Schleiermachers Lehrjahre [Reprint 2019 ed.] 9783111498461, 9783111132310

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Schleiermachers Lehrjahre [Reprint 2019 ed.]
 9783111498461, 9783111132310

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Einleitung
2. Vorfahren
3. Erste Jugend
4. Niesky
5. Barby
6. Religiöse Befreiung
7. Studienzeit in Halle
8. Drossen
9. Erste theologische Prüfung
10. Schlobitten
11. Innere Gestaltung
12. Berlin. Zweite theologische Prüfung
13. Landsberg
14. Predigten
15. Erste literarische Versuche

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Schleiermachers

Lehrjahre

Schleiermachers Lehrjahre von

Heinrich Meisner

Herausgegeben von

Hermann Mulert

Berlin und Leipzig

Verlag von Walter de Gruyter & (5o. vormals G. I. Göschen'sche Berlagshandlung — I. Gultentag, Verlags­ buchhandlung — Georg Reimer — Karl I. Trübner — Bett & Comp.

1934

Archio-Nr. 32 04 34 Druck von Walter de Gruyter * (Ko., Berlin Wio

Professor Heinrich Meisner, lange Jahre Direktor bei der Staatsbibliothek in Berlin, hat den handschriftlichen Nachlaß

Schleiermachers, der im Besitz der Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin ist, treu verwaltet und durch wertvolle Veröffentlichungen daraus die Schleiermacher-Forschung gefördert, namentlich durch Herausgabe dreier Briefbände: Schleiermachers Briefwechsel mit semer Braut (2. Anfl. 1920); Schleiermacher als Mensch. 1. Sein Werden (1922), 2. Sein Wirken (1923). Alle drei bieten den

echten Text, ohne die Lücken und sonstigen Mängel früherer Aus­ gaben. Meisner plante als letztes, Schleiermachers Briefwechsel mit Gelehrten gesammelt herauszugeben; über den Druck dieses Bandes schweben Verhandlungen. Wie er viele andere, die über Schleiermacher arbeiteten, freundlich beraten hat, so mich fast ein Vierteljahrhnndert hindurch. Am 7. März 1929 ist er, fast achtzig­ jährig, gestorben. Einige Zeit vor seinem Tode hat er mir seine handschriftlichen Arbeiten über Schleiermacher zugeschickt, damit ich sie abschließe und veröffentliche. Als erstes Stück daraus erscheint

zu Schleiermachers hundertstem Todestage (12. Februar 1934) dieses Heft, das Meisner in seinen letzten Lebensjahren geschrieben hat. Viele, die wissen, wieviel unser Volk, die Wissenschaft und die Kirche noch heute oder gerade heute wieder von Schleiermacher zu lernen haben, werden Meisner dankbar bleiben.

Kiel, Dezember 1933. Mulert.

Inhalt. Seite

1. 2. 3. 456. 7. 8. y. 10. 11. 12. IZ. 14. 15.

Einleitung ............................................................................... Vorfahren ................................................................................ Erste Jugend ............................................................................ Niesky Barby........................................................................................ Religiöse Befreiung .................................................................. Studienzeit in Halle .................................................................. Drosten Erste theologische Prüfung............... Schlobitten..................................... Innere Gestaltung.......................... Berlin. Zweite theologische Prüfung Landsberg..................................... Predigten ................................................................................ Erste literarische Versuche ...........................................................

I 3 9 12 i6 25 30 37 42 50 57 63 67 73 75

1.

Einleitung. Wer Schleiermacher studieren, sich auch nur tiefer in seine Wesenheit versenken will, wird immer auf das groß angelegte, leider nicht vollendete Werk Wilhelm Diltheys zurückgreifen müssen: Leben Schleiermachers, dessen erster Band (1870 erschienen) nun in zweiter, von Hermann Mulert redigierter und vervollständig­ ter Auflage (1922) vorliegt. Diltheys Arbeitsweise, die einen

möglichst großen wissenschaftlichen Kreis umspannen will, hat ihn zu Exkursen geführt, von denen die Einheitlichkeit des Werkes

unterbrochen zu sein scheint; aber sie dringen in die Gedanken­ welt des großen Geistes tief ein und bieten uns so die philoso­

phischen Grundlagen zu Schleiermachers Lehren. Es ist nicht beabsichtigt, in der folgenden Schrift den Inhalt von Schleiermachers Werken ausführlich zu behandeln und ihre Grundgedanken philosophisch zu prüfen, da so nur das zu wieder­ holen wäre, was Dilthey in seinen klaren, weitausgreifenden Aus­

einandersetzungen gesagt hat. Aber Philosoph und Historiker streiten

bei DUthey um die Palme, und sie fällt dem ersteren zu. Wo die Pragmatik, die einem Geschichtswerk nicht fehlen darf, an manchen Stellen zurückgedrängt wird, soll hier versucht werden, auszufüllen und nachzuhelfen. Denn eine Reihe Späne fielen nach der Art des Urhebers zu Boden, die unbeachtet bis jetzt dalagen und doch Tat­

sächliches genug bieten, das zur Erhellung des weiten Wirkungs­ kreises Schleiermachers dient. Das Material zu solchen Studien bot der handschriftliche Nachlaß

Schleiermachers, den die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin ver­ wahrt und den Dilthey für seine Arbeiten benutzt hat, ohne ihn zu erschöpfen.

Bei der Durchsicht des ganzen Nachlasses ist aber

nicht nur einzelnes aufgehellt worden, das bisher unklar war, Schleiermachers Lehrjahre.

1

Einleitung

2

sondern ich bin bei dem Ergebnisse an manchen Stellen auch jn

anderer Auffassung als Dilthey gekommen, der im folgenden Aus­

druck gegeben worden ist. Sind die Briefe auch die ergiebigste Quelle, aus der fich Neues ju Schleiermachers Wirken schöpfen läßt, so darf man doch nicht an anderen Aufzeichnungen und Aktenstücken, die fich in seinem Nachlasse finden, vorübergehen. Es fand fich wichtiges Material auch im Berliner Geheimen Staatsarchiv, das hier benutzt worden

ist, ferner find auch Briefe, die aus Privatbefltz stammen, ver­ öffentlicht und Notizen, die aus Lokalforschungen, gedruckten und »«gedruckten, hervorgingen, verwertet worden. Mein Plan gibt der Darstellung der Lehrjahre Schleiermachers allerdings

etwas

Fragmentarisches,

indem

ganze

Abschnitte

aus seinem Leben zusammengedrängt werden mußten, sofern unsere Kenntnis von ihnen nicht durch neues Quellenmaterial aus­

gebaut oder berichtigt werden konnte.

2.

Vorfahren.

Schleiermachers Großvater Daniel Schleiermacher ist um 1695 in Gemünden in Niederhessen geboren, wo sein Vater Henrik, Ratsschöffe und Stadlschreiber, wohnte und 1739 starb1). Dieser muß ein vermögender Mann gewesen sein, denn er machte es möglich, seinen Sohn auf verschiedenen Univerfitäten studieren zu lassen. Wahrscheinlich ging letzterer zunächst nach Marburg, dessen Universität noch immer von dem Ruhme zehrte, die erste protestantische Hochschule gewesen zu sein; aber nach kurzer Zeit übersiedelte er nach Bremen, vielleicht an­ gelockt durch die streng reformierte Haltung der dortigen Geistlich­ keit, die auch ohne Universität sich einen Kreis jüngerer Theologen zu sichern wußte. Daniels Lehrer wurde dort der Prediger der reformierten Gemeinde zu St. Stephan, Friedrich Adolf Lampe, ein Mann von enormem Wissen, dessen große Anzahl theologischer Schriften streng biblizistisch sind. Von ihm wurde der junge Theologe nachFraneker geleitet, einer damals bekannten, altertümlichen Stadt in der niederländischen Provinz Friesland.. Die dortige Universität hatte einen guten Ruf und eine Anzahl bedeutender Professoren, darunter den Philosophen und Philologen Tiberius Hemsierhuis, seit 1720, den über das Maß eines Juristen in allgemeiner Bildung hinausgehenden Johann Gottlieb Heineccius seit 1723, während der Ruhm des bereits 1669 als Professor der Theologie dort verstorbenen Johannes Coccejus in einer Anzahl seiner Schüler weiter aufrecht erhalten wurde. Es ist mit Sicherheit T) Über Schleiermachers Vorfahren »nd ihren mutmaßlichen Zusammen­ hang mit der in Wildnngen seit dem 16. Jahrh, nachweisbare« Familie Schleyermacher vgl. Hering, Fr. Schl.s Familienheimat (Theol. Studien u. Kritiken 1919, S. 81—112).

1*

4

Vorfahren

anjimehmen, daß Daniel Schleiermacher weit über sein Fach­ studium Belehrung gesucht und gefunden hat. Hauptsächlich war es aber der Theologe Professor Albert Wilhelm Melchior(i68; bis 1738), dem er sich anvertraute. Damals zuerst, soweit es sich ergründen läßt, tritt in Daniels kirchlichem Bekenntnis ein Zug von Fanatismus hervor, den sein Lehrer Lampe in seiner Emp­ fehlung an Melchior bemerkt haben muß, indem er dem Berufs­ genossen schrieb: Schleiermacherum quod concernit mihi videtur aliquid fanatici alere. Gerade das und sein reiches Wissen machen ihn fähig, bereits 1719 die Hofpredigerstelle in Schaumburg bei dem reformierten Fürsten zu erhalten. Aber er fiel aus einer unbekannten Ursache in Ungnade und ward ohne Verabschiedung weggeschickt. Erst später erhielt er die „Dimissoriales", die es ihm ermöglichten, in Oberkassel eine Predigerstelle zu erhalten. Dort heiratete er die Tochter seines Amtsvorgängers, der 1723 von da wegkam oder gestorben ist, Elisabeth Charlotte Worms. Im Jahre 1729 wurde Schleiermacher an die reformierte Gemeinde nach Elberfeld berufen, konnte sich aber nicht frei halten von den schwärmerischen Bewegungen der dortigen Zionsgemeinde, die unter dem beherrschenden Einflüsse des Bandfabrikanten Elias Eller stand. Es kam 1745 zu Streitigkeiten; Schleiermacher wollte sich nicht mehr den immer mehr ins Extreme gehenden Ansichten Ellers beugen. Von der Regierung verfolgt, entwich er nach Arn­ heim zu seiner Schwester Frau Herx, wo es ihm gelang, bald festen Boden zu gewinnen. Er wurde zum Ältesten der dortigen refor­

mierten Gemeinde gewählt. Eine Schrift von ihm, „Apologie und kurzbündige Resolution", die er in Arnheim in Druck gab, enthält eine Rechtfertigung und Stellungnahme in den kirchlichen Wirren. Unter solchen Umständen hatte die von der Düsseldorfer Re­ gierung gegen ihn eröffnete Untersuchung keine Wirkung. Nach der Methode der damaligen Zeit wurde sogar ein feierlicher Steck­ brief gegen ihn erlassen, der in mehrerer Beziehung, sowohl all­ gemein als Kulturdokument, als auch für die Persönlichkeit des Verfolgten geschichtlichen Wert hat. Unterschrieben ist er vom Kur-

Vorfahren

5

fürsten und Pfalzgrafen bei Rhein Karl Theodor von Bayern und datiert vom 27. Mai 1750. Es heißt darin, daß der abgestandene reformierte Prediger in Ronsdorf, Daniel Schleyermacher, beschul­ digt wird verschiedener grober, abscheulicher und grausamer Ver­ brechen, unter andern der Beleidigung göttlicher Majestät, auch der Verhetzung getreuer Untertanen gegen die Person des Landes­ herm. Deshalb sei mit Recht verfügt worden, daß der Missetäter „beim Kopf ergriffen" werden solle. Nun, da er aber Mittel gefun­ den, durch die Flucht der Haft sich zu entziehen, werden alle Beamten und Bewohner der Herzogtümer Jülich und Berg ermahnt, den Beschuldigten und seine Adhärenten, besonders den Knopfmacher Gottfried Lucas, wo sie sie finden, handfest zu machen, wofür eine Belohnung von 100 Rthl. ausgesetzt wird. Ein Signalement des Hauptangeschuldigten ist beigefügt. Er sei von etwas kleiner Positur, bleichen Angesichts, blauäugig, mit einer „aufgehoffelten" Nase und einer Warze auf der Backe, mit langem Haar, einem weißfarbenen, mitunter auch einem schwarzen Rock, durchgehends aber am Ort seines Aufenthaltes einen Schlafrock tragend. Vergleichungspunkte mit dem Enkel Friedrich liegen nahe. Schleiermachers Anhänger in Düsseldorf wurden 1751 für un­ schuldig erklärt und aus der Haft entlassen, er selber aber zog es vor, in Arnheim zu bleiben, wo er auch gestorben ist. Er hatte vier Kinder: Gottlieb, Anna Katharina, Daniel, Susanna, von denen der älteste Sohn der Vater Friedrich Schleiermachers wurde. Gottlieb ist 1727 in Oberkassel geboren, machte mit seinen Eltern die schweren Zeiten in Elberfeld und Ronsdorf durch, ging aber dann ziemlich jung auf eine auswärtige Universität, um Theologie zu studieren, und wurde schon 1745, also erst 18% Jahre alt, als zweiter Prediger der Sekte nach Ronsdorf berufen, ohne aber das Amt anzutreten. Abgestoßen durch die Erfahrungen seines Vaters, verfolgte er andere Wege, die ihn damals zu einer schroffen Absage an diese Art des Christentums führten. Nach Osten ging sein Weg; in Magdeburg war er Lehrer an dem reformierten Waisenhause. Auf den Vorschlag des dortigen Konsistorialrats Küster nahm er

6

Vorfahren

eine Feldpredigerstelle bei einem der schlesischen Regimenter Friedrich des Großen an. 1760 folgte er dessen Fahnen, bereit und erfreut, draußen in der Welt Neues zu lernen. Es war ein unstätes Leben, durch das et nun hindurchging; sein Beruf führte ihn nach Wittenberg, Berlin, wieder nach Magdeburg, wo er 1760 überall gepredigt hat (in Berlin in der Neuen Kirche), dann ist er 1761

mit den Truppen nach Schlesien gegangen und längere Zeit in Schweidnitz geblieben. Wenn er in einem Briefe an seinen Sohn bekennt, daß er zwölf Jahre als ein Ungläubiger gepredigt habe, so weisen seine erhaltenen Predigten aus dieser Zeit in ihrer ernsten,

kurzen und gehaltvollen Art kaum auf die Veränderung hin, die in seinem religiösen Denken vorgegangen ist. Nach Beendigung der Kriege erhielt Gottlieb Schleiermacher seinen Wohnsitz als Feldprediger in Breslau. Hier wurde ihm 1768 aus der Ehe mit Katharina Maria, geb. Stubenrauch, sein ältester Sohn Friedrich geboren. Auch die Stubenrauchs sind ein altes Predigergeschlecht, das

seine Ahnen in den Reihen der Salzburger hatte. Ein Vorfahre war zu Ende des 16. Jahrhunderts in Anhalt-Dessau in verschiedenen Predigerstellen; zu Anfang des 17. Jahrhunderts ist ein Sproß der Familie in Zerbst, dann 1629 als Hofprediger in Plötzkau, wo er

zwanzig Jahre lang segensreich wirkte, nachweisbar. Christian Ti­ motheus hatte in Halle studiert, erhielt 1723 die Hofpredigerstelle in Stolp und wurde 1732 als Hof- und Domprediger nach Berlin versetzt. Eine Schwester von ihm war mit einem von der Mark verheiratet, eine andere mit dem Prediger Limbach, alle zu Anfang

des 18. Jahrhunderts lebend. Dessen Tochter heiratet den Prediger an der Parochialkirche in Berlin, Reinhardt; aus dieser Ehe gingen zahlreiche Kinder hervor. Für den Schleiermacherschen Kreis inter­ essieren die Nachkommen des alten Christian Timotheus. Sein zweiter Sohn Johann Rudolf Friedrich starb als Pastor in AltLandsberg 1763 kinderlos, das zweite Kind Charlotte vermählte sich mit dem Professor der Theologie Mursinna in Halle, ihr Sohn ging vor 1794 ins Ausland. Eine andere Tochter, deren Name

Vorfahren

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nicht fesisteht, wurde die Frau des Predigers Schumann in Lands­ berg; ihre Söhne wurden alle Juristen. Die dritte Tochter Katha­

rina Maria heiratete Gottlieb Schleiermacher, ihr jüngerer Bruder

Samuel Ernst Timotheus, geboren 1738 in Berlin, ist der in Schleiermachers Leben eine Rolle spielende Onkel Stubenrauchx). Er studierte in Frankfurt a. O., dann in Halle, ward Ende des Jahres 1766 Rektor des reformierten Gymnasiums in letzterer Stadt und zwei Jahre später Professor an der Universität, in welcher Stellung er über Kirchengeschichte und christliche Altertums­

kunde las. Seine älteste Tochter heiratete den Oberlandesgerichts­ rat in Königsberg Culemann, der später Stadtgerichtsdirektor in

Bunzlau wurde, ein Sohn war Gouvernements-Auditeur in Küstrin, dessen Sohn Arzt; der jüngste Sohn von Samuel Ernst Timotheus lebte als Stadtgerichts-Sekretär in Reppen. Der Fa­ milienkreis der Stubenrauch war also ganz anders als der in den

religiösen Bewegungen am Niederrhein unstät gewordene Kreis der Familie Schleiermachers; in der Familie Stubenrauch vereinigt sich die echte stille Frömmigkeit brandenburgischer Pastorenfamilien mit dem Patriarchentum zufrieden und genügsam lebender, aber tief und geschlossen denkender Menschen. So kamen zwei ver­

schiedene Familievcharattere in Schleiermachers zusammen.

der Ehe der Eltern Friedrich

Der Vater war nach wie vor durch seinen Beruf und seine Cha­ rakteranlage viel und gern auf Reisen; er predigte in den Jahren

1770 bis 1776 an den verschiedensten Orten, auch in kleinen Städten Schlesiens, kam also immer wieder mit Menschen aus nicht theo­ logischen Kreise» zusammen und hatte bei der Langsamkeit und Be­

schwernis des damaligen Reisens vollauf Gelegenheit, sich Urteil und Menschenkenntnis in verschiedenen Lebenslagen zu erwerben. Tat dies seiner inneren Sammlung als Prediger gewiß Abbruch, so hat er doch wohl in seinen Bekanntenkreisen als ein erfahrener Mann Achtung genossen. Ob er aber unter seinen Kollegen, an x) Vgl. Herings Schrift: Stubenrauch und sein Neffe Schleiermacher, 1919.

8

Vorfahre»

deren Spitze der Oberkonsistorialrat Loos stand, seinen Anstchten Geltung verschafft hat, bleibt zweifelhaft. Seine Anteilnahme an den Freimaurerlogen hat sicher nicht dazu beigetragen, seine Stellung als Geistlicher zu befestigen. Es ist bekannt, daß die Freimaurerei gerade um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland einen

mächtigen Aufschwung genommen hatte, hauptsächlich durch die Hervorkehrung des Humanitätskultus. Eine Reorganisation war

im Gange und erfolgreich. Gottlieb Schleiermacher hat einen nicht geringen Anteil an ihr genommen und muß zu höheren Graden

aufgesiiegen sein. Ein paar Reden, die er in der Loge an die neu eintretenden Mitglieder, an Lehrlinge und Gesellen gehalten hat, dürften aus der Breslauer Zeit stammen. Sie zeigen den Ernst, den

er auch hier anwendete, um die großen Gedanken der Vereinigung nach den neuen Grundsätzen den Mitgliedern nahe zu bringen. Dazu kam, daß die Stellung eines Feldpredigers in den folgenden Friedensjahren an Bedeutung verloren hatte, indem in den kleinen Garnisonen bei der Seltenheit eines Feldgottesdienstes die kirch­

liche Betreuung der Soldaten den Gemeindepfarrern zufiel und in größeren Städten wie Breslau bei jedem der vier dort garniso-

nierenden Regimenter je ein Feldprediger war, während der refor­ mierte, also Gottlieb Schleiermacher, über den größten Teil der Provinz die Seelsorge der reformierten Soldaten hatte. Vielleicht glaubte der Inhaber dieser Stellung auch, bei einem neu aus­ brechenden Kriege, der wegen der bayerischen Erbfolge in Aussicht stand, den Anstrengungen eines Feldzuges nicht mehr gewachsen zu sein und sich auf das Seelsorgeramt einer kleinen Gemeinde be­

schränken zu sollen. Jedoch gab er vorläufig seine Feldprediger­ stelle nicht auf; aber er zog sich in den äußersten Winkel Schlesiens zurück, von wo aus die Reisen noch anstrengender sein mußten. Seine Wesensart war seiner Umgebung in der großen Stadt fremd geblieben. Und der Schlesier, dem überhaupt schon eine gewisse

Verschlossenheit anhaftet, war den neuen Einwanderern gegenüber, die aus den überelbischen Gegenden nach Schluß der friderizianischen Kriege ins Land kamen, gerade damals zurückhaltend.

Zu

Erste Jugend

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Gottlieb Schleiermachers Wunsch, aus der größeren Stadt mit ihren vielseitigen Beziehungen sich in das Stilleben einer kleinen Gemeinde jurückjujiehen, mag auch beigetragen haben, daß er hier das Erfahrene zu einer religiösen Wandlung, die sich in ihm voll­ zog, verarbeiten konnte. 3.

Erste Jugend. Die Darstellung wendet sich nun den ersten Lebensjahren Friedrich Schleiermachers zu; sie ist nicht leicht, weil bestimmte Nachrichten (mit Ausnahme der Mitteilungen der Mutter in Briefen) fehlen und wir auf Kombinationen angewiesen sind. Vielleicht läßt sich eine körperliche Vererbung vom Großvater her, die dem Kinde in der kleinen, hochschultrigen Gestalt anhaftet, an­ nehmen, aber es läßt sich kaum eine Vererbung seelischer Elemente herausholen; denn weit gingen die geistigen Eigenschaften Friedrich Schleiermachers, seine straffe Gedankenführung, die mit Tiefe des Gefühls sich verschmolz, und die zerrissene, unruhige Art der Vorfahren auseinander. Die Eltern Schleiermachers führten keine Ehe, die man als das Ideal einer christlich-deutschen ansehen kann. Der Vater war un­ befriedigt wegen nicht erreichter Ziele, von inneren Zweifeln gequält, unruhig und fremd im eigenen Hause, dem er nicht die Wärme geben konnte, deren nun einmal ein Kind bedarf; die Mutter eine stille Frau, selbst der Liebe bedürfend, die sie nicht im eigenen Heim fand, treu sorgend für die Bedürfnisse ihrer drei Kinder, ohne daß sie wohl vermochte, die Eigenheiten ihrer Entwicklung mit tieferem Verständnis zu verfolgen; so lebten die beiden miteinander, eins dem andern den Weg frei lassend zu Tat und Denken. Da mußte wohl das Kind von der frühesten Jugend an zu einer Selbständig­ keit gelangen, die zu leicht in Frühreife sich auswächst. Wohl hatte Friedrich in seiner ältere» Schwester Charlotte eine Gespielin und Führerin, aber ihr weiches, ganz in Gefühlen aufgehendes Wesen

IO

Erste Jugend

konnte den geweckten Sinn des Knaben nicht befriedigen, obwohl

die Zärtlichkeit, mit der er an der Schwester hing, in manchen Ge­

fühlsäußerungen jutage trat. Was aber dem Kinde am meisten fehlte, weil es ihm weder Eltern noch Schwester im Hause geben konnten, das war die Fröhlichkeit, ja der Übermut der Jugend, ohne die ein wachsendes Seelenleben nicht gedeihen kann.

An diesem

Fehler in seiner Erziehung hat Schleiermacher zeitlebens gekrankt, selbst als er, viel zu spät. Genossen froher Jugendstreiche, die Innig­

keit eines bräutlichen Verkehrs, die Liebe zu den eigenen Kindern und den Verkehr mit reifen, sorgenlosen Männern gefunden hatte. So mag der Knabe wohl oft einsam von der Junkernstraße, wohin sein Vater nach der Geburt des Knaben von der Alten

Taschenstraße gezogen war, durch die von altertümlichen Häusern eingeengte Graupen- oder Schloßgasse nach der Friedrichsschule gegangen sein, die neben der Reformierten Kirche zwischen dem Schweidnitzer und Nicolai-Tor lag; und sein reger Geist nahm die

Bilder auf, die sich ihm darboten. Breslau mit seinen rund 50000 Einwohnern war nach damaligen Begriffen eine größere Stadt, in der sich Handel und Verkehr weit über die Provinz hinaus nach

Osten zu konzentrierte. Die fast gleiche Verteilung der Einwohner christlichen Bekenntnisses auf Protestanten und Katholiken hatte

eine Toleranz geschaffen, die sich auch im täglichen Verkehr aus­ wirkte. In den Kirchen der Lutheraner herrschten noch viele Über­ reste aus der katholischen Zeit. Das Abendmahl wurde von den

Geistlichen im Meßgewand ausgeteilt und in den Hauptkirchen noch die Horen gesungen; die Sitte, breite, gefältelte Halskrausen zu tragen, war bei den Predigern durchweg geblieben.

Der Vater Schleiermachers hat es vorgezogen, den Sohn in die neu gegründete Anstalt und nicht in eins der älteren Gymnasien zu geben. Die Eindrücke, die er dort empfing, müssen nicht tief gewesen sein,

denn er erwähnt (außer dem Hofprediger Heinz, unter dessen Leitung die Anstalt stand) in späterer Zeit die dortigen Lehrer und Lehrgegen­ stände nicht, wie er überhaupt über die Breslauer Zeit wenig zu er­ zählen weiß. Und doch hat Schleiermacher seine Geburtsstadt in

Erste Jugend

II

lieber Erinnerung behalten, seine Heimat genannt und gern später

besucht.

Sicher hat er damals schon alles, was er sah, bei seiner ftüh entwickelten Intelligenz in sich verarbeitet, zumal er eben durch Verkehr mit gleichaltrigen Schülern nicht abgelenkt wurde. Das tiefgehende Nachdenken über wissenschaftliche Fragen war bei dem

kaum Zehnjährigen zu einsamer Grübelei geworden und hatte sich besonders in der Vorliebe für die mathematischen Probleme gezeigt.

