ sonen und Thatsachen“ , so daß sie „schon im 10.Jahrhundert wesentlich die selbe Gestalt hatte, wie sie uns jetzt im Nibelungen­ liede vorliegt“ (S. 81 f .). Raßmann, der noch ganz der Lachmannschen Theorie der Epenentstehung folgt, nimmt an, daß diese süd­ deutschen Lieder „schon früh, namentlich aber seit dem 12. Jahr­ hundert zu einer hohen epischen Vollkommenheit gediehen waren“ , so daß sie zum Nibelungenlied zusammengefügt werden konnten (S. 82). ,,... wir haben uns daher die Entstehung der Sage im All­ gemeinen in der Weise zu denken, daß geraume Zeit vor der Samm­ lung der Ths. jene sächsischen Sagen und Lieder, welche die ur­ sprüngliche Sagengestalt bewahrt hatten und die Grundlage der eddischen Lieder bildeten, mit jenen süddeutschen Sagen und Lie­ dern, aus denen unser Nibelungenlied hervorging, verschmolzen, indem diese sich nach Sachsen ergossen, hier, da die Lieder die höchste Blüte des epischen Volksgesanges enthielten, alsbald Auf­ nahme fanden und nun allmählich in dem Munde des Volkes mit den alten Sagen und Liedern Zusammenflüssen und dieselben gänzlich um­ gestalteten; jedoch in der Weise, daß... der alte Grundstock blieb“ (S. 82). Die wörtlichen Anklänge der Saga an das NI. erklärt Raß­ mann so, daß nicht nur die süddeutsche Sagengestalt, sondern „auch ganze Strophen und einzelne Sätze sowie eigentümliche Wen­ dungen etc. wörtlich eindrangen“ und sich in den so umgeformten norddeutschen Liedern erhielten (S. 84). Diese Thesen legt Raß­ mann seiner Analyse des Sagatextes zugrunde, in der er in den einzelnen Abschnitten der Saga die norddeutschen von den süddeut­ schen Elementen scheidet und so am Ende seiner Untersuchung zu einer Aufstellung der norddeutschen wie der süddeutschen Sagen­ elemente gelangt. Er rechnet also mit einer eigenständigen nord­ deutschen Überlieferung der Nibelungensage, von der uns freilich kein Zeugnis erhalten blieb, und er nimmt ferner an, daß diese niederdeutsche Tradition die oberdeutsche später in sich aufnahm. Gegen diese bald allgemein verbreitete Ansicht opponiert Hermann Paul in einer Arbeit, die an Dörings Forschungsergebnisse an­

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Einleitung

knüpft1. Paul versucht hierin zu beweisen, daß die Saga fast aus­ schließlich das NI. als Quelle benutzt habe und daß sich eine eigene niederdeutsche Sagentradition, die die ausgeweitete Gestalt gehabt hätte, wie sie für die Quelle der Ths. angenommen werden müßte, nicht erweisen lasse. Er schreibt: „W ie steht es nun weiter mit der angeblichen niederdeutschen Gestaltung der Überlieferung in der Saga? Der bekannte Bericht des Saxo Grammaticus zeugt dafür, daß die Sage von dem Verrat Grimhilds an ihren Brüdern im 12. Jahr­ hundert in Norddeutschland lebendig war. Er zeugt aber zugleich auch dafür, daß die Sage noch eine viel einfachere Gestalt hatte als im Nibelungenliede und in der þidrekssaga. Denn das Lied, welches der Sänger auf einmal vortrug, entsprach inhaltlich mindestens etwa vier Zehnteln des Nibelungenliedes. Daher war wohl auch der Perso­ nenapparat kaum ein größerer als in den Eddaliedern. Über diese Entwicklungsstufe ist die Sage wohl in Niederdeutschland überhaupt nicht hinausgekommen. Die Hineinziehung von Dietrich und seinen Mannen, Rüdeger, Iring, die hervorragende Rolle, die Volker zuge­ teilt ist, alles dies war erst bei breiterer epischer Ausgestaltung mög­ lich, die über den Rahmen des Einzelliedes hinausgeht. Daß sich diese Ausgestaltung nur im Südosten vollzogen haben kann, wird durch den bedeutenden Anteil, der dabei dem Rüdeger zugeteilt wird, außer Zweifel gesetzt. Es ist möglich, daß sie erst dem Dichter des Liedes selbst zu verdanken ist. Es ist aber auch möglich und sogar wahrscheinlich, daß sie der Hauptsache nach auf einen Vor­ gänger zurückzuführen ist, der eine schon umfängliche Dichtung von dem Ende der Nibelungen verfaßte. Sehr weit zurück wird sie nicht reichen. Rüdeger ist seit ca. 1160 bezeugt, aber daß er in die Schicksale der Nibelungen verflochten war, ergibt sich aus diesen Zeugnissen nicht. Auch die þidrekssaga setzt also diese junge süd­ ostdeutsche Entwicklung voraus. Daß die Sage noch in dieser Um­ bildung bloß durch mündliche Überlieferung nach Niederdeutsch­ land gewandert, dort wieder umgebildet und sogar lokalisiert sei, ist sehr unwahrscheinlich.“ (S. 331 f.). Der von Hermann Paul vertretenen These, daß die Saga das NI. benutzt habe, setzte Wilhelm Wilmanns eine andere These entgegen 1 2: 1 H . Paul, Die þidrekssaga und das Nibelungenlied. Sitzungsber. d. philos.philol. u. d. histor. Klasse d. Akad. d. W iss. München. 1900. H .3, S. 297—338. 2 Wilhelm Wilmanns, Der Untergang der Nibelungen in alter Sage und Dichtung. Abh. d. kgl. Ges. d. W iss. zu Göttingen. Phil.-histor. Klasse. N f. Bd 7, Nr. 2. Berlin 1903.

Einleitung

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die Saga hat nicht das NI. benutzt, sondern dessen Vorstufe. A uf diese Weise konnte er sowohl die wörtlichen Übereinstimmungen als auch - wenigstens zum Teil - die Unterschiede zwischen Saga und NI. erklären, die von Döring und Hermann Paul als unerklärlich der Unfähigkeit des Sagamannes zugeschrieben werden mußten. Dieser Gedanke, daß die obd. Züge der Ths. auf den Einfluß der Vorstufe des Nibelungenliedes zurückzuführen seien, drang durch. Karl Droege und Andreas Heusler unternahmen es als erste, diese Vorstufe des Nibelungenliedes zu rekonstruieren und ihr Verhältnis zum NI. zu bestimmen. Droege beginnt die Erforschung der Vorstufen des Nibelungen­ liedes und der Saga, indem er den ersten Teil der Sage in NI. und Ths. untersucht1. Er kommt zu dem Ergebnis, daß um 1115/20 in den Rheinlanden eine Nibelungendichtung entstand, die er auf Grund der groben Züge des ersten Teils (z.B. Günthers und Brünhilds Hochzeitsnacht) als Spielmannsepos charakterisiert. Bald nach diesem Aufsatz Droeges veröffentlichte Andreas Heus­ ler jene beiden Arbeiten über die Vorstufen des Nibelungenliedes, die so überzeugend das jüngere Brünhildlied und die 'Altere Not* als Quellen der Ths. wie des Nibelungenliedes vor Augen stellten, daß sie immer noch - im Verein mit dem 1922 in 1. Auflage erschiene­ nen Buch „Nibelungensage und Nibelungenlied“ - als die klassi­ schenWerke über die Geschichte der Nibelungensage gelten müssen 1 2. Heuslers Meinung, daß Ths. wie NI. im wesentlichen zwei Quellen benutzten - einerseits das Epos, die 'Altere Not’ , das er sich um 1160 in Bayern entstanden dachte, andererseits das ebenfalls in Bayern gedichtete jüngere Brünhildlied - trat Karl Droege entgegen 3. Seine Vorstellung von der Entwicklung der Nibelungensage weicht in manchen Punkten von Heuslers allgemein bekannter Darstellung ab: „Aus fränkischen Liedern vom Stammheros Siegfried und von der Burgunden Untergang entwickelte sich eine mehr und mehr an­ 1 Karl Droege, Die Vorstufe unseres Nibelungenliedes. Z. f.d.A .51 (1909), S. 1 7 7 -2 1 8; ergänzend: Ders., Nibelungenlied und Waltharius. Z .f.d.A . 52 (1910), S. 193-231. 2 Andreas Heusler, Die Heldenrollen im Burgundenuntergang. Sitzungs­ berichte d. Preuß. Akad. d. W iss. 1914, No. 47, S. 1114—1143. Ders., Die Quelle der Brünhildsage in Thidrekssaga und Nibelungenlied. Festschrift für Wilhelm Braune. Dortmund 1920, S. 47-84 . Ders., Nibelungensage und Nibe­ lungenlied. 5. Aufl. Darmstadt 1955. 3 Karl Dröege, Zur Geschichte der Nibelungendichtung und der Thidreks­ saga. Z .f.d.A . 58 (1921), S. 1-40.

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Einleitung

schwellende epische Dichtung. Ein eigentliches Epos wurde in der Wormser Gegend um 1000 geschaffen; schon umfangreicher - etwa wie der Waltharius, - umfaßte es als Vorgeschichte auch die Sieg­ friedsage, als Hauptsache den Untergang der Burgunden. Damals traten in die Dichtung Pilgrim, Gero und Eckewart. Die nächste Stufe ist bestimmt nachzuweisen, weil sie den entsprechenden A b­ schnitten der Ths. zugrunde liegt. Sie wurde auf rheinfränkischem Gebiet um 1120 gedichtet und fällt etwa in die Mitte zwischen Annolied und König Rother. Wie Rüdiger in den zweiten Teil, so wurde damals Lüdiger in den ersten Teil aufgenommen, und damit auch eine genauere Behandlung des Sachsenkrieges...“ (S. 39). Der wesentliche Unterschied zu Heuslers Theorie über die Entwicklung der Nibelungensage liegt in der Ansetzung zweier epischer Vor­ stufen, die beide Teile der Sage umfassen und die im Fränkischen entstanden sein sollen. - Diese Auffassungen haben sich gegen die von Heusler in dem schon genannten Buch „Nibelungensage und Nibelungenlied“ geäußerten nicht durchsetzen können. In einem 1925 erschienenen Aufsatz weist Droege1 noch einmal sehr eindring­ lich auf die vielen Merkmale hin, die dafür sprechen, daß die Vor­ stufe des Nibelungenliedes nicht in Bayern, sondern am Rhein ent­ standen sei. Er stellt dieses ältere Epos, das also auch die Siegfried­ sage umfaßte, in eine Reihe mit dem Rother und der Vorstufe der Kudrun. Der Ansatz eines älteren rheinischen Nibelungenepos (Teil I und II des Nibelungenliedes umfassend) wurde von Heinrich Hempel in seinen 1926 erschienenen Nibelungenstudien wieder aufgenommen1 2. Die Frage, ob eine rheinische oder eine bayrische Vorstufe des Nibelungenliedes anzusetzen ist, konnte bis heute noch nicht ent­ schieden werden. H. Hempel beharrt bei der Annahme des rheini­ schen Ursprungs3. Er hat darin manchen Nachfolger gefunden4. 1 K . Droege, Das ältere Nibelungenepos. Z .f.d.A . 62, S. 184—207 ; vgl. auch Ders., Zur Siegfrieddichtung und Thidrekssaga. Z .f.d .A . 71 (1934), S . 8 3 -1 0 0 . 2 Heinrich Hempel, Nibelungenstudien. Bd. 1. Heidelberg 1926 (Germani­ sche Bibliothek. A bt. 2. Bd. 22). 3 H . Hempel, Sächsische Nibelungendichtung und sächsischer Ursprung der Thidrikssaga. In : Edda, Skalden, Saga. Festschrift für Felix Genzmer. Heidelberg 1952, S. 138-156, bes. S. 140if. * Z.B . H . M. Heinrichs, Sivrit, Gernot, Kriemhilt. Z .f.d .A . 86 (1955/56), S. 2 79 -2 9 0, bes. S. 289. - D. von Kralik, Deutsche Heldendichtung. In : Das Mittelalter in Einzeldarstellungen. 1930. S. 168ÍF. ; vgl. auch D . v . Kraliks

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Andere halten mit Andreas Heusler an der bayrischen Herkunft der 'Älteren Not’ fest x. Blicken wir noch einmal zurück. Hermann Pauls radikale A b­ lehnung einer gesonderten, breit ausgestalteten ndd. Sagentradition hatte zur Folge, daß sich die Forschung, indem sie sich gegen seine These der Benutzung des Nibelungenliedes durch die Saga wandte, gründlicher mit dem Einfluß der obd. Tradition auf die Ths. befaßte und zu dem Ergebnis kam, daß der Ths. die Vorstufe des Nibelungen­ liedes zugrunde liegt. Die Gestalt dieser epischen Vorstufe wurde immer deutlicher herausgearbeitet und ihr Verhältnis zum NI. be­ stimmt, so daß - ungeachtet der abweichenden Auffassungen über Entstehungszeit und -ort und über den Umfang - das Verhältnis von Ths., NI. und erschlossener epischer Vorstufe in der Forschung ein­ heitlich gesehen wurde. Da erschienen 1945 Friedrich Panzers Nibelungenstudien, denen weitere Arbeiten folgten 2. Hier wird behauptet, daß nicht die epische Vorstufe des Nibelungenliedes - deren Existenz überhaupt geleugnet wird - , sondern daß das NI. selbst die obd. Quelle der Ths. gewesen sei. Panzer beruft sich auf B. Döring und H. Paul als diejenigen, die bereits vor ihm diese Ansicht vertreten haben3. Daß Döring und*1 3 2 Rezension von H . Hempels Nibelungenstudien. Herrigs Archiv 82 (1927), S. 229ff. ; Gerhard Cordes, A lt- und Mittelniederdeutsche Literatur. 7. A b ­ schnitt: Heldensage. In : Deutsche Philologie im Aufriß. 2. Aufl. Bd. 2. Sp. 2 4 8 6 -8 9 ; bes. Sp. 2487 - G. Lohse nimmt eine wichtige Modifizierung der Hempelschen These vor und nähert sich damit den Ansichten Heuslers: „S o sehr wir einerseits an einer rheinischen Nibelungendichtung des 12. Jahr­ hunderts festhalten, so sicher glauben wir andererseits, die Gleichsetzung eben dieser rheinischen Fassung m it der 'Älteren Not* und darüberhinaus wohl auch mit der gesamten unmittelbaren Vorstufe des erhaltenen NI. von 1200 ablehnen zu müssen.“ Rheinische Nibelungendichtung und die Vor­ geschichte des deutschen Nibelungenliedes von 1200. Rheinische Vierteljahrs­ blätter Jg. 20 (1955). Festschrift A dolf Bach. 1. Teil. S. 5 4 -6 0 ; Zitat S. 60. 1 F. Neumann, Artikel: Nibelungenlied und Klage. In : Die deutsche Lite­ ratur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 3 (1932), Sp. 513-560 und Bd. 5 (1955), Sp. 705-720. Die Frage der rheinischen Herkunft der 'Älteren N ot’ wird Bd. 3, Sp. 540f. erörtert. - Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von H . de Boor. 14. Aufl., Wiesbaden 1957, S. X X I X . - Eingehend diskutiert H . Schneider das Problem : Germanische Heldensage Bd. 1. Berlin u. Leipzig 1928, S. 8 8 ff. (Grundriß der German. Philologie 10/1). 2 F. Panzer, Studien zum Nibelungenliede. Frankfurt 1945; Nibelungische Ketzereien, PB B 72, S. 463 ff. ; 73, S. 95 ff. ; Das Nibelungenlied, Stuttgart 1955, S. 275 ff. 3 Panzer, Studien zum NI., S. 112.

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Einleitung

Paul dieser Meinung waren, ist nicht zu leugnen; aber wenn wir die so verschiedene Situation der Forschung damals und heute beach­ ten, dann wird es sehr zweifelhaft, ob Panzer wirklich mit Recht als Vertreter derselben Forschungsrichtung angesehen werden kann. Döring und Paul wandten sich gegen die damals übliche kritiklose Annahme einer ausgeweiteten, eigenständigen ndd. Sagen tradition. Man kann also Döring und Paul an den Anfang jener Reihe von Forschern setzen, die den Einfluß der obd. Quelle auf die Saga in den Vordergrund stellten und untersuchten. Ihre Arbeiten gaben den Anstoß für die intensive Beschäftigung mit der obd. Sagen­ tradition und führten damit zur immer klareren Erkenntnis der epischen Vorstufe des Nibelungenliedes und der Saga, auf die Paul ja auch bereits hingewiesen hat (s.o. S. 3f.). Panzer dagegen hatte sich nicht mit einer Überbewertung des Anteils der uns ganz unbekannten ndd. Heldensage auseinanderzu­ setzen, da deren Bedeutung in der Forschung heute gering geschätzt wird. Abgesehen von der immer wieder bemerkenswerten Tatsache, daß die erst um 1250 entstandene Saga das schon um 1200 gedich­ tete NI. nicht gekannt haben soll, sind es vielmehr gewisse Beobach­ tungen, die Panzer an der so allgemein anerkannten These zweifeln lassen. Die beiden wichtigsten wollen wir hier besprechen. 1. Panzer glaubt, „daß die 27. Aventiure des Liedes ,das Idyll von Bechelaren, nichts anderes ist als die anmutige Episierung eines geschichtlichen Vorganges aus dem Jahr 1189, der Einkehr Friedrich Barbarossas bei König Bela von Ungarn.“ (Stud. z. NI., S. 112). Da auch die Ths. die Beschreibung des Aufenthaltes in Bakalar kennt, muß sie - so folgert Panzer - das NI. selbst als Quelle benutzt haben; denn „kein Epos von 1160 kann berichtet haben, was 1189 geschah.“ (Stud. z. NI., S. 112.) Nun sind aber solche Reminiszenzen an Vorgänge, die wir aus der Geschichte kennen, nur dann mit einiger Sicherheit in einer Dich­ tung festzustellen, wenn sie an eine bestimmte, mit Namen genannte, historische Person geknüpft sind. Attila, die Burgundenkönige, Herzog Ernst, Kaiser Karl - sie alle kennen wir aus der Geschichte, und häufig haben die Dichter ganz offensichtlich diese historischen Personen und die von ihnen überlieferten Taten zum Gegenstand ihrer Werke gemacht. Ist aber irgendwo und irgendwann ein histo­ risches Ereignis festzustellen, das sich an irgendwelche Personen heftet, und beschreibt nun eine Dichtung ein ähnliches Ereignis, das aber an ganz andere Personen geknüpft ist und aus ganz anderen

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Umständen hervorgeht, so mögen Vermutungen über eine Beein­ flussung der Dichtung durch das geschichtliche Ereignis gestattet sein, beweisbar sind sie in den meisten Fällen nicht. Bei Panzers Vergleich des großartigen Empfanges, den König Bela von Ungarn dem ins heilige Land ziehenden König Barbarossa zuteil werden Heßx, mit dem Aufenthalt der Nibelungen bei Rüdiger wird man unwillkürlich daran erinnert, daß in der modernen Literaturge­ schichte eine ähnliche Möglichkeit besteht, einen Zusammenhang zwischen einem historischen Ereignis und einer Dichtung zu ver­ muten. Ich denke an Thomas Manns Roman „Königliche Hoheit“ , bei dessen Lektüre man durchaus annehmen könnte, er verdanke seine Entstehung einem vielbesprochenen Ereignis der jüngsten Vergangenheit, nämlich der Hochzeit des Prinzen Rainier von Monaco mit Grace Kelly, der Tochter eines amerikanischen Millio­ närs. Hier macht die zeitliche Abfolge eine solche Vermutung un­ möglich, und es wird an diesem Beispiel deutlich, wie vorsichtig man mit solchen Anknüpfungen an historische Geschehnisse sein muß, zumal es auch oft möglich ist, die Vorkommnisse einer Dichtung auf verschiedene historische Gegebenheiten und Konstellationen zurück­ zuführen 1 2. 2. Auch das andere wichtige Bedenken, das Panzer gegen den Ansatz der 'Älteren Not* als Quelle der Ths. hegt, ist ein vorwiegend chronologisches. Das NI. weist in einzelnen Zügen Verwandtschaft mit französischen Epen auf. Es sind hier vor allem die Übereinstim­ mungen mit dem Daurel et Beton interessant, auf die Samuel Singer zuerst hinwies 3. Die Parallelen finden sich in der Erzählung von der Ermordung Boves. Bove und Gui ziehen aus, um einen Eber zu jagen. In dem Moment, als Bove ihn erlegt, stößt ihm Gui von hinten den Spieß durch die Schulter, so daß dieser vom wieder herausragt. Der sterbende Bove beschimpft Gui und klagt ihn an, gibt ihm aber dann den Rat, den Spieß herauszuziehen, ihn dem Eber in den Leib zu stecken und die Zähne des Ebers in seine W un­ 1 Als besonders verwandte Motive werden die Verlobung des zweiten Kaisersohnes mit Belas Tochter und das Abschiedsgeschenk der Königin, ein prächtiges Zelt, hervorgehoben. 2 Vgl. dazu H . Hempel, Rez. über F. Panzer, Studien zum Nibelungenliede. A .f.d .A . 64 (1948/50), S. 2 8 -3 7 , bes. S. 32. 3 In : Neujahrsblatt der Literarischen Gesellschaft in Bern auf das Jahr 1917. Bern 1916, S. 9 7 ff. - Vgl. S. Singer, Germanisch-romanisches Zeitalter, Aufsätze und Vorträge. 1938. S. 248 ff.

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de zu legen, so daß er behaupten könne, der Eber habe Herzog Bove getötet. Das Motiv der Eberjagd finden wir auch bei Siegfrieds Ermordung in der Ths. und im NI. Die Saga erzählt, daß Gunnar, Högni und Sigurd ,,bis zur Erschöpfung“ den Tieren nachsprengten, dann aber endlich einen großen Wildeber erlegten. „Högni schoß ihn mit seinem Spieß zu Tode.“ Danach folgt die Szene, in der Sigurd beim Trinken am Bach von Högni erstochen wird. Nach dem Mord sagt Högni: „Diesen ganzen Morgen haben wir einen Eber gehetzt, und wir vier hätten ihn kaum gekriegt; jetzt aber in kurzer Stunde hab ich allein einen Bären oder einen Wisent erjagt...“ Und noch einmal wird das Ebermotiv aufgenommen. Grimhilds Feststellung, daß Sigurd ermordet wurde, beantwortet Högni mit der Behauptung: „Ermordet wurde er nicht. Wir jagten einen wilden Eber, und der schlug ihm die Todeswunde.“ Grimhild entgegnete: „Derselbige Eber bist du gewesen, Högni, und niemand sonst.“ 1 (Übs. S. 375f.). Die Übereinstimmungen zwischen Daurel und Saga liegen also darin, daß dem Mord die Erlegung eines Ebers vorausgeht (im Daurel durch Bove, den gleich darauf Ermordeten, - in der Ths. durch Högni, den Mörder), und in der Behauptung, ein Eber habe Bove bzw. Sigurd getötet. Auch die Unterschiede zwischen beiden Dichtungen sind deutlich. Im Daurel ist das Motiv sehr verdichtet : Bove selbst tötet den Eber, dabei trifft ihn der Mordstahl, er selbst gibt den Rat vorzutäuschen, der Eber habe ihn getötet. In der Ths. ist dagegen das Motiv viel loser mit der Handlung verflochten: Die Eberjagd ist in sich abge­ schlossen, sie ist ein begleitendes Motiv ; denn mit dem eigentlichen Mord, der ja erst beim Trinken am Bach erfolgt, hat sie nichts zu tun. Als Begleitmotiv wird es dann wieder in Högnis Worten nach dem Mord aufgenommen: „Diesen ganzen Morgen haben wir einen Eber gehetzt, und wir vier hätten ihn kaum gekriegt; jetzt aber in kurzer Stunde hab ich allein einen Bären oder einen Wisent erjagt.“ Gegenüber Daurel und Ths. ist das Ebermotiv im NI. zu einem unwichtigen Begleitmotiv geworden. Wir finden nur die dem Mord*2

1 W ir zitieren—soweit wir eine Übersetzung heranziehen —auch im folgenden nach der Übers, von Fine Erichsen, Die Geschichte Thidreks von Bern. Jena 1924 (Sammlg. Thule, 22). Vgl. auch die Übersetzung von A . Raßmann im 2. Bd. seines Buches: Die deutsche Heldensage und ihre Heimat. Hannover 1858, da hier auch die Lesarten z.T. übersetzt sind.

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vorausgehende Eberjagd (Str. 938)1, doch daß der Eber Siegfried die Todeswunde geschlagen habe, sagt Hagen nicht (schachœre sollen ihn getötet haben, NI. 1045/46); nur in Kriemhilds ahnungs­ vollen Träumen wird Siegfried von zwei Ebern gejagt (NI. 921). Das Verhältnis dieser drei Stellen hat A. Heusler im Anschluß an S. Singer so beurteilt: Das von ihm erschlossene Brünhildlied, das dem ersten Teil des Nibelungenliedes und der Ths. als Vorlage diente, hat hier eine Entlehnung aus dem Daurel vorgenommen 1 2. Das NI. wich dann von seiner Vorlage ab, indem es die Ausrede, ein E b e r habe Siegfried getötet, umformte : schachœre haben ihn getötet. Der Eber als Sinnbild des Mörders wird nur in Kriemhilds Traumerzäh­ lung verwendet. - Die neuere Forschung scheint eher zu der An­ nahme zu neigen, daß kein direkter Einfluß des Daurel auf die Quelle der Saga und des Nibelungenliedes erfolgt ist, daß es vielmehr „fern aller Literatur und vor aller Literatur ein unmeßbar reiches und ausgedehntes Erzählgut gegeben haben muß“ , aus dem die auffälli­ gen Ähnlichkeiten von Dichtungen herrühren, die sich niemals direkt beeinflußt haben können3. Wie man aber auch dieses Abhängigkeits­ verhältnis sieht, ob (wie Singer, Heusler u.a. meinen) die Vorstufe des Nibelungenliedes den Daurel benutzte oder (wie Kralik an­ nimmt) 4 der Daurel die Vorstufe des Nibelungenliedes, oder ob man mit H. Schneider nicht an eine direkte Entlehnung glaubt, eine Auffassung ist bei der Lage der Dinge unmöglich : die Saga kann in diesem Fall nicht vom NI. abhängig sein; denn im NI. ist das Eber­ motiv als „Ausrede“ gar nicht vorhanden. Die Reihenfolge: Daurel, N l„ Ths. ist also nicht m öglich5; gerade diese müßte man aber er­ warten, wenn man Panzers These für richtig hielte. Leider sagt Panzer selbst nichts zu diesem Problem. Er läßt vielmehr bei der Aufzählung der verwandten Motive in NI. und Daurel das Eber­ motiv einfach aus und gründet seine Behauptung, das NI. habe den Daurel benutzt und sei dann Vorlage der Saga geworden, auf andere 1 W ir zitieren nach der Ausg. von H . de Boor, s. S. 23 Anm . 1. 2 A . Heusler, Die Quelle der Brünhildsage in Ths. u. NI., S. 7 9 ff. 3 H . Schneider, Die Quellen des Nibelungenliedes. Zu Friedrich Panzers Studien zum NI. 1945. Euphorion 45 (1950), S. 4 9 3 -4 9 8 ; Zitat S. 496. H . Hempel schränkt diesen Ansatz eines Vorrats von Handlungsformeln auf die Gattung der chanson de geste ein (Rez. über F. Panzer, Stud.z.N l., S. 30). 4 D. v. Kralik, Die Sigfridtrilogie im Nibelungenlied und in der Thidrekssaga. Bd. 1. Halle 1941, S. 845 ff. 3 Zu demselben Ergebnis kommt F . R . Schröder, Sigfrids Tod. G R M 41 (1960), S. 111-122, Auseinandersetzung m it Panzer, S. 115.

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Züge, „von denen eigentlich keiner zu den auf bauenden Motiven der Mordgeschichte gehört1.“ Die genannten Motive finden wir im NI. und im Daurel, während sie in der Saga größtenteils fehlen. So hindern diese Übereinstim­ mungen Panzer nicht an der Annahme, daß die Saga das NI. be­ nutzte, wobei sie diese dem Daurel entstammenden Motive einfach wegließ ; sie liefern aber durch ihr Fehlen in der Saga keinen Beweis fü r diese Annahme. Das von Panzer übergangene Ebermotiv gibt aber einen deutlichen Beweis g e g e n die Panzersche Beurteilung des Verhältnisses von Daurel, NI. und Ths. Es kommt noch etwas anderes hinzu : Heinrich Hempel hat darauf hingewiesen, daß in der Romanistik keine Übereinstimmung hin­ sichtlich der Datierung des Daurel und anderer französischer Epen besteht, so daß sich daraus kein Kriterium für die Abhängigkeit der einzelnen Werke voneinander gewinnen lä ß t1 2. Die beiden von Panzer gegen die alte These angeführten Haupt­ gründe besitzen also keine wirkliche Beweiskraft und zwingen nicht dazu, von der Annahme abzugehen, daß die Saga die Vorstufe des Nibelungenliedes als Quelle benutzte. Wir wollen uns aber einmal darüber hinwegsetzen und fragen, was wir denn gewinnen durch die Annahme, die Saga hätte das NI. benutzt. Kommen wir dann - und das muß doch wohl der Anstoß 1 So F . Panzer, Stud. zum NI., S. 39. Er zählt diese in Daurel und NI. übereinstimmenden Züge auf: ,,böse Ahnungen der Gattin und Warnung des Gatten, die dieser als unberechtigt zurückweist; Abschied von der Gattin vor der Jagd als besonderer Auftritt ; Verlauf der Ermordung so, daß die Beteilig­ ten ihrem Gefolge vorauseilen an den Ort, wo dann der Mord stattfindet ; der Verratene, zunächst nur schwer getroffen, kann noch knieend Reden m it dem Mörder führen ; er bittet ihn um gütige Behandlung seiner W itw e und seines Sohnes, stirbt dann an dem Speerstoß des Mörders; die Begleiter kommen heran, einer beschuldigt den Täter des Mordes, spricht die Besorgnis aus, daß sie alle davon Schande haben werden ; die Leiche wird heimgetragen ; heuch­ lerische Trauer des Mörders; falsche Angaben über den Grund des Todes; trotzdem sofort der Mörder des Mordes beschuldigt; Ohnmacht der Gattin, laute Klage um den Toten auch durch die Bürger der Stadt; Begegnung m it dem Mörder an der Bahre; Aufheben des Bahrtuches, Mitklage des Gefolges; Androhung der Rache ; Beisetzung nach drei Tagen. Die Fülle dieser Übereinstimmungen kann unmöglich auf Zufall beruhen. Und es ist nur e i n e Deutung der festgestellten Sachlage denkbar : der Daurel ist das Vorbild gewesen für die Erzählung des Nibelungenliedes.“ (Stud. z. NI. S. 39 f.) 2 H . Hempel, Rez. über F. Panzer, Stud. zum NI., S. 33f.

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für Panzer gewesen sein - ohne rekonstruierte Dichtungen aus? Panzer selbst verneint diese Frage. Es ist vor allem wieder die in Saga und NI. abweichende Darstellung des Kampfausbruches und der Tötung des Etzelsohnes, die ihn dazu zwingen. Er glaubt, daß die Saga außer dem NI. andere, uns unbekannte Quellen benutzte x. Wir gewinnen also nichts durch einen solchen Ansatz. Die Wider­ sprüche zwischen NI. und Ths. und die Unklarheiten innerhalb der Saga müssen als Ausfluß der Unachtsamkeit und Unfähigkeit des Sagamannes verstanden werden. - Panzers Versuch war insofern fruchtbar, als er jeden, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, zwingt, die Probleme noch einmal zu durchdenken. Er stellt aber die Nibe­ lungenforschung auf keine neue Grundlage. Wir gehen also in unse­ rer Untersuchung von der alten These aus, daß die Saga die Vorstufe des Nibelungenliedes benutzte. Wir haben bisher jene Richtung der Forschung verfolgt, die sich um die obd. Sagentradition bemühte, um die Vorstufe des Nibe­ lungenliedes, ihre Gestalt und ihre Entstehung, ihren Einfluß auf das NI. und die Ths. Diese Forschungen begannen mit H. Pauls Abhandlung und führen bis zu Panzers Arbeiten. - Wie steht es aber mit der angeblich so ausgedehnten ndd. Tradition der Nibe­ lungensage, gegen die Hermann Paul damals so heftig polemisierte? Diese Frage ist nicht mit der gleichen Gründlichkeit durchforscht worden wie jene andere nach der obd. Vorstufe. Es wurden auch nicht so verhältnismäßig einheitliche Ergebnisse erzielt, wie sie in bezug auf das ältere Nibelungenepos vorhegen. Wir müssen wieder bei W. Wilmanns’ wichtiger Abhandlung an­ setzen. Sie wurde von Joseph Seemüller eingehend rezensiert,1 2 und dieser weist daraufhin, daßWilmanns gelegentlich von Kontamina­ tionen spricht, die bei der Entstehung des Sagaberichtes eingetreten seien, daß er aber in bezug auf die Niflungasaga meint, hier sei immer die ältere, echtere Gestalt der Sage bewahrt. Die Ths. gibt also - nach Wilmanns’ Meinung - die Vorstufe des Nibelungenliedes im ganzen ziemlich getreu wieder, während der Verfasser des Nibe­ lungenliedes zum Teil gebessert hat. In der Beurteilung des engen Zusammenhanges zwischen der Vorstufe des Nibelungenliedes und der Ths. ist Seemüller sehr viel vorsichtiger, da die Saga uns noch 1 F . Panzer, Nibelungische Ketzereien. 3.4. P B B 75 (1953), S. 248-272, bes. S. 254 f. 2 W . Wilmanns, Der Untergang der Nibelungen in alter Sage und Dichtung, s. S. 4 f .; Rezension von J. Seemüller, in: A .f.d .A . 30, S. 5 -2 6 , bes. S. 2 3 f.

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zu unklar in ihrer Zusammensetzung und Entstehung ist (S. 24). Er führt einige Stellen an, aus denen hervorgeht, daß in der Saga etwas in Unordnung geraten ist und daß sie die Vorstufe des Nibelungen­ liedes nicht getreu wiedergibt (S. 21 ff-, bes. S. 23). Hier setzt R. C. Boer an. Er war in einer Untersuchung über die Entstehung der Ths. zu dem Ergebnis gelangt, daß von der Saga ursprünglich eine kürzere Redaktion existierte, die dann durch viele Interpolationen zu der Gestalt, die wir heute kennen, aufge­ schwellt wurde. Er zeigt nun in einer Arbeit über die Niflungasaga, daß auch hier der Gedanke einer Kontamination verschiedener Fassungen nicht abwegig ist1. Er glaubt, „daß eine einfachere Dar­ stellung der Begebenheiten in der Saga vorhanden war, die aber später von dem ersten Interpolator umgearbeitet ist.“ (Z.f.d. Phil. 38, S. 49). Die Verbindung der beiden Redaktionen, einer längeren, „die jüngere Elemente in Fülle enthält“ , und einer kürzeren, „die davon frei ist“ (Z.f.d. Phil. 38, S. 53), hatte zur Folge, daß viele Motive, wenig variiert, in der Saga doppelt erzählt werden. An Hand dieser Doppelungen und Parallelen versucht Boer, zwei verschiedene Quellen zu scheiden, die von Anfang bis zu Ende vollständige, von­ einander abweichende Darstellungen des Burgundenunterganges geben. „Unsere Überlieferung ist wie am Anfang der Saga so auch in diesem Abschnitt nicht eine Umarbeitung, sondern eine Compilation, und zwar aus der ursprünglichen Fassung I und der Umarbeitung II. Es muß also neben der alten Saga eine Umarbeitung existiert haben, die nicht abweichende Berichte hinzufügte, sondern die Begeben­ heiten zum Teil anders darstellte. Aus der Verbindung dieser beiden Darstellungen erwuchs unsere þs.“ (Z.f.d. Phil. 38, S. 105). Boer geht zunächst davon aus, daß in der Saga niederdeutsche und süddeutsche Ortsangaben nebeneinander stehen. Er stellt fest, daß seine Redaktion I, die die kürzere und altertümlichere ist, die ndd. Sagentradition repräsentiert, während die Redaktion II die süddeutsche jüngere Formung zeigt (Z.f.d. Phil. 38, S. 48f.). Leider verzichtet Boer auf die klare, saubere Herausschälung der beiden Traditionen, die es ermöglichen würde, auch die Gestalt der ndd. Redaktion zu erkennen. Er vertieft sich vielmehr in sagengeschicht­ liche Spekulationen, die für uns heute wertlos sind.*S . 1 R . C. Boer, Untersuchungen über den Ursprung und die Entwicklung der Nibelungensage. Z.f.d.Phil. 37, (1905), S. 2 8 9 -3 4 8 ; 4 38 -5 0 5. Bd. 38 (1906), S. 3 9-10 9 . Vgl. Buchfassung, 3 Bde, Halle 1906/09.

