Friedrich Schleiermachers Dialektik [Reprint 2021 ed.] 9783112491324, 9783112491317

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Friedrich Schleiermachers Dialektik [Reprint 2021 ed.]
 9783112491324, 9783112491317

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FRIEDRICH SCHLEIERMACHERS

DIALEKTIK IM AUFTRAGE DER PREUSSISCHEN A K A D E M I E DER WISSENSCHAFTEN AUF GRUND BISHER UNVERÖFFENTLICHTEN MATERIALS

HERAUSGEGEBEN VON

RUDOLF ODEBRECHT

n 1 9 4 2

J. C. H I N R I C H S

VERLAG



LEIPZIG

Alle Rechte vorbehalten Copyright 1942 by J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig Printed in Germany Verl.-Nr. 4379

VORREDE Der Wunsch, die „Dialektik" Schleiermachers aus dem Zustand abschreckender Monstrosität zu befreien und sie zu echtem philosophischen Leben auferstehen zu lassen, bestimmt das Gesicht dieser Ausgabe, die sich im Gegensatz zu früheren Editionsversuchen auf die Rekonstruktion des fruchtbarsten Totalentwurfes beschränkt und mit allen aggregatartigen und querschnittlichen Experimenten bricht. Die Ausgabe schließt sich Schleiermachers „Ästhetik" an, der ich 1931 gleichfalls im Auftrage der Akademie ein neues und würdiges Gewand zu geben versucht habe. Zum Gelingen des Planes haben materielle und ideelle Förderungen in glücklichster Fügung zusammengewirkt. In dem mir engvertrauten Schleiermacher-Archiv, das mir Herr Prof. Dr. P i u r in bereitwilligster Weise von neuem zugänglich machte, fand ich die Grundsubstanz zur Neugestaltung, zu der sich in letzter Stunde durch das Entgegenkommen von Herrn Prof. D. H i r s c h eine gleichfalls wertvolle Leihgabe der Universitätsbibliothek Göttingen gesellte. Größten Dank schulde ich vor allem der Preußischen Akademie der Wissenschaften, insbesondere der Schleiermacher-Kommission, für das mir mit Erteilung des A u f trages bewiesene Vertrauen und für die Mühewaltung bei den geschäftlichen Verhandlungen. Nicht minder fühle ich mich dem Kuratorium der Schleiermacher-Stiftung für die Gewährung einer Korrektur-Beihilfe verpflichtet. Dem Verlag gebührt das Verdienst, trotz größter, sich aus der Zeitlage ergebender Schwierigkeiten in großzügigem Weitblick I*

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

der philosophischen Hauptschrift Schleiermachers eine bleibende Heimstatt gegeben zu haben. Das Werk selbst aber will ein einziger lebendiger Dank sein an E d u a r d S p r a n g e r , der mich schon vor einem Jahrzehnt zur Planung ermunterte. Aus edelster Begeisterung für das geistige Vermächtnis Schleiermachers war er unermüdlich hilfreicher und ratspendender Gefährte auf dem langen Arbeitswege und schuf zugleich alle materiellen Voraussetzungen für das Erscheinen des Buches. B e r l i n , im Juli 1942 Rudolf Odebredit

EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS i. Z u r a l l g e m e i n e n W ü r d i g u n g d e r „ D i a l e k t i k " Schleiermachers Dem Raiisch des Höhenfluges ins Absolute steht Schleiermacher mit sokratischer Nüchternheit und Ironie gegenüber. Unberührt von dem „Kontagium" idealistischer Systemkonstruktionen, zählt er sich zu den Stillen, „die anders philosophieren, aber damit nicht öffentlich auftreten, weil sie auf keinen Erfolg rechnen können, sondern das ihrige als eigenes Gut und eigene Art festhalten" (S. 81 dieser Ausgabe). In dieser Stille formt sich ihm nach den Gesetzen und Kräften eines „Gesamtbildes der menschlichen Kultur" in jahrelanger hingebungsvoller Arbeit die Wundergestalt eines Organons und Kriterions des Wissens: die „Dialektik". — Gewiß, es fehlt diesem Werk alles, was es zu dem ideengeschichtlichen Kontinuum der nachkantischen Epoche in ein erträgliches Verhältnis setzen könnte: das Prometheische des absoluten Anfangs, die grandiose Unbedenklichkeit in der Preisgabe des Zeitlichkonkreten zugunsten abstrakter Ewigkeitsaspekte, der spekulative Hochmut eines in intellektueller Anschauung kontemplierenden „Aristokratismus der Intelligenz", kurzum die himmelstürmende Selbstsicherheit des System-Pathos. Aber diese Beschränkung erklärt sich nicht aus spekulativem Unvermögen, sondern aus einer unbedingten Ehrfurcht vor der Fülle des Lebendigen» Schleiermachers anthropologisch verdichtetes Denken wurzelt breit und tief im Diesseitsgrunde seines geschichtlichen Menschseins. „Die Menschheit in sich zu betrachten, und, wenn man einmal sie gefunden, nie den Blick von ihr zu verwenden, ist das einzige sichere Mittel, von ihrem heiligen Boden nie sich zu verirren" (Monologen. Ausg. SchieleMulert. S. 27). Das war die wundersame, nichtverstandene Neujahrsgabe an das Jahrhundert. Den Reichtum an indi-

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viduellen Gestaltungen, wie er aus diesem Boden emporquillt, mit dem Leibniz-Instinkt für das chargé du passé et gros de l'avenir enthusiastisch anzuschauen und in seinen tausendfältigen Verästelungen aufzudecken, erscheint ihm als vornehmste Aufgabe des Philosophen. So weiß er um die zeit- und volkbedingte Natur von Religionen und metaphysischen Systemen. Er weiß, daß alles organische Wissen nur dann ein Ganzes ist, wenn es in der Eigentümlichkeit seines Wachstums erhalten bleibt; d a ß die Weltvorstellung „für jeden Punkt, von dem sie ausgeht, eine andere", individuell und national gebundene, sein muß; und er erblickt in dem tollkühnen Überstieg ins Zeitlos-Allgemeine die große Verkehrtheit idealistischer Systemgestaltungen (vgl. Sittenlehre. Ausg. Otto Braun. Leipzig 1927. S. 167). Zum Seinsverständnis des unerhörten Reichtums von Menschheit bedarf es gänzlich neuer Zurichtungen des Denkens. Und wenn die Dialektik die Logik zur Bodenstiftung von anthropologischer Metaphysik bemüht, so ist es nicht der erstorbene Logos des reinen Gedankens, dem eine erborgte Dynamik zum Scheinleben verhelfen muß : es ist der Dialogos der lebendigen Wechselrede, der bis in seine letzten Stammformen hinab die Eigentümlichkeit seines individuellen Lebens bewahrt. Am Anfang steht die Rede, nicht der Begriff. Die Rede ist Ausdruck und Urtatsache menschlicher Vernunft als ewigen Wissen wollens^ Und das Dynamische an ihr, das also, was sie zum Prototyp der Lebensoszillationen menschlichen Geistes macht, schreibt sich weder aus dem reinen Denken noch aus der stumpfen Sinnlichkeit her, sondern hat seinen Grund in dem geschichtlich gewachsenen, beide Pole zu organischer Spannungseinheit verbindenden Körper der Sprache. Dank dieser Wurzelung im Sprachgrunde ist sich menschliche Vernunft zugleich des einwohnenden Seins Gottes bewußt. Für Schleiermacher wie für Meister Eckhart ist Gott „rede der redenden. Dar umbe ist er aller natûren natûre" (Meister Eckhart. Ausg. F. Pfeiffer. S. 540). Das Reich der Wahrheit, „wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist" (Hegel), ist auch für Schleierinachers Dialektik das immerdar aufgegebene und gesuchte Ziel; ein Ziel jedoch, vor dem jede menschliche Rede verstummen muß. Gewiesen ist uns allein der Weg dorthin, der

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uns niemals aus dem Felde der relativen Identität hinauszuführen vermag. In diesem Feld der Endlichkeit des Erkennens das Methodenbewußtsein zu stärken, zu lehren, wie wir in peinlicher Rechenschaftsablegung bei jedem Fortgang des Denkens der Gefahr eines bodenlosen Relativismus begegnen, und den Einbruchsstellen der Sünde des Irrtums nachzuspüren, ist das eigentliche kritische Geschäft der Dialektik. Nim war der Ruf nach einer solchen Disziplin, die das Verhältnis von Spekulation und Empirie regelt, von einem der idealistischen Systembildner selbst ausgegangen. In den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" erklärt Schelling, daß es ohne dialektische Kunst keine wissenschaftliche Philosophie gebe, weil anders nicht „die Ungeheuer einer rohen dogmatischen Philosophie" erschlagen werden können (Schelling WW. V. S. 267). In dunkler Ahnung schreibt er der Logik die Fähigkeit zu, unter dem Namen „Dialektik" als reine Kunstlehre der Philosophie auftreten zu können (ebda. S. 269). Doch existiere sie noch nicht, weil die traditionelle Logik in der „Sphäre der Endlichkeit" befangen sei und alle wahre Wissenschaft des Menschen „in der I d e e des Menschen, also überhaupt nicht in dem wirklichen und empirischen Menschen" gesucht werde. Wir sehen hieraus, wie es mit der „empirischen Konstruktion" bei Schelling bestellt ist. Während bei ihm das Empirische sogleich wieder ins Ideale sublimiert wird und die Philosophie erst mit dem aufgehobenen Gegensatz zwischen Spekulation und empirischem Wissen beginnt, hat sie nach Schleiermacher im A k t des werdenden, aber nie vollendeten Aufhebens des Gegensatzes ihr Leben und bleibt immer mit der bunten Fülle der Lebensoszillationen des wirklichen Menschseins verbunden. Wenn Schleiermacher 1804 in der Rezension von Schellings „Vorlesungen" darauf hinweist, „wie genau die historische Konstruktion (der Sprache) mit der der idealen Welt selbst zusammenhängt, wie alles Historische in Künsten und Wissenschaften sich in der Sprache abspiegelt und nur in Verbindung mit ihr recht zu erkennen ist" (Leben i. Br. IV. S. 591), so steht ihm das Programm seines eigenen methodischen Unternehmens bereits lebendig vor Augen. Die

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Dialektik wird zur Kunst der spekulativen menschlichen Rede, wobei sie sich aus den grammatikalischen Grundgemeinsamkeiten des Sprachleibes die metaphysischen Prinzipien der Konstruktion alles Wissens, aus den logischen Verknüpfungsgesetzen die kritischen Kanones für den Oszillationsprozeß des scheiternden, aber immer schon in der Wahrheit stehenden Dialogos herausarbeitet. Ist nun die „Dialektik" der Anlage nach eine Summe von Regeln und Lehrstücken, nach denen gedacht werden soll? Steht sie also als Leitfaden außerhalb des Bereiches der Kirnst, von der sie selbst Lehre sein will? — Gewichtige Gründe scheinen für eine bejahende Antwort zu sprechen. Drückt sich doch die imperativische oder wenigstens konsultative Absicht schon in dem Titel einer „Kunstlehre des Denkens" aus; bekunden zudem die in knappe Paragraphen eingezwängten Leitsätze des Grundheftes von 1814, auf die Schleiermacher auch später noch zurückgreift, deutlich genug das auf lehrhafte Statik zielende „Geschäft" des Dialektikers; und zeigt endlich der formale Teil eine unverkennbare Neigung, sich zu scharf formulierten „Kanones" mit imperativischer Satzform zu verdichten. Danach also handelte es sich in der Dialektik um eine zur Beendigung des Streits gegebene „Anweisung", die dem Streit selbst souverän gegenübersteht. Nun hat Schleienmacher andrerseits keinen Zweifel darüber gelassen, daß er eine solche Anweisung „als eine ursprünglich hervorbringende oder didaktische" (S. 38 dieser Ausg.) für durchaus verfehlt hält und daß jedes System von Sätzen, das eine „Wissenschaft des Wissens" aufzustellen vorgibt, in der Luft schwebt. Mit anderen Worten: Dialektik, sofern sie „als eine Gegebenes prüfende oder kritische Anweisung" (S. 38 dieser Ausg.) sein will, macht sich weder anheischig, „das Wissen aus schlechthin neuen Anfängen zu entwickeln" (S. 37 dieser Ausg.), noch von einem bestimmten Punkte des Denkprozesses ab streitfreies Denken weiterzuentwickeln, noch endlich gar einzelne Sätze des Denkgeschehens als streitfreie herauszupräparieren, während andere noch im Streit stehen, um so allmählich aggregatartig Gewußtes anzuhäufen. Das Ende des Streites ist nicht an dran einen Punkt früher als an dem anderen. E s

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liegt in der „zyklischen Natur" des Erkennens, daß es kein Erwerben im Gebiet des Wissens gibt, derart, „daß ein Wissen vom andern abgeschnitten wäre, sondern nur so, daß eine allmähliche Verklärung des Wissens entsteht, indem deutlicher, bestimmter, sicherer wird, was man auf einer niedrigen Stufe des Bewußtseins auch schon hatte" (Vorl. 1818. Dial. ed. Jon. S. 1). Schleiermacher hat die Gefahr eines Mißverstehens seiner Grundabsicht sehr wohl gesehen und sie mit verschiedenen Mitteln abzuwenden gesucht. Einige Male bedient er sich der Analogie mit den schönen Künsten (S. 39 u. 43ff. d. A.). Auch für die ausübenden Künste gebe es „Kunstlehren", die sich auf „negative Sätze", d. h. auf Kautelen über das, „was vermieden werden soll", beschränken. In gleicher negativer Haltung stehe die Dialektik dem streitigen Denken gegenüber, indem sie aufzuzeigen habe, wo der Irrtum entstehe und wie er zu vermeiden sei. SchJeiermacher aber hat zugleich keinfen Zweifel darüber gelassen, daß ein solcher Vergleich nur ein ^propädeutischer Notbehelf sei, ja daß er im Grunde dem tieferen Verständnis der Dialektik geradezu entgegenarbeite. Denn es ist das unterscheidende Merkmal der Dialektik gegenüber praktischen Kunstregeln, daß sie dem Gebiet, auf das die Regeln zielen, immanent sei. Die „Dialektik" steht selbst im Zustand des Streites; sie höbe sich selbst auf, wenn sie sich als undialektische Aussage über Dialektik ausgeben wollte. Mit diesem dogmatischlehrhaften Zustand haben die „Lossagungen" der Einleitung (S. 27 d. A.) ein für allemal abgerechnet. Daß sich die Dialektik dennoch das Recht nehmen darf, „Anweisungen" zu geben, wird in der gleichen Einleitung letzter Hand, die für das Verständnis der Grundabsicht Schleiermachers von höchster Bedeutung ist und deshalb an die Spitze einer Neuausgabe gehört, eindringlich erörtert. Ausgehend von der ungeteilten Einheit unseres Menschseins entwickelt hier Schleienmacher eine Theorie von den drei Erscheinungsformen geistiger Tätigkeit, die sich als geschäftliches, .künstlerisches und reines Denken äußern; doch so, daß sich niemals eine dieser Formen von der andern abtrennt, sondern daß vielmehr alle drei dem Keime nach in jedem noch so primitiven Denkgeschehen vorhan-

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den sind (vgl. S. 20ff. d. A.). Es steht also der „Reinheit" des dialektischen Denkens, das „wesentlich immer gesprochen sein muß'\(S. 24), nicht im Wege, wenn auch hier ein „Geschäft", nämlich das auf die „Selbigkeit des denkenden Seins" gerichtete Wissen wollen, getrieben wird und wenn „dialektische Regeln die Natur des geschäftlichen Denkens an sich tragen" (S. 33). Doch fallen diese „Regeln" nicht wie reife Früchte als isolierte und statische Teilerkenntnisse aus dem Prozeß heraus; sie werden nur von der „Dialektik", als dem Gespräch kat'exochen, mit den Prinzipien der Konstruktion des Wissens zugleich als Grundsubstanz jeder streitigen Rede zur Erscheinung gebracht und bleiben immer in das Ganze dieses Prozesses eingebettet. Die Relativität in dgr Wahl des Ansatzpunktes, der Einf l u ß der „besonderen Denkgeschichte des Wählenden" (S. 37) und die Bindungen an den jeweiligen Sprachkreis sind die schicksalsmäßigen formativen Quellkräfte, die dem Wachstumsvorgang des dialektischen Geschehens seine individuelle Prägung verleihen. Wir geben diesen Keimgedanken ihre programmatische Gestalt: Die Dialektik ist selbst eine Erscheinungsform des Sprachgeistes, dem sie das Leben ihrer Rede verdankt. Sie ist im wahrsten Sinne Organon, nicht, weil sie diesem Prozeß unbeteiligt gegenübersteht, sondern weil in ihr komplikativ alle Entfaltungsmöglichkeiten der spekulativen Rede angelegt und in einer höheren Potenz des Um-sich-selbstWissens dargestellt sind. Sie ist zugleich Kriterion und Kunstlehre des Sichverständigens, weil sie in jedem Dialogos das Gespräch des Gesprächs ist. Sie wächst auf dem Boden der individuellen Sprachgemeinschaft und beendet ihr Dasein in dem Augenblick, wo auch die Sprache ihren Geist aufgibt. Denn die Sprache hat ihrerseits auch das Leben vom Gespräch, dessen Vegetationsbasis wiederum der Streit und das Wissenwollen bilden. Sind einmal alle Zweif e l gelöst und ist die Wahrheit erreicht, so ist die Sprache „vollkommen sich selbst gleich", „fest" und „absolut identisch geworden für alle, die sie reden" (Ausgabe Jonas. Beilage E [1831] S. 480/81). Aber niemand redet sie dann auch mehr, weil im absolut Selbstverständlichen das Sichverständigen überholt ist. Im „Identischwerden" der

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Sprache liegt ihre Euthanasie und zugleich das Ende des Menschseins. Denn menschliche Existenz gründet im Gespräch. /Nur auf dein Wege zur Wahrheit und im Prozeß des Wissenwollens blühen die kommunikativen Triebe, die dem Wesen menschlicher Gemeinschaft seinen Sinn geben. Nur im Miteinandersprechen über etwas ist die Möglichkeit des Zueinanderkommens offen. So hat Heidegger das Hölderlin-Wort „Seit ein Gespräch wir sind — " gedeutet (M. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung. München 1937. S. 8). In dem gleichen Grunde wurzelt Schleiermachers Kunstlehre des Gesprächs, die, was immer auch im einzelnen beanstandet werden .mag, von einer so erhabenen Größe des Entwurfs, von einer so staunenswerten Zielsicherheit in der Entfaltung ist, daß ich sie dem Größten gleichsetze, was auf dem Felde abendländischer Geistigkeit geschaffen wurde. Es ist bekannt, welche Bedeutung Schleiermacher selbst seiner Arbeit an der Dialektik beigelegt hat und mit welcher Zähigkeit er ihr dreiundzwanzig Jahre hindurch treu geblieben ist. Nachdem der Entschluß zu einer Vorlesimg über spekulative Philosophie lange in ihm „gewurmt" hatte, trägt er die Dialektik 1811 zum erstenmal an der Berliner Universität vor. /Noch ist ihm keine gußfertige Form zur Hand, nur die „Hauptmassen" sind vorhanden und müssen sich unter den prometheischen Eingebungen des freien Vortrages zunächst notdürftig ordnen. Die ersten Aufzeichnungen können nicht befriedigen, Spannungen und Widersprüche zeigen sich allenthalben, und der organische A u f bau liegt noch völlig im argen. Es entstehen neue Entwürfe, in fünf weiteren Vorlesungsjahren geschaffen und an die früherem angeglichen. Und es verbindet sich damit der Wunsch, dieser Lieblingsdisziplin eine organische Gestalt zu geben, wie sie bereits die „Glaubenslehre" gefunden hatte. Wie wenig aber entsprach diesem unablässigen Bemühen die Wirkung nach außen! — Wäre je ein Lärm um das Werk entstanden und hätte sein Schöpfer die Rührigkeit der großen Systembildner seiner Zeit besessen, so hätte man sich wohl ernsthafter mit seiner Philosophie auseinandergesetzt. So galt er — und gilt bei vielen auch heute noch — als Epi-

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gone Kants, als Mitläufer Fichtes oder Schellings; oder gar als Spinozist: Etikettierungen, von denen er mit bitterem Humor Kenntnis nahm. Wenn man Schleiermacher immer wieder Mangel an Originalität vorgeworfen hat, so darf ich billigerweise an die Bemerkung erinnern, mit der er selbst die Methode Schellings in Schutz genommen hat: daß ein solcher Vorwurf nur für den, einer sei, „der das rohe Aufnehmen fremder Gedanken nicht von einem solchen zu unterscheiden weiß, welches .sich durch seine Gehörigkeit in ein regelmäßig aufgeführtes Ganze als ein wahres zweites Erfinden ankündigt, dem das Frühere eines anderen nur zufällig vorausgegangen ist" (Leben i. Br. IV. S. 586). Während aber bei Schelling die Anlehnungen vielfach mit Händen zu greifen sind, hat der Einschmelzungsprozeß bei Schleiermacher einen solchen Grad der Innigkeit angenommen, daß er jedem rohen Zugriff des üblichen historischen Vergleichverfahrens spottet. Wir haben es hier, wie Wehrung (Die Dial. Schl.s. Tüb. 1920. S. 105) treffend bemerkt, mit der „Hinterlassenschaft eines der beweglichsten Geister der Weltgeschichte" zu tun, der, „fremde Anregungen mit eigenen Forderungen und Einsichten aussöhnend, immer neue Beziehungen, zwischen Getrenntem anzubahnen verstanden hat". — Doch, seltsam genug: der Eklektizismus Schellingscher Prägung hat dem philosophiegeschichtlichen Ruf seines Erfinders keinen Abbruch getan. Bei Schleiermacher dagegen kam man kaum je über die Abhängigkeitsschnüffelei hinaus und scheute mit traditioneller Hartnäckigkeit die „Anstrengimg des Begriffs", um zu den Quellgründen seines originalen Denkens vorzudringen. Er ist nun einmal der Theologe von Beruf, der als Philosoph die Ressortschranken in dilettierender Weise überschreitet. Wie ungerecht dieses Urteil ist, beweist einmal Schleiermachers philologisch-hermeneutischer Umgang mit den antiken Quellen der Spekulation, wodurch er sich ein von keinem der großen Systembildner je erreichtes problemgeschichtliches Wissen erwerben mußte, beweist vor allem seine lebenslange Auseinandersetzimg mit Sokrates und Piaton, zu der die umfangreiche Übersetzungstätigkeit an den platonischen Dialogen nur den äußeren Anstoß gegeben hat,

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während der eigentliche Grund in einer tiefinnerlichen Geistesverwandtschaft Schleiermachers mit den attischen Denkern zu suchen ist. Der „Phaidros" liefert ihm das logische Rüstzeug für die lebendige Wechselrede, der „Sophistes" mit seiner abgründigen Seinsdialektik wird ihm zur Kernzelle seines eigenen systematischen Entwurfes, der von hier aus das Wagnis unternimmt, Eleatismus und Heraklitismus zu einer polaren Spannungseinheit zusammenzuschließen. Der prohlemgeschichtlichen Forschung eröffnet sich hier ein fruchtbares Arbeitsgebiet; eine erste Orientierung habe ich in meinem Aufsatz: „Der Geist der Sokratik im Werke Schleiermachers'' gegeben (Festschrift für Eduard Spranger. Leipzig 1942. S . 103 ff.). Der Geist Piatons läßt Spielraum für eine Unendlichkeit von Gestaltungen. Man verliert nicht seinen Eigenwuchs, wenn man sich von platonischer Gesinnung erfüllen läßt. Anders dagegen verhält es sich mit Kant. Man ist entweder Kantianer oder ist es nicht. Was dazwischen liegt, ist entweder tragisches Versagen oder peinliche Karikatur. In den Bereich des scheiternden Kantianismus hat man auch Schleiennacher zu stellen gesucht. Wenn ich dieser Legende entgegentrete, so muß ich mich hier darauf beschränken, die Achsenverschiedenheit beider Geistesräume kenntlich zu machen. Ich gehe nicht auf die zahlreichen Selbstbekenntnisse Schleiermachers ein, die von seiner grundsätzlichen Abneigung gegen die Kantische Philosophie zeugen. Es bleibt die Tatsache bestehen, daß er sich mit dem ihm widerstrebenden Stoff der „Kritik" gründlich auseinandergesetzt hat — bis zur scheinbaren Aneignung einiger terminologischer Bestandstücke, die ihn in der Ära des Neukantianismus zugleich interessant und verdächtig gemacht haben. Ist nicht mit der Keimzeichnung der organischen und intellektuellen Funktion der Dualismus der ZweiStämme-Theorie übernommen? Ist nicht die Anlehnung bis zur Assimilation der selbst bei Kant schon anrüchigen Lehre vom „Schematismus" gesteigert worden? Und kann es einen überzeugenderen Beweis geben für die Hybris, Kantianer zu spielen, als jenen berüchtigten § 1 1 9 der Dialektik von 1814, worin der Satz steht: „Ohne Einheit und Vielheit ist die Mannigfaltigkeit unbestimmt; ohne Mannigfaltigkeit ist

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die bestimmte Einheit und Vielheit leer"? Dazu gesellen sich noch andere angeblich pseudokritische „Kennzeichen"; etwa der Art: „Die Bestimmung, in der das Wissen ist, ist Spontaneität, die chaotische Masse des Eindrucks, in der das Wissen nicht ist, ist Rezeptivität" (§ 274). Hier scheint es ja sonnenklar zu sein, d a ß Schleiermacher im Grunde nichts weiter wollte als Kant; daß vor allem sein „unmittelbares Selbstbewußtsein" sich nicht wesentlich von der transzendentalen Apperzeption unterscheidet; und daß alles andere, was nun allen Umdeutungsversuchen zum Trotz gar nicht mehr zum Kritizismus passen will, also der ganz und gar originale Schleiermacher, eben scheiternder Kantianismus ist. Alle Auslegungen dieser Art übersehen, daß die Terminologie der kritischen Philosophie nicht erst von Kant g e schaffen worden ist. Es ist daran zu erinnern, d a ß man lange vor aller transzendentallogischen Problematik von der Duplizität der Vermögen sprach; daß Tetens bereits die „ A u f lösung der Erkenntniskraft" in Rezeptivität und Aktivität vorgenommen und dem „Chaos der Empfindungen" den „Aktus des Bewußtseins" gegenübergestellt hatte, wodurch bewirkt werde, d a ß wir diese Mannigfaltigkeit als ein „vereinigtes Ganze" empfinden (Philos. Versuche. S. 389. V g l . S. 336). In allen grundsätzlichen Fragen steht Schleiermacher der Kantischen Lehre völlig ablehnend gegenüber. „ E s gibt keine Trennung des Wesens der Dinge von ihrer Erscheinung" (§ 173). Entschiedener kann die Absage an die Kritik der reinen Vernunft nicht ausgesprochen werden. Niemals später findet sich der obenerwähnte angeblich „kantische" Satz des § 119 in dieser formelhaften Prägung. Und niemals hat er bei Schleiermacher den gegenstandskonstitutiven Sinn der Transzendentalkritik, sondern ausschließlich den Charakter eines Regulativs im Oszillationsprozeß des Wissens, dessen Wachstumsgrad als Durchdringungsintensität von Ordnung, Bestimmtheit der intellektuellen Funktion einerseits und von Fülle und Lebendigkeit der organischen Funktion andrerseits dadurch gekennzeichnet werden soll. Die Vorlesimg von 1818 drückt dies so aus: „Das Denken ist um so lebendiger, je mehr die organische Tätigkeit vorherrscht, es ist um so bestimmter, je mehr die

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Vernunfttätigkeit vorherrscht" (Nachschrift v. Bluhme. V g L S. 155 dieser Ausg.). — Vor allem aber ist auf die abgrundtiefe Kluft zu achten, die sich zwischen beiden Denkern bei der Frage nach dem Erkenntniskriterium auftut. Bei Kant handelt es sich um den Bereich des phänomenalen Seins,, in dem Objektivität überhaupt erst begründet werden soll.. Hier fließen die Charaktere der Allgemeingültigkeit und: Notwendigkeit aus dem gemeinsamen A k t der Synthesis, und die Erkenntnisfrage ist nach der Entrechtung aller Transzendenz nach dem einen Brennpunkt der Einheit des. Bewußtseins gerichtet. Bei Schi, dagegen trägt der Wissensprozeß einen bipolaren Charakter: gleichmäßige Vollziehbarkeit in allen Denkenden und Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein. Man glaube nicht etwa, daß das zweiteKriterium jenen unverbindlichen formalen Sinn hat, in dem Kant die Wahrheit als Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstände definiert. In dem zwischen dem terminus a quo des Gottesgrundes und dem terminus ad quem der Welt ausgespannten Bogen bildet das „Reale" einen ganz und gar selbständigen und unersetzbaren Pfeiler. N i e mals hat Schleiermacher die Bipolarität des Kriteriums im kritischen Sinne korrigiert, am allerwenigsten im Vorlesungsjahr 1822, wovon die vorliegende Ausgabe auf Schritt, und Tritt Zeugnis ablegt. Hier gibt es keine Brücke zum Kritizismus, und es hat keinen Zweck zu fragen, wieweit Schleiermacher mit dem Kritizismus geht. Er geht nicht einen Schritt mit ihm, sondern steht ihm vom ersten Ansatz völlig selbständig gegenüber, in lebendiger Anknüpfung an die Tradition der rationalen Psychologie des 18. Jahrhunderts. Ich habe in meiner Darstellung der Ästhetik Schleiermachers darauf hingewiesen, in welchem Maße sich, Schleiermacher dem Kantgegner Eberhard verbunden fühlt. Nicht minder deutlich treten die Beziehungen zu diesem Manne, der ihm die Platonliebe in die Seele gepflanzt hat,, bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sinnlichkeit und Verstand hervor. Auch bei Eberhard liegen beide Vermögen nicht „abgesondert und insuliert in der Seele", sondern gehen kontinuierlich ineinander über. Heißt es bei ihm: „Im Denken Einheit, im Empfinden Mannigfaltigkeit" (Allgemeine Theorie des Denkens und E m p f i n -

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dens. 1776. S. 68), so bei Schleiermacher: „In allem Denken ist die Vernunfttätigkeit der Quell der Einheit und Vielheit, die organische Tätigkeit der Quell der Mannigfaltigkeit" (Dial. 1814. Jon. § 118). Geht nach Eberhard die Seele vom Anschauen der Sachen auf die Vorstellung der Zeichen über, bis sie sich „weiter nichts mehr als der Zeichen bewußt ist und mit einer blinden Operation in den tiefen Gängen der Wahrheit fortrückt" (ebda. S. 115), so finden wir in voller Übereinstimmung hiermit bei Schleiermacher die Erklärung, daß, je mehr wir die realen Begriffe ihrer organischen Seite entkleiden und sie „nur als Zeichen brauchen", wir um so weniger dabei denken (Dial. § 110). Diese Auffassung von dem gradweisen Ineinanderwirken beider Vermögen, die sich zu dem Eberhardschen Gesetz verdichtet: „Die Intensität der Einheit ist in ratione inversa der Mannigfaltigkeit und umgekehrt" (Allg. Th. S. 78), findet in Schleiermachers Theorie der Wissensbildung, in dem Beziehungsgefüge zwischen Schema und Formel ihre geniale Vertiefung und Fortbildung. Mit solchen Hinweisen soll nun nicht etwa das Schelmenspiel getrieben werden, Schleienmacher aus einer Hörigkeit in die andere zu versetzen. Vor Kant wird man zum Epigonen, vor Eberhard nicht. Der eine ist eine Welt mit eigener Atmosphäre, der andere nur eine magere Scholle, die ihre Lebensluft aus dem Odem einer Epoche empfängt. Um die Größe des Entwurfes der „Dialektik" abzuschätzen, bedarf es anderer Maßstäbe, als sie das 18. Jahrhundert aufzuweisen hat. Aber ebensowenig dürfte dieser Absicht ein Vergleich mit dem System Hegels dienen, wozu der Gleichklang einiger Haupttermini verleiten könnte. Gegen die blendende Fassade der Manifestation des sich selbst begreifenden Geistes gehalten, erschiene Schleiermachers anthropologische Hermeneutik des Daseins als kümmerliche Aberration in dem geschichtlichen Entfaltungsprozeß der „Kategorien" der Weltvernunft. — Wir lehnen es ab, Schleienmachers Entwurf dem Endgültigkeitsanspruch Hegelscher Philosophie zu opfern. Hegels System ist in der Tat ein Ende, allerdings nur das Ende einer Periode, die mit der gott-losen Selbstgewißheit des Descartesschen cogito beginnt und sich über Kants Vernunft- und Postulatenreli-

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gion hinaus zur Seinslogik der „metaphysischen Definitionen Gottes" (Hegel. Enzykl. § 85) entwickelt. Im „Zurücksehen" auf das Ganze der „geistigen Gestaltungen der Philosophie" vermag es den Standpunkt Schleiermachers überhaupt nicht in den Blick zu bringen. Schleiermachers „Dialektik" ist ein neuer Ansatz der Denkbesinnung, ein neuer Traktat über die Methode, der aus dem Gefühl tiefster reformatorischer Gläubigkeit das PseudoChristentum Descartes' in die Schranken fordert. Es muß als fundamentaler Irrtum angesehen werden, wenn Hegel in den mit absolutem Seinsverlust verbundenen „Einklammerungen"" und skeptischen Exerzitien der chose qui pense die Erscheinung des „protestantischen Prinzips" christlicher Innerlichkeit erblickt (Hegel WW. Stuttg. 1928 X I X , S. 328). Die Flucht in den „reinen" Geist und in die bodenlose Selbstgewißheit eines daseinsmüden Bewußtseins hat nichts zu tun mit dem kämpfefrischen Daseinstrotz protestantischer Prägung. Schleiermachers Kunst der Gesprächführung ist in ihrem Grundplan unmittelbare Fortsetzung eckehart-cusanischer Laienfrömmigkeit und Laienweisheit, die dem Leitspruch: sapientia clamat in plateis seinen umfassendsten Ausdruck geben wilh, Es gilt, die ganze ungeteilte Wirklichkeitsfülle, wie sie in der Alltäglichkeit der Rede aufbricht, zu bewahren und trotz aller skeptischen Innehaltung keinen Inhalt preiszugebeif; es gilt, Wehr und W a f f e n zu schmieden f ü r den immerwährenden Streit der Rede, durch den das „Dasein des Denkens" erst seinen Lebensinhalt erhält, und zu protestieren gegen jeden Sprung in eine kampflose und sich vornehm als höhere Potenz des Denkens aufblähende Geistigkeit. Es geht um das Wissen, daß innerhalb des Spannungsraumes zwischen dem Chaos der Empfindungen und dem uns einwohnenden Sein des transzendenten Grundes jeder Gedanke verknüpft ist „mit der Totalität des Wahrnehmbaren und jede Wahrnehmung mit der Totalität des Denkbaren", so daß wir jederzeit von der Mitte aus, d. h. durch den Ausgang von einer problematischen Tatsächlichkeit zur Homologie der Rede und somit zur Übereinstimmung mit dem Seienden gelangen können und an keiner Stelle des Wissensfortschrittes gegen die unverbrüchliche Harmonie von Natur und Geist verstoßen. Schleiermacher,

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Bei Descartes wird Gott, wie Leihniz gezeigt, nur „ad speciem quandam sive pompam" herbeigezogen (Gerh. IV S. 358). Der mittels eines logischen Zirkels schlecht versteckte Atheismus zeigt das Zerstörungswerk des radikalen Zweifels, der den festen Grund des credere anzutasten vermochte, gerade weil, was Hegel wiederum nicht begreift, bei Descartes das Christentum „als Denken zum Bewußtsein" kam. Iin Schleiermachers neuem Entwurf der Methode hat uns echt protestantische Frömmigkeit den allem skeptischen Zugriff entzogenen Glaubensgrund zurückgegeben. Gott ist jenseits aller Begrifflichkeit, ja jenseits aller Denkgrenzen. E r steht zu aller fortschreitenden Weltweisheit in unwandelbarem konstanten Verhältnis; er ist, wie beim Cusaner, als das quantitativ Ewig-Unverhältnismäßige (finiti et infiniti nulla proportio) absolutes transfinites Maß alles Geschöpflichen und terminus a quo alles Weltwissens. In dem „konstanten Quotienten", der das geringste Denken zum Immerhöher-Steigen in die Wahrheit aufruft, offenbart sich das einwohnende Sein Gottes, der doch ewig dem Denken wie dem Wollen ein deus absconditus bleibt und nur in der Einheit von Wahrheit und Gewissen seine mittelbare Repräsentation findet. Man hat Schleiermachers Ontologie des Begriffs und Urteils als Mangel nachgesagt, daß sie, die sich in dem Korrelativitätsanspruch von Denken und Sein auf den Weg gemacht habe, das Absolute zu suchen, am Schluß doch resignieren müsse, da sie die Gottheit jenseits aller Begriffs- und Urteilsgrenzen findet. Ich halte es vielmehr für einen Vorzug und einen Triumph dieses Seinsentwurfes, nicht nur selbst der Gefahr einer Verbegrifflichung des Höchsten entgangen zu sein, sondern auch mit einer unerhörten Schärfe des Begriffs alle Irrwege der Verweltlichung Gottes aufgedeckt zu haben. Die Auseinandersetzung über die dialektische Korrelativität von Welt und Gott reißt in nüchterner Sachlichkeit das Nichts des Gottesgrundes auf, um im Gefühl des frommen Selbstbewußtseins den Ort aufzuweisen, wo christliche Dogmatik ihre Grundlegung erfahren soll. Nur unzulänglich kann des streng bemessenen Raums wegen angedeutet werden, was das Geheimnis der „Dialektik" an Eigentlichem und Einzigartigem birgt. Einer von

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tiefster Ehrfurcht getragenen hermeneutischen Forschung sei das Werk zu fruchtbarer Erschließung und zu lebendiger Förderung protestantischer Weltbesinnung in die Hand gegeben. 2. D i e G r u n d s ä t z e d e r n e u e n B e a r b e i t u n g Bevor ich die aus dem Geist der „Dialektik" sich ergebenden Editionsprinzipien entwickle, gehe ich kurz auf die Geschichte der Textgestaltung ein. Die erste Ausgabe ist von L. Jonas 1839 (Schleiermachers Werke III. 4. 2) besorgt worden. Die zweite Redaktion unternahm J. Halpem 1903. Neue handschriftliche Funde wurden 1878 von Bruno W e i ß mitgeteilt (Untersuchungen über Fr. Schleiermachers Dialektik. 1. Teil. Zeitschrift f. Phil. u. phil. Kritik. Bd. 73. Beilage G. u. H. der Dialektik. Als Anhang [S. 1—43 des Bandes]). Die Ausgabe von Jonas zeichnet sich im großen und ganzen durch Sorgfalt und Treue in der Wiedergabe der Texte aus. Ihre redaktionellen Mängel, durch welche das Werk das Gegenteil dessen geworden ist, was Schleiermacher unter dem Ideal einer „absoluten Architektonik" vorschwebte, sind jedem Leser der Schrift zur Genüge bekannt. Halperns Unternehmen beruht überhaupt nicht auf ernsthafter Quellenforschung, dringt somit nicht einmal zu einer Revision des von Jonas edierten Textes vor, sondern stellt ein eigenmächtiges Exzerpt aus den verschiedensten Entwicklungsstadien dar, das er für „eine vollständige, geschlossene Gestalt der Dialektik in ihrer reifsten Ausbildung" ausgibt (Einl. zur Dial. 1903. S. X X X I I I ) . Was er unter „Reife der Ausbildung" versteht, hat er an anderer Stelle entwickelt (Archiv f. Gesch. d. Phil. Bd. X I V . S. 210ff.). Danach stellt das Grundheft von 1814, das Jonas in den Mittelpunkt rückt und auf welches sich Schleiermacher vierzehn Jahre hindurch bezog, die schwächste Form dar, da in ihr angeblich dualistische und kritizistische Tendenzen hervortreten, die im Widerspruch zum maßgebenden Identitätsprinzip stehen sollen. Erst der Entwurf von 1818 gehe auf den ursprünglichen „Monismus" von 1811 (A) zurück, während der neue Ansatz von 1831 (E) der Vollendung am nächsten stehe und daher zum Kern einer neuen Materialgruppierung und Materialauslese gemacht werden müsse. II*

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Grundsätzlich ist hiergegen zu sagen, d a ß schon allein die Absicht einer Stadien vermengung mit modemer, ganzheitlicher Editionsauffassung unvereinbar ist. Dazu kommt, daß die Antithese: Monismus-Dualismus viel zu primitiv ist, um dem oszillatorischen Gedankengewebe der Dialektik gerecht zu werden. Die schlimmsten Widersprüche sind durch Wehrung (Dialektik Schleiermachers. Tüb. 1922. S. 160f.) aufgedeckt worden. Niemals wieder ist Schleiermacher auf die Fassung von 1811 zurückgegangen. Die Niederschrift von 1831 stellt, soweit sich dies aus den vorhandenen Trümmern überhaupt feststellen läßt, gegenüber der klaren Gliederung von 1822 in redaktioneller Beziehimg einen entschiedenen Rückgang dar, weicht aber inhaltlich in k e i n e m wesentlichen Punkt von dem 1822 kernhaft entwickelten Programm ab. A m tollsten hat es Halpem mit dem formalen Teil getrieben ; hier sind 130 Paragraphen des Textes von 1814, also die gesamte Begriffs- und Urteilstheorie, der Schere zum Opfer gefallen. — Die Nachträge von Weiß sind für die Geschichte der Einleitung letzter Hand wichtig und finden im Anhang dieser Ausgabe ihre Berücksichtigimg. Jedenfalls zeigt Halperns mißglückter Versuch, daß sich mit noch so geistreichen Verschiebungen und Streichungen des von Jonas übernommenen Materials keine neue Ausgabe rechtfertigen läßt. Auch Wehrungs Versuch, einige Entwürfe Schieiermachers gesondert zu bringen und die Fassungen von 1814—1828 synoptisch in Kolumnen nebeneinander zu ordnen (Dial. Schleiermachers S. 6), ist aus den angegebenen Gründen nicht annehmbar und würde außerdem an buchtechnischen Schwierigkeiten scheitern. Nun dürfte zunächst über das Oszillationszentrum des Werkes nach meinen Darlegungen kein Zweifel mehr bestehen. Die Stadienentwicklung der Entwürfe vollzieht sich unter zunehmender Dominanz des Postulates, daß zwischen Denken und Reden der innigste Zusammenhang besteht, dem auch das sog. „reine" Denken unterliegt; und daß Dialektik, ihrem eigentlichen Wortsinn entsprechend, als K u n s t d e r G e s p r ä c h f ü h r u n g zu begründen ist. Wir als die Redenden sind das zunächst und vordringlich Wirkliche; in der coonmunicatio des Gesprächs erschließt sich uns unser Menschsein, in dem scheiternden Streit des Dialogs die

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Wirklichkeit der Transzendenz. Das ist der ruhende Pol in der Flucht der verschiedenen Ansätze und Entwürfe, der bereits im Brouillon zur Ethik-Vorlesung von 1805 die Richtung der Dialektik als „fortgesetztes Vergleichen einzelner Akte des Erkennens durch die Rede, bis ein identisches Wissen herauskommt", bestimmt (Sittenlehre. Ausg. O. Braun. S. 161—165). Bis zur endgültigen Klärung sind indessen noch viele Schwierigkeiten zu überwinden. 1811 wird zwar angedeutet, d a ß kein Denkakt ohne organische Produktion sei (Dial. Jon. S. 315), aber „die in allen eine und dieselbige Vernunft" läßt den Ausgang vom Geschehen der Rede noch abenteuerlich und aussichtslos erscheinen. Hier wie auch 1814 bleibt es bei der farblosen Definition der Dialektik als einer „Kunst des Gedankenwechsels" (Jon. S. 17). Die Vorlesung 1818 geht gelegentlich auf das Thema ein (Jon. ebda. u. S. 364), doch fehlt es auch jetzt noch an zielbewußter methodischer Auswertung. E r s t d a s J a h r 1 8 2 2 b r i n g t d i e e n t s c h e i d e n d e W e n d u n g . Unter der eindringlichen Beschäftigung mit der Hermeneutik ergab sich mit zunehmender Klarheit, d a ß das Gespräch das eigentliche Geschehen der Sprache sei und die Dialektik nur in wagemutigem Zupacken des Dialogos-Problems gedeihen könne. Daher denn auch der neue Vorlesungsentwurf, der den Rahmen des früheren sprengt und nur noch in lockeren Paragraphenverweisungen die Fäden zum alten Gespinst von 1814 hinüberwirft. Soviel steht fest: der Keimgedanke des Dialogos ist mit 1822 souverän geworden; auf ihn hin muß das alte Gewebe mühsam aufgedröselt und umgesponnen werden. Die zunächst am Rande des Entwurfs von 1822 stehenden und später zum Heft von 1814 hinüberspringenden Notizen von 1828 setzen dieses Geschäft fort. Ob allerdings mit der gleichen Energie und Konsequenz, läßt sich nicht feststellen, da Nachschriften aus diesem Jahre nicht vorliegen und die Bruchstücke bei Jonas kein entscheidendes Urteil zulassen. Doch ist auch hier die These, d a ß Denken die Geistestätigkeit sei, „welche sich durch die Rede vollendet" (Jon. S. 448), die richtunggebende Dominante gewesen. Das gleiche gilt von dem Entwurf des Jahres 1831, in dem der Satz: „Das Sprechen ist das Dasein des Denkens" (Jon. S. 492) das Leitmotiv aufklingen läßt, das

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dann in der Einleitung letzter Hand ¡mit einem mächtigen Fortissimo die Darstellung intoniert. Für die Edition ergeben sich hieraus unabweisliche Bindungen. Der Herausgeber ist nicht Vollzieher eines philologischen Geschäfts, durch das ein Konvolut von verstaubten Zetteln zur allgemeinen Kenntnis gebracht wird, sondern Vermittler und Neugestalter eines philosophisch bedeutsamen Sprachgeschehens. Was Schleiermacher von jeder philosophischen Rede verlangt: daß sie sich im Gegensatz zum undialektischen Satz als Selbstgespräch in einem fortgesetzten Prozeß von „Hemmungen des reinen Denkens" entwickelt, kann er mit Fug und Recht von der Wiedergabe seiner „Dialektik" fordern. Nicht die Paragraphen von 1814 dürfen den Kern der Dialektik bilden. Sie stellen noch chaotisch geballte Energien dar, für Schleiermachers Privatgebrauch bestimmt, um aus ihnen dem Geschehen des Selbstgespräches immer neue Nahrung zu geben. Wenn irgendeine der von Schleiermacher behandelten Disziplinen nach der Rekonstruktion des mündlichen Vortrags verlangt, so ist es die auf dem Boden dieses Postulates überhaupt erst lebensfähige Dialektik als Gespräch des Gesprächs. Erst, wenn wir in das gefügehafte Ganze solcher Vorlesung Einblick nehmen, erleben wir, wie einzigartig der Redner die regressive Methode der „Hemmungen", des immer wieder auf den Anfangspunkt Zurückgehens, meistert und eine wie große Sünde am Geiste Schleiermachers es ist, dieses Gefüge in eine Summe von Teilzitaten zu zerstückeln. Die Entscheidung für das Vorlesungsmaterial von 1822 ist damit aus systemimmanenten Gründen gerechtfertigt. Weitere Momente treten hinzu, um seine Bedeutung zu erhöhen. Die Vorlesung von 1822 setzt unmittelbar nach Beendigung des dogmatischen. Hauptwerkes ein und wird somit zu einer „wichtigen Urkunde", die „einen unverfälschten Einblick in die rein begrifflichen Grundlagen des theologischen Systems" gewährt (Wehrung, Dial. Schleiermachers. S. 162). Sie vermittelt ein tieferes Verständnis für das Wesen des religiösen Gefühls, worauf ich an anderer Stelle hingewiesen habe (Das Gefüge des religiösen Bewußtseins bei Fr. Schi. Blätter f. deutsche Philos. Bd. 8. S. 284—301). Vor allem aber ist zu beachten, wie stark ge-

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rade in diesem Jahr das Erlebnis des Sprachgeschehens in Schleiermachers geistigem Schaffen gewesen ist. Der Vorsatz, die über ein Jahrzehnt liegengebliebene Arbeit am platonischen Dialogos wieder aufzunehmen (vgl. Leben i. Br. IV. An de Wette v. 17. Aug. 1822), erhält seinen Anstoß durch die gleiche Idee, nach der sich auch die in diesem Sommer gleichzeitig gehaltenen Vorlesungen über Dialektik und Hermeneutik zu einer schöpferischen Einheit gestalten sollten. Es erübrigt sich nach Diltheys aufschlußreichem A u f satz (Die Entstehung der Hermeneutik. Ges. Sehr. V. S. 3 1 7 f f . ) , auf die Verdienste Schleiermachers um die Begründung einer philosophischen Auslegekunst einzugehen. Bedeutsam für uns ist, daß sich im Verlauf dieser beiden Vorlesungen bei Schleiermacher das Gefühl des wechselseitigen Angewiesenseins beider Disziplinen immer mehr verstärkt, womit die Aufgabe der Dialektik erst ins rechte Licht gesetzt wird. H e r m e n e u t i k i s t d e r G e g e n p o l z u r D i a l e k t i k . Beide Disziplinen als Fundamen tallehren von der Wirklichkeit des menschlichen Seins — „seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander" — zu begründen, ist Schleiermachers Lebensaufgabe. Das Heft von Saunier, das zugleich ¡mit der Dialektik auch eine Ausarbeitung der Hermeneutik-Vorlesung desselben Jahres enthält, bietet eine Fülle von Beispielen für diese umgreifende Polarität. „Rede und Verstehen stehen immer im Verhältnis zueinander, und beiden liegt der gedachte Zusammenhang zugrunde; je besser gedacht, desto besser verstanden. Dialektik und Hermeneutik gehen also hier miteinander" (Heft Saunier; vgl. auch Schi. Hermeneutik. W W . I. 7. S. 1 1 ) . Diese Polarität ist eine so innige, daß die hermeneutische Situation nicht erst nach Abschluß der Rede einsetzt, sondern als immanente Gegeninstanz jeden Moment des dialektischen Prozesses beim Bewegen des Wortes in Beziehimg auf die Sinntotalität des Sprachkreises durchwirkt (vgl. Schi. Herrn. S. 10). So fordert das Studium der Dialektik auch zugleich das der Hermeneutik. Daß dieser Forderung mit dem von Lücke edierten Material (WW. 1. 7) nach Diltheys Urteil noch immer „nur in einer sehr unwirksamen Form" entsprochen

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Friedrich Schleiermachers

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werden kann, gehört in das Kapitel der Gleichgültigkeit gegenüber dem geistigen Vermächtnis des Mannes. Mit alledem übernimmt der Herausgeber der Dialektik eine große Verantwortung. Dialektik und Hermeneutik sind polar gekoppelt. Dialektik als Gespräch des Gesprächs fordert zu ihrer Verlebendigung in gesteigertem Maße alle Kautelen heraus, die Hermeneutik und Kritik als bindend festgestellt haben Mag auch Schleiermacher die Kunst der hermeneutisch-dialektischen Rede meisterhaft geübt haben, so ist doch mit der Heranziehung der Nachschriften die Gefahr einer Sinnentstellung gegeben, die niemals völlig beseitigt werden kann, weil nicht überall der von Schleiermacher in das lebendige Wort gelegte Ausdruck dem Hörer „in der Totalität seines Sprachwertes bekannt" war (Herrn. S. 51). Lücke hat in seiner Einleitung zur Hermeneutik bemerkt, d a ß es nicht leicht gewesen sein müsse, „bei Schleiermacher ein gutes, vollständiges Heft zu schreiben", und daß sein Vortrag überwiegend so eingerichtet war, „ d a ß er mehr zu einer freien Auffassung und Nachbildung als zu einem wörtlichen Nachschreiben veranlaßte" (Herrn. S. IX). Das individuelle Moment des Nachschreibers auf ein Minimum zu reduzieren, ohne dabei im auswählenden Zugriff der eigenen Meditation zuviel Spielraum zu geben, d. h. die komparative und divinatorische Methode der Hermeneutik mit den Kautelen der Kritik, wie sie Schleiermacher gleichfalls entwickelt hat, zu vereinigen, ist oberstes Gebot, dessen Erfüllung aber nicht zuletzt von der Beschaffenheit des Quellenmaterials abhängt. Durch eine glückliche Fügung sind wir nun in den Besitz von vier Heften desselben begnadeten Jahres gekommen, von denen jedenfalls drei den Vortrag in seiner ganzen Entfaltungsbreite wiedergeben. Bei dem vierten herrschen zwar in der Einleitung und im formalen Teil stärkere Zusammendrängungen vor, doch kann es im transzendentalen Teil gleichfalls als authentische Unterlage benutzt werden. Dazu gesellen sich die Vorlesungsnotizen Schleiermachers aus demselben Jahre (C) und als weitere Kontrollinstanz einige von Jonas an verschiedenen Stellen seiner Ausgabe gebrachte Zitate nach dem Heft von Klamroth (18 Abschnitte, die im kritischen Apparat dieser Ausgabe an den entsprechenden Stellen nam-

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haft gemacht werden). Auf Grund dieses recht reichhaltigen Materials habe ich das Wagnis einer Rekonstruktion unternommen, wobei ich mich, wie die Textvergleichungen zeigen mögen, der gewissenhaftesten Sachlichkeit befleißigt habe. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß alles vermieden ist, was als unkritische Verschönerung, eigenmächtige Modernisierung des Stils oder gar gewaltsam interpretierende Korrektur des Satzgefüges anzusehen ist. Natürlich konnte weder auf eine sich in gehörigen Grenzen haltende Konjekturalkritik noch auf behutsam vorgenommene Stilglättung verzichtet werden. Es verhält sich mit der Konjekturalkritik ähnlich wie mit der Dialektik. Auch für sie gibt es nach Schleiermacher „keine positiven Regeln, sondern nur Kautelen" (Herrn. I. 7. S. 338). Das Wichtigste ist, ,,daß die Konjektur der hermeneutischen Operation genügen" muß (Herrn. S. 340), d. h., daß „das Verhältnis zwischen der Meditation und Komposition" des Redners deutlich hervortritt (vgl. Herrn. S. 153 u. 205). Maßstab für die Güte der Rekonstruktion sind solche schwierigen Stellen, wo Schleiermacher selbst noch nicht zur absoluten Klarheit zwischen Meditation und Komposition durchgedrungen war und dem Nachschreiber ein fast übermenschliches M a ß von Divinatorik zumutete, um, die Gedankenbewegung antizipierend, die Komposition verständnisvoll wiederzugeben. In solchen Fällen habe ich stets durch Abdruck aller in Frage kommenden Parallelstellen im Anhang'Rechenschaft abgelegt. Stilistische Änderungen nahm ich nur dort vor, wo offensichtliche Unbeholfenheit des Nachschreibers zutage trat. In jahrelangem Umgang mit dem Schrifttum Schleiermachers glaube ich die Fähigkeit erlangt zu haben, die Eigentümlichkeit seiner Ausdrucksform von der Unfertigkeit des studentischen Protokolls unterscheiden zu können. Varianten bedeutsamer Stellen sind in großer Auswahl gebracht worden und im Anhang nachzulesen. Wiederholungen im Vortrag Schleiermachers habe ich niemals gekürzt oder zusammengedrängt, weil sie ein wesentliches Moment im Oszillationsprozeß der Rede darstellen und stets Anlässe zu neuen spekulativen Impulsen sind. Die Freiheit, die sich Jonas bei der Behandlung der Kolleghefte nehmen konnte, „damit, was entzückte, wenn man es hörte, wenig-