Mutter und Schwester legten im Hause durch ihre einfache und wahre Frömmigkeit zu einer Herzensbildung den Grund, die ihn durch sein ganzes Leben hindurch begleitet hat.

Aus der Gedankenwelt, die sich der Knabe mitten in dem Leben der Großstadt zurechtgemacht hatte, wurde er durch die Übersiedlung

des Vaters nach Pleß in Oberschlesien 1778 herausgerissen. Er mußte in der kleinen Stadt, in der neuen Umgebung, in dem be­ schränkten Kreis einer kleinstädtischen Schule sich in mancher Be­ ziehung umstellen, wenig unterstützt durch seine Eltern, die sich in der neu gewählten Heimat nicht recht wohl fühlten und bald auf eine Übersiedlung anderswohin sannen. Die Gelegenheit dazu fand

sich, als der Vater das Predigeramt in der reformierten Gemeinde der nahegelegenen Kolonie Anhalt, einer Gründung des Fürsten Friedrich Erdmann von Anhalt, übernahm. Zwei Jahre lang konnte der Knabe die Freiheit des Landlebens genießen, unbe­ schwert durch viele Lernstunden, und seinen schwächlichen, durch Krankheiten heimgesuchten Körper kräftigen. Der elterliche Unter­

richt genügte aber auf die Dauer nicht, und wenn die Mutter in einem Briefe sagt, daß der Sohn mit vierzehn Jahren schon znr

Universität reif werden könnte, so liegt vielleicht darin eine mütter­ liche Überschätzung; denn Friedrichs Wissen wies trotz aller Fort­ schritte Lücken in einzelnen Disziplinen auf, über die er später geklagt hat. So konnte auch die Rückkehr auf die Schule in Pleß, wohin er von seinem Vater wieder geschickt wurde, nicht ganz das Erwünschte leisten. Nur eines ging dem zwölfjährigen Knaben damals auf, die Vorliebe für die alten Sprachen. Der alte Rettor

Niesky

12

Gretcovius fteilich lebte in seiner überkommenen Schulschablone

Wetter; deshalb war es ein Glück, daß er in der Person des Kandi­

daten Schubert aus Teschen 1776 einen Kollaborator erhalten hatte, der durch sein jugendfrisches Auftreten die Schüler mit sich fortriß und ihnen

Liebe zum klassischen Altertum einzuflößen

wußte. Der junge Schleiermacher war bei ihm in Pension und schloß sich deshalb ganz besonders an ihn an; die beiden haben wohl

zusammen die alten Schriftsieller gelesen, Homer und Horaz, die zu übersetzen der Schüler ernstliche Versuche machte. Das dauerte ein paar Jahre, dann erhielt Schubert einen Ruf nach seiner Vater­

stadt, und die Schule in Pleß war wieder verwaist. Schleiermacher

war gewöhnt, sich in ein ihm liebgewordenes Fach ganz zu ver­ tiefen; bei seinem Interesse an der neuen Welt, die sich im klassischen Altertum öffnete, hatte vielleicht die Frömmigkeit, die ihm die Eltern immer wieder nahe bringen wollten, etwas zurücktreten müssen. Aber nicht auf lange; denn nun trat das Ereignis ein, das eine Umstellung seines gesamten Seelenlebens zur Folge hatte.

4. Niesky.

Der Entschluß Gottlieb Schleiermachers, seine drei Kinder zu gleicher Zeit aus dem Hause zu geben, ist so auffallend, daß die

Gründe, die aus der religiösen Einstellung des Vaters hergeleitet werden, zu voller Erklärung nicht ausreichen. Gewiß hat der grübelnde Sinn, der eine geistige Dumpfheit über die ganze Familie verbreitete, Anlaß gegeben, daß sich die Eltern und die Tochter, unbefriedigt durch das Ergebnis ihrer innerlichen Quälereien, der einen großen Offenbarung zuwandten, die sie als abgeklärtes und abgeschlossenes System in den Herrnhuter Gemeinden sahen. Die völlige, willenlose Hingabe an die Gnade des Heilands überhob

sie aller Schwankungen und Zweifel; das leidenschaftliche Verlangen

nach der Gotteskindschaft, das besonders bei der Tochter Charlotte damals zutage tritt, gab eine mächtige Anregung; der Mutter lag

Niesky

13

in ihrer kindlichen Frömmigkeit nnd innerlichen Vereinsamung die Form eines gemeinsamen und an feste Normen gebundenen Gottesdienstes ohnehin nahe, und der ältere Sohn Friedrich, an­ geregt durch die Unterhaltungen mit seinem Vater, hatte bald in seinem gründlichen Nachdenken die unendliche Wohltat erkannt, die seinem Gemütsleben bevorstand. Und doch, es ist nicht zu ver­ gessen, daß der Vater nicht lange vorher in freimaurerischen Ideen sein Genügen fand und daß er auch nachher, als der Schritt in die Herrnhuter Gemeinschaft geschehen war, wieder mit seinen alten religiösen Zweifeln sich abmühte, die ihn weitab von dem Evan­ gelium der Gnade führten. Sollten nicht andere Beweggründe dazu getreten sein, die ihn veranlaßt haben, sein Heim des Schmuckes der Kinder zu berauben und allein mit seiner Frau, die ihm wohl nicht ganz so nahe wie seine Tochter in seinen innerlichen Kämpfen als vertraute Hörerin und leise Warnerin zur Seite stand, in dem geistesleeren Kreis der kleinen Gemeinde, wo er lebte, die kommen­ den Jahre des Alters — er war damals fünfundfünfzig Jahr — zuzubringen? Statt sich in die Einsamkeit zu vergraben, konnte er doch selbst mit seiner Frau in die Brüdergemeinde eintreten. Auf den Truppenzügen, die ihn während des Bayerischen Erbfolge­ krieges auch nach Gnadenfrei führten, hatte er bereits mit den dortigen Mitgliedern der Herrnhutischen Gemeinde, besonders mit dem Prediger v. Brüningk, Fühlung genommen, und als er 1782 wieder hinkam, war er dort in Gesinnung und Lebensart mit den Einrichtungen inniger vertraut. Vielleicht fühlte er aber, daß die Kleinigkeiten des häuslichen Lebens, sein wenig inniges Verhältnis zu seiner Frau, die er übersah, besser in der Einsamkeit verborgen blieben. Jedoch seine Kinder wollte er aus solchem Zwiespalt retten, denn sie wuchsen heran und mußten, wenn sie daheim blieben, allmählich einen Einblick erhalten in die Unausgeglichenheiten inner­ halb der Familie. Als der Plan der herrnhutischen Erziehung nach der Reise der Eltern nach Berthelsdorf und Niesky festere Formen annahm, veranlaßte der Vater, sicher auf Anstiften Charlottens, seine beiden

i4

Niesky

SSHne, den Brief an die Unitätskonferenz, in dem er um Aufnahme

der drei Kinder in die Gemeinde bat, persönlich zu unterschreiben, wohl um die Verantwortung bei einem Mißerfolg nicht ganz allein tragen zu müssen. Friedrich hat es wohl nicht leichten Herzens getan,

den» er ging nicht gern nach Niesky, wo ihm bevorstand, seiner

Vorliebe für klassische Studien zugunsten einer streng geordneten

und unter Aufsicht stehenden Tageseinteilung entsagen zu müssen.

Aber während der elfwöchigen Wartezeit, die er mit den Seinigen in Gnadenftei durchwachen mußte, ehe die Entscheidung über den Aufenthaltsort der beiden Brüder kam, fühlte er die ganze Tiefe der religiösen Gemeinschaft und gab sich ganz dem Gefühle

Nicht besser als durch Briefe, die er aus Niesky an seine Schwester nach Gnadenfrei schrieb, lassen sich die Wandlungen seiner Gefühle hm, durch Christus seinen Lebensweg gestalten zu können.

kennzeichnen. Der erste Brief ist noch voll Zuversicht und Freude über das neu aufgegangene Leben, und auch an die Eltern gelangen Nach­ richten über das Wohlbefinden der beiden Brüder. Aber bereits

gegen Ende des Jahres 1783 ist der Ton ein anderer geworden. Friedrich dankt der Schwester für ihre guten Lehren und gibt die treuherzige Versicherung, daß er die Worte des Lebens, die er in

Anhalt gehört, nie vergessen und nach dem Geist Jesu Christi wandeln werde, durch den wir alle allein erlöst würden. Der Brief ist auffallend kurz und ohne Herzlichkeit; über sein Leben schreibt er nichts. Immer wieder, selbst in den Briefen aus den folgenden Jahren, tritt sein Bekenntnis zu den Heilswahrheiten der Herrnhuter Gemeinde

offen hervor, aber schon mischt sich darein ein Gefühl der Verlassen­ heit, nicht wenig gefördert durch das Verhalten des Vaters, der

nun, seit er seine Söhne untergebracht wußte, sie nicht mehr mit echter Fürsorge betreute. Auffallend ist, daß er mit seinen Briefen lange zögerte, obgleich er wissen mußte, daß ein echt kindliches Herz doch immer an dem Vaterhause hängt.

Friedrich beneidet einen seiner

Kameraden, daß dieser zu seinen Eltern, die in Gnadenfrei wohnten,

Niesky

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reisen konnte, während er, Friedrich, nicht einmal seine Schwester, an der er rührend hing, Wiedersehen durfte, um mit ihr sich aus-

jvsprechen über manches, „was sich nicht schreiben läßt".

Und als

der Vater Ende Oktober 1784 auf einer Reise nach Gnadenfrei kam und Charlotten aufsuchte, hat er weder die Söhne dorthin bestellt, noch ist er ju ihnen nach Niesky gefahren. Das war aller­ dings für den sechszehnjährigen Friedrich eine Enttäuschung und

hat sicher nicht daju beigetragen, die Innigkeit zwischen Vater und Sohn zu erhöhen. Schon damals also kommt die Entfremdung zum Vorschein, die sich später in anderer, schärferer Weise aus­ wirken sollte. Der Sohn hat den Vater überhaupt nicht wieder­

gesehen.

Eine neue Nachricht, nämlich daß Friedrichs Gesundheit in

Niesky nicht die beste gewesen sein kann, bringt ein Brief, der in den April 1785 zu setzen ist. Darin sind sogar recht düstere Gedanke» von Lebensüberdruß und Todesahnung enthalten, die die Schwester bereits aus früherer Zeit kennt. Und wieder kommen die Versiche­ rungen, daß allein durch die völlige Hingabe an den Heiland wir die Kraft gewinnen, Leichtsinn, Stolz und Zorn zu bemeistern. Es geht aus diesen Mitteilungen hervor, daß Friedrich in Niesky anfangs sich nicht ganz wohl gefühlt hat. Die Isolierung in seinem Denken war noch schärfer geworden, vielleicht weil er in seiner Selbständigkeit sich seinen Kameraden einzufügen nicht verstand, vielleicht auch, weil er den Spott nicht vertrug, den jugendliche

Gemüter leicht mit körperliche Unvollkommenheiten treiben. Dazu

kam noch seine Kränklichkeit und das Nichtverstandenwerden seitens des Vaters. Nur die Schwester war ihm die Vertraute und blieb es Zeit ihres Lebens, selbst wenn die beiden nicht gleicher Meinung

waren, die fromme Herrenhuterin und der durch Lebenserfahrung frei gewordene Denker. Allmählich aber fühlte Friedrich, daß hier ihm etwas Neues entgegentrat, die Freundschaft mit Gleichalterigen. Der klösterliche Zuschnitt der Ausbildung auf dem Pädagogium ließ immer noch

Zeit zu heiterem Verkehr in den einzelnen Stuben übrig, wo die

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Barby

Lektüre oft genug durch fröhliches Plaudern mit dem leisen Unter­ ton von Spott über allerlei Einrichtungen und über die Lehrer unterbrochen wurde. Und Schleiermacher wird gewiß oft mit seinem scharfen Urteil den Beifall seiner Kameraden gefunden haben. Aus der Ruhe seiner Seele, die er in der Hingabe an die Gnade Christi gefunden, und aus der Harmlosigkeit der knabenhaften Spiele wurde er durch den drängenden Gedanken an seine Zukunft herausgerissen. Noch war es ihm nicht klar, wie sein Lebenslauf sich gestalten würde, ob er in der Gemeinde selbst als Lehrer oder Prediger wirken könne oder ob eine Ahnung von dem, was in der weiten Welt vorging, auch ihn hinauszuführen imstande sei. Der Vater schien ihm verloren, an den sich ein Jüngling doch wenden muß, wenn er vor dem Entschlüsse sieht, einen Lebensweg zu wählen; seine stille, sanfte und liebevolle Mutter war nach wiederholtem Kränkeln gegen Ende des Jahres 1783 gestorben, und der Schwester durfte er die Entscheidung nicht überlassen, da er wußte, nach welcher Seite hin sie ausfallen würde. Sie kam von selbst durch die Zeit. Das Pädagogium in Niesky hatte er durchlaufen; in Barby, dem Seminar der Herrnhuter Gemeinde, das zum theologischen Studium diente, sollte er seine Kenntnisse erweitern. Dorthin übersiedelte er mit siebzehn andern Mitschülern am 22. September 1785, kaum siebzehn Jahre alt.

5. Barby.

Cs ist hier der Ort, teilweise zurückblickend, die Lehrer und Kameraden ausführlicher zu betrachten, die auf Friedrichs Werden Einfluß gehabt haben, besonders weil sie anderswo nicht einheitlich behandelt worden sind. Mit dem damaligen Leiter des Pädago­ giums in Niesky, Friedrich Gregor, konnten die Schüler keine rechte Verbindung finden; das war ein stiller, frommer Mann, der sein pädagogisches Nichtkönnen und sein mangelhaftes Wissen unter einer äußeren Unzugänglichkeit verbarg und ausschließlich in seinen

Barby

musikalischen Übungen Genugtuung fatti)1).

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Sein Gegenstück

war der milde Hilmer, dessen pädagogische Befähigung nur unter einer zu weit gehenden Beschäftigung mit den Lernenden litt, so daß er wohl bei ihnen beliebt war, aber auch einigen leichten

Spott, den er gern ertrug, hinnehmen mußte. Zwei andere jüngere

Lehrer hat Schleiermacher in gutem

Gedächtnis behalten, obgleich er von ihren Vorträgen wohl kaum bleibenden Gewinn gehabt hat; vielleicht aber von den Unter­

haltungen mit ihnen, die mehr auf freundschaftlichen Ton gestimmt waren. Der eine war ein Engländer, John G a mb old, der in der Brüdergemeinde Fulnek erzogen, seit 1783 Lehrer in Niesky, 1789 in Barby war. Dort ist er, frühzeitig, kaum 35 Jahre alt, gestorben.

Der andere, Johann Gottfried Gebhardt, hatte wunderliche Schicksale gehabt, ehe er nach Barby kam; er war ursprünglich Apotheker, dann 1786 Schreiber und im folgenden Jahre Amts­ registrator daselbst, bis er wegen seiner musikalischen Anlagen Musikdirektor am dortigen Seminar wurde. Einen schweren Stand den Zöglingen gegenüber hatte der Vertreter der theologischen Wissenschaften Baumeister, der durch seine schroffe Ablehnung der neuen Anschauungen die Schüler nicht selten zu Zweifeln oder Widerspruch führte. Besonders sein Kolleg

über Dogmatik gab dazu den Anlaß und brachte ihn selbst in den Ruf eines unaufrichtigen Lehrers. Schleiermacher stand ihm fremd gegenüber, ja es scheint zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen

beiden gekommen zu sein, so daß das Gerücht entstand, daß er auf Betreiben Baumeisters aus Barby fortgejagt worden sei, weil er ihn öffentlich gelästert habe. Zu andern Lehrern des Seminars, dem Juristen Krause, den beliebten und zugänglichen Brüdern und Lehrern Reichel und Bloom, der sein Tuchmacherhandwerk mit der Stellung eines Aufsehers vertauscht hatte, stand Schleiermacher nur in ober­ flächlichen Beziehungen. Näher kam ihm schon bald nach seinem x) Einige von ihm komponierte Choralmelodien sind noch heute in Gebrauch. 2

Schlelermachers Lehrjahre.

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Barby

Eintritt in die Gemeinde Johann Gottlieb Kohlreif.

Er war in

den Jahren 1782—85 Prediger in Niesky, dann in Gnadenfrei,

Neusalz und Gnadenberg und muß vor 1797 gestorben sein. In der Gemeinde vielfach verkannt, weil er seinen abweichenden An­ sichten zu sehr öffentlich Ausdruck gab, suchte er die glühende Phan­

tasie seiner Schüler, die durch das vorwallende Gemütsleben rege war, als Geschichtslehrer ju der nötigen Überlegung jurückzuführen, und das gab gerade für Schleiermacher den Anlaß, ihn noch in

späteren Jahren mit Dank und Achtung zu erwähnen. In den Erinnerungen Schleiermachers tritt ein anderer seiner Lehrer etwas zurück. Das war G. W. Hörne, der in Niesky und dann in Gnaden­

feld wohnte. Er hat seinem Zögling in zwei Briefen, die von ihm erhalten sind, immer wieder den Heiland warm ans Herz gelegt und sich besonders gefreut, als ihm jener ein eigenes Gedicht über­ sandte, in dem er solchen innigen Gefühlen Ausdruck gegeben hatte. Hörne scheint mit Schleiermachers Vater befreundet gewesen zu

sein; beide waren Anfang April 1784 und wiederum Mitte Novem­ ber desselben Jahres in Gnadenfeld zusammengetroffen. Hörne hatte geglaubt, daß Gottlieb seinen Sohn in Niesky besuchen würde, was aber, wie oben erwähnt, nicht geschah. Auch später noch, im

Jahre 1789, sind Beziehungen der beiden Freunde festzusiellen, indem Hörne auf Wunsch des alten Schleiermacher dessen Sohn dem Grafen Haugwitz auf Krappitz als Hauslehrer empfohlen hat, der sich aber von dem kleinen Wuchs des Kandidaten abstoßen ließ. Solche Äußerung, die zu Schleiermachers Ohren kam, hat vielleicht

das spätere Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler getrübt, bis die verschiedene theologische Einstellung schließlich die völlige Ab­

kehr der beiden voneinander zuwege gebracht hat. Als seinen zweiten Vater bezeichnet Schleiermacher seinen Lehrer Th. Chr. Zembsch, der ihn in Niesky und in Barby betreut hat.

Er war damals schon ein älterer Mann, aber voll Enthusiasmus

für sein Lehramt der klassischen Philologie. Unter seinem Rektorat in Barby war die Glanzzeit des dortigen Seminars, seine Unter­ richtsstunden in Griechisch und Hebräisch hoben die Anstalt weit

Barby

19

über eine Pflanzstätte für werdende Theologen zu einer Art kleiner Universität empor, und sein weiter Blick, der über sein Fach hin­

aus zu einer Lebensphilosophie führte, wirkte ans seine an ihm hängenden Schüler weit über die Studienjahre hinaus. Ein paar Äußerungen von ihm hat uns Schleiermacher aufbewahrt, die diesem also besonders wert gewesen zu sein scheinen, daß nämlich in Herrnhut Theologie und Christologie nicht genugsam getrennt würden, sodaß man die Sohlen für den Grund und Boden halte, auf dem man stehe, und daß man zur Theologie nur durch den Zweifel gelangen könne. Zu Ostern 1805 besuchte Schleiermacher den geliebten Lehrer in Barby, und dieser hätte ihn gern dort predigen gehört; nur die Rücksicht auf den Ortspasior Hüffel

«ar der Grund, davon Abstand zu nehmen. Es scheint, daß eigene Aufzeichnungen von seiner Hand vorhanden waren, aber sie sind, ebenso wie die Briefe, die er sicher an Schleiermacher geschrieben hat, verloren gegangen. Vieles Gute hat Schleiermacher von seinen Lehrern mit in das Leben genommen, sei es, daß er ihren Belehrungen willig folgte,

sei es, daß er da, wo sie seinem Nachdenken sich nicht einfügen wollten, Anlaß nahm, weiter und tiefer sich mit den angeregte» Problemen zu beschäftigen. Nicht mehr aber war er der einsame Grübler, sondern in dem Kreise seiner Kameraden stählte er in Rede und Gegenrede Urteil und Wissen und brachte es zu einer Beliebtheit und Achtung, die zu lebenslänglichen Freundschaften

führten. Die Zöglinge in Niesky und Barby waren meist Söhne aus den Ständen, denen Schleiermacher selbst angehörte, und an diese schloß er sich zunächst an. Aber auch Sprößlinge aus altem Adel und aus dem Ausland waren darunter; wenn auch die ersteren sich meist zurückhielten, so beobachtete der Neuling doch mit seinem

scharfen Verstände genug, um die Eindrücke in sich aufzunehmen,

die ihm später in Halle die Grundlage zu seinem Urteile gaben. Vielleicht auch erweckten die Erzählungen der ausländischen Schüler in Schleiermacher das Interesse für geographische Schilderungen, 2*

20

Barby

in denen er sich durch die Bearbeitung fremder Reiseberichte in der Frühzeit seines Schriststellertums versuchte. Noch bedeutender aber «ar für ihn, daß sich viele seiner Kommilitonen für die Philologie ebenso wie für die Theologie begeisterten; die Beschäftigung mit den alten Klassikern drängte nicht selten die Ausarbeitung der Kollegien über Dogmatik und Exegese in den Hintergrund. Die ersten, die in Niesky ihm als gute Genossen entgegen­ traten, waren der Sohn der in Gnadenfrei wohnenden Familie von Tschirschky, Julius Friedrich, fast gleichalterig mit Schleier­ macher, und der jüngere Zembsch, der Sohn seines verehrten Lehrers. Keime zu anderen Freundschaften waren bereits in Niesky vorhanden, aber sie konnten sich erst in den reiferen Jahren in Barby entwickeln, wo viele der Schüler wieder zusammentrafen. Deshalb ist es angebracht, hier zusammenfassend über die Freund­ schaftsverhältnisse Schleiermachers zu berichten. Die einzelnen Angaben, soweit sie nicht aus den Briefen hervorgehen, hat der Archivdirektor in Herrnhut D. Joseph Müller in dankenswerter Weise beigesieuert. Nach einem Barbyer Personalkatalog vom 20. Januar 1786 bestand damals das dortige Seminar aus 21 Studenten, wovon elf zusammen mit Schleiermacher im August 1785 eingetreten waren, während die anderen bereits seit 1784 sich dort befanden. Unter den ersteren, bei denen man also bereits eine nähere Bekannt­ schaft untereinander annehmen kann, waren folgende, die Schleier­ macher noch gelegentlich erwähnt. Außer Gustav Johann v. Vietinghof, einem Livländer, der nach beendigtem Studium in seine Heimat zurückkehrte, stand Schleiermacher näher der Schweizer Emmanuel Zäslin (Schäslin), der, in Basel geboren, bereits 1788 Lehrer am Pädagogium in Niesky, dann in Barby war, wo er als Prediger 1804 gestorben ist. Er war eine stille, verträgliche Natur und nahm die scharfen Witzeleien, die Schleiermacher in seinen Briefen gegen ihn anwandte, ohne Verstimmung hin. Die anderen Kommilitonen aus Niesky, die Grafen Heinrich v. Reuß und Heinrich v. Einsiedel, Dietrich v. Miltitz, Christian

Barby

21

Friedrich Quandt und Johann Ewald hielten sich fern. Aber eine ganze Reihe neuer Bekannter vervollständigten den Freundeskreis. Da war Johann Jakob Beyer, schon damals ein fester, abge­ schlossener Charakter, der in seinen Briefen aus Jena, wohin er auf die Universität ging, in lebhaftem Ton dem Freunde An­ weisungen gibt, wie er in allem Tun nur seinem eigenen Gewissen folgen soll. So hat es Beyer auch mit sich selbst gehalten; er ist nach kurzem Schwanken, ob er nach Niesky zurückkehrev solle, seinen eigenen Weg gegangen; sich von dem strengen Dogma lossagend, fand er im Studium der Medizin Befriedigung und festen Boden. Weiter Johann Gottlieb Stähely, der in Montmirail in der Schweiz geboren war, 1788 nach vollendetem Studium in Barby Lehrer am Pädagogium in Niesky wurde, mit dem er nach Barby zurückkehrte. Er ging 1799 als Prediger nach Stockholm, dann nach Altona, Neusalz a. O., Ebersdorf und starb 1818 in Herrnhut. Friedrich Renatus Früauf war seit 1784 in Barby, dann Lehrer am Pädagogium in Uhyst, 1797 bis 1802 in gleicher Eigenschaft in Niesky, weiter in Berthelsdorf, 1804 bis 1817 Leiter des Päda­ gogiums Katharinenhof in Großhennersdorf (des ehemaligen Uhyster Pädagogiums), 1817—36 Prediger in Holland, 1836 bis 1848 Mitglied der Schulabteilung in Berthelsdorf, wo er 1851 gestorben ist. Er war ein tüchtiger und feinsinniger Pädagog, der weit über seinen Wirkungskreis hinaus bekannt war. Es bleiben noch zu erwähnen Johann Heinrich Rumpel (in den gedruckten Briefen Schleiermachers fälschlich Kümpel ge­ nannt), der nach absolviertem Studium in Barby als Lehrer nach Gnadenfeld, dann als Hauslehrer nach Gnadenfrei ging und als solcher später in Borkholm in Livland gelebt hat, schließlich Ludwig Heinrich Schmidt, der als Hauslehrer nach Ungarn ging, dann Prediger in Gothenburg in Schweden und in Gracefield in Irland wurde, später nach der Heimat zurückkehrte und als Rechnungs­ beamter der Herrnhuter Gemeinde in Berthelsdorf gestorben ist. Eine wahre Freundschaft hat Schleiermacher mit Johann Baptist von Albertini verbunden, der zugleich mit ihm nach

22

Darby

Barby übersiedelte. Ihr Briefwechsel war in der Zeit von 1787 bis Ende 1789 sehr rege und gibt nicht nur von den Gedanken beider Kunde, sondern gewährte auch einen Einblick in das Kleinleben unter den Zöglingen. Albertini war der Vertraute in bezug auf die finanzielle Regelung, als Schleiermacher Barby verließ, denn die Geldnot des letzteren, und wahrscheinlich nicht bloß seine, sondern auch die anderer Kameraden, war chronisch und hauptsächlich her­ beigeführt durch die Anschaffung von Büchern. Auch über solche spricht der Freund. Neben Klopstocks Oden und Uz's Theodicee erscheinen unter anderem die Volksmärchen von Musäus, die jüngst herausgegeben waren, und Goethes erste Gesamtausgabe seiner Schriften, die damals zu erscheinen anfing; ferner lesen die Freunde Höltys (1783 von Stolberg und Voß herausgegebene) Gedichte, Wielands kleinere poetische Erzählungen und Albrecht v. Hallers politische Romane. Aber auch leichteren Lesestoff ver­ schafften fie sich. „Die Herren von Waldheim", ein komischer Roman, 1786 erschienen, und die „Bagatellen für Literatur und Theater", seit 1777 in verschiedenen Bändchen, beide von I. G. Müller anonym veröffentlicht, kursieren in ihrem Kreise. Daneben werden die ersten Spuren einer vertieften Lektüre von Aristoteles und Plato bemerkbar, die an die Stelle der leicht und schnell genossenen alten Dichter, wie Homer, Sophokles, Euripides und Pindar traten. Eine ganz besondere Anregung gab die Jenaer Literatur-Zeitung, die seit 1785 erschien und bahnbrechend für die Ausbreitung der neuesten Philosophie, der Kantischen, wirkte. Heimlich wußten die Klubgenossen dieses verbotene Blatt sich zu verschaffen und schöpften aus ihm wohl die Anregung, sich mit den grundlegenden Schriften Kants zu beschäftigen. Auffallend ist, daß Lessings Schriften in den Briefen der Freunde gar nicht erwähnt werden, obwohl der Vater dem Sohne ausdrücklich dessen „Erziehung des Menschengeschlechts" zum Studium empfohlen hatte. Auch Albertini hat geschwankt, ehe er sein Lebensziel klar vor Augen fand; noch 1787 glaubt er, daß er nie ein treuer Untertan der Theologie werden könne, und faßt den Plan, der Juristerei

Barby

2Z

sich zuzuwenden; dann fesselt ihn die Pädagogik, und er hofft, daß

er ein guter Kindererzieher in Niesky werden könne. Durch Schleier­ macher angeregt, hat er sich darauf ernstlichen Studien im klassischen

Altertum jugewandt, und das kam ihm gut zustatten, da er bald mit dem Pädagogium nach Barby übersiedelte, wo er Sprachen und allgemeine Wissenschaften lehrte und außerdem den Klavier­ unterricht übernahm. Der Unermüdliche fand daneben Zeit, sich in die orientalische Literatur zu vertiefen und im Syrischen und Arabischen Studien zu machen.