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Der Gedanke aber, daß in der Saga zwei Quellen miteinander verbunden sind, wurde von L. Polak aufgenommen und mit größerer Klarheit durchgeführt, als es bei Boer geschah1. Polak geht eben­ falls von der Lokalisation des Burgundenunterganges in Soest aus, von der sogenannten Soester Ortssage. „D a die Überlieferung der þs. in ihrem Kerne ndd. ist, der Verfasser sich namentlich auf nieder­ deutsche Gewährsmänner beruft, da die speziell niederdeutsche Lokalisierung der letzten Kämpfe: in einem Garten und in den Straßen von Soest, die Darstellung der Ereignisse beherrscht, ist es von vornherein sehr wahrscheinlich, daß wir diese niederdeutsche Tradition für die 'Urþidrekssaga’ in Anspruch zu nehmen haben (S. 428f.). In Auseinandersetzung mit zwei älteren Arbeiten sagt Polak: „B u sch1 2 und Boer, so weit sie in ihren Zielen und Ergebnissen auseinandergehen, treffen doch darin zusammen, daß sie von ihren sämtlichen Versionen der þs. im NI. die Spuren wiederfinden. Schon dieses Resultat muß befremden. Nicht daß von vornherein als un­ möglich abzuweisen wäre, daß eine im Grunde oberdeutsche Tradi­ tion niederdeutsche Züge aufgenommen hätte : daß sie einige nieder­ deutsche Episodenfiguren aufgenommen hat, ist sogar eine ziemlich allgemein gebilligte Annahme! Allein die konsequente Durcheinanderarbeitung der selben zwei ... Quellen in zwei so verschiedenen literarischen Erzeugnissen wie einem oberdeutschen Epos und einer nordischen Fornaldarsaga, ist, wenn nicht geradezu unmöglich, so doch wenigstens auffallend. ... Ich hoffe, daß der im folgenden unternommene Versuch, zwei scharf getrennte Versionen aus der þs. herauszuheben, wovon die eine (þ) ganz los vom NI., die andere (N) mit demselben sehr eng verbunden ist, Beweiskräftigeres für meine Annahme bringen mag.“ (S. 429). Es gelingt Polak nach einer Ana­ lyse des Sagatextes zu einer zusammenhängenden Darstellung der beiden Sagenversionen zu kommen. Polaks Ergebnissen nach laufen sie von Anfang bis zum Ende nebeneinander her, sind manchmal so sehr miteinander verwoben, daß sie sich nur schwer scheiden lassen, sind aber ihrem ganzen Charakter nach doch so verschieden, daß es immer wieder gelingt, sie beide zu erkennen. 1 Leon Polak, Untersuchungen über die Sage vom Burgundenuntergang. I. Die þidrekssaga und das Nibelungenlied. Z .f.d.A . 54 (1913), S. 427-466. 2 Hugo Busch, Die ursprünglichen Lieder vom Ende der Nibelungen. Halle 1882. In dieser Arbeit wurde zum ersten Mal versucht, die verschiedenen Ver­ sionen des Burgundenunterganges in der Saga voneinander zu trennen und ein Bild von dem Inhalt jeder Version zu geben.

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Der zweite Teil von Polaks Untersuchung1 bringt eine sagenge­ schichtliche Betrachtung der einzelnen Motive, wie sie auch in den vorhergehenden Arbeiten Boers, Wilmanns’ u.a. zu finden ist. Polak verliert sich in diese den Leser verwirrenden Einzelunter­ suchungen, so daß die Frage nach der literarischen Gestalt der ndd. Sagenversion, nach ihren Vorstufen, nach den Liedern oder Erzäh­ lungen, in denen sie lebte und sich wandelte, nicht beantwortet, ja nicht einmal gestellt wurde. Daher mag es sich auch erklären, daß diese Arbeit mit ihrem gewiß fruchtbaren Ansatz in der Forschung weder diskutiert noch anerkannt wurde. Die Frage nach der literarischen Form, in der die ndd. Sagen­ tradition lebte, war aber bereits von Waldemar Haupt gestellt wor­ den, der aus der Ths. eine ganze ndd. Dietrichepik herauslesen wollte 1 2. Gegen eine solche ndd. Dietrichepik wandte sich K. Droege. Er wies darauf hin, daß uns für eine solche Annahme - abgesehen von der Ths. - alle Anhaltspunkte fehlen und daß auch der eigentüm­ liche Stil der Ths. dagegen spricht. Die chronikenhafte, schein­ historische3 Darstellungsweise der Ths. sei keinem „Volksepiker“ zuzuschreiben; denn „bei solcher Art hört die Poesie auf, es beginnt eine halbgelehrte Erzählung und Beschreibung“ 4. A uf diese historisierenden Elemente der Saga hat Droege dann mehrfach hingewiesen 5. Er traut sie nicht dem nordischen Verfasser der Ths. zu, sondern glaubt, daß sie bei einer Umarbeitung, die das ältere Nibelungenepos in Soest erfuhr, hineingekommen seien. „Eine Dichtung ist das Soester Werk schwerlich gewesen, nach der Art seiner Darstellung muß auf prosaische Erzählungen geschlossen werden .“ 6 Die Soester Erzählung ist also - nach Droege - eine Nach­ erzählung des älteren Nibelungenepos’ , die aber einzelne ndd. Züge in sich aufnahm und auch gewisse Ereignisse und Zustände der Stauferzeit mit hineinverarbeitete7. Eine eigene, ausgedehnte ndd. Sagentradition lehnt Droege ab, jedenfalls wendet er sich entschie­ 1 Leon Polak, Untersuchungen über die Sage vom Burgundenuntergang. II. Sagengeschichtlicher Teil. Z .f.d .A . 55 (1917), S. 445-502. 2 Waldemar Haupt, Zur niederdeutschen Dietrichsage. 1914. (Palestra 129). 3 So Heusler, Artikel 'A ttila’ , in: Hoops Reallexikon, § 5. 4 K . Droege, Zur Geschichte der Nibelungendichtung und der Thidrekssaga. Z .f.d .A . 58 (1921), S. 12. 5 Z .f.d .A . 58 (1921), S. 12ff.; Z .f .d .A . 71 (1934), S. 94ff. 6 Z .f.d .A . 58 (1921), S. 39. 7 ebda. S. 39.

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den gegen Boers und Polaks Versuche, eine solche aus der Ths. her­ auszuschälen. Die Grundlage des Sagaberichtes bildet nach Droeges Meinung die obd. Sagenversion. Dieselbe Ansicht vertritt auch Andreas Heusler, der sich um die ndd. Sagentradition ebenfalls nicht eigentlich gekümmert hat. Er beurteilt den Sagatext folgendermaßen: „Mehr hat zu sagen,daß sich mit der oberdeutschen Dichtung niederdeutsche Züge verbun­ den haben. Die allgemeine Tatsache ist ziemlich einhellig zugegeben, aber w ie die Mischung zu denken sei, das hat man sehr verschieden beantwortet. Boer und Polak sind dafür eingetreten, daß in der Nifl.s. zwei größere gleichlaufende Darstellungen des Burgundenuntergangs ineinander verflochten seien; beide ließen sich leidlich vollständig aus dem nordischen Text herausschälen ; die eine stände der Sagenform des NL näher, die andere enthielte die ausgeprägt niederdeutschen Züge ; die Verflechtung der beiden Vorlagen hätte innerhalb der schriftlichen Textgeschichte der Thidrekssaga statt­ gefunden. Die Voraussetzungen, die diese Hypothese tragen, über­ zeugen mich nicht, und die beiden herausgeschälten Darstellungen kann ich nicht für glaubhafte, lebensfähige Heldengeschichten halten. Mir stellt sich die Mischung vielmehr so dar. Die Niflungasaga hat ihr ganzes Gerüste, das allermeiste ihrer Substanz, aus dem baiwarischen Epos übernommen. Aber die niederdeutschen Vermittler, die Nacherzähler dieses ältem Epos, kannten eine im Sachsenland alteingebürgerte Nibelungentradition. Diese lebte in der alten Form des kurzen Liedes - man kann an mehrere gleichlaufende Lieder mit abweichender Sagenform denken; ein solches Lied in sächsischem Munde bezeugen die bekannten dänischen Stellen zum Jahr 1131. Aus dieser heimischen Liedtradition nahmen die niederdeutschen Erzähler ein paar sachliche Einzelheiten in die große hochdeutsche Dichtung herüber ; sie bogen diese an einigen Stellen um nach ihrer sächsischen Sagenkenntnis. Darauf beruht die Einführung Osids und die Neugestaltung von Günthers und Hagens Ende. Mit der Liedtradition wirkte zusammen eine Soester Ortssage; die hatte Vorgänge der Burgundendichtung... in Soest lokalisiert. Vermutlich gaben diese Ortsbindungen den ersten Anstoß, daß der Schauplatz all der Kämpfe so gründlich umgestaltet wurde : an Stelle der heroi­ schen Szenerie, der Fürstenhalle... trat ein Baumgarten und die Straßen der Stadt; eine weite, mehr realistische, zeitgeschichtliche Bühne. Für ein S tü ck der Darstellung darf man geradezu, mit Droege, von einer niederdeutschen, soestischen Umarbeitung des2

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hochdeutschen Epos reden; ob diese ein halbgelehrtes Werk der Feder war, bezweifle ich. . . “ 1 Von dieser Ansicht Heuslers geht Heinrich Hempel in seinen Nibelungenstudien aus1 2. Er will das von Heusler vermutete säch­ sische Heldenlied, von dem einige Züge in die Darstellungen der ‘Älteren Not’ vom Kompilator eingearbeitet worden sein sollen, ge­ nauer sichtbar machen und versucht das mit Hilfe der Nibelun­ genballaden zu tun. Diese Methode wurde von Helmut de Boor ab­ gelehnt3. Hempel ist der Ansicht, daß die Soester Ortssage erst sekundär an die in Soest vorgenommene Kompilation von älterem Epos und sächsischem Lied geknüpft wurde. Er charakterisiert diese Soester Kompilation als ein chronikhaftes Prosa w erk4. Gustav Neckel meinte, man mache die Dinge verwickelter als nötig, wenn man neben dem älteren Epos und der Ortssage noch ein niederdeutsches Lied ansetze und lehnte damit Heuslers und Hempels Auffassung ebenso ab wie er es mit Boers und Polaks Versuch tat, zwei parallele Quellenberichte aus dem Text der Ths. herauszu­ kristallisieren 5. Neckel glaubt mit Heusler und Hempel, daß die Ths.-Erzählung vom Niflungenuntergang in der Hauptsache ein Niederschlag hochdeutscher Dichtung sei, daß aber auch mancher Zug aus paralleler niederdeutscher Dichtung stamme 6. Es wird nicht ganz deutlich, wie man sich die Kompilation von ndd. und obd. Sagengut in der Ths. nach Neckeis Meinung vorzustellen hat. Jedenfalls rechnet er mit einer „Soester Sagenchronik“ , einem Prosa­ werk also, das seinen Einfluß in der Gestaltung des Niflungenunterganges in der Ths. spürbar hinterlassen h a t7. Es bestehen demnach drei Ansichten über den ndd. Einfluß in der Niflungasaga: 1. Es gab neben der obd. Quelle eine gleichberechtigte ndd. Quelle; beide wurden von einem Kompilator miteinander verbun­ 1 Andreas Heusler, Heldenrollen, S. 1116f. 2 Heinrich Hempel, Nibelungenstudien, S. 2. 3 Helmut de Boor, Rezension über H . Hempel, Nibelungenstudien I. Z .f.d .P h il. 52 (1927), S. 473-478. 4 H . Hempel, Sächsische Nibelungendichtung, S. 138ff. 5 G. Neckel, Soest als Nibelungenstadt. Ndd. Jahrbuch 53 (1927), S. 3 3 -3 9 , besonders S. 35. 6 G. Neckel, Grimhilds Rache und der Untergang der Niflunge. In : Einlei­ tung zur Übersetzung der Thidrekssaga von Fine Erichsen, S. 4 6 -5 6 , Zitat S. 56. 7 ebda. S. 48 und S. 54.

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den. Die eigentliche Grundlage für den Sagatext gab die ndd. Quelle, aus der obd. wurden nur Einschübe hineingenommen (Polak). 2. Der Sagatext beruht im wesentlichen auf der obd. ‘Älteren Not’ , einzelne Züge aus einem niederdeutschen Lied wurden in die Nacherzählung der 'Älteren Not* eingearbeitet ; als drittes Element dieser vielleicht in Soest entstandenen Kompilation kommt noch die Soester Ortssage hinzu, die entweder als mündliche Erzählung dem Sagamann bekannt wurde (Heusler, Droege) oder die an die fertige Kompilation von sächsischem Lied und älterem Epos ange­ knüpft wurde (Hempel)1. 3. Als Nebenquelle der 'Älteren Not’ fungierte eine in Soest ent­ standene Prosaerzählung, eine Soester Sagenchronik, aus der ein­ zelne Züge und vor allem ein großer Teil der Erzählung der Kämpfe entnommen wurden (G. Neckel). Keine der genannten Arbeiten hat die Möglichkeiten voll ausge­ schöpft, die eine eingehende Analyse der gesamten Saga-Darstellung vom Niflungenuntergang für die Erkenntnis der Quellen der Saga bietet. Wir wollen diese Analyse hier vornehmen; denn nur eine geduldige quellenkritische Interpretation der einzelnen Saga-Ab­ schnitte - die den fortwährenden, oft nur satzweise voranschreiten­ den Vergleich mit dem NI. erfordert - kann hoffen, Neues zu sehen und in der Klärung der vielumstrittenen Quellenfrage einen Schritt weiter zu kommen. Von der bisherigen Forschung wurden meist nur einzelne Motive aus der Darstellung der Saga und des Nibelungen­ liedes herausgenommen und ausgewertet. Nur Boer, Polak, Heusler und Schneider geben fortlaufende Gesamtanalysen. Der Kundige wird erkennen, daß die vorhegende Untersuchung namentlich aus den Forschungen Heuslers und der Analyse Polaks, aber auch aus allen anderen hier in der kurzen Skizze des Forschungsganges ge­ nannten und den später zu nennenden Arbeiten eine Fülle von An­ regungen empfing. Er wird auch ohne weiteres sehen, wo unsere Meinung mit einer schon vo her in der Forschung geäußert 3n zu­ sammentrifft, wo sie abweicht. Die Analyse wurde daher von Ausein­ andersetzungen mit den einzelnen Forschungsmeinungen frei ge­ halten. Nur wenn eine eingehende Interpretation des einen oder anderen Saga-Abschnitts vorlag, wurde dazu Stellung genommen. 1 Vgl. auch K urt W ais, Frühe Epik Westeuropas und die Vorgeschichte des Nibelungenliedes. I. Tübingen 1953, S. 109.

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Für diese Analyse gelten folgende Ausgangspunkte: 1. Die Saga benutzte für die Darstellung des Niflungenunterganges eine Quelle, die dem NI. recht ähnlich war. Man kann sie deshalb durch den Vergleich der entsprechenden Stellen des Nibe­ lungenliedes und der Saga wiedergewinnen. Es lag nicht im Inter­ esse dieser Arbeit, nachzuweisen, daß nicht das NI. selbst der Ths. als Quelle diente. Jedoch ergab sich bei der Betrachtung solcher Stellen, die im NI. und in der Saga übereinstimmend enthalten sind, daß das NI. nicht die Quelle der Saga gewesen sein kann, weil die Abweichungen in Einzelheiten zu groß sind. Es sind vor allem zwei Gegebenheiten, die hier zu beachten sind : a) Einem einfachen, kurzen Szenenablauf der Saga steht meist ein längerer, komplizierterer des Nibelungenliedes gegenüber. Durch den Vergleich der beiden Texte läßt sich zeigen, daß der Dichter des Nibelungenliedes den einfachen, in der Saga bewahrten Ablauf zu dem komplizierteren im NI. erweitert hat (vgl. z.B . Nächtliches Ge­ spräch). b) Eine Szene, die in der Saga enthalten ist, fehlt ganz oder teil­ weise im NI. Da sich aber das Material dieser Szene im NI. an ande­ ren Stellen verstreut wiederfindet, ist es klar, daß der Dichter des Nibelungenliedes diese in der Saga bewahrte Szene zerstörte und nicht etwa der Verfasser der Saga sie von sich aus neu dichtete (vgl. z.B. Giselher-Szenen, Aufreizungsversuch an Attila). Es ist daher bei einer wirklich eingehenden Betrachtung der beiden Texte nicht möglich, die Behauptung aufrechtzuerhalten, daß die Saga das NI. selbst als Quelle benutzte. Dem NI. wie auch der Saga diente vielmehr ein Werk als Vorlage, das wir - wie es in der For­ schung üblich ist - die 'Ältere Not’ nennen. Das Verhältnis des Nibe­ lungenliedes und der Ths. zu dieser leider verlorenen 'Älteren Not’ ist verschieden: der Dichter des Nibelungenliedes benutzte sie nur als Grundlage zu einer umfassenderen Neudichtung ; der Verfasser der Saga dagegen verfuhr nicht selbständig mit dem Text der 'Älteren Not’ , sondern er hielt sich - wo immer er dieses Werk heran­ zog - sehr eng an seine Vorlage, so daß er manchmal fast eine pro­ saische Nacherzählung gab. Der Wortlaut der 'Älteren Not’ ist daher in der Saga oft besser bewahrt als im NI. 2. In der Saga sind außer den Erzählteilen, die der 'Älteren N ot’ entstammen, noch andere Elemente vorhanden. Bei der Trennung dieser Elemente von dem, was aus der 'Älteren Not’ herrührt, ergab sich, daß sie sich zu einer einheitlichen Erzählung vom Niflungen-

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Untergang zusammenfügen lassen, die von Anfang bis Ende durch gewisse Charakteristika ausgezeichnet ist und sich daher deutlich von der 'Älteren Not* abheben und unterscheiden läßt. Diese aus methodischer Analyse gewonnene Ansicht setzen wir hier als gege­ ben voraus und lassen sie sich im Verlauf der Einzelanalyse als richtig entwickeln. Wir sprechen dabei zunächst unverbindlich davon als von der 'zweiten Quelle’ der Saga. Damit soll nichts über das Verhältnis der beiden Quellen zueinander ausgesagt werden, etwa daß die 'Ältere Not’ die Hauptquelle, die ‘zweite Quelle’ nur Neben­ quelle gewesen sei. Wir wollen vielmehr mit der Bezeichnung 'zweite Quelle’ andeuten, daß wir sie in der Analyse lediglich als den Spen­ der jener der 'Älteren Not’ fremden Sagenelemente fassen und noch nichts über ihr Wesen, ihre literarische Form und sagengeschicht­ liche Position aussagen können. 3. Aus der Annahme einer zweiten selbständigen und einheit­ lichen Quelle neben der 'Älteren Not’ ergibt sich von selbst, daß wir den schöpferischen Anteil des Sagamannes nicht so hoch ein­ schätzen, wie es jene Forscher tun, die annehmen, daß der Saga­ mann die 'Ältere Not’ oder das Nibelungenlied als Hauptquelle be­ nutzte und daß er diese selbständig umgestaltete, daß er Eingriffe vornahm, die ihn einerseits als einen verballhornenden Stümper, andererseits aber als einen großen Dichter erscheinen lassen (z.B. als Schöpfer der Giselher- und Gernoz-Szenen). Wir kommen in unserer Analyse ohne diese unsichere Größe eines gestaltenden und verunstaltenden Sagamannes aus. Hingegen glauben wir, daß der Sagamann selbst seine Erzählung vom Untergang der Niflungen durch Kompilieren der 'Älteren Not’ und der ‘zweiten Quelle’ herstellte und daß er nicht, wie es sich aus H. Hempels Untersuchungen ergibt, lediglich der Übersetzer einer schon in Soest entstandenen Kompilation (aus der 'Älteren Not’ und einem niedersächsischen Lied) war. Das läßt sich an sprachlichen Unebenheiten zeigen, die sich dann erklären lassen, wenn man an­ nimmt, daß der Veifasser der Saga direkt beim Schreiben bzw. Diktieren des Textes das Zusammenfügen der beiden Quellen vor­ nahm L Wir sprechen daher in der Analyse vom Sagamann und nicht1

1 Die Annahme einer solchen Kompilation aus zwei Quellen ist bekannt­ lich für ein nordisches Werk nichts Ungewöhnliches. Das beste Beispiel dafür bietet die Darstellung vom Niflungenuntergang in der Völsungasaga. Hier haben wir das Glück, zwei ihrer Quellen in den beiden Atliliedern der

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vom Kompilator als dem Hersteller der Erzählung vom Niflungenuntergang, die die Saga bietet 11. Eine Einarbeitung von Zügen aus der ihm wahrscheinlich wohlbekannten nordischen Dichtung vom Niflungenuntergang muß dem Sagamann grundsätzlich zugetraut werden ; aber es lassen sich aus dem von uns analysierten Abschnitt nur wenige Beispiele dafür an­ führen. Die Verwendung der Namenformen Gunnar und Sigurd wird dazu gehören. Da sich der Sagamann entschlossen hatte, die d e u t s c h e Version der Nibelungensage, nämlich die den Eddaliedern unbekannte Gattenrache, zu erzählen, ist er anscheinend auch eng bei seinen Vorlagen geblieben und hat sie nicht wesentlich durch solche Einarbeitungen verändert. Edda tatsächlich zu besitzen, so daß wir daran sehr gut studieren können, wie solche Kompilationen vorgenommen wurden. 1 Vgl. auch S. 259f.

I. Teil: ANALYSE 1.W e r b u n g A t t i l a s um G r i m h i l d u n d H o c h z e i t . (Ths. II, 275,20 bis 279,6; Übs. S. 383-385; NI. Str. 1143-1386) K Die Darstellung vom Untergang der Niflungen beginnt in der Saga mit zwei Sätzen, die der eigentlichen Handlung einleitend vorangestellt sind : Attila konungr af Susa spyrr at daudr er Sigurdr sveinn oc cepter lifir hans kona grimhilldr ær allra kvinna er vitrast oc fegrst. enn hann ær nu kvanlaus (275,20-23; Übs. S. 383). Der Hin­ weis, daß Attila verwitwet ist, erscheint völlig unbetont als flüchtige Reminiszenz an ein weiter zurückliegendes Ereignis. Die wichtige Voraussetzung, die erst die Möglichkeit zu der Werbung um Grim­ hild gibt, ist Sigurds Tod. Diese Tatsache setzt den Zeitpunkt für das nun zu erzählende Geschehen : nachdem Sigurd ermordet worden war, warb Attila um Grimhild. Damit ist eine starke Rückbeziehung auf das Geschehen um Sigurd und Grimhild gegeben. Ja, die For­ mulierung Attila ... spyrr at ... betont die Verbindung zum ersten Teil der Niflungasaga noch mehr, indem sie nicht nur die zeitliche Aufeinanderfolge, die zugleich eine kausale ist, sondern auch die tatsächliche Verbindung der beiden Lebenskreise herstellt: Attila erhält Nachricht von Sigurds Tod. Dieser erste Satz scheint also einer Erzählung anzugehören, die den Untergang der Niflungen unmittelbar im Anschluß an Sigurds Tod berichtete. Man erwartet, daß die Saga im vorhergehenden Ab- 1 1 þidriks saga a f Bern, usg. ved Henrik Bertelsen. 2 Bde. Kopenhagen 1908 — 1911. Wenn im folgenden die Bandzahl nicht vermerkt ist, steht die Stelle im zweiten Band. —Das Nibelungenlied, nach der Ausg. von Karl Bartsch neu hrsg. von Helmut de Boor. 14. Aufl. Wiesbaden 1957. (Deutsche Klassiker des Mittelalters).

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schnitt Sigurds Ermordung geschildert habe, und ist erstaunt, fest­ stellen zu müssen, daß das nicht der Fall ist, denn zwischen den ersten und den zweiten Teil der Niflungasaga schiebt sich eine Er­ zählung, die einem anderen Sagenkreis angehört (Isungs undFasolds Tod). Betrachten wir dagegen den Beginn des Burgundenunterganges im Nibelungenlied! Daz was in einen zîten dô vrou Helche erstarp, und daz der künic Etzel umb ein ander vrouwen warp. dô rieten sine vriunde in der Burgonden lant zeiner stolzen witewen. diu was vrou Kriemhilt genant. (1143) Die ersten beiden Zeilen dieser Strophe geben genauso wie die zitierten beiden Sagasätze die Voraussetzung für die eigentliche Handlung. Aber nicht Siegfrieds Tod ist das Ereignis, das die Möglichkeit gibt, um Krimhild zu werben, sondern Helches Tod. Daß Kriemhild Witwe ist, wird noch weniger betont als in der Saga der Hinweis, daß auch Attila Witwer ist. Das NI. nimmt den Hin­ weis auf Kriemhilds Witwenschaft schon in die Handlung selbst hinein (dô rieten sine vriunde ... zeiner stolzen witewen). Den Zeit­ punkt und den sachlichen Grund für Etzels Werbung gibt ein Ereig­ nis aus Etzels Leben, der Tod seiner ersten Frau. Damit wird von vornherein ganz von dem Bereich ausgegangen, in dem der Unter­ gang der Nibelungen sich abspielen wird : vom Hunnenhof und den dort lebenden Personen. Eine Rückbeziehung auf Siegfrieds Tod fehlt. Kriemhilds Witwenschaft ist ein für die Werbung notwendiger Zustand, der schon länger anzudauern scheint und daher nur als selbstverständlich bekannt registriert wird. Das die neuen Verhält­ nisse schaffende und damit das entscheidende und als solches betonte Ereignis ist der Tod Helches. Alles dies deutet darauf hin, daß der Dichter des Nibelungenliedes eine hier neu einsetzende Quelle benutztex, die also nur den zweiten Teil der Nibelungensage dichterisch gestaltete1 2. Diese Quelle, die 1 Das spricht gegen die Theorie, daß die 'Ältere N ot’ einen einleitenden kurzen Bericht über Siegfrieds Ermordung gab, der zur Grundlage des ersten Teils der Niflungasaga wurde (vgl. H . de Boor, Ausg. S. X X X I f. im Anschluß an F. Neumann, Verfasserlexikon Bd. 3 Sp. 570). Die eingehende Erörterung dieser Frage muß einer späteren Untersuchung über den ersten Teil der N if­ lungasaga Vorbehalten bleiben. 2 Die ebenfalls dafür sprechenden Gründe stellt H . de Boor zusammen, a .a .O . S. X X X f.

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wir die 'Ältere N ot’ nennen, kann nicht auch der Saga für deren Beginn der Darstellung des Niflungenunterganges als Grundlage gedient haben ; denn dort ist die Anknüpfung an den ersten Teil der Sage deutlich beabsichtigt. Natürlich kann das der Sagamann von sich aus getan haben. Wir müssen aber auch mit der Möglichkeit rechnen, daß er darin einer Quelle folgte, die den ersten und zweiten Teil der Sage in fortlaufender Erzählung behandelte. In diesem Fall hätte der Sagamann den ersten und zweiten Teil rein mechanisch getrennt, was er vielleicht um so leichter und unbesorgter tat, als er eine Dichtung kannte, die überhaupt nur die Sage vom Unter­ gang der Nibelungen behandelte, eben die 'Ältere Not’ . Die eigentliche Handlung beginnt mit der Aussendung des Wer­ bers. Sie ist in der Saga sehr knapp erzählt: Attila läßt Herzog Osid aus Herraland zu sich befehlen, dieser kommt nach Susat. Er - und mit ihm der Leser - erfährt, daß er die Werbung Attilas um Grimhild durchführen soll. Er erklärt sich dazu bereit. - Bei nähe­ rem Hinschauen ergibt sich aber, daß die Dinge gar nicht so knapp dargestellt sind, wie wir es eben zusammenfassend taten. Die äußere Handlung ist allerdings kaum weiter ausgeführt ; aber eine gewisse Breite entsteht dadurch, daß die Aufträge und Worte der handeln­ den Personen mitgeteilt werden, und zwar in indirekter Rede L Das hat zur Folge, daß der Leser gut über die Vorgänge informiert wird, daß er sie aber nicht wirklich miterlebt. Statt einer lebendigen Szene, in der der Dichter die handelnden Personen d i r e k t sprechen läßt, haben wir hier einen Bericht über ein Ereignis und die dabei gewechselten Worte vor uns. Ganz anders ist die Aussendung des Werbungsboten im NI. gestal­ tet. Hier geschieht wirkliche dramatische Handlung mit Rede und Gegenrede. Wir wollen uns den Aufbau dieser Szene vergegen­ wärtigen : 1. Etzels Freunde raten zur Werbung um Kriemhild (1143, 3.4. 1144); 2. beinahe ängstlich wendet Etzel dagegen ein: „wi möhte daz ergân, sît ich bin ein heiden und des toufes niht enhdn?“ (1145) ; 3. die Freunde weisen dagegen auf den namen den höhen und daz michel guot, das Etzel zu bieten hat (1146);1 1 Es sind folgende Stellen: H an n sender œpter sinvm fr æ n d a ... ai hann skal coma til hans. Oc er hertogenn spyrr at hans frende attila konungr vill hann h itta ... A tti la ... seger at hann have hanum sent ord. oc vill at hann fare hans 8endefor iniflvngaland. attila konungr vill senda hann at bi dia ser konv G rim hilldar. . . Osidr hertoge lez fa ra vilia hvert er konungr vill hann sent hava.

(2 75 ,2 3-2 76 ,1 0).

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Analyse

4. Etzel erkundigt sich, wer denn Land und Leute bi Rine überhaupt kenne (1147) ; 5. Rüedeger meldet sich (1147, 3.4. 1148); 6. Etzel legt die Entscheidung, ob er um Kriemhild werben soll oder nicht, in Rüedegers Hand: vriunt, du soit mir sagen, ob si in minem lande kröne solde tragen. (1149) ; 7. Rüedeger bestätigt, daß Kriemhild von außerordentlicher Schönheit sei: ,,Si gelichet sich wol mit schœne der lieben vrouwen min, Heichen der vil riehen.“ Er hält sie also, wie alle anderen Ratgeber, für eine würdige Nachfolgerin Helches (1150); 8. jetzt ist Etzels Entschluß gefaßt, er beauftragt Rüedeger mit der Wer­ bung (1151); 9. es beginnt ein edler Wettstreit darum, wer die Werbungsfahrt ausrüsten solle, Etzel oder Rüedeger (1152-56); 10. Rüedeger macht den König darauf aufmerksam, daß Kriemhild Siegfrieds Frau war (1157); 11. Etzel bestätigt daraufhin nochmals seinen Entschluß (1158); 12. Rüedeger gibt den Zeitpunkt seines Aufbruchs an (1159). Wir haben hier eine breit ausgespielte, schön gebaute Szene vor uns1. Sie gipfelt in Etzels Entschluß, die Werbung zu unternehmen und Rüedeger mit der Ausführung zu beauftragen. Bis zu diesem Höhepunkt ist sie in fortwährender Steigerung begriffen. Auch die Darstellung der eigentlichen Werbung erfolgt im NI. in effektvollen Szenen, in der Saga in einem kurzen, sachlichen Bericht. - Im NI. ist schon der Empfang des Werbers am Wormser H of groß ausgestaltet. Der Höhepunkt hegt in Str. 1199: Rüedeger bringt die Werbung vor. Darauf folgt als nächste Szene die Beratung über die Werbung. Ihr Höhepunkt ist die dramatische Auseinandersetzung zwischen Hagen, der abrät, und Gernot und Giselher (Str. 1210 1214). Es folgt dann im NI. jenes sich steigernde Bemühen verschie­ dener Personen, Kriemhild zur Annahme der Werbung zu bestimmen. Der Höhepunkt dieser Folge von Auftritten liegt in Rüedegers Ver­ sprechen, er wolde si ergetzen swaz ir ie geschach (1255). Es erweckt in Kriemhild den Rachegedanken und bewirkt damit die Annahme der Werbung. Halten wir die Darstellung der Saga dagegen. Ebenso wie die Ausrüstung des Werbers und seiner Begleiter und wie ihre Fahrt nach Werniza wird auch der Empfang in Werniza mit einem Satz abgetan (jbeim er par vel fagnat. 276, 14. 15; Übs. S. 383). Nach einigen Tagen bittet Osid um eine Unterredung mit Gunnar, Högni1 1 Sie ist nach dem Typus der Brautwerberformel gestaltet.

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und Gernoz. Diese wird ausführlich und in direkter Rede wieder­ gegeben. Osid trägt die Werbung vor, sie wird von Gunnar sofort angenommen. Auch Högni stimmt zu, weist aber darauf hin, daß man Grimhild selbst befragen müsse. Gernoz ist mit allem einver­ standen. Gunnar und Osid gehen daraufhin zu Grimhild. Auch sie gibt ihre Einwilligung. Während wir also im NI. die großen Szenenkomplexe des Emp­ fanges, der Beratung und der verschiedenen Unterredungen mit Kriemhild haben, finden wir in der Saga nur zwei sehr schlichte Abschnitte ohne alle dramatischen Steigerungen und Zuspitzungen. A uf die Werbung folgt sogleich die Zusage der Brüder, darauf die ebenfalls ganz unkomplizierte Einwilligung Grimhilds. Die Hochzeit Attilas und Grimhilds ist in der Saga so anders als im NI. geschildert, daß sich die beiden Texte gar nicht miteinander vergleichen lassen. Der erste bedeutende Unterschied liegt darin, daß sie im NI. in Wien ohne Beisein der Brüder stattfindet, in der Saga in Werniza, am H of der Nif lungen. Die Saga berichtet knapp und ohne besondere Ausschmückungen, daß Attila nach Werniza kommt, Grimhild anläßlich eines Festes zur Frau erhält und mit ihr nach Susat zieht. Im NI. werden zwei Aventiuren für die Schil­ derung von Kriemhilds und Rüedegers Fahrt nach Wien, die Hoch­ zeit und die Reise nach Etzelnburg verwendet. Ths. und NI. sind in diesem ganzen l.T eil (Aussenden des Werbers, Werbung, Hochzeit) so verschieden, daß man sagen kann: wir haben hier zwei Werke vor uns, die wohl dasselbe Thema behandeln, die aber in Form und Inhalt so stark voneinander abweichen, daß sie nicht auf eine gemeinsame Quelle, die 'Ältere Not’ , zurückgeführt werden können. Die Saga muß eine andere Vorlage benutzt haben, wenn nicht der Sagamann selbständig gearbeitet hat. Nur in wenigen Punkten scheint die Saga einen Einfluß der 'Älteren Not’ zu verraten. Im NI. ist Markgraf Rüedeger Etzels Werber, in der Saga Herzog Osid. Ganz unvermittelt taucht aber an einer Stelle der Saga - bei der Verteilung der Gastgeschenke an Attila und seine Begleiter „der Markgraf“ auf: oc sverdet gram gafhann margreifanum. (278,25279,1 ; Übs. S. 385). Ein Markgraf in der Begleitung Attilas war bis dahin noch nicht erwähnt worden und von einem anderen Mark­ grafen als von Rodingeir = Rüedeger spricht die Saga im Bericht vom Untergang der Niflungen überhaupt nicht. Eine Bestätigung, daß hier nur an diesen zu denken ist, bietet uns die Handschrift B, die den Namen Rodingeir hinzusetzt (279, Anm. 1). Haben wir hier

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eine Spur der ‘Älteren Not’ vor uns, in der dann also Rüedeger als Werber aufgetreten wäre, so wie es noch im NI. ist? Diese Erklärung ist deshalb so erwägenswert, weil die ganze Er­ zählung von der Verteilung der Gastgeschenke vor Attilas Heimreise ein Einschub zu sein scheint. Wir können hier nämlich zum ersten Mal das beobachten, was Heinrich Hempel eine ,,Nahtverdopplung“ nennt1; d. h. ein Ereignis wird - manchmal mit geringer Variation doppelt erzählt. Solche Naht Verdopplungen tauchen (nach H. Hem­ pel) immer dann auf, wenn der Sagamann in den Erzählzusammen­ hang der einen Quelle etwas aus einer anderen Quelle einschiebt. In unserem Falle wird der Aufbruch Attilas und seiner Begleiter doppelt erzählt: oc er lokit er þesse veizlv. ridr attila konungr oc þidrecr konungr brvtt. (278,22.23. Übs. S. 385). Ganz unvermittelt schließt sich daran die Aufzählung der Gastgeschenke mit der Nennung des Markgrafen, und dann heißt es noch einmal: oc skiliaz nu goder vinir. Ridr attila konungr oc þidrekr konungr heim i sitt riki (279,2-4; Übs. S. 385)1 2. In diesem Einschub wird also erzählt, daß der Markgraf Sigurds Schwert Gram von Gunnar als Abschiedsgeschenk erhält. Später beim Abschied in Bakalar schenkt Rodingeir dieses selbe Schwert Giselher. Daraus sehen wir zunächst, daß der beim Abschied in Werniza erwähnte Markgraf tatsächlich Rodingeir ist. Sein Ver­ halten beim Verteilen der Abschiedsgeschenke in Bakalar ist auf­ fällig. Er verstößt gegen die selbstverständlichen Regeln gesell­ schaftlichen und insbesondere höfischen Anstandes, wenn er das ihm von Gunnar geschenkte Schwert an dessen Bruder Giselher weitergibt - und zwar in Gunnars Gegenwart ! Und dabei erklärt er dem Niflungen die Besonderheit dieses Schwertes, als ob Giselher darüber nicht besser orientiert wäre als Rodingeir selbst ! (294,7-11). - Wie lassen sich diese Ungereimtheiten erklären? Die Schwert­ gabe in Bakalar leitet - wenn wir es einmal so nennen wollen - die „tragische Rolle“ des dort geschenkten Schwertes ein; denn Rodin­ geir wird später damit getötet. Der Sagamann wollte diese Waffe schon von vornherein zu einer besonderen machen und identifizierte 1 H . Hempel, Nibelungenstudien, S. 38. 2 Man könnte einwenden, daß der Sagamann vielleicht zwischen Aufbruch zur Fahrt und eigentlichem Heimritt unterscheiden wollte. Aber kurz vorher weiß er diese Situationen sehr geschickt auseinanderzuhalten. Bei Osids Heimkehr bezeichnet er den Aufbruch mit byz heim at rida, den Heimritt mit ridr heim (2 77 ,2 4-2 78 ,1 und 2 7 8 ,4 .5 ; Übs. S. 384). Dazwischen steht, durch­ aus organisch eingefügt, das Überreichen des Gastgeschenks.