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

stens erträglich sei, wenn man es liest" (Christi. Sitte. 2. A. S. XIII), durfte von mir nicht in Anspruch genommen werden. Ich tröste mich mit der Hoffnung, der Leser möge das Gedruckte so lesen, als ob er es höre, damit es ihn von neuem entzücke, d. h. er möge sich der Geistesart Schleiermachers anzupassen suchen, der es mit der „Gewohnheit der Alten" hielt, „eine Rede zu hören" und mehr fürs Ohr als fürs Auge zu schreiben (Hermeneutik. Heft Saunier). — So will also die vorliegende Ausgabe als dokumentarischer Bericht der dialektischen Leistung Schleiermachers gelten, wie sie zur Zeit seines fruchtbarsten Schaffens als lebendiges Geschehen hervorgetreten ist. 3. D a s h a n d s c h r i f t l i c h e

Material

a) S c h l e i e r m a c h e r s N i e d e r s c h r i f t e n Es folgt hier zunächst eine Übersicht über das gesamte handschriftliche Material zur Dialektik, das sich im Schleiermacher-Archiv der Preußischen Akademie der Wissenschaften befindet und zum großen Teil von Jonas für seine Ausgabe benutzt worden ist. Zu seiner Kennzeichnung bediene ich mich der von Jonas eingeführten Signierung. A. Zettelnotizen für die Vorl. 1811. Sie sind chronologisch einwandfrei bestimmt (vgl. Br. Weiß, Untersuchungen über Fr. Schl.s Dial. Ztschr. f. Phil. u. phil. Kritik. Bd. 73. S. 21). G r u n d h e f t 1814. Erste zusammenhängende, nach Paragraphen geordnete Niederschrift. Die Umschlagseite trägt die Aufschrift: Dialektik 1814. Darunter: angefangen d. 24. Oct. 1814, geendigt d. 18. März 1815. — 1818 angefangen d. 19. Oct., geendet d. —. 1822 angefangen d. 15. April, in 5 Stunden wöchentlich. — Die fortlaufend numerierten Leitsätze sind außerdem mit römischen Ziffern versehen, durch welche die Stunden angegeben werden. Zu den Leitsätzen gesellen sich — anfangs vereinzelt (bei den §§ 16, 19, 21), von § 86 ab fortlaufend — erklärende Korollarien, die von Schi, durch kleinere Schrift als solche namhaft gemacht sind. Aus der gleichmäßigen Ausfüllung des Zwischenraumes zwischen den einzelnen Leitsätzen läßt

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sich schließen, daß das Ganze in einem Zuge hintereinander geschrieben ist. In vereinzelten Fällen sind wohl mehrere Leitsätze zunächst ohne Korollarien niedergeschrieben worden. Dafür spricht die Tatsache, daß der Zwischenraum an einzelnen Stellen nicht ausgereicht hat, so daß die erklärenden Zusätze hier und da am Rande fortgesetzt wurden. E s kann sich aber auch um Nachträge aus späteren Jahren handeln. In der Theorie der Urteilsbildung werden die Zusätze spärlicher. Von § 311 ab fallen sie ganz fort. Zwischen den einzelnen Leitsätzen befinden sich größere Lücken, die nun nicht mehr ausgefüllt worden sind. Die Aufzeichnung der einzelnen Nummern hat nach der jeweiligen Vorlesung stattgefunden (vgl. Briefwechsel mit J. Chr. Gaß. Bln. 1852. S. 121). B. Zettelnotizen für die Vorl. 1818 (vom 19. Okt. 1818 bis zum 24. März 1819), aus fünfzehn Blättchen bestehend. Ihre Datierung erweist sich aus der Übereinstimmung mit der Kollegnachschrift dieses Jahres. Sie bringen zu dem Grundheft von 1814 nichts Neues hinzu und zeigen nur, daß sich Schi, in diesem Jahr fast ausschließlich auf dieses H e f t bezieht, es nur hier und dort durch Randbemerkungen ergänzt. Einige geringfügige von Jon. übersehene Sätze sind von Weiß hinzugefügt worden (Weiß, ebda. S. 19). C. (In der vorliegenden Ausgabe als laufender Begleittext zur Vorl. unter dem Strich gebracht.) Neue zusammenhängende Niederschrift für die Vorl. 1822 (vom 15. April bis zum 16. Aug. 1822), die sich paragraphenweise auf das Grundheft von 1814 bezieht. Auch sie führt eine mit den Vorl. übereinstimmende römische Numerierung, bricht aber mit Vorl. L I X ( = § 234 des Grundheftes) ab. Unter den Schluß sind die Worte gesetzt: Soweit war ich 1831 gekommen in 61 Stunden. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, daß auch noch 1831, wo ein neuer Ansatz (E) erfolgt, der Text von C und somit auch der des Grundheftes wenigstens zum Vergleich herangezogen worden sind. Es schließen sich dann in der ganzen Breite des Blattes die Notizen No. 62 bis 82 der Vorl. von 1831 an, die also zugleich als Ergänzung der 1822 nicht niedergeschriebenen Theorie der Begriffs- und Urteilsbildung gedacht sind.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

D. Fortlaufende Notizen zur Vorl. 1828, nach Stunden numeriert. Datierung außer Zweifel (vgl. Weiß S. 21). Sie stehen am Rande von C und brechen auch an der gleichen Stelle des formalen Teiles ab (mit der 59. Stunde). Ihre Fortsetzung finden sie mit der 68. Stunde am Rande des Grundheftes von 1814 (s. unten unter „Randbemerkungen"). E. Zettelnotizen für die Vorl. 1831 in der von Jonas und Weiß vorgefundenen Verfassung. Der formale Teil wird auf den leeren Blättern von C entwickelt (s. oben). F. (In der vorliegenden Ausgabe auf S. 1—44 wiedergegeben. Über den Zustand s. Anhang I dieser Ausgabe S. 467 ff.). G. Ein von Weiß aufgefundenes und veröffentlichtes Heft (Weiß, Anhang, S. 1—18) mit gelegentlichen Einfällen auf lose ineinandergelegten Bogen. Der Umschlag trägt die Aufschrift: Zur Dialektik 1 8 1 4 . Weiß liest diese Zahl irrtümlich als 1811 und glaubt, da die ersten Notizen unzweideutig auf die Jahre 1814 und 1818 verweisen, wenigstens den Rest Nr. 97—172 auf 1811 beziehen zu müssen. Äußerlich gesehen wäre diese Annahme insofern möglich, als mit Nr. 97 ein neuer Bogen beginnt, der später hineingelegt sein kann. Darüber hinaus äußert Wehrung die Vermutung (Dial. Schl.s S. 8), daß das Mittelstück (41—83) nochhinter die erste Fassung zurückzuverlegen sei. Diese Ansicht ist unannehmbar, weil der betreffende Bogen nicht mit Nr. 41, sondern mit Nr. 40 beginnt. H. Eine Reihe von Zetteln und Bogen, die Vorarbeiten zu F betreffend. Von Weiß durchgesehen und veröffentlicht. (In Anhang I der vorliegenden Ausgabe, S. 47off., ausgewertet.) b) D i e R a n d b e m e r k u n g e n Das Grundheft ist mit einer großen Zahl von Randbemerkungen versehen, deren Datierimg große Schwierigkeiten gemacht hat (vgl. Weiß a. a. O. S. 22 f f . u. Wehrung, Dial. Schl.s S. 6 f f . ) . Jonas hat bei einigen das Entstehungsjahr

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durch Vergleich mit den Nachschriften feststellen können. Die von Jonas auf 1818 gehenden Datierungen konnten von mir nachgeprüft und bestätigt werden. Wichtig ist die Entscheidung über die Bemerkungen, die bei § 256 (Jonas S. 202) beginnen und sich dann mit einigen Unterbrechungen von § 258 bis § 330 erstrecken. Jonas hat für ihre Datierung die Jahreszahl 1828 angegeben. Er unterließ es indessen, die ihnen von Schi, beigegebenen Stundenzahlen (68—74 und 76) hinzuzufügen, worauf Weiß aufmerksam gemacht hat. Auf Grund der vorhandenen Hefte ließ sich einwandfrei feststellen, daß diese Stundenzahlen weder mit dem Verlauf der Vorl. von 1818 noch von 1822 übereinstimmen. 1831 kommt nach der Niederschrift E gleichfalls nicht in Frage. Es handelt sich also unzweifelhaft um eine Fortsetzung der Vorlesungsnotizen von 1828 (D), die am Rande von C. mit der Vorl. 59 abbrechen. Schi, bediente sich dann offenbar zunächst wieder des Grundheftes und trug dort von der 68. Stunde ab seine veränderten Gedanken ein. c) D i e K o l l e g n a c h s c h r i f t e n An öffentlicher Stelle werden sechs Dialektik-Nachschriften aufbewahrt. Davon befinden sich vier im Schleiermacher-Archiv Berlin, eine in der Universitäts-Bibliothek Bonn, eine in der Universitäts-Bibliothek Göttingen. Für die vorliegende Ausgabe wurde nur das Material aus dem Jahre 1822 herangezogen. Doch sind vom Herausgeber auch die Kolleghefte von 1818 zu einem Ganzen verarbeitet worden, um den Kern eines späteren Ergänzungsbandes zu bilden. Für die Vorlesung

1818/19

1. Heft Z a n d e r (Schi.-Archiv). Ein graumarmorierter Pappband mit Rückenschildchen. 378 beschriebene Seiten, die Seite mit 33—38 Zeilen, die Zeile mit 17—20 Silben. Titel: Dialektik, vorgetragen von Fr. Schleiermacher im Winter 1818/19. Oben rechts die Notiz von Jonas: v.Herrn Prediger Sander in Biesdorf erhalten d. 4. April 35 (vgl. Dial. Jon. S. XI). Stempel des Literaturarchivs. Sehr ausführliche, zusammenhängende Darstellung in ziemlich schwer

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

lesbarer, abgekürzter Schrift. Keine Stundenimarkierungen. Auf den Rändern der Seiten eine große Zahl von Zusätzen. 2. Heft Friedrich B l u h m e (Univ.-Bibl. Bonn. Signatur: S 839). Ein 311+270 Seiten umfassender Halblederband, der im ersten Teil die Dialektik von 1818/19, im zweiten Teil die Ästhetik Schl.s von 1819 enthält. (Näheres inmeiner Ausgabe der Ästhetik Schl.s. Berlin 1931. S. XXXI.) F ü r d i e V o r l e s u n g 1822 1. Heft K l a m r o t h (Carl H e i n r i c h Ludwig Kl. aus Parlin b. Stargard i. Pommern. Vater Prediger. An der Univ. Berlin inscr. v. 8. 4. 1820—17. 8. 1822). (Schl.-Arch.) Heft mit graublauem Umschlag ohne Rücken in Quart. 316 beschriebene Seiten; die Seite mit 32—37 Zeilen, die Zeile mit 17—25 Silben. Titel: Dialektik, gelesen von Professor Schleiermacher. Berlin, im Sommerhalbjahr 1822. H. Klamroth. Am Ende der letzten Stunde: Geschlossen den 16. August 1822. Die einzelnen Stunden heben sich deutlich in Schrift und Tintenfärbung ab. Der Text ist lückenlos und gewissenhaft ausgearbeitet. Keine Vorl. fehlt. Einige Zusätze am Rande. Ausgiebige Verwendung von Sigeln und Wortkürzungen, die leicht entzifferbar sind. Das Heft stand Jonas zur Verfügung (vgl. Dial. Jon. S. X) und diente ihm als Unterlage für die Vorlesungszitate aus diesem Jahr. Die von Jonas zitierten Stellen sind im Anhang dieser Ausgabe namhaft gemacht. Die Textverkürzungen in den Zitaten stammen von Jonas, n i c h t vom Nachschreiber her. Klamroth wird in der Ausgabe der Pädagogik Schleiermachers von Platz als Superintendent tituliert. 2. Heft K r o p a t s c h e c k (Schl.-Arch.) ( J o h a n n G u s t a v Wilhelm Kr. aus Nowawes b. Potsdam. Vater Prediger. An der Univ. Berlin inscr. v. 5. 4. 1820—7. 9. 1825). Graumarmorierter Pappband mit rotem, bedrucktem Rückenschildchen. Quartformat. 197 beschriebene,Seiten; die Seite mit 34—39 Zeilen, die Zeile mit 27—35 Silben. Auf dem Vorsatzblatt Name des Nachschreibers mit Angaben über den Einband. Dazu von späterer Hand Hinweis auf die Ausgabe von Jonas (1839) und auf die Rezension dieser Ausgabe

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durch Weiße in den Jahrbüchern für wissensch. Kr. 1839. Titel: Die Dialektik, vorgetragen von H. Professor Schleiermacher im Sommersemester 1822. J. Kropatscheck. Die einzelnen Stunden sind mit genauem Datum versehen. Der Text ist lückenlos und in sauberer Schrift ausgearbeitet. Einige spätere Zusätze am Rande. Verwendung von leicht lesbaren Sigeln und Abkürzungen. 3. Heft S a u n i e r (Schl.-Arch.) (Johann Carl H e i n r i c h S. aus Berlin. Vater Prediger. An der Univ. Berlin inscr. v. 17. 8. 1821—8. 10. 1822. Als candidatus alumnus verstorben. Sehl, hielt die Grabrede [s. Schl.s Predigten. W W . II. 4. S. 869]). Graumarmorierter Pappband mit blauem Rückenschildchen. Quartformat. Enthält im ersten Teil die Dialektik von 1822 auf 184 Seiten, die Seite mit 28 Zeilen, die Zeile mit 13—17 Silben; im zweiten Teil die Hermeneutik. Titel des ersten Teils: Dialektik nach Schleiermacher, zum Theil in Auszügen im Sommer 1822. Darunter: durchgesehen und vervollständigt Frühjahr 1824. A m F u ß des Blattes die Namen: Saunier und (mit anderer Hand) Schirmer (wohl der spätere Besitzer des Heftes). In der Schrift klar mit vielen Abkürzungen und Sigeln. Auf den Rändern einige spätere Nachträge und Kapitelüberschriften. Der allgemeine Teil, etwa bis Vorl. 22, wird in gedrängter Form, der transzendentale Teil ziemlich wortgetreu wiedergegeben. Sehr ausführlich ist der religionsphilosophische Abschnitt. Im formalen Teil zeigen sich wieder stärkere Zusammendrängungen. 4. Heft S z a r b i n o w s k i (Univ.-Bibl. Göttingen. Standnummer: Cod. M. S. philos. i s . Geschenk des Herrn Prof. D. E. Hirsch, Göttingen, der es am 14. 6. 1941 aus dem Buchhandel in Leipzig erworben hat). (Franz Ludwig E d u a r d S. aus Bromberg [Posen]. Vater Stadtverordneter. Bei der jurist. Fakultät d. Univ. Berlin inscr. v. 18. 8. 1821 bis 10. 4. 1823.) Braunmarmorierter Pappband mit rotem Rückenschild. Quartformat. 335 numerierte, beschriebene Seiten, die Seite mit 28—30 Zeilen, die Zeile mit 15—17 Silben. Titel: Grundzüge der Dialektik nach Prof. Schleiermacher. Berlin, d. 15. April 1822. E. Szarbinowski. A m

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Friedrich

Schleiermachers

Dialektik

Schluß des Heftes das Datum: 16. August 1822. Auf dem Vorsatzblatt ein Vermerk von Prof. Hirsch (Juni 1941) über Qualität der Nachschrift und eine Zusammenstellung der auf 1822 bezogenen Vorlesungszitate in der Ausgabe von Jonas. Sorgfältige, gut lesbare, gleichmäßige Schrift mit einigen Sigeln und Wortkürzungen, die auf den ersten Seiten am Rande erklärt sind. Keine Stundenmarkierungen. Nicht überall gleichmäßig in der Qualität; hier und d a starke Sinnentstellungen. Verschiedene Lücken. 4. E r k l ä r u n g e n

zur ä u ß e r e n

Textgestaltung

Schleiermachers für den Druck bestimmte E i n l e i t u n g ( F ) ist der Vorlesung von 1822 vorangestellt worden (S. 1—44). Die Leitsätze sind durch kursive Schrift gekennzeichnet. Das T e x t b i l d der Vorlesung von 1822 will das Geschehen der Rede in lückenloser Entwicklung wiedergeben. Schleiermachers Notizen aus diesem Jahr (Beilage C) mußten deshalb unter dem Strich der Vorlesung parallel geschaltet werden. Die E i n t e i l u n g d e s S t o f f e s ergibt sich aus der von Schleiermacher selbst getroffenen Anordnung (Einleitung [wofür hier: Allgemeiner Teil], transzendentaler Teil, formaler oder technischer Teil). Weitere Einschnitte in den F l u ß des Vortrags zu machen, widerstrebte Schleiermacher. Zum Zweck einer schnellen Orientierung des Lesers sind vom Hg. in den laufenden Text abschnittweise K a p i t e l ü b e r s c h r i f t e n eingestreut worden, deren Formulierung in einigen Fällen Schleiermachers eigenen Marginalien oder den Nachschriften entnommen werden konnte. Die P a r a g r a p h e n v e r w e i s u n g e n in den Notizen Schleiermachers beziehen sich auf das Grundheft von 1814, das in der Ausgabe von Jonas vorliegt. Um die entwicklungsgeschichtlich vergleichende Arbeit zu erleichtern, sind auch den einzelnen Kapiteln im Text, soweit es angängig war, Paragraphenhmweise beigegeben worden; doch keineswegs im Sinne völliger Übereinstimmung. Schon die Ein-

Einleitung des Herausgebers

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leitüng von 1822 weicht erheblich von der Fassung der früheren Jahre ab, so daß eine Bezugnahme auf die Paragraphen von 1814 anfangs nicht möglich war. Auch in der weiteren Entwicklung des Vortrags ergeben sich mitunter erhebliche Differenzen, die Umgruppierungen und Ausschaltungen von Paragraphen zur Folge haben. Im übrigen sind diese Verweisungen für das Verständnis der ganz auf sich gestellten Vorlesung ohne Bedeutung. S p e r r u n g e n in der Vorlesung wurden vom Hg. auf eigene Verantwortung vorgenommen. Sie betrafen vor allem solche Stellen, an denen der Rhythmus der Gedankenbewegung sich zu einer undialektischen Aussage in Form von Regeln und Kemsätzen verdichtet. Die Z a h l e n neben den einzelnen Vorlesungen bezeichnen laufende Nummer und Jahrestag der betreffenden Stunde nach dem Heft von Kropatscheck.

Schleiermacher,

Dialektik.

III

INHALTSVERZEICHNIS Seite

Vorrede III—IV Einleitung des Herausgebers V—XXXIII Friedrich Schleiermachers Einleitung in die Dialektik . i—44 Dialektik Sdileiermadiers 1822 I. Allgemeiner Teil 45—121 Dialektik als Kunst der Gesprächführung 47—51 Wege der Gesprächführung 52—60 Untrennbarkeit von Prinzipien und Zusammenhang des Wissens 60—64 Unentbehrlichkeit der Dialektik 65—69 Dialektik und tätiges Leben 69—72 Verhältnis von Kunst und Wissenschaft 73—84 Zur Geschichte der Dialektik 84—91 Die neue Aufgabe der Dialektik 91—94 Voraussetzung und Methode der Gesprächführung . . 94—98 Zusammenhang zwischen höherem und niederem Wissen 99—110 Die Formen des Skeptizismus 110—114 Die beiden Hauptaufgaben der Dialektik 114—121 II. Transzendentaler Teil D i e t r a n s z e n d e n t a l e A u f g a b e im a l l g e m e i n e n Denken, Wollen und Empfinden Diebeiden Merkmale des Wissens Der Einfluß des Individuellen Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstand Die beiden Pole des Denkens Chaos und Sein Das Wechselverhältnis der beiden Pole im Prozeß des Denkens Neue Charakteristik des Wissens Die drei Stufen des Denkprozesses Verhältnis des Wissens zum individuellen Denken . Begriff und Bild •. . .

123—314 125—187 125—127 127—131 131—134 135—138 138—144 144—149 149—154 154—157 157—164 164—172 172—174 III*

XXXVI

Friedrich Schleiermachers Dialektik Seite

Real und ideal als höchster Gegensatz auf der intellektuellen Seite 174—178 Raum- und Zeiterfüllung als höchster Gegensatz auf der organischen Seite 178—183 Verhältnis des höchsten Gegensatzes zur transzendentalen Aufgabe 183—187 2. A u f s u c h u n g d e s s e n , w a s in d e r t r a n s z e n d e n t a l e n S e i t e der f o r m a l e n e n t s p r i c h t . . . Gegenseitige Beziehung von Begriff und Urteil . . Das Gebiet des Begriffs. Sein Zusammenhang und seine Grenzen Das Gebiet der Urteile. Urteilsarten und Urteilsgrenzen Verhältnis zwischen Begriffs- und Urteilsgrenzen . Die Identität der Grenzen in Beziehung auf das wirkliche Denken Die Denkgrenzen als Primär- und Finalvoraussetzung Die Einseitigkeit des Idealismus und Realismus . . 3. T r a n s z e n d e n t a l e E r ö r t e r u n g ü b e r d a s W i s s e n tinter der F o r m d e s B e g r i f f s Die Einerleiheit der Vernunft und die Lehre von den eingeborenen Begriffen Entstehung und Entwicklung der Begriffe . . . . Über das Sein, sofern es dem Begriff entspricht. K r a f t und Erscheinung Die höchste Kraft und der Irrtum der pantheistischen Konstruktion 4. T r a n s z e n d e n t a l e E r ö r t e r u n g ü b e r d a s W i s s e n u n t e r der F o r m d e s U r t e i l s Die Identität der Urteilsproduktion Das Urteil und die Gemeinschaftlichkeit des Seins Statische und dynamische Ansicht des Seins . . . Ein- und zweifaktorige Urteile. Wechselbeziehung zwischen Fürsichsein und B e i s a m m e n s e i n . . . . Die Polarität von Freiheit und Notwendigkeit . . Schicksal und Vorsehung 5. W i s s e n u n d W o l l e n u n d i h r e r e l a t i v e I d e n t i t ä t im G e f ü h l Kritik der vier Formeln für den transzendenten Grund Die Vorstellungen vom transzendenten Grunde und das Ideal des Wissens Die drei Wege zum transzendenten Grunde . . .

187—230 187—193 193—200 200—208 208—212 213—217 218—222 223—230 230—249 230—232 233—235 236—238 238—249 249—265 249—251 251—253 253—255 255—256 256—261 261—265 265—297 265—270 270—273 273—275

XXXVII

Inhaltsverzeichnis

Seite

Begründung des neuen Ansatzes vom Wollen her . 275—279 Das Wollen und der transzendente Grund . . . . 279—282 Sittengesetz und Weltordnung 282—286 Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewußtsein . . 286—294 Verhältnis von Philosophie und Religion 294—297 6. D a s V e r h ä l t n i s v o n G o t t und W e l t . . . . Der Wert der Formeln des transzendenten Grundes Der Unterschied im Transzendenzcharakter von Welt und Gott Theosophie und Philosophie Philosophie und Dogmatik III. Tedinisdier oder formaler Teil

297—314 297—302 302—307 307—3x0 310—314

. . . Einleitung Das Wissen in der Bewegung Das rezeptive und spontane Element im werdenden Wissen Die Idee der Welt und der Gottheit als konstruktive Prinzipien Konstruktion und Kombination des Wissens Das heuristische und architektonische Verfahren . . .

315—464 317—323 317—318

319—321 321—322 322—323

Erster Absdinitt T h e o r i e der K o n s t r u k t i o n oder der b r i n g u n g des D e n k e n s a l s W i s s e n

324—436

318—319

Zustande-

Vorbetrachtung D i e Z u s t ä n d e des W i s s e n s u n d der I r r t u m . . Verhältnis des Denkens zum Überzeugungsgefühl . . . Das vierfache Verhältnis des Denkens zur Idee des Wissens Der erste Mittelzustand: das Wissen um mein Nichtwissen Der zweite Mittelzustand: Nichtwissen um mein Wissen . Bedingtes und reines Denken Die skeptische Annahme als Durchgangspunkt zum Wissen Die Unvermeidbarkeit des Irrtums Der Irrtum im relativen Anfangspunkt Der Irrtum als Sünde Einseitigkeit des partiellen Wissens Der Vorrang der Theorie der Begriffsbildung

324—338 324—325 325—327 327—328 328—329 329—331 331—332 332—333 333—335 335—336 336—338 338

XXXVIII

Friedrich Schleiermachers Dialektik

Erste Abteilung T h e o r i e der B e g r i f f s b i l d u n g Das approximative Verfahren und die Einteilung der Begriffe Das Einteilungsprinzip. Subjekts- und Prädikatsbegriffe Der Begriff als schwebende Einheit Unterscheidungsmerkmale der Einteilungsglieder . . . a) Verhältnis zur Koordination und Subordination . b) Verhältnis zur Qualität und Quantität. Gradhaftigkeit Die Relativität des Gegensatzes und die Einseitigkeit des wissenschaftlichen Prozesses Kanon der materialen Differenz Die beiden Wege der Begriffsbildung Kanon der formalen Differenz Genesis des Begriffs. Der primitive Zustand a) Der Induktionsprozeß Das erste Moment des irrtumsfreien Ansatzes: das Wissenwollen Das zweite Moment des irrtumsfreien Ansatzes: die disjunktive Agilität Die Bestimmung der organischen Affektion durch die Vernunft Die Nominaldefinition als Resultat des primitiven Urteilsprozesses Das Kriterium der Umkehrbarkeit der Urteile . . . . Die Wahrheit der allgemeinen Bilder Die Sprache als allgemeines Bezeichnungssystem . . . Der Kanon des kritischen Verfahrens b) Der Deduktionsprozeß Die beiden Momente des Deduktionsprozesses Wechselbeziehung zwischen Deduktions- und Induktionsprozeß Die Regeln des Fortschreitens Die Regeln des Einteilungsprozesses, a) Dichotomie und Trichotomie. b) Die Quadruplizität der Einteilung . Fehler der Einteilung Das Ende des Teilungsprozesses Vergleichende Bemerkungen zur traditionellen Logik . .

Seite

338—408 338—34° 340—342 342—343 343—346 343—344 344—346 347 348 348—349 349—351 351—352 352—381 352—353 353—356 356—362 363—364 364—369 369—372 372—378 378—381 381—408 381—383 383—387 388—392 392—399 399—401 401—403 403—408

Zweite Abteilung T h e o r i e der U r t e i l s b i l d u n g 408—436 Übergang von den Denkgrenzen zur Form des Urteils . 408—411

XXXIX

Inhaltsverzeichnis

Seite

Unvollständiges, vollständiges und absolutes Urteil . . 411—412 Beziehung zwischen Urteils- und Begriffsbildung . . . 413—415 Über die Quantität der unvollständigen Urteile . . . 416—420 Stufen des unvollständigen Urteils 420—421 Kanon des vollständigen Urteils 421—423 Zur Einteilung der Urteilsformen 423—429 Die Theorie der Umkehrung 429—432 Das syllogistische Verfahren 432—436 Zweiter Absdinitt Vom Z u s a m m e n h a n g des Wissens. T h e o r i e Kombination Einleitung Die beiden Methoden der Verknüpfung Offenbaren und ursprüngliches Finden

der 437—464 437—440 437—438 438—440

Erste Abteilung Vom h e u r i s t i s c h e n V e r f a h r e n Allgemeine Charakteristik des heuristischen Verfahrens Die Gesetze der Kongruenz und der Analogie . . . . Beobachtung und Versuch Das individuelle Moment im heuristischen Verfahren . .

440—456 440—446 446—450 450—454 454—456

Zweite Abteilung Vom a r c h i t e k t o n i s c h e n V e r f a h r e n Theorie der philosophischen Komposition Dialektik und Mathematik

456—464 456—462 462—464

Anhang I Materialien zu Schleiermachers Einleitung in die Dialektik 465—484 Anhang II Materialien zur Textkonstituierung der Dialektik von 1822 485—544 Register

545—55®

FRIEDRICH SCHLEIERMACHERS

EINLEITUNG IN DIE DIALEKTIK

i

Inhaltsangabe der Einleitung- (F).X) § i.

s. 5—13

1. Bestimmung von 2 ) Denken. 2. Bestimmung von reinem 3 ) Denken nebst den beiden anderen, / dem geschäftlichen und künstlerischen Denken /. 3. Gesprächführung in den dreien 4 ). 4. Widerspruch zwischen Dialektik und Skepsis. 5. Folgerungen: a) vordialektisches Denken, b) aber kein gegebenes Wissen als Axiom, c) Geltung als Kunstlehre.

§ 2. S. 13—19 1. Dialektisches Verfahren nur unter Sprachgenossen. 2. Bestimmung von') Sprachkreis. 3. Dialektische Neigungsverschiedenheit. S. 19—23 § 31. Entwicklung des Begriffes der Beendigung des Streits. 2. Beziehung auf das Sein ist Bedingung des Streits. 3. Also ist auch die Dialektik bedingt durch die Beziehung des Denkens auf das Sein. § 4S. 24—32 1. Unmöglichkeit eines besonderen Anfangs des reinen Denkens. 2. Es gibt also weder dreierlei8) Standpunkte, noch uranfängliche Grundsätze des Wissens. 3. Das reine Denken tritt nur durch allmähliche Sonderung an sich hervor. / § 5- /') S. 3 3 - 4 4 /1. Das Geschäft der Dialektik hat seinen Ort im Gebiet des reinen Denkens. 2. Auch durch Auswahl angeblich streitfreier Sätze läßt sich kein Anfang konstruieren. / Die nachstehende Disposition (von § 1 bis § 4) rührt von Schi, selbst her und findet sich auf einem von Weiß mit Hf bezeichneten Zettel. Vgl. Anhang I, 2. A m Kopf des Zettels steht folgende Notiz: § 1, 5 / d e r Einl. Schl.s/ steht schon, daß kein Grundsatz aufgestellt werden kann, desgl., daß die Annahme der dialekt. Sätze selbst vorausgesetzt wird (worin Wissen). 2 ) Weiß irrtümlich: vom. s ) Weiß irrtümlich: vom reinen Denken. 4 ) Weiß irrtümlich: in dem reinen. 6 ) Weiß irrtümlich: und. •) Weiß irrtümlich: zweierlei. 7 ) Vom Hg. hinzugesetzt. 1*

§ I. Dialektik ist Darlegung der Grundsätze für die kunstmäßige Gesprächführung im Gebiet des reinen Denkens (i)*). Anm. Die hier gebrauchten Ausdrücke sind zwar im allgemeinen als verständlich (2) vorauszusetzen; allein, da sie in sehr verschiedenem Umfange angewendet werden, so sind doch einige Erörterungen nötig.

1. D e n k e n wird hier als die allgemeinste Bezeichnung der bekannten geistigen Funktion in dem weitesten Umfange genommen, so daß nicht nur das im engern Sinne so genannte Denken vermittelst der Sprache (3) darunter zu verstehen ist, sondern auch das Vorstellen oder das Beziehen sinnlicher Eindrücke und Bilder auf Gegenstände oder Tatsachen, mithin auch, was wir die Tätigkeit der Phantasie nennen, dem Denken nicht entgegengesetzt, sondern mit darunter begriffen wird. Ähnlicherweise wird auch der Ausdruck G e s p r ä c h f ü h r u n g (4) in dem weiteren Sinne verstanden, in welchem dabei nicht schlechthin wenigstens zwei denkende Einzelwesen vorausgesetzt werden, sondern einer auch Gespräch mit sich selbst führen kann, sofern nur zwei verschiedene und auseinandergehaltene Folgen von Denktätigkeiten wechselnd aufeinander bezogen werden. Wogegen, was man sonst auch wohl Selbstgespräch zu nennen pflegt, nämlich fortlaufende innere Rede oder Gedankenentwicklung ohne eine solche Entgegensetzung der einzelnen Bestandteile, vermöge deren sich einer im Denken wie zweie verhält, auch nicht hierher gehört (5). In beiden Fällen aber hält sich die Gesprächführung innerhalb des sprechenden Denkens (6). 2. Der Ausdruck r e i n e s D e n k e n bestimmt sich in der Unterscheidung desselben vom geschäftlichen Denken und vom künstlerischen Denken, sofern es nämlich keine andere Richtung gibt, in welcher gedacht wird, als diese drei. Zum *) Die Verweisungszahlen der Einleitung beziehen sich auf die Textvergleichungen mit Hd im Anhang I, 2 dieser Ausgabe.

6

Friedrich Schleiermachers Dialektik

geschäftlichen Denken, wobei letzteres Wort in dem weitesten Sinne genommen wird, rechnen wir alles Denken um eines anderen willen, welches dann immer irgendein Tun sein wird, ein Verändern der Beziehungen des Außer-uns auf uns (7). Und zwar können wir bei dem Außer-uns auch alles unterbringen, was in und an uns zwar, aber außer der Denktätigkeit ist, so daß, beginnend bei dem Bewußtsein, womit wir die Verrichtungen des animalischen Lebens begleiten und vorbereiten, bis zu den Selbstbestimmungen, wodurch wir unsere Herrschaft über die Natur und über andere Menschen befestigen und erweitern, alles zum geschäftlichen Denken gehört. Das künstlerische Denken hat mithin dieses mit dem reinen Denken gemein, daß es nicht um eines andern willen ist, und Denken ist auch hier im weitesten Sinne, indem das künstlerische Bilden nicht ausgeschlossen werden darf, zu fassen. Z u diesem Künstlerischen aber gehört alles Denken, welches nur unterschieden wird an dem größeren oder geringeren Wohlgefallen, so daß auch nur dasjenige, dem ein ausgezeichnetes Wohlgefallen beiwohnt, aus dem lediglich innerlichen, sei es nun eigentliches Denken oder Bilden, zur Mitteilung und Festhaltung hervortritt und ein äußeres wird. Das Denken und Bilden ist also hier, von dem im Traume/auftretenden/anfangend, bis zuden Urbildernkünstlerischer4 Werke sich steigernd, eigentlich nur der momentane A k t des Subjektes, durch den es sich auf bestimmte Weise zeitlich erfüllt, und nur das Lebendigste und Wohlgefälligste davon nach außen verbreitet. Wenn diese beiden Erklärungen nicht hinreichende Schärfe zu haben scheinen, um ebenso an die Spitze anderer Erörterungen gestellt zu werden, wie wir die von dem reinen Denken noch zu gebende an die Spitze der unsrigen zu stellen denken, so schadet das der beabsichtigten Unterscheidung nicht. Und wenn wenigstens die Frage noch übrigbleibt, ob diese verschiedenen Abartungen der Denktätigkeit streng entgegengesetzt sind, oder durch Übergänge vermittelt, so wird auch diese späterhin ihre Erledigung finden (8). Das r e i n e D e n k e n nun unterscheidet sich auf der einen Seite von dem geschäftlichen als nicht um eines andern, sondern um des Denkens selbst willen gesetzt (9), auf der andern Seite von dem

Schleiermachers Einleitung in die Dialektik

7

künstlerischen dadurch, daß es sich nicht auf die momentane Aktion des Subjektes, nämlich des denkenden Einzelwesens, beschränkt, mithin auch sein Maß nicht hat an dem Wohlgefallen an dessen zeitlichem Erfülltsein. Sondern indem es um des Denkens willen ist, hat jeder solche Akt sein Maß nicht nur an dem Fortbestehen desselben in und mit allen Denkakten desselben Subjektes, sondern auch an dem Zusammenbestehen des Denkens in diesem Subjekt mit dem Denken in allen andern (10). Schreiben wir nun einem Denken dieses Fortbestehen und Zusammenbestehen zu, so sagen wir: i c h w e i ß , und werden insofern sagen können, das reine Denken sei das Denken um des Wissens willen, indem wir den etwa noch anderweitigen Gehalt des Ausdrucks W i s s e n hier noch gänzlich dahingestellt sein lassen, sondern dadurch nur das Denken bezeichnen, sofern es als in allen dasselbe und mit allem veränderlichen Denken zusammen bestehend oder in demselben mit enthalten gesetzt wird, und alles Denken in dieser Richtung auf das Wissen ist das reine Denken. Es ist aber um des Wissens willen nicht in dem Sinne, als ob das Wissen ein anderes wäre, sondern weil alles reine Denken selbst Wissen werden will. Indem wir nun diese drei unterscheiden, das r e i n e D e n k e n als das in sich selbst bleibende und sich uns zur Unveränderlichkeit und Allgemeinheit steigernde, das g e s c h ä f t l i c h e , welches in dem Anderswerden von etwas oder in der Erreichung eines Zweckes sein Ende findet, und das k ü n s t l e r i s c h e , welches in dem Moment des Wohlgefallens zur Ruhe kommt, besorgen wir nicht, daß wir in der Folge bei der weiteren Betrachtung des reinen Denkens in Verwirrung geraten könnten mit einem andern zu keinem von diesen dreien gehörigen Denken, sondern bis uns ein solches aufgezeigt wird, behaupten wir, daß alles menschliche Denken in diesen drei Richtungen beschlossen ist. Ob aber auch alle drei ohne Unterschied in jedem menschlichen Einzelwesen anzutreffen sind, so daß die einzelnen sich nur durch ein verschiedenes Verhältnis dieser Richtungen unterscheiden, dies bleibe ebenfalls für jetzt dahingestellt, und nur dieses setzen wir fest, daß die Dialektik nur für diejenigen sei ( n ) , welche sich der Richtung auf das Wissen

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

oder des Wissenwollens bewußt sind, und sie soll auch nur für das Verfahren in dieser Richtung gelten. 3. Jede dieser drei Richtungen des Denkens hat nun auch eine ihr entsprechende Weise der Gesprächführung (12). Das freie Gespräch gehört überwiegend dem künstlerischen Denken an. Gehen wir aus von der Gedankenerzeugung als freier Tätigkeit des einzelnen (13) und von der Möglichkeit der Mitteilung des Gedachten durch die Sprache, so müssen wir auch ebenso voraussetzen, daß durch Mitteilung des einen die Gedankenerzeugung des andern teils erregt, teils, wenn sie schon im Gange ist, umgelenkt und anders bestimmt werden kann. Das freie Gespräch ist nun die auf diesem Wege durch gegenseitige Mitteilung sich entwickelnde Wechselwirkung, wobei das Verhältnis der Gedanken des einen zu denen des andern ihrem Inhalte nach so gut als gar nicht in Betracht kommt, sondern nur die allerdings durch das Wohlgefallen an der Mitteilung zu unterstützende erregende Kraft, welche die Gedankenerzeugung des einen auf die des andern ausübt (14). Dieses ursprüngliche, in jedem Zusammenleben sich bildende Gespräch (15) hat kein anderes natürliches Ende als die allmähliche Erschöpfung 1 des beschriebenen Prozesses, und kann also um so länger fortgesetzt werden, je mehr erregende Kraft den hervortretenden Gedanken einwohnt; aber es kann freilich jeden Augenblick übergehen sowohl in das geschäftliche Denken als auch in die Richtung auf das Wissen. Solange es nun nicht auf diese Weise seine Natur ändert, läßt sich eine andere Anweisung dazu nicht denken als die Kenntnis der Bedingungen, unter welchen Gedankenmitteilung durch die Rede Wohlgefallen erregt (16). Die Gesprächführung auf dem Gebiet des geschäftlichen Denkens ist dadurch bedingt, daß jemand zu seinem beabsichtigten Tun anderer bedarf, sei es nun, um es zu ihrem eigenen zu machen, damit sie übereinstimmend dazu mitwirken, oder nur um zu hindern, daß sie störend und hemmend entgegenwirken. In beiden Fällen kommt es darauf an, durch die Rede den Willen anderer zu bestimmen, und hier hat die Kunst der Überredung ihr eigentümliches Gebiet, wie sie überall im gemeinen Leben bei Verträgen und Beratungen aller Art geübt wird. Die Anweisung dazu aber

Schleiermachers Einleitung in die Dialektik

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ist bekanntlich in dem klassischen Altertum in der größten Vollkommenheit bearbeitet, zugleich aber von anderen Seiten für höchst gefährlich erklärt worden. Sie ist aber nur gefährlich, wenn sie sich nicht auf die Aufgabe beschränkt, wie die gewünschte Willensbestimmung mit dem mindesten Aufwand und doch zu beiderseitiger Zufriedenheit zu erreichen ist, sondern wenn sie durch das bloße Wohlgefallen gleichsam als Lohn für die Erregung desselben die Willensbestimmung erschleichen will, oder auf der anderen Seite dadurch, daß sie den Zusammenhang derselben mit dem eigenen Tun des andern auf eine solche Weise darstellt, wie er sich ihm hernach nicht bewährt. Beides ist eine Täuschung; in dem letzteren Falle aber besonders wird ein Schein des Wissens erregt, und nicht selten ist dieser Nebenzweig der Überredungskunst mit dem Namen Dialektik bezeichnet worden, ein Sprachgebrauch, welcher mit dem unsrigen nichts gemein hat. Die Gesprächführung endlich auf dem Gebiet des reinen Denkens in dem bereits angegebenen Sinn setzt eine Hemmung des reinen Denkens voraus entweder in einem, und dann entsteht S e l b s t g e s p r ä c h , oder zwischen mehreren in der reinen Gedankenerzeugimg sich Mitteilenden, und dann entsteht das e i g e n t l i c h e G e s p r ä c h . Denn setzen wir einen einzelnen im reinen Denken begriffen von einem ihm im obigen Sinne G e w i s s e n aus fortschreitend, so daß ihm jedes Folgende ebenso ein Gewisses wird, so entsteht, solange die Entwicklung ungehemmt fortgeht, kein Selbstgespräch, sondern eine fortlaufende innere Rede, deren einzelne Teile gleichmäßig unter sich und mit dem Ganzen gewiß sind. Ebenso, wenn diese Rede einem andern mitgeteilt wird, dem der Anfang schon gewiß ist, oder er wird ihm augenblicklich gewiß, und ebenso auch jedes folgende Glied der Reihe, so entsteht kein Gespräch, wenn man nicht die bloß begleitende Bejahung so nennen will; sondern ohne eigentliche Wechselrede wird in dem Aufnehmenden dasselbe, was in dem Mitteilenden war. Das Gespräch entsteht aber sogleich, wenn wir eine Hemmung setzen, als Selbstgespräch, wenn entweder von einem Gliede der Reihe aus zwei andere entstehen, die nicht zugleich gewiß werden wollen, und also ein Schwanken zwischen beiden, oder auch,

IO

Friedrich Schleiermachers Dialektik

wenn zwar nur ein Gedanke entsteht, um dessentwillen aber, wenn er gewiß sein soll, ein anderes, schon gewiß Gewesenes aufhören müßte, gewiß zu sein. Ebenso entsteht als eigentliches Gespräch, wenn von demselben Punkt aus dem einen Unterredner ein anderes Denken gewiß wird als dem andern, und beide Gedanken nicht zugleich gewiß werden wollen, oder wenn einer von beiden, damit ihm dasselbe wie dem andern gewiß werde, ein ihm schon gewiß Gewesenes als nicht mehr gewiß ausstreichen müßte. Diese Zustände nun sind die, welche wir durch die Ausdrücke Z w e i f e l und S t r e i t bezeichnen, ohne welche mithin das Bedürfnis unserer Disziplin gar nicht vorhanden sein würde, wie dieses auch die Geschichte derselben auf das bestimmteste nachweiset. Denn nur, wo der Streit schon war, und zugleich die Richtung auf das Wissen stark genug, und das reine Denken bestimmt genug von dem andern unterschieden, um den Streit rein in seiner Natur zu unterhalten, nur da hat die Dialektik entstehen und sich ausbilden können. Wo hingegen reines Denken und künstlerisches nicht recht auseinander treten, oder auch, wo es zwischen verschieden Denkenden keine Denkgemeinschaft gibt, sondern nur die einfache Mitteilung der selbständig Denkenden an die Aufnehmenden, da tritt keine Dialektik ans Licht (17). 4. Aber freilich nicht alle, welche den Streit kennen, wollen deshalb auch die Dialektik ausbilden helfen oder auch nur anerkennen. Vielmehr hat es in dieser Beziehung fast von jeher zwei entgegengesetzte Handlungsweisen gegeben, zwischen denen jeder, der sich im Gebiet des Streites findet, zu wählen hat (18). Die eine weiset alle Gesprächführung auf den Grund des Streites als vergebliche Mühe von sich. Dabei liegt die Voraussetzung zum Grunde, das beschriebene Entgegenstreben im Denken, da nämlich dem einen nicht gewiß werden will, was dem andern gewiß ist, bedeute nichts anderes als die in der Natur gegebene und auf keine Weise aufzuhebende Differenz, sei es nun mehrerer Einzelwesen oder auch nur mehrerer Momente in dem Leben desselben Einzelwesens. Keinem könne in einem Augenblick anderes gewiß sein, als ihm ist; denn dieses sei das unvermeidliche Ergebnis der jedesmaligen Umgebungen in seinem Dasein. Und weil jedem jedesmal das Seinige unvermeidlich

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sei, so sei jede Zusammenstimmung mehrerer im Gewißsein nur etwas Zufälliges und nicht zu erwirken. Diese Handlungsweise in bezug auf das Denken ist das W e s e n d e s f o l g e r e c h t e n S k e p t i z i s m u s (19). Die entgegengesetzte, welche wir, ohne einen neueren Gebrauch des Ausdrucks zu berücksichtigen, nur als das Gegenstück zu jener den D o g m a t i s m u s nennen (20), nimmt die Gesprächführung im Zustand des streitigen Denkens an und geht dabei offenbar von der Voraussetzung aus, daß das Entgegenstreben im Denken als ein Zerfallen der Denkenden unter sich solle beseitigt werden. Diese Handlungsweise allein bedarf mithin der Dialektik (21); die skeptische kann von derselben keinen Gebrauch machen. Indem wir also die Dialektik aufstellen wollen, scheiden wir uns von der Skepsis von vornherein und gänzlich. Man kann zwar hiergegen einwenden, die Skeptiker hätten allerdings eben auf dem Grund ihres Streits gegen die Dogmatiker mit denselben kunstmäßiges Gespräch"geführt; allein dieses ist entweder nur ein Schein, oder wenn mehr, nur eine Folgewidrigkeit. Es ist nur ein Schein, wenn der Skeptiker sich damit begnügt, nachzuweisen, daß seine Gegner unter sich uneins sind und die Aussagen des einen Dogmatikers die eines andern aufheben (22). Denn eine solche Nach Weisung ist keine Gesprächführung, sondern nur die Entwicklung der einfachen Aussage (23), daß der Streit noch nirgend beendigt ist. Will aber der Skeptiker seinem Gegner dieses gewiß machen, daß der Streit nicht könne beendigt (24) werden, dann freilich muß er Gespräch führen und auch kunstmäßig; aber von dem Augenblick an wird er sich selbst untreu. Denn er will nun selbst eine Zusammenstimmung im Denken erwirken, welche nicht zufällig und vorübergehend sei, und er muß hierzu voraussetzen, daß es im Denken, sowohl in dem Akt für sich, als im Fortschreiten von dem einen zum andern, etwas von jener Verschiedenheit der Einzelwesen nicht Affiziertes gebe, indem er sonst auch nicht einmal das eine Gespräch kunstmäßig, und so, daß es für alle gelten soll, führen könnte (25). — Indem wir uns nun gleich auf diesem Punkt von dem Skeptiker scheiden, behalten wir offenbar das Gebiet des reinen Denkens für uns allein (26). Denn wird kein in allen selbiges Denken angestrebt, weil

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nämlich jedes nur die Verschiedenheit der Einzelwesen ausdrückt, so gibt es auch keine Richtung auf das Wissen, und das Denken des einzelnen kann dann auch keinen anderen Wert haben als an und für sich betrachtet den auf der Skala des Wohlgefallens, und, wenn überall noch ein Zusammenhang angenommen werden soll, die Beziehung auf die anderweitigen Zustände des Subjekts. Jenes nun ist der künstlerische, dieses der geschäftliche; und wie keinen andern Wert, so kann der Skeptiker auch keine andre Kunst auf dem Gebiet des Denkens zugeben, als die, zu bewirken, daß er selbst und andere so denken, wie es ihm wohlgefällig und nützlich ist. 5. Soll nun die Dialektik sich ausschließlich auf das Wissen in dem angegebenen Sinne beziehen, und zwar so, daß sie den Zustand des Streites als vorhanden voraussetzt, und nur für diesen wirksam sein will, so können wir nicht auch behaupten, daß die Regung zum Wissenwollen von ihr ausgehe, und sie der notwendige Anfang alles Wissens sei; vielmehr setzen wir voraus, daß schon immer in der Richtung auf das Wissen ist gedacht worden. Ebensowenig aber haben wir ein Recht, irgendein Denken, als sei es schon ein vollendetes Wissen, zum Grunde zu legen. Vielmehr müssen wir von vorne herein als möglich annehmen, daß überall auf diesem Gebiet des Denkens um des Wissens willen gleichsam Stoff zu noch unentdecktem Streit vorhanden sei, welcher durch das neue Denken kann aufgeregt werden, wie ja die Geschichte der meisten Wissenschaften in ihren mannigfaltigen Umgestaltungen nichts anderes darbietet, als ein sich immer erneuerndes Zurückgehen auf früher für unstreitig gehaltene Vorstellungen und Sätze als auf streitig gewordene. Nur geben wir auf der anderen Seite ebenso gern zu, daß, wenn jemals alles seinem Motiv nach reine Denken sollte Wissen geworden sein, so daß aller Streit beseitigt wäre, und neuer nicht mehr entstehen könnte, sondern das Wissen sich durch das einfache Verkehr zwischen Mitteilenden und Auffassenden fortpflanzte und verbreitete, sie alsdann in der Form, wie sie in Beziehung auf den Streit dermalen aufgestellt werden muß, nicht mehr zur Anwendung kommen würde. In diesem Zwischenraum aber, das reine Denken als die Tatsache des Wissenwollens schon im Gange,

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aber das Wissen noch nicht vollendet, behauptet sie die Herrschaft auf diesem Gebiet als die Kunstlehre, nach welcher verfahren werden muß, so oft Streit entsteht, um ihn zu beseitigen. Denn Kunstlehre nennen wir jede Anleitung, bestimmte Tätigkeiten richtig zu ordnen, um ein A u f g e gebenes zu erwirken. Weil sie aber als solche, und zwar als Eine, das ganze Gebiet beherrschen soll, so darf sie nicht andere Methoden aufstellen für den einen und andere für den andern Streit, oder ebenso für diese oder für jene Streitende, sondern sie muß Grundsätze aufstellen, welche dieselben sind für alle und allem Streit angemessen, nicht um vorübergehend den einen Streitenden auf die Seite des andern hinüberzuführen, sondern um das zerfallene Denken zur Einheit des Wissens zu fördern. Jeder Erfolg dieser Art ist freilich dadurch bedingt beim eigentlichen Gespräch, daß beiden Teilen die dialektischen Grundsätze selbst gleich gewiß sind, und im Selbstgespräch, daß sie jedem in allen Momenten gleichmäßig gewiß bleiben, und nicht durch irgendeinen anderen reinen Denkakt selbst wieder in Zweifel gestellt werden. §2Die Dialektik kann sich nicht in einer und derselben Gestalt allgemein geltend machen, sondern muß zunächst nur aufgestellt werden für einen bestimmten Sprachkreis; und es ist im Voraus zuzugeben, daß sie in verschiedenem Maß werde anders gestellt werden müssen für jeden anderen (1). Wenn alles reine Denken, so wie der einzelne zuerst in diese Tätigkeit hineintritt, immer schon am Streit beteiligt ist, jedes förderliche Verfahren im Streit aber voraussetzt, daß die dialektischen Regeln den Streitenden gemeinsam geworden sind, so würden also diese — mit Ausnahme des Falles, wenn mehrere ohne vorangegangenen Streit in reinen Denkakten übereinstimmen — das erste sein, worin sich mit gegenseitigem Bewußtsein die Richtung auf das Wissen zu einem Resultat verwirklicht. Würden sie nun so jedem einzelnen, sobald sich in ihm die Möglichkeit des reinen Denkens ergibt, auch mitgeteilt, so wäre dadurch der Grund gelegt zu einer sich immer weiter verbreitenden Aufhebung alles Streites, selbst für den Fall, wenn manches, das von

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selbst übereinstimmend gedacht wird, auch selbst wieder streitig würde. Die Aussicht auf diesen E r f o l g wird aber sehr beschränkt durch obigen Satz, welcher noch der folgenden Erläuterungen bedarf (2). 1. Es gibt kein geschichtliches Zurückgehen auf einen Zeitraum, wo alle Menschen dieselbe Sprache redeten; sondern das älteste Gegebene ist das Getrenntsein der Menschen durch die Verschiedenheit der Sprachen, so daß das Gesprächführen ursprünglich nur zwischen Sprachgenossen vorkommt. Daher entsteht auch in jeder Sprache, wie sie sich allmählich als ein in sich abgeschlossenes Ganzes entwickelt (3), und die Richtung auf das Wissen darin hervortritt, der Streit, um den es sich hier handelt, und somit auch das Bedürfnis einer solchen Anweisung. Wenn daher eine Sprache in ihrem isolierten Zustand sich sonst vollständig entwickelt, aber keine Dialektik produziert, so beweiset dieses entweder, daß das Volk außer dem geschäftlichen nur zu freiem künstlerischem Denken aufgeregt ist, oder daß das reine Denken auf übereinstimmende Weise in allen, mithin ohne Streit, hervortritt. Treffen späterhin auch verschiedene Sprachgenossen zusammen, so muß sich doch immer jeder Streit in dem Gebiet der einen von diesen Sprachen festsetzen (4). Könnte nun angenommen werden, daß dasselbe Einzelwesen (5) mit einem anders Redenden in dessen Sprache denselben Streit ebenso führen könnte, wie mit einem Sprachgenossen in der eigenen, so wäre die Beschränkung, welche unser Satz ausspricht, ohne hinreichenden Grund. Allein wir dürfen, um uns vom Gegenteil zu überzeugen, nur den ältesten vorliegenden Fall dieser Art betrachten, ich meine den Übergang des Philosophierens von den Griechen zu den Römern (6). Das unsichere und ängstliche Ringen des übertragenden Cicero, zumal verglichen mit seiner Sicherheit, wo er über andere Gegenstände den Streit in der Muttersprache führt, verrät zu deutlich, daß ein Römer, dem der Wert des wiedergegebenen Griechischen (7) fremd war, auch bei dem Lateinischen nicht dasselbe denken konnte, wie einer, der zugleich auch vom Griechischen hergekommen war (8). Und dasselbe gilt notwendig auch von den dialektischen Ausdrücken selbst (9), daß sie überall ihren vollen Wert nur haben können für die Sprach-

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genossen selbst. Ja, es folgt noch weiter schon hieraus, daß, wenn auch bei der Lösung unserer Aufgabe in allen verschiedenen Sprachgebieten dieselbe Tendenz zum Grunde liegt und von demselben Standpunkt ausgegangen wird, die ganze Entwicklung doch nicht so dieselbe sein wird auch nur in ihren wesentlichsten Teilen, wie wenn dieselbe mathematische Formel in verschiedenen Sprachen ausgedrückt wird, wo allerdings nur die Laute verschieden sind (10). Selbst der Umstand, d a ß der Kreis von Ausdrücken, ans welchem wir Deutsche diese Untersuchungen zu führen pflegen (11), eine Menge (12) von griechischen und lateinischen Elementen in sich schließt, zu denen sich unsere anders redenden Nachbarvölker (13) ebenso verhalten wie wir selbst, übt auf die Verständigung in diesem Gebiet nicht so bedeutenden Einfluß aus, als man glauben möchte (14). Denn die Eigentümlichkeit einer Sprache wirkt auch bei der Auffassung jeder anderen mit; und schon wenn wir die Engländer und Franzosen beobachten, wie sie sich die wissenschaftliche Sprache der Alten aneignen, werden wir finden, daß ihr Resultat nicht ganz dasselbe ist wie das unsrige (15). Auch die Rücksicht auf diese angeeigneten Elemente kann daher nicht hindern, zur Begründimg unseres Satzes ganz allgemein auszusprechen, daß es auch auf diesem Gebiet in jeder Sprache solche Elemente gibt, welche irrational sind gegen andere Sprachen, so daß sie auch nicht durch eine Verknüpfung mehrerer Elemente dieser Sprachen genau wiedergegeben werden können (16). Kommen nun solche Ausdrücke vor, denen in einer anderen Sprache keiner entspricht, welcher genau denselben Wert hätte, so ist auch zwischen beiden eine unaustilgbare Differenz im Denken gesetzt. Im Gebiet unserer Aufgabe kann dieses gleich am Anfang der Fall sein mit den einem streitigen Satz oder Beg r i f f wesentlichen Elementen; aber ebenso auch noch am Ende bei den allgemeinen Bezeichnungen der Gruppen, unter welche alles Wissen zusammenfassend verteilt werden soll (17). Wenn nun an jenem Anfang und an diesem Ende, dann auch gewiß auf den zwischenliegenden Punkten überall mehr oder minder (18). Das Natürliche also ist, daß wir an der Lösung unserer Aufgabe nur für unsere Sprachgenossen (19) arbeiten; minder natürlich aber wäre freilich, wenn wir da-