In der späteren Zeit lösten sich

seine dogmatischen Zweifel, und er gab sich ganz der Theologie zu eigen; als Bischof der Brüdergemeide hat er seit 1814 segensreich

gewirkt.

Seine „Sechsunddreißig Reden an die Gemeinde in

Herrnhut", ein Jahr nach seinem Tode, 1832, erschienen, geben ein

Bild pflichtgetreuer Liebe zu seinem Stand, und seine geistlichen Lieder, seit 1821 in drei Auflagen veröffentlicht, wurden und werden

nicht nur in der Gemeinde, sondern auch in anderen evangelischen Kirchen immer noch gesungen.

Verschiedene Lebenswege und die

theologische Einstellung haben die Freunde auseinandergeführt, aber 1822 haben sie sich in Herrnhut wiedergesehen, und das letzte Gedenken Albertinis galt dem alten Vertrauten. Dieser hat in einem Briefe bezeugt, welch herber Verlust für die Gemeine und für viele fromme Seelen außerhalb derselben der Tod dieses

Mannes gewesen sei. Aus anderem Holz geschnitten war Samuel Okely, ein Eng­

länder. Er hat sich von Anfang an nicht recht in die herrnhutische Erziehung hineinfinden können und wuchs bald durch sein tieferes Verständnis für die philosophischen Theorien Rousseaus über jene

hinaus. Er hatte bedeutenden Einfluß auf seine Barbyer Ge­ nossen, besonders auf Schleiermacher, und hat wohl manches Samenkorn des Zweifels in seine Seele gestreut. Als er, der erste der Freunde, sich von dem ihm zu engen Gedankenkreise in Barby losmachte und nach England zurückkehrte, blieb sein Tagebuch in Schleiermachers Hand, aber nur wenige eingesireute Gedanken über seine philosophische Grundlage, die von der Erzählung kleiner

24

Barby

Tagesereignisse überwuchert werden, können ein Bild des weit über seine Jahre nnd seine Freunde hinausragenden Fremdlings geben. Besser dienen dazu einige Briefe aus dem Jahre 1787, die die alte

Anhänglichkeit bewahren, aber doch mit aller Entschiedenheit be­ tonen, daß es notwendig sei, fich von allen Gefühlsmomenten, die man nicht mit dem Verstände vertreten kann, losjumachen. Schleier­

macher hat ihm in langen Briefen in gleichem Sinne geantwortet. „Ich handle, wie ich soll", so schreibt er und läßt sich nicht abhalten, für den Freund einzutreten, den er verstoßen und im Kreise seiner

Lehrer verhöhnt sieht. Okely konnte das geduldig hinnehmen, da er äußerlich unabhängig war. So gab er sich ganz dem Studium Kants hin und vertrat mit Entschiedenheit gegen englische Pro­ fessoren den Wert der damaligen deutschen Literatur, die natürlich, wahr und verständlich sei. Aus diesem begabten und unablässig

sich weiterbildenden Manne wäre gewiß ein bedeutender Ge­ lehrter geworden, aus dessen Freundschaft Schleiermacher viel ge­ schöpft haben würde, wenn nicht ein früher Tod seinem Streben ein Ende gemacht hätte. Er ertrank beim Baden im Sommer 1787. Der erste, der Schleiermacher bei seiner Übersiedlung nach Barby

entgegentrat, war Gustav v. Brinkmann, und die Freundschaft

beider hat sich von diesem Augenblicke an durch ihr ganzes Leben hindurch erhalten. Er war 1764 auf einem Gute bei Stockholm geboren und kam schon mit elf Jahren nach Deutschland, zuerst in das Pädagogium in Niesky, von dort 1782 in das Seminar in Barby. Er war also nicht nur an Jahren, sondern auch durch den längeren Aufenthalt im Seminar Schleiermacher überlegen; er kannte all die kleinen Einrichtungen und schwachen Stellen dort, so

daß er dem Jüngeren ein geeigneter, vielleicht zu guter Führer war.

Seine bestrickende Liebenswürdigkeit im Verkehr, seine starke Mit­ teilsamkeit und die Kunst, sich in Verhältnisse und Menschen zu fügen, die ihm, wie es bei einer Anzahl seiner Lehrer der Fall war, nicht zusagten, machten ihn zum Mittelpunkte des Klubs der Freunde; er beherrschte sie auch durch die Ansichten, die ihn bald

über die engen Grenzen des Seminars hinausführte». Dazu war

Religiöse Befreiung

25

er dichterisch wohl veranlagt und hatte ein ausgezeichnetes Sprach­ talent, das ihn befähigte, Briefe zu schreiben, deren Anzahl und Länge von den Zeitgenossen kaum erreicht worden ist. Freilich litt darunter, besonders in seiner Frühzeit, die Verständlichkeit des Aus­ drucks sehr; das gab von seinen philosophischen Gedanken ein ver­

worrenes Bild. Leider mag wohl Schleiermacher von der Art der Mitteilsamkeit Brinkmanns beeinflußt worden sein, denn die Briefe gerade an ihn passen sich auffallend denen des Freundes an. Später ist es anders geworden. Es war nur der längst von Brinkmann vorausgesehene Abschluß dieser Zeit, daß er, Barby verlassend, auf einer Reise durch Deutschland 1785 ein anderes Lebensziel

fand,

das fernab von theologischen Studien führte.

Er ging

auf die Universität Halle, wo er später wieder mit Schleiermacher

zusammentraf und seine schöngeistigen Beziehungen nach eigenem Wollen weiter pflegen konnte. Seiner Weltgewandtheit verdankte

er den Eintritt in die diplomatische Laufbahn; als schwedischer Lega­ tionssekretär kam er nach Berlin, Paris und wieder in den Kriegs­ jahren von 1807 an als Gesandter an den preußischen Hof, bis er sich

nach einem kurzen Aufenthalt in London im Jahre 1811 ganz von dem öffentlichen Leben zurückzog und allein seinen literarischen Neigungen in Stockholm lebte. Dort hat ihn Schleiermacher noch 1833 besucht. Viel verdankt Schleiermacher diesem Freunde; Brink­ mann hat ihm den Gesichtskreis erweitert und den ungelenken Jüng­ ling in die Umgavgsformen der Gesellschaft eingeweiht.

6.

Religiöse Befreiung. Nach dem Weggang von Okely und Brinkmann aus Barby fühlten sich die beiden zurückgebliebenen Freunde, Schleiermacher und Albertini, vereinsamt. Beiden fehlte die Anregung zu Ent­ schlüssen, seit die kraftvolleren Genossen mit einem energischen Wollen aus der Herrnhuter Gemeinschaft geschieden waren. Alber­

tini, der Milde, ging immer mehr in seinem Gefühlsleben auf, und

26

ReligiSse Befreiung

Schleiermacher, der unter dem Nachwuchs keine Gleichgesinnten fand, verschloß sich in Grübeleien, wie in der einsamen Knabenzeit.

Viel Lesen konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Zwiespalt in seinem Innern zwischen Glaube und Wissen nicht mehr zu überbrücken sei. Wohl hielt er an dem Plane fest, sich dem Studium

der Theologie zu widmen, aber studieren wollte er, forschen in eige­ nem Bewußtsein, prüfen, was ihm wahr und falsch dünkte, und darnach den Bau einer geistigen Lebensauffassung sich schaffen, die ihn zu einem selbständigen Verkündiger des Wortes Gottes machte.

Die Vorträge der Lehrer in Barby, auf deren Worte er schwören

sollte, befriedigten ihn nicht; er sah über sie hinaus in eine neue, weite Welt des Denkens; in sie hinein stürzte er, wohlbewehrt durch eine strenge Kritik alles dessen, was er durchlebt u»d durch­ dacht hatte. Bald nach dem Scheiden der Freunde, im Sommer 1786, hatte sein Entschluß soweit Gestalt angenommen, daß er seinen Vater, von dem er abhängig war, darauf vorbereitete, daß er das Seminar in Barby verlassen wolle, ja verlassen müsse. Ein halbes Jahr

ließ er dahingehen, ehe er nach dem ersten Briefe es über das Herz

bringen konnte, dem Vater nochmals, und zwar in bestimmter Form, mit seinem Anliegen zu kommen. In dem Hin und Her der Bitte und Absage stählt sich der Mut zum endgültigen Entscheid,

kehrt sich auch die praktische Seite des jungen Denkers hervor, der alles erwägt, Lebenshaltung und Zukunft, ehe er mit dem bestimm­

ten Plane hervortritt, nach Halle zu gehen und dort in freier Ent­

faltung seiner Auffassung Theologie zu studieren. Leider sind die Originale der Briefe des Vaters, soweit sie ge­ druckt sind, und wohl auch ungedruckte (oder beim Druck ausgelassene)

Stellen nicht mehr vorhanden, so daß wir vielleicht doch kein ganz

llares Bild von der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn gewinnen. Besonders der Übergang von der Strenge, mit der jener immer wieder auf die notwendige Hingabe an den Heiland als Grundlage nicht nur des Studiums der Theologie, sondern auch der allgemeinen Lebensauffassung hinwies, zu Nach-

Religiöse Befreiung

27

giebigkeit ist nicht immer klar j» übersehen. Es ist wichtig, daß auch

hier bereits eine Andeutung vorliegt, nach der der Vater den Sohn nicht zum Theologen, sondern zum Philologen bestimmen will, was

ja auch in der nachfolgenden Studienzeit zum Ausdruck kommt. Die Zweifel, die den Jüngling gerade an der Grenze der aufkeimen­ den neuen Erkenntnis theologischer Wahrheiten befielen, und die

eigene Schulung im philosophischen Denken ließen den inneren

Konflikt immer schärfer hervortreten.

Dazu kam, daß Schleier­

machers Stellung zu seinen Lehrern in Barby immer schroffer

wurde, so daß das anfänglich versuchte System gütlichen Zuredens bald in die Form peinlicher Verhöre überging. Vielleicht geschah dies nicht ohne Einwirkung des Vaters, dessen Briefe, selbst als er die Einwilligung seinem Sohn gibt, in dem Schwanken zwischen

wehleidigen Gefühlsäußerungen und philosophierenden Sentenzen doch den Mann, der im Leben selbst von Zweifeln herumgeworfen ist, in seiner ganzen zwiespältigen Stimmung charakterisieren.

Der Vater Schleiermachers hatte, nachdem seine erste Frau zu Ende des Jahres 1783 gestorben war, bald wieder geheiratet. Von seiner zweiten Frau, Christiane Kühn, besaß er drei Töchter; die älteste starb früh, die zweite, Nanna, 1786 geboren, nahm Friedrich

später in sein Haus, aus dem sie als E. M. Arndts Gattin schied, die dritte war mit einem Schullehrer Just in Mähren verheiratet; ihren Sohn ließ der Onkel später in Schulpforta erziehen. In dieses neue Leben wurde Charlotte aus Gnadenfrei nach Anhalt zurück­ gerufen, gerade in der Zeit, als der Bruder den schweren Entschluß faßte. Obgleich sie nur kurze Zeit in der Heimat blieb, scheint sie

doch wieder ganz unter den Willen des Vaters gelangt zu sein. Es

ist auffallend, daß sie während der ganzen Krise sich schweigend ver­ hielt; kein einziger Brief deutet auf ihre Stellungnahme, so daß

eine starke Entfremdung der beiden Geschwister anzunehmen ist. Schleiermachers jüngerer Bruder Karl war ein stiller Mensch, der neben dem älteren Bruder nicht auflam und dem Briefschreiben Er ging 1794 aus Barby nach Gnadenfrei

besonders abhold war.

und kam später zur Ausblldung als Apotheker nach Landsberg a.W.,

28

Religiöse Befreiung

wo er Anschluß an Verwandte, die Familien Schumann und Benecke, fand. In Berlin trafen die beiden Brüder wieder zusammen und

schlossen sich enger aneinander an.

Gemeinsame Spaziergänge,

frühzeitiges Baden im Freien, Studien in Chemie beförderten die Innigkeit des brüderlichen Verhältnisses, so daß Friedrich, als Karl

1797 aus Berlin schied, um nach Arnsberg in Westfalen zu gehen,

sein wahres Bedauern in einem Briefe an Charlotte ausspricht. Und mehr noch; er ist in Sorge, Karl könne in die republikanischen Be­ wegungen jener Gegenden hineingezogen werden, verhehlt aber z«

gleicher Zeit nicht — was bezeichnend für seine Stimmung ist —, daß er dem Bruder fast wünsche, in einer Republik leben zu können, wo jedem tätigen Geist aus jedem Gewerbe die Teilnahme an den

allgemeinen Angelegenheiten offen stehe. Karl, dem solche politi­ schen Wendungen gar nicht lagen, ging bald darauf nach Stettin und von dort nach Schmiedeberg in Schlesien, wo er durch Über­

nahme der Apotheke sich ein festes Heim gründete, heiratete, aber in bestem Mannesalter starb. Nach 1813 hat Friedrich seine Frau zu

dem Bruder geschickt, als die Kriegsnot Berlin bedrohte. Von den Briefen Karls an den Bruder und die Schwester, die nicht zahl­ reich waren, ist nichts erhalten. Das darf man nicht vergessen, daß Schleiermacher noch nicht neunzehn Jahre war, als er so allein vor dem schweren Entschlüsse

stand. Die Freunde waren fern, die Lehrer zum Teil recht feindlich gesinnt, und die Familie versagte ganz, zu der der Jüngling natürlich gern seine Zuflucht nimmt. Schwer litt er noch unter der Last der dogmatischen Kleinigkeiten, die ihm in zu reichem Maße durch un­ pädagogische Lehrer aufgeladen worden war. Abschütteln konnte er sie nicht völlig, dazu waren die herrnhutischen Lehren zu tief in sein Inneres gedrungen, in sein Gefühlsleben, das mächtig gegen seinen Verstand ankämpfte. In dem Hin- und Herwogen beider

mußte der Entschluß gefaßt werden, und er lautete: Fort zu neuem

Leben und Denken! Er sann nach, wie es ihm möglich werden könnte, auf eigenen Füßen stehend das Studium der Theologie durchzuführen. Das

Religiöse Befreiung

2Y

nahe Halle war der geeignetste Ort; dorthin hatte er Beziehungen durch Freunde, die steilich, äußerlich anders gestellt, ihm nicht ein

Muster sein konnten. Die beiden Tschirschkys hatten in den adligen Kreisen Anschluß, und Brinkmann lebte in flotter Gesellschaft wohl­ habender Genossen. Aber da gab es den Onkel Samuel Timotheus

Stubenrauch; vielleicht nahm sich der seiner an.

Er war der

Bruder seiner Mutter, damals etwa fünfzig Jahre alt, verheiratet, Theologieprofessor, als Gelehrter bekannt durch eine Introductio ad

chronologiam et historiam sacram des Leidener Kirchenhistorikers Friedrich Spanheim, die 1770 herauskam. Schleiermacher faßte sich ein Herz und setzte unbekannterweise ihm seine Pläne auseinander mit der Bitte um Rat und Hilfe. Der Onkel antwortete zunächst zurückhaltend und streng, dann im März 1787 zutraulicher und er­

munternd. Er war es auch, der zwischen Vater und Sohn die Zer­ würfnisse zu schlichten suchte und viel dazu beigetragen hat, die Ein­ willigung zur Übersiedlung nach Halle zu erwirken. Die Fürsorge des Onkels ist um so anerkennenswerter, als er selbst ehemals mit

dem Entschlüsse kämpfte, sein Lehramt in Halle zu verlassen, wo er sich in dem Kreise der alteingenisteten Professoren keine rechte

Stellung erringen konnte. So ist es auch zu erklären, daß er dem Neffen nicht viel über theologische Kollegia mitteilte, sondern ihn mehr auf das notwendige Lernen der französischen und englischen Sprache hinwies, das ihm gewiß später ebenso vorteilhaft sein könne wie die Abstraktheit der theologischen Vorlesungen. Das war

auch in dem Sinne des Vaters gesprochen, der immer noch nicht seinen Sohn als Prediger sehen wollte, sondern sich mehr von einem Lehramt für ihn versprach. Nachdem auch die finanziellen Ver­ hältnisse zwischen Onkel und Neffen erörtert worden waren, nahm jener ihn, als er zu Ostern nach Halle kam, in seinem Hause auf, wo er freilich mit einem engen Stübchen vorlieb nehmen mußte. Lange dauerte indessen das Zusammenleben nicht, da Stubenrauch schon im folgenden Jahre seine Lehrtätigkeit aufgab und eine Prediger­ stelle in Drossen annahm. Dort werden wir Schleiermacher bei ihm

wiederfinden.

30

Studierrjeit in Halle

7.

Studienzeit in Halle. Stadt und Universität Halle waren dem jungen Studenten, als er zu Ostern 1787 immatrikuliert wurde, fremd; nur die brieflichen Nachrichten des Onkels und der Freunde hatten ihm ein Bild ent­ stehen lassen, das vielleicht zu hell war. Denn Halle hatte keinen guten Ruf. Gerade als Schleiermacher hinkam, begann der Verfall der Universität nach der langen Blüte der friederizianischen Zeit. Die Höchstzahl von 1156 Studierenden ging von Jahr zu Jahr merklich zurück. Nicht wenig trug die Gesinnung der Bürger dazu bei, von denen ein Teil, auf den die Studenten angewiesen waren, diese übervorteilte, willkürlich ihre kleinen Schulden aus Wohnung und Essen erhöhte. Auch sonst spielten diese Bürger die hochmütigen Herren, wo sie konnten, und gaben durch leichtsinnige Lebensführung kein gutes Beispiel. Es hatte sich schon längst ein Gegensatz zweier Gruppen von Studenten ausgebildet. Wer genug Mittel hatte, um sich als Studierender durchsetzen zu können, trat in die damals florierenden Landsmannschaften, Orden genannt, ein, ward bald in das Leben, das in ihnen herrschte, hineingezogen und mußte mit Geld und Degen helfen, die dominierende Stellung seiner Kom­ militonen zu wahren. Wer aber nicht genug Mittel hatte, konnte sehen, wie er sich durchschlug im Verkehr mit den Philistern, durch Freitische oder durch Stundengeben in den Franckeschen Stiftungen, wenn er es nicht vorzog, zurückgezogen auf enger Stube und bei karger Kost wirklich seinen Studien zu leben. Schleiermacher berechnete nach den Angaben seiner Freunde die Kosten des Aufenthalts in Halle monatlich für Miete und Heizung auf 36 Gulden, für Verpflegung auf 88 Gulden, für Wäscherei, Kleiderreinigung, Friseur auf 24 Gulden, gesamt 148 Gulden, ohne Kleideranschaffungen, die dringend nötig waren, und ohne Kol­ legiengelder. Sein Onkel glaubt, daß er unter 160 bis 180 Thlr. jährlich nicht auskomme, aber wesentlich weniger brauchen werde als die beträchtliche oben genannte Summe, die Schleiermacher

Studienjeit in Halle

ZI

mitteilt. Diesem selbst scheint sie zu hoch; er hofft fich einschränken

zn können. Der Vater, der noch Schulden in Barby in Höhe von 55 Thlr. für den Sohn zu bezahlen hatte, erklärt fich schließlich ein­ verstanden, aber nur längstens auf drei, später vier Semester für

die Kosten anfzukommen, und fügt noch einen Dukaten monat­

lich hinzu. So war der Sohn auf strenge Ausnutzung der Zeit und größte Sparsamkeit angewiesen; dazu verhalf ihm die Ordnung und Einfachheit der Herrnhuter Erziehung, die er hinter fich hatte. So­ lange er bei Onkel Stubenrauch wohnte, hat er gewiß auch dadurch pekuniäre Erleichterungen gehabt, aber diese Zeit war kurz, und Schleiermacher blieb seit dem Herbst 1788 ans fich selbst angewiesen.

Es gehörte ein fester Wille dazu, um fich in die für den jungen Studenten ganz neuen Verhältnisse einzurichten. Gewiß, es über­ kamen ihn zuerst die Bedenken bei der Rückschau auf das sorgen­ lose äußere Leben in Barby, und es folgte ein völliges Sich-Zurück-

ziehen von der neuen Welt seiner Umgebung, ein Sich-Verfinnen in philosophische Probleme an der Hand einer reichlichen Lektüre; aber

nur auf kurze Zeit; dann gewann er die Oberhand über die Ver­ hältnisse um ihn und nahm willig auf, was fich ihm Neues bot. Es ist nicht richtig, wenn Schleiermachers Studienjahre in Halle als ein stilles, abgesondertes, verbittertes Dasein hingestellt werden. Dies geschieht auf Grund der Selbstbiographie, die er 1794 auf

amtliche Veranlassung niedergeschrieben hat und die natürlich über sein studentisches Leben in Halle schnell hinweggeht. Da aber auch der Briefwechsel mit Freunden in jener Zeit stockt, so klafft eine

Lücke, die sich nur durch Bemerkungen in späteren Briefen, beson­ ders an Brinkmann, kärglich ausfüllen läßt. Es ist nötig, Schleier­ machers erste Zeit auf der Universität mit ihren ansiürmenden Ein­ drücken und deren kritischer Verwertung von der allmählichen Ent­ faltung seiner Lebevswünsche zu trennen. Wenn er nicht zwischen den Strömungen studentischen Lebens erdrückt werden wollte, so mußte er mitten hinein in die Prüfung all dieses Treibens, die er in seinem nachdenklichen Sinne wohl vorgenommen hat. Vorsichtig nahm er das Neue an, das ihm sein um vier Jahre älterer Mentor

32

Studienzeit tn Halle

Brinkmann bot. Der hatte sich bald, nachdem er Barby ver­

lassen hatte, in Halle eingewöhnt und neben seinem anfangs ver-

snchten Studium der Theologie sich mehr dem Studium gesell­ schaftlicher Verhältnisse gewidmet. Die Charakterveranlagung des Freundes war für Schleiermacher bewundernswert. Hatte doch sein Vater ihm selbst geschrieben, daß er mit adligen Kreisen Fühlung

suchen solle, um später einmal dadurch eine Hauslehrerstelle zu erhalten. Die beiden Tschirschkys versagten, da sie sich in engen

Formen absonderten; da blieb eben nur Brinkmann übrig, der sich ihm freundschaftlich darbot. Durch ihn gelangte Schleiermacher in

Studentenkreise, die ihm sonst unzugänglich geblieben wären, und hat wohl auch in ihnen durch Teilnahme an ihren Exerzitien eine gewisse Stellung erlangt. Das zeigt seine Mitarbeiterschaft an den mitunter echt studentischen Tafelliedern der Hallischen akademischen

Zeitgenossen, die 1785 bis 1790 gesammelt worden waren und 1820 in Berlin erschienen. Allerdings ist das einzige Gedicht Schleier­ machers, das darin enthalten ist, „Den Vollendeten" sehr ernst; auch beweist es, daß der Verfasser keine hervorragende poetische Be­

gabung besessen hat. Man wird durch die zwei Strophen an die Art des Dichtens seines Freundes Brinkmann erinnert, der damals seine zahlreichen Gedichte sammelte und unter dem Namen Selmar 1789 erscheinen ließ. Schleiermacher hat einen nicht geringen Anteil daran, indem er die poetischen Ergüsse des Freundes abschrieb und teilweise in strengere Forme» brachte. Diesen Freundschaftsdienst des Gutmütigen nahm Brinkmann als selbstverständlich an; er benutzte Schleiermacher zu allerhand Vertraulichkeiten, die seine zahlreichen harmlosen Beziehungen zu den Hallischen Mädchen mit sich brachten. Dabei spielen die Töchter der Professoren, die Augusten und Elisen, als Julien und Pamelen eine Rolle. Für Schleiermacher ging damit eine neue Welt auf. In dem

engen Kreise in Barby schwärmte man wohl von Freundschaft genug, aber nie kam es zum Bewußtsein und zum Ausdruck, daß es eine andere Art von Freundschaft noch gab, die zu dem weib­ lichen Geschlechte. Er blieb auch in Halle ein stiller Beobachter der

Studienzeit in Halle

33

leichten, tändelnden Art, mit der der Freund die Frauenwelt be­

handelte, je nachdem ihn die Reize der einen oder andern, selbst der verheirateten Frauen, in buntem Wechsel anzogen. Allein es war ein neues Element in sein Wesen gekommen, das er in seinem Innern sorgsam verbarg, weil er wegen seiner äußeren Gestalt und

wiederholten Kränklichkeit nicht mit dem geübten Freunde rivalisieren konnte und wollte. Das waren dann Zeiten, in denen er sich zu seinen eigenen Studien zurückzog. Als Brinkmann die Universität Halle verließ, nachdem er das theologische Studium aufgegeben hatte, um sich auf den diplomatischen Dienst vorzubereiten, war für Schleier­

macher die Zeit gekommen, in der er stch mehr auf seine Zukunft besinnen konnte. Noch schwankte er damals, ob er bei der Theologie bleiben sollte. Seine Lektüre war von der verschiedensten Art; neben Alexander Popes satirischen Dichtungen erscheinen die Werke von

Jean Baptiste d'Argens, dem Freunde Friedrichs des Großen, dem witzigen Skeptiker, aber auch Matthissons elegische Gedichte, Jung-Stillings pietistischer Theobald und die Moralphilosophie von Adam Ferguson in der Übersetzung von Garve. Das war nicht nur gelegentlicher Lesestoff, sondern führte zu einer Vertiefung in Dis­

ziplinen, die abseits von seinem eigentlichen Studium lagen.