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sie deshalb mit Sigurds Schwert Gram. Da Rodingeir nun selbst erst in den Besitz dieser Waffe gebracht werden mußte, ließ der Saga­ mann ihn unversehens bei der Verteilung der Abschiedsgeschenke in Werniza auftauchen. Es scheint sogar, daß der Sagamann nur wegen dieser Schwertgabe an Rodingeir die Verteilung der Abschieds­ geschenke in Werniza erfunden und eingeschoben h a t1. Die Anre­ gung dazu wird ihm letztlich die 'Ältere Not’ gegeben haben, in der Rüedeger demnach wie im NI. die Werbung Etzels durchführte und bei der Hochzeit anwesend war 1 2. Auch die auffällige Tatsache, daß Grimhild unter den Abschieds­ geschenken genannt wird und so als Gunnars Geschenk für Attila erscheint (279,1 ; Übs. S. 385), stellt eine Verbindung zum Abschied in Bakalar her. Dort gibt Rodingeir dem jungen Fürsten Giselher seine Tochter: þa gefr margreife sina dottur Gislher oc meler. Gode herra Giselher þessa mæy vil ek jber geva til eigin konu ef þv villt þiggia (294,3-5; Übs. S. 394). Zu dieser Formulierung kann den Sagamann die 'Ältere Not* verleitet haben; denn noch im NI. be­ kommt Giselher kein Abschiedsgeschenk, weil der Markgraf ihm die Tochter gab : Der wirt dö sine gäbe bot über al ê daz die edeln geste kœmen für den sal. er konde milteclîche mit grôzen êren leben. die sine tohter schœne die het er Giselher gegeben. (1694) Die 'Ältere N ot’ wird an dieser Stelle eine ähnliche Formulierung gehabt haben. Der Sagamann vergröberte sie, indem er den Hin­ weis darauf, daß Giselher das Kostbarste erhielt, was ein Vater zu vergeben hat, so auslegte, daß er die Frau einfach in die Gastge­ schenke mit einreihte. Diese vergröbernde Formulierung verwendete er auch bei der Überreichung der Gastgeschenke in Werniza: Attila erhält Grimhild als Gastgeschenk. 1 Vgl. auch sein Bestreben, andere Waffen Sigurds und dessen Roß in die Handlung zu verflechten (278,1—3 und 23—25). 2 Eine Bestätigung, daß Rüedeger in der 'Älteren N ot’ wie im NI. Etzels Werbung um Kriemhild vollzog oder doch zumindest bei der Werbung oder der Hochzeit anwesend war, bietet uns auch eine ganz andere Stelle. In der Eckeward-Episode der Saga bezeichnet Högni Rodingeir als den Freund der Niflungen (kann er varr vin. F y r þessv roedr varo lidi Gunnarr k o n u n g r... oc hans broedr. 2 9 0 ,8 -1 0 ; Übs. S. 392 ) . Das deutet auf eine vorangegangene per­ sönliche Begegnung Rodingeirs mit den Niflungen. Die kann innerhalb der Nibelungensage nur anläßlich der Werbung oder Hochzeit Etzels um bzw. mit Kriemhild stattgefunden haben.

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Der Einschub hier beim Abschied in Werniza verrät Beziehungen zur Bechlaren-Episode der 'Älteren Not’ . Das zeigt sich einmal in der eben besprochenen merkwürdigen Vorstellung, daß eine Frau auf einer Ebene mit den Gastgeschenken erscheint. Zum anderen besteht eine inhaltliche Verknüpfung, indem Rodingeir hier das Schwert Gram erhält, das er dann in Bakalar weiterschenken wird. Im NI. spielt der Gedanke, daß Kriemhild durch die Ehe mit Etzel die Möglichkeit zur Rache gewinnen könnte, eine große Rolle. Hagen rät im Hinblick auf diese Möglichkeit von der Annahme der Werbung ab, Kriemhild nimmt schließlich in der Hoffnung auf diese Möglichkeit Etzels Werbung an (1203-1212; 1255-1260). Im ersten Abschnitt der Saga finden wir keine Spur dieses Motivs. Hier ist vielmehr ein anderes wichtig: Attilas Macht bewirkt die Annahme der Werbung. Zunächst stellt Gunnar fest, daß die sach­ lichen Voraussetzungen so seien, daß man Attilas Werbung nicht abschlagen könne : attila konungr er madr rikr oc mikill hofdingi... }ha megom ver ei synia hanum þessa (276,24-277,2; Übs. S. 383). Högni weist auf den Nutzen hin, den sie selbst aus dieser Heirat ziehen können1; denn sie können dadurch eine weitere Steigerung ihrer eigenen Macht erhoffen (277,5.6; Übs. S. 384). Zum dritten Mal taucht dann dieses Motiv in Grimhilds Annahme der Werbung auf : En hvn seger at hon porer eigi at neitta attila konunge ser til manz. Sua er hann rikr konungr oc sua er fengit þess manz at reka hans erende. at helldr vill hon þessv iatta ef þat er rad Gunnars konungs hennar brodor (277,15-20; Übs. S. 384). - Eine merkwürdige Ant­ wort! Högnis Hinweis auf Grimhilds Eigen Willigkeit (fy r þvi at hennar skap er sua stort, at ei ma attila konungr oc enge annarra iverolldo hennar fa f yr uttan hennar vilia. 277,7-10) läßt ein ganz anderes Benehmen Grimhilds als diese fast demütige Bereitwilligkeit erwar­ ten. Was liegt hier vor? Es gibt zwei Möglichkeiten der Interpretation. Durch den fast übertrieben fügsamen Ton der Antwort soll Grimhilds Verschlagenheit zum Ausdruck kommen. Sie hat sofort gesehen, welch eine Möglichkeit der Rache ihr durch Attilas Werbung geboten wird, und sie beginnt, sich augenblicklich zu verstellen und vor Attilas Werber die verehrend, ja furchtsam Auf blickende zu spielen und der Eitelkeit des Werbers zu schmeicheln. Dahinter verbirgt sie ihre wahren Gefühle und Gedanken und den Plan, Attilas Macht 1 Das ist also genau entgegengesetzt zum NI., wo Hagen an den möglichen S c h a d e n denkt.

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für ihre Rache zu benutzen. Dafür könnte sprechen, daß das Kapitel der Saga mit dem Hinweis endet, daß Grimhild im Hunnenland jeden Tag ihren lieben Gatten Sigurd beweint. (279,5. 6. Übs. S. 385). Diese Interpretation setzt eine Kunst voraus, die das Tun und Sagen der Menschen so abzeichnet, wie es von außen gesehen wird, und die es doch so durchsichtig macht, daß der Leser ahnt, was in den einzelnen Gestalten der Dichtung vor sich geht; zumindest ahnt er, daß geheime Absichten, unausgesprochene Gefühle und Gedanken in ihnen verborgen sind, die zum Antrieb ihres Verhaltens werden. Eine zweite Möglichkeit der Interpretation ergibt sich, wenn man davon ausgeht, daß nicht bewußte Gestaltung vorliegt, sondern Flickarbeit des Sagamannes. Es passt nicht zu Högnis kaltem und berechnendem Charakter, daß ausgerechnet er darauf hinweist, daß man Grimhilds Einwilligung einholen müsse - aber es stimmt zum NI. daß Högni eine Verzögerung der Werbung und Einwilligung verursacht.Wenn Gunnar und Osid zu Grimhild gehen, so erinnert das an die Szenen des Nibelungenliedes, in denen Kriemhilds Brüder, der Werber und andere Personen zu ihr gehen, um sie zur Annahme der Werbung zu bewegen. Grimhilds Bemerkung, daß auch die Person des Werbers sie veranlasse, die Werbung anzunehmen, hat ihre Entsprechung im NI., wo Kriemhild nur deswegen bereit ist, Etzels Werber überhaupt zu empfangen, weil es sich um Rüedeger handelt : ,,Daz enwil ich niht versprechen“ , sprach daz vil edel wîp, ,,ich ensehe gerne den Rüedegêres lîp durch sine manige tugende. wær’ er niht her gesant, swerz ander boten wære, dem wser’ ich immer unbekant.“ (1221) So können wir in Högnis verzögerndem Einwand, dem Hingehen zu Grimhild und ihrer Behauptung, daß die Person des Werbers auf ihre positive Entscheidung Einfluß habe, eine Beeinflussung durch die 'Ältere Not* sehen. Wir müssen dann annehmen, daß der Saga­ mann an dieser Stelle gestaltend eingriff und gewisse Züge der 'Älteren N ot’ in seine sonst abweichende Darstellung einflocht. Dazu mag ihn das Bestreben veranlaßt haben, höfisches Leben und Benehmen zu schildern, das sich in der Rücksichtnahme der be­ troffenen Dame gegenüber äußert. Lehnen wir die Annahme einer solchen Beeinflussung durch die 'Ältere Not’ als zu ungewiß ab, dann müssen wir hier registrieren, daß die Werbung in Saga und NI. einige Elemente aufweist, die eine

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Analyse

gewisse Ähnlichkeit in beiden Texten zeigen, die aber so verschieden ausgestaltet, verwendet und in die Handlung verwoben sind, daß man sie nicht durch Abhängigkeit der Saga von der 'Älteren N ot’ erklären kann. Eine Entscheidung ist vorerst nicht möglich. 2. D ie v e r r ä t e r i s c h e E i n l a d u n g (Ths. II, 279,9-283,8; Übs. S. 385-387. NI. Str. 1387-1473). Wegen seiner Länge behandeln wir den zweiten Sagaabschnitt in der Analyse in drei Kapiteln und weichen damit von unserem Prinzip ab, die vom Sagamann geschaffene Einteilung auch in unserer Analyse beizubehalten. Der zweite Abschnitt der Erzählung vom Niflungenuntergang steht in der Saga unter der Überschrift : er attila konungr oc Grim illdr bioda heim Gvnari oc hœgna. Er umfaßt jedoch außer der verräte­ rischen Einladung auch die Beratung darüber und die Fahrt der Niflungen bis zur Ankunft in Bakalar. Im NI. beginnt die 23. Aventiure mit einigen hinführenden Strophen, die die Angabe des Zeitpunktes, eine Beschreibung von Kriemhilds Leben im Hunnenland und ihrer geheimen Absich­ ten und Gedanken enthalten. Dann entfaltet sich (ab Str. 1400) jene wichtige Szene, die in der Forschung als das 'nächtliche Gespräch’ oder das 'Bettgespräch’ bezeichnet wird. Wir wollen uns zu­ nächst den Aufbau des Gesprächs im NI. verdeutlichen. 1. Kriemhild wünscht zu wissen, ob Etzel ihren Verwandten wohlgeson­ nen sei (1401) ; 2. Etzel bejaht die Frage und sagt, daß er sich freue, wenn es ihnen gut geht(1402) ; 3. Kriemhild gesteht ihm daraufhin, daß es ihr schmerzlich sei, ihre Ver­ wandten nie zu sehen (1403) ; 4. Etzel schlägt eine Einladung vor (1404) ; 5. Kriemhild greift den Vorschlag freudig auf (1405) ; 6. damit ist für Etzel die Einladung beschlossen (1406), und er läßt Spielleute herbeiholen, die die Botschaft nach Worms bringen sollen (1407). Sehr ähnliches weiß die Saga zu berichten. Der Zeitpunkt ist zwar anders als im NI. (Ths. = nach sieben Wintern; NI. = im dreizehnten Jahr der Ehe mit Etzel, 1390,4)1; aber die Situation 1 Im NI. wird das siebente Jahr in der ersten Strophe der 23. Aventiure so hervorgehoben, daß man sicher die Zeitangabe der Saga auch für die 'Ältere N ot’ ansetzen darf.

Die verräterische Einladung

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ist gleich. Auch in der Saga wird das entscheidende Gespräch nachts im Bett geführt. Es verläuft in der Saga recht merkwürdig. Grimhild eröffnet es mit einem Satz, der zwei wichtige Punkte enthält : 1. es ist ihr schmerzlich, daß sie ihre Brüder nun schon sieben Jahre lang nicht mehr gesehen hat, 2. sie fragt, wann Attila die Niflungen einzuladen gedenke. Da­ nach nimmt das Gespräch eine unerwartete Wendung. Grimhild spricht von Sigurds Hort, der eigentlich ihr und damit Attila zustände : 1. Sigurd hatte mehr Gold als alle anderen Könige der Welt, 2. dieses Gold haben nun ihre Brüder, die ihr nichts davon geben, 3. es stände ihr aber zu, 4. wenn sie es hätte, würde Attila es mit ihr besitzen. Attila, der besitzgierigste aller Männer - wie die Saga ihn hier nennt (279,24.25 ; Übs. S. 385) - weiß, daß das wahr ist, was Grimhild sagt und þikkir illa er hann skal ei f a niflunga skatt (279,25.26; Übs. S. 385). Seine Antwort besteht zunächst in einer Aufzählung der verschiedenen Schätze Sigurds: 1. Gold des Drachen, den er erschlug, 2. Kriegsbeute, 3. Gold seines Vaters Sigmund. Diese Aufzählung schließt er mit der bedauernden Feststellung ab : en allz pessa m issum ver. en þo er gvnnarr konungr varr en kerste vin

(280,5.6; Übs. S. 385). Dann brechen diese Überlegungen ganz unvermittelt ab, und er antwortet auf Grimhilds das Gespräch eröffnende Frage, wann er die Niflungen einladen wolle: N v vil ek fr u , at þv bioder þeim e f pv vill heim þinvm broedrvm. E n n ekki vil ek til spara at bva pa veizlv sem

(280,6-9; Übs. S. 385). Wir haben hier zwei verschiedene, ineinandergeschobene Zu­ sammenhänge vor uns, die auf völlig verschiedenen Voraussetzungen beruhen. Der mit dem NI. übereinstimmende Zusammenhang Grimhild hintergeht Attila, indem sie Sehnsucht nach ihren Ver­ wandten heuchelt, und veranlaßt so die Einladung zum Fest - setzt ein Attilabild voraus, wie es uns das NI. zeigt. Etzel ahnt dort nichts von den Racheplänen seiner Frau und ist als ein so edel denkender Mann gezeichnet, daß es von vornherein aussichtslos erscheinen muß, ihn für die Rachepläne zu mißbrauchen. Daher kann Kriemhild ihn nicht einweihen und muß ihre wahren Gefühle verbergen. vegligast

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Analyse

Der andere Zusammenhang - Grimhild stachelt Attilas Goldgier an - braucht jene erheuchelte Sehnsucht nicht; denn das dafür vorauszusetzende Attilabild ist das des goldgierigsten aller Männer, der durchaus am Verrat aus Goldgier mitschuldig zu werden vermag. Die Frage, welcher Zusammenhang der 'Älteren Not* zuzuschrei­ ben sei, ist durch das Zeugnis des Nibelungenliedes leicht zu ent­ scheiden. Es ist der erste. Etzel war in der 'Älteren Not’ unschuldig am Untergang der Nibelungen, Kriemhild konnte es nicht wagen, ihre Pläne vor ihm aufzudecken - jedenfalls wagte sie es hier zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht. Später, vor Ausbruch der Kämpfe, scheint sie in der 'Älteren Not’ den Versuch unter­ nommen zu haben, Etzel als Rächer zu gewinnen (s.u. S. 129ÉF). Eine Bestätigung dafür, daß der Etzel der 'Älteren N ot’ am Burgundenuntergang unschuldig war, bietet uns die Saga. Högnis Worte nach dem Schlag des Attilasohnes sprechen es ganz deutlich aus, daß der König an den Racheplänen seiner Frau keinen Anteil hat: þetta heuer þu eigi gort med þinu rade, oc ei med rade attila konungs fadur þins. helldr er þetta eggian þinnar modur. (308,22309,2; Übs. S. 402). In der 'Älteren N ot’ war Etzel unschuldig und ahnungslos - jener andere Zusammenhang, der hier im nächtlichen Gespräch der Saga erkennbar ist, muß einer anderen Quelle ent­ stammen. Dort brauchte Grimhild nur Attilas Goldgier anzustacheln, um ihr Ziel zu erreichen. Dieser zweite, der 'Älteren Not’ fremde Zusammenhang ist in den der 'Älteren Not’ entstammenden hineingeschoben worden. Erst am Ende des Gesprächs geht Attila auf Grimhilds Frage ein, die das Gespräch eröffnete. Die beiden Nahtstellen sind noch gut er­ kennbar. Die erste liegt mitten in Grimhilds Rede (279,14). Nach­ dem sie zuerst Sehnsucht nach ihren Verwandten geheuchelt hat, spricht sie plötzlich von Sigurds Schätzen. Die zweite Nahtstelle befindet sich in Attilas Rede. Der Satz: en þo er gvnnarr konungr varr en kerste vin (280,5.6; Übs. S. 385) bildet die Überleitung vom hortlüsternen Attila zum ahnungslosen, der dem Wunsch seiner Frau durch eine Einladung an seine Schwäger entsprechen will. Der Sagamann hat versucht, die so unterschiedlichen Darstellungen seiner beiden Quellen einander anzugleichen. Da die Übereinstimmungen von Saga und NI. in dieser Szene recht groß sind, können wir uns die Frage vorlegen, wie die Szene wohl in der 'Älteren Not’ aussah. Zunächst bezeugen Saga und NI., daß als Zeitpunkt das siebente

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oder achte Jahr von Kriemhilds Aufenthalt im Hunnenland genannt w ar1. Ferner zeigen sie, daß der Beschluß, die Nibelungen einzu­ laden, in einem nächtlichen Gespräch Etzels und Kriemhilds gefaßt wurde. Wir hatten den Aufbau des Gesprächs im NI. analysiert (s.o.S. 33). In der Saga ist er - abgesehen von dem Einschub jenes fremden Zusammenhanges - nicht so fein ausgearbeitet. Wir sagten schon, daß Grimhild das Gespräch mit einem Satz eröffnet, der zwei wichtige Punkte enthält: sie heuchelt Sehnsucht nach ihren Ver­ wandten (Herra attila konungr þat er mikill harmr er a þessvm .vij. vetrvm hevi ek eigi hitta m ina hroedr) und sie fragt, wann Atilla diese einzuladen gedenke (hve ner villtv herra þeim heim bioda. 279, 11-14; Übs. S. 385). Das entspricht Str. 1403 und 1405 des Nibelungen­ liedes : Dö sprach diu küneginne: ,,iu ist daz wol geseit, ich hân vil höher mäge ; dar umbe ist mir so leit daz mich die so selten ruochent hie gesehen. ich hœre min di liute niwan für eilende jehen.“

(1403)

Si sô sô sô

(1405)

sprach: „weit ir mir triuwe leisten, herre mîn, sult ir boten senden ze Wormez über Rîn. enbiut’ ich mînen vriunden des ich dâ habe muot, kumt uns her ze lande vil manie edel ritter guot.“

Wenn man diese beiden Strophen so unmittelbar hintereinander liest, merkt man, daß sie - etwa an Str. 1400 angeschlossen - aus­ reichen würden, um den Sachverhalt klarzulegen. Und wenn man genau hinhört, dann erkennt man sogar, daß die anderen Strophen, die sich im NI. um diese beiden herumgruppieren, nicht gut zu ihnen passen. Str. 1401 mit der Floskel: Ihr sollt mir sagen, ob ihr meinen Verwandten wohlgesonnen seid, und Str. 1402 mit Etzels nichts­ sagender Antwort sind - rein inhaltlich gesehen - einfach über­ flüssig. Sie stören aber geradezu, wenn man den Anfang von Str. 1403 im Ohr hat : ... iu ist daz wol geseit12, ich hân vil höher m age. . . ; 1 Ths. : Oc er lidnir vorv .v ii. vetr. . . (279,9). NI. : . . . worden si m it ein ander u m an daz sibende jär (Str. 1387). V g l.o. S. 32, Anm . 1).

2 Darf man aus diesem Ausdruck schließen, daß Etzel die Nibelungenkönige noch nie sah? Wenn das so schon in der 'Älteren N ot’ stand, dann hätten wir hier einen Hinweis darauf, daß in der 'Älteren N ot’ die Hochzeit im Gegensatz zur Saga (s. o. S. 27) nicht in Worms und nicht im Beisein der Brüder stattfand, also ähnlich wie im NI.

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das ist typischer Gesprächsbeginn, bei dem das Stichwort möge zum erstenmal zu fallen scheint. Aber vorher in Str. 1401 ist zwar nicht von den mågen, jedoch von den vriunden bereits gesprochen worden. - Ähnlich ist es mit Str. 1404. In dieser macht Etzel den Vorschlag, die Nibelungen einzuladen. Die Formulierung: weit ir mir triuwe leisten, herre min, sô sult ir boten senden ze Wormez über R in ... läßt aber durchaus vermuten, daß ursprünglich Kriemhild mit diesen Worten der Str. 1405 als erste den Vorschlag machte. In der 'Älteren Not’ begann demnach das Gespräch wie in der Saga mit Grimhilds Klage über das lange Fernsein ihrerVerwandten. Daran schloß sich sofort Grimhilds Vorschlag, die Nibelungen zu einem Fest einzuladen. Im NI. hat diese ehemalige Anordnung ihre deut­ lich erkennbaren Spuren hinterlassen. A uf die zwei vermuteten Kriemhild-Strophen (wenn wir uns Heuslers Vorstellungen zu eigen machen, daß die 'Ältere Not’ auch schon in der Strophenform des Nibelungenliedes abgefaßt war, werden sie recht ähnlich wie 1403 und 1405 des Nibelungenliedes ausgesehen haben) folgte wahr­ scheinlich Etzels Antwort, die wir teilweise in Saga und NI. wieder­ finden können. Ths. : Nv vil ek fru at þv bioder þeim ef þv vill heim þinvm brædrvm. Enn ekki vil ek til spara at bva þa veizlv sem vegligast. = NI.: swenne ir gebietet, sô lâzet ez geschehen... (1406). In beiden Fällen beauftragt Attila Grimhild mit der Ausführung des Beschlusses. Das in der Saga das Gespräch beschließende Versprechen Attilas, das Fest so schön wie möglich auszugestalten, hat im NI. keine Parallele ; denn dort schließt sich an Etzels Zusage sogleich die Be­ sorgung der Boten an. Der Dichter des Nibelungenliedes hat offen­ bar vergessen, daß das Gespräch in der Nacht zu denken ist, wenn er Etzel befehlen läßt, daß die videlcere sä zehant zu ihm kommen sollen (1407,4). Das bestätigt auch die Strophe 1408: Si Uten harte balde da der künec saz bi der küneginne. Ihm schwebte bei diesen Worten wohl kaum noch die Szene im Schlafgemach vor. In der Saga geht das nächtliche Gespräch nicht sogleich in die Botenaussendung über. Erst kurze Zeit später ruft Grimhild die Boten zu sich (280,10.11; Übs. S. 385). Vielleicht hält die Saga sich damit enger an die Darstellung der 'Älteren Not’ als das NI. Der Sagamann hat also bei der Darstellung des nächtlichen Ge­ sprächs die 'Ältere Not’ besser bewahrt, als es der Dichter des Nibelungenliedes tat, der aus der kurzen Szene seiner Vorlage ein umfangreicheres Wechselgespräch formte. Es muß ihm daran gelegen

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haben, eine längere Steigerung herauszuarbeiten, die von einem ersten vorsichtigen Tasten über die Klage der Sehnsucht nach den Verwandten zum Vorschlag und schließlich zum Beschluß der Ein­ ladung führt. Außerdem scheint ihn die Freude an der strophen­ weise wechselnden Rede, in der sich diese Steigerung gut anlegen läßt, dazu veranlaßt zu haben, den einfachen Bau der alten Szene abzuändern (zwei Kriemhild-Strophen sprechen von der Sehnsucht nach den Verwandten und dem Vorschlag, sie einzuladen, eine EtzelStrophe bringt die Zustimmung). Konnten wir hier ein Stück der 'Älteren N ot’ so deutlich fassen, daß wir sogar einen Rekonstruktionsversuch wagen durften, so ist die Frage nach der dichterischen Gestalt jenes anderen, der 'Älteren Not’ fremden Zusammenhangs mit dem Appell an den goldgierigen Attila nicht zu beantworten. Er ist in der Saga in die Form des Gesprächs gefasst ; aber das kann das Werk des Saga­ mannes sein, der die Form der 'Älteren Not’ (Gesprächs-Szene) zur Grundlage seiner ganzen Szene machte. Wenn jedoch in der zweiten Quelle Attilas Goldgier von sich aus, ohne Grimhilds Anstachelung, den Beschluß der verräterischen Einladung veranlaßt hätte, dann hätte der Sagamann das auch in dieser Weise darstellen können. So können wir doch für die zweite Quelle die Aufreizung der Goldgier durch Grimhild vermuten. Zwischen das nächtliche Gespräch und die Übermittlung der Einladung schiebt sich ein kleiner Zwischenteil, der die Aussendung der Boten schildert. Wir sagten schon, daß im NI. der unvermittelte Übergang des nächtlichen Gesprächs in die Szenen der Botenaussendung auffällt, und daß wir der 'Älteren Not’ eher die Anordnung der Saga Zutrauen, in der beide Szenen deutlich getrennt sind. Die Botenaussendung ist im NI. in zwei Auftritte geteilt : zunächst gibt Etzel seine Befehle und setzt den Termin fest (1408-1413), dann spricht Kriemhild im Geheimen mit den Boten (1413,21419). In der Saga beauftragt allein Grimhild die Boten. Das ent­ spricht genau Attilas Befehl: Nv vil ek fru at þv bioder þeirn ef þv vill heim þinvm brœdrvm (280,6.7; Übs. S. 385). Diese Worte stim­ men - wie wir schon feststellten - mit denen Etzels im NI. überein : ,,swenn ir gebietet, sô läzet ez geschehen...“ (1406,l ) 1. Das deutet darauf hin, daß in der 'Älteren Not’ Kriemhild allein die Boten 1 Vgl. de BoorsAnmerkung zu dieser Stelle: „so — geschehen, so veranlaßt das Nötige.“

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abfertigte. So finden wir es auch in der Saga1. Die doppelte Beauf­ tragung durch Etzel und Kriemhild ist das Werk des letzten Epikers, der es nicht unterlassen wollte, die Befehlsgewalt des Königs heraus­ zustellen. In der Saga heißt es, daß Grimhild zwei Männer zu sich kommen läßt, denen sie ihren Auftrag sagt ( . .. oc seger peim sin erende). An diesen einfachen Aussagesatz schließt sich eine indirekte Rede: oc seger peim sin erende. at hon vil senda pa i niflvngaland. Plötzlich wird der Satz jedoch in der direkten Rede weitergeführt und damit die ganze Satzkonstruktion durcheinandergebracht: oc seger peim sin erende. at hon vil senda pa i niflvngaland at reka m i t t erende

(280,11-13). Die Handschriften A und B versuchen, diesen Fehler auszumerzen. Hs. A läßt at reka m itt erende weg, Hs. B rettet die Satzkonstruktion und ändert die direkte in indirekte Rede um: ai reka henna erinde (280, Anm. 13). Wie konnte es zu diesem Fehler kommen? Wir wollen zunächst die direkte Rede herauslösen. Der Text lautet: ... at reka m itt erende. en til pessar farar skal ek y kr bva m ed gulli oc silfri oc godum klædum . oc godum hestvm (280,12-14; Übs. S. 386). Den Boten wird angekündigt, daß sie eine Botschaft über­ bringen sollen, und es wird ihnen versprochen, daß sie für diese Fahrt herrlich ausgestattet werden sollen. Dieselbe Zweiheit finden wir in Str. 1414 des Nibelungenliedes: Si sprach zen boten beiden: ,,nu dienet michel guot, daz ir mînen willen vil güetlîchen tuot, und saget swaz ich enbiete heim in unser lant. ich mache iuch guotes riche unt gibe iu hêrlîch gewant. Während in der Saga deutlich von einer wertvollen Reiseausstattung die Rede ist, läßt die letzte Zeile der Str. 1414 des Nibelungenliedes eher an eine Belohnung denken, die den Boten zuteil werden soll. Doch Str. 1421 zeigt, daß es sich auch hier um den ,,Zehrpfennig“ und die prachtvolle Kleidung als Abgesandte des Hunnenkönigs handelt (s i fu oren guotes riche und mohten schöne leben. . . . i n was von guoter wœte wol gezieret der Up). 1 Eine kleine Beobachtung mag ergänzend hinzukommen. Str. 1414 könnte gut ihrem ganzen Tenor nach der Beginn der Botenbeauftragung in der 'Älteren N ot’ gewesen sein. Die jetzt im NI. an der entsprechenden Stelle stehende Strophe (1410), die also Etzels Auftrag einleitet, weist - bis auf die letzte Zeile —dieselben Reimworte wie 1414 auf. Sie kann also der alten A n ­ fangsstrophe nachgebildet sein. Für das Vorhandensein des Inhalts von Str. 1414' in der 'Älteren N ot’ zeugt die Saga (s.u. S. 39f.).

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Durch die enge Übereinstimmung von Saga und NI. können wir also den Inhalt der Str. 1414 des Nibelungenliedes als Bestandteil der 'Älteren Not’ erschließen. Der Sagamann nahm diese Stelle der 'Älteren Not’ in sein Werk auf und setzte - im Anschluß an die 'Ältere Not’ in die direkte Rede übergehend - mitten in einem schon begonnenen Satz mit seiner Wiedergabe des Textes der 'Älteren N ot’ an. Dabei zerstörte er versehentlich die Konstruktion seines schon begonnenen Satzes. Es erscheint verwunderlich, daß wir die Arbeit des Sagamannes an dieser Stelle so genau verfolgen zu können meinen und daß wir ihm eine solch primitive Arbeitsweise Zutrauen sollen. Wir können aber an anderen Stellen ähnliche Dinge beobachten und müssen diese Fälle zunächst konstatieren. Wenn es stimmt, daß wir in jenen Worten Grimhilds, die in direkter Rede wiedergegeben sind, einen Rest der 'Älteren Not’ zu sehen haben, dann fragen wir uns natürlich, ob das Vorhergehende einer anderen Quelle entnommen sein kann. Die Aussage, daß Grimhild zwei Männer zu sich befiehlt, die als Boten vorgesehen sind, ist zu allgemein, als daß man daraus inhaltliche quellenkritische Folgerungen ziehen könnte. Ebenso ist es mit dem abschließenden Satz : Nv byr honfœrd þeirra hveria leid er hvn ma vegligast (280,1618; Übs. S. 386), der auch keine direkte Parallele im NI. hat. - Wir werden die soeben untersuchte Sagastelle am besten in folgender Weise beurteilen : in einen Erzählzusammenhang, dessen Wortlaut entweder vom Sagamann selbst - vielleicht stark kürzend an die 'Ältere Not’ angelehnt - oder aus einer anderen Quelle als der 'Älte­ ren Not’ stammt, sind Worte aus der 'Älteren Not’ eingefügt worden. Dadurch wird die Darstellung breiter und lebhafter, als es der An­ lage des bereits begonnenen, dann verändert weitergeführten Satzes entsprechend zu erwarten wäre. Die Saga bezeichnet die Boten als men oder sendmen (280,11 ; 280,19; 280,22; 281,1), an einer Stelle jedoch sind sie leicmen (280,15), also Spielleute wie im NI., und zwar sagt die Saga þesser leicmen, so als ob sie schon zuvor erwähnt worden wären. (z.B. 1407,3.4). Diese eine Stelle befindet sich ausgerechnet unmittelbar nach jenen durch das Zeugnis des Nibelungenliedes (1414) für die 'Ältere Not’ erschlossenen Worten Grimhilds. Daraus lassen sich zwei Folgerungen ziehen: 1. Auch in der 'Älteren Not’ waren die Boten Spielleute. So erklärt sich auch die Ungewöhnlichkeit, daß noch im NI. einfache videlœre die Einladungsbotschaft des Hunnenkönigs an

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die Nibelungenkönige überbringen1. 2. Da die Saga nur hier, wo Einfluß der 'Älteren Not’ sicher ist, von leicm en spricht, sonst aber von m en oder sendm en, kann das bedeuten, daß sie die einfache Angabe ,,zwei Männer“ aus der anderen Quelle entnahm. Aber auch diese Diskrepanz erscheint zu unbedeutend, als daß sie eine sichere Auskunft über die Benutzung verschiedener Quellen geben dürfte 1 2*. Die Saga schließt diesen kurzen Zwischenteil mit den Worten : oc (O rim hildr) fœ r þeim bref oc innsigli. attila konungs oc sitt (280,17. 18; Übs. S. 386). Ebenso schließt im NI. die Botenbeauftragung mit einer Strophe, deren erste Zeile lautet : B rieve unde botschaft was in nu gegeben (1421,1). Die Boten erfuhren von Etzel und Kriemhild, was sie den Nibelungen mündlich ausrichten sollten8. Zusätzlich wurden ihnen noch Briefe, schriftliche Dokumente mitgegeben. Im NI. spielen die Briefe bei der Übermittlung der Botschaft keine Rolle. Wärbel und Swämmel richten die Einladung mündlich aus (1440ff.). Auch in der Saga tritt einer der beiden Boten vor und spricht {Oengr f y r Ounnar konung oc melUe. 281,3); aber dann heißt es, nachdem der Wortlaut der Botschaft gegeben wurde: þa er konungr gvnnarr hever l e s i t þ e t t a b r e f (281,19.20). Auch die Botschaft selbst ist ganz im lateinischen Briefstil gehalten und unterscheidet sich dadurch in der Form deutlich von der mündlichen Botschaft des Nibelungenliedes (vgl. NI. 1447-1448). Wir können uns diesen Widerspruch in der Saga4*am besten durch die Verwendung zweier Quellen erklären. Der Sagamann begann die Übermittlung der Ein­ ladung nach der 'Älteren Not’ zu erzählen. Sicher wollte er seinen Lesern das kleine Genrebild höfischen Lebens nicht vorenthalten: der Bote tritt vor den König und richtet, vor ihm stehend, seinen 1 Vgl. de Boors Anmerkung zu 1407,3 und 1409,1. 2 Die Hss. A und B haben den Widerspruch bemerkt und wenigstens an einer Stelle gebessert. Statt ,ij. men schreiben sie fimm leikmen (280, Anm . 12) Diese Stelle befindet sich übrigens v o r jener einzigen, in der die Membran von leicmen spricht. Das deutet auf bewußte Bearbeitung. 8 Es ist wiederum bezeichnend für das Verhältnis der Strr. 1410 und 1414 des Nibelungenliedes (s. o. S. 37f. ), daß in 1414 klar gesagt wird : . . . und saget swaz ich enbiele heim in unser lard. In Str. 1410 ist die Formulierung viel unklarer : . .. ich sage iu ude ir tuot. ich enbiute minen vriunden liep und allez

guot.,. 4 Die Ils. B hat den Widerspruch bemerkt und bessert das mellte in: sýner honum brefcd, hann tekur vid brefenu og les, enn so seiger þesse bref (281, Anm . 3).