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bei der anders sprechenden, doch auch im Wissenwollen begriffenen Menschen und unseres Verhältnisses zu ihnen so ganz vergäßen, daß wir behaupteten (20), eine Darstellung geben zu können, welche für alle Zeiten ausreichte und auch im Räume überall hin sich verbreiten und in allen Sprachen anerkannt (21) werden würde; wo nicht, so wäre auch darin keine erfolgreiche Richtung auf das Wissen und keine kunstmäßige Lösung des Streites. Aber wir verzichten auf eine solche Allgemeingültigkeit nicht nur wegen der Unzulänglichkeit unserer Mittel; sondern, wenngleich wir dadurch jenen Anspruch retteten, würden wir es doch für keine Verbesserung achten, wenn es nur e i n e Sprache gäbe für alle. Denn nur alle diese Abänderungen zusammengenommen (22) erschöpfen das Denken des menschlichen Geistes; und dasselbe System von Formeln sich überall geltend machen zu sehen, wäre ein schlechter Gewinn (23) gegen die weit reichere Aufgabe, die an verschiedenen Orten sich bildenden verschiedenen Methoden einander möglichst anzunähern, und sie nur so aufeinander zurückzuführen, daß einleuchtet, wie allen dasselbe zum Grunde liegt, und nur jede Sprache von einer anderen geistigen Eigentümlichkeit aus auch eine andere Natur und Geschichte zu betrachten hat (24). 2. Der Ausdruck S p r a c h k r e i s aber, dessen sich unser Satz bedient, ist beides, sowohl in seinem engsten als in seinem weitesten Umfange (25) zu nehmen. Denn einerseits bilden sich in jeder Sprache (26) von irgend bedeutendem Umfang, zumal für das Gebiet des reinen Denkens, wieder verschiedene engere Organisationen, je nachdem hier das eine, dort das andere besondere Gebiet des Denkens vorzüglich angebaut wird, und sich das Gegenüberstehende unterordnet ; ebenso aber auch, je nachdem das Bedürfnis, den Streit zu lösen, überwiegend von dereinen oder von der andern Seite her zuerst rege wird. Denn die Entwicklung trägt notwendig immer etwas und zwar Unausscheidbares von ihrem Ursprung an sich. Zwischen diesen verschiedenen Sprachorganisationen nun, mögen sie gleichzeitig sein oder aufeinander folgen, und mögen sie absichtlich im Prozeß des reinen Denkens hervorgerufen worden sein oder sich von selbst gebildet haben, so daß sie sich schon vorfinden, wenn die

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ersten dialektischen Versuche entstehen, ist alleraal das Verständnis gehemmt, wenn auch nur auf untergeordnete Weise. Aber je mehr dies sich verbirgt und je weniger die Verhandelnden bemerken, daß sie vermittelnder Zurückführungen bedürfen, um desto zahlreicher und heftiger entwickeln sich die Mißverständnisse (27). Auf der anderen Seite wiederum bilden auch mehrere Sprachen, bald mehr durch natürliche Verwandtschaft (28), bald auch durch gegenseitige Einwirkungen, eine größere, wenngleich losere Einheit, indem sie sich als eine zusammengehörige Gruppe von anderen ebensolchen Gruppen oder auch von noch ganz isolierten Sprachen bestimmter sondern, unter sich aber nach Maßgabe der Innigkeit und Vielseitigkeit ihres Verkehrs immer mehrere örter auszeichnen, von wo aus ihre Verschiedenheiten richtiger geschätzt und leichter ausgeglichen werden können. In diesem Sinne können wir sagen, daß alle Sprachen der westeuropäischen Völker, welche ihre erste wissenschaftliche Entwicklung an der lateinischen Sprache gemacht haben (29), nicht nur damals einen solchen Kreis bildeten, sondern die Nachwirkung davon dauert noch in verschiedenem Maße fort. Denn wenn sie sich gleich sehr bestimmt teilen in solche, welche sich überhaupt aus jener genährt und gebildet haben, so daß sie ganz und gar nur als Umbildungen derselben zu betrachten sind, und in solche, in denen das ursprünglich Volkstümliche auch auf dem wissenschaftlichen Gebiet wieder die Oberhand gewonnen hat, so besteht doch unter ihnen vermittelst der gemeinschaftlichen Geschichte ein innigerer Zusammenhang als zwischen einer von ihnen und etwa den slawischen. Ebenso, wiewohl zwischen uns und den Morgenländern der Sprachzusammenhang deutlich nachgewiesen ist, sind die Völker doch durch einen ganz anderen Entwicklungsgang gänzlich voneinander getrennt (30). Wir können mancherlei Anklänge finden für unsere Philosopheme in persischen und indischen Sprüchen und Dichtungen; aber mit den Nachkommen jener Geschlechter einen philosophischen Gang machen oder auf den Grund der Ergebnisse unserer Weisheitsschulen ein vorläufiges Abkommen zu gegenseitiger Verständigung mit ihnen abschließen wollen (31), das hieße das Unmögliche versuchen. Und doch stehen uns diese noch ohne Vergleich S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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näher als die Völker von anderer Farbe und Bauart (32), deren Sprachen auch schon von vorne her wie nach anderen Prinzipien gebaut erscheinen. Demohnerachtet dürfen wir auch von diesen nicht voraussetzen, daß gar kein Wissen auch in unserem Sinn in ihnen angelegt (33) und in der Entwicklung begriffen sei. Bedenken wir aber (34), wie schwierig, ja fast unmöglich es uns sein würde, inihreVerfahrungsart einzugehen, oder auch unsere Ergebnisse ihnen zugänglich zu machen (35), so ergibt sich schon von selbst, wie sehr wir uns jedes Anspruchs auf Allgemeingültigkeit entsagen müssen. 3. (36). Soll nun in unsrem Satz der Ausdruck Sprachkreis in seinem ganzen Umfange genommen werden, wie bereits gesagt ist, so wird dadurch die Frage, ob unsere Anweisung sich für den kleinsten oder für den größten einrichten soll, im voraus abgewiesen, weil sie es für beide soll; und die Sache liegt in dieser Beziehung folgendermaßen: Denken wir uns eine solche Betrachtung über das Gebiet des reinen Denkens irgend in einem Einzelwesen entstehend, so wird sie auch, insofern sie etwas Neues ist, notwendig einen eigenen Sprachkreis bilden, und in diesen nach der ihr einwohnenden Kraft mehr oder weniger andere Einzelwesen hineinziehen. Zuerst nun und am leichtesten wird dies mit solchen gelingen, die eben erst in dieses Gebiet einzutreten vermögen; dann aber werden auch solche folgen, welche sich an anderen Betrachtungen dieser Art schon versucht, sie sich aber nicht vollkommen anzueignen vermocht haben. Wie stark nun diese Anziehung werden wird, das hängt von dem Willen des Urhebers nur insofern ab, als dieser Wille als der reine Ausdruck jener Kraft anzusehen ist. Da sich aber die neue Betrachtung noch mit der gesamten übrigen Sprach- und Denkgenossenschaft im Streit findet, dessen Ausgang von den in der Umgebung vorhandenen Momenten abhängt, so kann der Urheber niemals bestimmen, wie weit sich seine Gedanken verbreiten werden; sondern indem sich seine Betrachtung auf diese Weise innerhalb der eigenen Sprache und deren Verschiedenheiten und teilweise schon dafür anerkannten Verwirrungen erhält und fortentwickelt, übt sie zugleich ihre Wirksamkeit in Bezug auf jenen größten Sprachkreis aus. Denn in dem ihr unmittelbar aufge-

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gebenen Streit wird sie doch auch auf das am weitesten rückwärts liegende gemeinsame Sprachgebiet zurückgehen müssen, und dadurch, was sie für jenen Umfang an Annäherungs- und Ausgleichungsmitteln entwickeln kann, auch unfehlbar wirklich zutage fördern. So daß dieser Teil der Gesamtaufgabe von jedem Punkt aus von selbst fortschreitet; und nur über einen zwiefachen Zustand dessen, der die Betrachtung anregt und beherrscht, ist folgendes zu bemerken. Der Sprachkreis, den jeder sich selbst bildet, ist offenbar der Ausdruck seiner Person, d. h. seiner eigentümlichen Art, als Denkender zu sein. Je mehr er nun alles in diesen hineinzuziehen strebt, um desto mehr betrachtet er sein Eigentümliches als das Maß und die Ordnung des Denkens überhaupt, oder auch umgekehrt; und dies ist das Zeichen eines beschränkteren Sinnes für das abweichende und ihm fremdere Denken. Je mehr hingegen ein solcher von der allgemeinen Freude an dem reinen Denken an sich ausgeht, um desto mehr wird er das Gemeinsame in dem Verschiedenen und das Ausgleichende in dem Streitigen aufsuchen und anerkennen; mithin seine Richtung ursprünglich auf die verschiedenen Sprachkreise haben, und indem er fast nur um ihretwillen den eigenen ausbildet, wird er eher an einem Mangel an Anziehungskraft für diesen leiden, und sonach seine eigentümliche Denkweise weniger geltend machen. Diese beiden Methoden, wenn wir sie so nennen dürfen, stehen einander gegenüber, und das Verhältnis, in welchem sie vorhanden sind, bestimmt den zeitlichen und örtlichen Gang der Entwicklung des reinen Denkens bald so, bald ananders von jedem einzelnen fruchtbaren Keime aus. §3Der Streit überhaupt setzt die Anerkennung der Selbigkeit eines Gegenstandes voraus, mithin überhaupt die Beziehung des Denkens auf das Sein. 1. Wenn wir, den Streit voraussetzend, ein bestimmtes Verfahren begründen wollen, um ihn aufzuheben, so müssen wir auch ein bestimmtes Ende desselben im Auge haben. Dieses aber kann kein anderes sein, als daß, was vorher von mehreren verschieden gedacht wurde, nun von denselben soll 2*

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einerlei gedacht werden. Denn wenn die Gesprächführung zwischen diesen mehreren das Ergebnis haben sollte, es müsse überall bei dem Verschiedendenken bleiben, so hätte sie zu der skeptischen Ablehnung geführt, und das Verfahren also sich selbst vernichtet. Aber auch in keinem einzelnen Falle kann ein solches Übereinkommen darüber, daß der Streit nicht zu beendigen sei, auf unserem Gebiet als ein schließliches angesehen werden. Denn das streitige Denken würde alsdann aus dem Gebiet des reinen Denkens hinaus in das geschäftliche oder künstlerische verwiesen, indem das Wissenwollen aufgehoben wäre. Vielmehr, soll das Denken noch ferner als ein reines gelten, so darf ein solches Abkommen nur als ein Vertagen bis auf günstigere Zeit getroffen werden. Als ein solches kann es vorkommen, vornehmlich, wenn sich im Verlauf ergibt, entweder, daß der Streit nicht eher entschieden werden kann, bis ein anderer noch unentschiedener geschlichtet ist, oder daß ein Denkakt zu Hilfe genommen werden muß, welcher zwar schon angeregt, aber noch nicht vollzogen ist. Denn in beiden Fällen bleibt der Streit noch im Gang, und nur die unmittelbare Förderung desselben ist ausgesetzt. Können wir nun kein anderes Ende im Auge haben, warum soll denn nicht lieber verschieden gedacht werden, da doch überall gedacht werden soll, und wenn mehrere Verschiedenes denken, doch mehr gedacht wird als wenn dasselbe? Offenbar wollen wir nur in dem Fall das Verschiedendenken nicht, wenn wir glauben, ein Denken sei nur eine scheinbare Vermehrung, indem ein anderes dadurch aufgehoben würde. 2. Dieses Aufheben aber kann gar nicht vorkommen, wenn wir nicht über das Denken selbst hinausgehen auf ein anderes. Denn so wenig überall etwas aufgehoben wird, wenn ich A denke, und ein anderer denkt B, ebensowenig auch, wenn ich A denke, und ein anderer denkt nicht A. Dann nämlich denkt er entweder gar nicht, oder er denkt irgend ein B; ja, es gälte auch gleich, zu sagen, er denke Nicht-A, indem auch dieses nur irgend ein Bist, und es gar keinen Grund gibt, das eine Denken dem andern entgegenzusetzen. Wir wollen aber, weiter gehend, den Gedanken selbst, A, und das davon Ausgesagte b, c, d, usw. unterscheiden. So wenig alsdann eine Hemmung entsteht, wenn der eine A als b denkt,

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und der andere A als c, ebensowenig auch, wenn der eine A als b denkt, und der andere denkt A als nicht b. Denn auch dieses ist, solange wir innerhalb des Denkens selbst bleiben, nur ein verschiedenes Denken, indem das A des einen offenbar ein anderes ist, nämlich ein mit b verträgliches oder es in sich schließendes, das A des anderen aber schließt b aus. Unter diese Formeln aber müssen alle noch so verschiedenen Fälle eingestellt werden können; und weiter als zu der Unterscheidung des Hauptgedankens und der Aussage kommen wir nicht innerhalb des Denkens allein. Mithin gäbe es auch unter dieser Bedingung keinen Streit, und unsere ganze Aufgabe hätte keinen Inhalt. Nun aber kennen wir alle als eine schon von je bei uns vorgekommene Tatsache das mit dem Denken über das Denken Hinausgehen und es auf ein anderes Beziehen, welches wir das Sein nennen, und welches sich uns von unseren Denkakten unzertrennlich von Anfang an ergibt als das von außen her zu unseren Affektionen Mitwirkende und von unserem Heraustreten nach außen Leidende. Wie denn eben dieses die älteste Erklärung des Seienden ist, es sei das zugleich Wirkende und Leidende. Indes gehen wir hier gar nicht auf diese Erklärung zurück, als die uns hier nicht geworden ist, sondern wir bleiben nur bei jener bekannten Tatsache stehen, um dadurch den Streit zu erklären und das Gebiet desselben zu bestimmen, und uns bewußt zu werden, daß die Stellung unserer Aufgabe und die Anerkennung jener Tatsache wesentlich zusammengehören. Denn nehmen wir diese Beziehung des Denkens auf das Seiende weg, so gibt es keinen Streit; sondern solange das Denken nur rein in sich bleibt, gibt es nur Verschiedenheit. Daher auch dieses Insichbleiben des Denkens der skeptischen Ablehnung zum Grunde liegt, und diese zunächst gegen die Beziehung des Denkens auf das Sein als auf ein anderes vielmehr das Sein mit in das Denken hineinzuziehen sucht. Sobald wir aber das Denken auf Sein als auf ein anderes, das nicht wieder Denken ist, beziehen, so sind alle Bedingungen des Streites gegeben. Denn der Streit erfordert ein Selbiges für beide streitenden Teile, und nur in Bezug auf ein solches kann gesagt werden, daß das verschiedene Denken in beiden nicht verträglich sei, sondern sich aufhebe. Wie nun diese Unverträglichkeit ohne jene Beziehung nicht

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ist, so tritt sie sogleich ein mit derselben. Denn zweie sind nur jm Streit, sofern sie ihr Denken auf ein von beiden gemeinschaftlich als dasselbige gesetztes Sein beziehen, und insofern das Denken des einen das des andern aufhebt. Wie wir aber den Streit nur finden zwischen dem in einzelnen Akten zeitlich verteilten Denken., so setzt er auch voraus, daß auf das Sein als ein geteiltes bezogen werde, so jedoch, daß es für mehrere Akte dasselbige bleibt, weil sonst wieder das Selbige aus zwei Akten verschwände, und sie nicht mehr könnten streitig sein. Dieses vereinzelte Sein nun, insofern darauf verschiedenes Denken bezogen wird, bezeichnen wir durch den Ausdruck G e g e n s t a n d . Und hieraus erst erklären sich die beiden oben angeführten Formen des Streits. Nämlich in der Formel ,Ab* im Gegensatz zu ,A nicht b' setzen beide denselben Teilungsakt des Seins, wodurch nämlich im Sein überhaupt A wird, und sind hierüber einig, das heißt: sie setzen A seiend, sie streiten aber über b, jedoch nicht an sich, sondern in Bezug auf A, indem der eine sagt: Im seienden A denke ich b, der andere: b kann ich nicht in das seiende A denken, ohne daß dieses als solches aufhöre. Dieses ist das sich aufhebende Denken, welches Aufheben aber sogleich selbst wieder aufgehoben wird, als wir die Beziehung auf das Sein herausnehmen. Die andere Formel: ,A ist', im Gegensatz zu der: ,A ist nicht', zeigt den weitesten Umfang des Streits. Denn indem hier der Denkinhalt A von dem einen entsprechend. gesetzt wird einem im Sein überhaupt abgeteilten, von dem andern aber nicht, so ist das Streitige der Teilungsakt selbst, und das als selbig von beiden Vorausgesetzte ist nur das Sein als zu teilendes, und die Beziehung des Denkens darauf. Das Aufgehobene ist irgend eine oder auch jede bisher zwischen beiden selbig gewesene Teilung des Seins, und dies ist das Maximtun des Streits. Denn wollten wir weiter greifend unter A nicht einzelnes, sondern den gesamten reinen Denkgehalt verstehen, so würde dann der eine diesem die Beziehung auf das Sein zugestehen, der andere aber absprechen, und beide hätten dann nichts mehr gemein, worauf ein Streit könnte bezogen werden; das heißt, dies wäre nicht mehr ein Streit innerhalb unseres Gebietes, sondern ein Streit um unser Gebiet selbst, über welchen wir

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uns daher schon entschieden haben, als wir in demselben, wenn auch nur als in dem Gebiet des Streites, unseren Platz ergriffen. 3. Folgt nun hieraus, daß Beziehung des Denkens auf das Sein die Bedingung alles Streites ist, und ist der Streit die eigentümliche Form der eigentlichen Gesprächführung auf dem Gebiet des reinen Öenkens, mithin die Voraussetzung der Dialektik, so ist auch die Beziehimg des Denkens auf das Sein Bedingung der Dialektik. So daß wir zu dem Früheren (§ 1, 2) hinzufügend sagen können: Denken gleichmäßig mit allen Denkenden aufs Sein beziehen wollen, Wissenwollen und im reinen Denken begriffen sein, dieses alles sei dasselbe, und das, worauf allein die Aufgabe der Dialektik sich bezieht. Sehen wir nun von hier aus noch einmal zurück auf unsere Zusammenstellung der verschiedenen Formen des Denkens, so ergibt sich, daß wir in dem Ausdruck ,Denken' für sich allein die Beziehung auf das Sein entweder gar nicht oder nur als eine unbestimmte gesetzt haben. Und anders erscheint sie in dem reinen Denken, wo sie sich im Wissen verwirklicht, mithin in einer Beschaffenheit des Denkens, anders in dem geschäftlichen, wo sie sich mittelst des Tuns, also in einer Beschaffenheit des Seins, verwirklicht. Ob nun in dem künstlerischen Denken auch, aber auf eine von diesen beiden verschiedene Weise, eine Beziehung auf das Sein stattfindet, oder ob sie dort überall nicht ist, diese Frage liegt außerhalb unserer Aufgabe, indem für uns diese Denkform schon durch die Unbestimmtheit dieses Punktes sich von den anderen beiden hinreichend unterscheidet. So wie auch dieses noch dahingestellt bleibt, ob unsere drei Formen einander so streng entgegengesetzt sind, daß, wo die eine sich zeigt, nichts von der andern sein kann, oder ob an jedem Denkmoment, welcher wesentlich der einen Form angehört, doch auch eine Beteiligung der andern möglich ist. Denn es genügt uns vorläufig festzustellen, daß, wenn irgend in einem geschäftlichen oder künstlerischen Denken etwas zugleich dem reinen Denken angehört, auf dieses auch die Dialektik ihre Anwendung finden wird, so wie umgekehrt, sofern an reinem Denken auch Künstlerisches wäre oder Geschäftliches, auf dieses nicht.

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§4Das reine Denken hat in keinem denkenden Einzelwesen einen besonderen Anfang für sich, sondern es ist, ehe es zu einem, gesonderten Dasein gelangt, in jedem einzelnen schon in und an dem anderen Denken vorhanden (i). Wenn in dem zweiten von den hier verbundenen Sätzen geradehin behauptet wird, was wir soeben nur als möglich vorbehalten haben, so liegt der Grund davon (2) in dem ersten Satz, welcher daher auch vorzüglich erörtert werden muß; indes wird auch die eigentliche Bedeutung des zweiten noch genauer auseinander zu setzen sein. 1. Gesetzt also, das reine Denken nähme seinen Anfang erst irgend wann, während die Denktätigkeit überhaupt schon länger im Gange ist (3), und gleichviel, ob sie ursprünglich anfinge in einem oder gleichzeitig in mehreren Einzelwesen (4), so müßte immer in diesen vorher nur, sei es nun viel oder wenig, aber nur geschäftliches oder künstlerisches Denken gewesen sein. Wenn aber auch wenig, soll doch nur irgend menschliches Verkehr auf diesen Gebieten bestanden haben, so ist auch beides schon gesprochenes Denken gewesen (5). Soll nun das reine Denken, welches doch auch, wenngleich vom Bilden anfangend, wesentlich immer gesprochenes sein muß, ursprünglich entstehen, so kann es doch nur zustande kommen entweder vermittelst derselben Sprachelemente, die auch auf dem geschäftlichen und, künstlerischen Gebiete schon im Gange sind, oder vermittelst ganz anderer. Läßt sich also nachweisen, daß keiner von beiden Fällen statthaben kann, so fällt damit auch die ganze Voraussetzung über den Haufen, und es bleibt, wenn überhaupt reines Denken sein soll, nichts übrig, als was wir bereits im zweiten Satz aufgestellt haben. Mithin müssen beide Fälle in dieser Beziehung geprüft werden. Nehmen wir nun zuerst an, zu dem eben entstehenden reinen Denken müßten lauter neue Sprachelemente verwendet werden, so müßte es dann auch in der Folge immer nur in solchen Sätzen und Reihenfolgen von Sätzen zu finden sein, welche ausschließend aus solchen Sprachelementen beständen, die erst von einer gewissen Zeit an um des Wissens willen wären gebildet worden. Und wir wollen hierbei nicht allein auf dem

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Ton bestehen, wie es bei neuen Zusammensetzungen der Fall ist, denn ursprüngliche Wörter werden nicht gebildet, oder auch bei Übertragungen von Wörtern aus anderen Sprachen. Sondern auch das wollen wir als neue Sprachelemente gelten lassen, wenn jemand hergebrachten Wörtern und Redensarten, wie dem An sich und Für sich u. dgl., ganz neue Bedeutungen unterlegt. Nim gibt es dergleichen Elemente viele in jeder nur irgend Wissenschaftliches enthaltenden Sprache; aber sie bilden nirgend ein ganz für sich abgeschlossenes und vollständiges Ganze, sondern erscheinen immer in den mannigfaltigsten Verbindungen mit solchen, die auch im gemeinen Gebrauch vorkommen (6). Mithin kann auch das reine Denken nicht in ihnen allein enthalten sein (7). Indessen, wollen wir auf diese, wiewohl gewiß allgemein anzuerkennende Tatsache noch kein entscheidendes Gewicht legen, sondern die Möglichkeit der Sache für den Augenblick zugeben (8), so könnte sie auf zweierlei Weise erfolgen. Entweder nämlich entsteht das reine Denken in und mit seiner eigenen Sprache gleichsam von selbst (9) als eine naturgemäße innere Erschließung des Geistes, oder es ist gesucht worden und wird kunstmäßig gefunden. Dies zweite aber zeigt sich sogleich als unstatthaft. Denn das Suchen läßt sich auch nicht ungesprochen vorstellen (10), sondern innerlich wenigstens muß es gesprochen sein, weil jedes Wollen innerlich gesprochen wird. Und da das Suchen dem reinen Denken vorangehen soll, so müßte es sonach sich ausgesprochen haben in der gemeinen Sprache. Dann aber muß entweder das reine Denken überhaupt auflösbar sein in die gemeine Sprache, der Annahme gänzlich zuwider, oder das Suchen ginge uns verloren (11), weil keine Vergleichung möglich wäre zwischen dem Gesuchten und dem, was uns während des Suchens im Denken wird. Also ohne Suchen und Methode müßte das reine Denken, gleichviel ob plötzlich oder allmählich, als ein streng in sich abgeschlossenes entstehen (12). Aber ein gemeinsames könnte es auf diese Weise weder ursprünglich sein, noch durch Mitteilung werden. Nicht durch Mitteilung werden, weil es anderen, in denen es nicht ebenso ursprünglich entstanden wäre, nur könnte verständlich und beifällig gemacht werden vermittelst der gemeinen Sprache. Dieses aber würde gegen die

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Annahme streiten; denn könnte es in der gemeinen Sprache mitgeteilt werden, so müßte es in derselben auch haben ursprünglich entstehen können. Aber auch ursprünglich konnte es nicht als ein gemeinsames werden. Denn gesetzt auch, es entstände in mehreren gleichmäßig, so gäbe es doch für diese, wenn sie nicht auch gegen die Annahme zur gemeinen Sprache ihre Zuflucht nehmen sollen, kein Mittel, sich zu versichern, ob sie auch wirklich dasselbe denken (13), oder ob ihre Töne zwar dieselben sind, der Sinn aber doch nicht. Was also übrig bliebe auf diesem Wege, wäre nur, daß es in vielen oder wenigen Einzelnen ein reines Denken gebe, abgesondert von allem anderen Denken, aber in jedem auch nur mit einer auf ihn allein beschränkten Gewißheit, also nicht mehr nach unseren obigen Bestimmungen als ein solches, das in allen Denkenden dasselbe sein und werden soll; sondern das reine Denken wäre ein seiner Natur nach ganz isoliert Persönliches, welches freilich jedem für sich könnte völlig gewiß sein. Aber jede Zusammenstimmung mehrerer Einzelnen in einem und demselben reinen Denken wäre nur eine zufällige. Gehen wir nun zu dem anderen Falle über; das reine Denken nämlich entstehe ebenso ursprünglich und als ein besonderes für sich, während das Denken überhaupt schon im Gange ist, aber doch in denselben Sprachelementen sich ausdrückend (14), so ist leicht zu sehen, daß dieser zweite Fall sich doch auf den vorigen zurückzieht. Denn die geforderte Sonderung zwischen dem früheren Denken und dem reinen, so daß dieses als ein neues und anderes einen eigenen Anfang nehme, kann doch unter dieser Bedingung nur bestehen, wenn wenigstens die Gebrauchsweise derselben Elemente in dem neuen Denken eine gänzlich verschiedene ist von der bisherigen. Denn sonst könnte das reine Denken in seinen ursprünglichen Ausdrücken aus dem bisherigen Denken erklärt werden, mithin müßte es auch in und aus demselben haben entstehen können (15), und wäre dann nicht ein Eigenes und Abgesondertes für sich, sondern nur eine Fortsetzung und weitere Entwicklung des früheren. Bildet also auch jemand eine Darstellung des reinen Denkens, wie es Wissen sein oder werden will, aus einer Mischimg von neuen Sprachelementen und neu gebrauchten mit schon üb-

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liehen in ihrer gewohnten Gebrauchsweise, wie dieses mit jeder Terminologie eines philosophischen Systems der Fall ist, so entspricht auch ein solches Verfahren nicht der Voraussetzung, daß dieses Wissen sich aus einem eigenen Anfang, mithin auch als ein in sich abgeschlossenes Besonderes entwickle. Kommen aber auch die schon in Übung gewesenen Sprachelemente durchaus nur in neuer Gebrauchsweise vor, so sind sie auch nur äußerlicher Weise dem Tone nach dieselben, mithin wird diese Selbigkeit etwas ganz Zufälliges und Bedeutungsloses, und der Fall geht gänzlich auf den ersten zurück (16), daß das reine Denken als ein völlig abgesondertes auch nur in einer ihm gänzlich eigenen Sprache erscheinen könne, welche Voraussetzung aber, wie wir gesehen, sich selbst aufhebt. 2. So wie wir uns also zuerst von der skeptischen Denkungsart losgesagt haben, so müssen wir uns nun auf dieselbe Weise, wenn unser Unternehmen seinen Fortgang haben soll, auch von diesem gänzlichen Isolieren des reinen Denkens lossagen, und dürfen uns in unserem weiteren Verfahren immer nur so auf dem zwischen diesen beiden Punkten liegenden Gebiet bewegen, daß wir außer Berührung mit denselben bleiben (17). Über die eigentliche Bedeutung dieser letzten Lossagung haben wir uns nun noch näher zu erklären. Es ist aber darin vorzüglich zweierlei enthalten: Zuvörderst: insofern alle solche Gegensätze, wie zwischen Erkenntnis und Vorstellung oder Wissen und Meinung, zwischen gemeinem Standpunkt und höherem Standpunkt, zwischen Spekulation und Empirie, und wie sie sonst noch ausgedrückt worden sein mögen, dahin gemeint sind, daß das eine Glied das übrige Denken insgesamt, das andere aber das reine Denken und eben dieses als ein so gänzlich von dem andern gesondertes (18) und ihm schlechthin entgegengesetztes bezeichnen soll, welches gar nicht aus dem andern entwickelt werden könne, so sagen wir uns von diesen Gegensätzen zunächst los, weil wir nach dem Obigen keine Möglichkeit zu kunstmäßiger Gesprächführung sehen zwischen solchen, die jeder ganz außer der Sprache des andern stehen. Denn zwischen solchen, in denen sich das Wissen zufälligerweise von selbst ganz auf gleiche Weise ausgedrückt hätte, würde eigentliche Gesprächführung schwerlich stattfinden. Denken

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wir uns aber entweder zwei Wissende, in denen sich aber das reine Denken verschieden ausgedrückt hat, oder einen Wissenden und einen, in dem das reine Denken sich erst entwickeln soll, so besteht nach Obigem zwischen beiden keine Sprachgemeinschaft. Wobei wir uns allerdings vorbehalten müssen in dem Gebiet des reinen Denkens, wie wir es in Zusammenhang mit dem übrigen setzen, dennoch untergeordnete Gegensätze nachzuweisen, und vielleicht auch sie mit ähnlichen Ausdrücken zu bezeichnen (19), wiewohl dieselben, sofern sie mehr bedeuten sollen, abgewiesen worden sind. Zweitens aber sagen wir uns ebenso von dem Verfahren aller derer los (20), welche, indem sie einen Inbegriff von Sätzen aufstellen, der das Wesentliche des Wissens (21) so enthalten soll, daß das Weitere sich daraus entwickeln läßt, mögen sie ihn nun Wissenschaftslehre nennen oder Logik oder Metaphysik oder Naturphilosophie oder wie sonst immer, hiebei einen sogenannten Grundsatz an die Spitze stellen als denjenigen, mit dem das Wissen notwendig anfange, und der selbst schlechthin angenommen werden müsse, ohne schon in früher Gedachtem enthalten gewesen zu sein oder daraus entwickelt werden zu können. Denn alle diese befinden sich in demselben Fall, daß sie alles, was von diesem Punkte ausgeht, gänzlich und zwar als das reine Denken von allem Übrigen isolieren, und ebenfalls so, daß das Gemeinsamwerden desselben nur als etwas Zufälliges betrachtet werden kann und lediglich davon abhängt, ob andere bei den Ausdrücken jenes Satzes dasselbe denken und ihn, so wie er mitgeteilt ist (22), als ihren eigenen (23) nachbilden können. Sagen wir uns daher von der gänzlichen Isolierung des Wissens los, so können wir auch dieses Verfahren weder loben noch selbst nachahmen (24). Wir werden vielmehr behaupten müssen, daß solche Versuche sich mit gleichem Recht immer aufs Neue wiederholen können (25), ohne daß die Lösung des Streites dadurch im geringsten weiter gedeiht, wenngleich jeder neue Versuch immer in der bestimmten Hoffnung unternommen wird, daß er allem Streit ein Ende machen werde. Wenn wir nur erwägen, wie solche Anfänge entstehen, in solchen einzelnen nämlich, die mehr oder weniger von allen früheren Versuchen dieser Art

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angeregt sind, also als Produkte alles Früheren in ihre eigentümliche Persönlichkeit, so muß einleuchten, daß, wenn die Aufgabe ungehemmt in Anregung bleibt, immer mehrere und mehr voneinander verschiedene Anfänge in den so bearbeiteten Denkern keimen müssen. In demselben Maß aber, als sich die empfängliche Masse unter diese verteilen kann, muß auch der Einfluß, den die Anziehungskraft eines Einzelnen auf seine Mitwelt ausüben kann, immer schwächer werden, so daß der spätere Meister bei ganz gleicher innerer Kraft sich doch nur einen kleineren Teil derer, die an der Sache teilnehmen, wird aneignen können, als ein früherer vermochte. Bedenken wir nun noch, daß diese Anfänge, wenngleich aus dem Tiefsten der Begeistung hervorgehend, doch ihrer Entstehungsart nach, da sie eigentlich, um es herauszusagen, Einfälle sind, sich ganz dem Gebiet des freien oder künstlerischen Denkens anschließen, so werden wir keinen großen Anstand nehmen dürfen zu erklären, daß die weiteren Entwicklungen solcher Anfänge, so betrachtet, einen hohen Wert haben können als Kunstwerke, demohnerachtet aber eher geeignet sind, Übergänge zu bezeichnen aus dem künstlerischen Denken in das reine, oder, wenn man will, aus der Poesie in die Philosophie, als daß sie für Darstellungen des Wissens selbst gelten dürften. Wobei sie allerdings in vollkommen gutem Recht sein können gegen Versuche anderer Art, die sich ihnen gegenüberstellen, und die nur als Übergänge aus dem geschäftlichen Denken in das reine anzusehen sind. 3. Was wir nun aber an die Stelle jener Isolierung des reinen Denkens setzen wollen und wie dies zu verstehen sei, daß es früher in den beiden anderen Richtungen des Denkens mit enthalten ist, als es allein aufzutreten vermag, das bleibt nun noch näher zu erklären. Wir gehen nämlich davon aus, daß die drei Richtungen des Denkens gleich ursprünglich sind, weil alle dreie dem Leben des Menschen wesentlich, daß sie sich aber erst allmählich bestimmt voneinander scheiden, so jedoch, daß, sobald wir je zwei derselben voneinander unterscheiden können, wir auch die dritte an ihnen und mit ihnen finden (26). In den ersten menschlichen Zuständen sind die Keime, daß ich so sage, zu diesen drei Richtungen so chaotisch ineinander, daß uns eben deshalb diese

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Zustände in ihrer Verworrenheit noch an die Bewußtlosigkeit zu grenzen scheinen. Sobald aber die Empfindungs- und Begehrungszustände einen begleitenden Ausdruck gewinnen, der uns, gleichviel jetzt, ob mit Recht oder Unrecht, nicht mehr als eine rein mechanische Rückwirkung erscheint, so setzen wir voraus, daß diese Zustände vorgestellt werden (27), und dies schreiben wir dem geschäftlichen Denken zu, insofern dieses die Verhältnisse zwischen dem Einzelwesen und seinen Umgebungen insgesamt ausdrückt, sowohl wie sie sind, als wie sie angestrebt werden (28). Gleichlaufend hiermit, wo wir ein Träumen voraussetzen unabhängig von mechanischer Wirkimg eines inneren Empfindungszustandes, da würden wir die ersten Spuren der freien oder künstlerischen Richtung als ein inneres Bilden erkennen, wenn nur nicht der Traum als ein sich jedesmal von dem stetigen Verlauf des Denkens ausschließender Zustand auch von unserer Betrachtung ausgeschlossen bleiben müßte (29). Sobald nun aber, nachdem Schlaf und Wachen vollkommen auseinander getreten sind, auch im Wachen analoge Bilder und Vorstellungen entstehen, und von jenen anderen, die auf festgehaltenen Sinneseindrücken beruhen, unterschieden werden, als nicht die Wirklichkeit des Seins zu ihrem Maß habend, so sind diese in Wahrheit schon als das freie Bilden und Vorstellen gesetzt, woraus sich weiterhin die Anfänge zu künstlerischen Hervorbringungen entwickeln, ebenso wie in den andern schon die Elemente des geschäftlichen Denkens gesetzt sind. Diese Unterscheidung aber beruht lediglich darauf, daß in den zuletzt erwähnten immer zugleich schon Gegenstände fixiert werden, womit eben das freie Vorstellen nichts zu tun hat, vielmehr sich als eine Negation des Gegenstandsetzens verhält und nie ein anderes als die vorstellende Tätigkeit selbst ankündigt. In dem Setzen der Gegenstände und des Vonaußenbestimmtseins aber ist schon eine Richtung auf das Wissen und auf das Bestimmen des Seins. Denn das eben beschriebene Interesse des Subjekts hat es nur mit den Zuständen desselben zu tun, wie sie durch die momentanen Veränderungen des Außer-ihm bestimmt werden. Daher wir zwar hernach, wenn wir dieses Interesse handhaben, wohl das Dasein der Gegenstände voraussetzen können, aber diese Tatsache des Bewußtseins, daß

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wir Gegenstände setzen, kann nicht in ihm ihren Ursprung haben. Ebenso, wenn sich in dem freien Vorstellen das Bestimmtsein von außen verneint, wird nicht zugleich mit verneint, daß es mit denselben allgemeinen Gestalten behaftet und darunter befaßt sei, unter welchen auch Dinge gesetzt werden; denn freie Bildungen, welche sich fern von diesem Gebiet halten, wie die verschiedenen Zusammensetzungen von Mensch und Tier, die geflügelten Menschengestalten und dergleichen, so wie auf der andern Seite, was wir mit dem Namen der Arabeske zu bezeichnen gewohnt sind, reihen wir noch näher an die träumerischen Spiele an. Der wahre Gehalt dieser Sonderung aber ist offenbar der, daß in jenen Tätigkeiten das freie Bilden dem reinen Denken verwandt gesetzt ist, in diesen aber nicht (30). Ist nun das reine Denken seinem Keime nach schon in dem Setzen von Gegenständen oder Dingen, so können wir es auch schon auf das Stichen derselben zurückführen, ich meine auf das willkürliche Umherschweifen des Auges, welches einesteils dem geschäftlichen Denken angehörig den Lichtreizen folgt, zugleich aber auch dem reinen angehörig das Seiende begehrt (31). Und ebenso, ist das reine Denken schon in dem Unterscheiden phantastischer Bildungen des freien Vorstellens von den bereits aufgenommenen Formen des Seins angemessenen freien Bildern, so ist es auch schon in dem auf dieselbe Weise zustande kommenden Festhalten der Wahrnehmung, welches auf der einen Seite dem freien Bilden angehörig diesem Elemente darbietet, auf der anderen Seite aber, von dem reinen Denken ausgehend (32), sich zu den allgemeinen, auf mannigfaltige Weise verschiebbaren Bildern steigert (33), welche wir auch Schemata nennen, und nach denen sich dann die einzelnen Wahrnehmungen gruppieren. In diesem Sinne behaupten wir, ohne durch das, was hier nur beispielsweise aufgenommen ist, etwas für die Folge erschleichen zu wollen, daß die Richtung des reinen Denkens sich schon in jenen frühen ungesonderten Zuständen offenbart, zu einer Zeit, wo sie in vereinzelter Selbständigkeit noch nicht heraustreten kann, weil sie dem eigentlichen, d. h. dem sich aussprechenden Denken noch vorangehen.

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Denn die Selbständigkeit des reinen Denkens ist an den Besitz der Sprache gebunden; und weiin sie sich hier zuerst vielleicht auf ausgezeichnete Weise in dem Gebrauch solcher allgemeinen Benennungen zeigt, welche nicht nach den Beziehungen der Dinge zu dem Menschen, sondern nach deren inneren Verhältnissen unter sich eingerichtet sind, so sind dieses doch nur Fortentwicklungen jener früheren Momente (34). Will man also, diesen Punkt übergehend, erst weiterhin irgendeinen Akt als den Anfang -des reinen Denkens setzen, so wird sich immer nachweisen lassen, daß dieser selbst schon auf Früherem ruht, worin das reine Denken auch schon gewesen ist. Wir können mithin dieses nur auffassen als eine ursprünglich sich fortschreitend in allem Denken realisierende Richtung. Und wie dasselbe in seinem ganzen Verlauf immer zugleich für die beiden anderen ist, als welche sich immer nur an den Resultaten des reinen Denkens fortentwickeln, so ist es auch von Anfang an ebenso in ihnen gewesen, wie es auch ursprünglich für sich war. Wie denn auch auf der andern Seite, nur daß diese Beziehungen hier nicht aufzunehmen und weiter durchzuführen sind, schon aus dem Gesagten geahndet werden muß, daß in jedem Akt des reinen Denkens auch die beiden anderen Richtungen immer auf irgendeine Weise mitgesetzt sind. Und wenn jetzt nichts leichter ist, als in dem entwickelten Zustand des Bewußtseins an jeder Tätigkeit zu unterscheiden, was der einen und was der andern Richtung des Denkens angehört, so tritt doch diese Bestimmtheit aus der Verworrenheit der frühesten Bewußtseinszustände nur so allmählich hervor, daß es nicht möglich ist, zwei aneinander liegende Momente nachzuweisen, in deren erstem das reine Denken noch nicht gewesen, in dem andern aber schon sei, mithin können wir immer nur von der Annahme avisgehen, daß das Wissenwollen schon in den ersten Lebenstätigkeiten des Menschen immer mitgesetzt ist, wenngleich nur als ein kleinstes, und daß es sich stetig fortentwickelt, ohne sich, ohnerachtet aller Veränderungen, die es durchgeht, jemals so loszureißen, daß irgend ein neuer Anfang alles Frühere gleichsam ungeschehen machte und zerstörte (35).

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§ 5Eine Anleitung von jedem Punkt aus, auf welchem, wir uns im reinen Denken finden, den Streit aufzulösen, mithin das Wissenwollen seinem Ziel zuzuführen, kann nur mit dem Versuch beginnen, wie aus dem Gehalt jeder reinen Denktätigkeit ein außer dem Streit liegendes Denken entwickelt und gesondert werden kann. i. Vor der näheren Erörterung dieses Satzes muß erst ein Bedenken aus dem Wege geräumt werden, wozu vielleicht das früher Gesagte die Veranlassung geben kann. Man könnte nämlich sagen, die Dialektik, wie wir sie § I bestimmt haben, sei allerdings etwas sehr Nützliches und auf dem Gebiet des reinen Denkens in jedem einzelnen Falle, wenn ein Streit wirklich entsteht, wohl zu gebrauchen, ja unentbehrlich ; auch könne sie wohl auf die hier gestellte Voraussetzung zurückgehen, und sie irgendwie zum Grunde legen; nur streitfreies Denken selbst zu entwickeln, das dürfe nicht ihre Sache sein, indem diese Aufgabe innerhalb des Gebietes des reinen Denkens selbst liege, die Dialektik aber, jenachdem man es nehmen wolle, dem geschäftlichen oder dem künstlerischen Denken angehöre, welche beide wir selbst von dem reinen gesondert hätten. Denn auf der einen Seite sei es ein Geschäft, den Streit zu schlichten; mithin müßten auch alle dabei anzuwendenden Regeln die Natur des geschäftlichen Denkens an sich tragen. Auf der andern Seite, könnte man sagen, liege diesem Geschäft das Wohlgefallen an der zunehmenden Übereinstimmung zum Grunde. Sofern also die dialektischen Regeln allerdings auch aus dem Wesen dieses bestimmten Geschäftes zu nehmen wären, würden sie dem künstlerischen Denken anheimfallen. Denn die Schlichtung des Streits sei auch ein solcher momentaner Akt, in welchem das Subjekt auf diese besondere Weise durch das Bewußtsein der wiederhergestellten Übereinstimmung zeitlich erfüllt ist, und die dialektischen Regeln könnten gar wohl, wie andere technische Sätze, auf guten Beobachtungen darüber beruhen, auf welchem Wege dieses Bewußtsein zu erreichen sei. Da aber nach § 3 das reine Denken in der Beziehung auf das Sein zunächst sein Wesen hat, so könne streitfreies Denken in diesem Sinne zu entwickeln S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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niemals das Geschäft der Dialektik sein, die es nur mit den Verhältnissen der im Akt des Denkens begriffenen denkenden Subjekte zueinander zu tun hat. — Beides nun, sowohl, d a ß die Schlichtung des Streites als ein Geschäft betrachtet werden kann, als auch, d a ß die dialektisch bewirkte Übereinstimmung ein Wohlgefallen, erregt, welches dem an Kunstwerken ähnlich ist, hat eine untergeordnete Wahrheit. Aber es liegt darin nur die besondere Anwendung dessen auf die Dialektik, was wir schon f ü r alles reine Denken beiläufig zugegeben haben: d a ß nämlich in demselben die beiden anderen Richtungen immer zugleich mitgesetzt sind. Denn denken wir uns eine Zusammenstellung von streitfreien reinen Denktätigkeiten zu einem Ganzen, so wird auch diese ein solches Wohlgefallen erregen, ohne d a ß daraus gefolgert werden dürfte, d a ß diese Denktätigkeiten, ihrem Gehalt nach betrachtet, keine Beziehung auf das Sein hätten. Ebenso könnte man jede Ausfüllung eines vorher nur im allgemeinen gesetzten Ortes im Wissen, wie" z. B. die ordnungsmäßige Zusammenstellung der verschiedenen Formen des irdischen Lebens, um so den Begriff des Lebens auszufüllen, als ein Geschäft ansehen. Mithin ließe sich auf dieselbe Weise jedes Verfahren im reinen Denken bei den andern beiden Formen unterstellen, woraus schon hervorgeht, d a ß die Einwendung zuviel beweiset. Denn niemand, der nicht dem Skeptizismus huldigt, wird sich dadurch abhalten lassen, das reine Denken als eine dritte, von jenen beiden verschiedene Richtung im Denken anzuerkennen. Wollen wir aber der Einwendung auch geradezu entgegentreten, um so der Dialektik ihren Ort im Gebiet des reinen Denkens und damit zugleich auch das Recht zu jenem Versuch zu sichern, so dürfen wir nur die Beschaffenheit des Geschäfts und der Verhältnisse der denkenden Einzelwesen, von denen hier d i e Rede sein kann, näher betrachten. Denn was das erste anlangt, so haben wir schon nachgewiesen, d a ß der Streit über das Denken nur geführt wird, sofern es auf das Sein bezogen werden soll. Muß also etwas in den dialektischen Regeln von dem Wesen des Geschäfts ausgehen, so m u ß eben dieses die Beziehung des Denkens auf das Sein betreffen. Die Abneigung, dieses zuzugestehen, und die Trennung dessen, was man im engeren Sinne Logik nannte, von

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dem, was Metaphysik hieß, ist wesentlich eines und dasselbe. Die Logik, in diesen Schranken folgerecht gehalten, kann nur solche Regeln zum Verfahren im Denken hervorbringen, welche zu irgendwelchem Inhalt desselben gar kein Verhältnis haben. Solche können dann nur die Form betreffen und daher auch höchstens nur Mißverständnisse aufdecken, die auch von selbst leicht zum Vorschein kommen. Sie sind aber so weit entfernt, zur Auflösung des eigentlichen Streites beizutragen, daß sie nicht einmal die Entstehung neuen Streitstoffes zu verhindern vermögen. Denn wenn der eine A mit b und der andere dasselbe A mit einem b ausschließenden c zusammendenkt, woraus notwendig früher oder später Streit entstehen muß, so wird der Widerspruch nicht unmittelbar durch die Anwendung der logischen Regeln entdeckt, sondern erst, wenn eine Veranlasssung entsteht, b und c aufeinander zurückzuführen. Daher versagen diese Regeln bei jedem ursprünglichen Zusammendenken ihren Dienst, und es bleibt kein anderes Fortschreiten im Denken übrig als von solchen Anfängen, die nicht nach diesen Regeln zu prüfen sind; d. h. wir müssen uns mit den willkürlichen Anfängen in ailen Gebieten des Wissens begnügen. Denn wollte man die Forderung dahin erweitern, daß nur solche Aussagen A b , A c miteinander in Verbindung gebracht werden dürften, in welchen das ausgesagte b und c unmittelbar aufeinander zurückgeführt werden könnte, so hörten alle vermehrenden Fortschritte im Denken auf, und alles wäre nur Entwicklung eines willkürlich angefangenen und nicht zu prüfenden Denkens in und aus sich selbst oder mehrerer solcher unter sich nicht verbundener Denkakte; mithin bliebe jedes denkende Einzelwesen vollständig in seiner eigenen oder eines anderen, dem es sich angefügt hätte, Einzelheit befangen. Ünd auf diese Weise freilich könnte es dahin kommen, daß bei der Verschiedenheit mehrerer solcher ursprünglicher Grundgedanken die Wahl zwischen denselben eine Geschmackssache würde, und das Wohlgefallen an der Übereinstimmung ganz dem an einem Kunstwerk ähnlich würde, wie auch die Erfahrung es lehrt bei der Mehrheit philosophischer Schulen und von verschiedenen Grundannahmen ausgehender Systeme in anderen Wissenschaften. Daher allerdings die 3*

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beiden Teile der Einwendung unter sich zusammenhängen, aber nur an dem, was daran falsch ist. Denn es verhält sich ebenso, wenn wir den anderen Teil für sich betrachten. Fragen wir nämlich, von was für Verhältnissen der denkenden Einzelwesen die Rede sei bei der Gesprächführung im Gebiete des reinen Denkens, so sind es keineswegs solche, welche die Einzelheit derselben ausdrücken, vielmehr soll die Einwirkung von dieser im Gebiet des reinen Denkens soweit aufgehoben werden, daß sie sich nur in demjenigen zeigt, was der künstlerischen oder geschäfüichen Seite angehört. Denn beide haben und behalten ihren Anteil an den Zusammenstellungen des Gedachten, welche teils für bestimmte Zwecke können eingerichtet werden, teils auch ganz die Natur von Kunstwerken an sich tragen; die Dialektik hingegen hat es mit der Berichtigung des einzelnen streitig werdenden Denkens zu tun. Und sofern sie an diesem ihr Werk vollbringt, wird die Verschiedenheit der Denkenden aufgehoben, indem das nach Auflösung des Streits in der Sprache festgewordene Denken nur die Selbigkeit des denkenden Seins in diesem Sprachkreise, und von da weiter, ausdrückt. Mithin haben wir es hier auch gar nicht mit einem Erfülltsein des denkenden Einzelwesens als solchen in einem bestimmten Moment zu tun, indem das Gewisse notwendig auch ein Unzeitliches wird, weil es in allen Momenten nur als dasselbe gesetzt sein kann. Vielmehr ist das Wohlgefallen an jeder Übereinstimmung im Gebiet des reinen Denkens nur die Freude an der Erscheinung der Selbigkeit des denkenden Seins, wobei dieses, ob die Übereinstimmung in andern schon ist oder nicht, gar nicht in Betracht kommt. Wogegen bei jeder Übereinstimmung in Geschmackssachen allemal das Bewußtsein, daß andere anders empfinden, eine das Gepräge der Subjektivität an sich tragende verbindende Kraft äußert. Übersieht man diesen Unterschied, dann freilich kann man dahin kommen, auch die Dialektik nur für einen bestimmten Geschmack einrichten zu wollen, dessen besonderes Prinzip sie dann an ihrer Spitze trägt als einen Satz, den immer nur einige annehmen, während andere ihm einen anderen entgegenstellen. Von beiden Seiten der aufgestellten Einwendung aus kommen wir also dahin, daß unsere Aufgabe allen Einfluß der Besonderheit ausschließt, sowohl,

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wenn wir sie als Geschäft betrachten, als auch, wenn wir auf ,das der Lösung desselben anhaftende Wohlgefallen sehen. Mithin bleibt die Dialektik von Anfang bis zu Ende in dem Gebiet des reinen Denkens, und kann aus diesem Moment gegen den Versuch, womit sie anfangen muß, nichts eingewendet werden. 2. Aus dem Gesagten folgt aber auch schon weiter: ebenso wenig als sich das Wissen aus schlechthin neuen Anfängen entwickeln kann, wie wir bereits gesehen, ebenso wenig würden wir unser Ziel erreichen, wenn wir aus dem vorhandenen, aber streitigen reinen Denken einzelne beliebige Sätze als streitfreie herausheben und an die Spitze stellen wollten, indem uns dieses notwendig in das Gebiet der Besonderheit zurückführen müßte. Denn wollten wir hierzu eine Methode suchen — und ohne diese wäre das Verfahren nur ein Einfall, d. h. das Allerbesonderste — so werden wir zuerst doch feststellen, daß keiner einen Satz hierzu wählen wird, der ihm selbst schon streitig geworden wäre, oder auch, den er im Zusammenhang mit streitigem Denken wüßte. Aber da auch ein anderer Anknüpfungspunkt sich nicht denken läßt, so folgt schon selbst, daß jede hieraus hervorgehende Wahl mit der besonderen Denkgeschichte des Wählenden zusammenhängen muß. (§ 2) 1 ). Die Kunst, den Streit auf dem Gebiet des reinen Denkens zu beendigen, und die, streitfreies Denken zu entwickeln, sind nur eine und dieselbe; mithin ist die Dialektik auch die Anweisung zur letzten. 1. Wenn die Anweisung auf Beendigung des Streites durch Ermittlung eines in beiden Teilen übereinstimmenden Denkens auf entsprechende Weise gerichtet und als solche richtig ist, und es wird überall, wo Streit auf dem Gebiet des reinen Denkens entsteht, nach ihr verfahren, so muß auf diesem Wege zuletzt überall das Sein übereinstimmend ge1) Dieser § 2 ist dem Vorentwurf Hd. entnommen und stimmt inhaltlich mit § 5 von F überein. (Vgl. hierüber: Dial. Jon. S. 604 u. Weiß S. 26.) Da er einige neue Gesichtspunkte enthält, hat ihn bereits Jon. der Einleitung F angehängt. Auch wir lassen ihn hier im ganzen folgen, während wir die übrigen §§ von Hd. im Anhang durch Textvergleichungen mit F in Verbindung bringen.