Wie aber stand es mit diesem? Schleiermacher war ein schlechter Besucher der Kollegien. Das lag zum Teil an den Professoren, die ihre Weisheit aus ihren alten Heften vortrugen, zum Teil auch an dem Hörer selbst, der stch lieber selbständig in Einzelfragen vertiefte, als stch ein ganzes System in wenigen Stunden vortragen zu lassen.

Er schloß sich an keinen der Lehrer enger an, war auch nicht Mitglied des theologischen Seminars; aber daraus zu folgern, daß ihm der ganze Inhalt der Vorlesungen nicht zugesagt habe, wäre ungerecht. Johann Salomo Semler, der seit 1753 Professor der Theologie in Halle war, hat vielleicht durch sein Alter lähmend gewirkt, aber er

war durchaus ein bedeutender Gelehrter, der durch seine bibelkriti­ schen Untersuchungen seinen Ruf als Hauptvertreter der Auf­ klärungstheologie zu wahren wußte, selbst als er stch in seiner AutoSchleiermachers Lehrjahre. 3

34

Studienzeit in Halle

biographie (1782) zu alchymistischen Anschauungen bekannte. August Hermann Niemeyer, seit 1784 ordentlicher Professor der Theologie und seit 1787 Direktor des theologischen Seminars,

hatte seine Bedeutung hauptsächlich auf dem Gebiete der Pädagogik, das Schleiermacher pflegen sollte und wollte. Es ist auffallend, daß Schleiermacher in der Zahl seiner Lehrer nirgends den Professor der Theologie Samuel Mursinna erwähnt, bei dem er Apostelge­

schichte und Dogmatik gehört und dessen Privatissima er besucht hat. Er war durch Heirat verwandt mit den Stubenrauchs, in Stolp 1717

geboren, dann Lehrer am Joachimstalschen Gymnasium, ehe er 1758 als Ordinarius nach Halle kam. Das glänzende Zeugnis, das

er Schleiermacher bei dessen Abgang von der Universität Halle im Mai 1789 schrieb, befindet sich noch bei den Akten. Er erwähnt darin außer dem Eifer in den theologischen Disziplinen seine philologi­ schen und philosophischen Studien, die durch häusliche Lektüre, beson­ ders der griechischen Schriftsteller, wesentlich unterstützt wurden. Die

andern theologischen Professoren in Halle, Georg Christian Knapp, dessen Vorlesungen über christliche Glaubenslehre in ihrer ortho­ doxen Form doch tief durchdacht waren, ferner Johan» Ludwig Schulze und Johann August Nösselt, durch seine Anweisung zur BiWung angehender Theologen unter den Studierenden wohl bekannt und geschätzt, vervollständigten ein Kollegium, das geeignet war, ein theologisches Studium völlig abzurunden. Schleiermacher

aber klagt später mit Recht über die Lücken in seiner theologischen Ausbildung, die er auf die kurze Studienzeit in Halle zurückführt. Durch Brinkmann angeregt, fühlte er sich zu dem Philosophen

Johann August Eberhard hingezogen. In seiner Familie scheinen die beiden Freunde verkehrt zu haben und bewahrten ihm, auch als ihre Lebenswege weit auseinander gegangen waren, ein treues und

dankbares Andenken.

Eberhard war damals entschieden der be­

deutendste Lehrer an der Universität. Die Art seiner Vorlesungen brachte durch ihre Ausblicke in die Systeme der ftüheren und gleich­ zeitigen Philosophen die Anregungen, die die Hörer für eigene Studien brauchten, und auch seine eigenen Werke konnten von

Stlchienjeit in Halle

35

ihnen verstanden werden. Die „Neue Apologie des Sokrates" (1772) hatte ihn mit einem Schlage bekannt gemacht, und seine

„Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens" (1776) brachte ihm die Mitgliedschaft der Berliner Akademie. Anhänger von Christian Wolff, wehrte er fich gegen die andringende Kantische Philosophie, vor der er aber schrittweise nach eigenem Urteil zurück­

weichen mußte. Was seine Zuhörer und Leser von ihm lernen konnten, und was auch Schleiermacher von ihm tatsächlich gelernt hat, war viel.

Sittenlehre, Aesthetik, Geschichte der Philosophie,

Theorie der schönen Künste, Synonymik und vieles andere, was der Philosoph später in umfangreichen Werken zusammengefaßt hat, haben die Freunde ficher, wenn auch nur bruchstückweise, aus

seinen Kollegien und aus wiederholten Unterhaltungen mit ihm herausgeholt. So haben Eberhard und Brinkmann tatsächlich den Entwicklungsgang Schleiermachers in Halle bestimmt. Viel­ leicht wäre er, wenn er länger dort hätte bleiben können, als Philosophieprofessor, über die Grenzen seines Lehrers hinausgehend, ein

Verkünder des neuen Systems geworden, das, wie es Kant entwickelte, von Schleiermacher immer tiefer durchdacht und studiert wurde. Noch im Sommer 1787 hatte der Vater Schleiermachers dem Sohne warm ans Herz gelegt, die Heilswahrheiten der Herrnhuter Gemeinde nicht zu vergessen, und der Sohn hing in seinen Erinnerungen fest daran. Er hat auch von Halle aus Barby nochmals besucht. Aber er konnte seine Anschauungen mit der

dort geforderten völligen Hingabe an den Glauben nicht vereinen. Hinzu kam, daß der Vater in einem Briefe vom Dezember 1787 einen ganz andern Ton anschlug, der weit entfernt von der Weich­ lichkeit der früheren dem Sohne selbst das Studium Kants dringend empfahl, zugleich aber ihn anweist, auf die Gestaltung seiner

Zukunft Bedacht zu nehmen. Das entfernte gewiß eine Last von des Sohnes Herzen, der, dem Vaterhause entfremdet, doch immer eine unbestimmte Sehnsucht dahin hatte und in seiner kindlichen Anhänglichkeit nichts Besseres wünschte, als die Billigung des Vaters für den Schritt zu erlangen, den er vorwärts tun wollte. 3*

36

Studienzeit in Halle

So trat die Theologie bei dem neunzehnjährigen Jüngling in den Hintergrund, ja er achtete sie zeitweise gering; in gelegentliche» Andeutungen in Briefen an Brinkmann, den schroffen Absager, gab er dem Ausdruck. Ungelenke erste Versuche, selbst produktiv als philosophischer Schriftsteller aufzutreten, nahmen ihren Anfang. Die Kritik an Kant, die er in einer Abhandlung über das höchste Gut versuchte, blieb zu sehr in der Methode des professoralen Vortrages hängen. Wichtiger, für die Zukunft wenigstens, war Schleiermachers Beschäftigung mit Plato und Aristoteles; durch Übersetzungen aus dem letzteren verschaffte er sich eine Eingewöh­

nung in die Schreibart der beiden, die ihm später, vielleicht zu sehr, zunutze kam. Gleichzeitig mußte er, der Not gehorchend, seine Übungen in der englischen und französischen Sprache «eiterführen, um gegebenenfalls sich als Hauslehrer präsentieren zu können. Es ist nicht überliefert, daß er zu seinen Sprachstudien sich eines Lehrers bedient hat, und es ist anzunehmen, daß die Frau seines Onkels, Judith Chabanon, die aus einer Hugenottenfamilie stammte, seine Lehrmeisterin gewesen ist. Tatsache bleibt, daß er den Grund zur Kenntnis der modernen Sprachen gelegt hat, die ihm, freilich erst viel später und anders, als er gewollt, zugute kam. Mit dem Plane, eine Hauslehrerstelle in einem adligen Hause anzunehmen, wobei er seine Sprachkenntniffe in Unterhaltung und Lehren hätte verwenden können, wurde es zunächst nichts. Die Verbindungen, die Schleiermacher in Halle zu diesem Zweck an­ geknüpft hatte, zeitigten kein Ergebnis, ja er fühlte sich von dem allzustarken Adelstolz eines solchen jungen Herrn aus Schlesien, dessen Bekanntschaft zu pflegen der Vater dringend geraten hatte, abgesioßen. Der Vater hatte selbst über seine Kräfte hinaus aufseinen Reisen Anknüpfungspunkte in den schlesischen Magnatenfamilien gesucht und die Hilfe seines Freundes, des vorerwähnten Lehrers des Sohnes, Hörne, in Anspruch genommen, der bei dem Grafen Haugwitz in Krappitz lange Zeit Hauslehrer gewesen war. Hörne scheint sich auch um eine Lehrerstelle in Breslau für den Kandidaten bemüht zu haben. Der Grund zu den Mißerfolgen lag aber zum

Drossel»

37

Teile in Schleiermacher; er fühlte sich verletzt, daß ihm seine kleine Gestalt als Hindernis für das Lehramt entgegengehalten wnrde, und ließ sich wohl in seiner sarkastische« Weise zu Äußerungen hin­

reißen, die auf der anderen Seite nicht angenehm berührten. So sah er voll Sorgen in eine ungewisse Zukunft. Er scheint sich zunächst, wie es natürlich war, an seinen Vater gewandt zu haben, ob er nicht in dessen Hause Unterkunft finden könnte, bis er die Vorbereitung zur theologischen Prüfung vollendet haben

würde. Aber der Vater riet ab; die Verhältnisse in seiner Familie und in der neuen Ehe sind sicher der Grund gewesen, aus dem er den Sohn als Hausgenossen nicht haben wollte. Einsam und verbittert verlebte dieser die letzte Zeit in Halle, bis ihm der Gedanke

kam, sich wieder an den guten Onkel Stubenrauch zu wenden, der fern von dem Treiben der Universität nun auf einer stillen Land­ predigerstelle in Droffen bei Frankfurt a. O. saß, wo er mit seiner zahlreichen Familie in bescheidenen Verhältnissen lebte. Nichts­ destoweniger bot er, anders gesinnt als der eigene Vater, dem Heimatlosen eine Stätte, wo er von den mancherlei Enttäuschungen

ausruhen konnte, die er durchgemacht, wo er sich wieder finden konnte in den Erinnerungen an die Herrnhuter Zeit und an den einzig verehrten Lehrer Eberhard in Halle. Im Mai 1788 schied

er von Halle. Die Reise ging auf der Post über Berlin nach Frank­ furt und von da die vier Meilen zu Fuß nach seinem Ziele.

8. Droffen.

Seit seinem zehnten Jahre war Schleiermacher in der Welt

umhergestoßen, und wo er die Fülle seines Gemüts ausstrahlen ließ, hatten ihn strenge Gesetze und kaltes Formwesen immer wieder in die Stille des eigenen Herzens zurückgedrängt. Im Hause des Onkels konnte er sich in der ganzen Natürlichkeit seines Wesens zeigen. In der Stille seines kleinen Zimmers, das die Bücher des Onkels füllten, konnte er ausdenken, was er gelernt oder gelesen

38

Drossen

hatte. Und wenn er hinabging in die Wohnung der anderen, so empfing ihn ein Familienkreis mit wahrer Wärme. Der Onkel,

der das künftigste Lebensjahr überschritten hatte, war, fern von den Streitigkeiten der Theologen, die das Religionsedikt von 1788 entfacht haben, unbeirrt seinen Weg christlicher Duldung gegangen; seine Frau, die Kinder, die Verwandten in dem nahen Lavdsberg, geistlichen und weltlichen Standes, — das waren die Menschen, mit denen Schleiermacher frenndschastlich und froh verkehren durste. Was konnte sich damals in ihm alles entfalten! Der Brief­ wechsel, den er bis aufs Äußerste eingeschränkt hatte, lebte in dem

Schreibfrohen wieder auf; die Briefe an Albertini und Brinkmann,

sowie an den Vater zeigen ein anderes Gesicht und lassen uns er­ kennen, wie sich Schleiermachers Innenleben nun entwickelte. Gegen seinen Vater äußert er sich freier und selbstbewußter, er weist dessen Mahnungen, nicht in Empfindelei, die Ausjehrung des Geistes, zu versinken und sich nicht auf ein bestimmtes System festzulegen, als unbegründet zurück. Mit dem Onkel vermag er sich

in der Studierstube oder auf Spaziergängen als gleichwertiger Partner zu unterhalten und seine eigenen Ansichten gegen jenen zur Geltung zu bringen, der von der Lehre der Kirche immer mehr abrückte, um eine in sich erarbeitete und gefühlte Religion wirken zu lassen. Das Lesen der Allgemeinen Jenaer Literatur­ zeitung, die der Onkel hielt, gab den Anstoß zu Kontroversen, die aber nie vermochten, das wahrhaft väterliche Verhältnis des Onkels zum Neffen zu stören. Hatte der letztere den Tag über in seinem Stübchen gearbeitet, so fand er in dem Familienkreise zu

den Mahlzeiten oder des Abends willkommene Zerstreuung, die er brauchte, besonders wenn die alten trüben Gedanken an seine Zukunft wieder kamen.

Schleiermacher nahm alte Pläne wieder

auf; die ersten Spuren davon, daß er gedachte, sich dem Beruf als

akademischer Lehrer zu widmen, stammen bereits aus Halle; hier in Drossen suchte er Verbindungen mit der Universität in Frank­ furt a. O., um aber bald einzusehen, daß auch dort für ihn keine Möglichkeit sei, sich durchzusetzen. Die (reformierte) theologische

Drossel»

39

Fakultät war schwach besetzt mit Eberhard Stosch, der mehr als

Lehrer denn als Schriftsteller bekannt war, Karl Michaelis, einem

beliebten Prediger, der schon 1787 an den Dom in Berlin berufen wurde, und Josias Löffler, dessen elegante lateinische Ausdrucks­ weise in seinen Kollegien und seinen Schriften über Kirchengeschichte

viel gerühmt wurde. Erst Friedrich der Große hatte zwei lutherische Professoren eingesetzt, Christian Simone tti und Gottlieb Zöllner, der damals schon gestorben war, dessen Vermischte Aufsätze aber Schleiermacher mit Eifer studiert hatte. Schleiermacher hat zu keinem dieser Professoren nähere Beziehungen gehabt. Um Kol­

legien in Frankfurt zu besuchen, dazu fehlten ihm allerdings die Mittel. Überdies war es die Zeit des Niedergangs der Universität; nicht mehr wie etwa 120 Immatrikulationen erfolgten im Jahr.

Nur die juristische Fakultät hielt sich noch und zehrte von dem Ruhme Johann Böhmers, des berühmten Kriminalisten. Die Studierenden der Theologie, namentlich die aus Siebenbürgen und Bremen, waren nach und nach ganz nach Halle abgewandert.

So war Schleiermacher wieder auf Studien nach seiner eigenen Wahl angewiesen. In einem langen Briefe an Brinkmann setzt

er seinen Plan auseinander, kritische Briefe über Neuerschei­ nungen der philosophischen Literatur von Neujahr 1790 bogenweise

oder stückweise erscheinen zu lassen. Welchen Charakter sie erhalten hätten, wenn sie überhaupt erschienen wären, geht aus der da­ maligen Einstellung des Schreibenwollenden zu der Theologie und Philosophie hervor; er versucht zwischen beiden, deren Richtung ihm unsympachisch war, überhaupt eine Verbindung herzustellen. Besser

läßt sich der junge Autor aus den Gesprächen über die Freiheit beurteilen, von denen noch ein unvollständiges Manuskript in seinem Nachlasse vorhanden ist. Anfang Juni sind von den Ge­ sprächen, die er lieber Gespräche über die Natur der moralischen Handlungen nennen wollte, bereits zwei vollständig fertig, das

dritte im Juli in Arbeit; viel Umänderungen haben sie erfahren,

da die Dialogform noch nicht nach Wunsch gediehen war und auch der Inhalt ihn nicht mehr befriedigte. Deshalb ziehen sich die

4o

Drossen

Untersuchungen bis über das Jahr 1792 hinaus, und aus dem Grundgedanken, daß zwischen den Beweggründen und den daraus hervorgehenden Taten ein bestimmtes Gesetz walte, wurde die Rechtfertigung durch das Sittengesetz in Anlehnung an

Kant in den Vordergrund geschoben, die bereits in dem Briefe an Brinkmann als notwendig anerkannt wird. An Stelle dieser Gespräche eingehende Untersuchungen über die Gerechtigkeit^ theorie zu setzen, hatte er anfangs beabsichtigt; vielleicht haben ihn seine noch nicht vollendeten Studien über Aristoteles, an den er sich anlehnen wollte, abgehalten, die Arbeit zur Ausführung zu bringen.

Ein Aufsatz über das Naive, dessen Manuskript auch

noch vorhanden ist, wurde nebenbei vollendet, ein anderer über den allgemeinen Menschenverstand ist verloren. Von bleibendem Wert ist die Abhandlung über das höchste Gut, die ihre Anfänge bereits in der Hallenser Zeit hat und als die erste, in sich abgeschlossene und selbständig durchdachte Arbeit Schleier, machers zu betrachten ist. Immer von neuem sieht man das Ringen mit der unaufhaltsam vorstrebenden Philosophie Kants. Es ist

bezeichnend, daß der den ersten Schritt nach außen wagende junge Denker nicht die Vertiefung in die Metaphysik des Gottesbegriffes, sondern die praktischen Erfordernisse des inneren Lebens, die Ethik, sucht. Aus den langen, durchdachten Briefen an Brinkmann ergibt sich bereits die Grundlage, auf der Schleiermacher seine

Philosophie aufzurichten gedachte und aufgebaut hat: keine volle

Hingabe an Lehren eines Meisters, sondern Kenntnis, Zergliederung, Kritik der Schriften aller, Abneigung gegen ftuchtlose Erörterung von Theoremen, schneller, oft leidenschaftlicher Durchbruch seiner inneren, lang erwogenen Überzeugungen, ein oft zu sehr beschleunigter Ver­

such, seiner Gedanken über ein Thema sich zu entladen, nicht selten zuungunsten einer klaren Darstellung — das alles sind Züge, die wir in Schleiermachers Werdezeit finden und deren er sich zeitlebens nie ganz entäußern konnte. Nicht im Verhältnis standen die schriftstellerischen Versuche Schleiermachers zu seiner Aufnahmefähigkeit für geistige Stoffe.

Dressen

4i

Was er in Barby gelernt, in Halle getrieben, setzte er in Drossen in noch größerem Maße fort, das Lesen und die Vertiefung in die

Lektüre. Fand er Bücher unter dem Vorrat seines Onkels, die ihm jusagten, oder bekam er wahllos solche aus Frankfurt geborgt, so hielt er sie fest und blieb über ihnen, bis er sie durchkostet hatte.

Manchmal geschah dies ohne Nutzen.

Den Cicero kann er nicht

leiden, Vergils Georgika und den Xenophon liest er mit Vergnügen, mathematische Werke, besonders Leonhard Eulers An­

leitung jur Algebra und Euklids Elemente der Geometrie, die 1781 in deutscher Übersetzung erschienen waren, interessieren ihn sehr.

Vor allem aber liebt er Aristoteles, obwohl er sich selbst

zugeben muß, daß er anfangs nicht zwei Zeilen davon verstehe.

Vielleicht hatte er eine alte Ausgabe seiner Werke von Casaubonus oder Duval aus der Universitätsbibliothek in Frankfurt in die Hände bekommen, denn Einzelausgaben der Ethik, auf die es ihm wahrscheinlich doch ankam, gab es nicht und ebensowenig latei­ nische, geschweige denn deutsche Übersetzungen. Und doch hat er, wie aus der oben erwähnten Untersuchung über die Gerechtigkeits­ theorien hervorgeht, Aristoteles gekannt und gelesen, ja er hatte sich schon in Halle mit dem Gedanken getragen, Schriften von ihm

zu übersetzen.

Mächtig wurde Schleiermacher durch Lucian, den

geistreichen Satiriker, angezogen, dessen Lektüre ihm durch Wielands damals (1788—91) erschienene Übersetzung nahe lag. Sein Einfluß

äußert sich nicht bloß in der Art des Stils und in dem Inhalt der

Briefe aus damaliger Zeit, sondern bleibt auch in späteren Zähren

bemerkbar. Dasselbe gilt von Michel Montaigves Essais, deren Skepsis in Schleiermachers damaligen Denkkreis paßte. Wenn er dem Vater gegenüber ausdrücklich erwähnt, daß er einen großen Teil der Kantischen Schriften wieder durchstudiert habe, so be­

weist das seinen enormen Fleiß, denn dieses Durchsiudieren war eine Arbeit, die an die Fähigkeit des Denkens große Anforderungen

stellte. Wie er sich hindurchgearbeitet hat, das zeigen die oben erwähnten ersten philosophischen Versuche, die er zu Papier bringen wollte.

Erste theologische Prüfung

42

Schleiermacher hat bei diesem Kantstudium keine Aufzeichnungen gemacht, die sich im Nachlaß gefunden hätten; es war ja seine Art, die sich später noch mehr ausgeprägt hat, besonders bei seinen

Predigten und Kollegien, alles im Kopfe aufzunehmen, festzuhalten und umzuarbeiten. Daneben hat er seine Vorliebe für Höltys elegische Dichtungen

von Barby her bewahrt; unter einer herrlichen Kirchhoflinde oder an einem Bache sitzend, vertiefte er sich träumerisch in die Verse dieses Dichters. 9.

Erste

theologische Prüfung.

Es lag aber ein böser Schatten über all den ihm liebgewordenen Studien; das war die notwendige Vorbereitung auf die theologische Prüfung, die immer näher heranrückte. Schleiermacher ging ungern an sie heran; die Beschäftigung mit den Problemen der

Philosophie hatte ihn zu sehr abgelenkt, und das Bewußtsein, daß sein theologisches Wissen manche Lücken aufwies, lähmte seinen Entschluß, sich klar zu machen, was ihm noch fehlte. Die Kollegien­ hefte aus Halle, auch die des Onkels aus dessen Studier- und Lehrzeit aus Frankfurt und Halle konnten keine Anziehungskraft

für ihn gewinnen, so daß er, nicht wissend, wo er anfangen solle, in einem Ausbruch der Verzweifelung dem Freunde gestand, daß der theologische Wust, den er in seinen Kopf pflanzen solle, ihn an­ widere, ja daß er die Subtilitäten, über die er Rede und Antwort stehen solle, im Herzen verlache. Nur stoßweise könne er arbeiten, und diese Art war nicht gerade förderlich. Noch dazu hinderte ihn

sein Gesundheitszustand oft, dauernd über den Büchern zu sitzen; die Augen waren entzündet und das Magenleiden, das ihn zeit­ lebens begleitet hat, störte ihn nicht selten. Was Wunder, daß ihm in solchen Stimmungen die Erinnerung an die Zeiten in Halle kam, wo er sich schlecht und recht, aber frei durchgeschlagen hatte, und die Sehnsucht nach seinem geliebten Lehrer Eberhard. Im

Dezember 1789 schreibt er dem Vater, daß er sich nun ausschließlich

Erste theologische Prüfung

43

mit der Theologie beschäftige und auch einige neue Werke aus ihrem Gebiete gelesen habe; aber auch davon nur, was er gerade bekommen konnte, so August Sacks Vertheidigter Glaube der Christen, Johann David Michaelis^ Einleitung in die göttlichen Schriften,

Gottfried

Leß'

Wahrheit

der

christlichen

Religion

u. a. m., heterogene Werke, die ihm nicht eine planmäßige Vor­

bereitung auf den ganzen Umfang des Gebietes ersetzten, das dem Prüfling sich öffnen konnte. Hinzu kam eine vom Schicksal zu unrechter Zeit gewollte Episode, die sein Herz, vielleicht zum ersten Male in solcher Tiefe, in Anspruch nahm. In dem Kreise der Verwandten des Onkels in dem nahen

Lavdsberg fand er eine Frau, deren Wesen den Unerfahrenen ganz bezauberte. Bei einem Besuche in der Familie des dortigen Pastors

Schumann, des Schwagers Stubenrauchs, im Sommer 1789 macht er die Bekanntschaft von Schumanns Tochter, die mit dem in städtischem Dienst stehenden späteren Bürgermeister Benecke verheiratet war. Die Schilderung des ersten Zusammentreffens mit seiner Kusine, die er in einem Briefe an Brinkmann gibt, zeigt die ganze Unbeholfenheit Schleiermachers in der Beurteilung

des weiblichen Geschlechts. Darnach ist diese ein junges Weib von großen Vorzügen, das durch einen Vorrat von feinem Geschmack und großer Belesenheit imponiert, so daß der neue Bewunderer sie Wielands Musarion gleichzustellen vermag. Mitten in dem geselligen Leben der Kleinstadt stehend, konnte sie leicht alles, was Anspruch hat höher bewertet zu werden, um sich versammeln und ihrem Geschmack für das englische und schweizerische Wesen im Gegensatz zu dem Franzosentum gefügig machen. Ihr Äußeres unterstützt sie darin: groß und schön gewachsen, das blonde Haar offen über Rücken und Schultern hängend, in weißem einfachen Kleide mit breiter, himmelblauer Schärpe einherschreitend, mußte sie über die Männerwelt triumphieren. Daß ein solcher Frauen­

charakter der Vertiefung entbehrte, die allein das Weib zur wahren Ehefrau und Mutter machen kann, ist erklärlich, und darüber stutzt Schleiermacher nach dem ersten Rausch der Begeisterung. Nun

44

Erste theologische Prüfung

will er helfen, die Frau nach seinem Sinne zu einer höheren Moral zu heben, und fängt an, sich in die nicht recht geebneten Familien­

verhältnisse zu mischen.