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Auftrag aus. In der Wiedergabe der Botschaft selbst und der Be­ schreibung von Gunnars Reaktion folgte er der zweiten Quelle. Wir wollen jetzt den Inhalt dieser Einladungsbotschaft unter­ suchen. Sie beginnt in der Saga mit einer Anrede, die - wie die ganze Botschaft - lateinischem Briefstil entspricht: A ttila konungr a f Susa oc hans drottning Grim hilldr sender que dio Gunnare konunge i vernizv oc hans brodor hogna oc Gernorz. oc Gislher oc alium þeirra vinum

(281,3-7; Übs. S. 386). Es fällt auf, daß Högni vor Gernoz und Giselher genannt wird, ja ursprünglich wollte der Saga­ mann anscheinend nur ihn allein nennen; denn er gebrauchte den Singular brodor, den die Hss. A und B in den Plural verbessern: brcedrum (281, Anm. 7).1 Der erste Satz spricht dann von der Einladung til veizlu oc vinattu (281,8); aber danach ist von ganz anderen Gründen, derentwegen die Nif lungen in Attilas Land reisen sollen, die Rede: sie sollen die Verwaltung des Reiches übernehmen. Von einem beabsichtigten Fest fällt kein Wort mehr (281,9-19; Übs. S. 386). Dieses zweite Motiv kennt das NI. nicht, dort wir die Einladung zur hôchgezît lediglich mit Etzels und Kriemhilds Sehnsucht nach ihren Verwandten und Freunden begründet (1440-1449). Wir müssen das Nebeneinander der beiden Motive in der Ein­ ladungsbotschaft der Saga wieder - wie schon beim nächtlichen Gespräch - von zwei verschiedenen Zusammenhängen und Voraus­ setzungen her verstehen. - Das erste Motiv, die Einladung zu Fest und Freunschaft, ist ganz folgerichtig und klar aus dem voran­ gehenden nächtlichen Gespräch entwickelt ; denn dieses endete mit Attilas Versprechen, er wolle da« beschlossene Fest so herrlich wie möglich gestalten (s.o.S. 36). Wir sagten, daß dieser durch Grimhilds erheuchelte Sehnsucht verursachte Beschluß das Attilabild der ‘Älteren Not’ , nämlich den unschuldigen, von seiner Frau hintergangenen Etzel voraussetzt. Das zweite in der Einladungsbotschaft der Saga enthaltene Motiv, Attila sei alt und hinfällig und könne sein Reich nicht mehr selbst regieren, ist eine Lüge, und daraus muß man eigentlich schließen, daß Attila selbst diesen Vorwand erfand, oder zum mindesten billigte ; denn sofort bei der Ankunft der Nif lungen in Susat würde diese Lüge ja offenbar, wenn sie allein von Grimhild, ohne Attilas Wissen, ausginge. So setzt also dieses Motiv das Bild des mitschuldi­

G uds oc sina

1 F. Erichsen hat diese Verbesserung in die Übersetzung übernommen (S. 386).

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gen Attila voraus, wie wir es ebenfalls im nächtlichen Gespräch angedeutet fanden. Man kann dieses Motiv, daß Grimhild ihre Brüder durch die Aussicht auf die Verwaltung des Hunnenlandes nach Susat lockt, noch weiterhin anknüpfen: der Beweggrund für die Annahme von Attilas Werbung um Grimhild war, so sahen wir (s. o. S. 30), der Respekt vor Attilas Macht oder - bei Högni - die Hoffnung auf eigene Machtsteigerung durch die Verbindung mit diesem mächtigen Herrscher. Grimhild (oder Attila selbst) aber benutzt hier in der Einladungsbotschaft diese Macht als Lock­ mittel für ihre Brüder. Vielleicht weiß sie, daß das seine Wirkung nicht verfehlen wird, da sie das Machtstreben ihrer Brüder kennt. Unsere Analyse hat also ergeben, daß in dem Einladungsbrief der Saga das aus der Älteren Not stammende Motiv, Einladung zu Fest und Freundschaft, nur kurz auftaucht, während der Hauptinhalt, der Antrag, die Verwaltung des Hunnenlandes zu übernehmen, einer anderen Quelle zu entstammen scheintx. Die letzte der zur verräterischen Einladung gehörenden Szenen ist die Beratung über die Annahme oder Ablehnung dieser Ein­ ladung. Im NI. zeichnet sich die Szene wiederum durch einen sehr schönen Aufbau aus : 1. die besten raten zur Annahme (1458); 2. Hagen allein rät ab, wir mugen immer sorge zuo Kriemhilde kan (1459); 3. Günther weist dagegen auf die Versöhnung mit Kriemhild hin (1460) ; 4. Hagen warnt dennoch: ja ist vil lancrœche des künic Etzelen wip (1461); 5. Gernot greift ein: die Nibelungen können nicht - nur weil Hagen (mit Recht) den Tod fürchtet - den Besuch unterlassen (1462); 6. Giselher geht noch einen Schritt weiter und schlägt vor, Hagen solle zu Hause bleiben und sich wol bewarn (1463) ; 7. Hagens zornige Antwort: er reitet mit (1464); 8. der Küchenmeister Rumolt rät, daß sie daheim bleiben sollen (1466 bis 1469); 9. Gernot weist diesen Rat zurück (1470); 10. Hagen rät, wenn schon die Fahrt unternommen werden soll, dann aber gewappnet und mit tausend Rittern (1471/72); 11. der Vorschlag wird von Günther angenommen (1473). In der Saga ist dieser klare Aufbau der Beratungsszene nicht vorhanden. Es zeigen sich aber dennoch Übereinstimmungen mit1 1 Natürlich kann die zweite Quelle darüber hinaus auch zu einem Fest eingeladen haben.

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dem NI., und wir wollen, um uns die Analyse zu erleichtern, neben den Sagatext die entsprechenden Stellen des Nibelungenliedes set­ zen. (Ths. 281,21-283,7) 1. Eröffnung. hann berr vpp þetta mal oc leitar rads vid þa hverso hatta skal. 2. Högni: þat kan vera herra at þér vilit fara i Hunaland at heimbode pins mags attila konungs en med þvi at þu farer i Hunaland þa mantu eigi aptur koma oc enge sa er per fylgir. fyr þvi at grimhilldr er utru kona oc vitr. oc rna vera at hvn se isvikvm um oss. 3. Gunnar: Attila konungr minn magr hever mer ord sent med vinattv at ek skal koma til hunalands oc fara þesser menn med sannendvm. en þat er pitt rad hogni at ek skal ei fara. en petta rad gefr þu mer epter þvi sem þin moder gaf minum fedr er hvert sinni var verra et sidarra en et fyrra. Nv vil ec pat eigi af þer þiggia. Nv skal ek at sonno i hvnaland oc venter mik at ek kome aptr epter minvm vilia, oc adr en ek fer af hvnalande man allt hvnaland gevit i mitt valid, en þv hogne fylg mer ef þv villt. en ella sit heima. ef þv porer ei at fara.

NI 1461,3.4 ir muget då wol Verliesen die ère und ouch den lip : jâ ist vil lancræche des künec Etzelen wîp.

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4. Högni: ei melir ek þetta fyr þvi at ek mvni vera ræddare um mitt lif en þv skallt vera vm þitt. oc ei þikki mer verra at beriaz en þer skal þickia. en at sonnv rna ek þer þat segia ef þv ferr i hvnaland hvart er þv ferr med marga menn eda fa engi þeira kemr aptr lifs i niflungaland. en ef þu vill fara i hvnaland þa vil ek epter sitia. eda mantv ei Gvnnarr konungr hversv ver skilldvmz vid sigurd svein, en med þvi at þv mant ei. þa veit ec þann mann i hvnalande er mvna skal. en þat er grimhilldr var systir oc hon skal vist þic aminna þa er þv kemr i Susa. 5. Gunnar: þottv ser sva rædr fyr þinni systvr Grimhilldi at fyr þa skylid þorer þv ei at fara. þa skal ek fara ei at sidr.

NI 1459 Nu ist iu doch gewizzen waz wir haben getan, wir mugen immer sorge zuo Kriemhilde han, wand’ ich sluoc ze töde ir man mit miner hant. wie getorste wir geriten in daz Etzelen lant“ ? NI 1463 (Gîselhêr) ,,sît ir iuch schuldec wizzet, friunt Hagene, sô sult ir hie belîben unt iuch wol bewarn, ...

Wir sehen, daß sich Übereinstimmungen mit dem NI. zunächst in Högnis Worten finden, mit denen er die Beratung eröffnet, dann erst wieder im zweiten Teil von Högnis Entgegnung auf Gunnars Vor­ wurf und in Gunnars abschließenden Worten. In dem dazwischen liegenden Teil, der Gunnars Vorwurf und den ersten Teil von Högnis Antwort enthält, sind keine Übereinstimmungen mit dem NI. fest­ zustellen. Es zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß die mit dem NI. übereinstimmenden Stellen einen fortlaufenden Zusammenhang bilden, in den sich ein anderer, ebenfalls in sich geschlossener Zusammenhang hineinschiebt. Der erste, mit dem NI. übereinstimmende Zusammenhang hat folgenden Inhalt: Högni warnt vor der Fahrt ins Hunnenland. Er prophezeit, daß weder Gunnar noch einer seiner Begleiter von einem

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solchen Unternehmen zurückkehren werde ; denn Grimhild, die utru Jcona würde ihnen den Untergang bereiten. ... Wenn Gunnar nicht mehr daran denke, was die N if lungen Jung Sigurd antaten, so denke doch Grimhild bestimmt noch daran. Gunnar antwortet darauf, daß Högni zu Hause bleiben solle, wenn er sich Grimhild gegenüber schuldig fühle und deshalb nicht mitzuziehen wage. Er selbst wolle die Reise auf jeden Fall unternehmen. Wenn wir die in der Saga wiederkehrenden Stellen des Nibelungen­ liedes zusammenfügen und sie genauso anordnen, wie sie in der Saga erscheinen, ergibt sich der oben beschriebene Zusammenhang : ,,Nu lat iuch niht betriegen“ , sprach Hagene, ,,swes si jehen, die boten von den Hiunen. weit ir Kriemhilde sehen, ir muget da wol Verliesen die ère und ouch den lip : ja ist vil lancræche des künec Etzelen wip. (1461) Nu ist iu doch gewizzen wir mugen immer sorge wand’ ich sluoc ze töde wie getorste wir geriten

waz wir haben getän. zuo Kriemhilde hän, ir man mit miner hant. in daz Etzelen lant?“

Do sprach der fürste Gîselhêr zuo dem degene : „sit ir iuch schuldec wizzet, friunt Hagene, sô sult ir hie beliben unt iuch wol bewarn,, und lazet, die getürren, zuo miner swester mit uns varn.“

(1459)

(1463)

Str. 1461 enthält Hagens allgemeine Warnung vor der Fahrt ins Hunnenland, die Prophezeiung, daß keiner zurückkommen werde, die Begründung für diese Meinung : Krimhilds Streben nach Rache. Str. 1459 gibt die nähere Begründung, warum eine Rachetat zu befürchten ist : Siegfrieds Ermordung. Str. 1463 enthält die Antwort auf diese Rede Hagens. Hagen soll zu Hause bleiben, wenn ihn die damals begangene Schuld so drückt, daß er nicht mitzufahren wagt. Der eine Zusammenhang der Saga, den wir oben herausarbeiteten, läßt sich also im NI. wiederfinden. Ein Unterschied besteht nur darin, daß in der Saga Gunnar, im NI. Giselher Hagen die entschei­ dende Antwort erteilt. In der 'Älteren Not* wird diese zurecht­ weisenden Worte wohl Günther, der König, gesprochen haben. Es ist wieder eine der Stellen, wo das NI. den jungen Königsbruder aktiviert. Giselhers Entschluß zur Mitfahrt, der in 1463 implizite gegeben ist, fiel in der 'Älteren Not’ erst etwas später (s.u. S. 53).

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Wir können durch die enge Übereinstimmung von Saga und NL wieder ein kleines Stück des Inhaltes der 'Älteren Not* zurückge­ winnen, und wir haben ihn uns ganz ähnlich vorzustellen wie das, was in den Strophen 1461, 1459 und 1463 des Nibelungenliedes (in di es er Reihenfolge!) enthalten ist. In der 'Älteren Not* folgte also den zwei Hagenstrophen mit der Warnung und ihrer Begründung eine Günther-Strophe, in der die Antwort auf die Warnung und der Entschluß zur Fahrt mitgeteilt werden. Mit dieser Abfolge 'zwei Hagenstrophen + eine antwortende Guntherstrophe’ gewinnen wir dasselbe Schema der Gesprächseinleitung, das wir schon beim nächtlichen Gespräch für die 'Ältere Not* erschließen konnten (s.o.S. 36). Auch hier in der Beratungsszene macht sich demgegen­ über das Bestreben des Dichters des Nibelungenliedes bemerkbar, die Steigerung des Gesprächs zu fördern oder erst zu schaffen, indem Rede und Gegenrede Strophenweise wechseln. Der zweite Zusammenhang, der sich in diesen ersten, der 'Älteren Not’ entstammenden, hineinschiebt, sieht so aus : gleichsam zur Er­ öffnung berichtet Gunnar, was geschehen ist. Er stellt dann fest, daß Högni von der Annahme der Einladung abrät. Diesen Rat vergleicht er mit dem, den Högnis Mutter seinem ( = Gunnars) Vater gab, nennt ihn schlecht und lehnt ihn ab. Sein Entschluß steht fest, er will ins Hunnenland ziehen und es gewinnen. Högni mag tun, was er will, mitziehen oder - wenn er es nicht wagt - zu Hause bleiben. Den darin enthaltenen Vorwurf der Feigheit weist Högni zurück und prophezeit, daß alle den Tod im Hunnenland finden werden. Er ist entschlossen, sich nicht an der Fahrt zu beteiligen h In diesem zweiten Zusammenhang sind grundlegende Unter­ schiede zum NI. zu beobachten. 1. Grimhild, ihre möglichen Racheabsichten, Sigurds Ermordung und die daraus erwachsene Schuld werden nicht erwähnt. 2. Högni wird unedle Abstammung vorgeworfen. 3. Gunnar glaubt, daß er das Hunnenland in seine Gewalt bekom­ men kann und ist deswegen zur Reise entschlossen. 4. Högni entschließt sich, n i c h t mitzufahren.1 1 So steht es jedenfalls in der Membran. Die Hss. A und B ändern, dem Ausgang der ganzen Beratung entsprechend, indem sie ceigi einsetzen. Aber wenn Högni hier schon seine Teilnahme zusagt, haben die darauf folgenden Worte Gunnars keine Berechtigung mehr. Der Satz ist also in der Membran richtig überliefert: en ef þu vill fa ra i hvnaland þa v i l ek e p l e r sitia (282, 23. 24, dazu Anm. 23).

Die verräterische Einladung

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Punkt 1 und 3 stellen sich zu den Beobachtungen, die wir im ersten Abschnitt bei der Annahme der Werbung Attilas und dann bei der Beratung Grimhilds und Attilas über die Einladung machten: es schält sich immer deutlicher eine Erzählung vom Burgundenuntergang heraus, in der von Sigurds Tod und Grimhilds Racheplänen - jedenfalls der Saga nach - gar nicht gesprochen wird, in der diese beiden Motive, die im NI. von hervorragender, ja fast ausschließ­ licher Bedeutung für den Untergang der Nibelungen sind, ganz un­ betont zu sein scheinen. Dafür steht aber das Gegenspiel von Attilas Goldgier und dem Machtstreben der Niflungen - so zeigt es die Saga - sehr deutlich im Vordergrund. Grimhild weiß das eine wie das andere für ihre Absichten zu nutzen. Punkt 2 und 4 sind schwieriger zu beurteilen. - In der Saga wird von Högnis Abstammung und Geburt ausführlich erzählt (I, 319322 und 323) ; aber dort hat er einen anderen Vater als die Niflungen, hier an unserer Stelle jedoch eine andere Mutter1. Man beurteilt diesen Widerspruch gern so, daß man in dem Vorwurf, Högni sei ein Kebsensohn, die ‘Ältere Not* zu erkennen glaubt, während die andere Version, Högni sei ein Albensohn, vom Redaktor erfunden wurde, um Högnis Geburt und Wesen geheimnisvoll zu machen 1 2. Auch wenn man umgekehrt den Albensohn der 'Älteren Not* zuschreibt3, und dann an dieser Stelle einen Irrtum des Sagamannes vermutet, bleibt doch das Ausschlaggebende dieser These bestehen, daß nämlich der Hagen der 'Älteren Not’ der Halbbruder der Nibe­ lungen war 4. Gegen diese These melden sich gerade von unserer hier bespro­ chenen Szene aus einige Bedenken an, die nicht unerwähnt bleiben sollen. - Wir wollen davon absehen, daß der Vorwurf der unedlen Geburt in dem Zusammenhang steht, den wir nicht der 'Älteren Not’ zuweisen. Er könnte aus der 'Älteren Not’ dort hineingesetzt worden sein. In dem der 'Älteren Not’ entstammenden Zusammenhang er­ öffnet Högin die Beratung mit folgenden Worten : kan vera herra. 1 Die Hs. A hat diesen Widerspruch bemerkt und verbessert: þinn fa der gaf minne maedur (202, Anm . 11); aber an der kurz darauf folgenden Stelle (283,8)

versäumt sie das. Im Original hat also sicher der Vorwurf Högnis M u t t e r gemeint. 2 Vgl. H . Schneider, Germanische Heldensage I, S. 96. 3 Vgl. A . Heusler, Nibelungensage, S. 53. 4 Über Högnis Abstammung vgl.u. S. 178ÍF. und S. 244ff.

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Analyse

at p er v ilit fara i Hunaland. Es ist zumindest auffällig, daß Högni seinen Halbbruder mit 'Herr’ und in der 2. PI. anredet. Das finden wir nur noch an einer anderen Stelle in der Erzählung vom Unter­ gang der Niflungen (s. u. S. 88) ; auch hier wird gleich darauf wie­ der das gewöhnliche 'Du* und die Anrede 'Gunnar konungr gewählt. Die Anrede 'Herr* und der Gebrauch der 2. PI. entsprechen genau Hagens Verhalten gegenüber seinem König im NI. (vgl. 1458. 1459). Das könnte dafür sprechen, daß Hagen schon in der 'Alteren Not’ wie im NI. der entfernte Verwandte der Könige war, der sich als Vasall fühlte und benahm. Im NI. erfolgte Hagens Entschluß zum Mitfahren - er hatte nie davon gesprochen, daß er zu Hause bleiben wolle - als zornige Reaktion auf Giselhers Vorschlag, er solle zu Hause bleiben, wenn er Angst habe. In der Saga erfolgt auf diesen Vorschlag, der hier von Gunnar gemacht wird, gar nichts; Högni antwortet nicht darauf. Die Erzählung setzt vielmehr plötzlich ganz neu an und bezieht sich auf jene beleidigende Zurückweisung von Högnis Warnung mit der Anspielung auf seine unrechtmäßige Geburt : Hogna verdr nv hermt vid er sva opt er i brigzli fært hans moderne (283,7.8; Übs. S. 387). Der folgende Satz bringt schon etwas ganz Neues, nämlich die Vor­ bereitungen zur Fahrt ins Hunnenland, die damit beginnen, daß Högni Folker Befehle erteilt, aus denen hervorgeht, daß er an der Reise teilnehmen wird. Nehmen wir einmal an, es sei auch in der 'Älteren Not’ so gewesen, daß Hagens Entschluß zur Mitfahrt die zornige Reaktion auf den Vorschlag gewesen sei, doch zu Hause zu bleiben, wenn er nicht mitzufahren wage. Der Sagamann hat also entsprechend der 'Älte­ ren Not’ diesen Vorschlag berichtet; warum brach er nun plötzlich ab? Er tat es, weil derselbe Vorschlag kurz vorher schon einmal ge­ äußert worden war, wenn auch in etwas anderer Formulierung. In jenem anderen, der 'Älteren N ot’ fremden Zusammenhang stellt Gunnar es ihm frei, mitzureiten oder zu Hause zu bleiben - und Högni entschließt sich ausdrücklich, n i c h t mitzufahren. Entschloß er sich aber, als der Vorschlag zum ersten Mal gemacht wurde, zum Bleiben, so kann er nicht gleich darauf, bei der Wiederholung des­ selben Vorschlags, seinen Entschluß ändern. Beide Vorschläge sind mit dem Vorwurf der Feigheit gekoppelt, im NI. ist Hagens Auf brausen, er führe mit und keiner würde mutiger sein, die Antwort auf diesen Vorwurf. Der Sagamann konnte diese Antwort nicht gebrauchen falls sie in der 'Älteren Not’ auch vorhanden war - denn kurz vorher

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hatte Högni diesen Vorwurf ruhig zurückgewiesen und sein Bleiben beschlossen. So brach der Sagamann mitten in der Folge von Vor­ schlag zum Bleiben und zorniger Reaktion Hagens ab. Gerade dieses Abbrechen sagt uns also, daß diese Folge auch in der 'Älteren Not’ bestand. Auf den Vorschlag, er solle zu Hause bleiben, wenn er nicht mitzufahren wage, folgte wahrscheinlich wie im NI. so auch in der 'Älteren Not’ Hagens zornige Antwort, die seinen Willen zur Teil­ nahme an der Fahrt erkennen läßt. War aber im zweiten Zusammenhang Högnis Entschluß, zu Hause zu bleiben, eben verkündet worden - und zwar trotz des Vor­ wurfs der Feigheit - so brauchte es hier augenscheinlich andere Gründe und Mittel, um ihn zur Mitfahrt zu bewegen. Dieses Mittel, das dann eine Änderung seines Entschlusses bewirkt, scheint der Vorwurf der unedlen Abstammung zu sein. Aber hier läßt uns die Saga im Stich. Der Sagamann bringt dieses Motiv zwar kurz an, als er merkt, daß er die 'Ältere N ot’ für Högnis Entschluß zur Mitreise nicht verwerten kann ; aber er läßt es undurchgeführt. Högni gibt nicht ausdrücklich bekannt, daß er sich anders entschlossen hat. Nur das unmittelbare Nacheinander des Vermerks, daß Högni sich über den Vorwurf seiner Abstammung grämt, und sein Aufstehen und Hinausgehen, um Vorbereitungen zu treffen, zeigt uns, daß es tatsächlich dieser Vorwurf war, der ihn bestimmt hat, seinen Ent­ schluß zu ändern. - Oder ist etwa gerade dieses wortlose Aufstehen, Hinausgehen und Befehlen der dichterische Ausdruck dafür, daß Högni sich anders entschlossen hat? Gibt er selbst diesen neuen Entschluß nur durch sein Verhalten zu erkennen? 3. V o r b e r e itu n g e n u n d A u fb r u c h . (Ths. II, 283,8-285,6; Übs. S. 387f. NI. Str. 1471-1523) In der Saga gehen Beratung und Vorbereitung zur Fahrt un­ mittelbar ineinander über, indem Högni Folker befiehlt, Vorberei­ tungen zu treffen. Wir sagten, daß dieser Befehl der Ausdruck seines Entschlusses zum Mitreisen ist, so daß hierin zugleich das Ende der Beratungsszene liegt. Die Reisevorbereitungen werden in der Saga dann erst später weiter beschrieben (284,10), dazwischen steht Odas Warnung. In der Saga besteht also folgende Reihenfolge : 1. Beratung und Beschluß der Fahrt, 2. Odas Warnung, 3. Reise vorbereit ungen und Aufbruch.

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Auch im NI. geht die Beratungsszene unmittelbar in die Reise­ vorbereitungen über; aber hier gibt Günther den Befehl, die Lehns­ mannen zusammenzurufen. Er tut es auf Hagens Rat hin (1473). Die nächste Strophe beschreibt dann schon das Heranreiten der Ritter, die in Worms ausgerüstet werden (1474). Dann erst erteilt Hagen den Befehl, der seine eigenen Mannen betrifít (1475). Er gibt ihn im NI. nicht Volker - wie in der Saga - sondern Dankwart. Die 'Ältere N ot’ hat hier Volker genannt ; Dankwart wird allgemein als Erfindung des letzten Epikers angesehen. Die Strophen 1476/77 berichten von Volkers Ankunft und stellen ihn wie jemanden vor, von dem noch nicht gesprochen wurde. Hier wird er in der 'Älteren Not’ zum erstenmal genannt worden sein, wie es noch in der Saga ist. - Die Strophenfolge schließt mit 1478 ab (Hagen wählt 1000 Recken aus, die mitfahren sollen). Von Strophe 1479-1505 wird von Etzels Boten, ihrem Abschied und ihrer Heimreise gesprochen, ein Stück, das in der Saga keine Entsprechung hat und erst vom letzten Epiker eingefügt wurde. Auch die Strophen 1506-1508 sind sicher Zutat des letzten Epikers1. Wenn wir alle diese Strophen der jüngsten Schicht herausheben, also 1479-1508, ergibt sich für das NI. folgende Anordnung der Szenen : 1. Beratungsszene, 2. Günthers Befehle, Reise Vorbereitungen, 3. Utes Warnung, 4. Aufbruch. Das NI. erzählt also Utes Warnung erst nach den Vorbereitungen, während sie in der Saga davor steht. Nur Högnis Befehl an Folker geht Odas Warnung dort voran. Welche Reihenfolge hatte die 'Äl­ tere Not’ ? - Die Frage ist nicht mit Sicherheit zu beantworten, weil der Sagamann die Beratungsszene der 'Älteren Not’ nicht bis zu Ende nacherzählte, sondern vorher abbrach. Immerhin ist es gut denkbar und sogar wahrscheinlich, daß im älteren Epos zu­ nächst Günther, der König, den Befehl zum allgemeinen Rüsten gab und dann erst Hagen den speziellen Befehl an Volker. Das würde also der Reihenfolge des Nibelungenliedes entsprechen. Leichter ist es zu erkennen, wie die Saga zu ihrer Darstellung kam. Wenn in der zweiten Quelle Högnis Befehl, die Reise vorzubereiten, 1 1506 ist eine reine 'Schneiderstrophe*, die Zahlenangabe in 1507 stimmt nicht zu Str. 1478 ( = Ths. 2 84 ,1 4.15 ), der Bischof von Speyer (1508) ist eine ganz junge Erfindung.

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der Ausdruck seines Entschlusses zur Mitfahrt war, dann m uss dieser Befehl vor Gunnars erfolgt sein, weil Högni ja direkt aus der Beratung fortgeht. Gunnar hat zwar seinen Entschluß gefaßt, sitzt aber noch bei den anderen und kann folglich noch nicht mit der Ausführung seines Vorhabens begonnen haben. Es sei denn, er gibt den Befehl einem Nibelungenfürsten - aber davon sagt die Saga nichts. Vor allem mußte der Sagamann unbedingt Högnis im Befehl ausgedrückten Entschluß sofort an die Beratungsszene anschließen. So ist es für die zweite Quelle logisch richtig, wenn dort zuerst Högnis Befehl, darauf erst Gunnars Befehl an die Mannen erteilt wird. Es läßt sich nicht erkennen, wem Högni in der zweiten Quelle den Befehl gab. Folker ist an dieser Stelle und auch sonst nur für die 'Ältere Not’ zu erweisen. Zwischen Högnis und Gunnars Befehl schiebt sich in der Saga Odas Warnung, eine Szene, die der 'Älteren Not’ entstammt (s. u. S. 53). und die hier als Einschub deutlich zu erkennen ist. Der Saga­ mann hat soeben erzählt, daß Högni den Raum, in dem die Beratung vorzustellen ist, verläßt: oc gengr inn iholl til sins frœnda folker (283,8.9). Er befindet sich demnach in einer anderen Halle. Wenn es nun heißt : þa stod vp drotning od a . . . oc gengr til konungs oc mellte til hans (283,15-17), so meint das doch wohl, daß Oda im Beratungs­ raum, den Högni soeben verlassen hat, mit Gunnar spricht. Aber Högni antwortet auf die Warnung. Er ist also im Widerspruch zu dem vorher Erzählten als anwesend gedacht. Ein solcher Wider­ spruch läßt immer eine Quellenmischung vermuten. Warum schob der Sagamann die Oda-Szene der 'Älteren Not’ hier ein und nicht erst nach den Reise Vorbereitungen, wie es im NI. ist und wahrscheinlich auch in der 'Älteren Not* war? So steht die Szene etwas störend zwischen den zusammengehörenden Befehlen Högnis und Gunnars (283,8-14 und 284,10-14). Gunnars Befehl umfaßt nur einen Satz. Die folgenden Sätze zeigen schon die start­ bereiten Niflungen und geben dann sofort die Schilderung des Auf­ bruchs (284,14-20). Damit steht Odas Warnung genau wie im NI. sehr in der Nähe des Aufbruchs. Lediglich der eine Satz über Gun­ nars Aussenden der Boten tritt noch dazwischen. Wir können daraus schließen, daß die zweite Quelle - wie es die Saga zeigt - von den Reisevorbereitungen kaum sprach, daß sie, abgesehen von Högnis Befehl, nur den einen Satz über Gunnars Aussenden der Boten und das Zusammenkommen der Gerufenen enthielt, während

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die 'Ältere Not’ wohl etwas ausführlicher berichtete (z.B. die Vor­ stellung Volkers). Die Stelle 284,10-20 wurde also vom Sagamann als Einheit empfunden, die er nicht auseinanderreißen wollte, und diese Einheit, die von den Reisevorbereitungen alsbald in den Auf­ bruch überging, dürfte der zweiten Quelle entstammen. Das ist des­ wegen interessant, weil wir die wesentlichen Elemente dieser Saga­ stelle im NI. wiederfinden, allerdings sind sie dort verbreitert oder in besonderer Weise gestaltet : 1. Nv sender Gunnar konungr bod vpp i sitt land at til hans skalu koma aller hans menn.

dö hiez er boten rîten wîten in sîniu lant (NI. 1473,2)

2. þeir er vaskastir erv. oc frœcnaster erv. oc hanum bazt hvgader.

... die hete er (seil. Hagene) wol bekant, unt waz in starken stürmen gefrümet het ir hant, oder swaz si ie begiengen, des het er vil gesehen, den konde anders niemen niwan frümekeite jehen. (NI. 1478)

3. Oc er pesse ferd er bven. hever Gunnarr konungr .x. hvndrad manna, godra drengia. oc vel bvenna. . . .

Hagene weite tusent (NI. 1478,1)

4. oc þar sitr heima morg fogr kona oc dyrlig epter sinn bvanda. oc sinn sun oc brodvr. (284,10-20)

dö kos man vil der vrouwen trûreclîchen stân. ... (NI. 1521 ; vgl. 1523 und 1520)

Im NI. erscheint Hagen an den drei ersten Stellen als der spiritus rector des ganzen Heerzuges. Er hat Günther bereits den Rat gege­ ben, ein Heer mitzunehmen (1472), er läßt seine eigenen Recken heranführen (1475ff.), er wählt die 1000 Ritter aus, die mitziehen sollen (1478). In der Saga beschränkt sich sein Anteil an den Vor­ bereitungen lediglich auf den Entschluß zur Mitfahrt, der sich im Befehl an Folker und seine Mannen kundtut. Die Saga folgt in ihrer Darstellung der Reisevorbereitungen anscheinend der zweiten Quelle ; denn anders läßt es sich nicht erklären, daß Odas Warnung ( = 'Ältere N ot’ ) so deutlich als Einschub zu erkennen ist. Dann

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kann man aber vermuten, daß Hagen auch schon in der 'Älteren Not* entscheidenden Anteil am Ausrüsten des Heeres hatte so wie im NI. Es ist allgemeine Überzeugung, daß 'Odas Warnung' aus der 'Älteren Not’ stammt und daß die Saga diese Szene viel besser be­ wahrte als das NI. Sie hat in der Saga folgenden Aufbau: 1. Oda erzählt ihren Traum (283,17-20); 2. auf diesen Traum gründet sie ihre Warnung vor der Reise ins Hunnen­ land und die Bitte, diese zu unterlassen (283,20-26) ; 3. Högni weist die Warnung, die auf einem Traum gegründet ist, zurück (284,1-4); 4. Oda setzt neu an : wenn schon Gunnar und Högni sich nicht zurück­ halten lassen, dann soll doch wenigstens Giselher, ihr jüngster Sohn, zu Hause bleiben (284, 5-8) ; 5. das fordert Giselhers augenblicklichen Entschluß mitzureisen gerade­ zu heraus, er eilt zu den Waffen (284,8-10). Der Dichter des Nibelungenliedes hat den zweiten Teil der Szene (Bitte um Giselher und dessen Entschluß) beseitigt; denn er mußte das Bild des Heldenjünglings Giselher so sehr wie möglich ein­ schränken, um einen Widerspruch zwischen dem ersten und dem zweiten Teil seiner Dichtung zu vermeiden. Die Bitte der Mutter um ihren jüngsten Sohn ist aber so ganz aus dem Giselher-Bild der 'Älteren Not’ zu verstehen, daß er auf sie verzichten mußte. So fehlt im NI. der Höhepunkt der Szene der 'Älteren Not’ , eben Giselhers Entschluß zur Mitfahrt. Der erste Teil, die Traumerzählung mit der Warnung und Hagens Antwort, ist vorhanden und zeigt manche Übereinstimmung mit der Oda-Szene der Saga: Oda: Herra mik drœymde æinn draum er þv skallt hœyra. enn þat er i þessvm dravm. at ek sa i hvnaland sva marga fvgla dauda at allt land vart var avtt af fvglvm. Nv hœyre ek þat at þer niflvngar etlet at fara ihvnaland. en af þesse ferd veit ek at standa man mikit uhap. hvartvegia niflvngvm oc hvnum. oc meiri von þikki mer ef þer faret at margr madr

Ute: ir soldet hie belíben, helde guote. mir ist getroumet hínte von angestlîcher nót,

wie allez daz gefügele in disem lande wære tôt. (1509,2-4)

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lati fyr þat sitt lif. Ger sua vel herra far ei. illt eina man af standa þott er faret. Högni : Gunnarr konungr hever nv radet ferd sina sva sem hann vill vera lata. oc ekki hirdvm ver vm dravma ydra gamalla kvinna, fatt gott vitit þer. ekki megv ydor ord standa vm vara ferd. (283,17-284,4)

Hagen :

Swer sich an troume wendet, ... der enweiz der rehten mære niht ze sagene, wenn ez im ze éren volleclîchen stê. ich wil daz min herre ze hove nâch urloube gê. (1510) Wir suln gerne rîten in Etzelen lant. dä mac wol dienen künegen guoter helde hant, dä wir da schouwen müezen Kriemhilde hôhgezît.“ Hagene riet di reise, iedoch gerouw ez in sît. (1511)

Es fällt auf, daß im NI. der eigentliche Rat ir soldet hie beliben vor der Erzählung des Traumes steht, während die Saga eine schöne Steigerung dadurch erreicht, daß sie zunächst ganz objektiv den Traum erzählt, dann, indem er auf die Reiseabsicht angewendet wird, seine vorausweisende Ankündigung des Unheils gibt, die schließlich in die dringende Bitte Oer sua vel herra far ei übergeht. Utes Warnung im NI. ist viel kürzer und inhaltlich ärmer als in der Saga; und es fragt sich, ob das „Mehr“ der Saga aus der 'Älteren N ot’ stammt oder ob der Sagamann es selbst hinzudichtete. Mit Sicherheit wird sich das nicht entscheiden lassen, doch möchte man die oben erwähnte Steigerung dem Dichter der 'Älteren Not’ gern Zutrauen, zumal sich dann wieder derselbe Aufbau einer Gesprächs­ einleitung ergäbe, den wir schon an zwei anderen Stellen für die 'Ältere Not’ erschließen konnten: in etwa zwei Strophen wird von demjenigen, der das Gespräch eröffnet, eine Sachlage geschildert, ein Vorschlag gemacht und begründet1 (hier : Traumerzählung, dar­ auf gegründete Warnung und Abraten). Der Dichter des Nibelungen1 Vgl. S. 36 und S. 46

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liedes hat in dieser Szene so viel zerstört und neu gefaßt, daß er wahrscheinlich auch die eigentliche Warnung kürzend umformte. Wenn wir Hagens Antwort auf Utes Warnung in NI. und Saga ver­ gleichen, so sehen wir, daß nur das eine der beiden in ihr enthaltenen Motive gleich ist : man soll sich nicht durch Träume in seinem Han­ deln beeinflussen lassen. In der Saga steht das andere Motiv der Antwort Högnis diesem voran: es ist sinnlos, jetzt noch abzuraten; denn Gunnar hat die Reise beschlossen. Dieses Motiv ist alt. Schon in den Atlamál taucht es auf, und zwar am Schluß der auf Träume gegründeten Warnungen der Frauen. Gunnar stellt abschließend fest : 'Seinat er at segia, svá er nú rádit; fordomka for þó, allz þó er fara ætlat; mart er miok oeliklikt,7 at munim skammæir.’ i»

,,Zu spät zum Gespräch ists: versprochen ist alles; die Fahrt ist befohlen: wir fliehn nicht dem Tode. So kann es wohl kommen, daß kurz unser Leben.“ (Am. 29, Übs. Str. 26)

In der Saga wendet Högni dieses Argument an. Da in dieser Szene Högnis Antwort im Widerspruch zu dem vorher Erzählten steht, wird die Saga hier der 'Älteren Not’ folgenx. Im NI. finden wir statt des ,,Zu sp ä t...“ Hagens Worte: „ich wil daz min herre ze hove nach urloube gê“ . Während das „Zu spät“ den Entschluß zur Fahrtvora ussetzt, klingt das „ich wil“ wie ein trotzi­ ger Rat, sich nicht von dem gefaßten Entschluß abbringen zu lassen und ihn alsbald in die Tat umzusetzen. Hagen, der zuerst gegen die Reise ins Hunnenland war, erscheint hier als ihr eifrigster Betreiber. Er rät dringend zu baldigem Aufbruch. Das drückt Str. 1511 noch deutlicher aus: Hagene riet di reise... Hier wird die Handlung plötzlich unterbrochen, eine „R ü ck­ blende“ auf die Beratungsszene schließt sich an: Er hetez widerrâten, wan daz Gêrnôt mit ungefuoge im also misseböt: er mant’ in Sîfrîdes, vroun Kriemhilden man. er sprach: „da von wil Hagene die grözen hovereise län.“

(1512)

Dö sprach von Tronege Hagene: „durch vorhte ich niht entuo. swenne ir gebietet, helde, sô sult ir grîfen zuo.1 1 Das bestätigt auch die für die Saga ungebräuchliche Anrede in der 2. PI., die Högni hier verwendet: fa tt gott vitit per. ekki megv yd or ord standa vm vara fe r d (2 84,3.4). Die Hss. A und B ändern (Anm. 3 und 5).

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jâ rît’ ich mit iu gerne in Etzelen lant.“ sît wart von im verhouwen vil manie heim unde rant.