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dacht werden, ohne daß es einer anderen Anweisung als jener bedürfte, und unser Satz könnte nur bezweifelt werden, sofern es einen andern Weg gäbe, zum Wissen zu gelangen, als durch den Streit. Nim aber dürfen wir wohl als allgemein zugestanden annehmen, d a ß niemand seine Denktätigkeit im Gebiet des reinen Denkens mit dem Wissen anfängt; es müßte denn jemand die mathematischen Operationen mit hierher rechnen. Allein diese schließen wir hier aus, ohne dadurch den Streit, der anderwärts darüber geführt worden ist, schlichten zu wollen. Nämlich, wie wir uns über den Ausdruck „Denken" verständigt haben, können wir zwar diese Operationen nicht vom Denken ausschließen, allein, so wie jeder diese Tätigkeiten mit einer vollkommenen Gewißheit anfängt, bilden sie ein gänzlich in sich abgeschlossenes Gebiet, welches mit keinem anderweitig streitigen zusammenhängt, noch auf irgend einen anderwärts obwaltenden Streit E i n f l u ß haben kann. Seine Gewißheit aber hat es darin, daß es ein Tun ist, und sie bezieht sich lediglich hierauf, indem eben das als Zeichen des Tuns gewordene Sein, die Figur oder der Calculus, als etwas völlig Gleichgültiges beiseite gestellt wird. Als ein solches abgesondertes Gebiet also steht es dem reinen, auf das Sein sich beziehenden Denken ebensowohl als dem geschäftlichen gegenüber; aber nicht wie das künstlerische als ein freies, sondern auch diesem gegenüber als ein durch die Art eines bestimmten Tuns gebundenes. Sobald es aus diesem heraustritt in allen seinen Anwendungen, erscheint es als dem geschäftlichen angehörig, wird sich aber auch in Bezug auf das Sein seiner Ungewißheit bewußt, indem es sich überall die Aufgabe stellt, die Unsicherheit in die geringsten Grenzen einzuschließen. Dieses nun abgerechnet, wird der aufgestellte Satz keinen Widerspruch finden. Entsteht aber alles streitfreie Denken aus dem Streit, so entsteht es gewiß auch nur aus der der Idee unserer Wissenschaft gemäßen Führung desselben. 2. Hieraus folgt aber zugleich, daß sich die Dialektik zunächst nur bewähren kann als eine Gegebenes prüfende oder kritische Anweisung, nicht als eine ursprünglich hervorbringende oder didaktische. Um so gewisser ist sie eine Kunstlehre. Denn auf dem Gebiete der schönen Kunst finden wir überall dasselbe. Alle Anweisungen zur Erfindung in

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Malerei und Musik können immer nur Kautelen enthalten, Angaben dessen, was vermieden werden soll. Selbst die, welche einen positiven Inhalt zu haben scheinen, werden sich, wenn es irgend ein bestimmter ist, teils auf negative Sätze zurückführen lassen, teils wenigstens immer auf schon gemachte Operationen, welche also vorausgesetzt werden, zurückgehen. Bleiben wir nun aber dabei stehen, daß, ehe irgendwo von Dialektik die Rede sein kann, schon Ergebnisse der ursprünglichen Produktivität im Denken vorangegangen sein müssen, und wenden wir auch hierbei die Analogie der schönen Künste an, so eröffnet sich allerdings die Möglichkeit, daß jene freie Tätigkeit als ausgezeichnetes Talent oder Genie könne das Rechte treffen, und so Wissen wirklich werden vor unserer Anweisung dazu; eben wie es in den Künsten geiht, wo auch die Theorie immer erst nachkommt hinter den Werken der Meister. Diese Möglichkeit wollen wir auch keineswegs bestreiten. Denn erneuern wir die obige Annahme, daß die drei Entstehungsweisen des Denkens streng genommen in jedem Menschen vorkommen, und jeder, dem eine von ihnen gänzlich fehlte, nur ein verstümmelter sein würde, so müssen wir auch zugleich eine Ungleichheit in der Wirksamkeit derselben mit annehmen, welche sich uns überall zeigt als ein wesentlicher Bestandteil der wie auch immer gewordenen Ungleichheit der Einzelnen selbst. Mithin wird auch die reine Denktätigkeit in einigen ein Kleinstes sein, in anderen aber ein Größtes. In jenen wird dann wenig davon zu merken sein, daß Gedachtes als bleibend an sich gewollt wird; sondern sie werden sich am gleichgültigsten verhalten gegen alles nichtgeschäftliche oder nichtkünstlerische Denken. Die andern hingegen werden nicht nur das meiste Gedachte bleibend wollen, sondern auch Zusammenstimmung mit ihren Gectanken bei anderen zu erwecken streben. Allein gesetzt auch, ihr Denken eines Seins wäre jedesmal ein Wissen vor aller Dialektik und gänzlich abgesehen von ihr, wie ja schon die ältesten Philosopheme sich immer dafür ausgeben, so war es doch nie ein streitfreies Denken, da es sich nicht mitteilen konnte ohne Zusammenhang mit früherem Denken, welches immer auch schon streitig war. Denn gesetzt auch, die Grundgedanken einer solchen Reihe wären etwas ganz

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Neues, mithin ohne Zusammenhang mit früherem Denken, wie manche neueren Philosopheme von sich behaupten, so können sie doch nur wirklich mitgeteilt werden durch schon im Umlauf sich findende Ausdrücke, immer also vermittelst Bejahens oder Verneinens dessen, was bisher bei diesen gedacht und entweder schon in das Gebiet des Streites hineingezogen war, oder nun hineingezogen wird. Über jeden solchen Grundgedanken also muß gestritten werden; und da er nur durch glückliche Beendigung des Streites sich Anerkennung verschaffen kann, so ist diese entweder ein ganz zufälliges Ergebnis, oder sie beruht auf dem Vorhandensein und dem Gebrauch der Dialektik. 3. Wollten wir hierauf die Probe machen, so müßten wir versuchen, zwischen diese beiden Fälle ein Mittelglied einzuschieben, so daß die Dialektik entbehrt werden könnte, und doch die Anerkennimg nicht zufällig wäre. Deren sind aber nur zweie möglich: entweder die Anerkennung beruht auch darauf, daß eine Anweisung zu kunstmäßigem Verfahren befolgt worden, nur nicht zu dem, den Streit zu beendigen; öderes gibt Gedanken, welche sich eine allgemein als allgemein anerkannte Anerkennung, welche eben deshalb nicht zufällig sein kann, von selbst verschaffen. Was das erste anbetrifft, so müßte das Wozu dieser Anweisung vor der Möglichkeit des Streites liegen, das heißt, das Hervorbringen des Denkens selbst sein. Diese könnte aber keine unmittelbare werden unter der Formel: Verfahre im ursprünglichen Denken so, so wirst du mit allgemeiner Anerkennung denken. Denn das Entstehen eines Denkens außerhalb einer angefangenen Reihe ist unwillkürlich, innerhalb derselben aber nicht mehr in diesem Sinne ursprünglich; sondern entweder beruht es auf der, wenngleich inneren und einsamen Gesprächführung, und geht also auf die Dialektik zurück, oder es ist ein späteres Glied einer einfachen Fortschreitung. Dann aber wäre die Anweisung nur eine zum Weiterdenken und könnte der Aufgabe nur entsprechen, sofern das erste Glied schon ein allgemein anerkanntes wäre, was uns dann auf den zweiten Fall zurückführte. Hier also bliebe nur die mittelbare Anweisung übrig. Auch dergleichen sind öfter gegeben worden; indes, wenn man nicht etwa auch die Behauptung hierher rechnen will, daß der menschliche Geist die

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Wahrheit nur auf leidentliche Weise empfangen könne, wohl immer nur in der Form, das Gemüt müsse in diesen oder jenen Zustand versetzt werden, um so zu denken, daß es sich allgemeine Anerkennung verschaffe. Dergleichen Anweisungen aber, und auch in die vorige Behauptung verbirgt sich eine solche, können sich wegen der Ungleichheit der Einzelnen, für welche derselbe Zustand ganz verschiedene Werte hat, keine allgemeine Anerkennung verschaffen. Sonach bleibt nur der zweite Fall übrig. Und offenbar sind fast alle Anfänge philosophischer Systeme mit dem Anspruch aufgetreten, solche Gedanken zu sein. Aber keines von allen hat vermocht, diesen Anspruch durchzusetzen; und dies kann auch nicht anders sein. Denn wenn sie sich doch auf Sein beziehen, so ist entweder über denselben Gegenstand gewöhnlich schon anderes gedacht, und der neue Grundgedanke mit diesem im Streit, wie fast immer die philosophischen Anfänge mit den volkstümlichen Vorstellungen. Oder, wenn auf dasselbe Sein noch kein Denken bezogen worden ist, so kann das Neue sich auch nicht anders verständlich machen, als durch seine Beziehungen auf anderes schon gedachtes Sein. Hätte nun das Neue auch aus diesem entwickelt werden können, so wäre es nur zufällig ein Ursprüngliches und nicht als solches zu behandeln. Wo aber nicht, so müßte es auch mit demselben im Streit sein, und brächte also seine Anerkennung nicht mit. Wir gelangen daher zu keinem anderen Ergebnis, als daß, nachdem der Zustand des Streites einmal vorhanden ist, das streitfreie Denken sich nur aus dem Streit und durch denselben entwickelt. 4. Hiermit hängt aber unmittelbar zusammen, was eigentlich den Nerv unseres Satzes ausmacht, daß nämlich jeder Satz, der als ein Akt der reinen Denktätigkeit in der Richtung auf das Wissen vorkommt, auch schon im Streit begriffen und aus demselben hervorgegangen ist, und daß daher jeder solche um so mehr zur Entwicklung streitfreien Denkens beiträgt, je mehr in ihm selbst und in der ganzen rückwärts von ihm liegenden Reihe das kunstmäßige Verfahren, um den Streit zu beendigen, vorgewaltet hat. Es gibt also auch keinen Gedanken, mit welchem das Wissen beginnen könnte an und für sich, sondern nur, sofern sich

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die Dialektik in ihm verwirklicht hat. Was aber ein solcher außerdem enthält, das kann zur Fortentwicklung des Wissens nicht notwendig sein, sondern, wenn auch nicht schlechthin gleichgültig, so daß der Unterschied eines jeden von allen anderen in unserer Beziehung Null wäre, so verhält sich doch jeder zu jedem nur wie leichter und schwerer, oder wie mehr und minder bequem. 5. Das Letztere gilt nun besonders von solchen Sätzen, welche ein philosophisches System beginnen, das eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen bestimmt ist. Denn solange dergleichen mehrere nichtübereinstimmende nebeneinander bestehen, liegen sie in dem Gebiet des Streites, indem, wer das eine annimmt, die anderen verwerfen muß. Aber als Anfänge lassen sie nicht zu, rückwärts zu gehen, um zu untersuchen, wiefern durch ihre Aufstellung im Vergleich mit früheren etwas geschehen sei, um das Gebiet des Streites zu beschränken, und es bleibt nur ihr streitiger Inhalt selbst zurück, der sich in allem Folgenden wiederholen muß. Man betrachte nur beispielsweise den Anfang der Ethik des Spinoza, so ist zuerst nicht einzusehen, warum die Begriffe ,Wesen', ,Dasein' und ,Natur' weniger einer Erklärung bedürften als der Begriff der Substanz. Aber in der Erklärung des letzteren ist gleich das Insichsein ein Ausdruck, welcher zurückgewiesen werden kann, da ,In' ein Verhältnis bezeichnet, irgend etwas aber zu sich selbst nicht kann in einem Verhältnis stehen, so daß dies eine leere Position ist, welches aus demselben Grunde auch von der causa sui gilt. Auch möchte von dem Ausdruck ,Natur' schwerlich eine Erklärung aufgestellt werden können, welche auch nur die Möglichkeit übrig ließe, daß etwas als Natur Gedachtes auch nicht existieren könnte (denn ein Centaur etwa oder eine Fee werden nicht als Natur vorgestellt); und dann ist auch dieser Teil der Erklärung ein leerer Satz. Auf eine andere Weise ist gefehlt in der Erklärung der Substanz, in welcher das Insichsein und Durchsichbegriffenwerden verknüpft wird, aber ohne nachzuweisen, wie das eine durch das andere bedingt wäre. Aus der Erklärung selbst entstehen mir also als mögliche die Vorstellung von einem Insichseienden, das aber nicht durch sich begriffen würde, und von einem Durchsichbegriffenen, das aber nicht in sich ist. Und indem

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nicht gesagt wird, wie sich diese zur Substanz verhalten, so ist auch dieser Begriff nicht erklärt. Wenn nun aber der Ausdruck ,Gott' erklärt wird als das absolut unendliche Seiende, oder die Substanz aus unendlichen Attributen, so ist dies eine dort ganz willkürlich gebildete Vorstellung, und aus dem Satz, daß es zur Natur der Substanz, gehöre, zu existieren, kann nicht geschlossen werden, daß auch jede willkürlich gebildete Substanz existiere. Darum wird auch hernach der Satz zu Hilfe genommen, daß eine seine Existenz verhindernde Ursache da sein müßte, und das ganze Gebäude beruht, so wie es hier aufgeführt ist, auf dem Kanon, daß jede willkürlich gebildete Vorstellung auch für wahr zu achten ist, wenn nicht eine verhindernde Ursache nachgewiesen werden kann: ein Kanon, den man offenbar, ohne in die größte Verwirrung zu geraten, nicht annehmen kann. Nehmen wir nun dazu, daß, was hier von Gott gesagt ist, anderwärts teils zugegeben wird, nämlich, daß er notwendig existiert, anderenteils aber geleugnet, nämlich, daß er nicht andere Substanzen hervorgebracht habe, und daß eben da der Begriff zwar auf dieselbe Weise bestimmt wird, wie hier, nämlich daß Gott alle Wesenheit zukomme, unter dieser aber freilich anderes gedacht als hier, und was hier ein Attribut ist, nämlich die Ausdehnung, dort als eine Negation betrachtet wird: nimmt man alles dieses zusammen, so muß zugegeben werden, daß durch dieses Verfahren kein Fortschritt zur Beilegung des Streits geschehen sei, sondern daß wir uns vermittelst desselben nur wieder in dem Zustand des streitigen Gesprächführens auf dem Gebiet des reinen Denkens befinden. Daher scheint es nun ziemlich nahe zu liegen, daß man versuche, den entgegengesetzten Wegeinzuschlagen. Nämlich, statt eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hoffnung, dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen, gelte es nun, eine Kunstlehre des Streitens aufzustellen, in der Hoffnung, dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Anfangspunkte für das Wissen zu kommen. Ein Standpunkt, von welchem aus! allerdings die alte Philosophie schon einmal ihren Lauf begonnen hat, den sie aber zu zeitig scheint verlassen zu haben. Wie denn der menschliche Wille sehr leicht auf jedem Gebiet, wo es etwas zu wagen gibt, aber auch zu gewinnen, das Sichere, aber minder Schein-

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bare aufgibt gegen das Glänzendere, wiewohl Unsichrere. Und alle diese Versuche, das Wissen als System darzustellen, treiben ihr Geschäft durch Wagesätze und wollen auf solchem Wege ein stabiles Wissen erwerben, das man am Ende auch wohl ohne Liebe muß besitzen können, lieber, als daß sie sich mit dem begnügen, was in der ursprünglichen Bezeichnung dieser Tätigkeit als Wissensliebe ausgesprochen ist, welcher Ausdruck hingegen auf unserem Standpunkt vollkommen einheimisch. Denn die angestrebte Kunstlehre kann keinen andern Ausgangspunkt haben als das Wissenwollen, weil dieses unfehlbar zuerst denen gemeinsam ist, welche auf unserm Gebiete Streit führen, daß sie wissen wollen.

Dialektik als Kunst der GesprächfÜihrung. Wie überall, so auch hier bei der Untersuchung über die Dialektik werden wir zuerst wissen wollen, was das sei, womit wir uns zu beschäftigen haben. Doch der Begriff unserer Disziplin wird eigentlich erst zu Ende der Vorlesungen gegeben werden können. Jetzt haben wir entweder keine oder nur eine mangelhafte Vorstellung von ihr. Und hier ist es schwer, einen gemeinschaftlichen Anknüpfungspunkt zu bestimmen, von dem aus wir in das Innere der Wissenschaft eindringen können; so d a ß uns der A n f a n g auch unbefriedigt lassen muß. Das Anknüpfen geschieht also aufs Geratewohl. A m nächsten liegt uns hier der Name der Disziplin, der nicht willkürlich ist, da jeder Name, sowie er etwas Allgemeines umfaßt, auch die Entstehung und den Gehalt dessen, was er bezeichnet, in sich fassen soll. E r ist in der alten Philosophie heimisch^ und gewissermaßen stellt ihn Piaton zuerst als bestimmten Kunstnamen auf. Doch blieb er in der Philosophie nuT bis auf Aristoteles, der das Ganze der Kunstausdrücke änderte und eine ganz neue Terminologie einführte. Dialektik nach der Ableitung von diaXeyea^ai heißt bei Plato und seinen Nachfolgern im Grunde weiter nichts als K u n s t , e i n G e s p r ä c h z u f ü h r e n . Das klingt sehr weitschichtig und imbestimmt. Man kann aber beim Führen eines Gespräches nur zwei Absichten im A u g e haben: entweder eine i n n e r e oder eine ä u ß e r e . Der äußere, dabei erstrebte Zweck ist, jemanden zu Vorstellungen zu bewegen, nicht gerade um der Wahrheit, sondern um eines besonderen Erfolges willen, die Wahrheit mag nun dabei fortkommen, wie sie will. Hier wird derjenige der Beste sein, welcher die meisten Gründe und Scheingründe anführen kann, seinen E r f o l g gehörig hervorzubringen. Ist der Zweck erreicht, so glaubt der andere, etwas Wahres zu haben, ohne gerade zu untersuchen, ob es sich auch so verhalte. Wahr aber kann es doch wohl nicht sein, da jene erregte Vorstellung nicht die

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allgemeine Wahrheit zum Grunde hatte, sondern nur eine beschränkte, vom Willen des Überredenden abhängige Vorstellung. Auf diese Weise wird aus der Kunst eine verführerische; und sie wird sich daher von der Rhetorik nur darin unterscheiden, daß sie sich einer anderen Form bedient, da jene gewöhnlich durch eine zusammenhängende und ununterbrochene Rede bewirkt, was die Dialektik durch abwechselnde Rede und Gegenrede zu bewirken sucht. Dann wäre also die Dialektik Kunst des Scheins, unter der Gestalt der Wahrheit jemandem etwas mitzuteilen, was doch nie bei ihm als Wahrheit haften wird. Doch diese Absicht gilt uns hier nicht und kommt auch in der platonischen Philosophie nicht vor. So bleibt uns also die i n n e r e A b s i c h t der Dialektik allein übrig als die Kunst, durch die Führung eines Gesprächs Vorstellungen zu erregen, die nur auf Wahrheit gegründet sind und durch diese auch ihren gehörigen Erfolg haben werden. Den A u s g a n g s p u n k t eines Gespräches bildet immer eine V e r s c h i e d e n h e i t d e r V o r s t e l l u n g e n . Führt man aber ein solches Gespräch, so zeigen sich stets z w e i E n d p u n k t e . Entweder vereinigen sich beide Redende über den streitigen Punkt ihrer Meinung, oder sie überzeugen sich, daß sie nie dieselbe Vorstellung in dieser Hinsicht bekommen können. Beides muß natürlich dem Gespräch ein I. Nach § i—3. Da eine Vergleichung des Umfangs und Inhalts der Disziplin auch Vergleichung aller üblichen Behandlungsweisen der analogen Gegenstände voraussetzte, wozu eben hier erst die Prinzipien gefunden werden sollen, so läßt sich ein Anknüpfungspunkt nur auf Geratewohl finden. Dazu liegt der Name (auf Piaton zurückgeführt) am nächsten. Kunst des Gesprächs. Setzt Differenz der Vorstellungen voraus und kann endigen entweder bei Identität oder bei der Überzeugung, daß eine solche nicht möglich sei. Das letztere Ende ist aber immer nur provisorisch. Denn Gleichgültigkeit gegen die Differenz ist entweder moralisch — aber die ist nur erlaubt, wenn ein anderer näher Stehender die Pflicht übernimmt, und dann bleibt doch die Aufgabe selbst unverringert —, oder t e c h nisch, und dann sollen auch die Hindernisse gehoben werden. — Mit dieser Kunst des Gesprächs sollen aber nach platonischer Ansicht auch die höchsten Prinzipien des Philosophierens und die Konstruktion der T o t a l i t ä t des Wissens gegeben sein. Frage: Inwiefern kann dies vorläufig eingesehen werden?

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Ende machen; denn über etwas, worüber man einig ist, oder worüber man nicht eins werden kann, zu reden, wäre unnütz. Und selbst wenn also ein Gespräch, nachdem man glücklich jenen Zweck erreicht hat, noch fortgesetzt wird, muß man immer eyst aus dem, worüber man die Unterredung beendigt hat, einen neuen Gegenstand zu entwickeln suchen, über den man sich aufs neue zu verständigen hat. So ist also die D i a l e k t i k die K u n s t , a u f d i e k ü r zeste u n d s i c h e r s t e Art bei j e d e r V o r s t e l l u n g von e i n e m g e g e b e n e n A n f a n g s p u n k t e zu e i n e m d i e s e r E n d p u n k te z u g e l a n g e n . Ob man nun zu dem einen oder anderen Endpunkte gelange oder nicht, darf uns keineswegs gleichgültig sein; denn es kann kein Gespräch geführt werden, bei dem nicht das Interesse des einen an den Vorstellungen des anderen vorausgesetzt wird. Das Isolieren aller Gedanken und Vorstellungen liegt nicht in der Natur des Menschen, sondern ist nur relativ. Die G l e i c h g ü l t i g k e i t kann eine m o r a l i s c h e sein und sich auf die Beschaffenheit eines einzelnen Menschen oder einer Klasse von Menschen beziehen. Hielte es jemand nicht der Mühe oder der Zeit für wert, mit dieser oder jener Klasse von Menschen in Gedanken und Vorstellungen übereinzustimmen, und wäre eine solche Denkart allgemein, so würde wohl eher Menschenverachtung zugrunde liegen, und diese ist kein menschliches Grundprinzip. Durch diese moralische Gleichgültigkeit ist das Gesprächführen schon an und für sich aufgehoben. Also läßt sich die Gleichgültigkeit, als eine relative betrachtet, nur sehr beschränkt denken, und man kann sie nur entschuldigen damit, daß der Betreffende in einen anderen Kreis gehört, und daß es jetzt anderen obliegt, sich mit ihm über seine Vorstellungen zu verständigen, während unsere Verständigung mit ihm, obgleich sie unsere Pflicht ist, für jetzt außer unserem Wirkungskreise liegt. Als eine zweite Art der relativen Gleichgültigkeit in der Verpflichtung zur Gesprächführung wäre die t e c h n i s c h e zu nennen. Zur Vollbringung jedes Dinges gehören nämlich Mittel. Technisch ist alles, was sich auf den richtigen Gebrauch der Mittel in irgendeinem Kunstgebiet bezieht. Hier sind die Mittel diejenigen, welche in der Rede liegen als der Kunst, in einem anderen Vorstellungen zu erregen. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Technische Gleichgültigkeit ist es also, wenn wir die feste Überzeugung haben, daß zwischen uns und anderen diese Mittel nicht gegeben sind. Dann wird eine glückliche Führung eines Gespräches über irgendeinen Gegenstand wohl unmöglich sein. Diese Mittel sind nicht allgemein, also wird die Kunst dadurch sehr beschränkt. Zugleich ist aber die Kenntnis der Mittel und ihre Anwendimg so genau miteinander verwebt, daß man sie nicht ttennen kann. So ist die Gesprächführung nur unter dieser Bedingung möglich; und da das vorzüglichste Mittel zur Unterredung ein und dieselbe Sprache ist, so wird die D i a l e k t i k n o t w e n d i g b e d i n g t d u r c h d i e I d e n t i t ä t d e r S p r a c h e . Aber nicht allein das vorzüglichste, sondern gar das einzigste Mittel zur Gesprächführung ist die Gleichheit der Sprache. — Gelangen nun zwei Menschen, welche dieselbe Sprache reden, in ihrem Gespräch immer zu einem jener eben angegebenen Endpunkte? Wir möchten es nicht behaupten. Mit der Identität der Sprache hat es eben seine ganz eigene Bewandtnis. Es erscheint vielleicht nicht schwer, über einen uns vorgelegten Gegenstand mit einem anderen, der dieselbe Sprache redet, ein Gespräch anzufangen. Aber kein Mensch versteht die Sprache ganz, und sehr oft sind dem einen Sprachgebiete offen und zugänglich, welche der andere nicht kennt. Sollen nun beide bis zu einem bestimmten Resultat kommen, so muß auch beiden das ganze Sprachgebiet, in dessen Grenzen der Gegenstand der Untersuchimg fällt, gemeinsam sein. Wenn aber der eine in einem solchen Sprachgebiet nicht heimisch ist, so fallen auch für ihn alle dahingehörigen Vorstellungen des anderen völlig fort. So können also selbst bei derselben Sprache dennoch die Mittel zur gegenseitigen Unterredung fehlen. Ferner gibt es auch ganze Gebiete in den Sprachen, die nicht die einzelnen Gegenstände betreffen, sondern die Art, sie aufzufassen. Ist sich nun jemand nicht genau alles dessen bewußt, so wird jede Vorstellung, die sich auf ein solches bezieht, ihm unverständlich sein, und sein Denken verworren werden. Von dieser Verworrenheit und Dunkelheit aber soll der Mensch erhoben werden zur Reinheit und Klarheit. Und hierzu ist nichts geschickter als die Gesprächführung. Wenn nun die moralische Gleichgültigkeit auf den Fall

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eingeschränkt ist, wo man einen anderen für sich substituieren kann, so' fragt sich: Wie verhält es sich bei der technischen? Fehlt dem anderen die Sprache im allgemeinen, so kommt es auf das Vorige zurück. Wenn jemand meine Sprache nicht redet, so liegt es anderen ob, die sie reden. Kommt es aber auf die Sprachgebiete in derselben Sprache an, so teilt sich dies anders. Fehlt jemandem ein Gebiet, so fehlt ihm die Notwendigkeit, diese Vorstellungen zu haben. Und so fällt dies auf die moralische Gleichgültigkeit zurück. Wenn dagegen ein Mensch die Sprache so wenig beherrscht, daß er den Unterschied zwischen Klarheit und Unklarheit beim Denken oder Reden über etwas nicht f ü r alle Gegenstände hat, so ist auch der Unterschied zwischen Vorstellung und Denken selbst nicht in ihm. Eine solche Gleichgültigkeit darf aber nicht stattfinden; denn es ist ein moralischer Mangel vorhanden, der gehoben werden muß. Dies ist eine allgemeine Angelegenheit. Wenn wir selbst die Grenzen verschiedener Sprachen durchbrechen, was eine große Begier nach Identität der Vorstellungen zeigt, so kann man diese Identität auch nur eigentlich als das wahre Ziel des Gesprächs ansehen. Fragen wir, warum eine Verständigung nicht möglich ist, so kann das nur einen moralischen oder technischen Sinn haben. Einen moralischen, wenn der eine etwas ganz anderes will als der andere. Eine Verschiedenheit des Willens' ist auch nicht gleichgültig, und die I d e n t i t ä t d e s W i l l e n s wird also höchstes Ziel des Gesprächs. Die auf das Technische gegründete Gleichgültigkeit hängt dagegen mit dem Vermögen zusammen. Betrachten wir jene beiden Endpunkte noch genauer, so finden wir,'daß das zweite Ziel, nämlich die Überzeugimg, man könne nicht mit dem andern auf gleiche Vorstellungen kommen, nur etwas Vorläufiges sein kann. Es bezieht sich immer nur auf einen einzelnen Akt und gilt nicht für den Lebenszusammenhang im ganzen. Wir werden bald von neuem den Gegenstand aufnehmen und behandeln, bis wir endlich zu einem klaren Resultat der totalen Übereinstimmung mit dem andern kommen werden. So ist also der Name Dialektik hinlänglich erläutert. Gehen wir jetzt zu dem W e r t e und der B e d e u t u n g d e r D i a l e k t i k . 4*

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Wege der Gesprächfuhrung. D i e Alten behaupteten, in der Dialektik als der Kunst, das Gespräch zu führen, lägen die G r u n d p r i n z i p i e n a l l e s W i s s e n s und aller E r kenntnis, sowie die K o n s t r u k t i o n d e s Z u s a m m e n h a n g e s desselben. W i r wollen untersuchen, ob und inwiefern dies wahr sei. Hier bieten sich uns aber sehr viele Schwierigkeiten dar, indem viele B e g r i f f e von uns noch nicht untersucht worden sind, und wir noch nicht wissen, was Erkennen und Wissen ist, und was es ist im Vergleich mit dem oben in Anschlag gebrachten Denken und Vorstellen. D o c h dies alles lassen wir jetzt v o r l ä u f i g auf sich beruhen und untersuchen jene Behauptung der Alten von der Dialektik. Z u diesem E n d e wollen wir zuerst die F r a g e beantworten: W a s liegt im Gesprächführen mit anderen? Eine unerläßliche Bedingung ist die m ü n d l i c h e V e r h a n d l u n g . A u c h wenn jemand seine Gedanken aufgezeichnet hat, und wir diese lesen und eine Verschiedenheit entdecken, so möchten wir mit dem Verfasser ein Gespräch führen. U n d sind wir aufrichtige Leser, so suchen wir das angefangene Gespräch fortzuführen. Dies wird gelingen, wenn wir uns vorher auf den Standpunkt des anderen versetzen können. Das E n d e des Gesprächs muß also dasselbe sein wie bei der mündII. Nach § 3. Die Kunst des Gesprächführens ist auch die des Lesens und Schreibens, was die Gedanken betrifft, ja auch die der eignen Gedankenentwicklung und Gedankenänderung. Wenn wir nun aber denken einige in einigem bis dahin gekommen, daß sie zu wissen (d. h. ihre Gedanken nicht mehr ändern zu können) glauben, und ist dies wirklich wahr, so sind sie zu diesem Wissen nur gekommen durch die Kunst des Gesprächführens in jener weiteren Bedeutung. Da sie nun am Anfang des Prozesses den Unterschied zwischen dem vollkommenen und unvollkommenen Denken nicht kannten, also auch die Prinzipien des Wissens nicht hatten, so sind sie ihnen mittelst dieser Kunst entstanden und müssen sich also in derselben mit ergeben. Daß aber mit der Dialektik auch der Zusammenhang alles Wissens gegeben sei, liegt noch nicht hierin. Daß nun einiges mit einigem zusammenhängt, ist für sich klar. Alles aber hängt nur untereinander zusammen, wenn mit dem Wissen über einen Gegenstand in demselben Menschen nicht kann Unwissenheit oder Irrtum oder verworrenes Denken über einen anderen Gegenstand zusammen sein. — Inwiefern dies der Fall ist, erhellt, wenn wir uns dahin zurückversetzen, wie einer dazu kommt, seine Gedanken über einen Gegenstand zu ändern.

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liehen Verhandlung. Die alte Klage über die Unvollkommenheit des Lesens und Schreibens kann freilich einwenden, daß das Buch sich nicht verantworten, noch den Streit fortsetzen könne. Doch kann man dies wohl, wenn man versucht, nach beendigter Lektüre sich ganz auf den Standpunkt und in die Seele des Verfassers zu versetzen, und nach Erwägung aller Gründe, die er anführen könnte, die eigenen selbst dagegen hält. So würde man endlich zu einem jener Endresultate kommen, daß man entweder seine Meinung und seine Einwürfe aufgibt, und die des Verfassers annimmt, oder zu der Überzeugung kommt, der Verfasser würde, wäre er selbst gegenwärtig, nichts gegen diese Einwendungen sagen können und sie zugeben müssen. So läuft also alles Lesen und das daraus entspringende Betrachten, Annehmen oder Zurücksetzen der einzelnen Vorstellungen auf die Kunst der Gesprächführung hinaus. Aber dies läßt sich noch mehr erweitem. Denken wir uns einen Menschen, der durch anhaltendes Denken und häufiges Gesprächführen soweit gekommen ist, daß alle seine Gedanken abgerundet und abgeschlossen dastehen. Will ein solcher Mensch sich möglichst vielen zu gleicher Zeit mitteilen, so muß er s c h r e i b e n . Auch der literarische Verkehr ist ein Gespräch zwischen Autor und Leser und hat denselben Endpunkt zu erreichen. Alle richtige Behandlung der Gedanken beruht auch hier auf denselben Grundsätzen. Auch hier gibt es Rhetorik und Sophistik. Auch von dem Gebiet des Schreibens sondern wir, wie oben von der Dialektik des Gesprächs, sogleich die Kunst des Scheins ab, die sich nur damit beschäftigt, die Menschen zu überreden. Will ein Autor Nutzen bewirken, so muß er sich einen allgemeinen Überblick von seinen mutmaßlichen Lesem zu verschaffen suchen. Er muß seine Sprache und die Verbindung seiner Gedanken nach ihnen einrichten, und so jedes Sprachgebiet, das sie betrifft, hinlänglich kennen und anwenden können. Tut er dies nicht, so wird der eine Leser ein Stück seines Weges verstehen, der andre ein andres, aber keiner das Ganze. So muß also jeder Schreibende bei jeder neuen Vorstellung genau überlegen, was seine Leser, in deren Standpunkt er sich versetzen muß, über seine Vorstellungen sagen werden, und welche Einwendungen sie machen könn-

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ten, und somit in einem dauernden Gespräch mit seinem mutmaßlichen Leser stehen. J e m e h r e i n e S c h r i f t d i a l o g i s c h in d i e s e m S i n n e i s t , um so v o l l k o m m e n e r i s t sie. So erstrecken sich also die dialektischen Regeln, die wir auffinden wollen, nicht allein auf die mündliche Unterhaltung, sondern auch auf das Lesen und Schreiben. Jetzt zu etwas anderem. Stellen wir uns einen Menschen vor in verschiedenen Zeiträumen und Zuständen seines Denkens: auf dem Anfangspunkte, als er seine Wissenschaft zu lernen begann, dann auf einem anderen, wo er einen großen Teil derselben im Studium schon umfaßt hatte, so werden wir ihn ungleich mit sich selbst finden. Dort wird sein Denken dunkel und verworren gewesen, hier licht und klar sein. E r änderte sich mit seinem Zustande, je weiter er fortschritt; und er wird immer erleuchteter, immer vollkommener. Hat er denn nun diese Änderung nicht gemerkt? Freilich wohl, denn er mußte jede alte Erkenntnis, die im Grunde unwahr war, aufgeben und eine neue in sich aufnehmen. Ist dieser Prozeß leicht und flüchtig gegangen, so war auch wohl seine ganze Erkenntnis, sein ganzes Wissen unbedeutend und nicht von Wert. Hatte er aber schon andere Vorstellungen von der Wissenschaft, so mußte er lange kämpfen, ehe ihn die bessere Überzeugimg dahin vermögen konnte, die alten gewohnten Vorstellungen aufzugeben gegen neuere und bessere. Und hätte er nicht diesen Kampf zu bestehen gehabt, so läßt sich auch wenig Bestand für seine neu erworbenen Vorstellungen hoffen. Wie aber mag er denn auf dem Wege der Erkenntnis solche Fortschritte gemacht haben ? Dies könnte auf doppelte Art geschehen sein, indem er teils durch Gespräche mit anderen auf bessere Vorstellungen gebracht wurde, wo dann also gerade die Dialektik Grund dieser Änderung war, teils dadurch, d a ß er bei sich selbst überlegte und überdachte, und so auf reinere Gedanken und Vorstellungen geriet. Dann aber ist dies ebenfalls eine Art von Gespräch, da der Mensch gleichsam als ein Zweifaches mit der alten Meinung gegen die neue stritt. Ging dieser Streit leicht und nur obenhin vonstatten, so wird auch der Erfolg nur imbedeutend sein. Immer aber gelangt jeder Mensch zu besserer Erkenntnis und reinem Wissen nur durch das Gesprächführen.

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Unsere Aufgabe erstreckt sich also auch auf das eigene Denken des Menschen und hat sich für uns sehr erweitert. Ob nun aber darin liegt, daß in dieser Kunst die P r i n z i p i e n gegeben seien, das geht aus der bisherigen Darstellung noch nicht hervor. Wir müssen also sehen, ob wir der Sache nicht näherkommen können. Betrachten wir deshalb einen Menschen, der seiner Gedanken so sicher ist, daß keine Änderung derselben mehr möglich ist. Wie ist er hierzu gekommen? Insofern kein Mensch gleich von seiner Geburt so vollkommen ist, daß er die Prinzipien des Wissens in sich vereinigen könnte, muß jeder, der diese Prinzipien aufgefaßt hat, vorher einen geringeren Grad des Wissens besessen haben als später. Wenigstens waren seine Gedanken erst unvollkommen und dunkel; und erst durch die lebendige Gesprächführung, wie wir soeben gezeigt haben, kommt der Mensch zu reineren und vollkommeneren Vorstellungen. Nur durch die Führung des Gesprächs mit sich und anderen kann also der Mensch zum selbständigen höchsten Wissen, zur erhabensten Erkenntnis gelangen. Und so hätten die Alten recht, wenn sie sagten, die Dialektik enthalte die Prinzipien alles menschlichen Wissens und aller Erkenntnis, insoweit diese Prinzipien die Differenzen zwischen dem vollkommenen und unvollkommenen Denken aufdecken. Besitzt der Mensch diese Kunst, so hat er auch die Prinzipien des Wissens, indem er zum Bewußtsein der Differenz gekommen ist. Allein noch eine andere Eigenschaft schrieben die Alten ihr zu und behaupteten, daß auch aller Zusammenhang in der K o n s t r u k t i o n d e r E r k e n n t n i s in der Dialektik begründet liege. Wie dies zu verstehen sei, und ob sie mit dieser Behauptung recht gehabt haben, bleibt zu erklären übrig. Vor allem drängt sich uns in dieser neuen Betrachtung die Frage auf: Gibt es denn überhaupt einen Zusammenhang in der Erkenntnis? Wir haben nichts als den Unterschied zwischen einem verworrenen und schwankenden, und einem sicheren und klaren Denken als Punkt, worauf wir zurückgehen können. Wir müssen nun untersuchen, ob, wenn ich über irgendeinen Gegenstand im Besitz eines Denkens bin, dem der Name Wissen oder Erkenntnis zukommt, ich dann von a l l e n Gegenständen ein solches Wissen besitze,

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oder ob, wenn ich über einen Gegenstand deutliche Vorstellungen habe, ich auch noch über andere verworren und dunkel denken kann. Das letztere glaube ich verneinen zu müssen; doch kann ich dies hier nur unvollkommen beantworten. Jedenfalls muß das Denken über einen Gegenstand immer wenigstens mit dem Denken über gewisse andere Gegenstände zusammenhängen. Stellen wir uns einen Menschen vor, der mit dem Denken über einen Gegenstand schon fertig zu sein glaubte und der dennoch nachher seinen Gedanken über diesen Gegenstand änderte, so können wir nur sagen, die Veränderung in dem einen Gebiet rührte her von dem Innewerden der Verbindung mit anderen und der Veränderung in anderen Gebieten. : 4-

Eine Anwendung hiervon können wir in den Naturwissenschaften machen. Wir beobachten Gesetze und Kräfte der Erscheinungen aus den Erscheinungen, müssen aber doch unsere Vorstellungen oft nach den verschiedenartigen Erscheinungen berichtigen. So entstehen in den wissenschaftIII. Es gibt nämlich keine andere Genesis dieser Veränderung, als wenn die Sache einmal in einer anderen Beziehung betrachtet wird, als das andre. Wie überhaupt alle Differenz hieraus entsteht, oder aus einem bloßen Verrechnen, welches keine Veranlassung zum Gesprächführen gibt. Wenn also alle Differenzen über einen Gegenstand durchgesprochen sind, so muß auch feststehen, womit im Zusammenhang er betrachtet werden kann und womit nicht, indem in jedem Gespräch entweder ein Zusammenhang gesetzt und ein anderer geleugnet wird, oder ein zwiefacher gesetzt. Daß aber alles Wissen unter sich in Zusammenhang stehe, erhellt aus folgendem vorläufig: Gesetzt, es gäbe einen, so könnte auch alles Wissen als Eines angesehen werden, und alle Teüungen wären nur relativ. Nun ist dies aber wirklich die beständige Behandlungsweise. Jedes Gebiet wird bald als Teü, bald als Ganzes behandelt; also ist wenigstens die Gestaltung alles menschlichen Wissens aus dieser Voraussetzung entstanden. Es erhellt aber auch so, daß, wenn einiges mit einigem zusammenhängt, entweder mittelbar jedes mit allem zusammenhängt, oder einiges völlig isoliert sein muß. Das letztere aber findet nicht statt. Ist nun allgemeiner Zusammenhang, so entsteht er nur allmählich, und zwar nur in der Gesprächführung. Es ist noch die Einwendung übrig, daß Prinzipien1) und Zusammenhang zwar während des Gesprächs, aber nicht durch die Regeln desselben entstehen. Aber dann müßten die Prinzipien entwel)

Hs.: „Principe".

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liehen Gegenständen sehr häufig Veränderungen, und diese gehen wieder aus dem Faktischen hervor. So ist also kein Wissen isoliert. Befriedigend aber sind die Resultate dieser Betrachtung keineswegs, und wir wollen auf einem anderen Wege die Frage zu beantworten suchen. Nehmen wir daher umgekehrt an, es gebe einen Zusammenhang der Erkenntnis, so ist alles Wissen eins. Warum teilen wir es aber in einzelne Gebiete, die wir Wissenschaften nennen? Vom Gesichtspunkt der Einheit des Wissens aus können solche Trennungen nur relativ sein, d. h. wir betrachten eine Masse einzelner Vorstellungen und ihren Zusammenhang untereinander, finden ihn inniger und genauer als den einer anderen und betrachten so jede Wissenschaft als ein Ganzes im engeren Sinn. Wozu aber trennen wir diese Gebiete, wenn zwischen ihnen ein genauer Zusammenhang ist? Zu einem besonderen Behufe. Wir setzen zwar den Zusammenhang im allgemeinen voraus; allein ein Gegenstand beschäftigt uns ganz vorzüglich und zieht uns so sehr an, daß wir darüber den größeren Zusammenhang aus den Augen setzen. Betrachten wir danach das von uns gewonnene Wissen für sich, so können wir nicht anders, als es in den Zusammenhang alles übrigen Wissens hineinschieben. Die Einteilung des Wissens bleibt aber nach Geschäften und verschiedenen Gesichtspunkten mannigfaltig. — Es bleibt nun nur noch zu untersuchen übrig, ob die einzelnen Wissenschaften in einem relativen Verhältnis stehen, oder ob sie ganz isoliert sind. Wir werden wohl das letzte verneinen müssen. Wir wissen nämlich, daß jede Masse von Vorstellungen bald als ein Ganzes für sich, bald als ein Teil eines größeren Ganzen der aus anderem Gedankenprozeß entstanden sein, oder man müßte sie in sich ausgeprägt fertig und unverkennbar finden, welches doch nicht der Fall ist. Und ebenso der Zusammenhang müßte können äußerlich nachgewiesen werden, welches aber auch nicht der Fall ist, so wenig als ein falscher äußerlich kann einleuchtend geleugnet werden. Entsteht also beides im Übergang vom fragmentarischen und verworrenen Denken zum Wissen, so entsteht es auch durch die Kunst des Gesprächführens. Probe davon ist auch dieses: Jedes Gespräch vermindert die Aufgabe der Dialektik. Fragen wir nun: Wann wird gar kein Gespräch mehr entstehen ?, so ist die Antwort: Wenn Alle alle Prinzipien haben und allen Zusammenhang. Also ist beides durch alle Gespräche geworden.

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behandelt werden könne. Auch finden wir das ganze Gebiet des Wissens zu verschiedenen Zeiten verschieden eingeteilt; und dies wäre widernatürlich, wenn die Massen so streng geschieden wären. Auch ist man oft auf alte Einteilungen zurückgekommen, was sich nur von der Voraussetzung eines allgemeinen Zusammenhanges erklären läßt. Alles, was wir Wissenschaft nennen, hat sich in den inneren Bestrebungen, die wir vorläufig kennen, so gestaltet, daß man einen natürlichen Zusammenhang voraussetzte. Wir müssen diese Voraussetzung als den menschlichen Bestrebungen innewohnend ansehen. Lassen wir dies soweit gelten, so können wir zu unserer Frage zurückkehren, ob in der Kunst des Gesprächs der Zusammenhang alles Wissens müsse gegeben sein. Das Gespräch setzt verschiedene Vorstellungen über denselben Gegenstand voraus. Woher kommt nun diese Verschiedenheit? Die Antwort ist, weil jeder auf einem anderen Wege, in einem anderen Zusammenhang zu seinen Vorstellungen gekommen ist als der andere. Wenn in der gemeinen Mathematik bei verschiedenen analytischen Behandlungen die Formel zuletzt ein verschiedenes Resultat gibt, so werden wir nie ein dialektisches Gespräch daraus bilden können. Hier ist ein error in calculo; beide Rechner mögen ihren Zusammenhang vergleichen, und sie werden dann finden, daß einer von beiden sich verrechnet hat. Betrachten wir aber zwei verschiedene Vorstellungen über dasselbe natürliche Phänomen, so werden sich diese wohl nicht auf einen Rechenfehler zurückführen lassen, sondern wir werden den Grund der Differenz in einem verschiedenen Zusammenhang der Vorstellungen suchen müssen. Hier wird also die Differenz in einer Verschiedenheit des Zusammenhanges liegen, in dem jeder seine Vorstellungen hat. Das V e r r e c h n e n erstreckt sich aber nicht bloß auf die Mathematik, man kann sich auch logisch verrechnen, und dies bringt ein Gesprächführen herbei, bis man entdeckt, daß man sich verrechnet habe. Doch gehört ein solcher Fall nicht in das dialektische Gebiet, denn es ist doch nur eine einzelne Verirrung, die leicht durch Anwendung dialektischer Prinzipien gehoben werden kann, und über die kein Streit weiter möglich ist. Eine dritte Art von Differenzen gibt es nicht. So haben alle Differenzen, welche in den Bereich des Gespräch-

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führens gehören, ihren Grund in dem Zusammenhange des Wissens unter sich nach der verschiedenen Art, wie es entstehen und vorgestellt werden kann. Vergleichen wir nun Anfangs- und Endpunkt jedes Gesprächs. Das Gespräch gibt entweder einem recht, wenn der Zusammenhang beim andern falsch ist, oder beiden recht, wenn beide Zusammenhänge in ihrer Verschiedenheit anerkannt sind. Dann aber ist jeder Streitende zu zwei Vorstellungen gekommen, und es ist dann zugleich ein zweifacher Zusammenhang anerkannt und aufgestellt worden. Hat aber einer von beiden unrecht, so existiert der Zusammenhang, den der eine hatte, nicht. Es läßt sich also gar nicht denken, d a ß ein Gespräch geführt werde, ohne d a ß ein Zusammenhang des Denkens gesetzt werde. Durch jede Anwendung der Regeln wird ein Zusammenhang festgestellt. So entsteht mit dieser Anwendung auch der Zusammenhang des Wissens zugleich, und es gehört zur A u f f i n d u n g desselben die Anwendung der Regeln der Dialektik, die wir noch bestimmen werden. Endlich fragen wir uns noch: Wird wohl eine Zeit kommen, wo das Gesprächführen aufhören wird? Es ist natürlich, d a ß mit jedem geführten Gespräch die Veranlassungen dazu vermindert werden. Solange es aber noch Verwechslung von Wisssen und Nichtwissen, solange es noch dunkles Denken gibt, solange werden auch Gespräche geführt werden. Erst wenn alles verworrene Denken sich in Wissen a u f gelöst hat, hört auch das Gesprächführen auf, d. h. durch die Bildung des Denkens werden die Prinzipien des Wissens in allen Gegenständen realisiert. Man könnte noch sagen: Es werden dann aber immer noch Differenzen im Zusammenhange sein, woraus sich wieder Gespräche entwickeln. Doch können wir uns denken, d a ß als Ziel ein allgemeiner Zusammenhang anerkannt wäre, der allem Streit ein E n d e machen würde. Nur durch das Gesprächführen aber kommt man zu diesem Ziel, also ist der Zusammenhang des Wissens, den man nur auf diesem Punkt vollkommen einsehen kann, genau bedingt durch die Regeln der Dialektik und liegt in ihr selbst. (Allerdings können wir uns eine solche Zeit, wo alles in Hinsicht der Gedanken und Vorstellungen übereinstimmt, nicht vorstellen.)

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Doch noch eine weitere Einwendung müssen wir berücksichtigen. Vielleicht könnte diese ganze Behauptung, daß in der Kunst des Gesprächführens die Prinzipien und der Zusammenhang des Wissens liegen, erschlichen sein. Beides könnte ja beim Gespräche zur Sprache kommen und durch die Dialektik hervorgerufen werden; aber durch sie selbst brauchte es nicht bedingt zu sein. Betrachten wir daraufhin zuerst die P r i n z i p i e n des Wissens. Wenn wir nicht annehmen, daß jeder Mensch die Prinzipien zugleich bei seiner Geburt besitzt, so kann der obige Fall nicht stattfinden, d. h. wenn jeder erst allmählich zum Wissen aufsteigt, so kann der Übergang nur durch Gesprächführung geschehen. Da sie nun aber das Denken erregt, so erweckt sie auch jene Prinzipien. Was den Z u s a m m e n h a n g des Wissens betrifft, so könnte er, wenn er nicht an sich mitgegeben ist, auf sinnliche und äußerliche Weise gegeben sein. Aber das letztere findet ebensowenig statt wie das erstere. Ein Zusammenhang ist nie äußerlich nachzuweisen, er muß innerlich gefunden werden. Wäre der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung äußerlich durch sinnliche Gewißheit nachzuweisen, so könnte gar kein Streit entstehen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als daß der Z u s a m m e n h a n g uns nur d u r c h d i e G e s p r ä c h f ü h r u n g e n t s t e h t . Untrennbarkeit von Prinzipien und Zusammenhang des 18.4. Wi S S ens. Betrachten wir jetzt zunächst den Anfang des menschlichen Denkens in H i n s i c h t d e r P r i n z i p i e n . Als Kind besitzt der Mensch nur verworrene Vorstellungen, deren er sich nicht mehr unmittelbar erinnern, sondern die er nur nach der Analogie rekonstruieren kann, so oft er auf einen neuen, ihm völlig fremdartigen Gegenstand stößt. Wenn wir diese Prinzipien als wirkliche Formeln hätten, so würden wir keine anderen als wahre Vorstellungen haben. Unsere Vorstellungen über einen neuen Gegenstand fangen aber mit ebensolcher Verworrenheit an, d. h, es ist auch in ihnen immer Wahres und Falsches vermischt. (Übrigens lassen wir hier den Streit darüber, was Wahres und Falsches sei, beiseite und begnügen uns damit, diese Begriffe aus dem allgemeinen Verkehr der Gedanken hierher zu übertragen.) Wir sind von vornherein geneigt, den neuen Gegenstand in 4

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Doch noch eine weitere Einwendung müssen wir berücksichtigen. Vielleicht könnte diese ganze Behauptung, daß in der Kunst des Gesprächführens die Prinzipien und der Zusammenhang des Wissens liegen, erschlichen sein. Beides könnte ja beim Gespräche zur Sprache kommen und durch die Dialektik hervorgerufen werden; aber durch sie selbst brauchte es nicht bedingt zu sein. Betrachten wir daraufhin zuerst die P r i n z i p i e n des Wissens. Wenn wir nicht annehmen, daß jeder Mensch die Prinzipien zugleich bei seiner Geburt besitzt, so kann der obige Fall nicht stattfinden, d. h. wenn jeder erst allmählich zum Wissen aufsteigt, so kann der Übergang nur durch Gesprächführung geschehen. Da sie nun aber das Denken erregt, so erweckt sie auch jene Prinzipien. Was den Z u s a m m e n h a n g des Wissens betrifft, so könnte er, wenn er nicht an sich mitgegeben ist, auf sinnliche und äußerliche Weise gegeben sein. Aber das letztere findet ebensowenig statt wie das erstere. Ein Zusammenhang ist nie äußerlich nachzuweisen, er muß innerlich gefunden werden. Wäre der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung äußerlich durch sinnliche Gewißheit nachzuweisen, so könnte gar kein Streit entstehen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als daß der Z u s a m m e n h a n g uns nur d u r c h d i e G e s p r ä c h f ü h r u n g e n t s t e h t . Untrennbarkeit von Prinzipien und Zusammenhang des 18.4. Wi S S ens. Betrachten wir jetzt zunächst den Anfang des menschlichen Denkens in H i n s i c h t d e r P r i n z i p i e n . Als Kind besitzt der Mensch nur verworrene Vorstellungen, deren er sich nicht mehr unmittelbar erinnern, sondern die er nur nach der Analogie rekonstruieren kann, so oft er auf einen neuen, ihm völlig fremdartigen Gegenstand stößt. Wenn wir diese Prinzipien als wirkliche Formeln hätten, so würden wir keine anderen als wahre Vorstellungen haben. Unsere Vorstellungen über einen neuen Gegenstand fangen aber mit ebensolcher Verworrenheit an, d. h, es ist auch in ihnen immer Wahres und Falsches vermischt. (Übrigens lassen wir hier den Streit darüber, was Wahres und Falsches sei, beiseite und begnügen uns damit, diese Begriffe aus dem allgemeinen Verkehr der Gedanken hierher zu übertragen.) Wir sind von vornherein geneigt, den neuen Gegenstand in 4

Prinzipien und Zusammenhang des Wissens

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eine bisherige Klasse zu stellen. Gelingt dies nicht, so muß eine neue Klassifikation entstehen. Beispiele hierfür geben uns neuentdeckte Naturkräfte, deren Basis eine Reihe von Erscheinungen ist, die aber noch nicht als reine Produkte einer einheitlichen Kraft angesehen werden dürfen, da leicht noch andere unbekannte Agentien mitwirken können. Hier werden wir anfangs sehr oft unsere Ansicht über die Grundkraft wechseln. Bedenken wir, daß jedes menschliche Denken auf dieselbe Weise mit der Nichtunterscheidung des Wahren und Falschen anfängt, so geht daraus hervor, daß die Prinzipien des Wissens nicht als beständig und gesetzmäßig wirkend von uns besessen werden. Sollen sie durch Entwicklung wirksam werden, so kann dies nur durch diejenige Gedankenentwicklung geschehen, die Gegenstand unserer Kunst ist. Wo fängt ferner unser Denken in H i n s i c h t d e s Z u s a m m e n h a n g e s an? In der Kindheit beschränken sich IV. Prinzip und Zusammenhang kommen uns nicht nur während des Gesprächführens, sondern auch durch dasselbe. Denn wir fangen alle an bei zerstreuten Punkten; also kann uns der Zusammenhang nur während des Fortschreitens kommen. Ebenso fangen wir alle an bei verworrenen Vorstellungen mit der Unfähigkeit, Sicheres und Unsicheres zu unterscheiden; also kann uns diese Unterscheidung, d. h. die Prinzipien des Wissens nur währender Fortschreitung, d. h. indem1) wir unsere Kunst üben, kommen. Das erste gewisse Wissen ist das Entgegensetzen des Ich und andern, und der erste Zusammenhang ist der der Momente und Funktionen des Ich. Von da geht erst die Möglichkeit des Gesprächführens an. Aus dem allgemeinen Zusammenhang aber folgt, daß man nichts weiß, bis man alles weiß, ja daß man auch die Prinzipien des Wissens nicht eher hat. Das erste ist für sich klar, weil sich ein Wissen von seinem Zusammenhang mit anderem nicht getrennt haben läßt. Das andere erhellt so: Wenn wir annehmen, man könnte beides ohne einander, so ist klar: wer Zusammenhang sucht ohne Prinzipien, der sucht E r f a h r u n g , welche an sich kein Wissen ist. Wer Prinzipien sucht ohne Zusammenhang des Wissens, also auch ohne einzelnes Wissen, der sucht nur Formeln. Aber diese hat er dann nicht als ein Wirksames, also auch nicht als ein Gewußtes. Wo also beides getrennt ist, ist überall das Nichtwissen, also auch die Prinzipien unvollkommen. So lange wir aber noch nichts wissen, können wir auch unsere Kunst selbst nicht wissen, d. h. wir haben sie nicht eher, bis wir sie nicht mehr brauchen können. x

) Nicht wie Jon.: „während".