Er, der praktisch noch nie mit Kinder­

erziehung sich beschäftigt hat, sucht seine Erfahrungen aus Niesky bei dem Töchterchen der Kusine anzubringen, die in ihrer Viel-

beschäftigtheit froh ist, solchen Berater gefunden zu haben. In ihrem

Manne hatte die junge Frau keine Stütze, so daß die Ehe bis zum

äußersten Grade unharmonisch wurde. Der Mann ging auf in seinen Berufspflichten und seiner spießbürgerlichen Gesellschaft, die Frau suchte und fand hier und da Bekanntschaften, die ihrer lebhaften, für Sinnesrausch und Schmeichelwort empfänglichen Natur mehr gewährten, als ihr der enge Kreis der Verwandten

bieten konnte. Sie gab sich gern in voller Offenheit bis zur äußer­ sten Schranke und kam dadurch vielleicht zu sehr in Verdacht, weiter zu gehen als man einer ehrsame» Bürgerfrau gestatten wollte.

Das war das Gefährliche in ihren Beziehungen zu Schleiermacher, der das Neue, Wunderbare staunend hinnahm. Niemand aus dem Verwandtenkreis erhob eine warnende Stimme, Schleiermacher

allein in seiner tief beobachtenden Natur konnte sich losreißen und

hat es getan. Sein Urteil über die Landsberger Episode lautet doch, allerdings erst festgelegt in einem zwölf Jahre später ge­ schriebenen Briefe, recht anders, als der erste Erguß seiner glühenden Leidenschaft. Er entschuldigt wohl viel durch die barbarische, nach­ lässige, früh mutterlose Erziehung, durch eine Ehe, die keine hätte sein sollen, weil sie moralisch keine war und physisch keine sein konnte, und durch die üblen gesellschaftlichen Sitten der kleinen Stadt, die

dieser Frau Gelegenheit bot, zweimal an Männer zu geraten, die sie durch den Anschein eines guten Herzens täuschten. Schleiermacher hielt es für seine Pflicht, helfend einzutreten, und die junge Frau,

die zum ersten Male in ihrem Leben einen Menschen vor sich sah, der eine höhere Moral und Herzensbildung hatte, hörte ihm willig

zu. Aber bei ihrer Charakteranlage gesellte sich zu der Achtung und Dankbarkeit eine zärtliche Anhänglichkeit und ungezähmte Sinnlich­ keit.

Schleiermacher erkannte wohl, daß die volle Erwiderung

Theologische Prüfung

45

solcher Liebe zu einer Katastrophe führen müßte, und tat das, was

wohl das Richtige war: er stieß die Frau nicht hart zurück, sondern

suchte zu glätten, so weit es ging, und vor allem die beabsichtigte Trennung von ihrem Gatten, dem sie viel verdankte, zu verhin­ dern. So ward die Trennung zu einer Heilung der Leidenschaft; Schleiermacher konnte sie später noch besuchen, konnte auch dem

Gedanken näher treten, für die Stelle des alten Pastor Schumann

in Landsberg, des Vaters der jungen Frau, sich zu melden. Der Briefwechsel der beiden blieb lange noch bestehen; bis zum Jahre 1801 zog er sich hin, aber leider ist nichts davon erhalten ge­

blieben; wahrscheinlich ward er absichtlich von beiden Teilen ver­ nichtet. Dieses für die Lucinden- und Eleonoren-Episode der späteren Zeit wichtige Erlebnis ist in seiner Bedeutung von den Biographen nicht erkannt worden.

Der feste Wille des auf sich allein Angewiesenen siegte über alles

Träumen. Mit einer, wie er selbst gesteht, mangelhaften Vorbe­ reitung in den theologischen Disziplinen und innerlich mit einem nicht ganz zu besiegenden Widerstreben, stellte er sich zu der Prüfung für das Predigeramt. Ein erster Versuch, den er auf der Kanzel in Drossen gemacht hatte, war nicht nach seinem Wunsche aus­

gefallen; das ist nicht anders zu denken, wenn man den philo­ sophierenden Jüngling und die Hörerschaft einer Kleinstadt sich gegenüber steht. Onkel und Vater drängten zu einer möglichst

baldigen Abreise nach Berlin. Schweren Herzens, das freundliche Haus seines Onkels verlassen zu müssen, trat er die Fahrt im April 1790 an und fand zunächst Aufnahme bei einem Verwandten der Stubenrauchs, dem alten, halberblindeten Prediger Reinhard an

der Parochialkirche. Schon im Mai unterzog er sich der Prüfung, die er sich schwerer vorgestellt hatte. In den Briefen ist er leicht über die näheren Umstände seines Examens hinweggegangen; und da diese Quelle versagte, fehlt auch in seinen Biographien Näheres, so daß es sogar nicht bekannt war, wer ihn geprüft und was für Themata er erhalten hat. In Nachstehendem soll deshalb auf Grund der aufgefundenen Akten ausführlicher darüber berichtet werden.

46

Erste theologische Prüfung

Am 13. Februar 1790 sandte Schleiermacher von Drossen aus sein Gesuch ab, in der damals noch vorgeschriebenen Form: mit Anredung des Königs, obwohl dieser das Schriftstück nie zu sehen bekam, denn es ging an das Reformierte Kirchendirektorium als die zuständige Instanz. An dessen Spitze stand damals der Justiz­ minister Wolfgang Ferdinand Freiherr v. Dörnberg, der zugleich für das reformierte Kirchen- und Schulwesen zu sorgen hatte. Mitglieder des Kollegiums waren der Professor Johann Heinrich Ludwig Meierotto, Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums und der Hof- und Domprediger, Oberkonsistorial- und Kirchenrat Friedrich Samuel Gottfried Sack. Ersterer stellte die Themata, eine Erklärung des 5. Kapitels des Galaterbriefes unter be­ sonderer Bezugnahme auf die Lehre von der Freiheit des Christen, in lateinischer Sprache; als deutsche Arbeit: „Zu welchem Zweck studiert ein künftiger christlicher Lehrer die Polemik, nnd wie ver­ hütet er den Nachtheil, den dies Studium, wenn es zu weit getrieben wird, haben kann?" Beide Arbeiten mußten innerhalb sechs Wochen abgeliefert werden. Am 20. Mai bestätigt Sack, daß er den letzteren Aufsatz „mit Vergnügen" gelesen habe; Meier­ otto hat ihn Anfang Juni durchgesehen. Beide Arbeiten sind im Original erhalten. Die lateinische umfaßt zehn Quartblätter und behandelt den Anlaß des Briefes, die jüdischen Gebräuche, die unter den Christen in Galatien üblich waren, dann die Wahrheit des von Paulus verkündigten Evangeliums; schließlich werden eine Explicatio der einzelnen Stellen des Briefes und eine Auseinander­ setzung de libertate Christiana hinzugefügt. Die Klarheit der Dar­ stellung bei Knappheit des Umfanges und bei de» dem Verfasser zugänglichen Hilfsmitteln ist durchaus für Schleiermacher bezeich­ nend. In der zweite», deutsch geschriebene» Arbeit, die den Umfang von vierzehn Quartseiten hat, kann er inhaltlich und stilistisch sich mehr entwickeln. In der Einleitung wird der Standpunkt der beiden streitenden Parteien hervorgehoben, derer, die ihre ganze Glückseligkeit in der Übung der spekulativen Vernunft und im

Ringen nach richtiger Erkenntnis der Religion sehen, und derer.

Erste theologische Prüfung

47

denen es am Herzen liegt, das Praktische in dem Gottesbekenntnis zu suchen und die deshalb die Polemik ganz aus der Reihe der theo­ logischen Disziplinen ausscheiden.

Die Wahrheit sei in der Mitte

zu suchen, und es sei nicht zu verkennen, daß die Polemik den beur­ teilenden Blick schärfe, erstens in Absicht der Auslegung der heiligen

Schrift, zweitens in der Einsicht in den Zusammenhang der kirch­

lichen Systeme, aus welcher der Lehrer sich ein eigenes Urteil bilden könne. Ein solches sei besonders in der jetzigen Zeit nötig, wo die

Einwürfe auch aus dem Laienelement, besonders von philosophi­ scher Seite, gegen die Lehren der christlichen Religion zahlreicher würden. Nur das gereifte Urteil über alle solche Gegensätze führe zu der wahren Toleranz und zu dem Aufgeben eines schädlichen

Jndifferentismus. Der Stil dieses Aufsatzes ist in richtiger Weise mit Vergleichen und Zitaten oft in blumenreicher Sprache durch­

setzt, ohne die scharfe Prägung zu verlieren, die dem logischen Denker schon damals zu eigen ist, und die Offenheit des Wortes läßt das hie und da bemerkbare Schulmäßige in den Hintergrund treten. Außer diesen beiden Arbeiten wurden dem zu Prüfenden einige

Themata gegeben, die er in kurzen Ausführungen in der Klausur behandeln mußte. Das waren folgende: „Was haben wir für das Wesentliche der hebräischen Dichtkunst anzusehen? Welche Streitig­ keiten sind in älteren und in neueren Zeiten in Ansehung der natür­ lichen Kräfte der Menschen zum Guten gewesen? Welches sind die hauptsächlichsten Übersetzungen des Alten Testaments? Welche Art Bücher soll der angehende Theologe gelesen haben, um dem aka­

demischen Kursus mit Erfolg folgen zu können?" Die Probepredigt über Lucas 5, Vers 29 bis 32, Jesus und den Zöllner, hielt Schleier­ macher im Dom am 15. Juli vor dem Hof- und Dom-Ministerium. Sack, Karl Ludwig Conrad und Karl Georg Heinrich Michaelis, die beiden letzteren auch Hofprediger, bildeten das Spruchkollegium

und bestätigten in dem Bericht an den König, daß die Stimme und Deklamation gut und die Ausarbeitung mit großem Fleiß gemacht sei.

„Wenn wir etwas an derselben zu tadeln gefunden

48

Erste theologische Prüfung

haben," so fährt der Bericht fort, „so ist es dies, daß sie mehr eine philosophische Abhandlung als eine populäre Volksrede war, in­ dessen legte sie von seinen Kenntnissen ein sehr vorteilhaftes Zeugnis ab. Da er es auch selbst gefühlt hat, daß er den rechten Kanzelton

in dieser Predigt verfehlt, so ist sein ernstlicher Vorsatz, sich bei künftigen Ausarbeitungen vor diesem Fehler viel sorgfältiger zu hüten." Nach Ablegung des mündlichen Examens wurde Schleier­ macher das nachfolgende Zeugnis ausgestellt: Schulstudia über­

haupt: sehr gut, Bücherkenntnis: gut, philosophische Kenntnis: recht gut, Kirchengeschichte: sehr gut, Hebräisch: gut, Griechischlesen des Neuen Testaments: gut, Dogmatik: ziemlich, schriftliche Aufsätze in lateinischer Sprache: sehr gut, in deutscher Sprache: vorzüglich. —

Es war also ein durchweg gutes Examen, das der Prüfling abgelegt hatte, und es zeigte sich darin bereits die Eigenart, die er in späteren Jahren beibehielt, die philosophische Art der Predigten, die ihn mehr für eine gebildete, städtische Zuhörerschaft befähigte. Über die nach dem Urteile der Domprediger nicht ganz glücklich ausgefallene Probepredigt tröstete ihn bald das Lob des väterlichen Freundes

Sack. Aber nun, was weiter? Die vielerlei Pläne, Eintritt in das Domkandidatenstift, ins Große Waisenhaus und ins Joachimsthalsche Gymnasium als Lehrer und Inspektor, erwiesen sich als un­ durchführbar, so daß Schleiermacher, der noch den Sommer über in dem unwirtlichen Hause des alten Reinhard bleiben mußte, um

nach verschiedenen Seiten hin die Möglichkeiten einer Versorgung zu suchen, ungeduldig und laß wurde. Was er dabei versäumte, ersetzte ihm der Verkehr mit Freund Brinkmann, der damals in Berlin war. Die Mitteilungen darüber sind äußerst dürftig, wie immer, wenn Schleiermacher zu einer Ruhepause gelangte; viel­

leicht hat ihn Brinkmann, der inmitten des weiten gesellschaftlichen Lebens stand, doch mit fortgerissen und ihn, wenn auch nicht in seine exklusiven Gesellschaften, doch in seinen Verkehrskreis gebracht. Damit läßt sich erklären, daß der gute Onkel, der wirklich liebevoll auch jetzt für den Neffen gesorgt hatte, erst drei Wochen nach dem

Erste theologische Prüfung

49

Abschluß der Prüfung Kunde davon erhielt. Ob Schleiermacher in

dieser Zeit auch in persönlichen Verkehr mit Friedrich Nicolai, dem

bekannten Berliner Buchhändler und dominierenden Schrift­ steller, sowie mit Jakob Engel, dem Philosophen, in persönliche Berührung gekommen ist, bleibt dahingestellt; jedenfalls hat er ihre Schriften schon in Drossen studiert, und Brinkmann, der

persönlich mit jenen verkehrte, kann ihn wohl auch in ihren Kreis eingeführt habe». Überhaupt hat ihn das geistige Leben Berlins sehr angezogen und Einfluß auf seine Gedankengänge gehabt; er

versuchte alle Mittel, um in Berlin bleiben zu können, und wollte sogar durch Privatunterricht sich seinen Lebensunterhalt verschaffen, wozu ihm seine Vorliebe für die Mathematik zustatten gekommen wäre. Wieder war es der väterliche, um dreißig Jahre ältere Freund Sack, der mit seiner Erfahrung und seinem milden Zureden den

Schwankenden auf den richtigen Weg zu bringen suchte. Die Be­

rührungen Sacks mit der Schleiermacherschen und Stubenrauchschen Familie sind nicht in allen Einzelheiten nachzuweisen. Möglich daß sie von den Vätern Sacks und Schleiermachers stammen. Der Vater des ersteren, August Friedrich Wilhelm (t 1786), war seit 1731 Prediger in Magdeburg, seit 1740 Hof­ ist es,

prediger und Konsistorialrat in Berlin gewesen und hatte als Ver­

trauter des Königs eine dominierende Stellung in Kirchensachen gehabt. Onkel Stubenrauch hatte wie Sack in Frankfurt studiert und

war dann mit beiden Sack, Vater und Sohn, in Berlin zusammen­ getroffen. Freundschaftliche Verbindungen der drei Familien haben wohl bestanden, ehe Friedrich Schleiermacher heranwuchs. So läßt sich am besten die Vorliebe und die väterliche Fürsorge erklären, die der Hofprediger Friedrich Samuel Gottfried Sack (f 1817) für den so viel jüngeren Friedrich Schleiermacher hatte.

Die Zukunft des jungen Theologen lag dem Freunde damals sehr am Herzen. Vor allem mußte jenem ein Arbeitsfeld geschaffen werden, auf dem er, von nutzlosen Grübeleien und Zerstreuungen

abgelenkt, sich für seinen Berufweiterbilden konnte. Aber wo wollte Schleiermachers Lehrjahre. 4

50

Schlobitten

er hinaus? Philosoph auf dem Katheder, Prediger auf der Kanzel oder Lehrer in der Schulsiube? Vielleicht alles dreies. Vorerst aber mußte er nach der Sitte der Zeit in das Leben der menschlichen Ge­ sellschaft, um ihre Formen kennen zu lernen, sich darin zu üben und

neue Beziehungen anzuknüpfen. Dazu war ein Aufenthalt in den aristokratischen Kreisen von bester Wirkung. So brachte Sack seinen

Schützling in die Stelle eines Hofmeisters in dem Hause des Grafen zu Dohna, zu dem er durch den Grafe» Finckenstein Beziehungen hatte. Weitab also von einer Vertiefung in die Theologie, die in

dem Predigeramt das Ziel sah, landete Schleiermacher in dem Hafen des Hauslehrertums.

10. Schlobitten.

Ein neues, eigenartiges Bild tritt nun vor unsere Augen, das Schloß eines ostpreußischen Magnaten, das Wohlhabenheit, Stolz und Bequemlichkeit sogleich beim Anschauen verrät.

Ein

eisernes, mit Bäumen bestandenes Gitter schließt den Vorgarten ab, zu dem man durch das von zwei Wärterhäuschen flankierte Tor gelangt. Hinter einem breiten Wege nochmals ein mit gemauerten Pfeilern gezierter Zaun vor den in Hufeisenform errichteten Baulich­ keiten, in der Mitte das zweistöckige, mit einem Türmchen versehene

Schloß mit einer Front von zehn Fenstern, zu beiden Seiten niedri­

gere Anbauten, über Eck Wirtschaftsgebäude aller Art, der innere Schloßhof mit weiten Rasenflächen, dahinter ein großer, in engli­ schem Stil gehaltener Garten, durch den ein Weg hinaus auf Feld und Heide führt, — das war das Ziel, zu dem der Kandidat der Theologie Schleiermacher, der kleine Mann in dürftigem Anzug,

seine Schritte lenkte. Wie mag sein scharfes Auge gestaunt haben, als er zum ersten Male nach den engen und öden Wohnräumen, in denen er bis jetzt gehaust, den stattlichen Bau betrat, in dem er jetzt Unterkunft finden sollte! So war es eigentlich zuerst nicht geplant gewesen, daß er in Schlobitten Aufenthalt nehmen sollte, aber die Familie des

Schlobitten

5i

Grafe» zu Dohna befand sich dort und nicht mehr in dem nahen

Finckenstein, dem Besitz des Geschlechtes gleichen Namens,

aus dem die Gemahlin des Grafen stammte.

Von Schlobitten

sollte die Reise bald nach Königsberg weitergehen, und nur eine Unpäßlichkeit, die Schleiermacher sich unterwegs zugezogen hatte, «ötigte zu einem Verweilen an dem Orte, der bald sein neues

Domizil wurde. Die Reise von Berlin aus war bei den damaligen Verkehrs­ verhältnissen lang und schwierig gewesen. Den Umweg über Lands­

berg und Drossen machte Schleiermacher gern, um die alten lieben

Erinnerungen aufzufrischen. In Küstrin erreichte er die Posistraße nach dem Osten und setzte bei abscheulichem Wetter die Reise fort, nicht ohne ein gefährliches Abenteuer bei dem Übersetzen über die hochangeschwollene Weichsel auf der Fähre bei Fordon, östlich von Bromberg, zu bestehen. Am 22. Oktober 1790 kam er in Schlobitten

zwischen Pr. Holland und Mühlhausen an. Die Stimmung mag wohl nicht die beste gewesen sein; er, der Naturfreund, schreibt in seinen Briefen nichts von dem Lande und den Städten, die er gesehen, hingegen von dem Schlaf, der ihm reichlich den Weg hat verkürzen helfen. Ursprünglich war Schleiermacher dazu bestimmt, dem Grafen Wilhelm zu Dohna, der in Königsberg Staatswiffenschaften studierte, als Repetent und Gesellschafter zu dienen. Das war gewiß für einen Kandidaten der Theologie keine leichte Aufgabe, zumal sein Vorgänger durch seine Liebenswürdigkeit und Nach­ giebigkeit den Zögling arg verwöhnt zu haben scheint. Aber die Universitätsstadt lockte Schleiermacher; schon glaubte er zu den Füßen

Kants seine philosophischen Studien verbreitern und vollenden zu können, als durch die gräfliche Familie selbst der Weg nach Königs­ berg verlegt ward. An und für sich scheint es schon wunderbar, daß sich der alte Graf nach Berlin an den ihm persönlich bekannten Oberkonsistorialrat Sack wandte, um einen Informator zu erlangen, da das nahe Königsberg doch genug Auswahl von solchen bot, die überdies mit den dortigen Verhältnissen vertrauter waren als der

zum ersten Male nach dem äußersten Osten verschlagene Hallenser 4*

Schlobitteo

52 Theologe.

Sack hatte ihn neben seinem Examensgenossen und

Freunde Samuel Henri Catel vorgeschlagen, der, aus einer französischen Emigrantenfamilie stammend, Leichtigkeit und Gewandt­

heit im persönlichen Verkehr besaß. Schließlich wurde Schleiermacher vorgezogen, für den die Herrnhuter Vorbildung, die der alte Graf

schon vorher hochgeschätzt hatte, den Ausschlag gegeben ju haben

scheint. Catel blieb in Berlin, wurde Prediger am Hospital der fran­ zösischen Kirche und Professor. Das innige Freundschaftsbündnis zwischen beiden Konkurrenten blieb bestehen.

Der unfreiwillige Aufenthalt im Schlosse brachte den neuen An­ kömmling bald in näheren Verkehr mit der Familie. Man glaubte in ihm em passendes Mitglied ihres Verkehrskreises gefunden zu haben, das durch sein Wissen in weiser, zurückhaltender Mitteilung ein Unterhalter werden könnte, den die Familie in ihrem abge­ schlossenen Zirkel sehr entbehrte. Wie es für diese neu und interessant war, von der geistigen Welt Berlins und dem Kampfe zwischen Möllners kirchlicher Reaktion und der Aufklärungsphilosophie zu hören, so war es für Schleiermacher ein besonderer Reiz, zu beob­ achten, wie sich die Bildung in einem alten, abgeschlossenen Adels­

geschlecht darstellte. Der alte Graf, der unter Friedrich dem Großen noch im Kriegsdienst gewesen war, hatte die militärische Art in Aussehen und Charakter beibehalten: kurz und offen in seinem Urteil, liebenswürdig und jovial hie und da nachgebend, ohne über­ zeugt zu sein, über die landwirtschaftlichen Verhältnisse hinaus ge­ bildet, aber ein schlechter Unterhalter — so stand er mit den üblichen

Allüren eines Grandseigneurs der verflossenen Zeit an der Spitze seines großen Familienkreises. Seine Frau Karoline, geborene

Gräfin Finckenstein, ergänzte ihren Gatten in echt fraulicher Würde durch Ton und Haltung, die sie in der großen gesellschaftlichen Welt an einem Fürstenhofe sich angeeignet hatte. Damals eine Frau von

vierzig Jahren, zeigte sie noch die Spuren einstiger Schönheit und stand in ihrem Kreise als Mutter ihrer zwölf Kinder, geachtet und

geliebt, Vertraute und Vermittlerin kleiner häuslicher Sorgen.

Von den Söhnen des gräflichen Paares war Alexander, der spätere

Schlobitten

53

Marienwerdersche Kammerpräsident und Minister des Innern, da, mals auf Reisen; Wilhelm, der damals in Königsberg studierte und dessen Begleiter Schleiermacher eigentlich werden sollte, war später

Gesandter in Kopenhagen und dann Majoratsherr ju Finckenstein, der mütterlichen Besitzung. Louis, vierzehnjährig, dessen Anhänglich,

keit sein neuer Lehrer besonders rühmt, war als Mitbegründer der ostpreußischen Landwehr tätig und starb als Oberst 1814 im Frei,

heitskriege. Fabian, 1790 neun Jahre alt, zeichnete sich in den Kriegen 1806 und 1807 als Oberstleutnant besonders aus. Friedrich, sechs

Jahre alt, verwöhnter Liebling des Vaters, ist der spätere Feld, marschall, Helvetius, der jüngste, in den Freiheitskriegen Rittmeister, starb 1819 in der Schweiz. Als Schüler Schleiermachers kamen die Grafen Louis, Fabian und Friedrich in Betracht. Der Altersunter,

schied bedingte Verschiedenartigkeit der Fächer, deren Anordnung für den Lehrer gewiß nicht leicht geworden ist. Graf Louis erhält

Unterricht in Geometrie, Geographie und Geschichte, die jüngeren Knaben in Französisch, wozu die Überwachung der schriftlichen Ar, beiten und die Plauderstündchen, besonders mit Louis, kommen. Der alte Graf gewöhnt sich, mit dem jungen Kandidaten täglich Schach zu spielen, die Familie läßt sich gern des Abends von ihm

vorlesen, und so bleibt für eigene Arbeit und Leftüre nur die Früh, zeit von 5 Uhr an — denn Schleiermacher war ein Frühaufsteher — bis 9, die Mittagzeit von 11 bis 1 Uhr und die späten Stunden bis ii Uhr übrig. Mancherlei Besuche aus der Nachbarschaft, besonders

seitens der Finckensteiner, der sonntägliche Kirchgang führten eine

Abwechslung herbei. Schleiermacher hat sein Lehramt sehr ernst genommen und gewiß viel über die Methode nicht bloß des Lehrens, sondern auch des Erziehens, die er sich erst bilden und

seiner Umgebung anpassen mußte, nachgedacht. Barbyer und Hallenser Erfahrungen tauchten dabei auf; der Mißerfolg in Landsberg diente ihm als heilsame Lehre, und ein milder Hin, weis der Gräfin oder ein entscheidendes Wort von ihr bei kleinen Zweifeln fügten sich in das System, das Schleiermacher in sich

ausbildete.