(1513)

Wie können wir uns diese Stellen erklären? - Der Dichter des Nibe­ lungenliedes begann Hagens Antwort auf Utes Warnung mit der Zurückweisung des Ansinnens, daß sich die Nibelungen durch Träume beeinflussen lassen sollen. Er betont im Gegenteil, daß die Fahrt unbedingt unternommen werden muß. Dieses dringende Zu­ raten steht im Gegensatz zu dem dem Leser bisher einzig bekannten Abraten Hagens. Es war wohl in der Beratungsszene von seinem Entschluß gesprochen worden, „wider besseres Wissen“ mitzureiten (vgl. etwa Str. 1472: Sit ir niht weit erwinden), nicht aber von einer ausdrücklichen Befürwortung der Reise durch Hagen. Das muß dem Dichter bei der Zeile Hagene riet die reise eingefallen sein. Er erinnert rückblendend noch einmal an Hagens Abraten und erklärt, daß er zuerst zwar abgeraten habe, dann aber Gernots Vorwurf durch die Erklärung entkräftet habe, daß er gerne mitreisen werde. Wir deuten also die Strophen 1512/13 als erklärende, auf die Be­ ratungsszene zurückgreifende Einfügung des Dichters des Nibe­ lungenliedes. - Wo steht aber etwas davon, daß Hagen, der zuerst abriet, später sogar zuriet? Nach Ausweis der „Rückblende“ (Str. 1512/13) muß auf Gernots Vorwurf der Feigheit zuerst Hagens auf­ brausende Antwort erfolgt sein. So sehen wir es auch tatsächlich in der Beratungsszene des Nibelungenliedes (1462-1464), nur wird Gernot bei seinem Angriff auf Hagen von Giselher unterstützt. In der 'Älteren Not* muß Hagen aber später sogar seine ablehnende Haltung aufgegeben und wie die anderen zur Reise geraten haben1. Wenn ein solches Zuraten wirklich in der 'Älteren Not Vorhanden war - weshalb entfernte es dann der Dichter des Nibelungenliedes? Hagens Umschwung hätte einen schönen Höhepunkt der Beratungs­ szene bilden können. Im NI. schließt sich der Küchenmeister Rumold Hagens warnen­ dem Abraten an (1465,4 ; 1466,1). Die Aufeinanderfolge des Abratens von Hagen und Rumold wäre weniger glatt, wenn nicht sogar un­ möglich, wenn Hagen, der einzige Bedenkliche bis dahin, nach Ger­ nots und Giselhers Angriff ebenfalls für das Unternehmen eingetre­ ten wäre und sich nicht darauf beschränkt hätte, seine eigene Teil-1 1 Damit verband er anscheinend den Rat, ein Heer mitzunehmen. Das deutet ja auch NI. Str. 1511 (Zeile 1 und 2) an. In der Beratungsszene des Nibelungenliedes blieb lediglich dieser R at zum Mitnehmen des Heeres übrig (1471/72).

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nähme zuzusichern und die Verantwortung und Entscheidung den anderen zu überlassen. - Auf diese Frage werden wir in dem Exkurs über Rumolds Rat noch einmal kurz zurückkommen. Der Dichter des Nibelungenliedes verlegte also unserer Meinung nach Hagens Zuraten zur Reise aus der Beratungsszene der 'Älteren Not’ in seine ohnehin arg beschnittene Szene 'Utes Warnung’ . Da­ durch gewann er die Möglichkeit, Hagens Bild in besonderer Weise zu zeichnen. Gegen die Warnung der Mutter der Könige, die seine eigenen Bedenken ja bestätigt, setzt Hagen das Gebot der Ehre. Es wäre eines Helden und Königs nicht würdig, wenn Günther sich jetzt, nachdem er Hagens sachliche Einwände nicht beachtet hat, durch Angstträume beeinflussen ließe. Dadurch daß H a g e n Ute antwortet - sie hatte sich ja an ihre Kinder gewendet1 - erhebt er sich zum Sprecher der Könige und übernimmt gleichsam durch Zu­ raten in diesem Moment die Verantwortung dafür, daß die Könige und alle Nibelungen heroisch handeln. Er spricht als der um ihre heroische Haltung besorgte, erfahrene Recke, der es sich erlauben kann, anstelle und im Namen der Könige das Wort zu führen. Er, der allein den Untergang ahnt, stellt jetzt, als von anderer Seite eine Warnung kommt, das Gebot der Ehre dagegen, schneidet damit jede Diskussion über die Aufrichtigkeit oder Unaufrichtig­ keit der Einladung ab, ergreift selbst durch seinen Rat die Initiative und zeigt, was von einem heroisch Denkenden erwartet wird. Der Dichter des Nibelungenliedes stellt dadurch schärfer, als es in der Beratungsszene der 'Älteren Not’ gewesen sein kann, den heroi­ schen Entschluß eines Menschen heraus, der um den Untergang weiß und der die Berechtigung der Warnung erkennt. Genau das zeigt uns die Atlakvida. Nur ist dort Gunnar der heroisch Ent­ scheidende, hier ist es Hagen1 2. 1 In der Saga wendet sie sich an Gunnar (2 8 3 ,1 6 .1 7 ; Übs. S. 387). 2 Nach Högnis Warnung, die den mit Wolfshaar umwundenen Ring der Schwester richtig deutet („wölfisch wird der Weg uns zur Wohnung A tlis“ ) entscheidet Gunnar „wie dem König gebührt“ : Genießen sollen W ölfe Ülfar muno ráda des Niblungenerbes, arfi Niflunga, gamlir, gránvardir, grimme Grauröcke, wenn Gunnar ausbleibt; ef Gunnars missir, birnir blakfiallir braunzottige Bären sollen beißen mit den Hauern, bíta þreftonnom, gamna greystodi, wenn der König nicht kommt, der Krieger Meute. (Akv. 11; Übs. 8 -1 1 ) ef Gunnarr ne kømratP

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Analyse

Exkurs: R u m o ld s R a t. Unsere Interpretation hat ergeben, daß der Dichter des Nibe­ lungenliedes Hagens Zuraten aus der Beratungsszene der 'Älteren Not’ entfernt hat, und wir sahen den äußeren Anlaß dafür in der An­ fügung von Rumolds Abraten. Daraus folgt, daß Rumolds Auftritt in der Beratungsszene eine Zufügung des Dichters des Nibelungen­ liedes ist. H .d eB oor hat gezeigt, daß Rumolds Rat aus der A b­ schiedsszene in die Beratungsszene verpflanzt worden ist; denn nach Str. 1517 springt, „ohne daß eine Gegenrede der Burgunder­ könige erfolgt ist, die weitere Rede Rumolds auf die Landpflege über, und nimmt nur mit dem Stoßseufzer 'daz niemen kan erwenden iu recken iuwern muot' auf eine vorauszusetzende ablehnende Ant­ wort der reisefertigen Helden Bezug“ 1. Die Annahme, daß Rumolds Warnung ursprünglich in die A b­ schiedsszene gehörte, kann durch die Atlamál gestützt werden; denn am Morgen, als sich die Gjukunge reisefertig machten, rieten m a n ch e ab (Anm. 30; Übs. Str. 27). Diese kurze Notiz kann später zur richtigen Warnszene mit dem einen profilierten Warner geworden sein. Wie war dieser Warner in der 'Alteren Not’ gezeichnet und wie sah seine Warnung aus? Rumolds Stellung ward im NI. verschieden ge­ sehen. Er erscheint an zwei Stellen als eine Art Oberkoch (777 und 1465-1469), an zwei anderen als vornehmer Hofbeamter (10,1 und 1517-1519). Im Anschluß an Andreas Heusler tritt Helmut de Boor dafür ein, daß diese zweite Rolle die ursprüngliche sei und also aus der 'Älteren N ot’ stamme: „Rum old ist noch nicht Küchen­ meister, am wenigsten komische Figur.“ (S. 5). Die Gestaltung der Küchenmeister-Perspektive seines Rates sei erst dem letzten Epiker zu verdanken, der aus dem Geiste derb-komischen spielmännischen Witzes gestaltete (S. 7). Man kann jedoch auch die andere Auffassung vertreten, daß nämlich die Kochrolle alt sei und aus der 'Älteren Not’ stamme und daß erst der Dichter des Nibelungenliedes Rumold zu einem höheren Hofbeamten machte. Das entspräche seinem Bestreben, die Wormser Könige mit einem großen Hofstaat zu umgeben und auch überhaupt die alten Gestalten der Sage in ihren sozialen Stellungen zu heben. Aus diesem Grunde wird der Grenzwächter Eckeward mit dem Markgrafen Eckeward identifiziert, und der 1 H . de Boor, Rumoldes R at. Z .f .d .A . 61 (1924), S. 2.

Exkurs: Rumolds Rat

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Ferge wird zum ritterlichen Dienstmann der Bayernherzöge. Ebenso steigt der Koch Rumold zum Küchenmeister am königlichen Hofe auf. Das Beispiel Eckewards und des Fährmanns zeigt uns auch, daß die angestammte Rolle den Sieg über die neue Stellung davonträgt und ihre alte Form beibehält : der vornehme Markgraf liegt immer noch wie ein gewöhnlicher Späher an der Grenze, der Ferge kommt immer noch des Goldringes wegen, obwohl er so reich ist, daß ihn der Fährlohn gar nicht interessiert. Und so spricht auch der vor­ nehme Küchenmeister immer noch seinen Rat wie der einfache, nur auf das leibliche Wohlergehen bedachte Koch. Diese These ist deswegen erwägenswert, weil die Gestalt des Kochs in der Sage vom Untergang der Niflungen alt ist. Wir finden sie schon in den Atlamál. Dort soll dem Koch Hjalli anstelle von Högni das Herz herausgeschnitten werden. Beiti þat mælti - bryti var hann Atia cTçko vér Hialla, en Hogna fordom ! Hoggom vér hälft yrkiom: hann er skapdaudi; lifira ava lengi, lçskr mun hann æ heitinn.’

Das sagte Beiti, des Budlungs Truchseß : „Legt Hand an Hjalli; doch Högni schonet! Den Halbnarren tötet! Er taugt zu nichts anderm: nicht lebt er so lange, daß er lässig nicht hieße.“

Hræddr var hvergætir, helta in lengr rùmi, kunni kløkkr verda, kleif í rá hveria; vesall léts vígs þeira, er skyldi vás gialda, ok sinn dag dapran, at deyia frá svínom, allri orkosto, er hann ádr hafdi.

Bleich ward der Topfhüter1; nicht blieb er am Platze: er wußte, was Angst heißt, kroch in alle Winkel: er ärmster müsse nun ihre Untat büßen, von den Schweinen weg sterben an diesem Schmerzenstage, von aller Knechtshabe, die er zu eigen hatte.

Tóko þeir brás Budla ok brugdo til knífi : œpþi illþræli, ádr odds kendi ; tóm léts at eiga,

Sie zerrten hervor ihn, sie zückten das Messer; auf schrie der elende, eh das Eisen er spürte: Zeit wollt er finden,

1 nord, hvergœtir, Der Ausdruck erinnert sehr an das in Str. 777 des Nibe­ lungenliedes gezeichnete Bild des Kochs Rumold, der über die Töpfe herrscht.

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Analyse

tedia vel garda, vinna it vergasta, ef hann vid rétti, feginn léts þó Hialli, at hann fiçr þægi.

die Flur zu düngen, das schmutzigste schaffen, wenn er Schonung fände ; glücklich sei Hjalli, behielte er das Leben.

Gættiz þess Högni - gçrva svá færi ! at árna ánaudgom, at undan gengi : rFyrir kved ek mér minna, at fremia leik þenna ; hví mynim hér vilia heyra á þá skrækton?’

Da erhob Högni so handeln wenige für den Feigling Fürbitte, daß davon er käme : „Dies Spiel zu beginnen, gilt mir ein kleines ; brauchen wir länger solch Gebrüll zu hören?“ (Am. 61-64; Übs. 57-60)

Wir sehen deutlich den unheroischen Menschen, der um sein Leben bangt und der, um es zu retten, sich aller Würde entledigt, indem er winselt, um sein Leben bettelt und sich zu den niedrigsten Diensten bereit erklärt. Dagegen steht der heroische Mensch, von Högni verkörpert, der sein Leben - wenn notwendig - der Ehre opfert und den schon allein der Anblick des den niedrigen Instinkten lebenden und ihnen förmlich ausgelieferten Menschen abstößt. Das Motiv des Herzausschneidens wird im Verlauf der Sagenent­ wicklung durch das Motiv des Kopfabschlagens abgelöst. Wir finden in den Atliliedern das Herzausschneiden bei Högnis Tod und beim Tod der Atlisöhne*, im NI. dagegen das Kopfabschlagen. Wir sehen es außer bei Hagens Tod und beim Tod des Etzelsohnes auch noch bei Günthers Tod, und in allen drei Szenen wird es (zumindest in der 'Älteren Not’ ) von Kriemhild veranlaßt bzw. selbst ausgeführt. Damit stehen sich bei Hagens Tod die Rächerin und der Mörder und Hortverweigerer gegenüber - eine ganz neue Konstellation, bei der für den Auftritt des feigen Kochs kein Raum mehr bleibt1 2. Wir 1 werden später noch deutlicher sehen, daß die alten Motive der Sage wohl umgestaltet, umgedeutet und umgewandelt, nicht aber auf­ gegeben werden. Und so gelangte auch die Rolle des Kochs an eine andere Stelle und wurde ihr angepaßt. Eine solche für eine Aus­ weitung und zur Aufnahme einer ganzen Szene geeignete Stelle bot 1 Vgl. A . Heusler, Nibelungensage, S. 20. 2 Noch weniger war der Auftritt bei Gunnars Tod, dessen H aupt Hagen gebracht wird, möglich (2368/09).

Exkurs: Rumolds R at

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so sagten wir schon - der Aufbruch, bei dem in den Atlamál auf Warner hingewiesen wird. Das müssen Leute aus dem Gesinde ge­ wesen sein; denn nur diese bleiben zurück, während Högnis Söhne und sein Schwager mitziehen1. Vorher in der Nacht haben die Frauen Gunnars und Högnis gewarnt, ihre Warnungen waren auf unheil­ volle Träume gegründet. So können wir es auch für die 'Ältere Not’ erschließen. In der Beratung wird die Reise beschlossen. Danach warnt, von einem Traum beunruhigt, eine den Königen nahe­ stehende Frau, nämlich ihre Mutter. Am Morgen der Abreise, viel­ leicht beim Aufbruch selbst, warnt einer von den Untergebenen. Hier fand die Rolle des Kochs Verwendung, der aus seiner den materiellen Genuß über alles stellenden Lebenshaltung heraus das heroische Handeln absolut nicht begreifen kann - er nennt es noch im NI. „kindlich“ (1468,4) - und der von der Fahrt abrät, weil er keinen Nutzen sieht, den die Könige davon haben könnten. Der Dichter des Nibelungenliedes setzte Rumolds Rat in die Beratungsszene, wo sie ihm ihrem Charakter nach hinzugehören schien. Er schloß das Abraten des Kochs an das Abraten Hagens an. (s.o. S. 56) - und das zeugt von der Genialität dieses Dichters. Denn nun gehören Hagen und der Koch wieder derselben Szene an. Hagen warnt aus sachlichen Erwägungen vor der Reise, steht aber sofort davon ab, als man seinen Mut anzweifelt. Da greift der Küchen­ meister ein und tut seine Meinung kund. Deutlich sieht man nun wieder den Unterschied von heroischem und unheroischem Men­ schen. Um die Sichtbarmachung dieses Unterschiedes ging es aber dem Dichter, der den Gegensatz von Högni und Hjalli schuf1 2. Allein schon diese Versetzung von Rumolds Rat aus der Abschieds­ szene in die Beratungsszene zwang den Dichter des Nibelungen­ liedes den Koch zum Hofbeamten, zum Küchenmeister und degen (1465,1) zu erheben; denn wie hätte er sonst an jener Beratung der Vornehmsten des Wormser Hofes teilnehmen können? So entstand die Zeichnung des treuen, zuverlässigen Hofbeamten, den Günther schätzt und dem er vertraut, den er nur vor der Fahrt ins Hunnen­ land dispensieren muß, weil Rumold keinen Sinn dafür hat, daß man sich freiwillig in Gefahr begibt. Deswegen antwortet Gernot ihm verhältnismäßig höflich auf seinen Rat (1470) und stellt ihm 1 Vgl. A m . 3 0; Übs. Str. 27. 28 2 Vgl. Akv. 2 2; Übs. Str. 22. 23. Hier liegt der Keim der Szene. Später wurde sie ausgeweitet, und Hjalli erfuhr seine genauere Charakterisierung dadurch, daß er zum Koch wurde (vgl. A m .).

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Analyse

frei, zu Hause zu bleiben. Dieser „veredelte K och“ kann dann mit der Verwaltung des Reiches beauftragt werden h Wir haben zu erweisen versucht, daß Rumolds Rat in der 'Älteren Not’ , und zwar in der Abschiedsszene, enthalten war. Weshalb hat der Sagamann ihn nicht in seine Darstellung aufgenommen? Wahr­ scheinlich reizte ihn dieser Auftritt nicht dazu, weil Rumold so derb und unhöfisch gezeichnet war. Dann mag hinzukommen, daß der eigentliche Aufbruch in der Saga mit anderen Dingen gefüllt ist, vor allem mit der Beschreibung der Heerzeichen (284,20-285,6; Übs. S. 388)1 2. Der Sagamann kann sie (seiner Freude an Waffen und Wap­ pen nachgebend) selbst erfunden haben. Aber etwas ist auffällig: Gernoz und Giselher haben dasselbe Waffenzeichen, einen Habicht. Das widerspricht ganz dem Sinn dieser Zeichen; denn am Waffen­ zeichen soll der durch die Rüstung unkenntliche Ritter zu erkennen sein, so betont es auch die Saga (285,5.6)3. Tragen zwei Ritter das­ selbe Waffenzeichen, so geht dieser Sinn verloren. Wenn der Saga­ mann aus Freude und Interesse an diesen Dingen die Beschreibung der Heerzeichen selbst verfaßt hätte, dann wäre ihm wohl kaum ein solcher Fehler unterlaufen. So werden wir doch eher glauben müssen, daß er die Heerzeichen einer seiner Quellen entnahm und daß er aus irgendwelchen kompilatorischen Schwierigkeiten (darüber vgl. S. 185) Gernoz und Gieselher dasselbe Waffenzeichen gab. Mit der Beschreibung der Heerzeichen endeten in der zweiten Quelle wohl die Reisevorbereitungen und der Aufbruch, und da der Sagamann diese Beschreibung in sein Werk übernahm, blieb ihm anscheinend für die Darstellung von Rumolds Rat kein Platz mehr. 4. D ie F a h rt der N iflu n g e n b is B a k a la r (Ths. II, 285,6-291,24; Übs. S. 388-392; NI. Str. 1524-1649). Das erste große Ereignis auf der Fahrt ins Hunnenland ist in Saga und NI. die Überfahrt über einen großen Strom. In der Saga ist es der Rhein, im NI. dagegen die Donau. Die Saga beginnt diesen 1 Als der Dichter des Nibelungenliedes die Str. 777 schuf, kann er durch­ aus noch das Bild des Kochs Rumold im Sinn gehabt haben; denn die Str. 10 ist wahrscheinlich ein späterer Zusatz (vgl. W . Braune, Die HandschriftenVerhältnisse des Nibelungenliedes. PBB 25, S. 171.) 2 V g l.o .S . 51. 3 Um ein Familienwappen handelt es sich nicht, da Gunnar ein anderes trägt.

Die Fahrt der Niflungen bis Bakalar

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Abschnitt mit folgenden Worten : niflvngar fara nv alia sina leid til þess er þeir koma at rin. þar sem saman kemr dúná oc rin. oc par er breitt er arnar hittaz (285,6-9; Übs. S. 388). Diese merkwürdige An­ gabe der Saga hat drei Deutungen erfahren, von denen keine ganz überzeugend, keine aber auch ganz von der Hand zu weisen ist. 1. Die Angabe stammt aus der 'Älteren Not’ , in der - wie im NI. zw ei Überfahrten geschildert wurden, über den Rhein und über die Donau. Der Sagamann zog die beiden Überfahrten in eine zusammen. Diese Erklärung, die zuletzt von Carl Wesle ausgesprochen und als richtige Deutung dieser Stelle angesehen wurde1, gewinnt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man das hinzuzieht, was die Saga einige Sätze weiter erzählt: þeir dveliaz par um nottena med sinum landtiolldum (285,9.10; Übs. S. 388). Dieses Nachtlager der Niflungen in Zelten am Rhein erinnert sehr an das NI. : Gezelt unde hatten spien man an daz gras anderthalp des Eines (1515,1.2). Aber die Unter­ schiede sind nicht zu übersehen: das Nachtlager erfolgt im NI. n a ch der Überfahrt über den Rhein, in der Saga v o r dem Überset­ zen, im NI. erfolgt es v o r dem eigentlichen Antritt der Reise, in der Ths. n a ch dem ersten Tagesritt, vor allem aber mag man nur zögernd eine solche rein ausgestaltende Szene, die nicht zur eigentlichen Handlung gehört, der in ihrem Aufbau sicher sehr straffen 'Älteren Not’ Zutrauen. 2. L. Polak erklärt die Stelle „als Kombination des Interpolators, der die niederdeutsche Version, nach der man jenseits des Rheins zu Attila gelangte, und die oberdeutsche, nach der dies jenseits der Donau geschah, miteinander verknüpfte1 2.“ Diese Erklärung würde gut zu unserer Beobachtung passen, daß die Saga schon hier neben der 'Älteren Not’ eine andere Quelle benutzt hat. Der unmittelbar vorhergehende Bericht über die Waffenzeichen der Niflungen muß dieser anderen Quelle entstammen, und dieser Bericht mündet in den Satz : niflvngar fara nv alia sina leid til þess er þeir koma at rin. Bis hierher wäre also - wenn wir es uns einmal ganz mechanisch und plastisch vorstellen wollen - der Sagamann jener zweiten Quelle die nur den Übergang über den Rhein kannte, gefolgt. Plötzlich merkte er den Widerspruch zur 'Älteren Not’ und fügte hinzu : jbar sem saman kemr dúná oc rin. Er hat sich also für den Strom der zweiten Quelle, den Rhein, entschieden. Das zeigt sich auch darin, 1 C. Wesle, Der Donauübergang im älteren Nibelungenepos, P B B 46 (1922), S. 231-247. 2 L. Polak, a.a. O., S. 434.

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Analyse

daß er die Meerfrauen aus dem Rhein gekommen sein läßt (286,4; Übs. S. 389). Er wagte es aber nicht, den Schauplatz der 'Älteren Not’ ganz verschwinden zu lassen und fügte daher in einer erklären­ den Apposition die Donau hinzu *. Kann sich aber ein Norweger jener Zeit eine so offensichtlich falsche Angabe leisten? Gab es nicht auch in Norwegen Leute, die wußten, daß Rhein und Donau keineswegs miteinander verbunden sind? Man sollte es eigentlich annehmen, und vielleicht hat die Hs. B deswegen diese Stelle ausgelassen (vgl. S. 285, Anm. 5). Anderer­ seits finden sich manche Belege vollständiger geographischer Un­ kenntnis oder Unbekümmertheit in der Ths. (z.B. fließt die Mosel ins Meer, II S. 248,5-21), so daß wir doch an ein Versehen des Saga­ mannes glauben möchten. 3. Ten Doornkaat Koolman macht darauf aufmerksam, daß in Kaufbriefen von der Fischerei zu Donau und Krempink auf der Lippe aus den Jahren 1419 und 1475 die Lippe bei Lünen als Donau und Dunowe bezeichnet w ird1 2. Die Belege sind sehr spät. Sollte sich diese Bezeichnung der Lippe auch schon für das 13. Jahrhundert erweisen lassen, könnte man in der fraglichen Stelle eine exakte geographische Angabe des Verfassers der zweiten Quelle vermuten. Dann wäre wohl auch Werniza nicht Worms, sondern irgendeine Stadt westlich von Soest, jenseits des Rheins, so daß sich der Weg der Niflungen von Werniza zum Rhein bei Wesel (dort mündet die Lippe = Dunowe in den Rhein), an þorta ( = Dortmund) vorbei nach Susat ( = Soest) genau verfolgen ließe, wie der der Nibelungen im NI. von Worms über Moehringen, Pöchlarn nach Etzlenburg. Solange wir für die Annahme einer exakten Geographie jener an­ deren Quelle des Niflungenunterganges nicht genauere Beweise haben, sollten wir vorsichtig sein und bei der Annahme bleiben, daß der Sagamann um so leichter die Donau als Nebenfluß des Rheins nennen und damit die verschiedenen Ströme seiner Quellen vereinigen konnte, als in Norddeutschland vielleicht schon zu jener Zeit eine in den Rhein mündende Donau bekannt w ar3. Das NI. erzählt vom Donauübergang der Nibelungen in sechs klar abgegrenzten und gegeneinander abgesetzten Szenen :

1 Ähnlich H . Hempel, a.a. O. S. 32. 2 Ten Doornkaat Koolman, Soest die Stätte des Nibelungenunterganges. Soest 1937, S. 2. 3 Uber eine vierte Erklärungsmöglichkeit vgl.u. S. 247.

Die Fahrt der Niflungen bis Bakalar

1. 2. 3. 4. 5. 6.

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Ankunft und Hagens Aufbruch (1525-1532), Hagens Begegnung mit den Meerfrauen (1533-1549,2), das Absnteuer mit dem Fährmann (1549,3-1562), das Ruderbrechen (1563-1565), die Überfahrt (1566-1580), die Zerstörung des Schiffes (1581-1583).

In der Saga haben wir zunächst ebenfalls diese klare Szenenfolge : 1. Ankunft, Högnis Aufbruch zur Nachtwache (285,6-22), 2. Högnis Begegnung mit den Meerweibern (285,22-286,15), 3. Högnis Abenteuer mit den Fergen (286,15-287,18). Hier endet die Übereinstimmung mit dem NI. Die Erschlagung des Fährmanns ist von der Fergenszene getrennt, deren Höhepunkt sie im NI. bildet, und erscheint mit den noch fehlenden Motiven, dem Ruderbrechen und dem Kentern - bei dem das Schiff beschädigt wird - als Ereignis der Überfahrt. Die Überfahrt wird also in der Saga ganz anders als im NI. geschildert. Wir wollen bei unserer Analyse die erste Szene zunächst über­ gehen; denn bei ihrer Erörterung muß das Problem der in NI. und Saga abweichenden Zeitangaben besprochen werden, was besser nach der Analyse der übrigen Szenen geschieht. Durch das Zeugnis von Saga und NI. ist H a g en s B e g e g n u n g m it den M e e rfra u e n im ganzen für die ‘Ältere Not’ gesichert; die genauere Gestalt dieser Szene des Älteren Epos kann erst der ein­ gehende Vergleich von Saga und NI. sichtbar machen. In beiden Quellen wird einleitend erzählt, daß Högni die See­ jungfrauen in einem Gewässer (NI. = in einem schænen brunnen; Ths. = in einem Teich namens Meere) dicht an dem großen Strom, der von den Niflungen überschritten werden muß, findet und ihnen die Kleider wegnimmt (Ths. 285,22-286,5; Übs. S. 389; NI. 1533/ 34). Das sich dann entspinnende Gespräch Högnis mit einem der Meerweiber verläuft in Saga und NI. jedoch recht verschieden. Im NI. eröffnet die eine Seejungfrau das Gespräch, indem sie eine Prophezeiung über den Ausgang der Fahrt ins Hunnenland anbietet unter der Bedingung, daß Hagen die Kleider zurückgibt (Str. 1535). Man erwartet, daß Hagen auf dieses Angebot der Meerfrau in der nächsten Strophe antworten wird und daß er - falls er das Angebot annimmt - die Bedingung erfüllt. Aber das geschieht nicht. Str. 1536 spricht vielmehr von Hagens Gedanken über die Glaubwürdigkeit der Meerfrau :

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Analyse

Si swebten sam die vögele vor im üf der fluot. des dühten in ir sinne stare unde guot. swaz si im sagen wolden, er gloubte ez deste baz. des er dö hin z’in gerte, wol beschieden si im daz. Die letzte Zeile der Strophe ist besonders merkwürdig ; denn bisher wurde noch nichts davon gesagt, daß Hagen etwas begehrte. Man muß wohl aus diesem unklaren Ausdruck entnehmen, daß er das Angebot der Meerfrau annimmt und um die Prophezeiung bittet. Dann müßte er jetzt von der Meerfrau an die vorher zu erfüllende Bedingung erinnert werden, an die Rückgabe der Kleider. Das ge­ schieht nicht. Die folgende Strophe enthält vielmehr die falsche Prophezeiung der ersten Meerfrau (1537). Durch diese glückliche Voraussage möchte sie die Kleider zurückerlangen. In der Ths. ist der Ablauf des Gesprächs logisch und klar. Auch hier eröffnet die eine der Meerfrauen das Gespräch; aber sie bittet nur um die Rückgabe ihrer Kleider. Daraufhin stellt Högni die Be­ dingung, sie müsse ihm prophezeien, ob die Niflungen über den Fluß und auch wieder zurück kämen (286,5-10; Übs. S. 389). Die Meerfrau erfüllt die Bedingung und sagt ihm die Wahrheit : þer megod komaz aller heilir ivir þessa ce en alldri aptr. oc mantv þo hava ádr ed mesta œrvidi firir (286,10-12). Daraufhin erschlägt Högni die beiden Meerfrauen, die hier als Mutter und Tochter bezeichnet werden. Hier in der Saga begehrt Högni also wirklich etwas, indem er die Bedingung stellt : erst Prophezeiung, dann Kleiderwiedergabe. Und hier wird auch zuerst die Bedingung erfüllt (die Prophezeiung). Zur Einlösung des an die Bedingung geknüpften Versprechens kommt es nicht mehr. Högni gibt die Kleider nicht zurück, sondern erschlägt die Meerfrauen. Diesen einfachen, klaren Gesprächsverlauf werden wir auch der 'Älteren Not’ zuschreiben müssen; denn der etwas verworrene des Nibelungenliedes ist deutlich das Ergebnis einer Umarbeitung. Die Veränderungen nahmen mit dem Verzicht auf die Tötung der Meer­ frauen ihren Anfang. Sie erhalten im NI. wirklich ihre Kleider zu­ rück. Darauf ist alles angelegt, vor allem das listige Anerbieten einer Prophezeiung durch die erste Seejungfrau, die nun allerdings kein Ge­ wicht darauf zu legen braucht, daß zuerst ihre Bedingung erfüllt wird; denn sie lügt ja gerade im Hinblick auf ihre zurückzuerlangenden Kleider (1539.2). Als die Kleider wieder im Besitz der Seejungfrauen sind, können sie Hagen ruhig die furchtbare Wahrheit sagen, denn jetzt sind sie seiner Gewalt entzogen. Daher kann auch in der

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‘Älteren Not’ die falsche Prophezeiung nicht enthalten gewesen sein ; denn Avenn Hagen auf die günstige Prophezeiung hin die Kleider zurückgegeben hätte - und die Tötung der Seejungfrauen ist ja seine wütende Reaktion auf die Prophezeiung des Unterganges - so wäre er nicht mehr im Stande gewesen, die übernatürlichen Wesen zu töten, die nur so lange in seiner Gewalt sind, als er ihre Gewänder hat. Die Abänderungen des Dichters des Nibelungenliedes zwingen also zu dem Schluß, daß die Szene in der 'Älteren Not’ mit der Tötung der beiden Seejungfrauen endete. Ein solch brutaler Schluß machte es auch unmöglich, daß die Seejungfrauen in der Szene der 'Älteren N ot’ Hagen zuvor freundliche Ratschläge für den Umgang mit dem Fergen gaben. Das ist erst in der humaneren Atmosphäre des Nibelungenliedes möglich. - Wir kommen im Gegensatz zu C. Wesle zu dem Ergebnis, daß die Meerweiberszene der 'Älteren Not’ in der Saga, nicht im Nibelungenlied besser bewahrt blieb und daß der 'Älteren Not’ die falsche Prophezeiung fehlte. Gab es in der zweiten Quelle der Saga eine entsprechende Szene? Ein zweiter Zusammenhang neben dem, den wir der 'Älteren Not’ zuerkannten, läßt sich nicht feststellen. Die einzige Unregelmäßig­ keit in der sonst so schön abgerundeten Szene der Saga liegt in den Angaben über die Anzahl der Meerfrauen. Zuerst wird von „einigen“ gesprochen : oc hann ser nockora menn a vatneno. . . oc þetta erv ekki adrer menn. en þat sem kalladar erv siokonor. . . . e n þessar siokonvr

(285,23-286,5; Übs. S. 389). Wenn dann am Schuß der Szene erklärt wird, daß Högni zuerst die Seejungfrau erschlägt, die mit ihm gesprochen hat, und da­ nach deren Tochter (286, 13-15; Übs.S. 389), dann ist diese Angabe zu­ mindest sehr überraschend. Da auch das NI. von einem Verwandt­ schaftsverhältnis der beiden Meerfrauen weiß (1539), können wir diese Angabe für die 'Ältere Not’ ansetzen. Stammt dann die Ein­ leitung mit ihrer unbestimmten Anzahl von Meerfrauen aus der zweiten Quelle? Auch im NI. bleibt die Zahl der Meerfrauen zunächst unklar (1533). So erscheinen diese Unterschiede zu geringfügig, als daß man sie für die Quellenscheidung ausnutzen dürfte. Sie können sehr leicht durch Unachtsamkeit oder Ungenauigkeit des Saga­ mannes entstanden sein. Später werden wir einen Grund nennen können, der dafür spricht, daß die zweite Quelle von Högnis Begeg­ nung mit den Meerfrauen wußte. Über die genauere Gestaltung läßt sich aber aus der Saga nichts erfahren1.

hava faret ór rin oc i þetta vatn at skemta ser.

1 s.u . S. 80 und S. 94.

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Analyse

In der F e rg e n s z e n e des Nibelungenliedes nimmt Hagens Unter­ handlung mit dem Fährmann den größten Raum ein (1550-1559). Ihr geht als kurze Einleitung der Vermerk über Hagens Suche nach dem Fergenhaus voran (1549,3.4.), während der Tod des Fergen die Szene abschließt (1560-1562). In der Saga erleidet der Ferge erst während der Überfahrt den Tod (288,3-7; Übs. S. 390), so daß dort nur die einleitende Auf­ findung eines bemannten Bootes und die Unterhandlung zwischen Högni und dem Schiffsmann zusammenhängend geschildert werden (286,15-287,17; Übs. S. 389f.). Wir wollen zunächst das Gespräch Högnis mit dem Fergen in Saga und NI. vergleichen. Im NI. stehen verschiedene Motive gegen­ einander und lassen einen logischen Ablauf nicht zu. Wenn wir zu­ nächst die Strophen 1553/54 auslassen, ergibt sich folgender Ge­ sprächsverlauf : 1. Hagen ruft den Fergen und bietet einen Ring als Lohn (1550); 2. der Ferge kümmert sich nicht darum, denn er ist reich (1551) ; 3. da gibt sich Hagen als Amelrich, des Fergen Bruder, aus (1552), wie es ihm die Meerfrauen rieten; 4. der Ferge kommt daraufhin sogar selbst (1555); 5. er erkennt, daß nicht sein Bruder Amelrich vor ihm steht, und weigert sich, Hagen überzusetzen; denn seine Herren haben ihm verboten, irgendeinen Fremden in ihr Land zu bringen (1556-1558). Die Motive, die in diesem Zusammenhang zuerst das Kommen, dann den Tod des Fergen veranlassen, sind also: 1. die Annahme, daß des Fergen Bruder Amelrich ihn rufe, 2. die Erkenntnis, daß das ein Irrtum ist, und die Treue zu seinen Herren, deren Grenz­ wächter der Ferge ist. Zu diesem Bild des ritterlichen Fergen, der der Befehlshaber einer ganzen Fergenstation ist, passt es, daß ihn das Gold Hagens nicht zu reizen vermag. Wir haben bisher die Strophen 1553/54 nicht beachtet. Sie stehen in offenbarem Widerspruch zu dem klaren Ablauf, der sich ergibt, wenn man sie herausläßt. Denn in ihnen wird gesagt, daß der Ferge des Goldes wegen hinüberfährt: Vil höhe an dem swerte einen bouc er im dô bot, lieht unde schœne was er von golde rôt, daz man in über fuorte in Gelpfrätes lant. der übermüete verge nam selbe daz ruoder an die hant.

(1553)

Die Fahrt der Niflungen bis Bakalar

Ouch was der selbe schifman niulîch geint. diu gir nâch grôzem guote vil boesez ende gît. dô wold’ er verdienen daz Hagenen golt sô rôt ; des leit er von dem degene den swertgrimmen tôt.

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(1554)

Dasselbe Motiv, das im NI. so störend erscheint, finden wir auch in der Saga. Dort steht es jedoch richtig und logisch in folgendem Zusammenhang : 1. 2. 3. 4.