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Friedrich

Schleiermachers

Dialektik

unsere Vorstellungen auf zerstreute und unzusammenhängende Punkte; es existiert nur ein Fortgetriebenwerden von einem zum andern, von Zusammenhang ist nichts zu finden. Dieser entsteht erst mit dem Bewußtsein unseres Ich, d. h. mit dem Sich-selbst-setzen und Sich-andern-entgegensetzen. Doch gibt auch dies zunächst nur eine Basis, von welcher aus man die Verworrenheit der Gedanken ändern kann. Auch in der Folge können noch Fälle entstehen, wo dieses Verhältnis zum Ich streitig ist. Aber immer klarer wird dieser Zusammenhang bei allen künftigen Momenten, in denen das Ich gegeben ist und sich selbst setzt. Dies gibt uns die Möglichkeit, zu den Prinzipien des Wissens zu gelangen und durch die Stetigkeit des Bewußtseins eine Gedankenreihe schaffen zu können. Sowie dieses beides gegeben ist, die S t e t i g k e i t in d e r E n t g e g e n s e t z u n g d e s B e w u ß t s e i n s u n d d e s G e g e n s t a n d e s , und der Z u s a m m e n h a n g in d e n M o m e n t e n d e s B e w u ß t s e i n s , geht auch die Möglichkeit der Gesprächfühnmg an, und so auch der Prozeß, in dem uns die Prinzipien des Wissens werden. Verhält es sich nun so, daß nur in dieser Entwicklung und Vergleichung der Vorstellungen, wie sie das Gespräch enthält, und wie sie durch die wirksame Anwendung der Prinzipien ausgebildet werden, der innere Zusammenhang des Denkens und Vorstellens entsteht, so ergibt sich daraus eine Folgerung, die unser ganzes Vorhaben lächerlich und vergeblich zu machen scheint. Denn man weiß doch gar nichts, ehe man nicht alles weiß; und die Prinzipien des Wissens erlangt man erst dann, wenn man sie nicht mehr braucht. Wir wollen untersuchen, ob dieser Einwurf begründet ist. Wenn über einen Gegenstand verschiedene Vorstellungen bestehen, die sich nicht zueinander verhalten wie unvollkommene zu vollkommenen, sondern die der Form nach gleich ausgebildet sind, so liegt, wie wir gesehen haben, der Grund immer in einem verschiedenen Zusammenhange der Beziehungen des Gegenstandes zu anderen, wobei aber dieser Zusammenhang noch nicht gehörig erkannt ist. Denn solange ein solcher Streit noch vorkommen kann, solange ist auch der Gegenstand nicht gehörig gewußt und erkannt; und wenn wir uns vornehmen wollten, nur den Gegenstand

Prinzipien und Zusammenhang des Wissens

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an sich zu erkennen und nicht seinen Zusammenhang mit anderen, so wäre dies im ganzen ein sehr unvollkommenes Wissen oder eigentlich gleich Null. Nun aber sind wir gezwungen anzunehmen, daß es keinen partiellen Zusammenhang gibt, wenn wir nicht zugleich annehmen wollen, daß auch unsere Vorstellungen gar nicht zusammenhängen. Da nun also einiges mit etwas anderem, und dasselbe wieder mit etwas anderem zusammenhängt, so hängt auch alles mit allem zusammen; und so kommt man auf den Begriff des T o t a l z u s a m m e n h a n g e s . Es gibt also kein einzelnes Wissen, das nicht zugleich mit allem übrigen Wissen zusammenhinge. Alles Wissen und all unsere Gedanken und Vorstellungen sind unvollkommen, bis die absolute Totalität ihres Zusammenhanges hergestellt ist. Wir müssen es zunächst unbestimmt lassen, ob die Prinzipien des Wissens und der Zusammenhang desselben wirklich zweierlei sind. Obwohl die Vermutung stark ist, daß eins nicht ohne das andere sein kann, wir dies aber jetzt noch nicht entscheiden können, so müssen wir jedes abgesondert für sich betrachten. Dann gäbe es also zwei verschiedene Wege zum Wissen. Wir könnten nämlich bloß nach den Prinzipien streben und den Zusammenhang vernachlässigen, oder uns des Zusammenhanges zu bemächtigen suchen und die Prinzipien ganz beiseite stellen. Gibt es nun wohl einen solchen Menschen, der eins von beiden allein tun könnte? Offenbar ist dies überall dort der Fall, wo man Erfahrungen sammeln will, wie man zu reden pflegt, was nichts weiter heißt, als mit Vernachlässigung der Prinzipien des Wissens den Zusammenhang desselben zu erstreben. Denn Erfahrung nennen wir das Bewußtsein von Zusammenhängen der Vorstellungen und Kräfte. Ebenso kann jemand die Prinzipien des Wissens suchen, ohne nach den Zusammenhängen zu streben, indem er bei sich denkt, er wolle, da er das Vermögen, Wahres und Falsches zu unterscheiden, noch nicht erlangt habe, sich gar nicht mehr um solche Vorstellungen, bei denen ihm die Unterscheidung nicht gelingt, bemühen, sondern nur um die Prinzipien des Wissens, so daß er dann, wenn er diese erlangt habe und sie auf einzelne Vorstellungen anwende, so zum Wissen selbst gelange. In diesem

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Falle vernachlässigt man die Erfahrung und geht nur auf das Transzendente aus. In einem gewissen Sinne kann nun also wohl eine solche Isolierung vorhanden sein. Fragen wir aber, wie es in beiden Fällen um das eigentliche Wissen steht, so wird uns zur Antwort : Beide können eigentlich gar nichts wissen. Denn beim ersten hebt gewöhnlich eine Erfahrung die andere auf, und er schwankt zwischen scheinbaren Zusammenhängen, die ihm mit jeder neuen Erfahrung zu anderen werden. Ebensowenig weiß der zweite etwas, da für ihn alle Wissenschaften isoliert dastehen, und ihm daher bei jeder der absolute Zusammenhang fehlt. In dem Maße also, wie beides, Zusammenhang und Prinzip des Wissens, isoliert werden, ist eigentlich noch gar kein Wissen gegeben. Beides muß also vereint dastehen, von beiden muß man ganz durchdrungen sein. Also ist kein einziges Wissen gegeben ohne den Zusammenhang des Wissens; und ohne die Prinzipien desselben kann auch dieser Zusammenhäng nicht gegeben sein. Wenn wir von Prinzipien des Wissens reden, meinen wir, daß sie wirksam sind, um das Wissen zu konstruieren; sonst wären sie nichts. So haben wir sie also auch nicht eher, als bis wir den absoluten Zusammenhang haben. Bevor dieser nicht vollkommen ist, haben wir auch die Prinzipien nicht vollkommen wirklich. Wir haben also beides vollkommen in keiner Zeit; denn das Gesprächführen müßte dann aufhören, und damit würde auch die ganze geistige Tätigkeit des Menschen aufhören. Also sollen wir uns hier mit einer Kunst beschäftigen und die Regeln derselben suchen, die ihre Resultate uns erst dann gibt, wenn wir ihrer nicht mehr bedürftig sind. Wir müßten also eigentlich hierbei stehenbleiben und uns der Verzweiflung hingeben, nie die Kirnst ganz erschöpfen zu können, und nie die Mittel, sie zu erschöpfen, finden zu können. So könnte es uns eigentlich gleichgültig bleiben, was das möglichst höchste zu erreichende Ziel in dieser Untersuchung sei. — Allein wir wollen dennoch, ungeachtet wir die absolute Unerreichbarkeit unseres Vorsatzes eingesehen haben, den Weg zu seiner allein richtigen Erreichung einzuschlagen versuchen.

Unentbehrlichkeit der Dialektik

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Unentbehrlichkeit der Dialektik. Alles ist nun hierbei unvollkommen, und zwar in dreierlei Hinsicht: wenn wir nämlich e r s t e n s auf die Prinzipien des Wissens oder die Vollkommenheit des Denkens blicken; wenn wir z w e i t e n s den Zusammenhang alles Wissens, und d r i t t e n s die Ausübung der Kunst des Gesprächführens, beim Austausch und Verkehr der Gedanken, zum glücklichen Ende zu gelangen, betrachten. Ohne Vollkommenheit im Zusammenhange kann man aber unmöglich zu einem guten Ende des Gesprächs gelangen, denn es wird immer noch eine neue Differenz übrigbleiben, deren Auflösung zugleich eine Aufgabe für ein künftiges Gespräch ist, bis endlich durch anhaltendes Gesprächführen die Totalität des Wissens mit den Prinzipien und dem Zusammenhange aller Erkenntnis gegeben ist. Was erreicht werden könnte, wäre nur eine Verminderung der Differenzen in den Vorstellungen und die Annäherung an das Bewußtsein einer völligen Übereinstimmimg. Fragen wir aber, was in dieser Sache geschehen kann, solange wir noch von diesem Punkt entfernt sind, dessen Unerreichbarkeit wir doch schon eingesehen haben, so wird die Antwort diese sein: Man suche sich einen Teil des Wissens, eine bestimmte Wissenschaft, heraus und bestimme den Standpunkt, auf dem sie gegenwärtig steht, und suche sie V. Deshalb aber dürfen wir unser Unternehmen nicht aufgeben, denn es heißt nicht mehr, als daß alles noch unvollkommen ist, und daß wir nur können uns des Punktes bewußt werden, worauf die Sache steht, und sie etwas weiter fördern. Dies ist weniger, als Sie erwartet haben, vielleicht aber doch das Ganze mehr. Denn Prinzipien und Zusammenhang ist dasjenige, was wir Philosophie nennen, und also bekommen wir mit unserer Kunst auch die ganze Philosophie. Es ist die Frage, ob Sie das wollen. Aber keiner, der sich überhaupt mit einem Gebiet des Wissens beschäftigt, kann den Einfluß der Phüosophie auf dasselbe entbehren. Denn er kann sonst nur Materialien sammeln; denn jede Vorstellung, worin weder Prinzipien noch Zusammenhang angedeutet sind, ist nur ein Material. Wenn man aber den Einfluß einer Philosophie mit verarbeitet, ohne selbst zu phüosophieren, so ist man nur Organ eines anderen. Es scheint also zwar, als ob man die Kunst der Gesprächführung auf jedem wissenschaftlichen Gebiet brauchen könnte, auch abgesehen von ihrem spekulativen Gehalt. Allein dann könnte man sie auch nur auf das Material als solches anwenden. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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dann soviel wie irgend möglich zu fördern. Dasselbe kann man auch auf die beiden anderen Hauptpunkte anwenden. Wenn wir uns aber bei dieser Unvollkommenheit beruhigen, so ist auch schon zugegeben, daß wir weniger leisten können, als unser Vorsatz eigentlich war. Ist denn nun aber diese Unvollkommenheit wirklich so darin enthalten, wie sie uns nach dem Namen und dem Werte der Dialektik erschien? Wenn wir die Dialektik in ihrem höchsten Sinn und Umfang als Kunst des Gesprächführens betrachten, so kann und muß sie jeder Mensch gebrauchen. Denn die Aufgabe, Differenzen des Denkens zu lösen, kommt überall und unter allen Umständen vor und in allen Menschen-Ansichten. Die Vorstellungen der Menschen müssen bei jeder Vereinigung von Kräften auf eine Einheit zurückgeführt werden. Allein, nehmen wir auch das andere hinzu, daß mit der Kunst des Gesprächführens zugleich die Prinzipien des Wissens und dessen Zusammenhang gegeben sind, so liegt dies nicht jedem Menschen ob, nicht einmal allen, die es mit dem Wissen überhaupt zu tun haben. Solange der Zusammenhang alles Wissens nicht gegeben ist, kann die Annäherung daran nur geschehen, indem das Wissen abgesondert von seinem Zusammenhange getrieben wird. Ist diese Sonderung mit spekulativem Geist geschehen, und geht jeder darauf aus, das einzelne Gebiet vollkommener zu machen, so wird dadurch auch etwas für den Zusannmenhang des Wissens gefördert. Aber auch nicht allein um die Prinzipien des Wissens darf man sich ausschließlich bekümmern. Denn umsonst wären die Anstrengungen dessen, der nur nach den Prinzipien des Wissens arbeitete und das Wissen selbst vernachlässigte. Er würde nur auf leere, gehaltlose F o r m e l n stoßen. Allerdings muß auch bei dem Suchen des Zusammenhanges des Wissens eine mittelbare Rückwirkung auf die Prinzipien des Wissens selbst stattfinden. Wenn man auf einem Gebiet das vollkommene vom unvollkommenen Denken unterscheidet, so müssen dadurch auch die Prinzipien in ein klareres Licht gesetzt und natürlicher aufgefaßt werden. Die Dialektik ist allgemein geltend, wo auf geistige Art Menschen gefördert werden sollen. P h i l o s o p h i e ist d i e

Unentbehrlichkeit der Dialektik

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u n m i t t e l b a r e B e s c h ä f t i g u n g mit den P r i n z i p i e n und dem Z u s a m m e n h a n g des Wissens; und d a s Z u r ü c k g e h e n d a r a u f i s t d a s P h i l o s o p h i e r e n . Diese scheint also von der Dialektik verschieden zu sein, weil die Regeln der letzteren ihre Bedeutung haben für jeden Gegenstand, abgesondert von seinem philosophischen Gehalte. Denn man braucht sie auf jedem Gebiet, weil es sonst gar nicht möglich ist, das Neue in Zusammenhang mit dem Vorhandenen zu bringen und mitzuteilen. Aber nötig ist die Philosophie immer, da man sonst die gewonnenen Vorstellungen nicht so erhalten kann, wie sie in Wahrheit sind. Dadurch wird die Notwendigkeit der Anwendung philosophischer Betrachtung in jedem Gebiet der Dialektik bedingt. Ist es aber nun auch von allgemeinem Interesse für das ganze Gebiet des Wissens, die Kunst der Dialektik so zu behandeln, daß sie, wenn auch nur unvollkommen, die Prinzipien und den Zusammenhang des Wissens von selbst ergibt; oder kann, wer das Gebiet des Wissens ganz zum Gegenstande seiner Betrachtung macht, die Philosophie ganz beiseitestellen? Es könnte ja wünschenswert sein, die dialektischen Regeln ganz abgesehen von den Prinzipien und dem Zusammenhang des Wissens zu suchen, und es ist vielfach geklagt worden, daß das Hineintragen des Philosophierens in die einzelnen Gebiete mehr hemmend als fördernd wirke. Denken wir uns ungeachtet der Unvollkommenheit der Prinzipien und des Zusammenhanges die Vervollkommnung der einzelnen Gebiete so, daß Zweifel gelöst und unvollkommene Vorstellungen ausgeschieden werden, so ist das Zurückgehen auf die Prinzipien freilich eine retardierende Bewegung. Denn indem dies geschieht, ist doch für die Vorstellungen in dem Gebiet selbst nichts geschehen. Ebenso, wenn man von dem einzelnen Gebiet in den Zusammenhang mit allen übrigen hinübersieht. Dies ist eigentlich eine antizipierende Bewegung; aber für das unmittelbare Geschäft ist sie doch gleichfalls retardierender Art. Wessen Wirken in einem Gebiet wird aber zuletzt förderlicher sein: dessen, der die Prinzipien und den Zusammenhang des Wissens an die Spitze stellte, oder dessen, der beides ignorierte? Es ist offenbar, daß der Arbeiter der ersten 5*

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Art auf einer höheren Stufe steht und vollkommener ist. Auch im Gebiet einer einzelnen Wissenschaft kann man nicht anders zu Werke gehen, als daß man einen gewissen Stand des menschlichen Wissens voraussetzt. Wie kann aber jemand zur Voraussetzung und Bestimmung dieses Standpunktes, aus dem er alles betrachtet, kommen, wenn er mit seiner Untersuchung nicht fertig ist und sich auch gar nicht mit dieser Frage beschäftigt; wenn er also keinen inneren Impuls und kein inneres Interesse hat, sondern nur ein äußeres, und nur Organ eines fremden Impulses ist! In den Zeiten aber, wo ein philosophisches System aufgekommen und reif geworden ist, entsteht gewöhnlich eine Art Contagium, die jeder Wissenschaft zugehörigen Gebiete nach der Tendenz und Form jenes philosophischen Systems zu bearbeiten. Hieraus entwickelt sich dann jenes Herauskehren der philosophischen Form auf einem wissenschaftlichen Gebiet ganz unabhängig vom Inhalte. Wird dieses Geschäft nun von solchen betrieben, die ein eigenes philosophisches Interesse haben und auf diese Weise jeden Stoff bearbeiten, so ist es unverwerflich. Ist dies aber nicht der Fall, so wird der eigentliche Inhalt der Form geopfert. Wer sich aber gar nicht um das Philosophische kümmert, der begnügt sich damit, Materialien zu sammeln, was freilich auch verdienstlich und nützlich ist, aber doch kein eigentliches Wissen bedeutet und nur einen untergeordneten und darum wenig selbständigen Kopf verrät. Wer aber etwas Höheres unternehmen will, der bearbeitet die gesamten Materialien, und kann sich hierbei nie der philosophischen Bestrebungen entschlagen. Denn wollte er sie auch nur für ein bestimmtes Gebiet bearbeiten, so müßte er doch untersuchen, in welcher Beziehung sie zum andern Wissen stehen. Das Minimum für einen jeden, der auch nur auf einem bestimmten Gebiete des Wissens tätig sein will, ist, daß er die philosophischen Bestrebungen teile zum Behufe der K r i t i k , die auf dem Gebiet des Wissens nötig ist. Es muß aber immer einige geben, welche von einem philosophischen Interesse aus die innere Gestaltung des einzelnen Gebietes bearbeiten. Eine bloß geschichtliche Kenntnis jener Bestrebungen genügt aber nicht zu jener Kritik. Ohne philoso-

Dialektik und tätiges Leben

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phiert zu haben, bleibt jeder in seinem Gebiet nur ein Ansammler von Materialien. 6

Dialektik und tätiges Leben. Viele bemächtigen sich der 22. 4. Prinzipien u n c i des Zusammenhanges des Wissens, um dann bis 10 ZU ™ einem bestimmten Wirkungskreise. Ist f ü r ein so angelegtes Leben die Kunst, im Verkehr der Gedanken sich dieser zu versichern, etwas Überflüssiges? Durchaus nicht, denn im tätigen Leben, wo die Gebiete nicht streng gesondert sind, entstehen am meisten D i f f e renzen und zweifelhafte Fälle im Verkehr mit anderen und mit sich selbst. Keine Bildung ist möglich, ohne von den Prinzipien durchdrungen zu sein, und kein Handeln, ohne ein Wissen um den Zusammenhang der Natur und des menschlichen Lebens. Aber diese ganze Kunst ist kein Prozeß, der bestimmte Resultate liefert, die sogleich gebraucht werden können. Gehen wir in die ältesten Zeiten zurück, wo der menschliche Geist in derjenigen Richtung, worin die Keime aller unserer Kenntnisse liegen, soweit ausgebildet war, d a ß unsere Untersuchung Gestalt gewinnen konnte, so finden wir da die Klage, d a ß die Jugend, die sich dem höheren tätigen Leben im Staate widmete, zwar diese Untersuchung nicht scheue, aber sie nur bis zu einem gewissen Grad verfolge und nur in einem kurzen Zeitraum des Lebens betreibe. Der Wahlspruch dieser Klagenden war: „Entweder tief zu schöpfen oder gar nicht zu kosten." Auf der anderen Seite klagten die, welche sich schon dem tätigen Leben gewidmet hatten, d a ß die Jugend sich hier mit unnützem Spekulieren abgebe, das zu keinem Ziel führe. Unser gegenwärtiges Leben gleicht freilich dem damaligen nicht mehr, wo man auf der einen Seite das Zuviel, auf der anderen das Zuwenig beklagte. Das wissenschaftliche Gebiet ist heute auch f ü r solche Arten von Tätigkeit, die damals in geringer oder VI. Wie aber mit denen, für welche die wissenschaftliche Laufbahn überhaupt nur ein Durchgang ist ins höhere tätige Leben ? Über die doppelte Klage, welche in dieser Hinsicht immer die Praktiker und die Philosophen geführt haben. Beide unrecht, und gut so, wie es ist, daß sie alle eine Zeit lang phüosophieren, um hernach den Gang der Wissenschaft in ihrem Wirkungskreise immer begleiten und benutzen zu können.

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phiert zu haben, bleibt jeder in seinem Gebiet nur ein Ansammler von Materialien. 6

Dialektik und tätiges Leben. Viele bemächtigen sich der 22. 4. Prinzipien u n c i des Zusammenhanges des Wissens, um dann bis 10 ZU ™ einem bestimmten Wirkungskreise. Ist f ü r ein so angelegtes Leben die Kunst, im Verkehr der Gedanken sich dieser zu versichern, etwas Überflüssiges? Durchaus nicht, denn im tätigen Leben, wo die Gebiete nicht streng gesondert sind, entstehen am meisten D i f f e renzen und zweifelhafte Fälle im Verkehr mit anderen und mit sich selbst. Keine Bildung ist möglich, ohne von den Prinzipien durchdrungen zu sein, und kein Handeln, ohne ein Wissen um den Zusammenhang der Natur und des menschlichen Lebens. Aber diese ganze Kunst ist kein Prozeß, der bestimmte Resultate liefert, die sogleich gebraucht werden können. Gehen wir in die ältesten Zeiten zurück, wo der menschliche Geist in derjenigen Richtung, worin die Keime aller unserer Kenntnisse liegen, soweit ausgebildet war, d a ß unsere Untersuchung Gestalt gewinnen konnte, so finden wir da die Klage, d a ß die Jugend, die sich dem höheren tätigen Leben im Staate widmete, zwar diese Untersuchung nicht scheue, aber sie nur bis zu einem gewissen Grad verfolge und nur in einem kurzen Zeitraum des Lebens betreibe. Der Wahlspruch dieser Klagenden war: „Entweder tief zu schöpfen oder gar nicht zu kosten." Auf der anderen Seite klagten die, welche sich schon dem tätigen Leben gewidmet hatten, d a ß die Jugend sich hier mit unnützem Spekulieren abgebe, das zu keinem Ziel führe. Unser gegenwärtiges Leben gleicht freilich dem damaligen nicht mehr, wo man auf der einen Seite das Zuviel, auf der anderen das Zuwenig beklagte. Das wissenschaftliche Gebiet ist heute auch f ü r solche Arten von Tätigkeit, die damals in geringer oder VI. Wie aber mit denen, für welche die wissenschaftliche Laufbahn überhaupt nur ein Durchgang ist ins höhere tätige Leben ? Über die doppelte Klage, welche in dieser Hinsicht immer die Praktiker und die Philosophen geführt haben. Beide unrecht, und gut so, wie es ist, daß sie alle eine Zeit lang phüosophieren, um hernach den Gang der Wissenschaft in ihrem Wirkungskreise immer begleiten und benutzen zu können.

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gar keiner Beziehung zu ihm standen, wie das Religiöse, unentbehrlich. Dennoch können auch wir gegenüberstellen ein rein spekulatives Leben zum Anbau des Wissens und ein solches, das nachher ins Praktische übergeht und sich nur der Prinzipien des Wissens bemächtigt. Es kommt nun darauf an, zu beurteilen, inwieweit die Gegenstände des höheren tätigen Lebens verbunden sind mit den Prinzipien des Wissens und seinem Zusammenhange. Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus eine Kritik der Abgrenzung der verschiedenen Gegenstände menschlicher Tätigkeit. Wären die verschiedenen Gebiete des Wissens in vollkommener Ruhe, so daß ihre Grenzen genau abgesteckt wären, wie dies bei einigen Nationen der Fall ist, so könnte keine Untersuchung in ein anderes Gebiet hinüberstreifen. Bei uns jedenfalls ist es anders, und was besser sei, wollen wir nicht entscheiden. Die Fragen nach der Verwandtschaft und den Grenzen der verschiedenen Zweige menschlicher Tätigkeit (z. B. was gehört in das Gebiet der Kirche oder des Staates, was gehört in das Gebiet der Verwaltung oder der Gesetzgebung?) kommen bei uns häufig im tätigen Leben selbst zur Sprache und bleiben unentschieden. Doch muß jeder, der auf einem höheren Gebiet auftreten will, etwas in sich haben, um diese Fragen in jedem einzelnen Falle zu beantworten und sich eine eigene Überzeugung zu bilden, die er vertreten kann im Namen der Gesellschaft, der er angehört. Aber die Beantwortung solcher Fragen steht wieder in unmittelbarer Verbindimg mit der Frage nach den Prinzipien und dem Zusammenhang des Wissens. Das menschliche Wissen teilt sich auf in mannigfache Gebiete, obwohl es an sich Eines ist. Das Gebiet der Tätigkeit ist auch geteilt. Sind es mm beide auf gleiche Weise, und was ist hier das Richtige? Diese Frage können wir nicht umgehen, denn wir wollen die Einteilung des Lebens auch als ein Wissen haben. Ebensowenig läßt sich die Frage nach den Prinzipien des Wissens vermeiden, wenn man auf einer höheren Stufe im tätigen Leben steht. Es gibt kein Handeln, womit kein Wissen verbunden wäre. Denn jedem Handeln liegt eine Konstruktion von dem, was geschehen soll, zu-

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gründe. Ohne dies ist das Handeln kein festes, sondern ein instinktartiges. Was gibt es nun eigentlich hier zu wissen? Im tätigen Leben muß man wissen, wie und warum andere Menschen handeln, und wie wir ihrem Handeln eine bessere Richtung geben können. Auch ein Wissen um den Stoff, den die vereinte Tätigkeit des Menschen zu bearbeiten hat, ist nötig. So muß also ein zweifaches Wissen dem tätigen Leben zum Grunde liegen: eine Überzeugung von dem Rechten in jeder menschlichen Tätigkeit, und eine Einsicht in die natürlichen Dinge und ihr Verhältnis zum Menschen; und nur in dem Maße, in welchem jemand beides hat, ist er imstande, tätig zu sein. Um die Überzeugung, die aller Tätigkeit zum Grunde liegt, festzuhalten und die Beweglichkeit des Geistes lebendig zu halten, ist das Gesprächführen notwendig. Hier kommt es nicht bloß darauf an, daß man auf dem Gebiet der Tätigkeit mit dem Genossen Gespräche führt, sondern man muß auch ein. inneres Gespräch führen, um seine eigenen Vorstellungen zu rektifizieren. Nur in dem Grade, als wir überall ein reges Bewußtsein von Wahrheit als Grund unserer Handlungsweise haben, können wir einen Zweig der menschlichen Tätigkeit leiten; d. h. die Untersuchungen darüber dürfen uns nie fremd werden, sondern wir müssen immer auf sie zurückgehen können für das Bedürfnis unseres Kreises. Selbst können wir dann allerdings diese Untersuchung nicht führen; denn dies tun nur wenige. Aber die Anwendung dieser Resultate darf uns nicht fremd werden. Von hier aus können wir zurückgehen zu jener doppelten beständigen Klage: Haben diejenigen, die sich der Wissenschaft allein weihen, Recht zu klagen, daß die Tätigen ihre wissenschaftliche Beschäftigung nur auf einen gewissen Zeitpunkt zu beschränken suchen? Oder können die Tätigen mit Recht klagen, daß die Jugend sich allzusehr mit der Wissenschaft abgibt? Die letztere Klage scheint jetzt nicht mehr vorkommen zu können und in die Anfänge des Wissens zu gehören. Dennoch hören wir sie auch heute und finden, daß die, welche es selbst getan haben, diese Klage führen. Der Grund hierfür liegt darin, daß die verschiedenen Zeiten des Menschenlebens eine ganz verschiedene Verwandtschaft zu den beiden Gegensätzen des Lebens, dem Feststehenden,

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Ruhigen und dem Wechselnden, haben. Die Jugend, die sich anfüllen will mit jedem geistigen Sinn, ist in ihrer ausströmenden Tätigkeit beweglich in hohem Grade und nicht geneigt, sich mit dem Feststehenden im Leben zu amalgamieren. Aber nach einem längeren Leben weiß man, daß das Gute nicht ausschließlich in diesem beweglichen Element besteht, sondern daß man das Gute überall fixieren müsse. Besitzt man nun die Erfahrung des Guten, das durch die bestehenden Formen geleistet wird und verliert sich die Beweglichkeit, so besorgt man, jede Neuerung sei eine Verschlimmerung, oder es werden dabei unnötig Kräfte verschwendet. So entsteht die Neigung, das Resultat der geistigen Tätigkeit im praktischen Leben einzuschränken, damit nichts verändert werde, was aus der eigenen wissenschaftlichen Beweglichkeit hervorgegangen ist, und die Abneigung gegen alle Philosophie und höhere Wissenschaft. So erneut sich dieses Bestreben in jeder Generation. Die Klage von dieser Seite ist leicht zu begreifen, aber freilich auch nur dann gerecht, wenn sie gegen ein Übermaß gerichtet ist, das immer schwer zu bestimmen ist. Ist nun die Klage derer begründet, die sich dem spekulativen Leben widmeten, daß die Jugend sich zu wenig abgebe mit der Untersuchung über die Prinzipien des menschlichen Wissens? Offenbar handelt es sich hier um zwei entgegengesetzte Arten von Tätigkeiten des geistigen Lebens, die sich bei gewisser Virtuosität gegenseitig ausschließen. Es ist eine allgemeine Ansicht, daß jemand, der Theorien über das tätige Leben aufgestellt hat, nicht der Geschickteste sein wird, um in leitender Tätigkeit zu wirken, zu deren Erleichterung die Theorie nicht gemacht ist. Der theoretische Politiker wird schwerlich ein guter praktischer sein, weil er stets spekulieren würde, selbst bei einzelnen Fällen, was ihn dann seitwärts führen würde. Eine Ausnahme machen freilich die Genialen und Heroen, für die es keine Regel gibt. Ist dies wahr, so soll der Tätige sich wenigstens eine Zeitlang der wissenschaftlichen Untersuchung widmen, um sich nachher leichter das Neue, das entstehen sollte, aneignen zu können und es vielleicht anzuwenden, wo es an sich anwendbar ist.

Verhältnis von Kunst und Wissenschaft

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7-

Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Gleich der Name der Dialektik deutet auf eine Kunst. W a s wir aber zuzu bis 33 erwarten mußten, p f l e g t immer als ein Wissen angesehen zu werden. W i e v e r h a l t e n s i c h n u n K u n s t u n d W i s s e n s c h a f t z u e i n a n d e r ? Abstrahieren wir von dem Bisherigen und gehen auf den A n f a n g s punkt zurück, d a ß in dieser Kunst die Prinzipien des Wissens und seines Zusammenhanges liegen, so müssen wir es f ü r unwahrscheinlich halten, d a ß mit den R e g e l n einer Kunst zugleich die Elemente eines Wissens g e f u n d e n werden sollen. Keine einzige Erkenntnis läßt sich von ihrem Z u sammenhange trennen, durch den allein sie erst vollkommen wird. Sind nun Prinzipien und Zusammenhang ein Wissen, so haben sie auch nur im Gebiet des Wissens ihren Platz. Wollen wir es aber hier unternehmen, sie mit der Kunst zu suchen, so f inden wir sie im Zusammenhange der Kunst, also in einem anderen Gebiet. E s kommt also alles darauf an, 23 - 4-

VII. Näher bringt uns nun der weiteren Gestaltung des Unternehmens folgende Betrachtung: Unser erstes war K u n s t ; denn wir suchten Regeln eines Verfahrens und wollten etwas zustande bringen. Prinzipien und Zusammenhang sind W i s s e n s c h a f t . Wie kann nun letztere in ersterer enthalten sein ? Und wenn man kein Wissen hat als in einem bestimmten Zusammenhange, und der Zusammenhang, wenn man die Philosophie als Wissenschaft aufstellt, ein anderer sein muß, weü man hier jene Kunst nicht sucht: so scheint, als ob wir nicht auf beide Weisen könnten dasselbe finden. Es kommt hierbei auf das V e r h ä l t n i s v o n K u n s t u n d W i s s e n s c h a f t ü b e r h a u p t an. Wir müssen beide in ihrer größten und geringsten Differenz auffassen. Man hat z. B. die Geometrie in wissenschaftlichem Zusammenhang, ohne zu wissen, wie ein Satz aus dem anderen entstanden ist. Dieses aber war dabei die Kunst; also die Wissenschaft kunstlos. Ebenso in der höheren Mathematik, wo die Erfindung der Formen und Methoden die Kunst ist. Aber die Kunst gewordene Wissenschaft und die Wissen gewordene Kunst ist dann das Höchste, was 1 ) aber von beiden Seiten angeht. Dasselbe güt von den Elementen nach §§ 18 bis 37. Dieses nun angewendet, kann man auch die Phüosophie haben ohne Kunst, und vielleicht auch unsere Kunst ohne Wissenschaft. Wenn aber die Wissenschaft Kunst werden soll, so wird sie2) unsere Kunst, weü man nicht eher anfängt, Prinzip und Zusammenhang zu suchen, als bis man beides vermißt, d. h. bis das Geschäft der Gesprächführung angeht. !) nicht wie Jon: „welches",

s)

Hs.: „es"; korr. Jon.

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daß wir uns darüber verständigen, wie sich Kunst und Wissenschaft zueinander verhalten. Bei unserem Unternehmen ist von einer Kunst die Rede, denn wir wollen die Regeln suchen, wonach etwas gemacht werden soll. Das ohne Regeln Vollbrachte ist das Kunstlose. Wir wollen das Geschäft vollbringen, die Differenzen im Gespräch auf ihre Einheit zu bringen. Dies hin wir nach Regeln, nach einer Theorie oder- Kunstlehre; und diese ist Wissenschaft. Daß die Wissenschaft Prinzipien und Zusammenhang des Wissens enthalte, entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch. Allerdings besteht hier keine allgemeine Übereinstimmung. Andere sagen, es gebe nur einzelne Wissenschaften, und die Erkenntnis der Prinzipien des Wissens stehe über diesen Gebieten und müsse auch einen höheren Namen haben. Dies zu untersuchen, ist hier nicht der Ort. Wir sehen nur zu, wie sich Wissen im gewöhnlichen Sinne zur Kunst verhält. Wir wollen jene beiden Ausdrücke in der größten Nähe und Entfernung zueinander aufsuchen, um ihr Verhältnis zu finden. Wenn wir einen Komplexus von Gedanken Wissen nennen, so setzen wir einen Zusammenhang unter ihnen voraus, so daß jedes Einzelne ein integrierender Teil des Ganzen ist. Das ist die allgemeine Forderung zu einem Wissen. Aber die Art, wie ein Einzelner, der die Wissenschaft aufstellt, dazu gekommen ist, die Genesis des Bewußtseins, wird gewöhnlich ignoriert. Betrachten wir die Geometrie, so wird diese eine Wissenschaft genannt; man schreibt ihr überdies einen ganz vorzüglichen Grad zu. Jeder folgende Satz muß sich auf einen früheren zurückbeziehen; dann erst ist ein solches Lehrbuch vollkommen. Wenn wir aber einen früheren und späteren Satz miteinander vergleichen und dabei die Beweise berücksichtigen, so sehen wir doch nicht, wie der, der das Ganze zusammenstellte, von dem einen Satz auf den anderen gekommen ist. Die Kunst des Erfindens ist also eine andere als die Wissenschaft des Erfundenen; der Zusammenhang und die Art, wie man von einem zum anderen gekommen, ist gar nicht dasselbe. Dies gilt auch von der höheren Mathematik. Sie ist eine Zusammenstellung von allgemeinen Formeln, um alle auf die Größe sich beziehenden Aufgaben zu lösen. Wir sehen aber nicht, wie die

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Erfinder der Formeln auf diese gekommen sind. So treten also auch hier Kunst und Wissen auseinander. Mancher kann den wissenschaftlichen Zusammenhang haben, ohne zu wissen, wie das Einzelne erfunden ist. Je mehr man sich nun an das Wissenschaftliche hält, desto mehr verschwindet das andere. Viele werden sagen, eine Kunst der mathematischen Erfindung lasse sich gar nicht aufstellen, denn das sei Sache des Genies, und man finde unbewußt. Wenn nun letzteres der Fall ist, so liegt der Wissenschaft die Kunstlosigkeit zugrunde. Vollkommener aber ist offenbar das Wissen, dem wirklich eine Kunst zugrunde liegt, denn solange noch die Kunstlosigkeit obwaltet, steht die Wissenschaft auf unsicherer Basis. Wenn dagegen eine Anweisung zur Ergänzung des Fehlenden da ist, ist dies die höchste Stufe der Wissenschaft; und dann ist auch eine solche T h e o r i e d e s E r f i n d e n s vorhanden. Denken wir uns nun die Sache umgekehrt und sagen: Wenn nur die Erfinder sogleich auch darüber nachgedacht hätten, wie sie zu der Entdeckung gekommen wären; wenn sie nur die verborgenen Tiefen des Bewußtseins ergründet und eine Anweisung zur mathematischen Erfindung gegeben hätten! Hierauf müssen wir antworten: Wenn auch eine solche Anwendung existierte, aber der wissenschaftliche Zusammenhang des Erfundenen nicht dastände, so wäre dies ein unvollkommener Zustand von der anderen Seite aus. Also: D i e K u n s t d e s F in d e n s w i l l W i s s e n s c h a f t w e r d e n und die W i s s e n s c h a f t des E r f u n d e n e n Kunst; u n d n u r in d e r I d e n t i t ä t b e i d e r i s t h ö c h s t e V o l l kommenheit. Gilt dies aber auch von anderen Künsten; so etwa auch von der Malerei ? Offenbar nicht, weil wir hier einen wissenschaftlichen Zusammenhang nicht aufzufinden wissen. So sehen wir, daß wir auf dem Kunstgebiet Kunst und Wissenschaft nicht gegenüberstellen können. Aber wir werden auch nicht sagen können, daß jede Wissenschaft Kunst geworden sein muß, um vollkommen zu sein, sondern nur: es möchte eine Kunst geben für das allgemeine Gebiet des Denkens. Aber etwas Analoges gilt auch für die ausübende Kunst. So unterscheiden wir in der Malerei ein kunstloses und ein kunstmäßiges Verfahren. Der Künstler ist sich seiner Aus-

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Übung bewußt nach Regeln. Diese Regeln besitzt er entweder als einzelne Tradition oder in einem wissenschaftlichen Zusammenhange. Und wenn die Kunstlehre nach diesem strebt, so ist auch hier eine Vereinigung von Wissenschaft und Kunst gesetzt. Die Kunstlehre in der Kunst muß Wissenschaft, das Verfahren in der Wissenschaft muß Kunst geworden sein. Wir werden uns dies bestätigen können, wenn wir nicht so sehr auf die Komplexe als auf die einzelnen Elemente sehen. Jedem kunstmäßigen Verfahren kann ein Wissen vorangehen oder nicht. Im ersten Fall ist es vollkommener. Dies gilt f ü r beide Seiten, wir mögen auf das einzelne Wissen sehen als Element der Wissenschaft, oder auf die Ausübung als Element der Kunst. Betrachten wir die einzelnen Zustände des Menschen in seiner geistigen Tätigkeit, so werden wir zunächst unterscheiden einen Zustand, der mehr leidentlich, und einen, der mehr tätig ist (ein absoluter Gegensatz findet nicht statt). Eine Vorstellung, die ich durch die Sinne erlange, ist, verglichen mit der, die ich durch einen absichtlichen, innerlich eingeschlagenen Gedankenprozeß gewinne, ein mehr leidentlicher Zustand. Zum ersten kann ich mit einem Minimum von Wollen gelangt sein. Zum letzten hat eine Reihe von Wollungen gehört, daher hierin mehr Tätigkeit liegt. Nehmen wir auf der anderen Seite eine Ausübung, eine Handlung, die kunstlos oder kunstgemäß sein kann, so finden wir hier einen analogen Gegensatz. Es kann ihr ein Minimum oder Maximum von Denken oder Wissen zum Grunde liegen. Vieles tun wir mit einem Maximum von Bewußtlosigkeit, und dies ist ein unvollkommener Zustand des Handelns in geistiger Hinsicht. Die rein organischen Funktionen des tierischen Lebens gehen bewußtlos vor sich, und darin liegt ihre Vollkommenheit auf dieser Stufe. Je mehr wir uns aber hiervon entfernen und ins geistige Gebiet treten, um so mehr ist die Bewußüosigkeit ein Zeichen der Unvollkommenheit einer Handlung. Bei einer kunstmäßigen Handlung ist nicht nur ein begleitendes, sondern auch ein vorangehendes Bewußtsein da. Denken wir uns das Entstehen eines Kunstwerkes, so ist die Idee stets schon vor dem Kunstwerk vorhanden und wird nur durch die Tat realisiert. Je vollkommener das

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Bewußtsein ist, das der Ausübung vorangeht, desto vollkommener ist auch die Ausübung als Kunst; und je vollkommener die Willenstätigkeit, wodurch das Wissen vollbracht wird, desto vollkommener wird dieses. Die Willenstätigkeit ist aber das Kunstmäßige darin, und so kommt die Kunst überall auch in die Wissenschaft hinein. Jedes Wissen will eine Kunstfertigkeit haben und beides ist also genau verbunden. Der relative Gegensatz beruht nur auf dem entgegengesetzten Anfang und Ende, verschwindet aber im Prozeß selbst. Hierzu eine Anwendung. Wir wollen uns denken, es würden gesucht die Prinzipien des Wissens und die Konstruktion seines Zusammenhanges, so wird die Wissenschaft, die wir Philosophie nennen, gesucht. Soll diese vollkommen sein, so muß sie auch Kunst geworden sein, d. h. es muß eine Lehre geben, wie in der Auffindung des Wissens zu Werke zu gehen ist. Und haben wir beides, wissenschafÜichen Zusammenhang und diese Kunstlehre, so ist die Wissenschaft vollkommen. Wie wird aber diese Kunstlehre beschaffen sein? Um die Prinzipien des Wissens zu suchen, muß der Unterschied zwischen vollkommenem und unvollkommenem Zustand der Vorstellungen, und um den Zusammenhang des Wissens zu suchen, muß schon ein zerstreutes Wissen gegeben sein. Aber die vollkommenen und unvollkommenen Vorstellungen könnten wir nicht finden, wenn nichts Identisches in ihnen wäre. Sie müssen sich also auf denselben Gegenstand beziehen und werden daher im Streit sein. Sind die Prinzipien gefunden, so hat der Streit aufgehört. Die Kunst also, die Prinzipien des Wisseins zu finden, kann keine andere sein als unsere Kunst der Gesprächführung. Indem wir also unsere Aufgabe verfolgen, den Streit zwischen den Differenzen des Wissens durch die Auffindung des allgemeinen Zusammenhanges des Wissens zu lösen, wird dies wieder das Resultat einer vollkommenen Behandlung dieser Kunstlehre sein. Alles Wissen fängt von zerstreuten Punkten an; nicht allein das, was durch die Sinne wahrgenommen wird, sondern auch das auf wissenschaftlicher Tradition beruhende. Denn zuerst werden uns hier nur einzelne Kenntnisse gelehrt.

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Wo nun kein wirklicher Zusammenhang ist, da ist doch die Möglichkeit des Zusammenhanges gegeben, und zwar eine größere oder geringere, d. h. es ist auch die Möglichkeit streitender Vorstellungen darüber gegeben. Aus der Möglichkeit aber geht auch die Wirklichkeit hiervon hervor. Soll also eine allgemeine Konstruktion des Zusammenhanges alles Wissens entstehen, so kann sie nur von diesen streitenden Vorstellungen ausgehen, und zwar durch unsere Kunst. Nun wollen wir uns des Verfahrens bewußt werden, von dieser Differenz zur Einheit zu kommen. Soll zur wissenschaftlichen Form die Kunstform kommen, so muß unsere Kunst genetisch die einzelnen Differenzen aufsuchen und feststellen. Auf dem Wege der Gesprächführung werden wir ebendahin kommen. Schlagen wir den Weg der Kunst ein, so finden wir die Prinzipien in einem anderen als dem wissenschaftlichen Zusammenhange. Jede Kunst will aber Wissenschaft werden, und so sollen uns die Regeln, jene Differenz aufzuheben, selbst ein vollkommenes Wissen werden. Sollen differente Vorstellungen zur Einheit gebracht werden, so muß man entweder feststellen, was in der einen verknüpft ist, und auflösen, was in der anderen verbunden ist, oder beide müssen auf eins zurückgeführt werden. GeVIII. Auch muß derselbe Zusammenhang, den Prinzip und Konstruktion und wissenschaftliche Form haben, sich erzeugen, wenn sie durch unsere Kunst zum Vorschein kommen. Denn der Unterschied zwischen vollkommenem und unvollkommenem Denken muß durch alle Gegenstände durchgeführt werden, und dabei muß er konstruiert werden (NB. Geschieht dies auch in der Folge wirklich ?). Und streitiger Zusammenhang kann nur entschieden werden durch die Nachweisung, daß ihn annehmen oder nicht annehmen ein unvollkommenes Denken ist. Es mag also an sich gleichgültig sein, wobei man anfängt, wenn eins das andre hervorbringt. Aber es ist nicht gleich für das verschiedene Verhältnis zur Wissenschaft. Die Spekulativen können mit der Wissenschaftsform anfangen, die Realen und Praktischen müssen mit der Kunstform anfangen (§§ 24, 25), weil sonst das, was sie beständig brauchen müssen, zu sehr in Schatten tritt. Dann aber auch, wenn Einheit in der Philosophie ist, mag es besser sein, mit der Wissenschaftsform anzufangen; wenn Vielheit, besser mit der Kunstform, weil diese die Prüfung erleichtert. Nun aber ist noch nie wahre Einheit gewesen, sondern nur schwankendes Gleichgewicht mehrerer Systeme; also immer besser mit der Kunstform anfangen.

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schieht dies, und sind nunmehr beide Verknüpfungen richtig, so entsteht daraus ein Wissen um den Zusammenhang der Vorstellungen, über die Streit war. Oder will man zeigen, daß differente Vorstellungen nicht gegeneinander streiten, weil sie in verschiedenen Zusammenhängen stehen, von denen der eine den andern nicht ausschließt, so muß man beider Grenzen zueinander erforschen; und dies ist ein zweiter Punkt in der Organisation des allgemeinen Zusammenhanges. Das Wissenschaftliche in diesem Verfahren wird dann das sein, wodurch uns klar wird, daß sich die Regeln unserer Kunst auf alle Gegenstände des Denkens anwenden lassen. Wenn es andrerseits zum Wesen unserer Kunst gehört, Vorstellungen nach ihrer Vollkommenheit zu unterscheiden und das Verhältnis zwischen den verschiedenen Graden der Vollkommenheit des Denkens und den verschiedenen Gegenständen des Wissens zu bestimmen, und wir uns des Verfahrens dabei vollkommen bewußt werden, so heißt das nichts anderes, als daß wir die Prinzipien des Wissens als ein wirkliches Wissen, d. h. mit dem höchsten Bewußtsein haben. Die Art des Zusammenhanges der Prinzipien des Wissens ist das Verhältnis zwischen den verschiedenen Graden der Vollkommenheit des Denkens und den verschiedenen Gegenständen des Wissens. Dieser Zusammenhang wird uns nicht entgehen können; und indem diese Kunst die Annäherung zur Wissenschaft aufstellen soll, so wird sie zu gleicher Zeit mit in sich schließen die größtmögliche wissenschaftliche Darstellung. Es ist nun zwischen beiden Arten des Verfahrens kein Unterschied, und es ist gleich, ob man ausgeht von der wissenschaftlichen Darstellung der Prinzipien des Wissens und ihrer allgemeinen Konstruktion, oder von der Darstellung der Kunst, Differenzen zur Einheit zu bringen. Wird eine wissenschaftliche Darstellung von den Prinzipien gegeben und endet sie nicht in die Regeln der Kunst, differente Vorstellungen in eins aufzulösen, so ist sie unvollkommen; denn sie hat nicht das rechte Bewußtsein, wie sie aus dem früheren Zustand des Wissens geworden ist. Enthält die Kunst nicht die Darstellung der Prinzipien des Wissens, •so ist sie unvollkommen eingeteilt, weil ihr Verhältnis zu allen möglichen Vorstellungen, wo Dif'ferenzen sein können,

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nicht mitgesetzt ist, und es also an klarem Bewußtsein ihres Umfanges fehlt. Jede der beiden Aufgaben wird nur vollkommen gelöst, wenn die eine zugleich mit der anderen gelöst wird. So scheint an sich eine völlige Gleichheit zu sein zwischen den beiden Anfangspunkten, wenn man nur immer von einem zum andern kommt. In bestimmten Fällen kann aber doch der eine ratsamer sein als der andere. Wollen wir uns hierüber Rechenschaft geben, so können wir nur auf das Verhältnis zurückgehen, in dem jeder zur gesamten Aufgabe steht. Demjenigen, welcher seinem Leben eine vollkommene spekulative Richtung geben will und kann, ist diese doppelte Aufgabe, wenn sie auch immer nur einen Teil der Gesamtaufgabe seines Lebens darstellt — denn niemand kann sich völlig isolieren —, doch das eigentliche Ziel, während alles andere nebenbei liegt. Diejenigen aber, die sich in einem bestimmten Gebiet des realen Wissens einheimisch machen wollen, und deren Richtung nicht so spekulativ ist, und noch mehr diejenigen, deren Hauptgeschäft auf einem bestimmten Gebiet des tätigen Lebens liegt, befinden sich in dieser Beziehung in einem ganz anderen Verhältnis. Wenn der Spekulative mit der wissenschaftlichen Darstellung anfängt, so macht er sich die Hauptaufgabe seines Lebens in ihrem ganzen Zusammenhange klar, indem er sich der Prinzipien des Wissens und seines Zusammenhanges bewußt wird. Das wird natürlich und löblich sein, nur darf er dabei nicht stehenbleiben und unsere Kunst nicht vernachlässigen; sonst wird er sich über den eigenen Prozeß seines Denkens nicht klar. Wenn aber einer der beiden anderen gelehrten Klassen, die sich doch auch ,mit diesen Untersuchungen beschäftigen müssen, mit einer wissenschaftlichen Darstellung anfängt, so macht er sich nicht die Hauptaufgabe seines Lebens klar, sondern sucht nur den Ort zu bestimmen, worin das zur Lösung seiner besonderen Aufgabe Nötige liegt. Fängt er mit der Kunst an, so will er sich des Verfahrens bewußt werden, welches er auf jedem Schritt seines Lebens zu beobachten hat. Dies also scheint der übereinstimmende Anfang aller jener Mensch«! zu sein. Aber den letzteren müssen wir noch sagen: Begnügt euch nicht mit dem Wissen dieser Kunst allein,

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sondern wendet sie an und werdet euch bewußt, welchen Ort jedes Neue im Wissen einnimmt; nehmt also hernach damit zusammen die wissenschaftliche Darstellung, sonst werdet ihr doch nicht als wahrhaft Wissende auftreten in eurem Gebiet I Schließen wir hieran noch eine Betrachtung über den Zustand, in dem sich die Philosophie als wissenschaftliche Darstellung der Prinzipien und des Zusammenhanges befindet. Hier müssen wir wohl, da man einen bestimmten Augenblick in der Gegenwart doch nie vollkommen fixieren kann, sondern jeder Punkt einen Raum und eine Mannigfaltigkeit in sich schließt, die Gegenwart nicht als Zeitpunkt, sondern als Zeitraum fassen und sagen: Der gegenwärtige Zustand ist derselbe wie in jedem früheren Zeitraum, in dem die Philosophie wissenschaftlich aufgetreten ist. Stets bilden sich verschiedene Darstellungsweisen der Philosophie als Wissenschaft, und nur das Verhältnis dieser Darstellung^ weisen ist verschieden und wechselnd. Es gibt Zeiträume, wo freilich eine bestimmte philosophische Darstellungsart zu dominieren scheint. Aber wie diese neue Art das Resultat eines vorhergegangenen Streites in den Vorstellungen mehrerer gegeneinander ist, so ist sie selbst wieder nur Vorspiel zu einem künftigen Streit. Dies bestätigt die Geschichte. Leicht entsteht bei einem herrschenden System der Schein, als sei es ein bleibendes und vorbereitet von allen früheren Systemen. Aber stets wird diese Ansicht durch die Folgezeit widerlegt. So haben wir also kein Recht anzunehmen, dieser Wechsel werde jemals aufhören. Nun steht aber die Sache niemals so, daß es eine allgemeine Weise zu philosophieren zu einer Zeit gäbe; sondern es gibt nur Zeitpunkte, wo in einem gewissen Volke eine Art zu philosophieren vorherrscht. Aber selbst in einem solchen Zeitpunkt gibt es doch immer noch einzelne, die anders philosophieren, aber damit nicht öffentlich auftreten, weil sie auf keinen E r f o l g rechnen können, sondern das ihrige als eigenes Gut und eigene Art festhalten. Also ist stets eine gleichzeitige Mehrheit von Darstellungen in der Form der Philosophie vorhanden. Wenn nun die Spekulativen mit solchen wissenschaftlichen Darstellungen anfangen, so bestimmen sie sich dadurch im voraus, und zwar zu einer Zeit, wo sie noch nicht S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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durch Besitz der Dialektik in den Stand gesetzt sind, aus Differenzen eine Einheit hervorzubringen und ihre Weise der Philosophie mit anderen zu vergleichen; sondern sie sehen die eine Weise aus dem Standpunkt einer anderen Weise an, also aus einer ungünstigen Perspektive, und werden so verhindert, die Vergleichung anzustellen. Fangen sie dagegen mit jener Kirnst an, so setzen sie sich in den Stand, über die verschiedenen Weisen der wissenschaftlichen Darstellung selbst eine Entscheidimg zu treffen; und ihr Besitz wird dann geprüfter und begründeter sein, wenngleich er später erlangt wird. Also ist es hier nicht ratsam, mit der Überlieferung einer besonderen Darstellung anzufangen, sondern erst mit der Kunst, um gehörig prüfen zu können. Wenn wir diesen Zustand der Wissenschaft genauer betrachten und fragen, woher es komme, daß die Philosophie aus dieser Differenz streitender Formen noch nie zu einem Beharrlichen herausgekommen ist, so müssen wir sagen: Wenn alle diese verschiedenen Formen sich rein zueinander verhielten wie vollkommene zu minder vollkommenen, so wäre es ja kaum möglich, daß immer wieder vollkommene Formen von unvollkommenen besiegt werden könnten, da sich doch die dialektische Kunst, Verschiedenes zu einigen, auch immer mehr vervollkommnet. Es muß also noch eine andere Differenz geben, und jede Form der Darstellung muß ihre relative Vollkommenheit haben; wir sind nur noch nicht dahin gekommen, wo alle diese relativen Vollkommenheiten auf einen Punkt vereinigt sind. Dieselbe Form ist also auch nicht für alle die beste, denn der eine ist empfänglich für diese relative Vollkommenheit, der andere für eine andere. Er muß also, ehe er sich in eine bestimmte Form verwickelt, prüfen können, welche für ihn am besten ist. So scheint auch von dieser Seite aus die Dialektik das erste sein zu müssen, was zu unternehmen ist, damit jeder seinen philosophischen Standpunkt kennenlernt. Sonst kommt das Individuelle durch tote Tradition in eine Form, die ihm nicht angemessen ist, und deren er sich nie klar bewußt wird. 9-

Wenngleich wir gesehen haben, daß, indem wir die Kunst bei einem jeden streitigen Gedankenverkehr zu

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einer Einheit und Übereinstimmung zu gelangen, wir dabei auch die Prinzipien des Wissens und die Konstruktion gewinnen können, so können wir uns doch nicht ebenso leicht überzeugen, daß wir das auch wirklich erreichen werden. Trotzdem müssen wir von Anfang an auf die Verbindung beider Ziele ausgehen und uns ihrer bewußt sein. Analog ist es mit dem H a n d e l n überhaupt. Auch hier gibt es ein ganz bewußtloses: das Handeln des Ungebildeten, und ein Handeln mit dem Bewußtsein der Gründe und des Verfahrens. Das Handeln mit Bewußtsein ist das sittliche. Nun gibt es hierüber zugleich eine Wissenschaft, welche wir die Sittenlehre nennen. Aber an sich ist es nicht notwendig, daß, wer sittlich handelt, also künstlerisch verfährt, die Wissenschaft kennt. Denn wenn einer sich selbst eine Formel für den Unterschied zwischen sittlichem und unsittlichem Handeln aufgestellt hat, sich danach prüft und auch in dem Verfahren immer aufmerksam ist, daß nichts jenem Gesetz Widersprechendes hineinkomme, so hat das eine bestimmte Analogie mit dem künstlerischen Verfahren. Aber damit ist IX. Wir müssen uns nur immer im Übergang erhalten, damit wir nicht, wie es auf dem Gebiet der Sittlichkeit zu gehen pflegt, bei der Kunst stehenbleiben, ohne zur Wissenschaft zu gelangen (§§ 27—31b). Unter dieser Voraussetzung ist also das Resultat beider Wege gleich, und am gemeinschaftlichen Endpunkte darf eigentlich kaum mehr zu sehen sein, von wo jeder ausgegangen ist. Nicht übergehen aber können wir die Frage: Wenn wir uns nun auf diesen Endpunkt stellen, wo ist dann der beiderseitige Anfang ? Offenbar nicht da, wo das Dominierende auf jeder Seite schon als«Maximum ist und nur das Untergeordnete als Minimum; denn jenes kann auch nur unter Anwendung der dialektischen Kunst entstanden sein. Sondern wo beides als Minimum ist, d. h. wo das philosophische Bestreben noch in einem andern involviert ist (§§ 34. 35)- Von hier aus können dann beide Wege eingeschlagen werden. Unter (§ 36) welchen Umständen geschieht dies? Wir haben nur ein geschichtlich ganz reines philosophisches Gebiet, nämlich das hellenische, dessen Hergang § 37. Selbst in Aristoteles' Metaphysik trat die absolute Wissenschaft nicht heraus; denn sie hatte, wie verunstaltet wir sie auch besitzen mögen, doch gewiß keine systematische Form. Diese also ist zurückgeblieben, die Kunstlehre aber stark hervorgetreten. Das moderne Gebiet ist zwar gemischt, aber doch als neu anzusehen, weil die Gestaltung erst vom Eintritt des neuen, christlichen Prinzips anging (§ 38). 6*