54

Schlobitte«

Hier trat ihm eine Aufgabe entgegen, die schwieriger war als die Erziehung der drei Knaben. Das war der Unterricht der Töchter des Hauses. Die beiden jüngsten blieben noch der Erziehung der Mutter anvertraut. Ob es möglich war, den zwanzig- und fiebenzehnjährigen Komtessen die tiefen Wahrheiten des Lebens, wie solche in seiner durchdachten Philosophie immer wieder zutage traten, in die Seele zu prägen, als Grundlage dazu das Wissen nach allen Richtungen hin zu vertiefen und die Vorurteile eines altadligen Geschlechts in aller Offenheit beiseite zu schieben? Es war ein großes Unternehmen, das er wagte und bei dem er schließlich doch gestrauchelt ist. Die ältere der Schwestern, Karoline, folgte dem Lehrer mit ihrem ausgeprägten Intellekt, der zu eigenem Nachsinnen und verständigen Fragen in immer neuen Gesprächen reizte; die jüngere, Friederike, war in der aufleimenden Blüte ihrer Jahre ein stilles, gemütstiefes Wesen, in dessen Seele der Same unbekannter Weisheit erst gelegt werden mußte, die sie mit einer gleichbleibenden Aufmerksamkeit und ohne Prätenfion aufnahm. Was sie nicht gleich verstand, das wiederholte fie sich beim Durchlesen ihrer schriftlichen Aufzeichnungen über das Vorgetragene, die leider verloren gegangen find und uns gewiß einen Blick in den Inhalt der Vorträge des Lehrers gewährt hätten. Sicher aber hat Schleiermacher die religiösen Wahrheiten, die von frühster Jugend auf in ihren Herzen schlummerten, mit den hohen Pflichten der Frau zu verbinden gewußt. So gelang es ihm denn, wie bei den Knaben, fich eine innere Zuneigung der jungen Gräfinnen zu er­ werben, die ihn doppelt der Familie verbanden und ihm ein Glück gaben, das er nicht genug preisen konnte. Nur in einem war er unerfahren geblieben; er verstand das Menschenherz und seine Regungen nicht. Die Lieblichkeit der Gräfin Friederike, ihre zarte Gestalt, die Tiefe ihrer träumerischen Augen, die Natürlichkeit ihrer Gedanken und die Willigkeit der Hingabe an das Neue, Fremde, das ihr geboten ward, erregte gewaltig die Gefühlstiefe Schleier­ machers, und er mußte mit aller Willenskraft die Leidenschaft tief in sein Herz einschließen, wo fie ein verborgener Schatz blieb, der ihm

Schlobitten

55

so heilig war, daß er später in keiner schriftlichen Äußerung sein Geheimnis preisgab. Es lohnt sich wohl, das innere Leben und die Schicksale Friederikens zu verfolgen. Schleiermacher hat die wenigen Schriftstücke über sie mit wahrhafter Treue aufbewahrt. Von einem köstlichen Blatte, von dem jungen Mädchen in ernster Stunde niederge­ schrieben, machte er sich eine Abschrift, die leider auch, wie so vieles, verloren gegangen ist, so daß wir auf einzelne gedruckte Mitteilungen daraus angewiesen sind. Sie sollte einem Manne verlobt werden, den sie nicht leiden konnte, und prüft ihr Gewissen vor Gott, dem Beschützer und Führer ihres Lebens. Ihre Sensibilität und ihre zeitweilige Heftigkeit passe nicht zu diesem Manne, ja ihr schaudert vor dem Gedanken, sich ihm ganz widmen zu müssen, jeder Laune ausgesetzt, fern von der über alles geliebten Mutter. Nein, lieber frei bleiben, selbst wenn sie einen Mann beleidigen sollte, der aber gewiß in einer andern Ehe sein dauerndes Glück finden könnte. Schleiermacher begrüßt diesen Entschluß freudig und schreibt darüber an Schwester Charlotte im Februar 1800, daß das herrliche Mädchen nicht an einen Mann verschleudert werden dürfe, der das Gute und Schöne in ihr nicht verstanden hätte. Charlotten hatte sie, als sie mit ihrer Familie eine Reise nach Schlesien machte und auch Gnaden­ frei besuchte, persönlich kennen gelernt, und beide hatten sich zu einem Freundschaftsbund zusammengeschlossen. Den verabredeten Briefwechsel ließ der Gesundheitszustand Friederikevs, ein zuneh­ mendes Lungenleiden, nicht zur Ausführung kommen. Es ist wahr­ scheinlich, daß die weite Reise von Ostpreußen nach Schlesien den Zweck gehabt hat, in einem Bade der Grafschaft Glatz Hellung für Friederike zu suchen, die körperlich bereits nicht mehr sehr wider­ standsfähig war. Der Winter zu 1801 brachte eine Verschlimmerung des Zustandes, das Frühjahr gibt wieder Hoffnung. In einem Briefe an ihren Bruder Alexander vom 21. Juni blickt sie wieder lebensmutiger in die Zukunft, wenn die immerwährenden Leiden, wie sie selbst sagt, nicht zu einer Marter würden, die die so kostbar errungene Stimmung des Gemütes trübe. Die Nachrichten, die

56

Schlobitten

Alexander an Schleiermacher im August gelangen ließ, geben Kunde

davon, wie furchtbar die unwiderruflich dem Tode Geweihte litt. Mit jedem Tage, mit jeder Stunde schreitet die Auszehrung fort; die Gesichtsfarbe und die Züge sind schon ganz fahl, und der Schlaf,

das einzige Labsal, bleibt aus. Die Stärke, mit der sie ihre Leiden trägt, ist trotzdem bewunderungswürdig; nur in ihrem Auge kann man bisweilen den Ausdruck des unnennbaren Leidens und großer innerlicher körperlicher Qualen und Angst lesen. In diesen Augen­

blicken spricht sie mit Fassung über ihr nahes Ende, mit einer tiefen Religiosität, mit einer fast übermenschlichen Erhabenheit, mit einer Ruhe ohne alle Rührung und Heftigkeit. Dann kommt der natür­

liche Wunsch, noch am Leben zu bleiben, um die schöne Natur noch einmal begrüßen zu können, oder um an den Meisterwerken eines Schiller ihr Denken aufzurichten, so daß der Bruder Schleiermacher

inständigst bittet, immer neue Lektüre recht bald zu schicken, die sich zum Vorlesen eignet. Alexander schreibt, daß Friederikens Gemüt auch dadurch wund und zerrissen sei, daß sie mit unedlen, jämmer­ lichen und schändlichen Menschen hätte verkehren müssen.

Das

deutet gewiß auf Angelegenheiten, die durch die Absage der Ver­ lobung entstanden sind. Nach drei Jahren schwersten Leidens starb Friederike am

25. August 1801. Rührend ist, daß Alexander, der bei dem Tode nicht zugegen war, einem zweiten Schreiben an Schleiermacher vom 1. September die Briefe seines Bruders Louis an ihn und an Fa­ bian beilegt. Diese und sein eigener langer Brief geben ausführlich Kunde von dem Hinscheiden. Ohne merkliche Zeichen einer Todes­ angst ist sie still entschlafen; an ihrem Sterbebett weilten die

Schwestern und Bruder Louis, außerdem aber der als Arzt be­ kannte Dr. Herz, der Gemahl der Henriette, der also zur Konsulta­ tion hinzugezogen worden war, und die Gesellschafterin und Freun­

din der Schwester Karoline, Fräulein Wessel, die Schwester der Frau des Pastor Wedecke, mit dem Schleiermacher aus der Schlobittener

Zeit her eng befreundet war. In einer Grotte im Park, die mit Orangenbäumen und blühenden Myrten geschmückt war, wurde sie

Innere Gestaltung

57

in offenem Sarge vorläufig beigesetzt, bis fie in der Gruft unter der Kirche dann ihre letzte bleibende Ruhestätte fand. Am 21. Ottober

schrieb der alte Graf einen Dankesbrief an Schleiermacher, in dem die Rührung des Vaters zu erkennen ist, der die Starrheit des alten Soldaten fich in milden Freundesworten lösen läßt. So endete

die Episode, die in das Leben Schleiermachers auch deshalb tief eingriff, weil fie in ihm zum ersten Male den Sinn für weibliche Anmut geweckt hat.

11. Innere Gestaltung. Inmitten der Vielgeschästigkeit Schleiermachers als Lehrer, Erzieher und Gesellschafter in dem großen Familienkreise kamen doch auch Stunden, in denen er fich seines Berufs als Theologe

erinnerte. Er wurde darin bestärkt durch die Erfahrung, die er bei einer kurzen Reise nach Königsberg gemacht hatte. Vorher war der glühende Wunsch in ihm gewesen, den Philosophen, von dem die wissenschaftliche Welt sprach und dessen Schriften er ein gut Teil seiner Studien geopfert hatte, nun auch von Angeficht zu Angeficht sehen zu können.

Er war aber enttäuscht, als er Kant auf ein

Viertelstündchen gesprochen hatte; es war ein ungünstiger Augen­ blick, in dem er ihm gegenübertrat. Er, der ganz erfüllt war von dem Leben einer feinen geistigen Gesellschaft, trat dem nüchternen Verstände eines Philosophen entgegen, der in seiner Studiersiube die großen abstrakten Ideen einer neuen Weltanschauung erdacht

hatte und ordnete. So kehrte Schleiermacher gern von dem Manne selbst zu dessen Schriften zurück, die einen Grundstock seiner Über­ zeugung in künftiger Zeit bilden sollten. Seine Schriftstellerei, die er wieder aufnahm, kam dabei nicht so weit, daß ihr Ergebnis, wie

er geplant hatte, im Druck erscheinen konnte. Die „Philosophischen Versuche", von denen der eine „Über die Freiheit des Menschen" in der Drossener Zeit ausgearbeitet war, vermehrten sich freilich,

aber blieben nur im ersten Niederschlag; er hätte können 16—20 Bogen damit füllen, aber die Ruhe zum kritischen Nachfeilen fehlte



Innere Gestaltung

ihm, so daß er gut tat, sie zurückzulegen. Sie sind später in seine Schriften eingearbeitet worden; ein lückenhaftes Manuskript der

ersten Fassung befindet sich noch in seinem Nachlaß.

Ein Teil seiner philosophischen Gedanken ist in die Predigten übergegangen, die er in Schlobitten gehalten hat. Vielleicht spiegelt fich darin auch einzelnes wieder, was in Gesprächen und in den

Vorträgen vor den Komtessen zutage getreten

ist,

denn die

Predigten, die er in der Kirche hielt, waren inhaltlich nicht so

für die Dorfbewohner als für die gräfliche Familie bestimmt. Das empfand vor allem die Gräfin-Mutter sehr, die leichter als der

verschlossene Graf und die stillen Töchter den Inhalt des Vorge­ tragenen in nachträglichen Gesprächen einer oft strengen Kritik unterzog. Bei dem religiösen Standpunkte der Frau, die streng an

den Heilswahrheiten der Bibel hing, war das natürlich, und es mußte am wenigsten ihr behagen, wenn der Text der Schrift in

Erläuterungen oft zu rein ethischen Grundsätzen umgebogen ward, die einer schwunghaften und blumenreichen Sprache im Predigerton

entbehrten. Es sind fünfzehn Predigten, von denen wir aus der Schlobittener Zeit Kunde haben. Schon die Weihnachtspredigt über Simeon legt moderne Züge in die Gestalt des biblischen Mannes,

noch mehr fiel den Hörern auf, daß die Neujahrspredigt 1791 über die wahre Schätzung des Lebens so ganz von der Art der Reden abwich, die man sonst zu Neujahr zu höre» gewohnt war, indem fie eine tiefgehende philosophische Erörterung über die verkehrte Anschauung brachte, daß Glück und Unglück den Wert des Lebens bestimme». Gerade dieses Thema hat Schleiermacher bald darauf in einem philosophischen Aufsatz weiter entwickelt und zwar auf Anregung des Onkels Stubenravch. Auch die anderen Predigten aus der Schlobittener Zeit, so über die Pflichten, welche die Gewiß­

heit der Auferstehung uns auflegt, über den vernünftigen Glauben in Anlehnung an den des Thomas, über die wahre Furcht Gottes,

über die Einigkeit der Christen, über die Einschränkung der Anhäng­ lichkeit an das irdische Glück, über die durch Christus aufgehobene

Unmündigkeit des menschlichen Geschlechts u. a. zeigen das Her-

Innere Gestaltung

59

vortreten einer ethischen Tendenz, die ans den Worten der Evan­ gelien zn entnehmen ist. Schleiermacher setzt die Methode der Ausarbeitung seiner Predigten in einem Briefe an den Vater ausführlich anseinander.

Zuerst gab er stch undenkliche Mühe, bis ins

Kleinste alles, was er sagen wollte, aufzuschreiben, aber er änderte

immer wieder und predigte schließlich mit ganz andern Worten als es schriftlich fixiert war. Dann ließ er diese Art allmählich fort, schon in Schlobttten, und muß seinem Vater, als dieser in natür­

lichem Interesse die Predigten doch auch lesen wollte, gestehen, daß von den meisten keine einzige ausgeschrieben sei. Er könne, so sagt

er, eine Predigt nicht eher aufschreiben, als bis er fie völlig auch in den kleinsten Teilen durchdacht habe, weil er sonst gar zu leicht in Gefahr gerate, etwas an die falsche Stelle zu setzen. Nun ließen die Umstände, Mangel an Zeit und schlimme Augen, nicht zu, dieses Durchdenken zu rechter Zeit hintereinander anzustellen, sondern es mußte bisweilen zersiückt in einzelnen Augenblicken geschehen, und so kam das ganze Corpus der Gedanken gemeiniglich

erst des Sonnabends zustande, so daß zu dem Niederschreiben die Zeit fehlte. Die Dispofition aber war sehr genau gemacht und

für jeden Gedanken ein mehrfacher Ausdruck gesucht, bis der

richtige gefunden ward. Bei dieser Art war es selbstverständlich, daß, als er die Predigt, oft viel später, niederschrieb, mancherlei in dieser Fassung geändert wurde. So müssen wir die uns erhaltenen Vorlagen anders beurteilen, als das Wort auf der Kanzel, das in Schleiermachers Wesen und Ausdrucksweise ganz anders ge­ wirkt haben mag, wärmer und eindringlicher, als das geschriebene

Wort.

Nicht alles davon ist im Original erhalten geblieben; auch

sind eine Anzahl Briefe

aus der Korrespondenz des Sohnes

mit Vater und Onkel, die bei dem ersten Abdruck noch vor­ handen waren, wie so vieles aus dem Nachlaß, verschwunden. Vielleicht hätten die im Druck weggelassenen Stellen manches deutlicher werden lassen. Seitdem Schleiermacher auf die Kanzel

getreten war und von dort das Wort Gottes verkündigte, hatten sich die Beziehungen zum Vater inniger gestaltet, da letzterer richtig

6o

Innere Gestaltung

erkannt hatte, was für ein tiefer Kern von Denken und Wissen in

dem Sohne schlummerte, der, heraustretend und vervollkommnet, ihn zu etwas anderem machen würde, als zu einem Bibelerzähler in dem engen Rahmen einer kleinen Stadt. Bewunderte der Vater mehr in anfangendem Stolze die Geistesgaben des Sohnes, so

war der Onkel hingegen der treue Berater und Helfer. Er las die

ihm zugesandten Predigten mit den Augen eines Kritikers, korri­

gierte und tadelte scharf, so daß wohl von seinen Ausstellungen nicht weniges in die Predigten des Neffen übergegangen sein wird.

Die Originale der Briefe Stubenrauchs find erst von 1795 an erhalten, reichen aber dann in der stattlichen Anzahl von 102 Stück bis zum Jahre 1807, während von den Briefen Schleiermachers

an ihn überhaupt keine mehr vorhanden find. Wie Stubenrauch schriftlich sich mit Schleiermacher auseinander­

setzte, so hat dies im persönlichen Verkehr der Pastor Wedecke getan, der damals in dem Schlobitten benachbarten Hermsdorf wohnte. Er war dreizehn Jahre älter, hatte in seiner Vaterstadt

Königsberg studiert und war seit 1784 Prediger. Seine Bekannt­ schaft hatte Schleiermacher durch die schon vorher genannte Gesell­ schafterin der Gräfin Karoline gemacht und bald eine innige Freund­

schaft mit Wedecke geschlossen. In seinem Hause fand er das, was er in Schlobitten vermißte, die Ruhe und das einfache Gemütsleben; er konnte mit dem in theologischen Sachen sehr erfahrenen Freund offen und ohne Rücksicht über mancherlei sprechen, was in dem gräflichen Hause nicht beliebt war. Auch als Schleiermacher seine Stelle aufgegebe» hatte, und Wedecke als Hofprediger nach Kö­

nigsberg versetzt worden war, blieben beide in regem Briefverkehr, bis die leidige Lucinde-Angelegenheit im Jahre 1800 ernste Ver­ stimmungen hervorrief. Der gesamte Briefwechsel zwischen beiden, in dem nicht bloß örtliche Neuigkeiten ausgetauscht, sondern auch

sicherlich über theologische Grundsätze verhandelt wurde, ist ver­ schwunden. Festen Fuß hatte Schleiermacher in seiner ostpreußischen Um­ gebung gefaßt, willensfroh spann er seine Grundsätze über Er-

Innere Gestaltung

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ziehung in sich selbst weiter und freute sich über den Erfolg, den er

auch bei andern damit gefunden hatte.

Mit einer Freundschaft,

die er nicht geahnt, waren ihm alle Mitglieder des gräflichen Hauses

entgegengekommen; die Knaben, denen er Unterricht gab, hingen an ihm mehr als an ihrem Vater, und die Töchter des Hauses waren zufrieden, neue Gedanken und neue Ziele der Lebenskunst

von ihm zu vernehmen. So glücklich sich Schleiermacher in seiner Stellung fühlte, so gab ihm doch gerade diese ein starkes Selbst­

bewußtsein, über das er selbst schon nachdenklich geworden war, und ließ ihn in seinen Entgegnungen in den Gesprächen manchmal

das Maß der Zurückhaltung vergessen, das er seiner Stellung schuldete. Es war natürlich, daß nicht nur über den Stoff, den der Lehrer behandelte, sondern auch über die Art, wie er ihn vortrug, in dem Familienkreise, auch wenn Schleiermacher nicht dabei war, gesprochen wurde. Die Gräfin-Mutter, die gern schlichtete und die Unterhaltungen abbrach, wenn sie vermutete, daß die Meinungs­ verschiedenheiten zu stark wurden, hatte sich selbst einmal veranlaßt gefühlt, eine Ansicht Schleiermachers scharf zurückzuweisen, aber

der Konflikt wurde durch die liebenswürdige Form der Frau bald beigelegt.

Anders stand es mit dem alten Grafen. Er war trotz

seines verbindlichen Wesens durch Behauptungen des jungen

Theologen, die von den althergebrachten Normen der Bibel ab­ wichen, mißtrauisch geworden, hörte öfter als sonst in den Lehr­ stunden zu, aber immer nur kurze Zeit, die er dazu benutzte, seine Einwendungen gegen die Methode der Pädagogik auch vor den Schülern in kurzer, energischer Weise zum Ausdruck zu bringen.

Schleiermacher ließ viel dergleichen über sich ergehen und dozierte nach seinem System weiter, so daß wiederum von der Gegenseite energischere Worte über Nichterfüllung der vorgeschlagenen Ände­

rungen erfolgten. Dabei fiel wie zufällig das Wort von der Tren­ nung zum ersten Male. Das hat tief in dem Herzen des Lehrers wiedergeklungen und konnte nicht vergessen werden, selbst als der Graf und sicher auch die Gräfin einlenken wollten. Schleiermacher führte seine Verteidigung mit Geschick und Kraft; er habe, als er

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Innere Gestaltung

das Lehramt übernahm, keine Weisungen erhalten und geglaubt, daß er seine Grundsätze, die ja offen in den Unterrichtsstunden zutage träten, unter Zustimmung der Eltern weiterführen dürfe. Da kam nach länger als Jahresfrist die Einsprache in Form eines militärische» Befehls und führte die Trennung herbei.

Allein es

ist irrig, anzunehmen, daß nur diese Meinungsverschiedenheiten über die Art des Unterrichts den Anlaß gegeben hätten zu dem Abschied Schleiermachers aus den ihm lieb gewordenen Verhält­ nissen.

Einmal mußten trotz der vorsichtigen Zurückhaltung beider

Teile die Gegensätze aufeinanderplatzen. Die politische Atmosphäre war gewitterschwül, die Nachrichten über die französische Revolu­

tion und besonders über die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 drangen auch in die Stille des ostpreußischen Herrenhauses. Die schroffste Gegnerschaft des Grafen war natürlich, der Jüngere aber, der die Ermordungen und Untaten in Paris bis aufs äußerste verdammte, konnte sich nicht freimachen von dem Durchdenken der inneren Folgen der neu anbrechenden Zeit und wurde von seinem Vater, der bedauerte, daß der Sohn nicht genug Gelegen­

heit habe, dazu veranlaßt, sich mit philosophisch und historisch ge­ bildeten Leuten über die Aufklärung der Menschheit zu unterhalten.

Schleiermacher selbst war durch seine ganze Vorbildung ein Kind der Zeit geworden, das nicht an neuen Ideen vorübergehen konnte. Der Graf aber wollte sich und die Seinen vor dem Eindringen dieser neuen Ideen schützen. Diese Ideen waren noch nicht geklärt, sondern erweckten durch den Überschwang des Gewollten und energisch

Erstrebten eher Abscheu in den Kreisen, die starr am fürstlichen Absolutismus hingen. Der Graf sah nach seiner Meinung das Gift tropfenweise in den Becher der stillen, ernsten, gottergebenen

Lebensanschauung fallen. Darum mußte Schleiermacher fort aus dem Kreise dieses Aristokraten und Grundherrn. Das ist die andere Ursache seines Scheidens, das aber in einer edlen Form er­ folgte. Denn als Schleiermacher im Mai 1793 Schlobitten verließ,

geschah das in so freundschaftlicher Weise, daß die Beziehungen zu dem ganzen gräflichen Hause,

auch zu den beiden älteren

Berlin.

Zweite theologische Prüfung

63

Söhnen, Alexander und Wilhelm, für lange Zeit die herzlichsten

blieben. Reich an Erfahrungen kehrte Schleiermacher in einfachere Ver­

hältnisse zurück; der Abschied war ihm gar schwer gefallen, und doch war es gut so, denn ein längeres Verbleiben hätte ihn durch Ge­ wöhnung, Anschauen und Herzensregungen weit weggeführt von

dem Ziele, das ihm immer deutlicher vor das Auge trat, die Kanzel

des Predigers und der Lehrstuhl des Philosophen.

12. Berlin.

Zweite theologische Prüfung.

Es wäre wohl möglich gewesen, daß Schleiermacher den Abschied von Schlobitten noch hätte hinzögern können, bis für ihn Aussicht auf eine neue Stellung gewesen wäre. Er selbst hat aber

zunächst nichts dazu getan, und Sack, wahrscheinlich etwas un­ willig über den schnellen Abschied, schwieg, so daß Schleiermacher wieder einmal auf sich selbst angewiesen war. Sein lebhafter

Wunsch, den Vater in der Heimat nach so langer Zeit wiederzusehen, zerschlug sich an den Kosten der Reise. Daß der Vater dem Sohne kein Geld dazu schicken konnte, ist erklärlich, da er für die Kinder aus zweiter Ehe zu sorgen hatte, aber daß Schleiermacher in der Zeit seines Aufenthalts in Schlobitten, wo er freie Verpflegung und keine Gelegenheit hatte, außer den Kosten seiner Bekleidung Geld

auszugeben, nicht so viel von seinem Gehalt erübrigt hatte, bleibt auffallend. Der Graf Dohna hat sicher mit dem Honorar für den

Hauslehrer nicht gekargt, und deshalb kommt der Gedanke, daß Schleiermacher vielleicht noch Verpflichtungen aus der Hallischen und Berliner Zeit gegen Brinkmann zu begleichen gehabt hat oder daß Geld nach Landsberg abgegangen ist, wo die Frau, an der er mit Zuneigung hing, durch häusliche Verhältnisse und Krankheiten in nicht günstiger Lage sich befand. Mit Sicherheit läßt sich aber nichts feststellen. Wohin sollte sich Schleiermacher in seiner Lage wenden? Berlin scheint ihm zunächst verschlossen gewesen zu sein, schon der hohen

Berlin. Zweite theologische Prüfung

64

Kosten des Aufenthalts wegen, aber er verhehlt sich nicht, daß er

von da leichter eine Anstellung finden kann. das stille Drossen.

bieten würde?

Er dachte wieder an

Ob der alte Onkel ihm wohl eine Zufluchtsiätte

Darin hat er sich nicht geirrt, denn nach einem

kurzen Aufenthalt bei den Verwandten in Landsberg zog er wieder als Kind des Hauses in das alte liebe Predigerheim. Vieles sah er dort verändert, Vereinsamung und Kränklichkeit waren ein­

gezogen, und doch fand er in dem Kreise der Verwandten seine zweite Heimat, in der er sich besinnen konnte, was er aus seinen seelischen Erlebnissen heraus für die neue Gestaltung der Zukunft brauchte. Dort kam ihm zum Bewußtsein, daß das Leben im engen

Kreis nichts für ihn war; um höheren Zielen näher zu kommen, mußte er sich doch entschließen, zunächst wenigstens besuchsweise wieder nach Berlin zu gehen, um die Stimmung dort persönlich zu erkunden und sich des alten Vertrauens seines Beschützers Sack zu versichern. Der empfing ihn freundschaftlich, aber zurückhaltend, fragte, ob er sich für das Predigeramt oder das Lehrfach entscheiden

wolle. Für ersteres mußte er noch das zweite Examen machen, und dazu bedurfte es zur Auffrischung der alten Lehren eine geraume Zeit, so daß ihm vorläufig eine Stellung als Lehrer vortellhaster

vorkam; aber er wollte eine solche nur in der Stadt annehmen und nur bei ausgezeichneten Menschen, bei denen ihm der Abstand gegen Schlobitten nicht zu bemerkbar würde.