Högni gibt sich als Mann Elsungs aus; den Fergen interessiert das nicht, ohne Fährlohn holt er niemand über; Högni bietet einen Ring als Fährlohn; der Ferge denkt daran, daß er jung verheiratet ist, will den Ring haben und kommt ; 5. Högni gibt ihm den Ring und befiehlt, daß der Ferge nicht ans andere Ufer, sondern stromaufwärts fahre; 6. zunächst weigert sich der Ferge, gibt dann aber aus Furcht vor Hagen nach. (286,17-287,18; Übs. S. 389f.) Beide Quellen kennen das Doppelmotiv: falscher Name und Ring­ angebot. In jeder der Quellen bleibt ein Motiv blind, im NI. das Ringangebot - aber da ist eine Unstimmigkeit - in der Saga der falsche Name. Wie sah das in der 'Älteren Not* aus? Die den Zusammenhang des Gesprächs im NI. störenden Strophen 1553/54 passen zu dem, was die Saga erzählt. Das deutet darauf, daß hier im NI. zwei Strophen bzw. ein Motiv der 'Älteren Not’ eingearbeitet wurden. Hagen bot in der 'Älteren Not’ dem Fergen einen Fährlohn, den dieser sich um so lieber verdiente, als er jung verheiratet war. Die Ältere Not enthielt also, ebenso wie wir es in der Saga sehen, das erfolgreiche Goldbieten Hagens. Das Ringangebot steht in der Saga erst nach dem Versuch, den Fergen damit zu täuschen, daß ein Mann des Herzogs Elsung seinen Dienst wünsche. Ebenso folgt im NI. das aus der 'Älteren Not’ über­ nommene Ringangebot auf das Amelrich-Motiv. Wir können ver­ muten, daß in der 'Älteren Not’ ebenfalls diese Reihenfolge der Motive vorlag: 1. Elsungs Mann, 2. Ringangebot. Diese Reihenfolge läßt sich auch aus inneren Gründen erschließen. Auch in der 'Älteren Not ’ muß wohl der Ferge den Befehl von seinem Herrn gehabt haben, keinen Fremden überzusetzen. Darauf deutet einmal schon die Tatsache, daß Högni sich, um dieses Gebot zu umgehen, als Mann des Herzogs ausgibt, was Ths. 286,18-20 aus­ drücklich gesagt wird. Immerhin könnte das eine Vorsichtsmaßnahme von ihm gewesen sein, die sich als unnötig erwies. So scheint der

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Analyse

Sagamann das verstanden zu haben, wenn er den Fergen erwidern läßt: Ecki sœker ek helldr elsvngs mann, enn annan mann oc vil ek vist ei roa vttan kavp (287,1.2; Übs. S. 389f.). Oder stand diese Lohnforderung in der 'Älteren Not’ ? A uf jeden Fall wurde der Ferge in der 'Älteren Not’ durch den Gedanken an seine junge Frau zum Überholen veranlaßt. Das be­ zeugen Saga (287,5-9) und NI. (1554). Es scheint also nicht selbst­ verständlich zu sein, daß der Ferge um Fährlohn jemanden über­ holt. Dann würde ja ein so besonderer Antrieb gar nicht nötig sein. Der Ferge ließ sich also in der 'Älteren Not’ durch den Gedanken an seine junge Frau, der er Hagens Goldring mitbringen wollte, dazu bewegen, ein Gebot zu übertreten. Und das kann nur das Gebot gewesen sein, keinen Fremden überzuholen. Dieses Gebot muß weit gefaßt gewesen sein, es muß alle Unbe­ kannten einbezogen haben, also auch die dem Fergen nicht persön­ lich bekannten Mannen Elsungs. Denn sonst hätte er ja Hagen, den angeblichen Mann Elsungs, holen dürfen. Der Dichter des Nibelungenliedes hat deshalb ändern müssen, wenn er das Lohnmotiv ausschalten wollte. Hagen mußte sich als Amelrich, den Bruder des Fergen, ausgeben, damit sein Täuschungs­ versuch erfolgreich werden konnte1. Der Fährmann der 'Älteren Not’ war also bestechlich. Der Dichter des Nibelungenliedes wollte den Fergen zum ritterlichen Dienstmann erheben und als solcher konnte er nicht bestechlich sein. Daher wird das Motiv des Goldbietens zum wirkungslosen Motiv, das Amelrich-Motiv zum wirkungsvollen gemacht. Diese Komposition hatte der Dichter des Nibelungenliedes im Sinn, als er die ersten Strophen der Fergenszene verfaßte: Er begonde vaste ruofen hin über den fluot. ,,nu hol mich hie, verge“ , sprach der degen guot, ,,sö gib’ ich dir ze miete einen bouc von golde rôt. jâ ist mit dirre verte, daz wizzest, wærlîchen not.“

(1550)

Der verge was sô riche, daz im niht dienen zam, da von er lön vil selten von iemen da genam, ouch wären sine knehte vil höhe gemuot. noh stuont allez Hagene eine disehalp der fluot.

(1551)

1 Diese Änderung erfordert übrigens die Hilfe der Meerfrau; denn von sich aus kann Hagen über das Vorhandensein, den Namen und das Schicksal des Bruders des Fergen nicht orientiert sein. A u f den Einfall, sich als Elsungs Mann auszugeben, konnte er dagegen von sich aus kommen.

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Die Fahrt der Niflungen bis Bakalar

Dann fügt er das in der ‘Älteren Not* wirkungslose Motiv an: Do ruofte er mit der krefte daz al der wäg erdöz, wan des heldes sterke was michel unde gröz : ,,nu hol mich Amelrichen! ich bin der Elsen man, der durch starke fîentschaft von disem lande entran.“

(1552)

Und jetzt machte der Dichter des Nibelungenliedes einen Fehler; denn er nahm das Ringangebot, das wahrscheinlich - nach einer kurzen Ablehnung des Fergen und seiner Lohnforderung - in der 'Älteren Not’ auf das Elsung-Motiv folgte, in seine Darstellung hinein. Dadurch entstand im NI. das oben auf S. 68ff. gezeigte Durcheinander. Für die ‘Ältere N ot’ können wir etwa den folgenden Verlauf des Gesprächs erschließen: 1. Hagen gibt sich als Elses Mann aus und bittet den Fergen, ihn überzu­ holen (vgl. NI. Str. 1552) ; 2. der Ferge, der den Befehl hat, keinen ihm Unbekannten überzuholen, weigert sich, deutet aber an, daß er es gegen Lohn tun würde (vgl. Ths. 287,1.2); 3. Hagen bietet ihm einen Ring an der Spitze des Schwertes (vgl. NI. 1553) ; 4. der Ferge will den Ring für seine iunge Frau erwerben und rudert heran (vgl. NI. 1554). Der Sagamann hat Högnis Unterhaltung mit dem Fährmann der 'Älteren Not’ entnommen. Von einer entsprechenden Episode der zweiten Quelle konnten wir nichts bemerken. Wir wollen nun den Anfang des Fergenabenteuers, das Auffinden des Fergen, untersuchen. Im NI. folgt Hagen dem Rat der Meer­ frauen. Er steigt höher auf das Ufer hinauf, entdeckt jenseits des Flusses das Haus des Fergen und beginnt zu rufen: „N u hol mich hie, verge...“ (1544-1550,2)x. Von Anfang an hat Hagen nach einer Fergenstation gesucht, die er in der Nähe vermutete (vgl. 1531). In der Saga sucht Högni nach einem Schiff (285,17.18; Übs. 5. 389), und er findet es zufällig, ohne Hilfe der Meerfrauen: oc enn gengr hann ovan me å anne vm rid. þa ser hann eit skip vt amidia åna oc ein mann á (286,15-17; Übs. S. 389). Der im Schiff befindliche Mann hat anscheinend das Boot mit haibeingezogenen Rudern auf1 1 Der typische R u f nach dem Fährmann erscheint noch einmal in dieser Szene: „n u hol mich A m e l r i c h e n (1552,3). Damit erhalten wir noch eine Bestätigung für unsere Vermutung, daß an d ie s e r Stelle ( = NI. 1552) in der 'Älteren N ot’ die Unterhandlung Hagens m it dem Fergen begann.

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Analyse

dem Fluß treiben lassen. Er legt die Ruder erst aus, als er sich ent­ schlossen hat, Högni überzusetzen (287,10; Übs. S. 390). Er be­ nimmt sich also eigentlich nicht wie ein berufsmäßiger Fährmann, der in seinem Haus auf Reisende wartet, die übergesetzt werden wollen. Er scheint eher ein Fischer oder Schiffer zu sein, der zu­ fällig mit seinem Boot unterwegs ist, als er von Högni getroffen und um seine Fährdienste gebeten wird. Die Beziehung auf den Bayernherzog Else oder Elsung, die durch Saga und NI. für die 'Ältere Not’ erwiesen ist, setzt einen bekannten Flußübergang voraus, dessen Sicherheit einem bestimmten Fähr­ mann anvertraut ist. Daher erscheint es nicht gut möglich, daß das zufällige Auffinden eines bemannten Bootes, wie es die Saga schil­ dert, in der 'Älteren Not’ so dargestellt wurde. Wir können für die 'Ältere Not’ eher eine Einleitung der Fergenszene vermuten, die ähnlich wie die des Nibelungenliedes aussah. Das wird durch eine andere Vermutung bestätigt. W. Mitzka hat in einer eindringlichen Untersuchung gezeigt, daß in der 'Älteren N ot’ ebenso wie im NI. das Fergenboot wohl eines jener großen Schiffe war, die noch heute in Süddeutschland verwendet werden1. In ihnen s te h t der Ferge hinten im breiten Heck, er s ie h t n a ch v o r n , in Fahrtrichtung des Bootes, und bewegt das Boot mit e in e m Ruder vorwärts, wobei er zugleich lenken kann. Daher kann Hagen das Schiff im NI. mit einem Ruder regieren : Mit zügen harte swinden kêrt’ ez der gast, unz im daz starke ruoder an sîner hende brast. er wolde zuo den recken uz an einen sant. da was deheinez mère. hey wie schier’ er dä’z gebant.

(1564)

Diese süddeutsche Art des Ruderns ist von vornherein für die ver­ mutlich in Bayern entstandene 'Ältere Not’ zu erwarten. Wir werden später sehen, daß sich diese Erwartung bestätigt. - Das Boot, das Högni in der Saga auf dem Strom sieht, ist aber anscheinend eines, das nach norddeutscher Art gerudert wird. Diese Boote sind am Heck schmal, der Ruderer s it z t in ihnen, und zwar so, daß er zum H e c k s c h a u t, und sie werden mit zw ei Rudern vorwärts­ bewegt. Das Steuern dieser Boote ist schwierig, wenn es vom Ruderer mitübernommen werden muß. Steht ein Steuermann zur Verfügung, so sitzt oder steht er im Heck mit dem Gesicht zur Fahrt1 W . Mitzka, Der Donauübergang der Nibelungen. P B B 55 (1931), bes. S. 285 f.

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richtung. Daß das von Högni entdeckte Boot dieser norddeutschen Bauart entspricht, können wir zunächst nur einer Bemerkung der Saga entnehmen: kann legr s in a r arar vt oc rær at lande (287,10; Übs. S. 390). Das ist der typische Ausdruck für das Auslegen der b e id e n Ruder, die vorher beim Treiben auf dem Strom halb hereingezogen waren. Die Saga weiß noch von einem zweiten Boot zu berichten, das ebenfalls zufällig gefunden wird. Nicht Högni findet es, sondern Gunnar und seine Mannen : Nv er Gunnarr Iconungr afotvrn oc allt lid hans. oc hava fengit adr eitt skip. oc er þat allitit (287,18-20; Übs. S. 390). Wie verhalten sich diese beiden Episoden der Saga zueinan­ der, das Auffinden des großen, bemannten Bootes durch Högni und das des kleinen, unbemannten durch die übrigen Niflungen? Im NI. gehört Hagens Suche nach dem Fergen zu den drei großen Hagen-Szenen der Überfahrt: Begegnung mit den Meerfrauen, Fergenbegegnung, Hagen als Fährmann (Ruderbrechen und Repa­ rieren). In allen dreien erscheint Hagen als der Nibelunge tröst. Er allein überwindet durch seine Initiative das Hindernis, das der über seine Ufer getretene Strom bildet. Und mehr noch : er allein nimmt die Verantwortung für den heroischen Untergang des ganzen Heeres auf sich, weil er die Prophezeiung der Meerfrauen, an deren Richtig­ keit nicht zu zweifeln ist, den anderen vorenthält, bis der Flußüber­ gang vollendet und keine Möglichkeit der Rückkehr gegeben is t1. Waren die drei großen Hagenszenen des Nibelungenliedes schon in der 'Älteren Not* vorhanden? Für die Meerweiberszene können wir die Frage bejahen (s.o. S. 65), ebenso für den mittleren Teil der Fergenszene, das Gespräch Hagens mit dem Fergen. Wie steht es aber mit der Einleitung zu dieser Szene? Zwei Beobachtungen spre­ chen dagegen, daß die Saga bei der Auffindung des bemannten Bootes der 'Älteren Not* folgte: 1. für die 'Ältere Not’ ist wohl eine feste Fergenstation zu vermuten, die Hagen findet und aus der er den Fergen herausruft (s.o.S. 71 f .), 2. das von Högni auf dem Strom entdeckte Boot ist eines der norddeutschen Bauart, während wir für die 'Ältere Not* eher eines der süddeutschen zu erwarten haben (s.o.S. 72). Aber übereinstimmend mit dem NI. läßt auch die Saga Högni allein das bemannte Boot auffinden. Der Sagamann hat 1 Im NI. wird diese einsame Verantwortung Hagens noch dadurch ver­ schärft, daß er sich durch die ,,Kaplan-Probe“ endgültig sichere Gewißheit verschafft.

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Analyse

also versucht, seine Darstellung wenigstens darin der 'Älteren N ot’ anzugleichen, daß Högni allein das Boot und den Fergen oder Schiffsmann findet, damit anschließend das Gespräch der beiden ebenfalls ohne Zeugen vonstatten gehen kann. So sehen wir es noch im Nh, und so müssen wir es wohl nach diesem allem auch für die 'Ältere Not5 vermuten. Aber weshalb übernahm der Sagamann nicht einfach die Einleitung der Fergenszene der 'Älteren N ot’ also vermutlich Hagens Suche nach der Fergenstation? Dafür gibt es nur eine Antwort : weil auch die zweite Quelle des Sagamannes vom Auffinden eines Bootes wußte, mit dem dann die Überfahrt durchgeführt wurde. Diese zweite Quelle muß dem Sagamann so wichtig gewesen sein, daß er keinen darin enthaltenen Zug preisgab und die Darstellung der 'Älteren Not’ um ihretwillen veränderte. In der zweiten Quelle muß von dem Heranrufen eines zufällig vorbeikommenden Bootes die Rede gewesen sein. Und nicht Högni kam dort das Verdienst zu, dieses Boot gefunden zu haben, sondern alle oder mehrere Nif lungen sahen es, als sie am Morgen aus ihren Zelten traten und nach einem Schiff suchten. Ich meine also, daß wir die Bootsauffindung der zweiten Quelle dann rekonstruieren können, wenn wir beide Stellen der Saga, an denen vom Auffinden eines Bootes die Rede ist, über­ einander projizieren: am Morgen sehen die Nif lungen, die in ihren Zelten übernachtet haben, ein Boot auf dem Strom treiben, in dem ein Mann sitzt. Wie sie sich dieses Bootes bemächtigen, läßt sich nicht mehr erkennen ; denn die Unterhandlung Högnis mit dem Mann im Boot ist der 'Älteren Not’ nachgestaltet. Der Sagamann wandelte diese eben rekonstruierte Episode der zweiten Quelle insofern um, als er Högni allein dem bemannten Boot begegnen ließ. Als er sich dann später, nach der der 'Älteren Not’ entnommenen Unterhandlung Högnis mit dem Schiff smann, wieder seiner zweiten Quelle zuwendete, setzte er dort wieder an, wo er die zweite Quelle verlassen hatte, nämlich bei der Auffindung des Bootes. Er trug jetzt die „übrig gebliebenen“ Züge nach: daß das am Morgen nach der Nachtruhe geschah, daß mehrere Niflungen an der Auffindung beteiligt waren. Und er machte dieses Boot zu einem unbemannten, kleinen, un­ brauchbaren Schiff (287,18-23; Übs. S. 390). Während die Einleitung zur Fergenszene vom Sagamann noch in Anlehnung an die 'Ältere Not’ gestaltet zu sein scheint, weicht das Ende, die Erschlagung des Fergen, ganz von der Darstellung des Nibelungenliedes und - wie wir meinen - auch der 'Älteren Not’ ab.

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Das NI. gewinnt einen kompositorischen Vorteil dadurch, daß es das Amelrich-Motiv zum wirkungsvollen erhebt (s.o. S. 70); denn die Tötung des Fergen kann nun gut motiviert werden. Als der Ferge bemerkt, daß er getäuscht worden ist und daß nicht sein Bruder Amelrich vor ihm steht, bleibt das Gebot seines Herrn Richtschnur seines Handelns: dem nun als Fremden erkannten Hagen muß die Überfahrt unbedingt verwehrt werden. Deshalb greift er Hagen an, und Hagen muß ihn aus Notwehr töten (1556-1562). Des Fergen und Hagens Handeln entsprechen damit den Gesetzen ritterlicher Ethik. Beim Gold-Motiv, das in der Saga das bewegende Motiv ist - und so erschlossen wir es auch für die 'Ältere Not’ (s.o.S. 70) - ist die Motivierung viel schwieriger. In der Saga entsteht wie im NI. gleich bei der Ankunft des Fergen ein Streit : Nv vill feriomadren roa aptr y vir ána. enn hogne bi dr hann roa vp med lande, en feriomadren vill ei roa. hogne seger at hann skal roa ef hann vill oc sva þott hann vili eigi. Nu ver dr ferio madren rædr. oc rær sem hogne vill (287,12-17; Übs. S. 390). Endete er in der'Älteren Not’ mit der Erschlagung des Fährmannes, weil dieser lediglich ans andere Ufer, nicht aber - wie Högni forderte - stromaufwärts (oder -abwärts? ) fahren wollte? Eine kleine Spur bietet die Schilderung, die die Saga von Högnis Ankunft bei den Niflungen gibt: en er hogne kemr til þeirra med þetta mikla skip. verda niflvngar f egner (287,24-288,1; Übs. S. 390). Unwillkürlich sieht man das in Str. 1565 des Nibelungenliedes ge­ schilderte Bild vor sich: gegen einem walde kêrt’ er hin ze tal. dö vant er sînen herren an dem stade stän. dö gie im hin engegene vil manie wætlîcher man. Die erste Zeile der folgenden Strophe gehört auch noch dazu : Mit gruoze in wol enpfiengen

die snellen ritter guot.

(1566,1)

Dieses Bild darf aber beim Leser der Saga nicht entstehen, denn in der Saga ist Högni nicht allein im Boot, der Fährmann ist bei ihm : oc bader þeir roa allt par til er þeir koma til lids niflvnga. (287,17.18), so heißt es am Schluß der Unterhandlung zwischen Högni und dem Fergen. In der späteren Schilderung der Ankunft Högnis mit dem großen Boot, die wir zitierten, wird der Fährmann nicht erwähnt, und eine gewisse Ähnlichkeit mit Str. 1565 und 1566 des Nibelungen­ liedes ist nicht zu verkennen. Daraus läßt sich folgern, daß der Saga-

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Analyse

mann sich in dieser zweiten Angabe über die Landung bei den Niflungen an die 'Ältere Not’ anlehnte. Dann deutet die alleinige Nennung Högnis darauf, daß er in der 'Älteren Not* alsbald die Fergenrolle übernehmen mußte, weil er - wie im NI. - den Fergen gleich bei einem Streit getötet hatte L Wir werden auf diese Beobach­ tung von anderen Überlegungen her noch einmal zurückgreifen müssen (s.u.S. 79). In der Saga wird der Fährmann erst während der Überfahrt getötet, und sein Tod ist die Folge des Ruderbrechens. Wir können ihn daher nur im Zusammenhang mit den anderen Motiven der Überfahrt behandeln, und wir müssen zum Teil sehr weitgreifende Überlegungen anstellen, so daß wir zu einer A n a ly s e d er g e s a m ­ ten Ü b e r fa h r t übergehen müssen. In der Saga sind vier Motive in einer Szene zusammengefaßt. Während der Überfahrt geschehen: 1. Ruderbrechen, 2. Fergentötung, 3. Unterredung Gunnar-Högni, 4. Kentern. Im NI. sind drei dieser Motive ebenfalls vorhanden; aber sie stehen in verschiedenen Szenen, deren Höhepunkt sie teilweise bil­ den: 1. Fergentötung ( = Höhepunkt und Abschluß der Fergenszene), 2. Ruderbrechen ( = Höhepunkt in Hagens Fahrt zu den Nibe­ lungen), 3. Günthers Frage nach dem Fergen, angeregt durch die Entdeckung des Blutes, und Hagens Lüge, 4. Überfahrt der Fürsten mit Hagen als Fährmann, Kaplan-Episode, 5. Auseinandersetzung über Hagens Vorgehen gegen den Kaplan. Es fragt sich, ob diese Motive schon in der 'Älteren Not’ in ver­ schiedene Szenen auseinandergelegt waren oder ob Ruderbrechen und Fergentötung sowie die sich daran knüpfende Unterredung wie in der Saga während der Überfahrt geschahen. Wir sehen, daß das 1. und 2. Motiv in unserer Aufstellung in ver­ schiedener Reihenfolge erscheinen. In der Saga steht zuerst das Ruderbrechen, als Folge davon die Fergentötung. Im NI. ist - wie1 1 Anscheinend ist es der Hs. A aufgefallen, daß Högni nicht allein im Boot sein kann; denn sie ändert er hogne kemr in: þeir H ogne koma (287,24.25 und Anm . 15).

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wir schon sagten - die Fergentötung im Anschluß an Högnis Unter­ handlung mit dem Fährmann geschildert, so daß eine abgerundete Fergenszene entsteht. Das Ruderbrechen folgt in der nächsten Szene und steht mit der Fergentötung in keinem direkten Zusammenhang. Wir müssen also zunächst danach fragen, ob in der 'Älteren Not’ das Zerbrechen der Ruder wie in der Saga dem Tod des Fergen voranging und mit diesem eng verbunden war. Die Saga gibt als Grund für das Zerbrechen der Ruder Högnis starkes Rudern an: hogne rær sva mikit at i einvm verre brytr hann svndr badar ararnar. oc af Iceipana... (288,3.4; Übs. S. 390). Fast genauso - die Ein­ schränkung auf Högni fehlt - schildern die Atlamál das Zerbrechen der Ruder (Str. 37 ; Übs. Str. 34), auch dort ist das scharfe, die Härte der Schicksalsentschlossenheit zeigende Rudern die Ursache für das Zerbrechen. Und noch etwas ist für die Saga charakteristisch : es ist die norddeutsche Art des Ruderns, die hier vorausgesetzt wird ; denn Högnis b e id e Ruder und Pflöcke brechen, und er schlägt das Haupt des v o r ihm a u f d er R u d e r b a n k S itz e n d e n ab (oc Mo havod af sfcipmannenum er sat fy r hanum opilionum. 288,6-7 ; Übs. S. 390). Auch im NI. rudert Hagen mit großer Kraft: Mit zügen harte swinden unz im daz starke ruoder

kêrt’ ez der gast, an siner hende brast.

(1564,1.2)

Aber das starke Rudern und das Zerbrechen des Ruders sind nicht so eindeutig kausal miteinander verknüpft, wie es in den Atlamál und in der Saga der Fall ist ; denn die Konjunktion unz schafft nur eine zeitliche Verbindung. Wenn man den ganzen Zusammenhang betrachtet, in dem das Ruderbrechen des Nibelungenliedes steht, dann gewinnt man den Eindruck, daß die Strömungsverhältnisse an der Havarie schuld sind ; denn sie geschieht kurz vor dem Landen, und das ist bekanntlich eine Situation, in der leicht durch seit­ lichen Gegendruck der Strömung ein Unglück geschehen kann, wenn das Schiff stromabwärts fährt. Mit zügen harte swinden kêrt’ ez der gast, unz im daz starke ruoder an siner hende brast. er wolde zuo den recken üz an einen sant. da was deheinez mère. hey wie schier’ er dä’z gebant Mit einem schiltvezzel ! daz was ein porte smal. gegen einem walde kêrt’ er hin ze tal.

(1564) (1565,1.2)

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Analyse

Wir erinnern uns daran, daß W . Mitzka von dieser Stelle ausgehend zu dem Ergebnis kam, daß das NI. die süddeutsche Art des Ruderns zeigt. Wie sah das Ruderbrechen in der 'Älteren Not* aus? Die Frage ist leicht zu beantworten, weil die Saga das Ruderbrechen der 'Älte­ ren N ot’ anscheinend nur wenig umgestaltet ebenfalls enthält. Die Saga beschreibt nämlich noch ein zweites Ruderbrechen, und zwar das Zerreißen des Weidengeflechts, mit dem das Steuer am Boot befestigt ist: Gunnar konungr styrir oc nv brestr isvndr stiornvidin oc gengr fra styrid oc svifr skipinv bæde fy r stravme oc vedre. Nv lœypr Hogne skyndilega aptr til styrisins oc dregr i stiornvidina allhardhendilega. Oc þa er hann hever bcett stiornvidina. oc hann hever vid komit styrinv. þa er skamt til landz. (288,17-23; Übs. S. 391). Dieses zweite Ruderbrechen der Saga hat viele Züge mit dem des Nibelungenliedes gemein : 1. Es geschieht kurz vor der Landung, also anscheinend durch Ein­ fluß der Strömung. 2. Es ist nur ein Ruder betroffen, nämlich das am Heck befindliche Steuerruder; im NI. ist es das einzige vorhandene Ruder, das nach süddeutscher Ruderart das Boot vom Heck aus antreibt und zugleich steuert. 3. Als das Ruder zerbrochen ist, kann Hagen nicht mehr kêren = steuern ; ebenso treibt das Boot in der Saga steuerlos dahin, Wind und Wellen preisgegeben. 4. Högni repariert den Schaden. 5. In beiden Fällen ist ein Band bei der Reparatur beteiligt ; im NI. bindet Hagen das geborstene Ruder mit einem Schildband1, in der Saga ist das Weidenflechtwerk, das das Steuer an das Schiff bindet, betroffen. Högni zieht es herein und bessert es aus. 6. In der Saga ist Gunnar hinten im Heck, um das Steuerruder zu bedienen - im NI. steht Hagen dort, um nach süddeutscher Art zu rudern und zu steuern. Aus all dem folgern wir: der Sagamann hat das Ruderbrechen der 'Älteren Not’ in diesem zweiten Ruderbrechen, das die Steuerung betrifft, nachgebildet. Er brauchte nur die süddeutsche Art des 1 Das ist technisch kaum möglich. H at der Dichter des Nibelungenliedes eine Angabe der 'Älteren Not* mißverstanden?

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Ruderns (stehend im Heck, Gesicht zum Bug, ein Ruder, das zu­ gleich zum Steuern dient), in die dem Norddeutschen vertraute Aufgabe des Steuermannes umzuwandeln und es von Hagen auf Günther zu übertragen. Dieses zweite Ruderbrechen hat genau wie das im NI. eine andere Folge als die Fergentötung ( = 1. Ruderbrechen der Saga): Högni repariert den Schaden. Und damit ist nun unsere oben gestellte Frage beantwortbar. In der 'Älteren Not* war nicht die Fergentötung wie in der Saga die Folge des Ruderbrechens. Dieses hat vielmehr schon wie im NI. als Folge Hagens Reparieren, das ihn als den besten vergen erweist. Damit steht diese Episode am Anfang der Szenen, in denen Hagen die Stelle des Fährmannes einnimmt. Das setzt wiederum voraus, daß der Ferge schon getötet war, als das Ruderbrechen geschah. Wir erhalten damit für die 'Ältere Not* dieselbe Reihenfolge der Motive wie im NI.: 1. Fergentötung, 2. Ruderbrechen. In der Saga löst die Fergentötung eine Auseinandersetzung zwi­ schen Gunnar und Högni aus. Zwei Stellen daraus haben ungefähre Parallelen im NI. Wir setzen die Texte nebeneinander: Gunnar : Hvi gerder þv þetta illa vere, hvat gaftv hanum at soc.

waz hilfet iuch nu, Hagene, des kappelânes tôt? tæt’ ez ander iemen, daz sold’ iu wesen leit. umbe weihe schulde habt ir dem priester widerseit ? (1577)

Högni : Ek vil ei at bod fare fyr i hvnaland varre ferd. nu kann hann ekki af at segia. Gunnar : illt eina mantv gera nu oc hvert sinni. oc alldri ertv kátr nema þa er þv gerer illt. Högni : hvat skal ek spara nv at gera illt medan ver farvm fram. ek veit nv gerla

(vgl. NI. 1580) Dô stuont der arme priester unde schütte sine wât. dâ bî sach wol Hagene daz sîn niht wære rât,

80 at ekki barn i varre ferd kemr aptr. (288, 8 -1 7 )

Analyse

im für mære sageten diu wilden merewîp. er dâhte : „dise degene müezen Verliesen den lip.“

daz

Das Gespräch in der Saga setzt sich aus zwei unabhängigen Teilen zusammen. Zunächst fragt Gunnar ernst aber sachlich nach dem Grund der bösen Tat. Högni gibt eine sachliche Begründung. A uf diese Antwort geht Gunnar nicht ein, sondern er beschimpft Högni. Dieser nimmt den Fehdehandschuh auf und bekennt sich auffahrend zu der ihm vorgeworfenen Freude am Bösen, und er schleudert Gunnar triumphierend ins Gesicht, daß er nun sicher wisse, daß sie alle untergehen werden. Gunnars verletzender Vorwurf und Högnis verzweifelt-trotzige Antwort weisen uns auf die Beratungsszene der zweiten Quelle zu­ rück. Dort zeigte sich ein Högnibild, das ganz anders als das des Nibelungenbildes ist (s.o.S. 47ff.). Der Högni der zweiten Quelle wird von den anderen als übellaunig, bösartig empfunden und ist mit dem Makel einer unedlen Abstammung behaftet. Gunnar spricht hier in derselben herrischen, verletzenden Art mit ihm wie dort in der Beratungsszene. Wenn man unter diesem Aspekt Högnis abschließende Worte be­ trachtet : ek veit nv gerla at ekki barn i varre ferd kemr aptr, dann muß man sie als Steigerung gegenüber seiner düsteren Prognose in der Beratungsszene verstehen. Dort war es nur eine Ahnung, eine miß­ trauische Vermutung, die ihn von der Reise abraten ließ. Hier kann er triumphierend sagen, daß er damit recht behalten hat; denn jetzt w e iß er, daß keiner zurückkehren wird. Diese Interpretation setzt voraus, daß Högni auch in der zweiten Quelle eine Begegnung mit Meerfrauen hatte ; denn nur daher kann er die Gewißheit des Unterganges der Niflungen erlangt haben. Wenn Högnis abschließende Worte der zweiten Quelle entstam­ men, warum fragt dann Gunnar nicht, woher Högni dieses Wissen habe? Im NI. berichtet Hagen von sich aus eingehend von seinen Erlebnissen und zieht die Folgerungen daraus (1587-1589). Natür­ lich kann hier der Sagamann schlecht gearbeitet haben; aber wir werden später sehen, daß Gunnar in der zweiten Quelle anscheinend bis zum Überfall der Hunnen nichts vom Verrat geahnt hat, daß er zumindest an solche Ahnungen und Warnungen nicht geglaubt hat (vgl. u. S. 132f.). So muß also an dieser Stelle entweder gesagt werden,

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daß Gunnar von diesen pessimistischen Äußerungen nichts wissen wollte, oder es muß ein Ereignis eintreten, daß eine Fortsetzung des Gespräches unmöglich macht. Dieses Ereignis ist das Kentern; denn wenn wir das Versagen der Steuerung als Einschub aus der 'Älteren N ot’ ( = deren Ruderbrechen) herausnehmen, dann schließt sich an Högnis Worte unmittelbar die Beschreibung des Kenterns an : oc i þessv bili hvelvir skipinv. (288,24; Übs. S. 391) h Daß die Beschrei­ bung des Kenterns ebenfalls der zweiten Quelle zugehört, werden wir später sehen (s.u. S. 85). Wir sind bei unserer Interpretation der abschließenden HögniWorte von der zweiten Quelle und ihrem Högni-Bild ausgegangen. Högni hat auf irgendeine Weise erfahren, daß seine Vermutung eines unglücklichen Ausganges der Fahrt richtig war. Es ist nicht davon die Rede, daß er noch einmal eine Prüfung der ihm gewordenen Verheißung vorgenommen hätte. Wir können also aus diesen HögniWorten nicht auf das Vorhandensein der Kaplan-Episode oder einer ähnlichen Probe in der 'Älteren Not’ schließen. Die Worte Hagens, die wir als ungefähre Parallele neben die Högnis in der Saga stellten, gehören in eine andere Situation hinein. Sie werden nicht in der Auseinandersetzung mit Günther oder einem anderen Nibelungen­ fürsten gesprochen, sondern Hagen denkt sie, als er sieht, daß der Kaplan gerettet ist. Es scheint eher, daß das NI. wieder ein Gespräch der 'Älteren Not’ zerstört hat und daß Hagen in diesem Gespräch, das anders als das der Saga ausgesehen haben muß, von der Prophe­ zeiung der Meerfrauen erzählt. Diese These findet durch eine Stelle des Nibelungenliedes eine Stütze. Die 26. Aventiure setzt mit folgender Strophe ein:1 *6

1 Der Ausdruck i þessv bili (Hs. A i þessv = Besserung? ) paßt besser zu der von uns rekonstruierten Situation als zu der der Saga. Denn in der zweiten Quelle ist der bestimmte Augenblick gemeint, in dem die Auseinandersetzung zwischen Gunnar und Högni ihren Höhepunkt erreicht hat, als Högni seine triumphierenden Worte hinausgeschrien hat. In der Saga scheint der Moment des Landes gemeint zu sein: Oc þa er hann hever bcett stiornvidina. oc Kann hever vid kom it stryrinv. pa er skamt til landz. oc i þessv bili hvelvir skipin v. oc vit pat koma Peir til landz. at hvert klæde er alvått um pa. pat er innan bordz var

(2 8 8 ,2 2 -2 8 9 ,2 ). Aber ist das Kentern, so daß alle Insassen völlig durchnäßt werden, noch beim Anlegen möglich? F. Erichsen hat wohl aus ähnlichen Überlegungen, heraus vom Text abweichend übersetzt: Als er es ausge­ bessert h a tte ... w ar es n i c h t w e it v o m U fe r . Dann ist m it i pessv bili kein wichtiger und genau bestimmbarer Moment gemeint.

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Analyse

Dô si nu wären alle komen ûf den sant, der künec begonde vrâgen: ,,wer soi uns durch daz lant die rehten wege wîsen, daz wir niht irre varn?“ dô sprach der starke Volkêr : „ daz soi ich eine bewarn.“

(1586)

Vergleichen wir damit die Strophen 1594/95: „Wer sol daz gesinde wîsen über lant?“ si sprächen: „daz tuo Volkêr, dem ist hie wol bekant stîge unde strâze, der küene spileman.“ ê daz mans vollen gerte, man sach wol gewâfent stän Den snellen videlære. den heim er üf gebant. in hêrlîcher varwe was sîn wîcgewant. er bant ouch z’einem schäfte ein Zeichen, daz was rôt. sît kom er mit den künegen in eine grœzlîche nôt. Die Strophen 1594/95 wiederholen wortreicher genau dasselbe, was Str. 1586 bereits ausgesagt hat. Solche Doppelungen lassen immer auf einen Einschub schließen. Die dazwischen stehenden Strophen enthalten Hagens Bericht über seine Begegnung mit den Meerfrauen, deren Prophezeiung und seine Erprobung der Wahrheit des Prophezeiten (1587-1589). Die Nachricht verbreitet sich im ganzen Heer und erzeugt Sorge (1590). Mit einem ungeschickten Anschluß folgt dann Hagens Geständnis, daß er den Fergen erschla­ gen habe: Dâ ze Mreringen si wären über komen, dâ dem Elsen vergen was der lîp benomen. ...