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nicht jene Wissenschaft gegeben; denn diese muß den Zusammenhang des sittlichen Handelns im allgemeinen darstellen. Es wäre so auch möglich, daß wir uns die Regeln, zu einem übereinstimmenden Handeln zu kommen, vorzeichneten. Wenn wir dagegen nur auf einzelne Fälle und Anwendungen sähen, würden sich uns dadurch ebensowenig der Zusammenhang und die Prinzipien des Wissens um das Sittliche ergeben. Auf der anderen Seite ist doch der, welcher mit dem Bewußtsein der Gründe handelt, näher, zum Wissen des Sittlichen zu gelangen, als der, der sich um die Regeln des Handelns nicht bekümmert. — Ebenso ist es hier. Indem wir die Regeln des Denkens aufsuchen und anwenden, sind wir näher, zur Konstruktion des Wissens zu gelangen als einer, der keine bestimmten Gesetze besitzt und nur in verworrenem Gedankenverkehr handelt. Wir müssen also stets darauf achten, in diesem Übergange von der Kunstlehre zur Wissenschaft zu bleiben. Sagt jemand, wir seien bisher stillschweigend von der Differenz von Kunst und Wissenschaft ausgegangen, und also scheine der Ü b e r g a n g von der Kunstlehre zur Wissenschaft immer ein S p r u n g zu sein, so ist dies wahr. Denn wir haben gesagt, wir sollten eigentlich zwei ganz verschiedene Sachen tun und nur aufmerken, wo es am bequemsten ist, von der einen zur anderen überzugehen. Dann aber hätte unser Verfahren eine ganz unkünstlerische und unwissenschaftliche Duplizität. Hierzu bedarf «es einer h i s t o r i s c h e n E r ö r t e r u n g . §§ 34

Zur Geschichte der Dialektik. Wir stellten uns die Sache so dar: Wenn wir die Prinzipien und den Zusammenhang des Wissens als Wissenschaft hätten, so hülfe uns dies nichts, wenn wir nicht auch die Kunstlehre der Ausübimg hätten, um unsere Vorstellungen auf jene zurückzuführen. Ebenso haben wir gesagt, daß uns die Kunstlehre, wenn wir sie finden, doch nicht befriedigen könnte, wenn wir nicht die Prinzipien des Wissens konstruieren. Also auch hier muß man von einem zum andern übergehen. Gesetzt, es wären alle denkenden Menschen stets in diesem Prozeß begriffen gewesen, die einen von der philosophischen Wissenschaft zur dialektischen Kunst, die anderen von dieser zu jener zu

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nicht jene Wissenschaft gegeben; denn diese muß den Zusammenhang des sittlichen Handelns im allgemeinen darstellen. Es wäre so auch möglich, daß wir uns die Regeln, zu einem übereinstimmenden Handeln zu kommen, vorzeichneten. Wenn wir dagegen nur auf einzelne Fälle und Anwendungen sähen, würden sich uns dadurch ebensowenig der Zusammenhang und die Prinzipien des Wissens um das Sittliche ergeben. Auf der anderen Seite ist doch der, welcher mit dem Bewußtsein der Gründe handelt, näher, zum Wissen des Sittlichen zu gelangen, als der, der sich um die Regeln des Handelns nicht bekümmert. — Ebenso ist es hier. Indem wir die Regeln des Denkens aufsuchen und anwenden, sind wir näher, zur Konstruktion des Wissens zu gelangen als einer, der keine bestimmten Gesetze besitzt und nur in verworrenem Gedankenverkehr handelt. Wir müssen also stets darauf achten, in diesem Übergange von der Kunstlehre zur Wissenschaft zu bleiben. Sagt jemand, wir seien bisher stillschweigend von der Differenz von Kunst und Wissenschaft ausgegangen, und also scheine der Ü b e r g a n g von der Kunstlehre zur Wissenschaft immer ein S p r u n g zu sein, so ist dies wahr. Denn wir haben gesagt, wir sollten eigentlich zwei ganz verschiedene Sachen tun und nur aufmerken, wo es am bequemsten ist, von der einen zur anderen überzugehen. Dann aber hätte unser Verfahren eine ganz unkünstlerische und unwissenschaftliche Duplizität. Hierzu bedarf «es einer h i s t o r i s c h e n E r ö r t e r u n g . §§ 34

Zur Geschichte der Dialektik. Wir stellten uns die Sache so dar: Wenn wir die Prinzipien und den Zusammenhang des Wissens als Wissenschaft hätten, so hülfe uns dies nichts, wenn wir nicht auch die Kunstlehre der Ausübimg hätten, um unsere Vorstellungen auf jene zurückzuführen. Ebenso haben wir gesagt, daß uns die Kunstlehre, wenn wir sie finden, doch nicht befriedigen könnte, wenn wir nicht die Prinzipien des Wissens konstruieren. Also auch hier muß man von einem zum andern übergehen. Gesetzt, es wären alle denkenden Menschen stets in diesem Prozeß begriffen gewesen, die einen von der philosophischen Wissenschaft zur dialektischen Kunst, die anderen von dieser zu jener zu

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gehen, und beide Wege wären zusammengetroffen, nachdem sie sich stets genähert hätten, dann wäre uns also damit der Endpunkt bestimmt gegeben, nämlich durch das Zusammentreffen der beiden Direktionen, wonach dann also auf diesem Gebiet nichts mehr zu tun wäre. Nun aber entsteht die Frage, wo der Anfangspunkt des Prozesses liegt. Auf der Seite, die mit der Dialektik beginnt, liegt jeder Punkt in dem Maße vom Endpunkt zurück, je mehr er Streit enthält, und je mehr die Beziehung auf das philosophische Wissen zurücktritt, und ebenso umgekehrt auf der anderen Seite. Wenn nun aber doch der Endpunkt nur einer ist, so muß doch eigentlich auch der Anfangspunkt nur einer sein. Denn geschichtlich angesehen kann nirgends angefangen werden mit einem Maximum dialektischer Kunst, so daß die Wissenschaft daneben ein Minimum wäre und umgekehrt. Der wahre Anfangspunkt liegt also weiter zurück als beide relative Differenzen. Wenn es sich also so verhält, daß die Übergänge von der Kunstlehre zur Wissenschaft und umgekehrt approximierend mebeneinandergehen, so ist der gemeinschaftliche Anfangspunkt ein solcher, wo ein Minimum von b e i d e n ist, also ein Nullpunkt als absolutes Minimum; d. h„, die Philosophie fängt unter dieser zweifachen Kombination mit einem Nullpunkt an, nur nicht mit einem Nullpunkt der geistigen Operationen überhaupt, denn dies wäre ein zu weites Zurückgehen und würde uns in das rein Psychologische führen. Aber es gibt einen Anfangspunkt, wo das eigentliche Philosophische gleich Null ist, während andere Geistestätigkeiten sich schon entwickelt haben, worin das Philosophische involviert ist. Dieser Formel müssen wir erst einen Wert unterlegen, und damit ist der Übergang ins Geschichtliche gegeben. W i e fängt die Philosophie überall an, wo wir sie bis in ihre ersten Ursprünge zurückverfolgen können? Dort, wo sie durch Tradition einer anderen Sprache und von einem anderen Volk her sich entwickelt, wie bei den Römern, ist sie nicht wirklich entstanden. Dagegen gibt es kein bekannteres Beispiel als die griechische Philosophie, wo auch unsere Kunst zuerst entstand. Hier finden wir die ersten bewußtlosen Elemente des Philosophierens, sich herausentwickelnd aus der Vermischung mit dem Poetischen. Hier finden wir Produk-

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tionen desselben Gehalts, aber in einer ganz anderen Form: als Produktionen der Phantasie. Alles was hierin nach der Seite der dialektischen Kunst hinsieht, ist Null, desgleichen die wissenschaftliche Form; denn die Totalität der Poesie ist eine andere als die philosophische. Aber dennoch latitieren in diesen Bestrebungen die ersten philosophischen Elemente. Nun können wir sagen, daß das Analogon hierzu überall zu finden sein wird, und daß in allen Sprachen das Poetische, d. h. das Mythologische, das seinem Gehalt nach philosophisch ist, älter ist als Wissenschaft und Kunstform. Unter dieser Voraussetzimg können wir sagen, daß aus diesem Zustande, wo beides ein Minimum ist, auch beide Richtungen hervorgehen können: die dialektische Kunst, wo Wissenschaft latitiert, und umgekehrt. Wie ist nun aus diesem Zustande die Entwicklung bei den Griechen vor sich gegangen ? Offenbar so, daß das der Produktion der Phantasie gegenüberstehende, d. h. durch das Streben nach Erkenntnis geleitete Bewußtsein sich in den realen Wissenschaften zuerst festsetzte. Wir finden hernach ein Bestreben nach n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e m , und ebenso ein Bestreben nach dem e t h i s c h e n und p o l i t i s c h e n Wissen, das überall auf diese poetischen Zustände zurückgeht. Dies sind aber bestimmte Gebiete des Wissens, nicht solche, die sich mit den Prinzipien des Wissens und der Erkenntnis des Zusammenhanges desselben beschäftigen. Dagegen übte sich an beiden Gebieten die dialektische Kunst, die also früher war als die wissenschaftliche Form. Denn indem sich jene beiden Wissenschaften aus dem Mythologischen zu entwickeln begannen, geschah dies auf eine differente Weise. Hierdurch entstand das Bedürfnis, zu einer Übereinstimmung zu gelangen, woraus sich die dialektische Kunst der Griechen entwickelte; am stärksten dort, wo das Bestreben, die realen Wissenschaften zu vollenden, zurücktrat. Wo dies nicht war, da latitierte die wissenschaftliche Form; aber Prinzipien und Konstruktion des Zusammenhanges waren nicht als Wissen für sich gegeben. Der ganze hellenische Bildungskreis hat sich in dieser dreifachen Form als D i a l e k t i k (philosophische Kunstlehre), E t h i k und P h y s i k (die realen Wissenschaften) vollendet, und die absolute

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Wissenschaft trat nirgends an sich heraus. In der arsitotelischen Philosophie scheint etwas von dem zu sein, was auch in die moderne Philosophie aufgenommen worden ist; denn hier teilen sich dialektische Kunst und reale Wissenschaft, und seine Metaphysik müßte eigentlich die Konstruktion der Totalität des Wissens und dessen Prinzipien enthalten. Aber abgesehen davon, daß diese Metaphysik in einer sehr verunstalteten Form auf uns gekommen ist, war es noch keine echt wissenschaftliche Konstruktion, sondern ein bloßer Versuch, dahin zu kommen. Wo finden wir aber wohl ein Beispiel, daß die wissenschaftliche Form sich ursprünglich herausbildete, und wie steht es in dieser Hinsicht mit den modernen Völkern? Hier kommen wir auf keine ursprünglichen Anfänge und auf keine fortlaufende Reihe. Mythologien hatten auch diese Völker; aber das Wissenschaftliche entwickelte sich erst aus der alten Kultur. Auch ist es als etwas Neues anzusehen, weil das Christentum dazutrat, um dieses Amalgam zwischen der Antike und dem Neuen zu bewirken. Das Christentum zerstörte die Mythologien der Alten, woraus sich die Wissenschaft entwickelt hatte, und so mußte die wissenschaftliche Entwicklung einen anderen Gang nehmen als bei den Griechen. Unmittelbar aus dem christlichen Sinn und Geist, auf den sich der Trieb des Erkennens richtete, entstand die absolute Wissenschaft, d. h. das Wissen vom höchsten Wesen, aber als Prinzip alles Seins und des Zusammenhanges desselben. Als dies zuerst hervortrat, waren die realen Wissenschaften noch ganz zurück. Als sie dann nachher heranreiften, hätte sich die dialektische Kunst entwickeln müssen. Aber dies geschah nicht, weil man immer das Bewußtsein vom höchsten Wesen als Norm annahm und alle Differenzen ins Gebiet der Religion hinüberzog. So entstand die Differenz zwischen dem modernen Bildungsgange und dem antiken. Wenn man in neueren Zeiten auf eine Wissenschaft des Absoluten ausging, so war das natürlich, indem es das Prinzip des ganzen Zusammenhanges sein sollte. Man hatte aber dabei schon zugleich eine Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen, und mußte davon einen Zusammenhang bilden, und dieser mußte jenem unterworfen sein. Die Regeln der Ver-

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knüpfung der Gedanken und der Konstruktion des Zusammenhanges des Wissens können nicht verschieden sein, denn in beiden Fällen kommt es auf den Zusammenhang an. Aber indem man zum Behuf der Metaphysik die Kombinationsgesetze voranschickte, wurden diese ganz abgesondert vom Inhalt der Erkenntnis vorgetragen und galten bloß in bezug auf die Form. Dies relativ Leere artete nachher aus in eine der 'Sophistik ähnliche Disputierkunst. Auf Zerstörung des Wissens war es nicht abgesehen, aber man abstrahierte vom Mittelpunkt des Wissens. Wo endete nun das Verfahren der beiden verschiedenen Methoden? Wir können hierbei das Verhältnis der Fortschritte in den verschiedenen Gebieten beiseite lassen und werden sagen müssen: In der alten Form zu philosophieren kam die Wissenschaft von den Prinzipien und der Konstruktion des Wissens auf keine andere Weise heraus als in der Dialektik, worin zugleich die Grundlage zum Zusammenhange alles Wissens gegeben war. Hier fehlte jedoch noch das Heraustreten der Prinzipien und der Konstruktion unter einer eigentlichen wissenschaftlichen Form. Denken wir uns die Vollständigkeit des Wissens, so muß aus der Kunstlehre die wissenschaftliche Gestaltung hervorgehen. Ob aber die wissenschaftliche Gestaltung dieser Prinzipien und der Konstruktion getrennt sein können von dem einzelnen Gebiete, haben wir noch nicht entschieden. In. der neueren Zeit ist die Wissenschaft der Prinzipien des Wissens als eigenes Wissen unter dem Namen Metaphysik hervorgetreten, die aber ganz formell wurde, weil die einzelnen Wissenschaften noch zu wenig bearbeitet waren, so daß die Konstruktion des Zusammenhanges desselben keinen Reiz haben konnte. Weil aber beides zusammengehört, entstand eine neue Unvollkommenheit: die Kombinationsgesetze wurden als etwas Formelles allem Wissen vorangestellt, so daß deshalb die Konstruktion der einzelnen Wissenschaften selbst als etwas Zufälliges und Kunstloses heraustrat. Jeder einzelnen Wissenschaft lagen zwar die gemeinsamen Prinzipien zugrunde, aber was ihren Gegensatz zu anderen Wissenschaften bildet, war nicht in die Identität mit den Prinzipien aufgenommen. Daher in der neueren Zeit die Neigung zu hypothetischem Verfahren in den einzelnen

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Wissenschaften, die sich auch schon bei den Alten, aber dort nur in den Naturwissenschaften, findet. Hier ist besonders alles gemeint, was mit der ganzen neuen Bildung der Völker sich organisierte, was also zuerst in der scholastischen Zeit heraustrat. Darauf entstand eine E r m a t tung und Zertrümmerung der philosophischen Bestrebungen, was in eine Bearbeitung der einzelnen Wissenschaften ausX 1 ) . Die Entwicklung des einwohnenden Bewußtseins von G o t t als l e t z t e r U r s a c h alles S e i n s , die uns aber anders nicht gegeben ist, erweckte das parallele von G o t t als l e t z t e m G r u n d e alles W i s s e n s , und dieses wurde nun für sich dargelegt in seinem Unterschiede von allem anderen uns Gegebenen und von jedem abgeleiteten Wissen zu einer Zeit, wo man im realen Wissen noch sehr zurück war. Da nun aber dies in einem Komplexus von Sätzen geschah, so mußte man die Kombinationsregeln voranschicken, die aber nun leere Formeln wurden und daher hernach in die oft sophistisch erscheinende Disputierkunst ausarteten. Daraus entstand dann2), weil das reale Wissen sich von beiden getrennt nachbildete, das hypothetische Verfahren in diesem (§§ 39—42). Nachteil des antiken war bei dem Mangel, daß die Prinzipien des Wissens nicht auf die andere Form des absoluten Einheitsbewußtseins zurückgeführt waren, der beständige Kampf mit dem Skeptizismus in seinen verschiedenen Formen, welcher in der neueren Philosophie eine sehr zurückgedrängte Rolle spielt. Nachteil des neueren die metaphysische Anmaßung in Verbindung mit den beständigen Fluktuationen. Jedes einlenkende Verfahren (§ 44) 8 ) muß daher beide Vorteile zu vereinigen suchen und die Nachteile vermeiden, welches gelingen muß durch zusammenhaltende Wiederbelebung der philosophischen Kunstlehre unter Festhaltung des modernen Grundfaktums; aber zugleich Zurückdrängung der metaphysischen Anmaßung, indem wir das Wissen um das Prinzip nicht anders haben wollen als in der Konstruktion des realen Wissens. Von der philosophischen Kunstlehre als hervortretender Grundform suchen wir also zuletzt die v o l l e n d e t e K o n s t r u k t i o n des Z u s a m m e n h a n g e s , und dieses Resultat streben die Spekulativen am meisten an. Dann aber auch k r i t i s c h e K u n s t über jedes fragmentarisch sich darstellende Wissen; und dies streben vorzüglich die Gelehrten an, die ein reales Wissensfeld vor vollendeter Konstruktion bilden wollen. Endlich K u n s t der z w e c k m ä ß i g e n B e h a n d l u n g aller s t r e i t i g e n G e d a n k e n , welches auch die Lebens- und Geschäftsmänner anstreben. *) Doch bereits in der 9. Stunde vorgetragen. s) Jon.: „denn". ) Jon: „(§§ 44, 45)." Doch 45 in d, Hs. durchstr.

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ging. Daher ist in der neuesten Zeit seit Kant die ganze Form der philosophischen Untersuchung einer Revision und Kritik unterworfen worden. Was sollen eigentlich die Tendenzen einer solchen Revision sein? Die beiden relativ einander entgegengesetzten Formen, die moderne und antike, ineinander einzubilden, die Vorteile beider zu vereinigen und die Nachteile zu vermeiden. Was ist nun der Nachteil der scholastischen Form der Philosophie? Die Wissenschaft von den Prinzipien trat zwar als Einzelwissenschaft heraus, veranlaßte aber, daß die Untersuchimg über den Zusammenhang des Wissens in eine inhaltsleere Theorie von Kombinationsformeln ausartete. Ob jener Mangel daraus entstand, daß diese Wissenschaft allein heraustrat, ist nicht zu entscheiden, aber aus der Geschichte heraus wahrscheinlich. Diesem Nachteil konnte man dadurch begegnen, daß man die Wissenschaft von den Prinzipien und der Konstruktion nicht trennte. Wie dies geschehen konnte, zeigen die Alten. Die Konstruktion des Zusammenhanges des Wissens setzt das Wissen selbst voraus und folgt erst auf das reale Wissen. Allein diese verschiedenen einzelnen Wissenschaften kann ich nicht als Wissen haben, wenn ich nicht die Prinzipien des Wissens habe. Wollen wir demnach beides als eins behandeln, so muß dies im Entstehen des realen Wissens und mit demselben zugleich geschehen; und das kommt darauf hinaus, daß es mit der dialektischen Kunst zugleich entsteht. Denn durch jede Gesprächführung wird ein Wissen entstehen. Was ist der Nachteil der alten Philosophie, der hier zu vermeiden ist? Die wissenschaftliche Form trat nur in den einzelnen Wissenschaften heraus, und die Prinzipien des Wissens latitierten nur in der dialektischen Kunst. Inwiefern dies ein Nachteil ist, davon können wir uns überzeugen, wenn wir bedenken, daß die Alten in ihren wissenschaftlichen Bestrebungen stets kämpfen mußten gegen die Behauptung, es gebe überhaupt kein Wissen. Dies kam daher, weil die Prinzipien des Wissens selbst nie zum Bewußtsein kamen, sondern in der Kunstlehre verborgen lagen. Einen Beweis dafür liefert der Skeptizismus in den drei Formen der Sophistik, des Pyrrhonismus und der neueren akademischen Philosophie, wo er sogar die philosophische Form annahm,

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und dann der praktische Skeptizismus der Politiker. In der neueren Zeit tritt der Skeptizismus nur als einzelne Regung hervor. Denn die Prinzipien des Wissens traten bestimmter ins Bewußtsein. Diese Sicherheit hatte ihren Grund nicht darin, daß die Untersuchung über die Prinzipien des Wissens als Wissenschaft auftreten konnte, sondern indem überwiegend religiösen Charakter der modernen Philosophie. Denn der ganze Anspruch auf Einheit und Totalität des Wissens war in Verbindung gesetzt mit einem anderen Ursprünglichen, das jenem parallel geht: mit dem Religiösen, dem Bewußtsein vom höchsten Wesen. Der Charakter des Religiösen ist die Ansicht, daß das Leben nicht möglich sei außer im Bewußtsein der beständigen Beziehung auf ein Höchstes. Indem nun beides verbunden wurde, entstand die Ansicht, daß das Wissen auch nicht möglich sei ohne ein dem Menschen einwohnendes ursprüngliches Wissen um das Absolute oder Höchste. bis^tö

neue

Aufgabe der Dialektik. Knüpfen wir an diese Differenz an und suchen sie aufzulösen, so beruht dieses einlenkende Vergleichen darauf, daß man die Prinzipien des Wissens und die Konstruktion des Zusammenhanges in der philosophischen Kunstlehre zusammenfasse und daß man das g a n z e W i s s e n b a s i e r e auf das dem M e n s c h e n i n n e w o h n e n d e r e l i g i ö s e B e w u ß t s e i n von e i n e m A b s o l u t e n u n d H ö c h s t e n , welches Wissens wir uns als des Grundes, worauf alles Einzelne zurückgeführt werden muß, bewußt sind. Auf der anderen Seite kommt es darauf an, daß, indem wir jenes beides ursprünglich in der Kunstlehre zusammenfassen, dies so geschehe, daß sie am Ende wissenschaftlich heraustreten, und die Kunstlehre also in die wissenschaftliche Form übergehe. Nun sind wir imstande, zur ersten Frage zurückzukehren. Was haben wir eigentlich an dieser Kunstlehre, die wir suchen? Haben wir sie vollendet, so werden wir darin zugleich den Organismus alles Wissens auf die Prinzipien alles Wissens zurückgeführt haben; und so wird die philosophische Kunstlehre am Ende das, was man mit Recht W i s s e n s c h a f t s l e h r e nennen kann. Dies ist das Letzte und Höchste, was uns aus dieser philosophischen Kunstlehre her-

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und dann der praktische Skeptizismus der Politiker. In der neueren Zeit tritt der Skeptizismus nur als einzelne Regung hervor. Denn die Prinzipien des Wissens traten bestimmter ins Bewußtsein. Diese Sicherheit hatte ihren Grund nicht darin, daß die Untersuchung über die Prinzipien des Wissens als Wissenschaft auftreten konnte, sondern indem überwiegend religiösen Charakter der modernen Philosophie. Denn der ganze Anspruch auf Einheit und Totalität des Wissens war in Verbindung gesetzt mit einem anderen Ursprünglichen, das jenem parallel geht: mit dem Religiösen, dem Bewußtsein vom höchsten Wesen. Der Charakter des Religiösen ist die Ansicht, daß das Leben nicht möglich sei außer im Bewußtsein der beständigen Beziehung auf ein Höchstes. Indem nun beides verbunden wurde, entstand die Ansicht, daß das Wissen auch nicht möglich sei ohne ein dem Menschen einwohnendes ursprüngliches Wissen um das Absolute oder Höchste. bis^tö

neue

Aufgabe der Dialektik. Knüpfen wir an diese Differenz an und suchen sie aufzulösen, so beruht dieses einlenkende Vergleichen darauf, daß man die Prinzipien des Wissens und die Konstruktion des Zusammenhanges in der philosophischen Kunstlehre zusammenfasse und daß man das g a n z e W i s s e n b a s i e r e auf das dem M e n s c h e n i n n e w o h n e n d e r e l i g i ö s e B e w u ß t s e i n von e i n e m A b s o l u t e n u n d H ö c h s t e n , welches Wissens wir uns als des Grundes, worauf alles Einzelne zurückgeführt werden muß, bewußt sind. Auf der anderen Seite kommt es darauf an, daß, indem wir jenes beides ursprünglich in der Kunstlehre zusammenfassen, dies so geschehe, daß sie am Ende wissenschaftlich heraustreten, und die Kunstlehre also in die wissenschaftliche Form übergehe. Nun sind wir imstande, zur ersten Frage zurückzukehren. Was haben wir eigentlich an dieser Kunstlehre, die wir suchen? Haben wir sie vollendet, so werden wir darin zugleich den Organismus alles Wissens auf die Prinzipien alles Wissens zurückgeführt haben; und so wird die philosophische Kunstlehre am Ende das, was man mit Recht W i s s e n s c h a f t s l e h r e nennen kann. Dies ist das Letzte und Höchste, was uns aus dieser philosophischen Kunstlehre her-

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vorgehen soll. Hierdurch werden am meisten die befriedigt, die eine spekulative Lebensweise einschlagen. Unterwegs, ehe sie zu diesem Ziel gelangt ist, wird uns die Kunstlehre auch die K u n s t d e r p h i l o s o p h i s c h e n K r i t i k in bezug auf alles, was sich einzeln als Wissen gibt. Dies ist sie aber nur in der Voraussetzung dieses letzten Resultates, und insofern wir auf dieses zurückgehen können. Sie wird es uns erst, nachdem wir ihren ganzen Schematismus bis dahin durchgeführt haben, so daß uns der Zusammenhang des Wissens klar geworden ist. Dies ist der Gebrauch, den von dieser Kunstlehre diejenigen stets machen müssen, die ein einzelnes wissenschaftliches Gebiet behandeln. Dann bestimmt man, ob ein Einzelnes in den eigentlichen Komplexus und in die Totalität der Wissenschaft aufgenommen werden kann. iO'

Das ganze R e s u l t a t d e r D i a l e k t i k wäre also: b e i jeder D i f f e r e n z der Vorstellungen einen F o r t s c h r i t t des W i s s e n s zu e n t w i c k e l n , aus j e d e m G e b i e t des W i s s e n s j e d e s G l i e d nach s e i n e m Z u sammenhange z u b e u r t e i l e n , u n d e n d l i c h d e n a l l g e m e i n e n Z u s a m m e n h a n g des W i s s e n s zu e r kennen. Das Erste ist nur eine Anwendung des Zweiten, aber nur unter Voraussetzung des Dritten. Jeder einzelne Gedanke muß seine Stelle im ganzen Zusammenhange haben; und dieses zu finden, darauf kommt es nur an. Jeder Gedanke, wie er auch ausgesprochen sei, muß zu irgendeinem Gebiet des Wissens gehören. Wenn man das Gegenteil davon zu finden meint, so kann das nur daher kommen, weil man nicht immer alles auf den Zusammenhang zurückbezieht und diesen nicht immer gegenwärtig hat. Denn wenn man auf den Übergang von einem Gedanken zum andern sieht, so verschwindet jede Grenze. Wenn wir eine allgemeine Organisation der Wissenschaft vor Augen haben, so werden wir auch jedem einzelnen dazugehörenden Gegenstand seine bestimmte Stelle anweisen können. Von einem Einzelnen kann immer nur durch ein Allgemeines etwas ausgesagt werden. Auch unmittelbar können wir den ersten Teil unseres Resultates mit dem letzten in Verbindung bringen. Wenn verschiedene Meinungen gegeneinanderstehen, so muß immer

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eine gleiche Vorstellung zu ihrer Vergleichung vorhanden sein. Man muß wissen, ob der gleiche Gedanke mit diesem oder jenem verbunden werden kann. Indem aber jeder einem größeren System angehört, so setzt eigentlich jedes Bestreben, sich über streitige Gegenstände zu verständigen, die Vorstellung von einem zusammenhängenden Wissen voraus. Haben wir also in der Dialektik ein solches beurteilendes Prinzip, so liegt eine andere Anwendung sehr nahe. Die Philosophie als Beschäftigung mit den Prinzipien und dem allgemeinen Zusammenhang des Wissens ist noch nicht zu einer bleibenden Gestalt gekommen, sondern nur entweder zu einem Gleichgewicht verschiedener oder zu einem Übergewicht einer einzelnen Art. Hier könnte man nun fragen: muß nicht aus denselben Gründen die Dialektik die Prinzipien enthalten, wodurch man den Wert der verschiedenen Philosophien als Formen der Wissenschaft beurteilen kann? Insofern ist dies offenbar der Fall, als die Systeme als Komplexe von Vorstellungen zu betrachten sind, welche den allgemeinen Regeln der Kombination unterliegen, und wir den Zusammenhang derselben als richtig oder unrichtig nach den Kombinationsregeln beurteilen können. Dies gibt aber nur eine relative Richtigkeit der einzelnen Verbindungen der Vorstellungen, nicht des Ganzen. Denn die verschiedenen XI 1 ). Dieses hängt aber alles dreies genau zusammen; denn jedem einzelnen streitigeil Gedanken muß ein Ort in einem Gebiete des Wissens zukommen; und was in einem solchen ein Wissen sein könne oder gar nicht hineingehöre, kann nur aus dem Verhältnis der einzelnen Gebiete gegeneinander entnommen werden (§§ 50—52). Wenn nun die Phüosophie als Wissenschaft nur in verschiedenen Formen besteht, und doch die einzelnen Sätze eines jeden Systems auch als einzelne Sätze müssen behandelt werden können, so scheint zu folgen, daß gerade von ihrem allgemeinsten Gebrauch aus die Dialektik auch müsse können die phüosophischen Sätze prüfen und also allen Streit entscheiden. Allein dies gilt nur von der Konsequenz der einzelnen2) Sätze; der Wert der verschiedenen zum Grunde liegenden Ansichten läßt sich aber danach nicht prüfen. Wohl aber, wenn man sie alle nebeneinander stellt, muß die Dialektik sie als Kunstwerke prüfen können und auch die Verschiedenheit der Auffassung, worauf sie beruhen, vergleichen (§ 54)*) In d. 10. St. vorgetr.

2)

„einzelnen" fehlt bei Jon.

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Systeme gehen von verschiedenen Anfangspunkten aus und befolgen verschiedene Methoden. Durch bloße Kombinationsregeln kann dies aber nicht miteinander verglichen werden. Wenn aber in der Entwicklung der Dialektik zugleich der letzte Grund des Wissens liegt, so muß sich daraus ergeben, inwiefern der Anfang irgendeines philosophischen Systems damit zusammenstimmt oder nicht. Doch können wir nicht sagen, daß dies ein allgemeingültiges Urteil sei; vielmehr hat es immer nur subjektiven Wahrheitswert, denn die Anfangspunkte können an sich nicht verglichen werden, sondern beruhen mehr auf dem Gefühl. Wenn wir die Sache rein historisch auffassen und uns die wissenschaftlichen Formen der Darstellung der Philosophie nebeneinanderstellen, so müssen sich allerdings Verhältnisse ausmitteln lassen, in welchen diese gegeneinanderstehen, d. h. die verschiedenen Grade, in welchen das eine System dem andern nähersteht. Dieses Resultat kann nur durch Vergleichung der verschiedenen Anfänge in bezug auf die Aufgabe und kann auch nicht anders als durch die Dialektik gefunden werden. Voraussetzung und Methode der Gesprädifuhrung. Wir wollen uns wieder zu unserem Anfang wenden, d. h. zu der ganz einfachen Aufgabe, aus einem Zustand differenter Vorstellungen zu einer Einheit der Vorstellungen auf demselben Gebiet und über dieselbe Vorstellung zu gelangen. Dies versuchen wir beständig im Lauf des Lebens auf eine kunstlose Weise und wollen es jetzt zu einem kunstmäßigen Verfahren erhöhen, d. h. uns über den Prozeß dabei besinnen und uns den Fortgang dabei sichern. Was gehört zur Lösung dieser Aufgabe ? Außer den streitigen Vorstellungen muß uns offenbar noch etwas anderes gegeben sein. Und dies ist zweierlei: nämlich einmal muß irgendein g e m e i n s a m e r G e d a n k e , eine gemeinsame Vorstellung gegeben sein, und dann müssen g e m e i n s a m e , a n e r k a n n t e R e g e l n über das Verfahren des Fortschreitens von einer Vorstellung zur anderen da sein. Nur wenn dieses beides gegeben ist, können wir einen glücklichen Erfolg erwarten. Fehlte uns aber eins, so würden wir nicht wissen, was wir mit den streitigen Gedanken machen sollen.

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Systeme gehen von verschiedenen Anfangspunkten aus und befolgen verschiedene Methoden. Durch bloße Kombinationsregeln kann dies aber nicht miteinander verglichen werden. Wenn aber in der Entwicklung der Dialektik zugleich der letzte Grund des Wissens liegt, so muß sich daraus ergeben, inwiefern der Anfang irgendeines philosophischen Systems damit zusammenstimmt oder nicht. Doch können wir nicht sagen, daß dies ein allgemeingültiges Urteil sei; vielmehr hat es immer nur subjektiven Wahrheitswert, denn die Anfangspunkte können an sich nicht verglichen werden, sondern beruhen mehr auf dem Gefühl. Wenn wir die Sache rein historisch auffassen und uns die wissenschaftlichen Formen der Darstellung der Philosophie nebeneinanderstellen, so müssen sich allerdings Verhältnisse ausmitteln lassen, in welchen diese gegeneinanderstehen, d. h. die verschiedenen Grade, in welchen das eine System dem andern nähersteht. Dieses Resultat kann nur durch Vergleichung der verschiedenen Anfänge in bezug auf die Aufgabe und kann auch nicht anders als durch die Dialektik gefunden werden. Voraussetzung und Methode der Gesprädifuhrung. Wir wollen uns wieder zu unserem Anfang wenden, d. h. zu der ganz einfachen Aufgabe, aus einem Zustand differenter Vorstellungen zu einer Einheit der Vorstellungen auf demselben Gebiet und über dieselbe Vorstellung zu gelangen. Dies versuchen wir beständig im Lauf des Lebens auf eine kunstlose Weise und wollen es jetzt zu einem kunstmäßigen Verfahren erhöhen, d. h. uns über den Prozeß dabei besinnen und uns den Fortgang dabei sichern. Was gehört zur Lösung dieser Aufgabe ? Außer den streitigen Vorstellungen muß uns offenbar noch etwas anderes gegeben sein. Und dies ist zweierlei: nämlich einmal muß irgendein g e m e i n s a m e r G e d a n k e , eine gemeinsame Vorstellung gegeben sein, und dann müssen g e m e i n s a m e , a n e r k a n n t e R e g e l n über das Verfahren des Fortschreitens von einer Vorstellung zur anderen da sein. Nur wenn dieses beides gegeben ist, können wir einen glücklichen Erfolg erwarten. Fehlte uns aber eins, so würden wir nicht wissen, was wir mit den streitigen Gedanken machen sollen.

Voraussetzung und Methode der Gesprächführung

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Wir wollen diese beiden Voraussetzungen zur Deutlichkeit isolieren. Gesetzt, der Gegner gibt uns unsere Regeln des Verfahrens zu, aber wir können von keinem anderen Punkt als von dem der streitigen Vorstellungen ausgehen, dann kann er uns nichts anderes zugeben, als daß unsere Folgerungen richtig wären, wenn unsere ersten Vorstellungen es wären, und so umgekehrt wir ihm auch nichts anderes. Wir würden uns also sagen, daß unsere Vorstellungen innerlich zusammenhängen; aber wir werden doch ganz getrennt voneinander gehen und also das Gegenteil unseres Zweckes erreichen. Die zweite Voraussetzung ist der gemeinsame Gedanke, von dem aus die streitigen Gedanken beurteilt werden sollen. Dieser kann in den streitigen Gedanken selbst enthalten sein oder nicht. Ist das erste der Fall, dann ist er in den Vorstellungen eines jeden mit verschiedenen anderen Vorstellungen verbunden. Aber es ist nicht möglich, diesen gemeinsamen Gedanken zu entdecken und seine Verbindung mit den differenten ohne gemeinsame Regeln des Zusammenhanges. — Oder er liegt außerhalb der differenten Vorstellungen, und jeder behauptet, daß sie mit ihm auf irgendeine Weise zusammenhänge. Dann müßte ein Fortschreiten vom gemeinsamen Gedanken zum streitigen möglich sein. Daraus würde sich die Richtigkeit oder Unrichtigkeit bei differenten Vorstellungen ergeben. Aber dieser Fortschritt ist nur möglich unter der Voraussetzung solcher Regeln des Die Grundvoraussetzung nun ist diese: Um zum Ziel der Gesprächführung zu gelangen, müssen außer den streitigen Vorstellungen selbst gegeben sein ein gemeinsames Wissen und gemeinsame Kombinationsregeln (§ 46). Das gemeinsame Wissen bei Verschiedenheit der Regeln würde nur den Streit erneuern; und die Regeln würden nichts helfen, wenn man sich nicht über ein gemeinsames Wissen vereinigen könnte. Jede Vereinigung ist aber nur eine provisorische, wenn der Vereinigungspunkt kein ursprüngliches und Grundwissen ist. Denn dann befindet sich der, der es in Vorschlag bringt, und der, der es annimmt, nicht in gleicher Lage, und dem letzten kann es leicht wieder ungewiß werden. Wahrhaft beruhigende Entscheidung muß immer auf ein Grundwissen zurückgehen. Der Zustand des Streites selbst unter Voraussetzung möglicher Übereinkunft setzt aber voraus, daß Gedanken auf kunstlose Weise entstehen.

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Fortschreitens. Sobald aber die Anwendung der Regeln nicht zugleich gegeben ist, hilft uns der gemeinsame Gedanke auch nichts. Es muß also ein gemeinsamer und für beide Redenden zuverlässiger Gedanke gegeben sein, und dazu ein gemeinsames Kombinationsgesetz zur Anstellung dieses Prozesses. Wenn wir nun diese beiden Voraussetzungen zugeben, d. h. wenn wir annehmen, daß es für alle Menschen, insofern sie sich verständigen wollen, irgendein gemeinsames Wissen und gemeinsame Regeln des Fortschreitens gibt, wie kommen sie dann dazu, in den Zustand streitiger Vorstellungen zu geraten ? Hierauf müssen wir antworten: Wenn sie von diesem gemeinsamen Wissen aus immer kunstmäßig zu Werke gegangen wären, so hätten sie zu keiner streitigen Vorstellung kommen können. Der Zustand des Streites setzt selbst voraus, daß es ein kunstlos entstandenes Denken geben müsse, welches durch Ausübung der Kunst des Streites berichtigt werden soll. Es ist also gerechtfertigt, zu behaupten, daß, wenn nicht beide Voraussetzungen: ein gemeinsames Wissen und gemeinsame Kombinationsregeln, gegeben sind, kein glücklicher Erfolg einer Gesprächführung möglich ist. Aber daß ein solcher möglich ist, wenn beides gegeben ist, scheint noch nicht klar zu sein, sondern noch einer Ergänzung zu bedürfen. Denn es ließe sich denken, daß sich ein gemeinsames Wissen zwischen beiden fände, welches aber mit ihren streitigen Punkten nicht in gleicher oder in gar keiner Verbindung stände, so daß man von jenem Wissen zu diesem Punkt gar nicht kommen könnte. Und so wäre es nicht hinreichend. Wir müssen daher jene Voraussetzungen ergänzen, und zwar so: Vorauszusetzen ist ein gemeinsames Wissen, von welchem man zu jedem möglichen Gedanken kommen kann. Dann sind unsere Voraussetzungen richtig, ohne daß ein Drittes gegeben zu werden braucht, und der Erfolg wird abhängen von der glücklichen Anwendung jener Kombinationsgesetze. Je mehr einer dies versteht, desto leichter wird er jeden Knoten der Gesprächführung lösen können; je weniger Fertigkeit hingegen er darin hat, desto schwieriger wird es sein. Nun müssen-wir noch dahingestellt sein lassen, ob es ein solches letztes Wissen gibt, und können nur sagen: Es gibt

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also in jedem Fall nur dann eine wirkliche Lösung des Streites, wenn es in dem Gebiete des Streites ein solches gemeinsames Wissen für beide Teile gibt. Dies ist der gewöhnliche Gang bei der Gesprächführung, aber er ist unsicher und unvollkommen. Wenn zwei über einen Gegenstand in Streit geraten, so ist natürlich, daß der eine einen bestimmten Satz voraussetzt, aber nur, insofern der Punkt, worauf der eine den Streit zurückgeführt hat, für beide eine gleiche Geltung hat. Eine solche Auflösung ist aber nur eine hypothetische, denn beide befinden sich nicht in demselben Verhältnis zu jener Annahme. Derjenige, der dem anderen die Hypothesis zugibt, ist nicht in dem Stande des klaren Bewußtseins des Zusammenhanges, wie der andere, der sie aufstellt; und sein Zugeben ist nur ein momentanes. Für den anderen hat sie wohl mehr Gewißheit, aber diese ursprüngliche Annahme kann ihm in manchen Fällen doch wieder verfließen. Also Zuverlässigkeit in der Auflösung ist nur, wenn das gemeinsame Wissen nicht aufs Geratewohl zu Hilfe genommen wird, sondern so ursprünglich ist, daß derjenige, der es zugibt, auch zugibt, er könne es nie wieder zurücknehmen, weil dieses Wissen mit dem ganzen übrigen Denken aufs genaueste verbunden ist. Jede andere Lösung, die von einem dazwischenliegenden Punkte anfängt, ist immer nur eine provisorische. Unter Voraussetzung eines solchen ursprünglichen Wissens läßt sich der Zustand streitiger Vorstellungen selbst nicht anders erklären, als daß jenes ursprüngliche Wissen oder die Regeln der Fortschreitung, oder beides kunstlos vorher dagewesen sind, und daß sie nun zum Bewußtsein erhoben werden sollen. Dasselbe gilt auch, wenn wir das Geschäft des Gesprächführens als etwas Innerliches für den einzelnen Menschen betrachten. Er ist dann aber nicht ein und derselbe in verschiedenen Vorstellungen und kann nicht zur Einheit kommen ohne ein solches ursprüngliches Wissen, das allem anderen zugrunde liegt. Denken wir uns das ursprüngliche Wissen als ein bewußtes, und die Regeln des Fortschreitens ebenfalls, so .muß alles folgende Wissen eine Überzeugung mit sich führen, und nichts Differentes ist möglich. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Wenn wir nun von dieser Voraussetzung ausgehen, so gewinnen wir noch eine andere Ansicht vom Gegenstande unserer Untersuchung. Die Kunst, differente Vorstellungen zur Einheit zu bringen, und die Kunst, von einem ursprünglichen Wissen aus dasjenige Denken, welches auf eine kunstlose Weisse entstanden ist, in ein kunstmäßiges zu verwandeln, ist ein und dasselbe. Bei jenem Verfahren geht man vom Bestehenden und Streitigen zum ursprünglichen Wissen; bei diesem geht man vom ursprünglichen Wissen aus nach verschiedenen Richtungen hin. Es ist aber gleichviel, ob wir die streitigen Vorstellungen als Veranlassung setzen, auf das ursprüngliche Wissen zurückzugehen, um von da fortzuschreiten, oder ob wir das Fortschreiten nur an das ursprüngliche Wissen anknüpfen; denn das Verfahren ist in beider Hinsicht ganz gleich. Und wenn es gar keinen Zustand streitiger Vorstellungen gäbe, aber ein Streben, zu einem Wissen zu gelangen, so müßte dies auch durch dieselbe Kunst befriedigt werden; und das Verfahren dabei würde dasselbe sein, wie bei jedem anderen Streit, der allerdings für den Standpunkt des Menschen notwendig ist und uns den Vorteil bringt, daß er uns immer auf unser Bewußtsein zurückführt und also vergegenwärtigt, auf welchem Punkt wir stehen in bezug auf die allgemeine Aufgabe. Ein anderer Zustand als der streitiger Vorstellungen ist uns nicht gegeben. Er mag auf dem einen Gebiet geringer sein als auf dem anderen. Aber vorhanden ist er selbst auf dem mathematischen; wenigstens gibt es hier einen Unterschied zwischen einem kunstmäßigen oder einem mehr bewußtlosen Denken. Das Streben, vom ursprünglichen Wissen aus ein beliebiges Erkennen nach einer Richtung hin zu erzeugen, ist in der Geschichte des Menschen erst ein Produkt der späteren Zeit, und nur in wirklich spekulativen Köpfen zum Bewußtsein kommend. Übrigens finden wir in diesem oder jenem Gebiet sehr verschiedene Stufen von klarem Denken bis zum Maximtim der Verworrenheit und Bewußtlosigkeit. Daher die Notwendigkeit, durch Entwicklung der philosophischen Kunstlehre von jenen beiden Punkten aus das Wissen weiterzubringen.

Höheres und niederes Wissen

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Zusammenhang zwischen höherem und niederem Wissen. Hier tritt uns eine Ansicht entgegen, die sich von Zeit zu Zeit auf dem Gebiet der Philosophie gefunden hat, wonach es nicht solche allmählichen Übergänge vom kunstlosen Denken zum kunstgerechten gebe, sondern wonach beide geschieden seien als verschiedene Potenzen des Bewußtseins, und das kunstgemäße Denken im Menschen nur durch einen S p r u n g als etwas Ursprüngliches entstehen müsse, ohne Zusammenhang mit einem früheren Zustande. Diese Ansicht bestand schon bei den Alten unter dem Gegensatz der Wahrheit und des Scheines, in neueren Zeiten unter dem des gemeinen und höheren Bewußtseins. Wäre diese Ansicht begründet, so würde sie einen wenn auch nur geringen E i n f l u ß auf unseren Gang haben. Unsere Meinung, als sei das Produkt neuer Vorstellungen eigentlich dasselbe XII 1 ). Überall finden wir auch den Zustand des Denkens über irgendeinen Gegenstand in einer Menge solcher Abstufungen. Hier aus nun folgt, daß die Kunst der Gesprächführung und die der kunstgemäßen Gedankenerzeugung über irgendeinen Gegenstand dieselbe sei. Denn vom gemeinsamen ursprünglichen Wissen muß man nach den Regeln bis zu dem streitigen Punkt; und wäre er nur ein aufgegebener gewesen, ohne streitig zu sein, so würde dasselbe geschehen sein. Hiegegen aber stellt sich die alte und neue H y p o t h e s e v o n e i n e m p o t e n t i e l l e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n Meinen u n d W i s s e n , gemeinem und transzendentalem Bewußtsein. Diese würde freüich jenes insoweit ändern, daß dann differente Vorstellungen auf dem Gebiet des Wissens nicht wären, und Schlichtung auf dem Gebiet des gemeinen2) Bewußtseins nichts wäre. Absolut entscheiden können wir darüber auf unserem Standpunkte nicht. Aber wir finden diese Differenz nicht o b j e k t i v begründet. Jedes Spekulieren muß auf Ethik und Physik hinaus, und jede Erfahrung ebenfalls. Auch ist dieselbe Identität in jedem einzelnen Prozeß. Denn kein gemeinsames Bewußtsein, wenngleich auf Sinneseindrücken ruhend, ist wirklich eins und ein bestimmtes, ohne einen Anteil an dem höheren Prozeß in sich zu tiagen. Und so auch keine Formel ist lebendig, wenn uns nicht der Umfang ihrer Anwendung auf dem Gebiet der sinnlichen Eindrücke mit vorschwebt. Insoweit nun berührt uns die Frage über diesen3) Unterschied gar nicht. Ebensowenig existiert er s u b j e k t i v , so daß unser Selbstbewußtsein in beiden Zuständen ein ganz verschiedenes wäre. !) In d. ix. St. vorgetr. *) nicht wie Jon.: „gem. Geb. d. Bew." s) nicht wie Jon.: „den". 7*

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wie das Aufheben der streitigen Vorstellungen, müßte dann geändert werden. Denn nach jener Annahme gäbe es in der Wissenschaft keine streitigen Vorstellungen, und von diesen könnte man nie zu einem Wissen kommen. Diese müßten erst nach dem Prinzip des höheren Bewußtseins vernichtet und ganz außer Kurs gesetzt werden, damit sie bei dem zweiten Verfahren gar nicht berücksichtigt werden dürften. Und die Kunst, von den streitigen Vorstellungen zum Wissen zu gelangen, wäre dadurch aufgehoben. — Hier ist nicht der Ort, über den Wert dieser Ansicht von einer zweifachen Potenz des Denkprozesses zu entscheiden. Denn das setzte voraus, d a ß wir unser Unternehmen schon vollbracht und die Prinzipien, die wir suchen, schon gefunden hätten. Wir können hier nur betrachten, in welchem Verhältnis diese Ansicht zu dem steht, was wir hier im einzelnen ausgeführt haben. In der F r a g e nach der Produktion neuer Vorstellungen würde unsere Untersuchlang durch sie nicht geändert. Die Abänderung bestände freilich darin, d a ß wir die Kunstlehre nicht mehr zur Erledigung eines Streites gebrauchen könnten. Nun sind wir gleich anfangs ausgegangen von der Voraussetzung des Zustandes streitigen Denkens, ohne ein Denken in höherer Potenz zu setzen, und müssen fragen, wie man zur Annahme einer solchen Differenz zwischen einem niederen Wissen, wo Streit stattfindet, und der festen Wissenschaft als einer höheren Potenz gekommen sei. Wenn sich die Produkte der beiden Potenzen ganz voneinander entfernten und anders wären, dann läge der Unterschied zutage. Allein jedes Denken ist streitig, wenn es in einem Komplex von Sätzen enthalten ist. Das gilt selbst auf dem mathematischen Gebiet, wo es verschiedene Arten der Konstruktion und Auflösung gibt, und wo ein Streit darüber möglich ist, welches die beste Art nun gerade sei. Die Resultate allerdings gestalten sich hier durchaus nicht anders, so d a ß sich aus ihnen ein solcher Gegensatz nicht erkennen läßt. Einige von denen, die von dieser Ansicht ausgingen, haben gesagt, alles dasjenige Denken, das auf einen Prozeß der sinnlichen Erregung zurückgeht, die Erfahrung und Gesamtheit unserer Vorstellungen von der Außenwelt, sei das Gebiet des streitigen Denkens, alles Innere dagegen, alles, was nur im

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Geiste vorgelit, sei die höchste Potenz des Bewußtseins. Und die Totalität der Resultate hiervon sei das eigentliche Wissen. Nun aber ist offenbar, daß ein solcher Unterschied nicht stattfindet, und die Gesamtheit unserer Vorstellungen von der Außenwelt von dem inneren Wissen nicht so geschieden ist. Denn der Gegenstand für beide ist ein und derselbe. Aus den Sinneseindrücken erbauen wir die Wissenschaft, aus Sinneseindrücken die Physik. Die Ethik beruht ebenfalls nur auf Eindrücken, die unsere Handlungen auf uns machen. Alles, was dem Gedächtnis und der Erinnerung angehört, hat immer ein organisches Element. Auf der anderen Seite könnten wir auch die äußere Erfahrungskenntnis nicht haben, wenn nicht dabei schon eine innerliche Operation mitgesetzt wäre. Denn der bloße Eindruck gibt eine solche Erkenntnis noch nicht, da er nicht zur Mannigfaltigkeit führt, wozu schon die innere Tätigkeit notwendig ist. Das Bewußtsein, das vom sinnlichen Eindruck ausgeht, ist kein vollkommenes ohne jene Annäherung an das Innere, und das spekulative Bewußtsein, weijn es auch ganz unabhängig sein könnte von den äußeren Eindrücken, ist doch auch nur vollkommen in seiner Anwendung auf das Äußere. Und jenes wäre ohne das Innere ein Komplex von Materialien zu einem Bewußtsein, ohne selbst ein Bewußtsein zu sein; dieses ein Komplex von Formen des Bewußtseins, die aber leer und ohne Gegenstand wären. Dasselbe muß von jedem einzelnen Akt gelten. Er kann nur ein vollkommener sein, wenn er überwiegend der einen oder anderen Potenz angehört. Ein gesondertes Ganze können wir also nicht annehmen; nur in relativ unvollkommenem Zustande erscheinen beide Gebiete gesondert, in vollkommenem Zustande dagegen einig und ineinander verschmolzen, so daß der potentielle Unterschied aufhört. Antizipation eines Beispiels. Daß eine Vorstellung, durch sinnliche Organe von einem einzelnen äußeren Dinge erworben, ganz chaotisch ist, wenn sie nicht bezogen wird auf den Zusammenhang alles Wissens, ist offenbar. Nur in dieser Anschauung der Möglichkeit aller Relationen, worin eine Vorstellung gesetzt werden kann, ist ihre Vollkommenheit als einzelne Vorstellung gegeben. Ebenso ist die Formel eines Urteils mir dann ein lebendiges Wissen in uns, wenn

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wir zugleich alle Fälle anschauen, in denen sie angewandt werden kann. Von dieser Seite also kann der Unterschied zwischen beiden Potenzen nicht gefunden werden, und von ihr aus können wir ihn ganz ignorieren. Aber es ließe sich ein anderer Standpunkt finden, der mehr subjektiv ist (wie jener erste der mehr objektive), wenn wir nämlich behaupten, unser Bewußtsein selbst wäre ein ganz anderes, insofern etwas dem niederen oder höheren Bewußtsein angehöre; oder es gebe in dem einen Gebiet nur ein Überzeugungsgefühl, in dem andern nur ein Gefühl des Zweifeins. Dann wären beide Gebiete geschieden. Sehen wir aber auf die Erzeugung beider, so wird uns klar werden, daß auch das nicht der Fall sein kann. 122- 6-

Daß es einen Unterschied gibt zwischen der Vollkommenheit und Unvollkommenheit auf jedem Gebiet des Denkens, haben wir sdhonselbst gleich vorausgesetzt. Es fragt sich nur: Gibt es von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit des Denkens einen allmählichen Übergang oder immer nur einen Sprung? Wir wollen dies in eine bestimmte Gestalt fassen. Gibt es Gegenstände, welche wir durch gewöhnliche Erfahrung kennen und die zugleich Gegenstände einer Wissenschaft sind; und können wir die Operation und das Bewußtsein unseres Zustandes dabei unterscheiden? Sprechen wir z. B. vom Verhältnis der Erde zur Sonne im gewöhnlichen Sinne, so schreiben wir die Bewegung der Sonne zu, obgleich wir wissen, daß sich nicht die Sonne, sondern die Erde bewegt. Betrachten wir aber dieses Verhältnis auf wissenschaftlichem Gebiet, so drücken wir uns anders aus und lassen die Erde sich bewegen. Beides steht also einander entgegen und zugleich nebeneinander. Wir sind uns dabei keines Widerspruches unserer Worte mit unserer Ansicht bewußt. Und wollte man sich auf dem Gebiet des gemeinen Lebens nach den wissenschaftlichen Ausdrücken richten, so würde dies pedantisch sein. Wenn wir nun bisher gesprochen haben von einer größeren und geringeren Vollkommenheit des Denkens, so haben wir nicht damit gemeint, daß in demselben Menschen, zu derselben Zeit und in Beziehung auf denselben Gegenstand beides nebeneinander besteht, sondern wir haben es gesetzt in den Übergang. Wenn wir es so

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fassen, daß die vollkommene und unvollkommene Kenntnis nebeneinander bestehen könne, so sollte man meinen, daß beide vollkommen geschieden sind; und das könnte für die Meinung unserer Gegner sprechen. Das aber ist nur Schein. Wenn wir uns im gemeinen Leben solcher falschen Ausdrücke bedienen, so geschieht es nur unter solchen Umständen, wo es uns um das Wissen nicht zu tun ist, sondern nur um ein Mittel zu einem gewissen Zwecke. In solchen Fällen geschieht es wohl auch auf wissenschaftlichem Gebiet. Es scheint sich nun so zu verhalten, daß wir die D i f f e renz zwischen Ausdruck und Vorstellung übersehen, da die Vorstellung dann selbst nur ein Durchgangspunkt zu etwas anderem ist. Kommt es aber auf die einzelne Vorstellung selbst an, so darf es nicht geschehen, daß wir zu derselben Zeit eine vollkommene und unvollkommene haben. Der Unterschied liegt also nicht darin, daß wir ein zusammenhängendes Gebiet von unvollkommenen Vorstellungen (haben, denen eine Reihe vollkommener gegenübersteht, daß also das eine ein gemeines, das andere ein höheres ist. Es ist nur so: das Denken kommt unter zweierlei Umständen bei uns vor. Einmal, daß es der Z w e c k unserer Geistestätigkeit ist, und dann, daß es das M i t t e l zu etwas anderem ist. Alles Denken im Gebiet der Erfahrung ist XIII 1 ). Es scheint zwar, als ob z. B. in den Ausdrücken von der Sonne unvollkommene und vollkommene Vorstellungen zusammen wären in demselben Menschen. Allein das hängt nur damit zusammen, daß es Denkakte gibt, wobei das Denken nur Mittel ist, und also eigentlich kein Wissenwollen stattfindet. Da beruhigt man sich beim Traditionellen ohne Bedenken. Dieses Gebiet liegt außer unserem Kreise; denn sobald streitige Vorstellungen sollen geschlichtet werden, heben wir die Sache aus diesem heraus in das andere. Keiner, der am meisten spekulativ lebt, kann sich doch alles Anteils an jenem Gebiet entschlagen, oder die Maxime befolgen, keine dienende Vorstellung zu gebrauchen, die nicht vorher auf den Punkt des eigentlichen Wissens gebracht wäre. Ebenso aber ist auch kein noch so Mechanischer ohne Wissenwollen; denn er müßte sonst ohne alle Liebe sein. Diese wird gleich den Zweifel an der bloß traditionellen Vorstellung wecken. Auch kann man sich nie die beiden Gebiete gesondert denken, ohne mit zu denken, daß das der traditionellen Vorstellungen periodische Revision des höheren Wissens erfahre: l)

In der 12. St. vorgetr.