Eine solche bei einem

General v. Hanstein in Danzig hatte er abgelehnt; eine andere

geeignete konnte ihm Sack nicht Vorschlägen, und so war er im Begriff, von Berlin abzureisen, als beinahe im letzten Augenblicke sich durch des alten Freundes Vermittelung eine Stellung fand, die er allerdings nicht mit großem Wohlgefallen, sondern mehr wegen der Notwendigkeit einer Einnahmequelle und wegen seines Wunschs, in Berlin zu bleiben, annahm. Er kam wieder in das

Schulfach hinein, indem er auf Grund einer zu diesem Zweck ge­ schriebenen Abhandlung über die Staatslehre des Plato und Aristoteles in das Seminar für gelehrte Schulen ausgenommen

ward.

Friedrich Gedike, der bekannte Schulmann, Direktor des

Berlin. Zweite theologische Prüfung

6$

Werderschen Gymnasiums und Mitglied des Konsistoriums, hatte es 1787 gegründet und bald zur Blüte gebracht. Die Seminaristen übernahmen die Verpflichtung, acht bis zehn Stunden Unterricht am Gymnasium zu geben gegen ein Entgelt von zehn Talern monatlich. Schleiermacher unterrichtete in Religion und gab auch einzelne Lettionen in Mathematik, die er nach wie vor mit großer Liebe traktierte. So gut er sich aber zur Ausbildung einzelner begabter junger Menschen geeignet hatte, er konnte sich doch nicht in das Dozieren vor einer Klasse eingewöhnen, in der die verschieden­ sten Elemente, Begabte und Unbegabte, vereinigt waren. Es war nie seine Stärke gewesen, sich als Redner zur Schau zu stellen, und so hat er wohl auch durch diese Unsicherheit und durch die so gern von Schülern geübte Beobachtung im einzelnen bald den Eindruck gewonnen, daß seine Art zu lehren nicht für Schulen passe. Dazu kam noch die geringe Besoldung, die ihn zwang, nebenbei durch Privatstunden Geld zu verdienen; und das unwirtliche Haus des alten Onkels Reinhard, wo er zuerst wohnte, machte ihm den Auf­ enthalt in Berlin nicht gerade angenehm. Eine eigene Stube zu mieten, dazu fehlten ihm die Mittel, und erst, als er in dem von dem Hofrat Kommesser 1779 gegründeten Waisenhause Aufnahme fand, womit freie Wohnung und Verpflegung verbunden war, fing er an, sich wieder wissenschaftlich zu beschäftigen. Besonders las er wieder Schriften von Kant, auf die ihn sein Vater wiederholt und dringend hingewiesen hatte. Zu Ausarbeitungen kam es nicht; die Unterrichtsstunden erforderten Vorbereitung, der Umgang mit älteren Kollegen, die er im Hause Sacks und bei Meierotto kennen gelernt hatte, und mit gleichalterigen Freunden, wie Catel, nahmen Zeit in Anspruch, dazu kamen ernstliche Vorbereitungen für das zweite theologische Examen. So verging ihm der Herbst und Winter 1793 immer noch in Schwanken über die Wahl des Berufes. Gedike suchte ihn ganz zur Philologie und zum Lehrfach hinüberzuziehen, seine theologischen Freunde ließen ihn wiederholt predigen und ermunterten ihn durch freudigen Zuspruch zur Ausbildung als Kaazelredner, der Vater, der jetzt die ihm übersandten Predigten Schletermachers Lehrjahre. 5

66

Berlin.

Zweite theologische Prüfung

des Sohnes mit Aufmerksamkeit las, gab gute Lehren und Hin­ weise auf die schwächeren Seiten seines Stils und der Gliederung

im einzelnen, während der unaufhörlich wachsame Onkel Stuben­ rauch alles tat, um den Neffen zu einem geschickten und erfolgreichen

Prediger zu machen. Ihm ist es auch zu verdanken, daß Schleier­ macher sich entschloß, seine Meldung zu dem Examen zu Anfang des Jahres 1794 an das Hof- und Dom-Ministerium in Berlin abjusenden. In demselben saß an erster Stelle sein Freund Friedrich Samuel Gottfried Sack, neben ihm die Hofprediger Christian Friedrich Conrad und Ferdinand St0sch. Die Akten über die

Prüfung sind ebenfalls noch nicht veröffentlicht. Der 31. März 1794 war der Termin des Examens. Schleiermacher erhielt fünf The­ mata zu einer kurzen schriftlichen Beantwortung in Klausur, an die sich ein Kolloquium anschloß. Es waren folgende: Welches sind die Quellen der Kirchengeschichte der vier ersten Jahrhunderte?

Quaenam est significatio vocis irioris in V. 23, Cap. 14, Epist. ad Rom.? Quid est Talmud? Übersetzung des 30. Paragraphen

aus der ersten Apologie Justins.

Welches sind die berühmtesten

Werke in der Kritik des Neuen Testamentes? Die Beantwortung

dieser Fragen nimmt den Raum von nur zwei Folioseiten ein. Das Zeugnis über den Ausfall der Prüfung ist glänzend. Im Hebrä­ ischen gut, auch grammatische Kenntnisse, im Griechischen vorzüglich gut, im Lateinischen sowohl im Sprechen als im Schreiben geübt, im Deutsch-Schreiben sehr gut, in Kenntnis der Bibel recht gut,

in der Dogmatik hinlängliche Kenntnis, in der Kirchengeschichte sehr gut, in der Übung im Predigen und äußerlichen Gaben: hat oft

gepredigt und sehr gute Kanzelgaben; im Katechisieren hat er im Waisenhause Übung erlangt; in der Kenntnis theologischer Bücher sehr gut; in den Wissenschaften hat er sich vorzüglich auf die Philo­

sophie gelegt, auch in mathematischen und in historischen Wissen­ schaften gute Kenntnisse. In Verhalten und Sitten ist durchaus nichts, was in dieser Rücksicht Tadel verdiente, bekannt geworden.

Die Examinatoren waren streng; das geht aus den Akten hervor, in denen die Zeugnisse über andere Examinanden aus der

Landsberg

6/

gleichen Zeit, selbst über solche, die später in ihrem Predigtamt Hervorragendes geleistet, durchaus nicht so günstig ausgefallen

waren, wie bei Schleiermacher. Deshalb ist es auffallend, daß der Hofprediger Karl Georg Heinrich Michaelis, der gar nicht einmal der Prüfungskommission angehörte, über Schleiermachers Pre­ digten ein ungünstiges Urteil gefällt hat, indem er darin natu­ ralistische Gesinnungen zu finden glaubte. Wieder traten auch der Vater und der Onkel als scharfe Kritiker der gelesenen Predigten

auf, aber es waren nur geringe Ausstellungen, die fie machen konnten und von denen fie glaubten, daß sie schwinden würden, wenn der junge Pastor sich durch die Lektüre hervorragender Kanzelredner gebildet haben und selbst öfters gepredigt haben würde.

13. Landsberg. Innerlich stand nach dem Erfolg der Prüfung bei Schleiermacher

der Beschluß bereits fest, das Lehrfach aufzugeben und sich ganz dem Predigtamt zu widmen. Ein günstiger Zufall kam ihm zu­

statten. Der Prediger Schumann in Landsberg, der Schwager Stubenrauchs, war durch seine Kränklichkeit genötigt, nach einem Adjunkten sich umzusehen. Die Wahl eines solchen wurde frei­ gestellt und sie fiel auf Schleiermacher, der bereits von Drossen aus und während seines kurzen Aufenthaltes in Landsberg für den alten Herrn gepredigt und dessen und der Gemeinde Beifall gefunden

hatte. Schon vor der Prüfung war ihm der Gedanke gekommen, daß diese Stelle für ihn passe; im Kreise seiner Verwandten glaubte

er bald heimisch zu werden und endlich einen befriedigenden Wir­ kungskreis finden zu können, in dem er die Wirrnisse und Ent­ täuschungen des Berliner Lebens vergessen könnte. Am 23. April 1794, dem Karfreitage, hielt er in Landsberg seine Antrittspredigt vor einer Zuhörerschaft, die sich in der belebten Stadt anders zusammensetzte als in dem kleinen Drossen. Er gewann auch bald einen angenehmen Umgang in den gebildeten Kreisen der Stadt,

5*

68

Landsberg

die viel auf ihre Reputation hielt, und auf Grund davon gelang es ihm, seinen Wirkungskreis über die Kanzel hinaus auf seine

Kollegenschaft und auf die Schulverhältnisse auszudehnen. Es war

ein neues geistiges Leben, das er überall hineinbrachte; vielleicht ließen die Gemeindemitglieder zuerst staunend die Worte seiner Predigten, die ohne die üblichen Floskeln und Bibelverse in den

Geist der Zuhörer einzudringen wußten, über sich ergehen; die Neugierde, was der junge Pastor wohl sagen würde, zog andere in die Kirche, und so geschah es, daß er in kurzer Zeit der Lieblings­

prediger der breiten Bildungsschicht der Stadt wurde. Es trug viel dazu bei, daß er sich auch dem gesellschaftlichen Verkehr an­

zupassen wußte und sowohl bei dem L'hombrespiel als auch in den Unterhaltungen über städtische Projekte und Sorgen seinen Mann

stellte. Die Erziehung der Jugend durch die Schulen war damals im allgemeinen durch die vorhergegangenen Kriege stark vernachlässigt. Die Lehrerschaft setzte sich aus verschiedenen Elementen zusammen,

und der Korporalstock galt bei den gewesenen Soldaten, die nun in der Schule kommandieren sollten, als das beste Lehrmittel. Schleier­ machers Erfahrungen aus Berlin, wo auch trotz besserer Elemente und trotz der Anstrengungen, die Gedike und sein Stab machten,

doch nicht immer die gewünschte Ordunng unter den Schülern zu Hallen möglich war, tauchten zum Vergleich auf, aber nicht zu­

gunsten der Landsberger.

Seine kleine Gestalt imponierte den

Jungen nicht, und seine Kurzsichtigkeit ließ ihn manches übersehen, was ein strenger Schulvisitator hätte abstellen müssen. Einzig und allein in der Katechisation hatte er Erfolge; dabei konnte er durch

Frage und Gegenftage die Befähigten und Willigen aus der wilden Schar sich herausholen und weiterbilden. Und was ihm in der Schule nicht voll gelang, das erreichte er in einem einzelnen Falle, wo er seine herzliche Zuneigung mit der Lehre verbinden konnte und dadurch Vertrauen und Gegenliebe erweckte. Das war in der Familie Benecke, den alten Bekannten und Verwandten aus der Droffener Zeit.

Die Tochter Emilie, die er damals als kleines

Landsberg

69

Kind gesehen und über die er der Mutter nur recht theoretische und philosophische Ratschläge hatte geben können, war herangewachsen.

Mit der Mutter selbst verband ihn eine innige Freundschaft in der Art, wie er sie in seinem späteren Leben oft erleben sollte; feines psychologisches Eingehen auf die Anschauungen der gebildeten und belesenen Frau, Freundschaft unter Zurückstellung konventioneller Formen schuf ein gegenseitiges Vertrauen, das ihm Lehre und

Mitteilsamkeit zu einer angenehmen Pflicht machte. Viel haben beide voneinander gelernt, Schleiermacher nicht wenig durch die praktische Ausbildung ausgereifter Ideen in einem engen bürger­ lichen Familienkreise. Mußezeit blieb ihm dabei genug noch übrig. Er benutzte sie, um das, was ihm nach dem Urteil des Hofpredigers fehlte, neben der Übung auf der Kanzel auch durch das Studium gedruckter

Reden zu gewinnen. Sein Vater hatte ihn schon vorher auf die Werke des schottischen Kanzelredners Hugo Blair aufmerksam gemacht, und wohl nur aus Mangel an Zeit oder weil das Buch ihm fehlte, ließ er das Studium damals liegen. Jetzt nahm er es auf, in seiner Weise gründlich, jedoch blieb es vorläufig bei der

Lettüre und gelegentlichen Anmerkungen, aber der Gedanke an sie und an die Vorteile, die er daraus gezogen, verließ ihn nicht. Die Frucht kam erst später zur Reife, als sein Freund Sack, mit dem er seit 1794 in Gedankenaustausch darüber blieb, die Übersetzung

der Blairschen Predigten unternommen hatte. Im Jahre 1781 erschien der erste Band davon. Als durch die Kränklichkeit Sacks die Arbeit nicht mehr weiter gehen wollte, gewann er Schleiermacher

zur Weiterführung des Unternehmens. Im vierten Bande, der 1795 erschien, sind die zehn ersten und die drei letzten Predigten von

ihm übersetzt und in dem fünften Band alle; eine besondere Vorrede 1802 gibt darüber Auskunft. Die Einheit des Werkes hat dadurch nicht gelitten, denn Schleiermacher wußte sich in auffallend ge­ schickter Weise der Form und Ausdrucksweise des Älteren anzu­ passen, unterstützt von seiner guten Kenntnis der englischen Sprache, bis er, nach und nach sicherer geworden, in dem letzten Bande

7o

Laadsberg

seinen eigenen Stil hervortreten läßt.

Noch ein anderer englischer

Kanzelredner, Faw cett, erweckte Schleiermachers Interesse, so daß

er es unternahm, dessen Predigten, die er vor einem ausgewählten Publikum in freiester Entfaltung seiner Gedanken gehalten hatte, deutschen Lesern zugänglich zu machen. Die Übersetzung erschien Bezeichnend ist die Wahl dieser beiden britischen Prediger zu seiner Lektüre gerade in Landsberg; mit einer Vorrede Sacks 1798.

sie bildet eine notwendige Ergänzung zu den Kanzelreden, die er dort halten mußte, und zeigt den Weg, den Schleiermacher damals

ging, um seine eigene Methode durch eine Ablenkung von dogma­ tischem Zwang zu einer freieren ethischen Entwicklung zu vervoll­ kommnen. Anch zu einer Sammlung der eigenen Predigten machte Schleier­ macher in Landsberg Versuche, aber die Eigentümlichkeit, daß er sie vorher nicht niederschrieb, geschweige denn memorierte, sondern sich mit kurzen Aufzeichnungen der Disposition oder gar nur einzel­

nen Gedenkblättchen begnügte, ließ das Unternehmen nicht vor­ wärts kommen. Nur auf das Drängen des Vaters und Onkels hin, die nach etwas Geschriebenem verlangten, entschloß er sich, nachträglich ein paar Predigten schriftlich festzuhalten; dabei aber

sind gewiß zahlreiche Gedanken neu entstanden, die auf der Kanzel nicht zum Ausdruck gekommen waren, so daß die ursprüngliche

Natürlichkeit der Predigten auch hier gelitten hat. Diejenigen Kanzelreden aber, die von begeisterten Zuhörern nachgeschrieben wurden, sind noch mehr als jene durchsetzt von fremden Wort­ fügungen. Es ist ein ungemein schweres Kapitel, in die erhaltenen Reden Ordnung zu bringen, und die Forschung ist verschiedene Wege gegangen. Deshalb empfiehlt es sich, in einem besonderen Abschnitt darauf einzugehen (s. S. 73 ff.).

In dem kleinen Wirkungskreis, in welchen Schleiermacher in Landsberg gekommen war, fühlte er sich durchaus glücklich, da er ihn nach freiem Ermessen ausbauen und erweitern konnte. Mitten hinein in diese Bestrebungen fiel ein Schlag, der ihn aus dem

Schaffen und Denken eine Zeitlang herausriß. Das war der Tod

Landsberg

7i

seines Vaters, der am 2. September 1794 starb. Der Sohn be­ klagte diesen Verlust tief, da ihm jener aus dem strengen Päda­ gogen der Knabenzeit ein Freund geworden war, der ihm nicht bloß

Ratschläge mitteilte, sondern ihn zum Mitwisser und Helfer in

allerlei kleinen Sorgen gemacht hatte. Der Vater, das wissen wir, war eine schwer zu nehmende, komplizierte Natur. Als er einsam geworden war in dem Winkel Oberschlefiens und nicht mehr den Regimentern auf ihren Kreuz- und Querzügen folgen konnte, faßte er sein inneres Denken straffer zusammen und brauchte dazu eine stützende Kraft, die ihn nicht sowohl leiten als vielmehr seine

Ideen mit Ruhe in sich aufzunehmen verstand. Das wurde sein Sohn, den er, nach dem Konflikt in Barby, zuerst vorsichtig betrach­ tend an sich zu ziehen versuchte, dann aber allmählich achten und bewundern lernte. Und dann hing der Sohn an dem Vater mit

der zärtlichen Liebe, die er durch seine Jugend hindurch sehnsüchtig

gewünscht hatte. Des Vaters Stellung wurde immer ungünstiger; er mußte sich bis aufs äußerste einschränken, da bei dem Ausrücken der Regimenter zum Kriege die Einnahme von diesen wegfiel und aus der Servisklasse des Etatsministers von Schlesien nur 2 Thlr. und 6 Silbergroschen vorläufig disponibel waren, wozu der Zuschuß aus der fürstlich anhaltischen Kasse und die geringen Sporteln der armen Gemeinde hinzutraten. Es berührt wunderbar, daß die Frau des Verstorbenen erst am 20. September den Tod des Vaters, also fast drei Wochen später, und zwar nicht dem Sohne, sondern dem Onkel Stubenrauch meldet. Das deutet auf eine schroffe

Stellung Schleiermachers der Stiefmutter gegenüber, die er aber später in seiner Milde mit einer weitgehenden Fürsorge vertauschte, indem er die Stiefschwester Nanna in sei» Haus nahm und indem er für die Erziehung eines Sohnes seiner anderen Stiefschivester in Schulpforta sorgte. Das zeigt gewiß, wie große Anhänglichkeit an seine Familie Schleiermacher besessen hat; an seinen Vater dachte er, wie er schreibt, fast jeden Tag in alter Dankbarkeit, und immer wieder bedauerte er, daß er ihm nicht seine väterliche Freundschaft, die er in seinem letzten Briefe vom

72

iaadsberg

3. Juli 1794 bezeigt hatte, durch ein Antwortschreiben hatte lohnen

können. Zu Anfang Juni 1795 starb auch der alte Prediger Schumann in Landsberg, den Schleiermacher als sein Adjunkt bei seiner Kränk­ lichkeit schon seit längerer Zeit fast vollständig vertreten hatte. Nun

handelte es sich um die Nachfolge. Onkel Stubenrauch hätte gern die schlechtere Stelle in Drossen mit der besseren in Landsberg ver­ tauscht, zumal auch das Reformierte Kirchendirektorium in Berlin

für ihn eintrat, während die Gemeinde gern den ihr lieb gewor­ denen jüngeren Prediger haben wollte. Und es wäre sehr ver­ lockend für Schleiermacher gewesen, an dem Orte, an dem er sich wohl fühlte, sich einen dauernden Wirkungskreis zu schaffen.

Stubenrauch hielt sich bescheiden zurück; er wollte dem Neffen nicht im Wege stehen, und erst, als das Direktorium ihm mittellte, daß Schleiermacher für die Stelle seiner Jugend wegen nicht in Betracht käme, nahm er an, sicher nicht leichten Herzens, denn er fühlte selbst,

daß er für die Stille einer Gemeinde, in der er sich eingewöhnt hatte und in der er seinen Neigungen leben konnte, sich mehr eigne als für ein Pfarramt in einer größeren Stadt mit seinen vielseitigen Pflichten und Arbeiten. Dafür bot das Direktorium, an der Spitze

Sack, Schleiermacher die Stelle eines zweiten Predigers in Branden­ burg an. Er verzichtete aber, denn er, der in Landsberg fast selb­ ständig die Gemeinde geleitet hatte, hätte nicht leicht sich in ein Kol­ legium einzureihen verstanden, das in der alten, etwas erstarrten

Art der Kirchenordnung solche Gedanken und Pläne nicht zuließ, wie sie Schleiermacher in seiner offenen und bestimmten Art kundzu­ geben pflegte. Überdies war ihm die Wahl zwischen Brandenburg und Berlin freigesiellt. Da tauchten wieder alte Hoffnungen und Wünsche-auf; Berlin mit seinem regen geistigen Leben schien zu verlockend, sodaß er unter Verzicht auf jene besser dotierte Stelle die in Berlin annahm.

Erst aber wollte er endlich einmal seine

Schwester Wiedersehen, die einzige Getreue aus der Familie, deren Briefe ihn teilnehmend und ratend durch sein Leben begleitet haben. Nun galt es, persönliche Aussprache nach langen Jahren mit ihr

Predigte»

73

zu halten, jetzt, da er, der Achtundzwavjigjährige, mit reichen Lebenserfahrungen und Maximen Charlotten entgegentrat, die in ihrem Gnadenfreier Heim sich regen Geist nnd tiefes Gemüt bewahrt hatte, aber weltfremd so manchem gegenüberstand, was das neue Zeitalter geschaffen hatte. Am 18. September 1796 trat Schleier­ macher seine neue Stelle als Seelsorger an der Charits in Berlin an. 14.

Predigten. Einhundertvierunddreißig Predigten Schleiermachers lassen sich mit Sicherheit aus den Jahren 1794 bis 1796 nachweisen; vielleicht kommen noch einzelne hinzu, die auf diese Zeit zurückgehen, aber später erst gehalten wurden. Nur wenige liegen ausgearbeitet vor, und von diesen wiederum fehlen meist die Originale, so daß wir auf die Drucke angewiesen sind, ohne auch hier zu wissen, wie die Vor­ lagen waren, ob Abschriften Schleiermachers selbst oder Nieder­ schriften anderer zugrunde lagen; wir können also nicht einmal aus der Gestalt der Handschrift Schlüsse auf die Zeitfolge der Predigten ziehen. Willkommen war daher ein Fund, der erst neuerdings aus den Men des Literaturarchivs hervorgeholt worden ist: aus ihm hat Johannes Bauer bereits einzelnes mitgeteilt. Deshalb genügt es hier, nur eine äußere ausführliche Beschreibung des Konvoluts zu geben, das Predigtentwürfe aus der Landsberger Zeit enthält, und zwar durchweg von Schleiermachers Hand. Es sind 76 Blätter in Quart; die ersten 15 Blätter zeigen Spuren einer älteren Durchsicht, mit Rotstift teilweise angemerkt. Auf Blatt 16 steht vorn: Predigt­ entwürfe 1795, diese reichen bis Blatt 46; dann folgen bis zum Schluß die Entwürfe von 1796. Wahrscheinlich stammt die Nume­ rierung der ersten 27 Entwürfe durch Rotstift von Schleiermachers Hand; darauf folgt bis zum Schluß eine für jedes Jahr fortlaufende Zählung in der ursprünglichen Niederschrift; für das Jahr 1795 62, für 1796 45 Entwürfe. Bei jedem derselben ist die Bibelstelle, das

74

Predigten

Thema, der Sonntag, an dem die Predigt gehalten ist und die Der Zusatz 1802, in

meist sehr genaue Disposition angegeben.

einer jüngeren Schrift, deutet wohl darauf, daß die betreffende Predigt dann noch einmal gehalten worden ist. überhaupt mögen

diese Predigtentwürfe als die erste Niederschrift später von Schleier­ macher wiederholt als Grundlage zu seinen Kanzelreden benutzt worden sein, meist aber mit Änderungen der Anlage, Umstellung der Teile und Hinzufügung neuer oder ähnlicher. Die Themata sind

für den Autor charakteristisch, indem er von den Bibelstellen, die zugrunde liegen, gern zu der Erörterung ethischer Probleme hinüber­ gleitet, die für die Zuhörer gerade das Interesse erwecken mußten, das sie zur Auffrischung des täglichen Lebens brauchten. Über den

guten Wandel als bestes Schutzmittel gegen Verleumdung, von der

Friedfertigkeit, Schweigsamkeit, Beharrlichkeit, Nächstenliebe, Dank­ barkeit gegen Gott u. a. m. wird gehandelt, dann in den Disposi­ tionen über die Gerechtigkeit, die Versuchungen, den Wert der irdi­

schen Güter, der wahren Frömmigkeit, Geduld, über Gleichmut im Leid, Unterdrückung der übermäßigen Furcht, Achtung gegen die Gesetze, Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, Ein­ schränkung des Willens, Einigkeit, Klugheit und Rechtschaffenheit, Zurückhaltung, Ackerbau, selbstverschuldete Armut, fröhliche Herzen,

häusliche Pflichten, Wahl der Freunde, die Kunst, Kleinigkeiten zur Besserung zu benutzen, Verheimlichung der religiösen Überzeugung, Gebrauch der Vernunft in religiösen Fragen, Selbstzufriedenheit, Feindesliebe, Festigkeit des Herzens u. a. m. Mitten unter diesen wahllos herausgegriffenen Themen befinden sich Dispositionen von „Vorbereitungspredigten" (wohl auf das

Abendmahl). Eine Fundgrube ist dieses Material nicht nur als Muster deut­ scher Predigten, sondern noch mehr für das innere Leben des

Mannes selbst, das darin bis in die kleinsten Phasen seines scharfen

Denkens ausgebreitet vorliegt. Nachzuforschen, was im einzelnen aus Lektüre übernommen ist, wie etwa aus Fawcett, führt zu keinem

Ergebnis; nur die Gedanken, die Schleiermacher beschäftigten.

Erste literarische Versuche

75

finden hier ihren Niederschlag, nnd immer neue drängen heran, selb­

ständige, die nicht aus Predigtbüchern oder gehörten Kanzelreden, sondern aus einer ethisch geläuterten Lebensanschauung stammen. Man hat in ihnen das Gepräge des Kanzelstils der Aufklärung finden wollen, aber dieses Urteil gründet sich zu sehr auf die Durch­ ficht der wenigen ausgeführten Predigten der Landsberger Zeit, die eben nicht alles das wiedergeben, was der Prediger selbst auf der Kanzel gesagt hat. Wohl ist aus den erhaltenen Disposttionen er­ kenntlich, daß Schleiermacher seine Themata gern aus der Ethik suchte und ste mit den Lehren Jesu zusammenzuschmelzen vermochte, der immer unser Vorbild und Lehrer zu bleiben habe. Bei dem Lesen der vielen Predigtentwürfe ahnt man aber, es müsse gar

mancher Gedanke sich noch über die Form der „Monologen" hinaus zu den unsterblichen Werken gestalten, durch die Schleiermacher zum

Begründer der neueren Theologie wurde. Wie die neu gefundenen Entwürfe die hervorragenden Denk­ male seines Geistes vervollständigen, so steht daneben mancherlei Neues aus der Werdezeit Schleiermachers, der nicht in dem engen Familienkreise, in der stillen Klause, nicht durch Hingabe an lockende Freunde oder Mitleid heischende Frauen, nicht in der großen Gesell­

schaftswelt eines gräflichen Hauses, noch in der Studierstube oder auf der Kanzel einer kleinen Kirche das hätte werden können, was er geworden ist, sondern es durch das Zusammenfassen und Durch­ denken seiner verschiedenartigen Erlebnisse ward. Äußeres und inneres Leben durchdrangen sich in der Werdezeit Friedrich Schleier­

machers.