(1591)

Es scheint uns sicher zu sein, daß der Dichter des Nibelungenliedes in den Strophen 1587-1593 Dinge nachträgt, die in der 'Alteren Not* schon vorher berichtet worden sind. Die Strophen 1594/95 sind dann eine Nahtverdoppelung, die wir aus der Saga zur Genüge ken­ nen. In der 'Älteren Not’ müssen also Hagens Begegnung mit den Meerfrauen und die Fergentötung schon früher zur Sprache ge­ kommen sein. Wir werden gleich sehen, wo das vielleicht geschehen sein kann. Zuerst müssen wir fragen, weshalb der Dichter des Nibe­ lungenliedes wohl gegenüber der 'Älteren Not’ geändert hat. Der Grund kann nur darin liegen, daß die Tendenz, Hagen in den Szenen des Flußüberganges in seiner ganzen einsamen Größe zu zeigen, noch weiter geführt worden ist als in der 'Älteren Not’ . Erst als der Übergang vollendet, das Schiff zerstört und das Heer auf das Weiter-

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reiten eingestellt ist, offenbart Hagen das sie erwartende Schicksal und begründet sein den Nibelungen bis dahin unverständliches Handeln. Und zu dieser höchsten Steigerung der Person Hagens trägt auch die Kaplan-Episode bei. Sie läßt Hagen als einen erschei­ nen, der als Frevler mißverstanden wird, der inWahrheit aber weiter sieht und vorausschauender handelt als irgendein anderer. Die K a­ plan-Episode macht es auch aus äußeren Gründen notwendig, daß Hagen schweigt, bis der Flußübergang beendet ist ; denn wie leicht hätte ein Feiger oder Kurzsichtiger meinen können, das Schicksal dadurch zu beeinflussen, daß er dem Kaplan ein Leid antut. Diese herausfordernde Frage an das Schicksal gehört in die schweigsame Verantwortung d s großen Einsamen. Wo offenbarte Hagen in der 'Älteren Not’ das von den Meerfrauen empfangene Wissen und wo gestand er dort die Tötung des Fergen ein? Hier können uns die Parallelen weiter helfen, die das NI. zu An­ fang jenes Gesprächs bietet, das Gunnar und Högni in der Saga nach der Fergentötung führen. Wir haben (s.o. S. 79f.) Gernots ent­ rüstete Stellungnahme zu Hagens Vorgehen gegen den Kaplan (1577) als Parallele zu Gunnars vorwurfsvoller Frage in der Saga gegeben. Man sieht die Übereinstimmungen leicht : sowohl Gernots wie Gun­ nars Worte enthalten zwei Fragen ; die erste fragt danach, was Hagen bzw. Högni damit bezwecke, die zweite fragt, ob der Ferge selbst einen Anlaß zu Hagens/Högnis Tat gegeben habe. Trotzdem könnte man die Worte nicht miteinander vergleichen, da sie in ganz ver­ schiedenen Situationen gesprochen werden, wenn nicht etwas anderes darauf wiese, daß sie in der 'Älteren Not’ nicht dort standen, wo sie im NI. stehen. Gernot spricht nämlich vom Tode des Kaplans, obwohl dieser Tod gar nicht eingetreten ist. Man kann das natürlich so ver­ stehen, daß Gernot von dem Zweck ausgeht, den Hagen verfolgt, und der ist sicher die Tötung des Kaplans. Aber wenn man Gernots Frage einfach so nimmt, wie sie im Text steht, entnimmt man dar­ aus, daß der Kaplan bereits tot ist: ,,waz hilfet iuch nu, Hagene, des kappelânes tôt?“ (1577,2). Man würde zumindest den Konjunk­ tiv statt des Indikativs erwarten müssen. Darum können diese Worte sehr wohl vom Dichter des Nibelungenliedes einfach aus einer Stellungnahme zur Fergentötung in die Stellungnahme zu der anderen Untat Hagens verpflanzt worden sein. Zu dieser Mutmaßung ermuntert uns die Beobachtung, daß im NI. das Gespräch über die Fergentötung höchst merkwürdig verläuft. 6*

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Analyse

Es setzt wie in der Saga mit einer Frage Günthers ein : Do der künic Günther daz heize bluot ersach Sweben in dem schiffe, wie balde er dö sprach: „wan sagt ir mir, her Hagene, war ist der verge komen? iuwer starkez eilen wæn’ im daz leben hät benomen.“

(1567)

Hagen streitet die Tat einfach ab, und Günther gibt sich damit zu­ frieden (1568); denn er geht der Sache nicht weiter nach, obwohl es deutlich ist, daß die Tat erst vor kurzem geschehen sein kann, da das Blut noch heiß ist und raucht (1567,1 vgl. 1566,2). Es ist sehr wohl möglich, daß die Strophe 1567 in der 'Älteren Not’ das Ge­ spräch einleitete1, und daß Günther oder ein anderer Nibelungen­ fürst dann die Frage nach dem Grund der Tat und der Schuld des Opfers stellte, jene Fragen also, die in der Saga tatsächlich von Gunnar an Högni gestellt werden, die im NI. aber in die KaplanEpisode versetzt worden sind. Wir erhalten dann übrigens wieder das Schema der Gesprächseinleitung der 'Älteren Not* (s.o. S. 54). Wahrscheinlich antwortete Hagen in der 'Älteren Not’ auf die Fragen und Vorwürfe ähnlich wie in der Saga. Denn der dort ange­ gebene Grund ist nicht unbedingt töricht. Högni will vermeiden, daß von der Fahrt der Niflungen durch organisierte Botenfahrten Kunde in das Hunnenland gelangt, so daß sie einem feindlichen Überfall unterwegs, ohne Geleit des freundlichen Rodingeir - von dem sie ja noch nichts wissen - hilflos ausgesetzt sind 1 2. Vielleicht hat der Sagamann auch geändert, und es stand da, daß Högni vermeiden wollte, daß der Ferge seinen Herrn, den Bayernherzog, benach­ richtige? A uf jeden Fall sind solche Überlegungen Högnis nur dann berechtigt, wenn der Ferge ein Dienstmann des Bayernherzogs ist, sonst ist an eine gut organisierte Aussendung von Boten kaum zu denken. Das würde ebenfalls auf die 'Ältere Not’ als Quelle dieser Antwort Högnis deuten. Wenn in der 'Älteren Not’ ein solches Gespräch Günthers und Hagens über die Fergentötung stattfand, dann würde sich auch gut Gemots bange Frage nach geeigneten Schiffsleuten anschließen, die 1 Die Saga konnte diese einleitende Frage nicht übernehmen, weil dort die Fergentötung vor Gunnars Augen geschieht. 2 Vgl. auch W . Richters einleuchtende Vermutung, daß die Angst vor einer Ankündigung der Nibelungen durch Boten ein aus dem Urlied ererbtes und zäh bewahrtes Motiv sei (S. 37f.) (W . Richter, Beiträge zur Deutung des Mittelteils des Nibelungenliedes. ZfdA 72 (1935), S. 9 -47).

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Hagen zu der beruhigenden Feststellung veranlaßt, daß er der beste Ferge war, den man am Rhein finden konnte (1569. 1570). In der Saga endet die Überfahrt mit dem Kentern des Bootes (288,24-289,2; Übs. S. 391). Davon weiß das NI. nichts, und das Motiv steht in der ganzen Überheferung der Nibelungensage ver­ einzelt da. Das Kentern, bei dem die Niflungenfürsten durchnäßt werden, ist die Voraussetzung für die Trocknungsszene, die die Saga zweimal berichtet. Die eine spielt in Bakalar, die andere bei der An­ kunft in Susat. Beide Szenen haben so viel Ähnlichkeit miteinander, daß sie wohl beide der einen Trocknungsszene einer Quelle nach­ gebildet wurden. Die heute gültige Meinung der Forschung sieht in Kentern und Trocknungsszene einen Zusammenhang einer anderen Quelle als der 'Älteren Not’ ; 1 denn im NI. sind keine Spuren zu finden, die erweisen könnten, daß die 'Ältere Not’ eine Trocknungs­ szene enthielt. Dagegen fragt es sich, ob man nicht in der Kaplan-Episode einen Ersatz für das Kentern sehen muß. Dabei fielen alle Nibelungen­ fürsten ins Wasser und „kamen mit gänzlich nassen Kleidern ans Land“ , im NI. wird nur einer ins Wasser gestoßen, der Kaplan. Er schwimmt um sein Leben und steht mit nassen Kleidern am Ufer: Do stuont der arme priester unde schütte sîne wdt. (1580,1) Aber diese Parallele ist zu ungenau, als daß wir daraus entnehmen dürften, daß die 'Ältere Not’ die Kaplan Episode als Ersatz für das Kentern ent­ hielt. Wir hatten schon aus anderen Gründen es für unmöglich ge­ halten, daß die ausweitende und schon in der Meerweiberszene vor­ bereitete Kaplanszene der 'Älteren Not’ mit ihrem knappen Stil angehört hat. Die Saga berichtet zweimal vom Kentern eines Bootes. Die zweite Stelle haben wir soeben als Bericht der zweiten Quelle identifiziert. Wie haben wir die erste Stelle zu beurteilen? Dort betrifft das Ken­ tern jenes kleine Boot, das die Niflungen in Högnis Abwesenheit gefunden haben: oc med þvi litla skipi hava nockorer menn faret ivir øna. oc þegar er þeirforv fra landefyllir alit þetta skip. oc hvelver vnder þeim oc komaz þeir navdvglega til landz. (287,20-24; Übs. S. 390.) Wir erklärten die Auffindung dieses kleinen Bootes als Nachtrag des Sagamannes aus der zweiten Quelle (s. o. S.73L). Die eigentliche Funk­ tion des Bootes, die Überfahrt, ist an das bemannte, von Högni auf­

1 V gl. H . Hempel, Nibelungenstudien S. 38 ff.

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Analyse

gefundene Boot übergegangen. So konnte der Sagamann nichts besseres tun, als daß er die Unbrauchbarkeit des kleinen Schiffes erwies und es damit aus dem Spiel zog. Er tat es, indem er das Kentern der zweiten Quelle auch hierfür verwendete. Das Boot hat anscheinend ein Leck, es läuft voll Wasser, kentert und ist damit für die Überfahrt nicht mehr zu benutzen. Es könnte natürlich eben­ so wie das große Schiff ausgebessert werden (vgl. 289,2.3; Übs. S. 391), um zusätzlich verwendet zu werden. Aber davon steht nichts in der Saga. Ein Zeichen dafür, daß es dem Sagamann wirklich darum zu tun war, dieses Boot alsbald wieder verschwinden zu lassen, da weder in der 'Älteren Not5 noch in der zweiten Quelle ein zweites Boot erwähnt und in die Handlung verflochten wurde. Unsere Analyse hat ergeben, daß in der Saga die Darstellung der 'Älteren Not5 mit der der zweiten Quelle verflochten ist. Für die 'Ältere Not5 konnten wir folgenden Ablauf erschließen : Die Fergenszene endete mit der Erschlagung des Fährmannes. Hagen muß das riesige Schiff - im NI. faßt das Boot alle Nibelungen, es fährt nur einmal über (1581) - allein zu der Stelle fahren, wo ihn die Nibelungen erwarten. Dabei bricht das Ruder, das er hinten im Heck stehend führt. Er bessert den Schaden aus und landet bei den Seinen. Die Nibelungen freuen sich über das Schiff und über Hagens Rückkehr. Sie sehen das noch heiße Blut im Schiff, und Günther sagt Hagen auf den K op f zu, daß er den Fergen - den zu suchen Hagen ja fortging - erschlagen habe. Er fragt nach dem Grund. Hagen sagt, daß er vermeiden wollte, daß Boten ihre Fahrt meldeten (im Hunnenland? beim Bayernherzog?). In der zweiten Quelle waren die Szenen nicht so auseinandergelegt wie in der 'Älteren Not5, sondern es gab nur eine Szene, in der meh­ rere der eben erwähnten Motive erschienen: Die Niflungen gewinnen ein Boot mit einem Schiffsmann. Sie steigen ein und fahren auf den Strom hinaus. Högni rudert so stark, daß seine beiden Ruder und die Pflöcke zerbrechen. Wütend springt er auf und schlägt dem vor ihm auf der Ruderbank sitzenden Schiffs­ mann den K opf ab, weil er das Boot so schlecht gezimmert habe. Gunnar ist über diese Tat empört und wirft Högni vor, er könne nur Böses tun und sei nur dann froh, wenn er Böses tun könne. Högni fragt im gleichen unwirschen Ton zurück, warum er aufhören solle, Böses zu tun, da ja doch niemand von dieser Fahrt zurückkehren werde. In diesem Augenblick kentert das Boot. Alle kommen durch-

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näßt ans Ufer. Das Boot wird an Land gezogen, ausgebessert, und die übrigen Niflungen werden nach und nach übergesetzt. Es bleibt uns nun noch das Problem der verschiedenen Zeitan­ gaben in Saga und NI. zu erörtern. Im NI. kommen die Nibe­ lungen an dem zwölften morgen an die Donau (Str. 1525,4), so daß Meerweiber-, Fergenszene und Überfahrt am Tage geschehen. In der Saga übernachten die Niflungen in Zelten, weil sie kein Schiff finden, um die Überfahrt durchzuführen (285,6-10; Übs. S. 388). Als Ankunftszeit am Rhein können wir demnach etwa den späten Nachmittag oder Abend erschließen. Hierzu paßt die spätere Angabe: N v er Gunnarr konungr afotvm oc allt lid hans (287,18f ; Übs. S. 390). Das soll doch wohl bedeuten, daß die Niflungen früh am Morgen, während Högni noch abwesend ist, aufstehen und alsbald ein Schiff finden. In der Saga findet also die Überfahrt am Morgen nach einer Nachtruhe statt1. Da die Saga bei der Schilderung der Überfahrt der zweiten Quelle folgt und nur einzelne Züge der 'Älteren Not* hineinarbeitet, kommmen wir zu dem Ergebnis, daß in der zweiten Quelle keine wesentlichen Ereignisse in der Nacht geschahen. Nur Högnis Begegnung mit den Meerfrauen muß - falls sie in der zweiten Quelle vorhanden war - in der Nacht erfolgt sein. Högni muß sich von dem schlafenden Heer als Wachtmann (Ths. 285,16) entfernt haben. Wie sah es in der 'Älteren Not’ aus? Einige Beobachtungen sprechen dafür, daß auch dort die Meerweiberszene in die Nacht verlegt war. Die oben erwähnte Angabe, die wir der zweiten Quelle zuschrieben, ist formelhaft knapp gehalten: niflvngar fara nv olla sina leid til Jbess er þeir koma at rin __ þeir dveliaz þar um nottena med sinum landtiolldum (285,6-10). Der Satz klingt so bestimmt und abschlies­ send, daß man erwartet, im nächsten Satz über die Geschehnisse am nächsten Morgen unterrichtet zu werden. Aber das geschieht nicht, sondern der Sagamann setzt noch einmal zu einer Schilderung der Ereignisse v o r der Nachtruhe an, und er tut es nicht durch einen kurzen Vermerk, sondern erzählt in einem viel aufgelockerterem Stil eine kleine Episode. Gunnar und Högni beraten über die Nacht­ wache. V m kvelldit er þeir eru metter at noturde mellte Gunnarr konungr 1 F. Erichsen fügt „noch“ ein. Sie meint also, daß die Überfahrt in der Nacht geschah und daß die Nibelungen sich gar nicht erst zum Schlaf nieder­ legten, sondern noch auf waren, als Högni m it dem großen Boot bei ihnen landete.

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til hogna sins broåvr hver skal hallda vord þessa nott a f varum monnum. Scipa þeim er per syn iz. pa svarar H ogne, per megod skipa peim er y dr syn iz til vard halldz vp m ed anne. en f y r nedan li dit vil ek her vera vard halldz madr sialfr. p vi at pa megom ver til geta e f ver f am oss nockort skip. E n Gunnare konunge likade petta vel. pa er adrer menn fo r v at sova. tecr hogni oll sin vopn og gengr m ed anne ovan. en a er

(285,11- 22; Übs. S. 389). Es fällt auf, daß Högni hier wieder die 2. Pluralis in der An­ rede gebraucht: P e r megod skipa peim er y d r s y n i z . . . Da es unge­ bräuchlich ist, daß Högni in dieser Weise mit seinem Bruder spricht, - zumal Gunnar Högni zuvor in der 2. Sg. angeredet hat - versucht die Handschrift A zu bessern. Sie läßt zunächst sins brodor (285,12) weg (285, Anm. 8). Sie läßt auch per megod aus (285,14.15 und Anm. 11) und ändert y d r syn iz til vard halldz in: p i e r likar (285,15 und Anm. 13), setzt also die 2. Sg. statt der 2. PI. - Das alles weist uns auf die 'Ältere Not’ , in der Hagen in dieser Weise mit seinem K ö ­ nig gesprochen haben wird. Und es findet sich im NI. tatsächlich eine Szene, die an diese Episode der Saga erinnert. Im NI. übernimmt Hagen die Nachtwache am Hofe Etzels : tvngls lios m ikit oc rna hann f y r p vi sea sina leid.

,,Owê der nahtselde“ , sprach Gîselher daz kint, „und owê miner friunde, die mit uns komen sint. swie et ez uns min swester sô güetlîche erböt, ich fürhte daz wir müezen von ir schulden ligen tôt.“

(1827)

„Nu läzet iuwer sorgen, sprach Hagene der degen. „ich wil noch hinte selbe der schildwahte pflegen. ich trüwe uns wol behüeten unz uns kumet der tac. des sit gar än’ angest; so genese danne swer der mac.“

(1828)

Dô nîgen si im alle und sagten im des danc. si giengen zuo den betten. diu wile was niht lanc daz sich geleget hêten die wætlîchen man. Hagene der küene der heit sich wäfen began.

(1829)

Der Aufbau dieser Szene des Nibelungenliedes zeigt ebenso wie die erwähnte Episode der Saga eine Dreiteilung: 1. Frage Gunnars, wer Klage Giselhers über die gefähr­ die Nachtwache überneb liche Nachtherberge am Hunnen­ solle. hof. 2. Högni übernimmt die Wache stromabwärts.

Hagen beruhigt und erklärt, daß erWache halten werde.

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3. Gunnar nimmt den Vorschlag an. Als alle übrigen sich zur Ruhe legen, nimmt Högni seine Waffen und macht sich auf den Weg.

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Alle danken ihm. Sie gehen zur Ruhe, während Hagen sich wapp­ net.

Die Unterschiede in den Einzelheiten ergeben sich vor allem durch die verschiedenen Situationen, in denen Hagen bzw. Högni die Nachtwache übernimmt. In beiden Fällen erscheint er jedoch als derjenige, in dessen Schutz sich die Nibelungen unbedenklich bege­ ben. Damit stellen sich beide Szenen zu denen, die Hagen als der Nibelunge tröst zeigen. Und da wir für die 'Ältere Not* gerade hier beim Donauübergang diese Szenenfolge anzusetzen haben, läßt sich die Übernahme der Nachtwache durch Hagen recht gut am An­ fang der Hagenszenen vorstellen. Wir nehmen also an, daß die Nibe­ lungen in der 'Älteren Not’ ebenfalls am Donauufer lagerten (Giselhers Klage über die Nachtherberge würde auch in diese Situation ausgezeichnet passen), daß Hagen die Nachtwache übernahm und daß er während der Nacht die Begegnung mit den Meerfrauen hatte. Für eine nächtliche Meerweiberszene der 'Älteren Not’ trat schon Andreas Heusler ein: „Hägens einsamen Gang legt der Künstler in die Nacht, und zwar unter Mondschein. Dies kommt im besonderen der Meerweiberszene zugute. Es erfüllte die Lessingsche Vorschrift, Jenseitige nicht ins grelle Tageslicht zu rufen1.“ Wie stand es mit den anderen Szenen des Donauüberganges, mit der Fergenszene und der Überfahrt, geschahen auch sie während der Nacht? Beide Szenen eignen sich schlecht dazu. Hagen sieht das Fergenhaus am anderen Ufer, der Ferge sieht den Ring, den Hagen an der Schwertspitze emporhält. Noch unwahrscheinlicher ist es, daß die Überfahrt selbst in der Nacht vorgenommen werden konnte. Wir können darüber nichts sicheres aussagen. Vielleicht war es in der 'Älteren Not’ auch so, daß keine genauen Zeitangaben mehr gemacht wurden, und vielleicht hat der Dichter des Nibelungenliedes gerade deshalb überhaupt darauf verzichtet, Szenen des Donauüberganges in die Nacht zu verlegen. Es ist noch etwas anderes zu bedenken. Wenn in der 'Älteren Not’ die Meerweiberszene, und vielleicht sogar noch die Fergenszene in die Nacht verlegt waren, dann war die Überfahrt schon am Morgen oder spätestens am frühen Vormittag beendet. Das nächste große 1 Heusler, Nibelungensage und Nibelungenlied, S. 40 f.

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Ereignis ist im NI. der Kam pf mit den verfolgenden Bayern. Dieser Kam pf gewinnt seine ganz besondere Färbung dadurch, daß er in der Nacht vor sich geht. Die Nibelungen hören das Hufklappern der Verfolger, sie sehen deren Waffen in der Finsternis leuchten (1601. 1602). Der Bayernkampf ist also an das Nachtkolorit sehr stark ge­ bunden. Wenn die Überfahrt der Nibelungen aber schon am frühen Morgen beendet ist, die Verfolger sie jedoch erst in der Nacht ein­ holen, entsteht eine reichlich lange Zeitspanne, in der die Nibelungen genug Zeit zu einer wilden Flucht hätten. Diese Zeitspanne ver­ ringert sich, wenn der Flußübergang erst gegen Mittag, vielleicht sogar erst im Laufe des Nachmittags erfolgt ; denn im NI. gelangen die Nibelungen ja erst am Morgen an das Ufer der Donau. Dann macht sich Hagen erst auf die Fergensuche, er unterhandelt mit den Meerfrauen, sucht wieder nach dem Fergenhaus, unterhandelt mit dem Fergen, fährt allein mit dem Fährboot zu den Nibelungen zurück, die Pferde werden durch den Strom getrieben, Hagen setzt die Mannen über, und zu guter Letzt zerstört er auch noch das Schiff. Das sind alles Dinge, die nicht in wenigen Minuten zu erledigen sind. Im NI. liegen also zwischen dem Ende der Überfahrt und dem nächt­ lichen Überfall durch die Bayern nur wenige Stunden. Der Dichter des Nibelungenliedes kann also, gerade weil er Überfahrt und Bayernkampf, der Nachts geschehen sollte, zeitlich enger aneinander­ rücken wollte, das Nachtkolorit am Beginn der Szenen des Fluß­ überganges weggelassen haben. Aus diesem Grunde mag er auch Hagens merkwürdige Anordnung erfunden haben, daß die Nibe­ lungen langsam durch das Gebiet der Bayern reiten sollen, um nicht denVerdacht der Flucht zu erregen (1593). Ein künstlerischer Gesichtspunkt mag für den Dichter des Nibe­ lungenliedes hinzugekommen sein : es ist nicht sinnvoll, zwei Szenen­ folgen kurz hintereinander in der Nacht spielen zu lassen. Alle diese Erwägungen hängen von der Frage ab, ob die 'Ältere Not’ schon den Bayemkampf enthielt oder nicht. Ist er erst vom Dichter des Nibelungenliedes eingefügt worden, dann ist es sehr wahrscheinlich, daß er zugunsten dieses Nachtkampfes das Nacht­ kolorit der Szenen des Donauüberganges opferte. Zu der Annahme, daß schon die 'Ältere Not’ den nächtlichen Bayernkampf enthielt, sind wir deswegen berechtigt, weil auch die Ths. von ihm zu berich­ ten weiß. Freilich nicht hier in der Niflungasaga, sondern viel später, bei der Erzählung von Thidreks, Hildebrands und Herrats Rück­ kehr nach Italien (Ths. II, 335,15-341,15; Übs. S. 419-421). Der

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Sagamann hätte dann hier in der Niflungasaga den nächtlichen Kam pf mit den Bayern ausgelassen, um ihn später bei der Erzählung von Dietrichs Rückkehr verwenden zu können. Nun stimmen aber Saga und NI. in allen Einzelheiten so wenig überein, daß man nicht vermuten darf, sie hätten als gemeinsame Quelle die 'Ältere Not’ benutzt. Ich glaube eher, daß die 26. Aventiure eine selbständige Schöpfung des letzten Epikers ist, dessen Stärke gerade die Ver­ deutlichung der bedrohlichen Atmosphäre ist, die die Nibelungen bis zum offenen Ausbruch des Kampfes mit den Hunnen umgibt. Wir bleiben also mit Heusler und anderen bei der Meinung, daß die Gestaltung des Bayemkampfes durch eine Dietrichdichtung ange­ regt wurde1. Diese Dietrichdichtung diente der Saga an der ange­ führten Stelle als Quelle, ihr erzählte sie den Überfall Jarl Elsungs nach. Zu der Annahme, daß der Bayernkampf noch nicht der 'Älte­ ren Not’ angehörte, besteht um so mehr Berechtigung, als man jener Dichtung wohl kaum eine so ausweitende Episode Zutrauen darf. Und doch hat ja auch schon die 'Altere Not’ eine Beeinflussung durch diese Dietrich-Dichtung erfahren. Das beweist Högnis List, sich als Mann des Herzogs Elsung auszugeben (286,17-20; Übs. S. 389f. Vgl. dazu Ths. II, 335,15; Übs. S. 419). Zumindest wußte also die 'Ältere Not ’ schon von Else (Saga = Elsung), dem Bayern­ herzog. Aber das besagt noch nicht, daß in der 'Älteren Not’ auch schon ein Kam pf mit den Bayern stattgefunden haben muß. Es kann auch so gewesen sein, daß die Nibelungen, die ja damit rechnen muß­ ten, daß die Bayern den Tod des Fergen rächen wollten, so schnell wie nur möglich, ja fluchtartig durch das bayrische Gebiet ritten. Sie machten erst Rast, als sie die Grenze überschritten hatten. Für diese These bietet das NI. zwei Stützen. 1. Von einem wilden R itt zeugen die Strophen 1621-1623: Dô si nu nâch in körnen, die dort strîten ê, dô tet dem ingesinde diu müede harte wê. „wie lange sul wir riten ?“ des vrâgte manie man. dô sprach der küene Dancwart : ,,wir mugen niht herberge hân. (1621) Ir müezet alle riten unz ez werde tac.“ Volkêr der snelle, der des gesindes pflac, bat den marschalch vrâgen: ,,wä sul wir hinte sin, da gerasten unser moere und ouch di lieben herren min?“ 1 Vgl. A . Heusler, Nibelungensage, S. 75.

(1622)

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Dô sprach der küene Dancwart: ,,ine kans iu niht gesagen. wir enmugen niht geruowen ê iz beginne tagen. swä wirz danne vinden, dâ legen uns an ein gras.“ dô si diu mære hörten, wie leit in sümelichen was !

(1623)

Die atemlose Hast, mit der die Nibelungen reiten, wäre nicht mehr unbedingt notwendig, weil die Bayern ja vernichtend geschlagen wurden und nichts davon verlautet, daß sie mit Verstärkung zurück­ kehren werden (1614-1617). Außerdem scheint Volkers Frage: „wä sul wir h in te s in ...“ darauf zu weisen, daß der Ritt am Tage ge­ schieht ; denn er fragt nach der Herberge, die sie in der (kommenden) Nacht aufnehmen wird. 2. A uf einen solchen anstrengenden Tagesritt weist auch die Ecke­ wartszene. Hagens besorgte Worte reden davon, mit denen er Ecke­ wart die Lage der Nibelungen schildert : „Nu müeze uns got behüeten,“ sprach dô Hagene. „jan’ hânt niht mère sorge dise degene wan umb’ die herberge, die künige und ouch ir man, wâ wir in disem lande noch hînte nahtselde hân. Diu ross sint uns verdorben ûf den verren wegen, unt der spîse zerrunnen“ , sprach Hagene der degen. „wir vinden’z ninder veile, uns wære wirtes not, der uns noch hînte gæbe durch sîne tugende sîn brôt.“ (1636. 1637) Zweimal taucht hier das Wort hinte auf. Es muß also tatsächlich ein anstrengender Tagesritt hinter der Nibelungen liegen, so daß sie dringend einer guten Herberge für die Nacht bedürfen. Aber vom NI. aus gesehen besteht für diese Dringlichkeit gar keine Veranlas­ sung, von einem anstrengenden Tagesritt ist keine Rede; denn die Nibelungen kommen gerade erst von Passau, wo sich Menschen und Tiere ausgeruht haben (1630). Viel besser würden diese Hagenworte in die Situation der 'Älteren Not’ passen, die wir uns etwa so vor­ stellen müssen: die Nibelungen sind seit der Überfahrt ohne Rast und in fliegender Eile den ganzen Tag über geritten, um den Nach­ stellungen des Bayernherzogs (oder der Bayernherzöge? ) zu ent­ gehen. Keiner weiß, wo sie eine Herberge finden werden. Da stoßen sie auf den schlafenden Grenzwächter, sie haben also das bayrische Gebiet verlassen und können nun an eine Rast denken. Eckeward weist sie zu Rüedeger. Wenn wir die Einkehr in Passau, die ja auch aus anderen Gründen als Einschub des letzten Epikers zu gelten hat, herausnehmen, dann können wir die Bedeutung Eckewards viel

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besser begreifen. Sein Vorhandensein zeigt den Nibelungen an, daß das gefährliche Bayernland hinter ihnen liegt. Er weist die Er­ schöpften zu Rüedeger, der ihnen eine sichere Zuflucht bieten wird. Der Aufenthalt in Bechlaren erscheint dann in noch größerem K on­ trast zu den Anstrengungen der bisherigen Reise und dem, was die Nibelungen am Hunnenhof erwartet. Hier finden sie Geborgenheit und die Möglichkeit, noch einmal ganz zur Ruhe zu kommen. H ö g n is B e g e g n u n g m it E c k e w a r d wird durch das Zeugnis des Nibelungenliedes wie der Saga für die 'Ältere Not’ erwiesen. In den Einzelheiten weichen die beiden Texte aber recht stark von­ einander ab, so daß geklärt werden muß, wie die Szene in der 'Älte­ ren Not* aussah und welche Änderungen der Sagamann, welche der Dichter des Nibelungenliedes vornahm. Vor allem ist die Einleitung in Saga und NI. abweichend erzählt. Im NI. stößt das ganze Heer der Nibelungen am Tage, vielleicht gegen Abend, auf den schlafenden Eckeward. In der Saga findet ihn allein Högni, der die Nachtwache hält. Mehrere Unstimmigkeiten im Sagatext lassen vermuten, daß der Sagamann hier geändert hat. 1. Högni geht allein weit fort vom Heer (einsamem a niosn langt fr a lidinv. Ths. 289,9) ; aber der aufschreckende Eckeward sieht das Heer, denn er klagt: N v er komen herr iland m ins herra. (289,17.18; vgl. auch 290,8.9). 2. Högni fragt - genauso wie im NI. - nach einem geeigneten Ort zum Ausruhen, und zwar schon für die bevorstehende Nacht : hvar visar þv oss til gistingar i nótt (290,10.11); aber anfangs ist erzählt worden, daß sich das Heer schon gelagert hat und schläft (289,7), deshalb hält Högni ja die Wache. 3. Die Szene beginnt am Abend (A t kvellde legiaz þeir nidr. oc lata H ogna hallda vord. Ths. 289,7.8.); als dann aber die Niflungen bei Rodingeir sind, ist es immer noch Abend (oc sitia þat quelld oc drecka m ed hinvm bezta fagnade. 292,21.22). Aus diesen Widersprüchen können wir erkennen, daß der Saga­ mann nicht genau der 'Älteren Not’ folgte, sondern daß er Högnis Nachtwache von sich aus hier hereingebracht hat. In der 'Älteren Not’ wird die Einleitung ganz ähnlich wie im NI. ausgesehen haben. Woher hat der Sagamann diese Darstellung von Högnis Nacht­ wache und warum fügte er sie ein? Die naheliegendste Erklärung wäre, daß auch die zweite Quelle eine Eckewardszene enthielt, die durch eine Nachtwache Högnis eingeleitet wurde. Aber diese Er­

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klärung scheidet aus zwei Gründen aus: 1. Trotz mancher Abwei­ chungen in Saga und NI. läßt sich eine eigenständige Eckewardszene neben der der 'Älteren Not* nicht erweisen. Es scheint viel­ mehr die Auffassung berechtigt zu sein, daß die zweite Quelle eine entsprechende Szene in der Begegnung der Niflungen mit dem Boten bei þorta besaß (vgl. u.S. 104ff.). 2. Wenn wir für die zweite Quelle den Zusammenhang Kentern - Trocknungsszene in Susat postulieren, dann muß die Strecke vom Strom bis Susat in verhält­ nismäßig kurzer Zeit zurückgelegt worden sein. Es kann höchstens einen Tagesritt zwischen beiden Ereignissen liegen, keinesfalls eine Nachtruhe - denn sonst wären die Niflungen inzwischen vermutlich getrocknet. Wozu hat sich dann der Sagamann solche Mühe mit dem Ein­ fügen von Högnis Nachtwache gemacht? Ich sehe die einzige Mög­ lichkeit der Erklärung darin, daß er einen Nachtrag aus seiner zwei­ ten Quelle vornehmen wollte. Er muß dort etwas ausgelassen haben. Das kann nur die Nachtwache Högnis vor dem Übergang über den Strom gewesen sein, und zwar die Darstellung der zweiten Quelle. Wir hatten gesehen, daß die Saga vor der Meerweiberszene Högnis Übernahme der Nachtwache nach der 'Älteren Not* berichtete (s.o.S. 87ff.). Er hat den entsprechenden kurzen Vermerk der zweiten Quelle nicht verwenden können. Wir haben aber vermutet, daß Högni in der zweiten Quelle ebenfalls eine Begegnung mit Meerfrauen hatte (vgl. S. 80), und zwar muß sie nachts stattge­ funden haben, während die Niflungen am Ufer des Rheins schliefen. Vor dieser Episode scheint eine kleine Einleitung in der zweiten Quelle gestanden zu haben, die lapidar verkündete : A t kvellde legiaz þeir nidr. oc lata H ogna hallda vord. oc er aller m enn erv sofnader. þa gengr Hogne einsaman a niosn langt fra lidinv.

(289,7-9; Übs.

S. 391). Es mag hinzukommen, daß der Sagamann die Szene gern in die Nacht verlegte, weil er sich einen schlafenden Grenzwächter besser bei Nacht als am Tage vorstellen konnte. Auch im Gespräch zwischen Högni und Eckeward sind erhebliche Abweichungen zu verzeichnen. Wir werden sehen, daß diese aber nicht auf Änderungen des Sagamannes am Text der 'Älteren Not’ beruhen, sondern darauf, daß der Dichter des Nibelungenliedes eine wesentüche Änderung vornahm.

Die Fahrt der Niflungen bis Bakalar

Eckeward : vei verde mer fyr þenna svefn er nv svaf ek. Nv er komen herr iland mins herra. Rodingeirs margreifa. [Ec hever nv vakat .iij. daga oc .iij. nætr oc fyr þat sama sofnada ek.]1 Högni: þv mant vera gódr drengr. se her minn gullring, hann skal ek þer geva fyr þinn drengskap. oc þv skallt betr niota. en sa er fyrr var gevit. ek skal oc fa þer sverd þitt...

Eckeward : haf fyr mikla guds þocc þina giof. fyrst er þv gaft mer sverd mitt en sidan þin Gvllring. Högni : Ecki skalltv vera rœdr um þenna her ef þv geter landz Rodingeirs margreifa. hann er várr vin. Fyr þessv rœdr varo Udi Gunnarr konungr af niflvngalande. oc hans brædr. Seg mer enn gódr drengr. hvar visar þv oss til gistingar i nótt eda hversv heiter þv. Eckeward : Ek heiti ekkivordr... Oc nu vndrvmc ek hversv þv ferr. er þv hogne alldrians son. er drapt minn herra Sigurd

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Owé mir dirre schände, ... jâ riuwet mich vil sêre der Burgonden vart. sît ich verlôs Sîfride, sît was min freude zergân. ouwê, herre Rüedegêr, wie hân ich wider dich getan ! (1633) Dö hört’ vil wol Hagene des edelen recken nöt. er gab im wider sin wäfen und sehs bouge rôt. „die habe dir, heit, ze minnen, daz du min friunt sist. du bist ein degen küene, swie eine du üf der marke list.“ (1634) „Got Ion’ iu iwer pouge“ , (1635,1)

(vgl. NI. Str. 1636)

„doch riuwet mich vil sêre zen Hiunen iuwer vart. ir sluoget Sifriden : man ist iu hie gehaz.

1 Das in K lam m em stehende hat keine Entsprechung im NI.

96 svein, get þin medan þv ert i hvnalande. þv mått her eiga marga avondar men. En ecki kann ek visa þær til betra natstadar en i bakalar. til margreifa Rodingeirs. hann er godr hofdinge. (289,16-290,18; Übs. S. 391 f.)

Analyse

daz ir iuch wol behiietet, in triuwen rät’ ich iu daz.“ (1635,2-4)

Hagen : Nu müeze uns got behüeten,... jan’ hânt niht mère sorge dise degene wan umb’ die herberge,... wå wir in disem lande noch hinte nahtselde hån. (1636, vgl. 1637) Eckeward : Hinweis auf Rüedeger (1638/39) Abschließend erfolgt die Voraussendung Eckewards, der die Nibe­ lungen bei Rüedeger/Rodingeir anmelden soll. Im NI. bittet Günther Eckeward um diesen Dienst (1640), in der Saga trägt Högni es ihm auf (290,20.21). Das Gespräch in der Saga geht deutlich von der Voraus­ setzung aus, daß Högni und Eckeward sich nicht kennen. Eckeward beklagt seinen Schlaf, weil ein (unbekanntes) Heer in das Land seines Herrn gekommen ist. Högni beruhigt ihn und stellt ihm die Niflungen regelrecht vor: F y r þessv rœdr varo lidi Gunnarr konungr a f niflvngalande . oc hans brædr. Erfragt Eckeward nach seinem Namen. Eckeward nennt ihn, und jetzt, da er aus all dem Gehörten schließt, daß es Högni ist, der so freundlich mit ihm spricht, warnt er ihn: er pv hogne alldrians s o n . . . get þin medan þv ert i hvnalan de... Das Nibelungenlied setzt dagegen voraus, daß Hagen und Eckeward sich kennen. Eckeward erkennt sofort, daß die Burgunden da sind : ja riuwet mich vil sêre der Burgonden vart. Folglich fehlt die gegen­ seitige Vorstellung. Eckeward schließt sofort an den Dank für die Goldringe die Warnung. Er ist ganz sicher, daß Hagen vor ihm steht: ir sluoget S ifrid en : man ist iu hie gehaz. In der Saga steht an dieser Stelle die vorsichtige Formulierung: er þv h o g n e ... er drapt m inn herra ... Zumindest Eckeward weiß im NI. genau, wen er vor sich hat. Von Hagen ist das nicht so gewiß zu sagen. Seine Worte: „die

Die Fahrt der Niflungen bis Bakalar

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habe dir, heit, ze minnen, daz du min friunt sist. du bist ein degen küene, swie eine du v f der marke list.“ scheinen an einen Unbekannten gerichtet zu sein, so wie es in der Saga tatsächlich der Fall ist. Das führt uns darauf, daß das Gespräch der 'Älteren Not’ in der Saga besser als im NI. bewahrt blieb. Der Dichter des Nibelungen­ liedes mußte ändern, weil er in Eckeward den Markgrafen sah, der zuerst Siegfried und Kriemhild nach Xanten bzw. Nibelungenland, dann Kriemhild nach Etzelnburc folgte. Dazu veranlaßte ihn Eckewards Warnung in der 'Älteren Not’ ; denn diese Warnung muß schon - nach Ausweis der Saga - so formuliert gewesen sein, daß man aus ihr entnehmen konnte, daß Eckeward ehemals ein Mann Siegfrieds war. Vielleicht hat der Dichter des Nibelungenliedes die Gestalt des Markgrafen Ecke ward überhaupt erst aus dieser kurzen Notiz der 'Älteren Not’ entwickelt. A uf jeden Fall lag ihm daran, stärker herauszuarbeiten, daß Eckeward bereits von früher her in einer engen Beziehung zu den Nibelungen stand, daß er sie also bereits kannte. Daher strich er die gegenseitige „Vorstellung“ und brachte gleich beim ersten Ausruf Eckewards zum Ausdruck, daß dieser weiß, wer vor ihm steht, weil er früher in Siegfrieds Diensten stand. Der Ausruf sit ich verlos Sifride, sit was mînfreude zergän erscheint ganz zusammenhanglos in Eckewards Klage über seine Unaufmerksam­ keit, die es zuließ, daß die Burgunden in das Land Markgraf Rüedegers kamenx. Die beiden Zeilen : „ja riuwet mich vil sêre der Burgonden vart. sit ich verlos Sifride, sit was min freude zergän. haben große Ähnlichkeit mit zwei Zeilen aus der Warnung : Doch riuwet mich vil sêre zen Hiunen iuwer vart. ir sluoget Sifriden : ... In der ersten Halbzeile unterscheiden sich die beiden Strophen nur durch das Anfangswort. In den dazugehörigen Abzeilen taucht das­ selbe Substantiv (vart) auf, das in beiden Fällen auch Subjekt des Satzes und außerdem Reimwort ist. In der nächsten Zeile folgt dann an beiden Stellen der Hinweis auf Siegfrieds Tod. Der Dichter des Nibelungenliedes hat sich also bei seiner Neufassung von Eckewards klagendem Ausruf eng an die Warnung Eckewards gehalten. Deren Wortlaut fand er in der 'Älteren Not’ vor, das zeigt uns die an dieser Stelle wörtlich übereinstimmende Saga.1 1 Auch diese Klage ist eigentlich nur dann sinnvoll, wenn - wie in der Saga - Eckeward nicht weiß, was für ein Heer vor ihm steht, und er fürchten muß, daß es Feinde sind.