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durchaus praktisch, d. h. es bezieht sich auf unser Handeln in bezug auf die Gegenstände, und hier ist die Richtigkeit des Vorstellens vollkommen gleichgültig, solange es auf die Richtigkeit des Handelns keinen Einfluß hat. Wenn wir zwei entgegengesetzte Theorien in der Physik betrachten, z. B. über das Verkalken der Metalle — einige behaupten, diese Erscheinung rühre daher, daß sich der Metallkönig mit dem Sauerstoff verbinde, andere, daß das Phlogiston dem Metallkönig entweiche —, so gibt es einen Punkt im Verkehr mit dem Gegenstande, auf dem die beiden Theorien gleichgültig sind, nämlich auf dem praktischen Gebiete. Aber die Richtigkeit der Vorstellung ist hier nicht der Zweck der Geistestätigkeit. Auf dem Gebiet der Naturwissenschaft ist dies aber nicht gleichgültig, weil jede veränderte Vorstellung eine ganz andere Verbindung hervorbringen würde. Doch diesen Unterschied können wir hier fallen lassen, denn das Gebiet, wo das Denken nicht um seiner selbst willen geschieht, liegt außerhalb unserer jetzigen Untersuchung. Wo wir im gemeinen Leben Differenzen aufheben wollen durch unsere Kunst, da heben wir den Gegenstand aus dem einen Gebiet heraus und setzen ihn in das andere. Sind nun die Menschen, welche auf dem Gebiete stehen, wo das Denken zum Behufe des Handelns benutzt wird, des eigentlichen Bestrebens auf dem Gebiet des Wissens unfähig? Offenbar nicht; der Unterschied wird nur der sein,, daß hier das eine überwiegt, dort das andere; hier das eine zurückgedrängt wird, dort das andere. Ein Mensch, dem eine dieser beiden Tätigkeiten fehlte, wäre eine geistige Mißgeburt. Jeder Mensch ist von seiner Existenz an auf den Verkehr mit den Gegenständen, d. h. auf das praktische Gebiet gewiesen. Es kommt nun darauf an, die Reihe von Vorstellungen zu fixieren. Dabei kann es sein, daß seine Vorstellungen von den Dingen falsch sind. Aber wenn sie nur in gleichem Verhältnis stehen, und er weiß, daß er damit dies oder jenes bewirken kann, so ist ihm diese Unwahrheit ganz gleich. Er läßt die Vorstellung so, wie er sie bekommen hat, bis er auf Zweifel stößt. Immer ist dieses Praktische nur ein Gebiet des unvollkommenen Denkens, da wir das Denken nicht um seiner selbst willen vornehmen.

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Hat nun ein solcher Mensch gar kein anderes Wissen und will er gar keins weiter? Wir wollen diese Frage liegenlassen und sehen, ob wir sie nicht vom Gegenteil aus besser beantworten können. Es gibt Menschen, die sich aus dem Gebiet der gemeinsamen Tätigkeit zurückziehen und überwiegend das Denken nur um seiner selbst willen treiben. Bringt es nun ein solcher Mensch dahin, sich ganz allein damit zu beschäftigen? Das ist unmöglich; er kann sein Leben nicht aus dem Gebiet der gemeinsamen Tätigkeit ausscheiden; eine gänzliche Trennung beider Gebiete ist nicht denkbar. Er wird zu dem begleitenden Bewußtsein kommen, daß er auf diesem praktischen Gebiet mit unvollkommenen Vorstellungen versiert. Ist nun das Wissenwollen bei ihm zum Triebe geworden, so kann es auch auf dem praktischen Gebiete nicht Null werden, und seine Vorstellungen werden auch hier immer sicherer und vollkommener. Wird sich nun in einem Menschen, der auf dem Gebiete der praktischen Erfahrung steht und gewöhnlich auf einer untergeordneten Stufe, so daß er keine neuen Vorstellungen in sich erzeugt, nie das Streben finden, zu wissen, bloß um des Wissens willen? Wenn wir dies behaupten wollten, müßten wir ihm alles absprechen, was im eigentlichen Sinne L i e b e heißt. Denn es ist ganz unmöglich, daß man etwas liebe ohne das Bestreben, es kennenzulernen, unabhängig von dem Gebrauch, den man davon machen kann. Solange man die Menschen kennenlernen will um des Gebrauches willen, den man von ihnen zu machen gedenkt, liebt man sie nicht. Sowie sich die Liebe äußert, strebt man den Gegenstand derselben kennenzulernen, wie er an sich ist. Dies gilt von allem, was ein Gegenstand des Interesses werden kann. So wie wir nun im ersten Falle sagten: jeder, der das eigentliche Wissen liebt, muß doch Erfahrung haben, so kann auch der, dessen Haupttätigkeit an das mechanische Gebiet gewiesen ist, das Wissen nicht ganz entbehren. Sowie er auf einen Gegenstand der Liebe stößt, gerät er in Unruhe über die Richtigkeit seiner Vorstellungen und will höher und reiner überzeugt sein. So erregt die Liebe zuerst den Skeptizismus, d. h. das Streben, uns nicht mit dem traditionellen Resultate zu begnügen, sondern uns überzeugen zu wollen über alle Vorstellungen von der Liebe aus.

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Es gibt ein Gebiet der Praxis mit dem Charakter der ruhigen Herrschaft des Traditionellen, und ein Gebiet der Liebe mit dem Charakter der Unruhe, wo wir nach immer richtigeren Vorstellungen bis zu einer gewissen absoluten Höhe des Überzeugungsgefühls streben. Ob wir zu diesem kommen oder nicht, wollen wir hier übergehen. Die beiden Tätigkeiten des Denkens sind demnach auf jedem Gebiet verschieden, weil bei der einen das Denken Zweck, bei der anderen Mittel ist. Und selbst auf dem Gebiet der traditionellen Sicherheit wird von Zeit zu Zeit eine Revision des eigentlichen Wissens nötig sein, durch welche Operation eine Änderung, eine neue Periode, in der Form des praktischen Gebietes entsteht. Dann gehen beide Gebiete ineinander über, und die Ruhe des praktischen Gebietes hört auf. Auf der anderen Seite ist es umgekehrt. Wenn das wissenschaftliche Gebiet auf das praktische angewandt wird, so ist das eigentlich eine Ruhe für dasselbe und eine Prüfung. Und so sehen wir also, daß wir uns eine solche Trennung nur denken können unter der Voraussetzung der dereinstigen Wiedervereinigung; und sehen auch dabei die Einheit der getrennten Gebiete. Und so ist eigentlich kein Unterschied zwischen beiden Arten des Bewußtseins. t 3

W e n n wir auf die große Masse sehen (die das Wissen - n i c h t um seiner selbst willen betreibt), um darin aufzusuchen, ob es nicht auch in ihr solche Regungen gibt, die eine Analogie mit dem höheren Bewußtsein haben, so können wir dies nicht ableugnen. Ohne in den Zusammenhang der Tradition des Wissens einzugehen, finden sich immer solche, die ihre Vorstellungen aus dem Gebiet, wo sie Mittel sind, herausheben und in Zusammenhang bringen. Es entsteht unter ihnen von Zeit zu Zeit ein philosophischer Autodidakt, bei dem das Bestreben, beide Prinzipien der Wahrheit miteinander zu verbinden, unverkennbar ist. Es verbindet sich diese Tendenz gewöhnlich mit dem Religiösen, weil dieses Gebiet am allgemeinsten das höhere Bewußtsein innehat; wie z. B. bei Jakob Böhme. Betrachten wir aber dessen spekulative Physik, so ist da von keinem Religiösen die Rede. Sie hat nur eine spekulative Tendenz, es fehlt ihr aber an aller geschichtlichen Nahrung, so daß sie nicht zur Klar-

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heit kommen kann. Wir sehen jedenfalls deutlich, wie wenig diese beiden Formen des Bewußtseins auseinandergehen. Wenn wir also diese Duplizität nur so anerkennen dürfen, wie wir sie hier abgegrenzt haben, so sind es nicht zwei voneinander zu sondernde Gebiete, so daß, wer auf dem einen stände, gar keine Verbindung mit dem anderen hätte; beide sind vielmehr im Leben miteinander verbunden. Diese Verbindung begrenzt oder hemmt keineswegs die allgemeine Anwendung der dialektischen Kunst. Sobald der Zweck eintritt, Vorstellungen auf dem niederen Gebiet auszugleichen, so werden sie aus diesem Gebiet herausgehoben; und es ist dies dann eine wissenschaftliche Revision und Prüfung. Dies setzt voraus, daß überall auch dort, wo nur zu einem untergeordneten Zweck gedacht wird, doch das Prinzip des Wissens zugrunde liegt und geweckt werden kann. Wir haben nun unsere Kunst nicht als ein ausschließliches Eigentum derer zu betrachten, welche sich dem Gebiet des Wissens weihen, sondern als ein Gemeingut, um den Einfluß des höheren Denkens auf das niedere lebendig zu erhalten. Wenn wir noch den Blick auf die allgemeine Geschichte der geistigen Bildung werfen, so ist, seitdem das eigentliche Philosophieren ins Leben getreten ist, auf dem Gebiete des Bewußtseins des Volkes eine große Veränderung vorgegangen, wobei freilich Gesundes und Krankes zu unterscheiden ist. Nämlich nirgends finden wir, daß jenes Gebiet des untergeordneten Denkens sich für sich erhielte, sondern es strebt immer, in einem Unmittelbaren zu wurzeln. X I V 1 ) . Ebenso auch von der andern Seite erwachen aus der Masse immer Autodidakten, deren Produktionen zwar kein festes Glied in der höheren Tradition werden, aber die doch, vorzüglich vom Religiösen ausgehend, ihre Vorstellungen aus dem untergeordneten Zustand suchen herauszuheben, woraus dann2) teils der Hang zum Räsonieren entsteht, teils die sogenannten mystischen Produktionen, wie Jakob Böhme u. a., vornehmlich in Physik und Politik. Wenn man also von jedem auf das andere kommt, so ist das ganze Gebiet des Denkens nur eines, jeder unvollkommene Zustand nur ein Durchgang zum vollkommenen, und also das Prinzip des Wissens, nur in verschiedenen Abstufungen von Bewußtsein, überall das Agens (§§ 64—68). *) In d. 1 3 . St. vorgetr

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) Jon: „denn",

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Solange die Wissenschaft noch keinen Einfluß hat, ist es die Phantasie, welche diesen Einfluß ausübt. Sie ist ein Vorstellen ohne Zweck, auch geleitet von den höchsten Prinzipien im Menschen. Daher auch, ehe das eigentliche spekulative Denken sie gestaltet, diese produktive Phantasie gleichsam die Matrix ist, bis es dahin gelangt, daß es ans Licht treten kann. Vor den philosophischen Systemen finden wir die mythologischen Systeme; und diese üben ebenso ihren Einfluß auf das untergeordnete Denken aus. Da dieses aber nicht solche Prinzipien hat, um sich selbst zu regeln, so entsteht die Herrschaft des Aberglaubens. Wenn das wissenschaftliche höhere Denken einen Einfluß auf das untergeordnete Gebiet gewinnt, so vergeht das Gebiet des Aberglaubens. Diese Umgestaltung in der gemeinen Denkart, der Übergang aus Superstition zum Bewußtsein des allgemeinen Zusammenhanges, ist die Folge der Entwicklung des höheren wissenschaftlichen Denkens und des Einflusses, den es auf das untergeordnete Denken ausgeübt hat. Daraus geht hervor, daß, wenn wir die Wissenschaft', wie sie sich historisch ausgebildet hat, in ihre ersten Anfänge zurückverfolgen, sie in die Produktion der Phantasie eingehüllt ist. Und betrachten wir nun, wie überall in jeder großein Gesellschaft von diesem Anfang aus sich ein Gebiet von Wissenschaft gestaltet, das sich aus der Masse heraushebt, auf der anderen Seite doch in der Masse ein lebendiger Einfluß dieser Tendenz sichtbar wird und seinen Resultaten eine gewisse Festigkeit gibt, und vergleichen wir hier die Wissenden mit den Nichtwissenden, so können wir nur sagen: es ist in beiden dasselbe Prinzip, nur bei jenen in einer schnelleren Bildung begriffen, bei diesen in einem langsameren Fortschreiten. Doch können wir nichts anderes als eine solche steigende Entwicklung des wissenschaftlichen Prinzips annehmen. Das eine Mal finden wir eins auf das andere folgend, indem sich das spekulative Denken immer mehr von den mythologischen Elementen losmacht, so daß ein Volk im Anfang immer nur eine geringe Anzahl von solchen Wissenden darbietet, und erst mit der Ausbildung die Anzahl derer zunimmt, die diese Operation vollziehen. Das andere Mal finden wir in einem einzigen Moment alle diese verschiedenen Stufen nebeneinander: Einige,

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die nur die persönliche Unfähigkeit repräsentieren, und andere, die heraufsteigen auf das ganze Gebiet der praktischen Vorstellungen, so daß dieses auch zu einer eigenen Produktivität steigen kann. So finden wir auch unter den Wissenden selbst Erfinder oder solche, die sich eines neuen Stoffes für dasselbe bemächtigen, während andere wieder zwar nichts Neues produzieren, doch aber durch eigene Tätigkeit nach einem schon gegebenen Typus schaffen, bis zu denen hinunter, wo nur ein Schein des höheren Wissens, und dieser auch1 nur in einigen Momenten, vorkommt, und die die vermittelnden Glieder darstellen. So verschwindet nun alle Duplizität. Wenn wir dieses nun weiter verfolgen, sowohl in dem inneren Resultate, als auch auf eine objektive Weise, und dann zurückkehren zu jenen beiden Fragen der Duplizität, nämlich ob wir diese bestimmten Unterschiede in bestimmten Gebieten des Wissens finden oder in verschiedenen Zuständen, so müssen wir beides aufs vollständigste verneinen und sagen: wenngleich diejenigen Vorstellungen, die der Empirie angehören, und sich nur auf den äußeren Verkehr mit den Dingen beziehen, nicht als ein eigentliches Wissen ausgebildet sind, so zeigt sich doch in ihrer Bewegung der Einfluß des höheren Wissens. Sie werden immer mehr auf solche Weise dargestellt und in Zusammenhang gebracht, daß die Tendenz, in ein Ganzes gefaßt zu werden, jedem Elemente immer mehr eingeprägt ist. Wir können hier unterscheiden, daß das eine mehr, das andere weniger fortgeschritten ist, was mit der Eigentümlichkeit eines Volkes zusammenhängt. Wenn wir auf die andere Frage zurückgehen, iso sagen wir: jeder, der sich in mittelbarem Denken befindet, hat kein solches begleitendes Überzeugungsgefühl in Beziehung auf den Verkehr mit den Gegenständen, wie die, welche von der Überzeugung des Wissens überhaupt ausgehen. Aber wir werden auch niemals sagen können, daß diese, sobald sie nur in ein gemeinsames wissenschaftliches Leben aufgenommen sind, nicht auch Momente haben sollten, wo das Prinzip des Wissens in ihnen hervortritt. Dies zeigt sich bei der Masse in jenen einzelnen wissenschaftlichen Aftererscheinungen auf der einen Seite, teils in der allgemeinen Neigung, sobald das Gebiet des gewöhnlichen

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Denkens der Phantasie entzogen ist, die Vorstellungen an sich zu betrachten, d. h. über das Denken zu räsonieren. Wenn wir nun betrachten, wie sich dies zu dem Gange und der Entwicklung der Philosophie in ihrer wissenschaftlichen Gestaltung verhält, so ist sie doch nichts anderes als die höchste Entfaltung dieses Prinzips, aber nur so, wie es im Zusammenhange des Gesamtgegenstandes möglich und durch den Volkscharakter modifiziert ist. Es ist offenbar, daß auch dieses Wissen, so sehr es danach strebt, unmittelbar aus der Einheit der menschlichen Natur hervorzugehen, zugleich immer den Charakter der örtlichkeit und einer gewissen Zeit an sich trägt. Aber für die ganze Masse repräsentiert es die erste Entwicklung jenes Prinzips, welches selbst im dunkelsten Bewußtsein eingeschlossen ist. Hierin zeigt sich die Analogie, die zwischen der größten geistigen Entwicklung und der materiellsten besteht. So wie in der Natur derselbe chemische gemischte Stoff, wenn er sich nicht entwickeln kann, nur als eine rohe Masse erscheint; wenn er aber sein Prinzip äußert, sich als Kristallisation bildet, ebenso verhält es sich mit jener Operation auf dem geistigen Gebiete. Wer die beiden Naturprodukte betrachtet, ohne in das Geheimnis der Natur eingeweiht zu sein, errät den Zusammenhang der beiden Gestaltungen nicht. Wer aber auf den Zusammenhang der Natur blickt, kann sich von der Identität beider überzeugen. So ist es auch hier. Es ist natürlich, daß sich ein solcher Gegensatz von einem höheren Standpunkt aus bildet, und wir sind dann geneigt zu sagen, daß beide Gebiete nicht dasselbe sein können. Aber eine historische Betrachtung bringt die Identität beider zum Bewußtsein. bis 74

F ° r m e n c ' e s Skeptizismus. Wir haben aber noch einen ganz anderen Einwand zu besiegen, um mit Ruhe zur Untersuchung schreiten zu können. Es geht damit, wie mit allen Einwendungen: auf dem Wege der Erzeugung kommt man nicht darauf; sie müssen einem von außen gegeben werden. So verhielt es sich mit der vorigen Einwendung, die uns nur dazu dienen konnte, den Schein jener Duplizität zu zerstreuen; so verhält es sich auch mit der zweiten, eigentlichen s k e p t i s c h e n E i n w e n d u n g , welche das Wissen

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Denkens der Phantasie entzogen ist, die Vorstellungen an sich zu betrachten, d. h. über das Denken zu räsonieren. Wenn wir nun betrachten, wie sich dies zu dem Gange und der Entwicklung der Philosophie in ihrer wissenschaftlichen Gestaltung verhält, so ist sie doch nichts anderes als die höchste Entfaltung dieses Prinzips, aber nur so, wie es im Zusammenhange des Gesamtgegenstandes möglich und durch den Volkscharakter modifiziert ist. Es ist offenbar, daß auch dieses Wissen, so sehr es danach strebt, unmittelbar aus der Einheit der menschlichen Natur hervorzugehen, zugleich immer den Charakter der örtlichkeit und einer gewissen Zeit an sich trägt. Aber für die ganze Masse repräsentiert es die erste Entwicklung jenes Prinzips, welches selbst im dunkelsten Bewußtsein eingeschlossen ist. Hierin zeigt sich die Analogie, die zwischen der größten geistigen Entwicklung und der materiellsten besteht. So wie in der Natur derselbe chemische gemischte Stoff, wenn er sich nicht entwickeln kann, nur als eine rohe Masse erscheint; wenn er aber sein Prinzip äußert, sich als Kristallisation bildet, ebenso verhält es sich mit jener Operation auf dem geistigen Gebiete. Wer die beiden Naturprodukte betrachtet, ohne in das Geheimnis der Natur eingeweiht zu sein, errät den Zusammenhang der beiden Gestaltungen nicht. Wer aber auf den Zusammenhang der Natur blickt, kann sich von der Identität beider überzeugen. So ist es auch hier. Es ist natürlich, daß sich ein solcher Gegensatz von einem höheren Standpunkt aus bildet, und wir sind dann geneigt zu sagen, daß beide Gebiete nicht dasselbe sein können. Aber eine historische Betrachtung bringt die Identität beider zum Bewußtsein. bis 74

F ° r m e n c ' e s Skeptizismus. Wir haben aber noch einen ganz anderen Einwand zu besiegen, um mit Ruhe zur Untersuchung schreiten zu können. Es geht damit, wie mit allen Einwendungen: auf dem Wege der Erzeugung kommt man nicht darauf; sie müssen einem von außen gegeben werden. So verhielt es sich mit der vorigen Einwendung, die uns nur dazu dienen konnte, den Schein jener Duplizität zu zerstreuen; so verhält es sich auch mit der zweiten, eigentlichen s k e p t i s c h e n E i n w e n d u n g , welche das Wissen

Die Formen des Skeptizismus

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in dem Sinne, worin wir es gefaßt haben, und also die Möglichkeit, zu einer Übereinstimmung streitiger Vorstellungen zu kommen, leugnet. In Beziehung auf unsere Aufgabe müssen wir sehen, wieviel Wert wir diesem Leugnen beilegen können. Offenbar konnten wir selbst auf diese Einwendung nicht kommen, denn in unserem Unternehmen liegt schon die ganz entgegengesetzte Vorstellung. Woher rührt sie also? Sie tritt uns im Skeptizismus entgegen, der so argumentiert: da es kein Wissen gibt, kann es auch kein Mittel geben, die Vorstellungen auszugleichen. Es ist also reiner Zufall, wenn sie zusammentreffen. Der Skeptizismus hat daher eine chaotische Ansicht von den Vorstellungen.

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Es gibt einen partiellen Skeptizismus hinsichtlich des empixischen und hinsichtlich des spekulativen Wissens. Wenn man zwei verschiedene Potenzen von Vorstellungen annimmt, eine höhere und eine niedere, so kann man von der höheren Potenz aus urteilen, daß alles, was vom sinnlichen Eindruck ausgeht, erst Denken werde, wenn das Spekulative hinzukommt, sonst sei es immer nur ein partielles. Demgegenüber gibt es etwas Ähnliches, wenn man sich bei dem durch die Erfahrung Gegebenen beruhigt, dabei aber das Wissen, das aus der Spekulation hervorgeht, leugnet. Nun aber gibt es auch einen nicht bloß partiellen, sondern v o l l k o m m e n e n S k e p t i z i s m u s , der das Wissen überhaupt leugnet. Wir wollen sehen, was eigentlich darin liegt, und was wir mit dieser Behauptimg in unserer Beziehung machen können. Auf zweierlei Weise kann sich die Sache gestalten. Wenn jemand sagt: ich weil), daß es kein Wissen geben kann, so ist doch die Vorstellung von einem Wissen und die Behauptung desselben in anderen darin vorausgesetzt. Offenbar kann er zu seiner Ansicht nur durch ein besonnenes und seiner selbst bewußtes Verfahren, d. h. durch Vergleichung mit dem Wissen anderer, und zwar nur durch die Regeln der Kunst, die wir suchen, gekommen sein. Er könnte allerdings noch sagen, es sei der ursprüngliche Zustand seines Bewußtseins, zu leugnen, daß es ein Wissen gäbe. Nun gibt es ein das Denken begleitendes Selbstbewußtsein, welches wir Gefühl nennen, einen bewußten Zustand, worin das Resultat der Tätigkeit nicht immittelbar

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gesetzt ist. Das den Zustand streitender Vorstellungen begleitende Bewußtsein ist das Gefühl der Ungewißheit. Das begleitende Gefühl bei der Auflösung streitender Vorstellungen, wenn das Schwanken aufgehört hat, und Ruhe und Befriedigung bei einer Vorstellung eingetreten ist, ist der Zustand der Gewißheit und Überzeugung. Wenn nun der Skeptiker sagt, er sei zu seiner Überzeugung des Nichtwissens gekommen durch den Zustand streitiger Vorstellungen, so ist das vollkommen richtig. E r muß dann aber doch zugeben, daß es solche Regeln gebe, zur Überzeugung zu gelangen. Nun sieht man aber wohl, daß er dann sich wird gestehen müssen, daß er von diesen Regeln ein Wissen hat, sonst würde er an jedem Punkt in Ungewißheit sein. U n d indem er dies voraussetzt, geht er zum anderen über und sagt, er sei zu dieser Überzeugung nicht gekommen durch das Setzen entgegengesetzter Behauptungen, sondern es sei dies ein ursprünglicher Gemütszustand. Dann aber fragen wir ihn, woran er unterscheiden könne, daß dies eine wirkliche Überzeugung sei, da er doch die Vorstellung von einem anderen Zustande bei denen haben müßte, die sich X V 1 ) . Aber wie nun, da wir sowohl in wissenschaftlicher Form als auf dem Gebiet des Lebens überall einen Skeptizismus finden, wie nun, wenn es überhaupt kein Wissen gäbe? Eigentlich ist auch das Bisherige schon Abart (§§ 69, 70). Aber auch den wahren und ganzen Skeptizismus müssen wir versuchen, in bezug auf unsere Aufgabe zu verstehen und aufzulösen. Wer das Wissen leugnet, der ist dazu gekommen entweder im Gegensatz gegen die Behauptung derer, welche wissen wollen, und dann also auf dem Wege der inneren oder äußeren Gesprächführung, und also mittelst der Regeln unserer Kunst, die er also auch muß gelten lassen. Wenn er aber sagt, es sei dieses seine ursprüngliche und ohne Streit entstandene Überzeugung, so fragt sich, woher er denn unterscheidet, daß es eine Überzeugung ist. Dies kann nur entstehen aus irgendeinem Prozeß des Überganges aus Streitendem zu Zusammenstimmendem, wobei also auch unsere Regeln müssen gegolten haben. Ebenso mit dem, welcher noch vollständiger erklärt, nicht zu wissen, ob man wisse. Dieser kommt am Ende dahin, wie Piaton sagt, nichts sagen zu können. — Der Skeptizismus also affiziert unsere Untersuchung nicht; aber freilich, wenn er unsere Kunst muß gelten lassen, so muß er dann auch ein Wissen statuieren. 1

) In d. 14. St. vorgetr.

Die Formen des Skeptizismus

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im Suchen nach dem Wissen befinden. Hat er dafür keinen Maßstab, so darf er auch nicht sagen, daß dies ein Zustand der Überzeugung sei, sondern er kann nur sagen, er wisse nicht, ob es ein Wissen gebe oder nicht, d. h. er behauptet die beständige Fortdauer der Ungewißheit. Nun ist es aber unmöglich, einen Punkt der Ruhe zu leugnen; denn dem steht das Urteil vieler Menschen entgegen, welche zu wissen behaupten; und von diesen kann er nur sagen, sie hätten eine falsche Überzeugung. So sind wir auf dem alten Punkt, wo es einen Zustand streitiger Vorstellungen gibt, welche aufgelöst werden müssen, und er muß mit uns durch Regeln die Auflösung suchen. Ebenso wird er von sich selbst sagen müssen, daß er oft in dem Wahne des Wissens befangen sei. Solche Momente des Bewußtseins, wo er sich im Zustande der Überzeugung befand, muß er unterscheiden von seiner Behauptung, es gebe kein Wissen, und sie als falsch setzen. E r setzt also Gegensätze; und so gibt es in ihm eine Fortschreitung, die nur durch Regeln geschehen kann. Der Skeptizismus hindert uns also gar nicht in unserem Bestreben, wenn wir ihn auch im Augenblick zugeben. Die Skeptiker haben sich auch immer ihre eigene Dialektik gebildet. Wenn wir diese Regeln gefunden haben, werden wir sie bei streitigen Vorstellungen anwenden, um wenigstens zum Skeptizismus zu kommen. Nun ist es offenbar, daß, wenn man in bezug auf diese Regeln keine Überzeugung annimmt, es keinen Übergang gibt von einem zum anderen. Dann kommt man am Ende dahin, daß man überhaupt nichts behaupten kann, wie Piaton sich ausdrückt; d. h. es hört jede Bestimmtheit der Vorstellungen auf. Wenn der Skeptiker konsequent sein will, so muß er eine völlige Desorganisation der ganzen Geistestätigkeit im Denken annehmen, womit die ganze Regsamkeit des Menschen aufhören müßte. Wenn er dies nicht annehmen will, so muß er irgendeine Überzeugung von etwas zugeben, also daß es ein Wissen gibt — einen Gegenstand des Wissens haben wir noch nicht und kümmern uns auch nicht darum —, und wenn es auch ein Wissen des Nichtwissens wäre, oder der Glaube, daß keine Vorstellung, welche im Menschen vorkommt, ein vollkommenes Wissen sei. Doch muß der Glaube an die Idee des Wissens und an die Idee einer Approximation zur S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Friedrich Schleiermachers

Dialektik

Vollkommenheit zugrunde liegen, sonst ist die ganze Geistestätigkeit im Denken nicht möglich. Diese Grundvoraussetzimg muß uns am Ende selbst der Skeptiker zugeben, sonst müßte er sich auf sein eigenes Bewußtsein zurückziehen und auf die einzelnen Momente; denn einen Zusammenhang der Momente hat er nicht. Und damit hört alle Mitteilung «auf. Indem wir nun auf der einen Seite diese Grundvoraussetzung von dem Unterschiede der streitigen Vorstellungen und der Ruhe des Gemütes, und auf der anderen Seite die Einheit des ganzen Gebietes des Denkens gegen den Skeptizismus gerettet haben, ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, in ihrem ganzen Umfange gerettet. Die beiden Hauptaufgaben der Dialektik. Nun werden wir zurückgehen können auf den kleinen Anfang, den wir schon gemacht haben, um unsere Aufgabe genauer zu gestalten. Wenn die Lösung der Aufgabe möglich sein soll, so muß es ein Zurückgehen auf ein beiden Teilen gemeinsames Bewußtsein geben, in welchem die Vorstellungen zur Ruhe kommen. Von hier aus müßte sich auch eine gemeinsame Methode des Fortschreitens ergeben. Und wenn man an den Auflösungspunkt gekommen ist, muß der Streit aufhören. Es ist offenbar, daß, sobald wir eins von beiden wegnehmen, uns das andere auch nichts helfen kann. Wir haben also zwei Aufgaben, in die sich unsere ursprüngliche Aufgabe teilt: i. von jedem gegebenen Punkt aus, wo ein Streit ist, zu einer gemeinsamen Vorstellung zu kommen; 2. die gemeinsame Methode der Fortschreitung von jedem bestimmten gegebenen Punkt aus zu finden. Wenn wir dies beides gefunden haben, ist unsere Aufgabe in bezug auf die Gesprächführung gelöst. Wir müssen uns nun erst diese beiden Aufgaben recht klarmachen. Nun ist offenbar, daß, wenn wir von einem Punkte streitiger Vorstellungen aus zurückgehen auf irgendeinen Punkt, wo der andere mit uns übereinstimmt, dies nur eine provisorische Entscheidimg ist, Zur Ausführung also kommen wir zurück auf die beiden Hauptaufgaben: 1. ein ursprüngliches gemeinsames Wissen zu finden, von welchem man zu jedem streitigen Punkt kommen könne; 2. eine gleichmäßige Methode der Fortschreitung zu finden.

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Vollkommenheit zugrunde liegen, sonst ist die ganze Geistestätigkeit im Denken nicht möglich. Diese Grundvoraussetzimg muß uns am Ende selbst der Skeptiker zugeben, sonst müßte er sich auf sein eigenes Bewußtsein zurückziehen und auf die einzelnen Momente; denn einen Zusammenhang der Momente hat er nicht. Und damit hört alle Mitteilung «auf. Indem wir nun auf der einen Seite diese Grundvoraussetzung von dem Unterschiede der streitigen Vorstellungen und der Ruhe des Gemütes, und auf der anderen Seite die Einheit des ganzen Gebietes des Denkens gegen den Skeptizismus gerettet haben, ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, in ihrem ganzen Umfange gerettet. Die beiden Hauptaufgaben der Dialektik. Nun werden wir zurückgehen können auf den kleinen Anfang, den wir schon gemacht haben, um unsere Aufgabe genauer zu gestalten. Wenn die Lösung der Aufgabe möglich sein soll, so muß es ein Zurückgehen auf ein beiden Teilen gemeinsames Bewußtsein geben, in welchem die Vorstellungen zur Ruhe kommen. Von hier aus müßte sich auch eine gemeinsame Methode des Fortschreitens ergeben. Und wenn man an den Auflösungspunkt gekommen ist, muß der Streit aufhören. Es ist offenbar, daß, sobald wir eins von beiden wegnehmen, uns das andere auch nichts helfen kann. Wir haben also zwei Aufgaben, in die sich unsere ursprüngliche Aufgabe teilt: i. von jedem gegebenen Punkt aus, wo ein Streit ist, zu einer gemeinsamen Vorstellung zu kommen; 2. die gemeinsame Methode der Fortschreitung von jedem bestimmten gegebenen Punkt aus zu finden. Wenn wir dies beides gefunden haben, ist unsere Aufgabe in bezug auf die Gesprächführung gelöst. Wir müssen uns nun erst diese beiden Aufgaben recht klarmachen. Nun ist offenbar, daß, wenn wir von einem Punkte streitiger Vorstellungen aus zurückgehen auf irgendeinen Punkt, wo der andere mit uns übereinstimmt, dies nur eine provisorische Entscheidimg ist, Zur Ausführung also kommen wir zurück auf die beiden Hauptaufgaben: 1. ein ursprüngliches gemeinsames Wissen zu finden, von welchem man zu jedem streitigen Punkt kommen könne; 2. eine gleichmäßige Methode der Fortschreitung zu finden.

Urwissen und Verknüpfungsregeln

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wenn dieser Punkt sich nicht zu allen möglichen Punkten streitiger Vorstellungen auf gleiche Weise verhält. Jeder Versuch von einem Zwischenpunkt aus ist unzureichend, weil dieser selbst wieder streitig werden kann. Wenn wir aber sagen können: es gibt einen Punkt, welchen jeder, ich mag mit ihm streitig sein, wie ich will, als gewiß mir zugeben wird, dann erst ist unsere Aufgabe vollständig gelöst. Ein solcher Punkt, zu dem wir von allen streitigen Punkten aus kommen können, muß ganz außerhalb des Gebietes aller streitigen Vorstellungen liegen. Dies ist das eigentliche U r w i s s e n , die a g ^ , das Prinzip, wovon das Wissen ausgeht. Ein solches zu finden, ist also unsere erste Aufgabe. Die zweite Aufgabe ist die, eine gemeinschaftliche Methode des Fortschreitens oder der Verknüpfung der Vorstellungen miteinander selbst zu finden. Was liegt nun eigentlich in diesem Teil unserer Aufgabe? Hier müssen wir zuerst eine Diese ist aber nicht bloß Ableitungsform einer Vorstellung von einer andern. XVI l ). Denn Ableitungsform kann nur rückwärts gehen und muß bei einem nicht abgeleiteten Punkte ruhen. Und so wird nur der einzelne Punkt gerechtfertigt, aber unserer ganzen Aufgabe der Konstruktion nicht genügt. Ja auch der Streit wird nicht entschieden, da jeder von einem anderen Punkt kann ausgegangen sein (§ 79). Sondern vom ersten Gemeinsamen aus brauchen wir vielmehr Methode der Teilung (wenn das Gemeinsame von der Art ist, daß das Gesuchte ganz darin enthalten ist, denn dann muß richtige Teilung alles entscheiden); oder der Verknüpfung (wenn das Streitige nur zum Teil in dem Gemeinsamen ist; denn dann muß entschieden werden, ob dieser Teil mit dem andern kann verknüpft sein oder nicht). Einen dritten Fall abergibt es nicht, denn wenn das Streitige mit dem Gemeinsamen gar keine Identität hat, so ist auch keine Lösung möglich. Das gemeinsame Wissen aber, wenn es soll als außerhalb alles Streites liegend erkannt werden, muß es nicht auf dem Wege der fließenden Gedankenerzeugung entstanden sein. Denn was da entstanden ist, kann auch immer wieder streitig werden. Sollen wir es also doch haben, so müssen wir es immer schon gehabt haben, d. h. es muß allem empirischen Bewußtsein zum Grunde liegen. Wenn nun aber unsere Aufgabe diese beiden Punkte erfordert, und wir nichts anderes haben als den Zustand streitiger Vorstellungen, wie sollen wir von diesem einen Punkte aus zwei unbekannte Größen anders finden, als indem wir einen hypothetisch feststellen (§ 75)» woraus aber nie eine Sicherheit entstehen2) kann? x

) In d. 15. St. vorgetr.

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) Nicht wie J o n : „hervorgehen".

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gewöhnliche Ansicht beseitigen. Wenn sich zwei in einem Streit der Vorstellungen befinden, so verbindet doch jeder seine Vorstellung mit einer Überzeugung, und er kann sich mit mehr oder weniger Klarheit bewußt sein, wie er zu dieser Vorstellung gekommen ist. Dieses Verfahren nennt man eine A b l e i t u n g , weil er jene Vorstellung durch Deduktion erhalten hat. Es ist ein rückgängiges Verfahren, das hier unzureichend ist. Solche Regeln der Ableitung einer Vorstellung aus einer anderen suchen wir hier nicht, sondern die V e r k n ü p f u n g s r e g e l n , d. h. die Gesetze, nach denen die Vorstellungen miteinander zu verbinden, zu sondern und in Gegensätze zu bringen sind. Bei allen eigentlichen sogenannten logischen Operationen und besonders beim Syllogismus ist ein Zurückgehen gewöhnlich. Die Vorstellung, die erläutert werden soll, ist die conclusio, der Maior ist die Vorstellung, aus der die andere erklärt werden soll, und der Minor der Übergang. Wenn man aber zu einem gemeinsamen Ursprünglichen kommen will, so ist dieses Verfahren gar nicht anzuwenden auf denjenigen Teil unserer Untersuchung, zu welchem wir Regeln suchen, denn es zeigt nur, wie der eine oder der andere zu seiner Vorstellung gekommen ist. Nur insofern haben diese Formeln einen Wert. Man kann nun freilich so immer weiter rückwärts gehen. Aber von dem Ursprünglichen kann man dadurch nicht zu jedem Punkt des Streits kommen. Und darauf allein beruht die Vollständigkeit unUnsere Aufgabe ist also nur vollkommen zu lösen unter der Bedingung, daß jene beiden Punkte irgendwie nicht zwei seien, sondern ein und dasselbe. Und dies ist nur möglich, wenn das ursprüngliche gemeinsame Wissen zugleich irgendwie die Methode der Teilung und Verknüpfung ist, und wenn diese irgendwie vor allem empirischen Bewußtsein hergeht. Dies setzt aber voraus, daß jedes Denken, welches streitig werden kann, ein geteütes und verknüpftes sei (§ 80), denn alsdann geht jenes selbst allem diesen vorher. Wir können also sagen: Bis uns jemand ein Denken als Gegenstand des Streites bringt, welches kein solches ist, wollen wir hiervon ausgehen. Dies ist aber nicht möglich; denn wenn verschiedenes ausgesagt wird, wird schon geteüt, indem ausgeschlossen wird. Und wenn man über den Gegenstand einig ist, wird schon verknüpft, indem von ihm Streitiges ausgesagt wird.

Teilung und Verknüpfung

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serer Kunst, daß daraus zugleich der Zusammenhang alles Wissens hervorgehe. Fragen wir, wie die Methode des Fortschreitens beschaffen sein muß, welche wir vom Gemeinsamen aus suchen und welche wir als schon gefunden voraussetzen, so kann es vom Gemeinsamen aus nur zweierlei Methoden des Fortschreitens geben: entweder einen P r o z e ß d e r T e i l u n g oder einen P r o z e ß d e r V e r k n ü p f u n g . Wir setzen voraus, wir hätten einen Streit zwischen verschiedenen Vorstellungen, die einen und denselben Gegenstand betreffen, zu schlichten, und eine gemeinsame Vorstellung gefunden. Ist diese nun von der Art, daß der Gegenstand der streitigen Vorstellungen in ihr vorhanden ist, so kann man nur durch eine regelmäßige Teilung der Gesamtvorstellung auf den streitigen Punkt kommen und den Ort finden, wohin er gehört. Gesetzt, es wäre einem einzelnen Dinge oder einer Art von Dingen von dem einen der Redenden eine Eigenschaft beigelegt, die ihr von dem anderen abgesprochen würde, und beide wären auf den Begriff einer höheren Gattung zurückgekommen, so ist ijur von hier aus eine Verständigung möglich. Haben sie sich diese zur Klarheit gebracht, so muß gesetzt sein, was in ihr möglich oder nicht möglich ist. Und teilen wir nun, so .muß sich ergeben, ob sich die Eigenschaft findet oder nicht. Die Kunst, Vorstellungen richtig zu teilen, ist dann die, von einer allgemeinen Vorstellung zu jeder einzelnen darin enthaltenen durch eine regelmäßige Teilung zu gelangen. Wenn aber die gemeinsame Vorstellung nur teilweise den streitigen Punkt enthält, so daß nur ein Merkmal von ihm in ihr mitgesetzt ist, dann ist in der streitigen Vorstellung das Merkmal mit anderen verbunden, und es kommt nun darauf an, zu entscheiden, ob dieses Merkmal mit den anderen verknüpft werden kann, und sich der gemeinsamen Regel bewußt zu sein, wie Vorstellungen verknüpft werden können. Ein dritter Fall kann gar nicht stattfinden; denn die gemeinsame Vorstellung kann zu der streitigen nur in einem dieser beiden Verhältnisse stehen, daß sie nämlich den ¡streitigen Punkt entweder ganz oder nur teilweise in sich faßt. Und es gibt, wenn die Erkenntnis eines Gegenstandes streitig ist, kein anderes Mittel als einen solchen höheren

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Begriff zu suchen, in dem er enthalten ist. Wir sagen also, es müsse in jedem Zustande streitiger Vorstellungen z w e i e r leigefunden werden: e i n e g e m e i n s c h a f t l i c h e Grundv o r s t e l l u n g , w e l c h e selbst a u ß e r h a l b des S t r e i t e s l i e g t , u n d d i e A n w e n d u n g auf d e n Z u s a m m e n hang mit den b e i d e n s t r e i t i g e n Punkten v e r m i t telst schon früher g e f u n d e n e r und anerkannter R e g e l n ü b e r d i e T e i l u n g u n d V e r k n ü p f u n g im Denken. Wir können aber von einer gemeinsamen Vorstellung aus jeden Punkt nur konstruieren, wenn der ganze Zusammenhang des Wissens uns objektiv gegeben ist. Können wir einer Vorstellung nur gleich einen Ort im Zusammenhange des Wissens anweisen, so können wir sagen, unter der Voraussetzung eines gegebenen vollständigen Zusammenhanges kann sie als unstreitig angesehen werden. Wie muß aber nun, da wir uns in diesem Zustande noch nicht befinden, die gemeinsame Vorstellung beschaffen sein, die doch als außerhalb des Streites liegend angesehen werden muß? Wir dürfen sie nie auf dem gewöhnlichen Wege der Gedankenentwicklung uns konstruiert haben, d. h. wir können sie nie e r h a l t e n haben, weil alles andere, was wir auf jenem Wege in uns hervorbringen, ungewiß und im Zusammenhange noch nicht festgestellt ist. Wir müssen sie daher vorher s c h o n i m m e r b e s e s s e n haben als eine solche, die der ganzen Gedankenentwicklung zugrunde liegt und ihr vorhergeht. Allein dies ist nur eine leere Formel, der wir erst einen Wert beilegen müssen, und eben dies können wir von der Anwendung der Regeln auf den Zusammenhang zwischen der gemeinsamen Vorstellung und dem streitigen Punkte sagen. Was die Vorstellung in sich schließt, wie sie beschaffen ist, ob es eine oder mehrere Arten von ihr gibt, ist uns noch nicht klar. Es hat sich nun unsere ganze Aufgabe, die ursprünglich nur eine war, in zwei Teile gespalten, die als etwas total Verschiedenes erscheinen. Zwischen beiden sehen wir keinen Zusammenhang; beide sind unbekannte Größen, zu denen wir nur die Formeln haben. Nun sollen wir von dem Punkt aus, der uns gegeben ist, dem Zustand der streitigen Vorstellungen, die Aufgabe lösen. Man pflegt in solchen Fällen,

Teilung und Verknüpfung

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wo man nicht Mittel genug hat, die Lösung vorzunehmen, so zu Werke zu gehen, daß man aufs Geratewohl, aber doch durch Ahndung, der einen Formel einen Wert beilegt, wie in der Mathematik. Dann aber würden wir immer nur zu einer provisorischen, auf den einzelnen Fall bezogenen Lösung kommen. Daraus geht hervor: Wenn unsere Aufgabe soll befriedigend gelöst werden, so muß, was wir als ein Getrenntes gefunden haben, einerlei'sein. Wenn das, was unserer Gedankenentwicklung zugrunde liegt, nichts ist als die Methode der Teilung und Verknüpfung, so ist unsere Aufgabe gelöst, wenn diese Methoden ein Gemeinsames bilden. Blieben sie in der Zwiefältigkeit, so könnten wir sie nur hypothetisch lösen. Es ist mm wohl der Mühe wert, daß wir uns fragen: Können wir wohl darüber etwas entscheiden, unter welcher Voraussetzung die Einerleüieit stattfindet oder nicht? Rein aus der Analyse der Formeln selbst ergibt sich: Wenn jedes Denken, welches in der Erzeugung der Gedanken vorkommen kann, allemal auf der einen Seite geteiltes und auf der anderen Seite verknüpftes ist, dann sind offenbar die Methoden der Teilung und Verknüpfung das, was allem Denken zugrunde liegt. Nun haben wir keine Ursache, zu besorgen, daß streitige Vorstellungen unter einer anderen Voraussetzung auftreten. Das Denken ist schon ein geteiltes und verknüpftes durch die Genesis, d. h. durch sein Übergehen in ein anderes. Soll eine Vorstellung streitig werden, so wird da schon geteilt und verknüpft. Wir können verfahren wie im Rechtszustande: wir können jede Vorstellung zitieren; und sollte eine Vorstellung kommen, die nicht durch Gedankenentwicklung entstanden ist, so müßte sie eine unmittelbare Offenbarung sein; und diese müßte sich entweder gleich äußern, und dann ist kein Streit möglich, oder nicht. Und dann ist auch wieder Verknüpfung und Teilung da, indem das eine ausschließt, was das andere behauptet. 16-

8" 6"

Hiermit soll aber nicht gesagt sein, daß die beiden Voraussetzungen durchaus einerlei seien. Sie müssen im Gegenteil so verschieden sein, wie der Punkt des Ausgehens (die Grundlagen) und die Art des streitigen Fortschreitens, also wie bei einer Progression der Exponent und die daraus fol-

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

gen den Glieder. Das Verhältnis der Identität, welche wir postuliert haben, zu der Duplizität, die in der Sache liegt, setzen wir noch als unbekannt. Und da nun doch eine Verschiedenheit da ist, haben wir die Wahl, ob wir erst das Wissen oder erst die Regeln der Verknüpfung und Teilung finden wollen. Ein innerer Bestimmungsgrund zur Wahl des einen oder anderen ist nicht vorhanden, höchstens der einer besser erfolgenden Ordnung. Wir haben bei unserer ganzen Untersuchung drei verschiedene Zwecke aufgestellt, die einer in dem andern enthalten sind: i. Jedem Streit ein Ende zu machen; 2. jedes fragmentarische Wissen in Verbindung zu bringen mit jedem anderen, d. h. wissen zu lernen, wohin es in dem allgemeinen Zusammenhange gehört. (Das werden wir aber nicht anders können, als wenn wir es vergleichen mit dem ursprünglichen Wissen und dem Zusammenhange alles Wissens, weil wir sonst nicht wissen, ob es nicht wieder streitig wird. Und da sich immer eine Vielheit bei diesem fragmentarischen Wissen findet, müssen wir also auch hier teilen und verknüpfen. Und nur durch unsere beiden Wege könX V I I 1 ) . Wenn wir nun auch vorausgesetzt haben, daß das zum Grunde liegende (oder die transzendentale Seite der Aufgabe, weil sie nämlich enthalten soll, was jenseits des empirischen Bewußtseins liegt) und die Teüungs- und Verknüpfungsmethode (oder die formale Seite unserer Aufgabe, weil nämlich ja jedes Denken selbst schon ein geteütes und verknüpftes ist) einerlei sein müssen, wenn unsere Aufgabe nicht bloß hypothetisch soll gelöst werden, so schließt doch dieses nicht alle Verschiedenheit aus, sondern es muß immer so viel Differenz übrigbleiben, wie zwischen erstem Glied und Exponent einer Reihe. Denn hier ist völlige Identität nur zufällig, und wenn man das Verfahren darauf gründet, wird die Anwendbarkeit beschränkt. Sofern nun diese beiden Seiten verschieden sind, entsteht die Frage: Bei welcher von beiden wollen wir anfangen? (§§ 84, 85) Es kann hier nichts anderes entscheiden als Bequemlichkeit und Schicklichkeit der Anordnung. — Alle drei Zwecke sind zu erreichen, wenn die beiden Punkte gegeben sind. Aber der umfassendste unter jenen Zwecken ist offenbar die allgemeine Konstruktion, weil es nach dieser weder fragmentarisches Wissen noch streitige Konstruktion gibt. Da aber in dieser sich zunächst die Teüungsund Verknüpfungsgesetze spiegeln, so liegen auch diese unserem Zielpunkte am nächsten und bleiben also am besten bis zuletzt. In der 16. St. vorgetr.

Teilung und Verknüpfung

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nen wir unseren Zweck erreichen.) Das dritte war die Konstruktion alles Wissens in seinem Zusammenhange. Und haben wir dieses erreicht, so hören die ersten beiden Zwecke auf, denn dann gibt es kein fragmentarisches Wissen mehr und selbst keine streitigen Vorstellungen. Zu allem diesen ist Teilen und Verknüpfen des Denkens notwendig, wodurch alles unter sich bestimmt und bestimmbar wird. Übrigens ist der letzte jener drei Teile der Inbegriff aller übrigen, und mit diesem hängt besonders das Verknüpfen und Trennen zusammen. Doch scheint es besser zu sein, mit dem ursprünglichen Wissen den Anfang zu machen und jenes zweite dann folgen zu lassen. Um nicht immer die ganze Definition zu brauchen, so kreieren wir uns abgekürzte Ausdrücke, ohne weiter zu sehen, wie sie entstehen. Die erste Seite nennen wir die t r a n s z e n d e n t a l e S e i t e , weil diese nie im Prozeß des Denkens selbst entsteht, sondern immer schon vorausgesetzt wird. Das Teilen und Verknüpfen des Denkens wollen wir die f o r m a l e S e i t e unserer Aufgabe nennen, weil, wenn irgendein Zusammenhang zwischen beiden sattfindet, alles Denken in uns schon ein verknüpftes sein muß. Daher ist die Kenntnis dieser Seite die von der Form des Denkens.

i. Die transzendentale Aufgabe im allgemeinen Denken, Wollen und Empfinden. Es fragt sich also, wie wir diese transzendentale Seite finden können, da uns f ü r dieselbe doch nur eine allgemeine Formel gegeben ist, und positiv nichts als der Zustand streitiger Vorstellungen; und dieser ebensogut bei verschiedenen Subjekten wie in ein und derselben Person. Auch im letzteren Fall setzt der Streit einen zeitlichen Wechsel, ein Nacheinander, voraus. Mit dem Wunsch, den Streit aufzuheben, ist die Möglichkeit gesetzt, d a ß eine andere Vorstellung an die Stelle der streitigen tritt, der sich diese nicht mehr entgegenstellen kann zu gleichen Rechten. Hiermit ist also ein Denken gesetzt, das den Zustand des Streites in sich schließt, und ein anderes, das ihn ausschließt. Die erste Form des Denkens ist uns wirklich gegeben, von der anderen wissen wir noch nichts, und können es im strengsten Sinne des Wortes nur durch den allgemeinen Zusammenhang des Wissens, den wir noch nicht haben, erfahren. Das Denken ist immer im Werden aus der ersten Form begriffen. Erster Teil. Also zuerst die Aufgabe, das Transzendentale zu finden. Es ist uns dazu nichts gegeben als der Zustand streitender Vorstellungen, d. h. eines Schwankens im Denken. Indem wir aber diesem ein Ende machen wollen, so liegt darin die Voraussetzung eines Nichtschwankens als des Hervorzubringenden. Also zwei verschiedene Zustände des Denkens. Wie verhalten sie sich zueinander? Zuerst: Was ist Denken? (§ 86). Antwort: Diejenige Geis t e s t ä t i g k e i t , welche sich in der Identität mit der Rede vollendet, und sich auf ein außer der Tätigkeit selbst Gesetztes bezieht. Anm. Wollen wird auch bisweilen zur Tat vollendet durch Rede; aber die Rede ist dann doch nur Mittel. Empfindung äußert sich auch durch Rede; aber sie vollendet sich nicht darin, sondern schwächt sich, und das Empfundene ist nichts von dem Empfinden selbst Verschiedenes. Dagegen ist in beiden auch eine Beziehung auf ein außer ihnen Gesetztes (bei der Empfindung freilich nur auf die veranlassende Ursache); aber nicht sofern sie sich durch die Rede vollenden.