15. Erste literarische Versuche. 1799—1800.

Nach den unter dem Einflüsse Kants entstandenen ersten philo­

sophischen Studien Schleiermachers, über das höchste Gut, über die Freiheit und über den Wert des Lebens, die er in der Stille von Drossen und Schlobitten in den Jahren 1789—1792 nieder-

76

Erste literarische Versuche

schrieb, fand er in den Kreisen, in die er durch seine Berufung als Charitsprediger im September 1796 gekommen war, neue An­

regungen zu schriftstellerischen Arbeiten. In seinem Inneren gärte es von Ideen und Plänen der mannigfaltigsten Art. Die Philo­ sophie durfte er nicht ganz liegen lassen, daneben drängten theo­ logische, exegetische und kirchenrechtliche Fragen jur Ausarbeitung. Früh hatten auch die Ideen, die durch die französische Revo­

lution in Deutschland die hervorragendsten Geister sowohl wie die

Gebildeten überhaupt, nicht am wenigsten die Jugend, beeinflußten, Eingang in sein Denken gefunden, ohne ihn zu rechter Klarheit politi­ scher Anschauung zu führen. Wie in jedem unserer großen Geister Zeiten des Aufnehmens mit solchen des Schaffens wechseln, so lassen sich auch hier die Jahre von 1796 an bei Schleiermacher

als eine Periode des Stoffsammelns für die eigene Individualität bezeichnen, in der wenig Positives zur Niederschrift gelangte. Spi­

noza und Plato fingen an, sein Denken zu beherrschen; die Grund­ lagen des Rechts suchte er aus den hingestreuten Bemerkungen der beiden genannten Philosophen festzusiellen. Im Hin und Her der eigenen Meinungen zeigte fich die Unsicherheit und das Un­

zulängliche, das seinem Denken nicht genügte. Er mußte sich von dem Vielerlei lossagen und sich auf die Ausbildung der Ansichten über das beschränken, was ihm seit Beginn seiner Denkperiode so sehr am Herzen lag, auf die Entwicklung der Ethik des Indivi­ duums. Diesem festen Willen der Beschränkung verdanken wir in der Folge die beiden tiefen Werke, die Monologen und die Kritik der Sittenlehre. Nun drängt sich aber in die Gedankenfülle, deren Ausfluß diese

beiden Werke und die Reden über die Religion waren, sonderbarer­ weise eine Beschäftigung rein prattischer Art, das übersetzen engli­ scher Reisebeschreibungen. Was Schleiermacher dazu bewogen hat, ist nicht recht ersichtlich, wenn man nicht die Lebenskreise zur Erklärung

heranzieht, in denen der junge Gelehrte verkehrte, der im Lesen der englischen Sprache durch die Übersetzung der Fawcettschen und

der Blairschen Predigten geübt war.

Erste literarische Versuche

77

Geldnot konnte es nicht sein, die ihn zu der Arbeit zwang; für die bescheidenen Ansprüche, die er an das tägliche Leben stellte,

genügte sein Gehalt vollauf, und der Verkehr in wohlhabenden Häusern erleichterte die Führung seines Haushaltes.

So bleibt

wohl nur übrig, an eine Charaktereigenschaft Schleiermachers zu denken, die auch später noch Einfluß auf sein Handeln gehabt hat.

Das war seine Gutmütigkeit, die es ihm schwer machte, Freunden etwas abzuschlagen, zumal wenn er überzeugt war, daß tatsächlich seine Hilfe notwendig sei. Das zeigte sich später in seinem Eintreten für Schlegels Lvcinde und für Eleonore Grünow, das war auch jetzt der Grund, weshalb er seine Mitarbeit der Freundin Henriette Herz nicht versagte, als sie Übersetzungen englischer Reisebeschrei­ bungen übernehmen wollte, angeblich um aus dem Honorar dafür die Aussteuer für eine entfernte Verwandte zu bestreiten. Das klingt

freilich etwas auffallend und läßt sich auch durch Tatsachen nicht er­ härten, ganz abgesehen davon, daß der Erlös aus den Übersetzungen,

besonders bei der Kargheit des Honorars, nicht weit gereicht hätte. Der Plan zu der gemeinsamen Übersetzungsarbeit Schleier­ machers und der Henriette Herz hat eine eigene Vorgeschichte, die in folgendem auf Grund neuer Dokumente geschildert wird und ein anderes Bild ergibt als die bisherigen Darstellungen, auch die bei Dilthey. Er ist eng verbunden mit den buchhändlerischen Unter­

nehmungen der Verlagsfirma Christian Sigismund Spener, deren tatsächlicher Leiter, wie aus folgendem hervorgeht, schon damals des Besitzers Bruder Johann Karl Philipp Spener war.

Der

Besitzer starb erst 1815; die Verlagswerke, so Schleiermachers Mono­ logen, erschienen noch unter seinem Namen. Es war die Zeit, in der durch die Veröffentlichungen der Reisen englischer Forscher das Interesse an überseeischen Ländern anffallend rege geworden war. Spener wollte sich diese Strömung zunutze machen und in Deutsch­ land durch Übersetzungen nicht bloß Erfolg für sich, sondern An­ regungen für seine Landsleute zu Reisen und Kolonisationen geben. Er scheint sich zuerst an Ti eck gewandt zu haben; wenigstens rühmt er in einem Briefe dessen gute Kenntnis der englischen Sprache und

78

Erste literarische Versuche

gesteht, daß er das Übersetzen sehr gut betrieben habe. Doch kam es

wohl nicht über die ersten Unterhandlungen hinaus. Dann wandte sich Spener mit einer Anfrage an den ihm befreundeten Oberhoft Prediger Sack, ob er einen Gelehrten wisse, der die Übersetzungen

aus dem Englischen übernehmen würde. Dieser nannte als den geeignetsten Schleiermacher. Das war im Februar 1799 zu einem

Zeitpunkte, an dem Schleiermacher von einem Freunde, hinter dem sich die Herz verbarg, den Auftrag erhalten haben wollte, ihn für solche Übersetzungen in Vorschlag zu bringen, ohne daß aber der

Name genannt werden dürfe.

Zugleich geht aber aus Schleier­

machers Briefen an Spener hervor, daß er, wahrscheinlich mit der Herz zusammen, eifrig die Werke englischer Reisender in der Ur­

sprache gelesen hat. Es ist ein glücklicher Zufall, daß Schleiermacher Mitte Februar 1799 nach Potsdam als Ersatz für den verstorbenen Hofprediger Bamberger, dessen Witwe die Tochter Sacks war, also wohl auf dessen Veranlassung, geschickt worden war; denn dadurch

ist uns eine Reche von Briefen mit Einzelheiten über die Verhand­ lungen erhalten geblieben, die sonst im mündlichen Verkehr verloren gegangen wären. Spener wußte, was er von Schleiermacher haben würde, wenn er ihn ganz in seine Pläne hineinziehen könnte. Die Beziehungen beider scheinen sehr eng geworden zu sein, so daß Spener ihm bald, noch im Februar 1799, den Antrag machte, einen historischen Almanach für ihn herauszugeben. Schleiermacher scheint anfangs, obgleich er durch die Ausarbeitung und Drucklegung

seiner Reden sehr in Anspruch genommen war, geneigt gewesen zu sein, dem Wunsche Speners zu willfahren; dann sucht er einen Ausweg, indem er nochmals auf Tieck zurückkommt, für den dann sein Hintermann, also die Herz, als Mitarbeiter eintretev könne.

Wenn sich dies arrangieren ließe, so sollten die zu übersetzenden Bogen an Heindorf geschickt werden, der damals Subrektor am Köllnischen Gymnasium war. Ausdrücklich verwahrt sich aber Schleiermacher dagegen, daß dieser als Übersetzer in Betracht käme.

Die Situation scheint also so gewesen zu sein, daß die Herz gern die Übersetzung übemehmen mochte, weil sie für sich Geld brauche, aber

Erste literarische Versuche

79

Lies unter keinen Umständen in Rücksicht auf ihren Verkehrskreis zugestehen wollte. Laß Heindorf, der stets gefällige und wissende Freund Schleiermachers, zunächst für die Herz eintreten sollte, da

diese von Ende Mai bis Anfang Juli verreisen wollte. So wäre also Tiecks Rolle dabei nur die gewesen, daß er die von der Herz mit Beihilfe von Heindorf übersetzten Teile noch einer letzten Prü­

fung unterwerfen sollte, während Schleiermacher ganz aus dem Unternehmen ausschied. Die Verhandlungen, die um Mitte April begonnen hatten, zer­ schlugen sich, und Schleiermacher trat nun als Mitarbeiter ein. Was er alles getan hat und wieviel Zeit er dadurch verloren haben mag, geht daraus hervor, daß er nach seiner eigenen Mitteilung an seine Schwester zunächst der Herz geholfen hat, die umfangreiche Beschreibung der Reise Mungo Parks in das Innere von Afrika, die dieser in den Jahren 1795—1797 unternommen hatte, zum

größten Teil noch zu übersetzen. Es ist nicht ersichtlich, ob dafür schon ein Antrag Speners vorlag, und wann diese Übersetzung in Angriff genommen und vollendet worden ist. Die Korrespondenz gibt darüber keinen Aufschluß, und Überreste sind unter den Manu­

skripten nicht vorhanden. Mit Spener verabredete Schleiermacher weiter eine Übersetzung der Reiseberichte Welds. Das Original Travels trough the States

of North America 1795—1797 war 1799 erschienen; einen Teil der Übersetzung hatte Spener schon Anfang Mai in den Händen; eine Sendung davon war verloren gegangen. Schleiermacher bemerkt

über seine Arbeit, daß sie mit zu großem Respekt vor dem Ori­ ginal gemacht sei, der aus Unbekanntschaft mit der Art, wie diese Dinge gehandhabt werden müssen, entstanden ist. Jedoch auch hier scheinen Hemmungen gekommen zu sein, denn der Druck war im Februar 1800 noch nicht fertig; Schleiermacher wollte am 27. Februar desselben Jahres einen Brief aus Meld, der vom Niagara handelt, in der Mittwochgesellschaft vorlesen, ohne daß er seine Quelle nennen würde. Vielleicht ist der Grund der Verzögerung gewesen, daß bei dem Aufsehen, das die Reisen Welds.erregten, zugleich

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mehrere andere deutsche Übersetzungen in Angriff genommen

wurden; die eine erschien bereits 1801 in der Bibliothek der neuesten Reisebeschreibungen, eine andere 1805 im Archiv für die neuesten und merkwürdigsten Reisebeschreibungen. Schleiermacher verlangt von Spener neue Bücher über Australien, das ihn sehr interessiere;

so die Werke des Arthur Philipps, dessen Voyage to Botany Bay von 1789, ohne daß Schleiermacher es zu wissen scheint, be­ reits 1791 in zwei Ausgaben deutsch erschienen war. Auch David Collins An account of the english colony New South Wales, fällt in diesen Kreis; doch existiert auch von diesem Werke bereits eine

deutsche Ausgabe von 1788—1796. Nach einer Notiz in den Briefen hat Schleiermacher dieses Werk, wahrscheinlich das Original, im Februar 1799 in Potsdam durchgelesen. Daneben fordert Schleiermacher das Buch von Jean Louis Delolme über die Konstitution von England (1775), das er zu seiner Übersetzung des obengenannten Collins brauche. Zwischen

ihm und der Herz bestanden Meinungsverschiedenheiten vielleicht infolge der oben erwähnten Kritik ihrer Übersetzungsart; dieser „Gewährsmann" kommt in den Briefen nur noch einmal vor, als Schleiermacher an Spener unter dem 30. September 1800 mitteilt, daß jener, also die Herz, zu neuen Übersetzungsarbeiten keine Zeit

hätte und auch unter keinen Umständen die Anonymität aufgeben wolle. So mag es geschehen sein, daß Schleiermacher die ganze Last der Arbeit tragen sollte; der war er nicht gewachsen, zumal sein

reger Geist sich doch zu andern Arbeiten hingezogen fühlte. Wie sorgfältig er aber seine Übersetzungen betrieb, zeigt noch ein Brief vom 26. August 1800. Im Text will er alle lateinischen Lettern

vermeiden, weil sie mit den deutschen nicht in gleicher Klarheit seien und beim Lesen der Wechsel der Buchstaben das Auge störe. Dazu bedingt er sich volle Freiheit im Übersetzen aus, will das Natur­

historische und die Anekdoten in einem Anhang bringen und durch keine zu lange Einleitung das Interesse der Leser vom Text abziehen. Da es Schleiermacher an einer Hilfe fehlte, ist vieles von den Plänen unausgeführt geblieben.

In der Spenerschen Zeitung

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fehlen unten den fortlaufenden Anzeigen, die der Verlag dort ver­ öffentlichte, alle die über das Erscheinen der genannten Reisebe­ schreibungen und des Werkes von Collins, an dem Schleiermacher

besonderes Interesse hatte und noch 1800 arbeitete. Nur wenige Blätter, Exzerpte unbedeutenden Inhalts, sind darüber in dem handschriftlichen Nachlasse Schleiermachers vorhanden. Auch das Projekt der Herausgabe eines historisch-genealogischen Kalenders, mit der, wie oben erwähnt, Spener damals Schleier­

macher betraut hatte, scheint Wandlungen durchgemacht zu haben. Wohl erschien im Verlage von Haude und Spener ein „Historisch­

genealogischer Calender oder Jahrbuch der merkwürdigsten neuen Weltbegebenheiten" für 1799 zur Messe in Leipzig, aber seinen Inhalt zu prüfen, gelang nicht, da kein Exemplar davon aufzu­ treiben war. Im Kalenderformat gibt es eine Übersetzung von „Des Grafen Macarthavy Gesandtschaftsreise nach China 1792 bis 1794. Aus den Tagebüchern des Ambassadeurs zusammengetragen von Sir George Staunton. Aus dem Englischen frei übersetzt", zwei umfangreiche Teile mit Bildern, 1799 bei Haude und Spener

erschienen. Das Original Stauntons, der Sekretär des späteren Gouverneurs von Madras Macarthany war, erschien 1798, ein Jahr später in Zürich eine deutsche Übersetzung, die der Bearbeiter der Spenerschen Ausgabe wohl nicht gekannt hat. Aus dem Stil der letzteren auf den Übersetzer zu schließen, ist schwer; aber die Notiz

„frei übersetzt" in Verbindung mit Schleiermachers brieflicher Mit­ teilung an Spener, daß er sich vorbehalte, seine Übersetzungen frei zu gestalten, führt auf den Gedanken, er könne der Urheber dieser Übertragung sein. Und wirklich erinnert darin manches an ihn,

ohne daß aber etwa seine und der Herz Arbeit zu scheiden wären. Entweder haben beide sich in die Form der Wiedergabe eingelebt oder Schleiermacher hat den Beitrag seiner Vorgängerin über­

arbeitet, oder er ist überhaupt der alleinige Bearbeiter. Dann zeugt diese Arbeit Schleiermachers von seinem enormen Fleiß während seines Aufenthaltes in Potsdam. Denn in dieselbe Zeit fällt die Arbeit

an den „Reden über die Religion"; sie erschienen 1799 bei Unger. Schleiermachers Lehrjahre. 6

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Über die Arbeit an den im selben Jahre verfaßten Monologen geben Briefe Schleiermachers an Spener, leider ohne dessen Ant­ worten, die angeblich durch einen Brand vernichtet worden sind, mancherlei Auskunft. Hier soll nur von Äußerem die Rede sein,

denn die Darstellung der inneren Entwicklungsphasen der Mono­ logen, wie sie Dilthey gibt, kann in keiner Weise übertroffen werden.

Der erste Brief muß im Herbst 1799 an Spener geschrieben sein. Er ist wie die folgenden noch nicht veröffentlicht und lautet: Das ist wirklich sehr menschenfreundlich, daß Sie so auf meine Ruhe bedacht sind, und sehr schön, daß Sie so gutes Zutrauen haben.

Auch bewegt sich's jetzt schon auf dem Papier, und muß also schon lange im Herzen bewegt sein. Was ich Ihnen vorläufig davon sagen kann, ist folgendes. Es soll ein Beitrag sein, die Denkungs­ art darzustellen, die durch die Spekulation entsteht, wobei also diese nicht sowol selbst vorkommt, als vielmehr vorausgesetzt wird. Der

Form nach sind es Monologen, also keine Art von Schul- oder Lehrton, sondern Betrachtungen, die jedermann anstellt, nur in jenem Charakter. Als Publikum denke ich mir also alle, die sich für die Frage vom Einfluß der Spekulation auf irgend eine Art in­ teressieren, und will so verständlich und gut schreiben, als ich kann.

Ein kleines Format möchte ich vorziehn, weil es leichter

aussieht und doch etwas mehr Körper gibt. ...

D. 8 t. November [1799]. Freilich haben Sie großes Recht, und Sie sollen auch nicht

Meine Rechnung ist kurz diese. Den 2i t. hujus denke ich ganz fertig zu sein. Vorher kann ich Ihnen Manuscript nur stückweise schicken und weiß nicht, wie viel Sie auf

lange sizen und harren.

einmal haben müssen, um zwei Sezer zu beschäftigen. Das erste bekommen Sie Montag. Es würde schon morgen geschehen, wenn ich nicht auch einen Abschreiber nehmen müßte, um nicht von den

geistlichen Herren, denen ich doch in die Hände falle, bei der Censur erkannt zu werden, wie es mir einmal zu meinem großen Schrecken

ergangen ist

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Am iz. November find die ersten Bogen der Monologen bereits bei der Zensur; am 21. November läßt sich Schleiermacher über den Druck aus; es sei ihm gleich, ob das Werk in Oktav oder Duodez gedruckt würde, die Kolumnen sollen aber nicht hoch und breit werden, so daß ein Rand zu beiden Seiten frei bleibt. Für seine

orthographischen „Grillen" erbittet er sich volle Freiheit und legt ein eigenes Blatt darüber für den Setzer bei. Am 21. November

ist der Druck bis zum vierten Monolog gediehen, bis der Abschreiber, den er brauchte, um seine Anonymität zu wahren, ihn plötzlich im Stiche ließ. Darüber berichtet er in dem folgenden Briefe.

D. 24t. November 1799.

Es ist mir höchst fatal, daß der Abschreiber mich nun schon seit

4 Tagen hat sizen lassen, gerade mit den zwei letzten Blättern des dritten Monologs, und heute kommt er auch nicht. Ich fürchte, das könnte uns am Ende zur unrechten Zeit aufhalten. Wissen

Sie etwa einen, der für die nächsten Tage zu haben wäre, so haben Sie doch die Barmherzigkeit, mir ihn zwischen 4 und 5 Uhr, denn eher oder später bin ich nicht zu Hause, oder wenn das nicht sein kann, morgen ganz früh zu schicken, damit ich die Monologen ein­ mal los werde und mit dem Dichter sagen kann: „Nun hab' ich es beschlossen, nun geht's mich nicht mehr an

"

Dann kommen noch andere kleine Hindernisse. Erst am 27. No­ vember will er den vierten Monolog zum Satz abschicken, da er ihn in größeren Lettern — Schleiermacher schrieb bekanntlich sehr klein — und mit weniger Marginal-Flickereien herstellen will. „Denn so, wie er ist, konnte ich keinem andern als meinem bezahlten Abschreiber zumuten, ihn zu lesen." So wären die Schwierigkeiten aus dem Wege geschafft, der fünfte Monolog würde keinen Auf­ enthalt verursachen. Zn dem folgenden Briefe kommt die Frage nach einem Freunde,

der die Anzeige macht, zur Erörterung.

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D. 29 t. Nov. 1799.

Einen Anzeiger für die Monologen weiß ich Ihnen wirklich nicht vorzuschlagen, nicht ans Mangel, sondern aus Überfluß. Es ist mir jeder gleich, der nur nicht so versessen auf eine philosophische

Partei ist, daß er sie wegwirft, weil ein ander System als seines zu Grunde liegt. Mit Herz, den Sie in Gedanken hatten, wäre das übrigens gerade der Fall. Hätte ich auch einen besonders in petto,

so hülfe es doch nicht, wenn er nicht auch von Ihnen gekannt wäre, da von mir niemand etwas wissen soll. Das letzte Manuskript schicke ich Ihnen morgen; meine Korrekturen erstrecken sich bis dato nur noch auf den ersten Bogen. Auf dem Titel steht kein „Verlegt", sondern ein „Gedruckt". Das ist doch Ihre Ordre?. Schleiermacher hat später auf den jüngeren Spalding, dem er aus der Hallischen Zeit nahe stand und der damals Professor am

Grauen Kloster in Berlin war, hingewiese»; doch scheint dieser die Anzeige nicht übernommen zu haben. Eine solche nämlich in der Spenerschen Zeitung deckt sich inhaltlich mit den Worten, die in dem oben genannten Briefe an Spener vom Herbst 1799

stehen

und auf die in einem Briefe vom Anfang Dezember hingewiesen wird. Vielleicht tat auch die äußerst scharfe Rezension der Monologen

in der Deutschen Bibliothek das ihrige dazu, die Bekannten Schleier­ machers von einer Besprechung abzuhalten. Aber wichtiger als solche sind die Stellen in den Briefen an Brinkmann, an die Herz

und an Ehrenfried von Willich, in denen Schleiermacher selber

über die Monologen spricht. Am 4. Dezember schreibt Schleiermacher an Spener, daß er an den Monologen nichts mehr zu tun habe, außer den Korrekturen. So war es möglich, daß das Buch als Neujahrsgabe erscheinen konnte. Es wurde viel gelesen und verkauft, so daß Schleiermacher sogar nicht einmal ein Exemplar für die Frau seines Freundes Willich austreiben konnte. Beigetragen hat die Verwunderung über den anonymen Autor, der so kühn über allerlei Weltliches sprach. Zwar wußten die Freunde, besonders Spalding, Hülsen und Brinkmann, um den Verfasser, teilten aber ihre Meinungen nur

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brieflich mit, ohne in die Öffentlichkeit zu gehen. Fichte und Bern­ hardt, der Schwager Tiecks und Direktor des Friedrich-Werderscheu

Gymnasiums, hatten sofort Schleiermacher als Autor erkannt. Am ausführlichsten hat sich Brinkmann in einem Briefe «om 29. April 1800 darüber geäußert. Bei dem langjährigen intimen Gedankenaustausch zwischen ihm und Schleiermacher glaubt er, das Werk besser zu verstehen als alle andern, nennt es ein

Freimavrerbuch, das doch zunächst für die Eingeweihten bestimmt sei. Die Eigenheit des Stils ist von der in den „Reden", in denen er klassischer ist, recht verschieden, unnötigerweise etwas verkünstelt,

wohl deshalb, weil das meiste in Jamben geschrieben ist, die man ohne große Veränderung seitenlang skandieren kann. Der Inhalt aber habe Brinkmann mächtig angezogen, es seien göttliche Stellen überall, z. B. die über die Sprache. August Ludwig Hülsen, der Naturphilosoph, der damals in Lenzke, auf dem Gute Fouques lebte, urteilt schärfer. Das böse Prinzip im Leben, das Schleiermacher anzunehmen scheint, beeinflusse die elegische Stimmung, die vorwalte, und die, wie er richtig annimmt,

durch den augenblicklichen Gemütszustand hervorgerufen sein könne. Aber es sei doch nichts köstlicher, als den Mensche» in seinem

freien Eigentum, wie in den Monologen den Autor, zu erblicken. Ein alter greiser Pfarrer, mit dem Hülsen über die Monologen

gesprochen hat, geht in seiner krassen Orthodoxie freilich streng ins Gericht mit Schleiermacher und fragt ganz ernstlich, wie dieser die Schwachheit haben könne, nachdem er das Buch geschrieben, noch länger ein christlicher Prediger zu bleiben. Diese Urteile geben einen Beweis dafür, wie schwer sich das Schriftchen zunächst durchsetzen konnte. Zehn Jahre hat es ge­

dauert, ehe eine neue Auflage erschien, und zwar nicht mehr bei Spener, sondern bei Georg Reimer, mit dem Schleiermacher durch die Rügenschen Bekannten einen Freundschaftsbund ge­ schlossen hatte, der bis zum Tode dauerte. Daß Spener sich zurück­ gezogen hat, läßt auf eine Differenz zwischen Autor und Verleger

schließen, die vielleicht durch die oben erwähnte häßliche Kritik der Monologen in der Deutschen Bibliothek veranlaßt war.

Friedrich Schleiermacher Handschriftliche Anmerkungen zum ersten Teil der Glaubenslehre. Heraus­ gegeben von C. LhöneS. Oktav. VI, 60 S. 1873. RM 1.— Äber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an I. C. Gaß. Oktav. 239 S. 1807. RM 1.50 Briestvechsel mit I. Chr. Gaß. Mit einer biographischen Dorrede, heraus­ gegeben von W. Gaß. Oktav. XC, 232 S. 1852. RM 4.— Darstellung vom Kirchenregiment. Abdruck aus Schleiermachers sämtlichen Werken zur Theologie. 13. Band. Mit einleitendem Vorwort von H. Weiß. Oktav. XXVIII, 208 S. 1881. RM 3.60 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zu­ sammenhang« bargestellt. Sechste, unveränderte Ausgabe. 1884. Nach­ druck. 2 Bände. Oktav. 1. Band. X, 453 S.; 2. Band. VIII, 513 S. In einem Bande. 1919. RM 10.— Zwei «nvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat. Oktav. Vlli, 191 S. 1804. RM 1.— KonfirmationSrede am 31. März 1831 in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin bei der Einsegnung des Fürsten Bismarck gehalten. HeranSgegebe» von Siegfried Lommatzsch Oktav. 30