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Analyse

Beim Abschluß des Gesprächs und in dem dann folgenden A b­ schnitt sehen wir deutlich die Hand des Sagamannes. Es läßt sich zwar nicht entscheiden, ob er - gegen die 'Ältere N ot’ - Högni statt Gunnar ( = NI.) den Auftrag zur Anmeldung in Bakalar erteilen läßt; aber den letzten Satz: seg oc at ver erum helldr vater (290,21) erkennen wir als seine Zufügung. Er will den Leser daran erinnern, daß die Niflungen durch das Kentern naß geworden sind, und so die Trocknungsszene in Bakalar vorbereiten. Die Saga berichtet dann weiter : N v skiliaz þeir. o c r i år e c k i v a r dr h e i m , en hogne f err aptr til sinna manna, oc seg er Gunnar e konunge allt hversv hanum hever fariz. oc bi dr þa standa vpp sem hvatazt. oc rida heim til borgarennar oc sva gera þeir. E c k i n v a r dr r i d r h e i m sem hvallegast til b o r g a r.. .

(291,1-6). Der Heimritt Eckewards wird also zweimal erwähnt. Man sieht förmlich, wie dem Sagamann plötz­ lich nach dem ersten Vermerk eingefallen ist, daß er ja auch noch sagen muß, daß Högni zum Heer zurückkehrt und die Niflungen unterrichtet. Danach setzt er dann mit dem Bericht von Eckewards He'mritt und der Anmeldung in Bakalar neu an. Dieser Einschub über Högnis Rückkehr zum Heer beweist noch einmal, daß Högnis einsame Nachtwache nicht zum Eckeward-Abenteuer der 'Älteren Not’ gehörte, sondern erst vom Sagamann damit in Verbindung ge­ bracht wurde. Auch die so kleinbürgerlich anmutende Aussage : oc er hann (seil. Eckeward) kemr i hol ena. hever margreife Rodingeirr mataz. oc cetlar at sova ganga. (291,6-8) ist sicher vom Sagamann eingefügt worden, der mit seiner Zeitangabe - er ließ ja die Eckeward-Episode am späten Abend, wenn nicht sogar in der Nacht spielen - nun ins Gedränge kam. Wir können abschließend feststellen, daß der Sagamann die ge­ samte Eckeward-Episode aus der 'Älteren Not’ übernahm, sie aber insofern abwandelte, als er sie während Högnis Nachtwache - viel­ leicht ein Nachtrag aus der zweiten Quelle - spielen ließ. 5. D er A u fe n t h a lt in B a k a la r (Ths. II, 292,1-295,14; Übs. S. 393-395. NI. 1661-1713). Dieser Abschnitt der Saga setzt ein mit der Ankunft der Niflungen, denen Rodingeir entgegengeritten ist. Die Saga berichtet davon kurz und knapp in zwei Sätzen, während das NI. freudig die sich hier bietende Gelegenheit ergreift, wieder einmal allen höfischen Prunk zu entfalten (1661-1668). Anschließend daran wird in der

Der Aufenthalt in Bakalar

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Saga die Trocknungsszene, die eigentlich erst zur Ankunft in Susat gehört, vorweggenommen. Dazu zwang den Sagamann die 'Ältere Not’ . In seiner anderen Quelle kamen die Nif lungen nach dem Fluß­ übergang, naß geworden durch das Kentern, alsbald - vielleicht nach einem Tagesritt - nach Susat, wo sie sich an den Feuern trockneten. In der 'Älteren Not* aber stand zwischen dem Flußüber­ gang und der Ankunft am Hunnenhof der Aufenthalt in Bechelären, so daß der Sagamann die Trocknungsszene hierher verlegen mußte, an den Ort der ersten Nachtherberge nach dem Kentern. Er konnte die Trocknungsszene in Susat nur dadurch erhalten, daß er die Niflungen einregnen ließ (s.u. S. 107), so daß noch einmal ein Trock­ nen an Feuern notwendig wurde. Das Einregnen betraf a lle Niflungen, so mußten sich auch alle in Susat an den Feuern trocknen (s.u.S. 110). Vom Kentern waren dagegen nur zwei Gruppen betroffen: 1.einige Unbenannte, die mit dem kleinen Kahn überzusetzen versuchten (287,20-24 ; Übs. S. 390) und 2. die Insassen des großen Bootes, das bei der ersten Überfahrt kenterte. Unter den zuletzt Genannten befinden sich Gunnar und Högni (288,24; Übs. S. 391). Eine dritte Gruppe wird dann mit dem reparierten großen Boot übergesetzt, ohne daß weitere Unfälle passieren (289,2-6; Übs. S. 391). Dieser Differenzierung entspricht die Gruppierung in der Trocknungsszene in Bakalar: oc vid annan elld sitr Gunnarr konungr oc H ogne oc þeirra brœdr. oc svmer þeirra menn. en svmt lid þeirra vid annan alld. E n þeir er fir ir voru fylg ia

(292,8-12). Wir können hierin eine sorgfältige Abstimmung der Trocknungsszene mit der Überfahrt sehen, die der Sagamann vorgenommen hat. Wir müssen aber andererseits auch damit rechnen, daß diese erste Trocknungsszene, die das K e n te r n zur Ursache hat, in manchen Zügen genauer die Trocknungsszene der Quelle bewahrt haben kann als die in Susat, der der Sagamann eine neue Ursache, das Einregnen, geben mußte. Gerade die Differenzierung in „nasse und trockene“ Niflungen kann sehr wohl aus der Quelle stammen (vgl. u. S. 110 und 141). Ein weiterer Unterschied zur Trocknungsszene in Susat ist der, daß hier in Bakalar die Feuer draußen im Garten angezündet sind (292,7) und nicht wie in Susat in der Halle (vgl.u.S. 110). Das Folgende stimmt in den beiden Trocknungsszenen überein: die Niflungen ziehen ihre Mäntel aus bzw. lüpfen sie, so daß man die darunter befindlichen Rüstungen und Harnische sehen kann. In

margreifa inn i hollina. oc skipar hann þeim ápalla.

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Analyse

beiden Fällen bemerkt eine Frau die Waffen, in Bakalar ist es Gudelinda, in Susat ist es Grimhild (292,12-14 und 298,11.12; Übs. S.393 und 396). In Susat bleibt diese Entdeckung ohne Folgen, die Trock­ nungsszene wird abgebrochen. Hier in Bakalar spricht Gudelinda die Niflungen auf die Entdeckung der Waffen hin an. Wieder ist es möglich, daß in diesem Ansprechen ein Zug der Quelle bewahrt blieb (vgl.u. S. 110f.). Aber dort war natürlich Grimhild diese Frau, nicht Gudelinda, und folglich mußten dieWorte der Frau eine Umänderung erfahren; Gudelinda, die Wohlgesonnene, muß anders reden als Grimhild, die Todfeindin. Gudelinda warnt. Ihre Rede besteht aus zwei Teilen: 1. der Feststellung, daß die Niflungen bewaffnet seien, 2. dem warnenden Hinweis, daß Grimhild immer noch um Jung Sigurd weine: Niflvngar hava hingat fœ rt marga Jivita brynio. oc margan hardan hialm oc skarpt sverd n yia n skiolld. oc þat er harmanda mest at Grimhilldr grætr hvern dag Sigurd svein sinn bvanda. (292,15-19; Übs. S. 393). Die Warnung stimmt in ihrem 2. Teil fast wörtlich mit Thidreks späterer Warnung überein. Er sagt zu Högni: oc vara þic her i hvnalande. f y r þvi at þin systir Grimhilldr grætr enn huern dag

(301,7-9; Übs. S. 389). Dagegen stimmt der erste Teil von Gudelindas Worten genau zu dem, was Grimhild sagt, als sie vom Turm aus die heranreitenden Niflungen beobachtet : nv fara m inir brædr med margan n yia n skiolld oc marga hvita brynio (297,15-17; Übs. S. 396). Diese Worte Grimhilds stammen aus der 'Älteren Not’ , das zeigt uns das NI.: Sigurd svein

„Nu wol mich miner vreuden“ , sprach Kriemhilt. ,,hie bringent mine mâge vil manigen niuwen schilt und halsperge wize: ...

(1717,1-3).

Zu dieser Stelle schreibt H. de Boor: ,,Kriemhilds Freude über die Bewaffnung der Brüder fällt aus dem Zusammenhang. Hier könnte ein uraltes Wort Kriemhilds aus dem Urlied bewahrt sein, da sie noch auf seiten der Brüder stand: „Gottlob, sie kommen wenigstens gewaffnet.“ 1Wenn aber diese Worte aus einer sehr alten Schicht der Sage stammen, dann ist es möglich, daß auch die andere vom Saga­ mann benutzte Quelle sie - natürlich ebenfalls umgedeutet auf die neue Situation der Rache an den Brüdern - enthielt, und es wäre ferner denkbar, daß Grimhild sie in der Trocknungsszene sprach, als sie die Bewaffnung der Brüder entdeckte. Dann wäre also der erste 1 Ausgabe, S. 271.

Der Aufenthalt in Bakalar

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Teil von Gudelindas Worten in der Trocknungsszene in Bakalar der einen Trocknungsszene der Quelle entnommen, und nur der zweite Teil, der warnende Hinweis auf Grimhilds Weinen um Sigurd, wäre vom Sagamann neu hinzugefügt worden, da er ja der Szene eine andere Wendung geben mußte, als sie vermutlich die Trocknungs­ szene der Quelle nahm. Offenbar hat also der Sagamann seine eingeschobene Trock­ nungsszene in Bakalar mit wenig Erfindungsgabe aus Elementen späterer Erzählstücke, namentlich der Trocknungsszene in Susat, zusammengesetzt. Diese Szene in Bakalar kann uns daher später für die Rekonstruktion der Trocknungsszene der zweiten Quelle, die in Susat spielte, nützlich werden. A uf die Trocknungsszene folgt Rodingeirs Bettgespräch mit Gudelinda, in dem der Entschluß gefaßt wird, Giselher die Tochter Rodingeirs als Gastgeschenk zu geben (292,24-293,12; Übs. S. 393). Wie haben wir uns die Entstehung dieser merkwürdigen Szene zu erklären? Das NI. kennt sie nicht, wohl aber weiß es von dem Gegen­ stand dieses Bettgesprächs, von der Verlobung Giselhers mit Rüedegers Tochter. Diese Verlobung ist im NI. das Hauptereignis des Abends nach der Ankunft in Bechelären. Und so können wir uns die Ent­ stehung des Bettgesprächs in der Saga sehr einfach erklären : auch in der 'Älteren N ot’ fand die Verlobung am Abend des ersten Tages in Bechelären statt. Der Sagamann füllte ihn aber mit der Trock­ nungsszene aus, die er in Anlehnung an seine andere Quelle für Bakalar neu schuf, und er konnte - ohnehin mit der Zeit arg im Ge­ dränge (s.o. S. 98) - die Verlobung nicht auch noch an jenem Abend unterbringen. Daher fügte er das Bettgespräch ein, in dem die Ver­ lobung beschlossen wird. Er gleicht die Situation einer Szene an, die er der 'Älteren Not’ entnahm, dem Bettgespräch Attilas und Grim­ hilds, in dem sie die Einladung der Nif lungen beschließen (s. o. S. 32 ; vgl. auch NI. 1168). Ein wörtlicher Anklang fällt auf : E k m a s e g i a þ e r vm ivngherra Giselher (293,7.8.) = E c kann segia þer þau tidindi (279,14.15). Den Anstoß aber, die Verlobung mit den Gastgeschen­ ken in Verbindung zu bringen, mag der Sagamann - wie wir schon einmal vermuteten (s.o.S. 29) - von einem Vermerk der 'Älteren Not’ erhalten haben, der ähnlich lautete wie jene Zeile des Nibe­ lungenliedes, in der daran erinnert wird, daß Giselher kein beson­ deres Gastgeschenk brauche, da der Wirt ihm ja etwas viel Wert­ volleres gegeben habe, als es ein Geschenk jemals sein kann : die sine tohter schœne die het er Giselher gegeben (1694,4). - Ganz folgerichtig

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Analyse

wird dann die Durchführung derVerlobung so gestaltet, daß Rodingeir tatsächlich Giselher die Tochter als Gastgeschenk anbietet (292,14. 15; Übs. S. 394). Das dürfen wir aber einem frühhöfischen Epos, wie es die 'Ältere Not’ war, kaum Zutrauen ; wir möchten hier eher ein vergröberndes Mißverständnis des Sagamannes annehmen. Erst bei der Schilderung des Abschieds und der Verteilung der Gastgeschenke ist der Sagamann wieder der 'Älteren Not’ gefolgt. Die Niflungen wollen schon am nächsten Tag weiterreiten, werden aber von Rodingeir gebeten, noch länger zu bleiben (293,12-16; Übs. S. 393f. — NI. 1687-1690). In der Saga schlagen sie die Bitte ab, im NI. entsprechen sie ihr (293,16.17. NI. 1691). Rodingeir bewirtet sie nun in der Saga aufs prächtigste (293,19-21), und merkwürdigerweise wird auch im NI. dieses Mahl am Morgendes zweiten Tages in Bechelären erwähnt (1687,4 und 1688,1). Das mag ein Zeichen dafür sein, daß diese Mahlzeit in der 'Älteren Not’ keine gewöhnliche war, sondern daß ihr eine besondere Bedeutung zukam und daß sie deswegen erwähnt wurde. Diese besondere Bedeutung wird uns sofort klar, wenn wir annehmen, daß die Niflungen in der 'Älteren N ot’ wie in der Saga nicht längere Zeit in Bechelären blieben, sondern sofort nach dieser Morgenmahlzeit aufbrachen. Dann ist das die letzte Bewirtung vor dem Untergang, die sie gebor­ gen in der Gastfreundschaft eines ihnen wohlgesonnenen Wirtes und Hauses erfahren. Die Ankündigung, daß Rüedeger die Nibelungen begleiten wird, war ebenfalls in der 'Älteren Not’ enthalten (Ths. 293,17-19; Übs. S. 394. NI. 1708). Die Verteilung der Gastgeschenke weist in Saga und NI. einige Abweichungen auf, die wir kurz vermerken wollen. Die Saga hat folgende Anordnung : 1. 2. 3. 4.

Gunnar erhält einen Helm, Gernoz erhält einen Schild, Giselher erhält die Tochter Rodingeirs und das Schwert Gram, Högni sucht sich Naudungs Schild aus und erhält ihn.

Demgegenüber hat das NI. diese Anordnung: 1. Es wird kurz daran erinnert, daß Giselher die Tochter Rüedegers erhielt und also kein besonderes Gastgeschenk braucht (s. o. S. 101 ), 2. Günther erhält ein wâfenlîch gewant, 3. Gernot ein Schwert, 4. Hagen erbittet sich Nuodungs Schild.

Der Aufenthalt in Bakalar

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Bis in viele Einzelheiten stimmt Hagens Begabung mit Nuodungs Schild in Saga und NI. überein (294,14-295,4 = NI. 1696-1702); unterschiedlich ist nur, daß in der Saga meist Rodingeir mit Högni spricht, während das NI. bemüht ist, die Markgräfin mehr in den Vordergrund zu stellen. Das wird wieder dem Bemühen des letzten Epikers um höfisches Zeremoniell und um die Einbeziehung der höfi­ schen Dame in sein Werk zu verdanken sein, zumal gleich darauf die BeschenkungVolkers - von derdie Saga nichts erwähnt-zueiner regel­ rechten Szene höfischen Minnedienstes ausgestaltet wird ( 1705-1707). Der Unterschied, daß Gunnar in der Saga einen Helm, im NI. ein ganzes Kampfgewand erhält, ist unwesentlich; wichtiger ist die Frage, wie es kommt, daß im NI. nicht er, sondern Giselher an erster Stelle erwähnt wird. Wir erkennen daran die feine Kunst des letzten Epikers, der Giselher als den Schwiegersohn - an diese Stellung wird kurz erinnert - von den übrigen Nibelungen, die nur Gäste sind, in diesem Augenblick löst. Aus demselben Grunde erhält er wohl auch im NI. kein Gastgeschenk. Aber dazu zwang den Dichter des Nibelungenliedes auch ein Kompositionsgrund: da er nicht Giselher, sondern Gernot später im Zweikampf Rüedeger gegenüber­ treten läßt, muß Gernot das Schwert erhalten, das den Spender tötet. Für Giselher bleibt also nichts übrig. Gernot übernimmt mit diesem Teil der Giselher-Rolle der 'Älte­ ren Not’ , dem Zweikampf mit Rüedeger, auch dessen Gastgeschenk, das Schwert, mit dem Rüedeger dann getötet wird. In der Saga ist Gernoz’ Beschenkung merkwürdig unbetont abgetan; er erhält einen Schild, keinen besonderen, so wie Högni, und während alle anderen dem Geber mit einigen Worten danken, wird das von Gernoz nicht gesagt. Wir werden auf dieses Problem noch einmal zurück­ kommen (vgl.u.S. 182f.). In der Saga ist also die Anordnung bei der Überreichung der Gastgeschenke im wesentlichen so, wie wir es für die 'Ältere Not* erschließen können: Günther wurde zuerst genannt, Giselher er­ hielt das Schwert, mir dem er später seinen Schwiegervater erschla­ gen muß. Das ungelenke Angebot an Giselher, die Tochter Rodingeirs als Gastgeschenk anzunehmen, hatten wir schon als Werk des Saga­ mannes identifiziert (s.o.S. 102). Abschließend berichten Saga und NI., wie es sicher auch die 'Ältere Not’ tat, vom Abschied von den Frauen und dem Ausritt der Niflungen und Rodingeirs mit seinen Mannen (295,6-14; Übs. S. 394f. NI. 1709-1712).

104

Analyse

6. D er B o te b ei þ o r ta (Ths. II, 295,15-297,8; Übs. S. 395). Unter der nichtssagenden Überschrift: fra niflungum berichtet die Ths. von einem Ereignis, das das NI. nicht kennt. Die Niflungen treffen bei der Stadt þorta ( = Dortmund) auf einen von Attila aus­ gesandten Boten, der Rodingeir zum Fest nach Susat einladen soll. Die Episode zeigt in ihrer Einleitung manche Ähnlichkeit mit der Eckeward-Begegnung. Die Niflungen treffen auf der Fahrt ins Hunnenland z u fä llig auf einen untergeordneten Mann aus dem Hunnenland. Einer der Fürsten spricht mit ihm, in der EckewardBegegnung ist es Högni, bei þorta ist es der die Niflungen geleitende und wohl den ganzen Zug anführende Rodingeir. Wir hatten gesehen daß der Sagamann die Einleitung der Eckeward-Begegnung gegen­ über der 'Älteren Not* veränderte, indem er sie in die Nacht verlegte und Högni allein auf den schlafenden Grenzwächter treffen ließ. Nehmen wir den im NI. besser bewahrten Beginn der Szene für die 'Ältere N ot’ an, daß nämlich das ganze Heer der Nibelungen auf Eckeward trifft und Hagen vor den anderen nur das Wort ergreift und mit ihm verhandelt, so ist die Ähnlichkeit zwischen den beiden Begegnungen noch größer. Denn auch Rodingeir richtet vor dem ganzen Heer das Wort an den so unversehens Ankommenden. Auch der Abschluß der beiden Szenen ist auffällig ähnlich. Ecke­ ward wird von Högni geschickt, um die Ankunft der Niflungen in Bakalar anzukündigen - hier sendet Rodingeir den Boten voraus, um die herannahenden Niflungen in Susat zu melden (296,23 bis 297,1). Ja sogar die dann folgenden Sätze, die von Attilas Befehlen zum Vorbereiten der Quartiere, von seiner Bitte an þidrek, den Niflungen entgegenzureiten, der Erfüllung dieser Bitte und dem „Einholen“ der Gäste durch þidrek berichten (297,1-8), erinnern sehr an die Eckeward-Episode, die ja ebenfalls mit Rodingeirs Vor­ bereitungen und dem „Einholen“ der Gäste - hier freilich durch den Hausherrn selbst - abschließt (291,11-24). Der Aufbau dieser beiden Szenen stimmt also in großen Zügen überein : 1. zufälliges Zusammentreffen, 2. Gespräch angesichts des Heeres, 3. Vorausschicken des unterwegs Getroffenen als Boten, 4. Bericht von der Reaktion auf dessen Botschaft, Vorbereiten der Quartiere, Entgegenreiten und Geleiten der Gäste. Das Gespräch zwischen Rodingeir und dem Boten ist in zwei

Der Bote bei þorta

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Teile geteilt. Es wird von Rodingeir eröffnet, der nach den Neuig­ keiten in Susat fragt. Der Bote gibt eine merkwürdige Antwort, wenn man bedenkt, daß das Niflungenheer vor ihm steht : die Niflungen seien ins Hunnenland gekommen und Attila bereite für sie ein Fest vor. Dann spricht er von seinem Auftrag (Einladung R odingeirs), der nun erfüllt ist. - Rodingeir fragt weiter, wie viele Hunnen denn König Attila einzuladen gedenke. Auch hierauf ant­ wortet der Bote bereitwillig: M e r Uz sva sem eigi mvne her v e r a fœ r i y darre for. E n attila konungr hever bodet mar gom mannum til veizlv. E n drottning Grimhilldr hever stemnt halvo fleirom sinvm vinvm . oc hon samnar m onnum um allt riki sitt. þeim er henne vilia lid veita, oc her er sva mikit til emnal þessarar veizlv sem her skili vera allmikit

(296,15-23). Dieser „Lage­ bericht“ ist für die Niflungen wertvoll, weil sie daraus klar ersehen, daß sie in Susat eine hunnische Übermacht erwartet. Ein Ausdruck scheint sogar anzudeuten, daß der Bote diesen an sich harmlos klingenden Bericht nicht ohne Absicht gibt: Grimhild sammelt Mannen im ganzen Reich, die ihr H ilfe le is te n wollen (296,20). Man fragt sich, wobei Hilfe leisten? So erscheint der Bericht über die Festvorbereitungen in Susat plötzlich doppeldeutig. Es könnte sich dahinter eine Warnung verbergen. Auch Eckeward warnte ; nicht in dieser versteckten, andeutenden und nur dem Eingeweihten verständlichen Weise, sondern ganz offen und deutlich: get þ in medan þ v ert i hvnalande. þ v mått her eiga marga avondar m en (290,14-16). Trotz dieses Unterschiedes haben die direkte und die versteckte Warnung eine wichtige Ähnlichkeit : beide sagen etwas über die Lage im Hunnenland aus. Eckeward: es sind Feinde da ; der Bote bei porta : in Susat versammeln sich die Hunnen zum Fest in solcher Menge, daß sie den Niflungen an Zahl weit über­ legen sind. Damit haben diese beiden Warnungen einen ganz anderen Charakter als die vorangegangenen. In der 'Älteren Not’ warnte zu­ nächst Hagen aus dem Gedanken an Siegfrieds Ermordung, die Kriemhild Grund zur Rache gab. Ute warnte wegen eines voraus­ deutenden Traumes, Rumold aus seiner unheldischen Weitsicht, die Meerweiber aus ihrer Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen. Ecke­ ward und ebenso der Bote bei porta aber geben konkrete Nachricht vom Vorhandensein von Feinden bzw. von Vorbereitungen, die auf feindliche Absichten schließen lassen. Die Begegnung mit dem Boten bei porta kann nicht der 'Älteren Not* entstammen. Dagegen spricht das Fehlen dieser Szene im NI.

fiolmenne. oc þo mvne hvn lenge standa.

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Analyse

und die Nennung der Stadt þorta, die in die ganze niederdeutsche Lokalisierung der Nibelungengeschichte in der Saga hineingehört und die sich deutlich von der Lokalisierung der 'Älteren Not’ und des Nibelungenliedes (= Donauraum) unterscheidet. Außerdem ist es auch aus künstlerischen Gründen nicht wahrscheinlich, daß zwei einander so ähnliche Szenen in einer Quelle kurz hintereinander standen. Wenn aber beide Szenen zwei verschiedenen Quellen entstammen, wie kommen dann die Ähnlichkeiten zustande? Einige äußere Um­ stände der Begegnung bei þorta könnte der Sagamann der Eckeward-Begegnung nachgebildet haben. Aber diese Erklärung reicht für die Erscheinung, daß die Kerne beider Szenen ähnlich und doch individuell verschieden sind, nicht aus. Hier können nur sagenge­ schichtliche Erwägungen weiterhelfen, die wir jetzt noch nicht an­ stellen können (vgl. u. S. 291ff.). Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob der þorta-Bote schon in der zweiten Quelle ein von Attila an Rodingeir gesendeter Ein­ ladungsbote war. Wenn wir den ersten Abschnitt des Sagaberichtes zum Vergleich heranziehen, muß uns das als möglich erscheinen. Dort wird Attila gezeigt, wie er in Susat residiert und von dort aus seine Untertanen durch Boten zu sich entbieten läßt. Es wäre also möglich, daß schon in der zweiten Quelle von einem Boten die Rede war, der einen Attila untergebenen Fürsten nach Susat einladen sollte und unterwegs die N if lungen traf. Ob jedoch Rodingeir in diese Szene hineingehört, das muß zumindest dahingestellt bleiben. Der erste Teil des Gesprächs enthält jene seltsame Bemerkung des Boten, daß die Niflungen nun ins Hunnenland gekommen seien. Daran schließt er die Erklärung über seinen Auftrag, der ja nun erfüllt sei. Das hat mit dem eigentlichen Gespräch nichts zu tun. Es wird erst mit Rodingeirs zweiter Frage wieder aufgenommen. Und deshalb kann hier ein Einschub des Sagamannes vorliegen, der vielleicht von sich aus das Auftreten des Boten so ungeschickt moti­ viert hat. Jedenfalls darf man es auf Grund dieser Szene nicht wagen, die Gestalt Rodingeirs auch der zweiten Quelle zuzuschreiben. Der Sagamann war um der 'Älteren Not* willen gezwungen, ihn hier auftreten zu lassen ; obwohl man sich fragen kann, warum er Rodingeir dann so in den Vordergrund stellte, wenn von der zweiten Quelle aus dazu gar keine Veranlassung Vorgelegen hätte. Wir müssen noch kurz auf die ersten Sätze dieses Abschnittes eingehen. Nu er ecki af at segia þeirra ferd annat en þeir rida hvern dag

Grimhilds Ausschauen nach den Niflungen

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epter annan. Oc þann dag er þeir rida til svsam. er vatt vedr oc mikill

(295,16-20; Übs. S. 395). Man nimmt allgemein an, daß die Bemerkung über das schlechte Wetter und das Einregnen der Niflungen eine Notlösung des Sagamannes ist1, der auf diese Weise die Trocknungsszene in Susat möglich machen wollte.

vindr. oc allir niflvngar eru nv uater oc þeirra clæde

7. G rim h ild s A u s s c h a u e n n a ch den N iflu n g e n (Ths. II, 297,10-298,3; Übs. S. 396. NI. 1716.1717. 1762. 1763). Wir müssen uns die einzelnen Elemente dieser Szene der Saga vergegenwärtigen : 1. Grimhild sieht die Niflungen heranreiten und in die Stadt einziehen (297,10-12); 2. sie erkennt die Waffen und die Mannen (297,12-14); 3. sie spricht folgenden Gedanken aus : es ist ein schöner, grüner Sommer; die Brüder ziehen gewaffnet heran ; sie erinnert sich an den Schmerz, den ihr Sigurds Wunden bereiteten (297,15-17); 4. sie beweint Sigurd (297,18.19) ; 5. sie geht den Niflungen entgegen (297, 19.20). Von der anschließenden Begrüßung wollen wir erst später reden. Im NI. entsprechen die Strophen 1716 und 1717: Kriemhilt diu vrouwe in ein venster stuont : si warte näch den mâgen, sô friunt nach friunden tuont. von ir vater lande sach si manigen man. der künic vriesc ouch diu mære ; vor liebe er lachen began.

(1716)

,,Nu wol mich miner vreuden“ 2, 1 sprach Kriemhilt. ,,hie bringent mine mâge vil manigen niuwen schilt und halsperge wize : swer nemen welle golt, der gedenke miner leide, und wil im immer wesen holt.“

(1717)

Wir finden also nur die Elemente 2 und 3 der oben analysierten Szene der Saga im NI. wieder. Die beiden Liedstrophen zeigen uns etwa folgendes Bild: Kriemhild sieht das Heer der Nibelungen heran­ ziehen, sie sind schon so nahe, daß sie manigen man von ir vater lande

1 Vgl. H . Hempel, Nibelungenstudien I, S. 41. 2 Zu diesem merkwürdigen Freudenausbruch vgl. o. S. 100.

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zu erkennen vermag und auch die Waffen sehen kann. Auch König Etzel erfährt, daß die Nibelungen schon zu sehen sind, und freut sich darüber. Kriemhild verspricht demjenigen Gold, der ihr bei der Rache helfen will. Es wird nicht klar, ob diese Worte an irgend­ jemand gerichtet sind, von dessen Vorhandensein der Dichter nichts sagt, oder ob sie nur Kriemhilds Gedanken und Gefühle aussprechen sollen, die sie angesichts ihrer Brüder hegt. Und das ist überhaupt für diese beiden Strophen typisch: sie fügen sich gar nicht in die Handlung und ihre Gegebenheiten ein, sondern erscheinen wie ein aus allen Bezügen losgelöstes Bild. Denn gleich darauf wird erzählt, daß Dietrich den Nibelungen entgegenreitet - und zwar bis zu deren letztem Rastplatz (1718.1719). War dieser Rastplatz etwa so nahe vor der Burg, daß Kriemhild dort ihre Brüder sehen konnte? Im Vergleich zur Saga müssen wir für das NI. feststellen: 1. Kriemhild schaut nach den Nibelungen aus ; aber die Situation ist unklar. Keinesfalls beobachtet sie hier den Einzug in die Burg. 2. Wie in der Saga sieht sie die Mannen aus ihrem Vaterland, und 3. sie spricht ihre Freude darüber aus, daß ihre Verwandten Waffen tragen. 4. Anstelle des Weinens um Siegfried (vgl. Saga) finden wir hier den Gedanken an die Rache für das erlittene Leid, der in eine Auf­ forderung zur Rache gekleidet ist. Es bleibt unklar, an wen sich diese Aufforderung richtet. 6. Da dieses Ausschauen Kriemhilds nicht während des Einzugs der Nibelungen zu denken ist, fehlt auch der Abschluß der Sagaszene, daß Kriemhild den Burgunden entgegengeht. Es gibt jedoch im NI. noch ein zweites, weit späteres „Ausschauen Kriemhilds“ : Alsam tior diu wilden wurden gekapfet an die übermüeton holde von den Hiunen man. si ersah ouch durch ein venster daz Etzelen wîp. des wart aber betrüebet der schœnen Kriemhilden lîp.

(1762)

Ez mante si ir leide: weinen si began. des hete michel wunder die Etzelen man, waz ir sö schiere beswæret het ir muot. si sprach: ,,daz hât Hagene, ir helde küene unde guot.“

(1763)

Hier finden wir die Elemente, die das erste Ausschauen Kriemhilds gegenüber der Saga vermissen läßt. Als Kriemhild Hagen und Volker erblickt, wird sie an das ihr geschehene Leid erinnert, und sie bricht

Grimhilda Aussehauen nach den Niflungon

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in Weinen aus (Punkt 4). Auch die Situation ist der Saga viel ähn­ licher. Hagen und Volker befinden sich auf dem H of der Burg. Kriemhild sieht vom Fenster aus auf sie herunter und geht dann zu ihnen hinab (1772 - Punkt 1 und 5). Die Saga hat also die Szene der ‘Älteren Not’ bewahrt: Kriemhild sieht dieNiflungen heranziehen, dann in die Burg kommen und geht nun zu ihrer Begrüßung hinun­ ter. Das ist oin ganz typischer, auch sonst im NI. begegnender Szonenaufbau1. Der Dichter des Nibelungenliedes löste die Szene der 'Älteren Not’ auf und verwendete sie für die Einleitung seiner neu geschaffenen Aventiure: Wie Kriemhilt Hagenen verweiz unt wie er niht gen ir v f stuont. Das Ausschauen nach den in glänzenden Waffen heranreitenden Nibelungen stellte er - losgelöst aus der Handlung-als sehr eindrucksvolles Bild an den Schluß der 27. Aven­ tiure, also noch vor Dietrichs Entgegenreiten. Grimhilds Ausschau vom Turm hat der Sagamann demnach der ‘Älteren Not’ nacherzählt. Wir finden keine Spur darin, die uns nötigte, diese Episode auch für die zweite Quelle anzusetzen. Wir werden vielmehr annehmen, daß der Trocknungsszene, - die der zweiten Quelle angehörte und deren Sinn es ja ist, daß die unter den Mänteln verborgenen Waffen sichtbar werden - nicht eine andere Szene vorausgegangen sein kann, in der Kriemhild schon von weitem sieht, daß ihre Brüder gewaffnet heranreiten. In den beiden Quellen wurde das Thema: ,,Wie Kriemhild erkennt, daß ihre Brüder gewaffnot sind“ verschieden gestaltet, in der 'Älteren Not’ als Aus­ schau vom Turmfenster, in der zweiten Quelle als Trocknungsszene. Die in der Saga unmittelbar anschließende Begrüßung der Niflungen durch Grimhild unterscheidet sich von der entsprechenden Szene des Nibelungenliedes dadurch, daß Grimhild hier alle drei Brüder küßt (297,19-21). Im NI. wird nur Giselher durch einen Kuß ausgezeichnet (1737,3); auch diesen Zug finden wir in der Saga, aber er wird dort etwas später berichtet (299,3.4), und dort finden sich noch andere Elemente, die eine Parallele im NI. haben und die also aus der ‘Älteren Not’ stammen. Wir können daraus schließen, daß dor Sagamann hier an Kriemhilds Ausschau vom Turm ( - ‘Ältere Not’ ) zunächst Begrüßung und Trocknungsszene nach dor zweiten Quelle anschloß, und dann erst die verschiedenen Teile der Begrüßung durch Kriemhild aus der 'Älteren Not’ nachtrug.

1 Vgl. 8tr. 80 und 8 4 ; 1177. 1178; 38öff. und 410ff.

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H. D io T r o o k n u n g s s z e n e in S u sa t (Ths. II, 298, 5-15; Übs. 8. 300). Die ursprüngliche Gestalt der Trooknungsszene der zweiten Quelle ist wahrscheinlich in der sekundär vom Sagamann eingefügten Trooknungsszene von Bakalar besser erhalten als in der von Susat. Wir sagten schon, daß das in den verschiedenartigen Begründungen seine Ursache hat: vor Bakalar ist nur ein Teil der Niflungen, unter ihnen dio Fürsten, durch das Kentern des Bootes naß geworden, vor Susat wurden alle Niflungen durch das Regenwetter durchnäßt (295,17-20; übs. S. 395). Dadurch fällt in Susat die Möglichkeit fort, dio Niflungen in einzelne Gruppen aufzuteilen, wie wir es in Bakalar sahen. Es kann natürlich sein, daß diese Aufteilung wiohtig war tmd daß sie in der Erzählung der zweiton Quelle eine wesentliche Funktion hatte. Wir müssen daher darauf achten. Ist dio Trooknungsszene in Bakalar auch darin echter als die von Susat, daß die Feuer nicht in der Halle (wie hier), sondern draußen im Garten angezündot waren (292,7)? Der Sagamann sah sich der Schwierigkeit gegenüber, daß in der 'Älteren Not’ , wie im NI., fast alle wesentlichen Ereignisse im geschlossenen Raum spielten, in seiner zweiten Quelle dagegen im Garten. Es wäre also möglich, daß dio Trooknungsszene der zweiten Quelle (-- Bakalar) im Garten spielte, daß der Sagamann sie hier in Susat in die Halle verlegte, weil unmittelbar anschließend Ereignisse der 'Älteren Not* geschil­ dert werden, dio die Halle als Solmuplatz bedingen. Noch in einer dritten Beziehung scheint die Trocknungsszene in Bakalar Ursprünglicheres als die in Susat bewahrt zu haben. Gudelinda riohtot das Wort an die Niflungen, deren Bewaffnung sie ent­ deckt. Dor orsto Teil dieser Worte gleicht denen, die die vom Turm ausspähendo Grimhild sprioht: Gtidcliuda: Grimhild: Niflvngar bava hingst f