I2Ó

Friedrich Schleiermachers Dialektik

Wie unterscheidet sich nun das eine Denken vom anderen, und was heißt hier D e n k e n ? Es gibt eigentlich hierüber keine andere Verständigung als die, daß wir es uns als eine innere Tätigkeit denken, die als solche nicht nach außen tritt. Will sie aber mitteilen, wie es dabei in unserem Bewußtsein zugeht, so wird sie ein Reden, und alles Reden ist ein erscheinendes Denken. Es ist also diejenige i n n e r e Geistestätigkeit, die erst durch das Reden eine v o l l k o m m e n e w i r d . Und wenn sie vollkommen ist, wird sie durch die Rede dem anderen gerade so mitgeteilt, wie sie der Denkende selbst hat. Weiter können wir hierüber noch nichts sagen. Wir müssen nun diese Tätigkeit von anderen trennen. Dies aber kunstmäßig zu tun, würde den allgemeinen Zusammenhang voraussetzen, den wir noch nicht haben, und so kommt es auf ein glückliches Heravisgreifen an. Man nehme z. B. das W o l l e n , etwas absolut Innerliches, das auf sich bezogen nie zur Erscheinung kommt, dann aber auch unvollkommen bleibt. Seine Äußerung nennen wir T a t . Wenn wir nun fragen, ob das Reden nicht auch Tat sei, und insofern das Denken nicht auch ein Wollen, so muß dies wohl jeder bejahen. Und doch wird etwas ganz anderes dadurch bezeichnet. Wenn ich durch das Wollen des Denkens zur Rede veranlaßt werde, so will ich doch nur, daß ich von einem anderen verstanden werde. Denn man kann nie ordentlich denken, ohne das Streben zu haben, verstanden zu werden; d. h. die Wörter entstehen uns mit den Gedanken. Das Reden ist also nur Vollendung des Denkens, und so unterscheiden sich beide Gebiete. Denn die Tat ist nicht mehr das Wollen; das Reden hingegen selbst noch ein Denken. Wollen wird auch bisweilen zur Tat vollendet durch die Rede. Aber dann ist die Rede nur ein Mittel zur Tat (wenn man etwa jemand be-reden will); und das Eintreten derselben ist immer etwas Zufälliges. Auch gibt es noch einen dritten Zustand geistiger Tätigkeit, den wir G e f ü h l oder Empfindimg nennen. Er ist gleichfalls etwas Inneres und beiden vorigen ähnlich; denn auch er will äußerlich werden, entweder durch Gebärden oder durch Laute. Wollen wir aber unsere Empfindungen anderen mitteilen, so müssen wir uns auch hierzu der Rede

Denken, Wollen und Empfinden

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bedienen; und so ist zu fragen, ob sich die Rede hierbei ebenso verhält wie beim Denken. Wir müssen dies verneinen, denn die Empfindung wird durch die Rede keineswegs vollständiger, erlangt dadurch keine Vollkommenheit, sondern wird im Gegenteil schwächer, da die Rede mit dem Denken zusammenhängt, und die Empfindung durch die Rede in ein Denken übergehen würde. Rede und Denken stehen also in einer festen Verbindung, sind eigentlich identisch. Das Denken ist nicht ohne Rede möglich, und diese ist die Bedingung der Vollendung des Denkens. Jedes Denken setzt ein Gedachtes voraus, das in anderer Beziehung ganz unabhängig vom Denken ist und ohne dieses dennoch existieren würde. Beim Empfinden dagegen ist eine Trennung vom Empfundenen selbst nicht möglich. Das Empfinden ist dasselbe wie das Empfundene, und dieses existiert nicht ohne das Empfinden. Man kann sich beides gut in e i n e m Verbum ausgedrückt denken. Nun müssen wir fragen, wie sich dieser Gegenstand des Denkens, d. h. das Gedachte, in unseren beiden Formen des Denkens verhält, nämlich in dem Denken, das den Streit setzt, und in dem, das ihn ausschließt. 17

Die beiden Merkmale des Wissens. Wie unterscheiden 9- 5. w j r ¿ig beiden Arten oder Zustände des Denkens: das§§ jenige Denken, welches in streitigen Vorstellungen vorkommt und dasjenige, welches das eigentliche Wissen ausmacht? Daß wir mit dem Namen „ W i s s e n " nur eine gewisse Art und Weise des Dtenkens bezeichnen, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Wenn wir nun auch auf einem anderen Gebiet, nämlich dem des Empfindens und Wollens, von einem Wissen reden, so ist dies doch nichts anderes als ein Denken über den Zustand des Empfindens und Wollens. W i e u n t e r s c h e i d e n wir nun also d a s W i s s e n von d e m D e n k e n ? Hier müssen wir zuerst eine Vorstellung beseitigen, die sehr leicht aus einem abgekürzten Sprachgebrauch entstehen kann. Man kann nämlich glauben, daß das Wissen ein Zustand sei, welcher das Denken ablöst; und daß man nicht weiß, indem man denkt, sondern nachdem man gedacht hat. Dies ist aber falsch. Wenn wir einmal durch unser Denken auf einen Punkt, der uns beruhigt, ge-

Denken, Wollen und Empfinden

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bedienen; und so ist zu fragen, ob sich die Rede hierbei ebenso verhält wie beim Denken. Wir müssen dies verneinen, denn die Empfindung wird durch die Rede keineswegs vollständiger, erlangt dadurch keine Vollkommenheit, sondern wird im Gegenteil schwächer, da die Rede mit dem Denken zusammenhängt, und die Empfindung durch die Rede in ein Denken übergehen würde. Rede und Denken stehen also in einer festen Verbindung, sind eigentlich identisch. Das Denken ist nicht ohne Rede möglich, und diese ist die Bedingung der Vollendung des Denkens. Jedes Denken setzt ein Gedachtes voraus, das in anderer Beziehung ganz unabhängig vom Denken ist und ohne dieses dennoch existieren würde. Beim Empfinden dagegen ist eine Trennung vom Empfundenen selbst nicht möglich. Das Empfinden ist dasselbe wie das Empfundene, und dieses existiert nicht ohne das Empfinden. Man kann sich beides gut in e i n e m Verbum ausgedrückt denken. Nun müssen wir fragen, wie sich dieser Gegenstand des Denkens, d. h. das Gedachte, in unseren beiden Formen des Denkens verhält, nämlich in dem Denken, das den Streit setzt, und in dem, das ihn ausschließt. 17

Die beiden Merkmale des Wissens. Wie unterscheiden 9- 5. w j r ¿ig beiden Arten oder Zustände des Denkens: das§§ jenige Denken, welches in streitigen Vorstellungen vorkommt und dasjenige, welches das eigentliche Wissen ausmacht? Daß wir mit dem Namen „ W i s s e n " nur eine gewisse Art und Weise des Dtenkens bezeichnen, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Wenn wir nun auch auf einem anderen Gebiet, nämlich dem des Empfindens und Wollens, von einem Wissen reden, so ist dies doch nichts anderes als ein Denken über den Zustand des Empfindens und Wollens. W i e u n t e r s c h e i d e n wir nun also d a s W i s s e n von d e m D e n k e n ? Hier müssen wir zuerst eine Vorstellung beseitigen, die sehr leicht aus einem abgekürzten Sprachgebrauch entstehen kann. Man kann nämlich glauben, daß das Wissen ein Zustand sei, welcher das Denken ablöst; und daß man nicht weiß, indem man denkt, sondern nachdem man gedacht hat. Dies ist aber falsch. Wenn wir einmal durch unser Denken auf einen Punkt, der uns beruhigt, ge-

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

kommen sind, so halten wir diesen fester als einen anderen, der nur Durchgangspunkt unseres Denkens ist, während mit jenem unser Zweck erreicht ist. Und nun stellen wir uns vor, als hätten wir die Erkenntnis als einen Besitz, der von der Operation des Denkens unabhängig ist. Das ist der Fall, insofern sie ein Resultat der Erinnerung ist. Dann aber ist es nur ein Zurückgehen, und wir haben das Wissen eigentlich nur, sofern wir diesen Prozeß wiederholen. Das Wissen ist immer nur in der Repetition desselben Prozesses, ist also immer i m Denken und nicht n a c h demselben. Wenn wir also rein auf den Prozeß selbst sehen: worin liegt dann die Unterscheidung zwischen dem Denken überhaupt und einem solchen Denken, das ein Wissen wird oder geworden ist? Hier müssen wir auf den Zustand streitiger Vorstellungen zurückgehen. Denken wir uns zwei Personen im Streit, so kann jeder sagen: ich weiß, daß dies so ist. Kommt aber ein dritter hinzu, so wird er sagen, daß jeder von ihnen nur insofern weiß, als er den andern zu seiner Vorstellung hinüberziehen kann. Jeder weiß nur vermittelst des Prozesses des Denkens und in demselben. Und also bringt er den andern nur zu einer Vorstellung seines Wissens, indem er ihn nötigt, seinen Prozeß zu vollziehen. Kann er das nicht, so weiß er nicht, sondern hat nur zu wissen geglaubt. XVIII 1 ). Welches Denken ist nun ein Wissen? (NB. § 86. 2, Das Wissen2) ist wirklich nur im Denken, nicht etwa8) im Gedachthaben. Das Wissen als Besitz geht doch immer auf die Produktion. Ist diese in der Erinnerung verlorengegangen und nur das Resultat geblieben, so hat man dieses doch nicht als ein Wissen.) Gehen wir auf die Voraussetzung zurück, so ist das Wissen aus dem Streit hervorgegangen, wenn von gleichem Punkt der eine genötigt worden ist, so zu produzieren wie der andere. Gehen wir auf Streit in Einem, so ist er im Schwanken unsicher über das Verhältnis seines Denkens zum Gegenstande, und das Schwanken hört nicht eher auf, bis das Bewußtsein auf einer Konstruktion als auf einer unabänderlichen ruht (§ 87). Dies soll keine Erschöpfung des Wissens sein, sondern nur dasjenige darin, was sich auf unsere Voraussetzung bezieht. Demohnerachtet können wir mit Sicherheit sagen: Wo ein werdendes und gewordenes Wissen ist (also mit Ausnahme der transzendenten Voraussetzung und der absoluten Konstruktion), da ist dieses beides. *) In d. 17. St. vorgetr. „etwa" fehlt bei Jon.

s)

2)

Hs.: „ E s " ; korr. Jon.

Die beiden Merkmale des Wissens

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Wenn das Wissen sich so durch die allgemeine Mitteilung des Prozesses bewährt, müssen wir d a s j e n i g e D e n k e n f ü r e i n W i s s e n h a l t e n , in w e l c h e m d i e I d e n t i t ä t des P r o z e s s e s a l l e r D e n k e n d e n m i t g e s e t z t ist. Nun müssen wir uns auch über den Ausdruck der A l l g e m e i n h e i t erklären. Der Zustand streitiger Vorstellungen setzt immer eine Mehrheit denkender Wesen voraus. Wir haben zwar gesagt, es gebe auch einen Zustand streitiger Vorstellungen in einem Einzelnen. Dies versteht sich daraus, weil er dann im Denken verschiedener Subjekte versiert, und wir die Vorstellung haben, daß der gegebene Punkt noch in zwei verschiedenen Richtungen liegt und sich beim Zusammentreten mit anderen unter verschiedenen Gesichtspunkten darstellen kann. Befinden sich nun zwei Personen im Zustand streitiger Vorstellungen, so bewährt sich nur dessen Denken als Wissen, der dem anderen seinen Prozeß mitteilen kann. Aber ohne Zurückgehen auf ein erstes allgemeines Wissen ist die Mitteilung eines Prozesses des Denkens an einen anderen auch nur ein provisorisches Wissen, und der Mitteilende kann glauben, daß, wenn ein anderer auftritt, ihm dieser einen andern Prozeß darstellen kann. Es liegt also der Vorstellung des Wissens die a l l g e m e i n e I d e n t i t ä t d e s P r o z e s s e s zugrunde. Gesetzt, zwei Personen hätten einerlei Vorstellungen von einem Gegenstande, die zunächst nicht streitig sind. Fragt nun aber einer den andern: Wie bist du zu dieser Vorstellung gekommen? und findet man eine Verschiedenheit der Wege zur Erreichung der Vorstellung, so hört schon die Sicherheit der Identität auf, indem man glaubt, daß Vorstellungen, die sich von verschiedenen Punkten entwickelt haben, nicht eins sein- können. Es ist noch ein zweiter Punkt zu betrachten. Wir haben gesagt, es gehöre wesentlich zum Denken, daß ein Gedachtes vom Denken selbst verschieden sei, worauf sich dieses beziehe; und nur in dieser Beziehung sei ein Zustand streitiger Vorstellungen möglich. Beides zu unterscheiden, ist eine wesentliche Bedingung dieses Zustandes. Wir haben femer vorausgesetzt, daß in diesem Zustande beide Streitende behaupten zu wissen. (Doch können wir einen solchen Streit auch in einem Menschen allein finden, der dann zwei Vorstellungen über denselben Gegenstand hat, die sich nicht S c h l e i e r m a c l » e r , Dialektik.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

auf gleiche Weise zu demselben verhalten können.) Was wird nun hier der Unterschied zwischen beiden sein in Hinsicht auf die Beziehung zum Gedachten? Jeder von beiden denkt sich den Gegenstand als e i n e n . Wird ein Denken noch nicht für ein Wissen gehalten, so verbinden wir damit die Veränderlichkeit des Denkens über einen Gegenstand. In jedem Wissen ist also die Unveränderlichkeit der Vorstellung zu ihrem Gegenstande mitgesetzt. Die I d e n t i t ä t des Prozesses und die Unverä n d e r l i c h k e i t des Verhältnisses der V o r s t e l l u n g e n zum G e g e n s t a n d s i n d also die b e i d e n wes e n t l i c h e n M e r k m a l e d e s W i s s e n s . Die Unveränderlichkeit des Verhältnisses ist uns wohl klar, aber noch nicht, worin dieses Verhältnis bestehe. Es ist ein Verhältnis in und für uns, denn es ist nichts als eine Beurteilung meines Zustandes im Denken in Beziehung auf jedes künftige Denken. Es ist die Ruhe, die Sicherheit des Denkens, welche wir durch den Ausdruck Ü b e r z e u g u n g bezeichnen. Sie zeigt sich in der Art, wie im Akte des Bewußtseins die Gegenstände ins Innere, in den geistigen Prozeß aufgenommen werden. Mehr können wir hier auf unserem Standpunkt noch nicht sagen. Das Wissenwollen muß immer davon ausgehen, einen Gegenstand, der uns ein Gedachtes in einem unbestimmten Sinne ist, als ein Gedachtes zu vollenden. Die Tendenz zu einem Denken des Gegenstandes ist immer schon gegeben; die Vollendung des Denkens ist, daß wir glauben, vom Gegenstande sei nichts mehr zu denken, sondern in unserem Prozeß sei alles Denkbare über diesen Gegenstand mit enthalten. 18

Diese beiden Merkmale des Denkens können wir allem 10.6. Denken zugrunde legen. Solange wir noch die Überzeugung haben von einer Möglichkeit der Veränderung des Prozesses, setzen wir den Prozeß fort, sind noch im Wissenwollen. Solange wir •unseren Prozeß noch nicht als denselbigen denken, als welchen ihn alle denken müssen, um zu einem solchen Resultat zu kommen, solange haben wir noch keine Sicherheit. Daß aber beide Merkmale den ganzen Begriff des Wissens erschöpfen, können wir noch nicht behaupten, weil wir von einem bestimmten Punkte, nämlich

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Der Einfluß des Individuellen

der Voraussetzung streitiger Vorstellungen, ausgegangen sind. Ja, wir müssen uns vielmehr bestimmt des Gegenteils b e w u ß t sein. E s könnte in dem P r o z e ß noch vieles vorkommen, was in den beiden Merkmalen nicht enthalten ist. Ungeachtet dies jetzt f ü r uns keinen bestimmten W e r t hat, so ist es d o c h notwendig, d a ß wir uns in unserer Untersuchung von j e d e m Schritt R e c h e n s c h a f t geben, damit wir nicht glauben mehr erlangt z u haben, als wir tatsächlich g e f u n d e n haben. §§88 bis 91

Der

Einfluß

des

Individuellen.

Betrachten

wir

also

die beiden M e r k m a l e noch genauer, so werden wir zugestehen müssen: W e n n wir die Ü b e r z e u g u n g haben, d a ß der P r o z e ß in allen Denkenden durchaus derselbe sei, haben wir auch schon eine solche Sicherheit, d a ß dies ein Wissen sei. U n d dann ist uns auch schon das a n d e r e M e r k m a l von der Unveränderlichkeit mit g e g e b e n , also d i e volle Überzeugung, d a ß ein solches Denken einem Gegenstände v o l l k o m m e n entspricht. A b e r wir müssen nur Umkehren aber können wir es nicht. Denn z. B. in allem Denken, welches zunächst das Empfinden und Wollen zum Gegenstande hat, also in Geschmacksurteüen und Maximen, ist vollkommenes Überzeugungsgefühl, aber kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit durch identische Konstruktion; wenigstens ist dieser nur auf ein weniges darin beschränkt (§ 88). X I X 1 ) . Ebenso machen auch Kunstwerke, sofern sie auf einem mit Überzeugungsgefühl produzierten Denken beruhen, welches sich als Besonnenheit auch durch die Ausführung durchzieht, allerdings Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber nicht durch Identität der Konstruktion. Denn diese ist nicht möglich, auch nicht nach der Rückkonstruktion, weil auch diese nie vollendet sein kann (§ 89). Wir erkennen also im Denken noch ein anderes Element, wodurch das Gebiet des Wissens beschränkt wird, kraft dessen nämlich im Denken jeder ein anderer ist als der andere. Dies ist das Individuelle. Sofern etwas hiervon überall ist, wird kein A k t vollkommen, sondern nur nach Ausscheidung dieses Elementes der Idee des Wissens entsprechen (§90). Und dieses kann nur indirekt aufgelöst werden, wenn die Totalität des Individuellen als solche, d. h. mit ihren Gründen erkannt ist (§ 91), und hiermit haben wir eine völlige Unendlichkeit der Aufgabe. In d. 18. St. vorgetr. 9*

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Der Einfluß des Individuellen

der Voraussetzung streitiger Vorstellungen, ausgegangen sind. Ja, wir müssen uns vielmehr bestimmt des Gegenteils b e w u ß t sein. E s könnte in dem P r o z e ß noch vieles vorkommen, was in den beiden Merkmalen nicht enthalten ist. Ungeachtet dies jetzt f ü r uns keinen bestimmten W e r t hat, so ist es d o c h notwendig, d a ß wir uns in unserer Untersuchung von j e d e m Schritt R e c h e n s c h a f t geben, damit wir nicht glauben mehr erlangt z u haben, als wir tatsächlich g e f u n d e n haben. §§88 bis 91

Der

Einfluß

des

Individuellen.

Betrachten

wir

also

die beiden M e r k m a l e noch genauer, so werden wir zugestehen müssen: W e n n wir die Ü b e r z e u g u n g haben, d a ß der P r o z e ß in allen Denkenden durchaus derselbe sei, haben wir auch schon eine solche Sicherheit, d a ß dies ein Wissen sei. U n d dann ist uns auch schon das a n d e r e M e r k m a l von der Unveränderlichkeit mit g e g e b e n , also d i e volle Überzeugung, d a ß ein solches Denken einem Gegenstände v o l l k o m m e n entspricht. A b e r wir müssen nur Umkehren aber können wir es nicht. Denn z. B. in allem Denken, welches zunächst das Empfinden und Wollen zum Gegenstande hat, also in Geschmacksurteüen und Maximen, ist vollkommenes Überzeugungsgefühl, aber kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit durch identische Konstruktion; wenigstens ist dieser nur auf ein weniges darin beschränkt (§ 88). X I X 1 ) . Ebenso machen auch Kunstwerke, sofern sie auf einem mit Überzeugungsgefühl produzierten Denken beruhen, welches sich als Besonnenheit auch durch die Ausführung durchzieht, allerdings Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber nicht durch Identität der Konstruktion. Denn diese ist nicht möglich, auch nicht nach der Rückkonstruktion, weil auch diese nie vollendet sein kann (§ 89). Wir erkennen also im Denken noch ein anderes Element, wodurch das Gebiet des Wissens beschränkt wird, kraft dessen nämlich im Denken jeder ein anderer ist als der andere. Dies ist das Individuelle. Sofern etwas hiervon überall ist, wird kein A k t vollkommen, sondern nur nach Ausscheidung dieses Elementes der Idee des Wissens entsprechen (§90). Und dieses kann nur indirekt aufgelöst werden, wenn die Totalität des Individuellen als solche, d. h. mit ihren Gründen erkannt ist (§ 91), und hiermit haben wir eine völlige Unendlichkeit der Aufgabe. In d. 18. St. vorgetr. 9*

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

gleich darauf achten, daß wir dies nicht umkehren können und nicht sagen können: Wo in uns in Beziehung auf einen gewissen Prozeß die Überzeugung ist, daß für uns das Verhältnis der Vorstellung zum Gegenstande nicht kann geändert werden, da muß auch eine Identität des Verfahrens in allen gesetzt sein. Da wir uns nur eine Begrenzung verschaffen wollen, so sind Beispiele zum Beleg hinreichend. So trifft dies auf Maximen und Geschmacksurteile zu. Beiden wohnt eine Überzeugung inne, denn es liegt in beiden die Setzung der Unveränderlichkeit. Aber keineswegs glauben wir hier an die Identität des Verfahrens. Das Urteil des anderen kann durch ein anderes Verfahren hervorgegangen sein. Wir setzen also die Überzeugung immer als eine subjektive. Ein Wissen ist dies also nicht im vollkommenen Sinne, und ein Wissen ist auf diesem Gebiet, wo das Denken das Empfinden und Wollen betrifft, nicht möglich. Wenn in der Konstruktion eines Denkens alle auf dieselbe Weise verfahren, so ist alsdann auch eine Allgemeingültigkeit des Resultats mit anerkannt, weil dies mit der Konstruktion aufs innigste zusammenhängt. Aber eben solchen Anspruch gibt es auch bei einem Resultat, welches nicht auf solcher Gleichmäßigkeit der Produktion ruht. Teile ich einem anderen eine Gedankenreihe mit, so kann ich das rein genetisch tun; und gesteht er den Anfang zu und den Prozeß, so kommt er auf dasselbe Resultat. Ein Kunstwerk macht auch auf solche Allgemeingültigkeit Anspruch, es will anerkannt sein als seiner Idee entsprechend. Trotzdem liegt keine Gleichmäßigkeit des Verfahrens zugrunde. Es findet bei dem Anschauenden ein umgekehrter Prozeß wie beim Künstler statt, indem er vom Resultat auf die Idee zurückgeht. Das tut der Allgemeingültigkeit keinen Abbruch; aber aus dem Wissen schließen wir es aus. Es gibt also eine Ü b e r z e u gung, die nicht auf identischer Produktion ber u h t , und diese ist daher kein Wissen. Worin liegt nun der Unterschied zwischen dem, was wir eigentlich Erkenntnis nennen und den Geschmacksurteilen und den Maximen des Handelns? Und ebenso: Wodurch unterscheidet sich das Gebiet des Wissens von den Produkten der Kunst, die ebenfalls gleichmäßige Anerkennung

Der Einfluß des Individuellen

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suchen? Wir werden sagen müssen: Die letzten beiden Gebiete beruhen zum Teil auf dem, was in jedem einzelnen anders sein kann; d. h. es kommt dabei die persönliche Eigentümlichkeit des einzelnen mit in Rechnung. Auf dem Gebiet des Erkennens aber setzen wir voraus, d a ß die persönliche Eigentümlichkeit ganz zurücktrete. Und nur in dem Maß, wie dies geschieht, machen wir den Anspruch auf das Wissen wirklich geltend. Dies können wir freilich auch nur auf unbestimmte Weise hinstellen; denn vorläufig können wir diese Grenzen nicht feststellen, vielleicht auch überhaupt nicht. Im allgemeinen können wir aber sagen: je mehr das Persönliche in Rechnung kommt, um so weniger ist in der Operation das Wissen anwendbar; und je mehr es wegbleibt, um so mehr tritt d i e Idee des Wissens heraus und hat auf diesem Gebiet ihre Anwendbarkeit. Worin besteht nun von dieser Seite aus die Vollendung des Wissens? Wenn wir darauf zurückgehen, d a ß wir zwei Merkmale haben, durch die das Verhältnis des Wissens zum übrigen Denken bestimmt ist, nämlich die allgemeine Identität der Konstruktion u n d dann das Beruhen des Bewußtseins in Beziehung des Verhältnisses des Denkens zum Gedachten, und wir denken uns ein zwischen den Punkten gelegenes und zum Wissen gewordenes Denken, so ist es auf der einen Seite Resultat einer Operation, auf der anderen Seite, als der Zusammenhang noch nicht dargestellt ist, ein Punkt, von dem weiter fortgefahren werden soll, also Voraussetzung. Wenn wir in einem Denken ein Beruhen des Gemüts finden, das wir Überzeugung heißen, und mit dieser verbunden die Voraussetzung einer allgemeinen Identität des Verfahrens, aber wir erkennen diese beiden entgegengesetzten Verhältnisse nicht in ihrem Zusammenhange und Grade, d. h. wir sehen nicht, inwiefern und wovon es Resultat und wofür es Grund ist, so haben wir kein vollkommenes Wissen. Können wir aber in jedem einzelnen Wissen mit derselben Überzeugung beides mitdenken, dann ist es vollendet. Wir setzen also die Überzeugung immer als eine subjektive, und wir sind uns eines gewissen Gebietes bewußt geworden, nämlich des individuellen Denkens, wo keine

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Gleichmäßigkeit des Verfahrens besteht. Doch haben wir hier keine bestimmten Grenzen ziehen können, weil wir kein Gebiet des Wissens sehen, von welchem wir den Einfluß dieses individuellen Denkens völlig ausschließen könnten. Haben wir aber ein Recht dazu, dem Eigentümlichen einen Einfluß auf alles Denken zuzugestehen? Dies können wir nicht entscheiden, bis wir das Gebiet des Wissens in seiner organischen Verzweigung aufgefaßt und vollkommen konstruiert haben. Indessen wollen wir nur parenthetisch auf die Einwendung eingehen, wir könnten allenfalls in der Mathematik ein solches Gebiet finden, von dem das Individuelle ausgeschlossen ist. Daß aber der Einfluß des Individuellen hier Null ist, müssen wir leugnen. Wenn wir zurückgehen auf das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, so ist die Mathematik nur insofern eine Wissenschaft, als sie Kunst ist, als ihr Wert auf Erfindung beruht. Ohne Kunst wird sie vollkommen mechanisch. Die Erfindung nur ist das Wesentliche. Aber kein Mensch kann allen zumuten, so zu erfinden, wie er erfunden hat. Er kann ihnen nur zumuten, die Resultate anzuerkennen. Wie er erfunden, weiß er oft selbst nicht. Solange wir nun die allgemeine Konstruktion alles Wissens nicht haben, in welchem alles eigentümliche Denken aufgeht, solange haben wir kein Recht, darüber zu entscheiden, ob es im Denken Gebiete gebe, von welchen aller Einfluß des Eigentümlichen ausgeschlossen sei. Wir dürfen nur einen fließenden Unterschied statuieren. Nun aber ist offenbar, daß das Eigentümliche selbst ebenso ein Gedachtes ist, wenn wir seinen Einfluß im Denken bemerken, und also schon ein Gegenstand des Denkens, also ein Teil unserer Aufgabe ist. Zu der Forderung, daß jedes Wissen nur ein vollkommenes ist, wenn wir außer den allgemeinen Merkmalen es auch noch in seinem Verhältnis als Resultat und Grund zur Totalität des Wissens verstehen, muß also noch hinzukommen, daß wir es in seinem Verhältnis zum Individuellen erkennen. Was uns das Gebiet des Wissens zu beschränken schien, ist so selbst ein Wissen geworden.

Verhältnis des Denkens zum Gegenstand

I s 97

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U b e r e i n s t i m m u n 9 des Denkens mit dem Gegenstand. Nun gehen wir zu der Analysis des zweiten Merkmals über. Jedes Denken ist nur insofern ein Wissen, als die Beruhigung des Denkenden dabei in Beziehung auf das Gedachte einen vollkommenen Grund und Bestand hat. Denn die Überzeugung, auf den Moment bezogen, ist etwas Wandelbares und bildet nur die Meinung des Wissens. Ist das Denken ein wahres Wissen, so muß es unerschüttert bleiben. Hier kommen wir aber zu einer sehr schwierigen Frage, welche uns den ganzen Punkt, auf welchem unsere Untersuchimg zu stehen scheint, ungewiß zu machen droht. Es ist die B e z i e h u n g d e s D e n k e n s z u m G e g e n s t a n d e . Wenn man denkt, so denkt man etwas. Und dies verhält sich anders, als wenn man sagt: wenn man empfindet, so empfindet man etwas. Den Gegenstand des Denkens setzen wir als vom Denken verschieden. Hier kommen wir auf den alten Streit, der das Gebiet der ganzen Philosophie so oft zerrissen hat. Wie kommen wir dazu, das Denken von der Empfindung so zu unterscheiden, daß wir das Gedachte außer uns setzen, das Empfundene aber nicht? Wir drücken dies gewöhnlich so aus: das Denken bezieht sich auf ein Sein, und das Seiende ist überall der Gegenstand des Denkens, und so wird uns erst darin das Gedachte ein Seiendes. Wir sind nun noch gar nicht an einem solchen Orte, wo wir die Frage aus dem metaphysischen Gesichtspunkt, von wo aus sie immer aufgeworfen worden ist, entscheiden können. Wir setzen streitige Vorstellungen voraus. Nehmen wir diesen Zustand zwischen zweien an, so setzt dies schon voraus, daß der eine für den andern ist, d. h. daß der eine in seinen Operationen des Denkens, und inwiefern dies von meinem Denken unterschieden ist, für mich ist und mich zu einem anderen Denken, zu einer Vergleichung unseres beiderseitigen Denkens reizt; daß also ein Gegenstand des Denkens (ein Sein) sei, welchen wir von dem Denken unterAnalysieren wir nun das andere Moment, so beruht dies auf dem Verhältnis des Denkens zum Gedachten (§ 94), und wir kommen auf den alten Streit, wie wir dazu kommen, das Denken auf etwas außer uns zu beziehen. Wir können ihn nur von unserer Voraussetzung aus betrachten; streitige Vorstellungen setzen eine Mehrheit von Individuen (§ 101), welche denken, voraus.

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scheiden. Selbst wenn wir also streitige Vorstellungen im Denken setzen, finden wir dasselbe. Man hat gestritten, inwiefern man berechtigt sei, aus un13. 6. sej-en Gedanken herauszugehen. Durch unsere Voraussetzung ist diese Frage schon entschieden. Insofern kann man herausgehen, als die streitige Vorstellung eine Mehrheit von Subjekten setzt. Und durch diese schon ist gesetzt, d a ß das Denken einen Gegenstand haben muß, der von ihm unabhängig ist, nämlich das Denken des anderen. Es gibt auch ein Denken unseres Empfindens und unseres Wollens. Diese Tätigkeiten sind, wie wir gesehen haben, vom Denken verschieden. Indem sich nun das Denken auf dieselben bezieht, ist also schon eine Beziehung des Denkens auf etwas von ihm Getrenntes und Unabhängiges gesetzt. Reflektiere ich über mein Wollen, so bin ich als dieser Wollende ebenfalls Gegenstand des Denkens, also selbst Gedachtes, wie dieses der Fall ist, wenn ein Gegenstand außer uns gesetzt ist. Dies t r i f f t auch auf den Fall zu, wo der Denkende selbst verschiedene Vorstellungen hat, die wir immer als ein Nacheinander denken müssen. Denn indem eine der Vorstellungen entsteht, erinnert man sich einer früheren; und diese wird nun wieder ein Gedachtes und ist als solches unabhängig von dem jetzigen Denken. Also ist auch immer in uns diese Beziehung des Denkens auf einen von ihm unabhängigen Gegenstand gesetzt; und wir brauchen gar nicht aus uns herauszugehen. Es wäre durchaus keine Beziehung unseres Denkens auf ein Früheres möglich, wenn wir diese Verschiedenheit leugneten. In dieser W i e d e r h o l b a r k e i t d e s D e n k e n s , in dieser Beharrlichkeit und Konstanz des Früheren ist uns das Gedachte zugleich das Sein. Nun wollen wir weiter sehen, wie sich in dieser Beziehung das Wissen von dem Denken, welches kein Wissen ist, unterscheidet. Solange im Denken noch eine Unsicherheit stattfindet in bezug auf das Gedachte, u n d dies noch immer ein anderes werden kann, existiert noch kein Wissen. Wenn wir aber das Denken, welches wir haben, als ein solches setzen, das immer wieder von dem gedachten Gegenstande hervorgerufen wird, und wir also immer bei demselben Denken beharren, wenn wir zurückgehen auf denselben Gegenstand,

Verhältnis des Denkens zum Gegenstand

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haben wir ein Wissen in uns und sagen: das Denken entspricht diesem Gegenstände; doch unter der Voraussetzung, daß das Gedachte kein anderes Denken hervorrufe. Wir wollen sehen, ob es nach der Analogie der früheren Betrachtung des Wissens eine Umkehrung dieses Satzes gibt. Wenn wir zurückgehen auf das Denken eines Wollens, den Zweckbegriff einer Handlung oder eines Werkes, so gibt es dabei auch ein Gedachtes, aber dieses soll erst werden durch das Denken. Das Denken dieses Denkens (des Zweckbegriffes) geht dem Gedachten vorher. Wenn wir dieses Moment vergleichen mit dem Momente, wo der Gegenstand des Denkens realisiert ist, und fragen, ob eine Identität zwischen der Handlung und dem vorausgehenden Denken besteht, so müssen wir sagen, daß das Getane dem vorangehenden Denken niemals genau entspricht. Dies hindert indessen die Überzeugung nicht. Wenn wir suchen, worin dies liegt, so läßt es sich darauf reduzieren, daß wir sagen: in dem vorausgehenden Denken ist nicht alles enthalten, was in dem wirklich Gewordenen, in der Handlung, gesetzt ist. Wo das Gedachte dem Denken vorangestellt wird, ist es ebenso, denn unser Denken entspricht auch hier nie vollX X 1 ) . Dasselbe aber gilt auch, wenn man von streitigen Vorstellungen im Einzelnen ausgeht; er selbst wird sich dabei Gegenstand in seinem Tun, wie denn überhaupt Tun und Sein sich als Gegenstand des Denkens ganz gleich verhalten. In Absicht auf dieses Merkmal nun halten wir dasjenige Denken für ein Wissen, von welchem wir voraussetzen, daß, wenn wir auf denselben Gegenstand zurückkehren, auch das Denken wieder dasselbe sein wird, d. h. das Denken entspricht seinem Gegenstand (§ 94). Wenn wir diesen auch als das2) Sein bezeichnen, so soll damit nichts mehr bevorwortet sein als die Beharrlichkeit des Gegenstandes für das Denken, oder seine Wiederholbarkeit im Denken. Wohingegen ein Denken kein Wissen ist, von welchem wir glauben, daß, wenn wir auf denselben Gegenstand zurückkommen, wir anders darüber denken könnten. Scheint es nun, als ließe sich dies nicht umkehren, weil es (§ 95) auch ein Denken gibt, welches mit voller Überzeugung, aber ohne genaues Entsprechen gedacht wird, wie die Imperative, so kommt dies daher, weü diese als Denken der Handlung oder des Werkes nicht bestimmt genug, und also auch als Wissen unvollständig sind. In d. 19. St. vorgetr.

2

) „das" fehlt bei Jon.

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kommen dem Gegenstand. Und doch ist dies das Postulat eines vollendeten Wissens. Wo wir aber ein Denken gar nicht in das Gebiet eines Wissens hineinsetzen, gar nicht von ihm wollen, daß es ein Wissen werden soll, da verschwindet auch jenes Verhältnis zum Gegenstande und wir setzen auch nicht ein solches Verhältnis. Wir können uns dies durch eine Exemplifikation klarmachen. Wenn man in das wissenschaftliche Gebiet hineingeht, gibt es hier viele Vorstellungen, die man früher für wahr hielt, jetzt aber nicht mehr. Damit ist aber gesetzt, daß unser jetziges Denken mehr dem Gegenstande entspreche als das frühere. Wir weisen aber doch diesen Elementen einen wissenschaftlichen Ort an, weil sie die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstande postulierten. Dagegen finden wir andere Vorstellungen, die nur Gespenster der Wahrheit sind, indem ihnen keine Erfahrung zugrunde liegt und man sie nur als ein Erdichtetes gegeben und empfangen hat (z. B. Vorstellungen von Feen, Zentauren usw.). Diese setzen wir nicht als ein dem Gegenstand entsprechendes Denken. E s wird als ein Gedachtes betrachtet, aber in das Gebiet des Wissens können wir es nicht setzen. Wenn wir die beiden Merkmale, daß das Wissen dasjenige Denken sei, bei welchem die allgemeine Identität des Verfahrens vorausgesetzt werde, und welches als dem Gedachten entsprechend in die Überzeugimg gesetzt wird, festhalten, und wenn wir auf die nähere Beschränkung sehen, so werden wir also noch das hinzufügen können, daß das Wissen unter der Voraussetzung einer Mehrheit Denkender dasjenige ist, welches nicht in der Differenz, sondern in der I d e n t i t ä t a l l e r D e n k e n d e n begründet ist. §§ 92

>is 93

D i e beiden Pole des Denkens. Wir müssen von hier aus

9 9 eine neue Betrachtung anstellen und fragen: Wodurch kombis men wir auf den Gegenstand des Denkens? Was ist das113 jenige im Denken selbst, wodurch es vom Gegenstande getrennt bleibt und beides in der Duplizität gedacht wird? Wir müssen also wissen: i. wodurch dieses Zweierlei in Beziehimg aufeinander kommt, und 2. wodurch es doch immer zweierlei bleibt. Die Antwort auf diese Frage wollen wir

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kommen dem Gegenstand. Und doch ist dies das Postulat eines vollendeten Wissens. Wo wir aber ein Denken gar nicht in das Gebiet eines Wissens hineinsetzen, gar nicht von ihm wollen, daß es ein Wissen werden soll, da verschwindet auch jenes Verhältnis zum Gegenstande und wir setzen auch nicht ein solches Verhältnis. Wir können uns dies durch eine Exemplifikation klarmachen. Wenn man in das wissenschaftliche Gebiet hineingeht, gibt es hier viele Vorstellungen, die man früher für wahr hielt, jetzt aber nicht mehr. Damit ist aber gesetzt, daß unser jetziges Denken mehr dem Gegenstande entspreche als das frühere. Wir weisen aber doch diesen Elementen einen wissenschaftlichen Ort an, weil sie die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstande postulierten. Dagegen finden wir andere Vorstellungen, die nur Gespenster der Wahrheit sind, indem ihnen keine Erfahrung zugrunde liegt und man sie nur als ein Erdichtetes gegeben und empfangen hat (z. B. Vorstellungen von Feen, Zentauren usw.). Diese setzen wir nicht als ein dem Gegenstand entsprechendes Denken. E s wird als ein Gedachtes betrachtet, aber in das Gebiet des Wissens können wir es nicht setzen. Wenn wir die beiden Merkmale, daß das Wissen dasjenige Denken sei, bei welchem die allgemeine Identität des Verfahrens vorausgesetzt werde, und welches als dem Gedachten entsprechend in die Überzeugimg gesetzt wird, festhalten, und wenn wir auf die nähere Beschränkung sehen, so werden wir also noch das hinzufügen können, daß das Wissen unter der Voraussetzung einer Mehrheit Denkender dasjenige ist, welches nicht in der Differenz, sondern in der I d e n t i t ä t a l l e r D e n k e n d e n begründet ist. §§ 92

>is 93

D i e beiden Pole des Denkens. Wir müssen von hier aus

9 9 eine neue Betrachtung anstellen und fragen: Wodurch kombis men wir auf den Gegenstand des Denkens? Was ist das113 jenige im Denken selbst, wodurch es vom Gegenstande getrennt bleibt und beides in der Duplizität gedacht wird? Wir müssen also wissen: i. wodurch dieses Zweierlei in Beziehimg aufeinander kommt, und 2. wodurch es doch immer zweierlei bleibt. Die Antwort auf diese Frage wollen wir

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gleich so ausdrücken, daß j e d e s D e n k e n e i n g e m e i n s c h a f t l i c h e s Erzeugnis der menschlichen Vern u n f t u n d d e r m e n s c h l i c h e n O r g a n i s a t i o n sei. Es ist der menschliche Organismus, wodurch wir überhaupt zum Gedachten als solchem kommen; und es ist die Vernunft, wodurch das Denken als solches durch seine Form immer vom Gedachten geschieden bleibt. Auf der Seite der E r f a h rung wird der aufgestellte Satz jedem klar sein. Wie kommen wir zu den Vorstellungen, welche unsere Erfahrungen konstituieren? Wir kommen dazu durch die Einwirkungen, welche die Gegenstände auf unsere Organe machen. Das Sichtbare wirkt auf unser Auge, das Hörbare auf unser Ohr, das Undurchdringliche auf das Tastorgan; und auf diese Einwirkung entsteht die Aufforderung zum Denken. Stimmt dies überein mit dem Gegenstande, so wird es ein Wissen. Wenn wir aber das Denken in seiner Vollständigkeit betrachEin Denken aber, dem kein Sein entsprechend gesetzt wird (§ 96), wie Feen, Zentauren u. dgl., ist gar kein Wissen. Wogegen unvollkommenes Wissen (§ 97) doch seinen Platz in dem Gebiet als Durchgangspunkt behauptet. — Kombinieren wir beide Merkmale, so kommt heraus (§ 93) : Das Wissen ist das in der Identität der Denkenden, nicht in ihrer Differenz gegründete Denken. Denn in bezug auf das identische Verfahren sind alle dieselben, und in bezug auf das gegenständlich Gegebene auch. Wogegen das in der Differenz Gegründete das Individuelle und Abweichende ist. Wenn nun das Wissen ein Denken ist dem Sein entsprechend, das Sein aber außer dem Denken, so fragt sich: Wie k o m m t das Denken zum G e d a c h t e n ? (Randb Ebenso nach innen zur inneren Wahrnehmung und zum 1 ) Selbstbewußtsein) und wie b l e i b t beides a u ß e r e i n a n d e r ? Die Antwort ist die (§ 92): Durch das Geöffnetsein des geistigen Lebens nach außen = Org a n i s a t i o n kommt das Denken zum Gegenstand oder zu seinem Stoff, durch eine ohnerachtet aller Verschiedenheit des Gegenstandes sich immer gleiche Tätigkeit = V e r n u n f t kommt es zu seiner Form, vermöge deren es immer Denken bleibt. Vom Erfahrungsdenken gibt jeder zu, daß wir den Stoff dazu durch die Organisation empfangen. Aber selbst wenn wir das der Organisation relativ Entgegengesetzte denken, also die Form des Denkens, so können wir dies nur in der Wahrnehmung des wirklichen Denkens, und zu dieser brauchen wir die innere2) Organisation, nämlich das innere Ohr und die Erinnerung. *) Hs.: „und dem"; korr. Jon.

2

) „innere": Zus. v. Jon.

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teil, so finden wir, daß darin noch etwas ganz anderes ist als der bloße Eindruck auf den Organismus; und dieses andere nennen wir Vernunft im weitesten Sinne. Wir müssen uns diese Ausdrücke näher erklären und dabei wieder hingehen auf unsere Voraussetzung streitiger Vorstellungen. Alle Denkenden haben als Gegenstand des Denkens dieselben Gegenstände. Nun gibt es im Menschen ein Vermögen, diese Gegenstände zu seinem Gedachten zu machen, und das Geöffnetsein des menschlichen Seins für das andere Sein ist hierbei der O r g a n i s m u s . Die V e r n u n f t aber ist dasjenige, wodurch das Denken bei allen möglichen Gegenständen immer dasselbe bleibt. Dies ist auch schon durch unsere Voraussetzung gesetzt. Wäre das Denken nämlich nicht immer dasselbe, so könnte nie eine Identität entstehen zwischen den Denkakten mehrerer, und es könnte nie ein Streben nach dieser Identität entstehen. Die Organisation ist also dasjenige, was sich auf den I n h a l t des Denkens, die Vernunft dasjenige, was sich auf die F o r m desselben bezieht. Der Inhalt wird durch die Organisation, die Form durch die Vernunft. Man könnte nun meinen, es gäbe auch ein Denken, was ganz unabhängig wäre von der Organisation. Aber ein solches Denken gibt es nicht. Wenn man die Vernunft selbst denken wollte, könnte man meinen, daß dies ganz unabhängig von der Organisation geschehen könnte, da diese das Gegenteil der Vernunft ist. Fragen wir aber, wie wir zu dem Denken der Formen dies Denkens kommen, so geschieht dies nicht anders als durch die Betrachtung des Denkaktes selbst; und das kann allein nur geschehen durch dasjenige, was wir Organisation nennen. Bei dem Denken eines fremden Aktes versteht sich das von selbst; aber es gilt auch für das Denken des eigenen. Denn das Denken ist innerliches Reden und dieses ist ein Teil der Organisation. Auch können wir es nur betrachten, wenn wir es zurückrufen. Und dies geschieht ebenfalls nur durch die Organisation. Hierbei aber ist die Materie des Denkens gegen die Form das Minimum. Und da wir sehen, daß auch dieses Denken nicht möglich ist ohne die Organisation, so müssen wir überall sagen, daß es ohne dieselbe gar kein Denken gäbe.

Die beiden Pole des Denkens

I4I

21

Was durch die O r g a n i s a t i o n entsteht, ist der S t o f f - -zum Denken, was die V e r n u n f t hinzutut, ist die F o r m des Denkens, und darin ist alles geendet. Der Erfolg dieser Betrachtung wird sein, daß unsere erste Formel über das Wissen einen genaueren Inhalt bekommen wird. Denn wir sehen nun, worin das Verfahren besteht, wonach mittels der Organisation der Stoff und durch die Vernunft die Form wird. Und so werden wir in dem Verfaliren eine s e n s u e l l e und eine i n t e l l e k t u e l l e Seite unterscheiden können. Diese Antwort, die wir aus der Beobachtimg unseres gewöhnlichen Verfahrens im Denken bilden, ist eine ganz allgemeine; denn selbst das Denken, das über keinen organisch entstandenen Stoff geschieht, hat eine sinnliche Wahrnehmung zugrunde zu liegen. Erinnern wir uns an etwas, so ist dies die Wiederholung eines früheren Prozesses, dem stets ein Sinnliches zugrunde lag. Auch die Vernunft wird uns selbst nur durch die Organisation zum Gegenstande, nämlich durch die Sprache. Ebenso müssen wir auf der anderen Seite sehen, ob auch die intellektuelle Seite des Denkens überall zu finden ist.

14 6

X X I . Ebenso nun ist es umgekehrt. Die intellektuelle Seite finden wir zuerst in dem Denken, welches Elemente der Erfahrung konstituiert, wo also Gegenstände müssen gleichgesetzt und unterschieden werden, welches geschieht im Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen. Darin sind beide vereinigt. Je mehr das Besondere mit dem Allgemeinen gedacht wird, um desto mehr Organisches in jenem; je mehr das Allgemeine mit im Besonderen, um desto mehr Intellektuelles in diesem. Steigen wir zum Höchsten, dem1) Begriff des Dinges auf, und denken darin auch den Gegensatz von Leben und Tod nicht mit, so ist das Organische fast verschwunden. Es bleibt nur, daß im Begriff mitgesetzt ist die Fähigkeit, organisch zu affizieren, und darum ist auch dieser Begriff noch ein wahres Denken. Wollen wir dies organische Element auch herausdenken, so behalten wir keinen wahren Gedanken mehr, sondern nur die leere Form der Indifferenz des Seins und Nichtseins. Fangen wir aber den Prozeß beim Intellektuellen an, so werden wir sagen müssen, es ist ein bloßes Denkenwollen, bis die organische Funktion hineintritt. Denn mit der organischen Affektion entsteht dann von jener aus der Begriff dessen, was organisch affiziert, i. e. des Dinges. Ebenso stehen auch beide Formeln, daß das Isoheren einer Seite noch kein Denken ist, und daß es kein Denken mehr ist, auf der anderen Seite gleich. l

) Jon.: „ z u m " .

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Wir können hier anknüpfen an denjenigen Prozeß, worin wir diese Vernunfttätigkeit am konstantesten bemerken und woraus die Elemente unserer Erfahrung zusammengesetzt sind. Denn damit Erfahrung entstehe, müssen die Begriffe, die dem Sein als dem Gedachten gegenüberstehen, in Relation miteinander gebracht werden; und wo dies geschieht, ist der G e g e n s a t z d e s A l l g e m e i n e n u n d B e s o n d e r e n . Dieses Verhältnis also konstituiert in jedem Denken das Werden der Erfahrung, und von ihm wird niemand sagen, daß es durch unsere sensuale Tätigkeit entsteht. Wenn wir das Verfahren des der Sprache Mächtigen mit dem des Kindeis vergleichen, so bilden sich im Auge des Kindes dieselben Bilder ab wie beim Erwachsenen, aber es kommt nicht zu allgemeinen und besonderen Begriffen, weil die intellektuelle Seite des Denkens beim Kinde noch nicht entwickelt ist. Dies ist jedoch eine aus der alltäglichen Sphäre hergenommene Antwort, und es liegt noch nicht darin, ob sie allgemeine Geltung besitzt. Das aber wollen wir gerne wissen und müssen daher probieren. Welches ist denn die niedrigste Stufe im Denken, wo wir Vernunfttätigkeit finden? Offenbar diejenige, wo die rein organische Funktion zu dominieren acheint: die bloße Vorstellung eines Gegenstandes; hier scheint nichts anderes zu finden zu sein als die organische Funktion. Was wir aber als e i n e n Gegenstand aufnehmen, ist nie allein das Totale der organischen Funktion. Man unterscheidet vielmehr immer gleich die Vielheit der Gegenstände, die sich den Sinnen darbieten. Eine solche Trennung liegt aber nicht im Organ an und für sich. Der Erwachsene setzt eins und vieles in den organischen Eindruck, das Kind nicht. Eher aber ist ein Moment des Denkens nicht gegeben, bevor nicht die Einheit gesetzt ist, ausschließend alle übrigen Gegenstände. Dieses Setzen der Einheit in die unbestimmte Totalität des organischen Eindrucks ist aber schon ein Werk der intellektuellen Funktion. So sind also in jedem Denken diese beiden Funktionen stets miteinander verbunden. Wollten wir uns die Tätigkeit der organischen Funktion ohne Vernunfttätigkeit denken, so wäre es nichts als eine chaotische Mannigfaltigkeit von Impressionen. Hören wir

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z. B. eine Mannigfaltigkeit von Stimmen zu gleicher Zeit, so ist schon jede Unterscheidung eines Tones und jedes Herausheben der Melodie nicht mehr das Geschäft der organischen Funktion. Denn um diese Unterscheidung zu machen, muß ich die organische Funktion teilweise hemmen. So gehört z. B. Übung dazu, aus einer Menge von Instrumenten die Kohärenz der Töne herauszuziehen. Da m u ß man den größten Teil des organischen Komplexus aufgeben und einem geringen Teil allein folgen. Eine organische Tätigkeit ohne alles Intellektuelle wäre noch nicht einmal das Fixieren eines Gegenstandes und gäbe gar keinen Stoff zum Denken, nur die Möglichkeit dazu. In der Mannigfaltigkeit der Eindrücke liegt also erst die Möglichkeit des Denkens. Nehmen wir nun einmal die Totalität unserer Sinne. W ü r d e jedem Sinn ein Eindruck zugeführt, so wären diese Eindrücke f ü r das intellektuelle Bewußtsein ein Chaotisches; sie müssen erst gesondert werden eben durch die intellektuelle Tätigkeit. Wir können uns dies am besten klarmachen an einem uns an sich ganz Dunklen und Unverständlichen, am tierischen Bewußtsein. Es ist vom menschlichen verschieden; aber trotzdem ist die Übereinstimmung der organischen Funktion bei uns ,mit der bei den vollkommenen Tieren sehr groß. Können wir ihnen aber auch eine intellektuelle Funktion zuschreiben? Wir nennen die Tiere unvern ü n f t i g und sagen dadurch aus, daß diese Funktion ihnen fehlt. Fixieren aber wohl die Tiere ebenso einen Gegenstand und sondern ihn aus der Mannigfaltigkeit der Impressionen aus, und sind sie sich der Verschiedenheit ihrer Sinne bewußt? Das wissen wir nicht, haben aber die Neigung, es zu verneinen; und darin liegt, d a ß wir ihnen keine intellektuelle Tätigkeit zuschreiben können wie uns. Trotzdem bemerken wir durch die Beobachtung bei ihnen ein Analogon von einer Fixierung eines Gegenstandes aus der Mannigfaltigkeit der Impressionen. Ebenso wäre auf der anderen Seite eine Tätigkeit der Vernunft ohne die sinnliche Seite kein Denken oder kein Denken mehr. Wollen wir bei einer allgemeinen Vorstellung beharren, so müssen wir alles Unterscheidende zum Behuf dieses Prozesses verringern, obgleich uns dies alles die organische Seite des Bewußtseins zuführt. Steigen wir nun auf

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zum Begriff des L e b e n d i g e n , so ist auch hierin noch organische Tätigkeit. Nun ist im Lebendigen noch der Gegensatz zum Toten gesetzt. Die Aufhebung dieses Gegensatzes geschieht im Begriff des D i n g e s . Aber auch hier ist noch nicht alle organische Tätigkeit vernichtet, vielmehr sind alle organischen Eindrücke in eins zusammengefaßt. Bei der Vorstellung des Dinges muß immer noch die Möglichkeit von etwas die Organisation Affizierendem gesetzt sein. Denken wir uns dagegen in dem Begriff des Dinges diesen Gegensatz nicht mit, so ist die Vorstellung eine ganz vage und dürftige. Die organische Fraktion ist ganz beiseitegeschoben und auch die intellektuelle Seite verringert. Wollen wir die organische Funktion ganz vernichten, so haben wir auch kein Denken mehr. Umgekehrt werden wir nicht eher ein Denken haben, bevor wir nicht organisch affiziert werden; und sobald dies geschieht, denken wir zuerst daran, daß uns ein Ding affiziert und unterscheiden dann am Dinge. So sind organische und intellektuelle Seite des Denkens unzertrennlich, und unsere Antwort ist eine ganz allgemeine. 22, Chaos und Sein. Wir haben also keine Ursache, beide 16. 6. Tätigkeiten im Leben als zwei verschiedene anzusehen, und § 1 1 4 ich habe sie daher auch nur die beiden P o l e des D e n k e n s genannt. Doch in der Betrachtung werden wir sie unterscheiden müssen, denn die eine kann abnehmen, während die andere wächst. Dies berechtigt uns, beide relativ zu tren-

Fangen wir mit der organischen Funktion an, so ist die mit dem öffnen der Sinne gegebene chaotische Mannigfaltigkeit der Impressionen noch kein Denken, bis ein Gegenstand fixiert wird und in der bestimmten Einheit die intellektuelle Funktion sich verkündigt. Sind wir dagegen von oben herabgestiegen zur Einheit der zugleich wahrnehmbaren einzelnen Dinge und nehmen nun auch diese heraus, so ist das übrigbleibende Chaos von Impressionen kein Denken mehr. Alles wirkliche bestimmte Denken ist also in das Zusammentreffen der Tätigkeiten1) beider Pole eingeschlossen. Und dieses gibt nun vorläufig unserm ersten Merkmal des Wissens einen bestimmten Gehalt. Es wird sein die notwendige Identität aller in demjenigen Verfahren beim Denken, welches die Tätigkeiten1) beider Pole zusammenhält. 1)

Jon.: „Tätigkeit".

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zum Begriff des L e b e n d i g e n , so ist auch hierin noch organische Tätigkeit. Nun ist im Lebendigen noch der Gegensatz zum Toten gesetzt. Die Aufhebung dieses Gegensatzes geschieht im Begriff des D i n g e s . Aber auch hier ist noch nicht alle organische Tätigkeit vernichtet, vielmehr sind alle organischen Eindrücke in eins zusammengefaßt. Bei der Vorstellung des Dinges muß immer noch die Möglichkeit von etwas die Organisation Affizierendem gesetzt sein. Denken wir uns dagegen in dem Begriff des Dinges diesen Gegensatz nicht mit, so ist die Vorstellung eine ganz vage und dürftige. Die organische Fraktion ist ganz beiseitegeschoben und auch die intellektuelle Seite verringert. Wollen wir die organische Funktion ganz vernichten, so haben wir auch kein Denken mehr. Umgekehrt werden wir nicht eher ein Denken haben, bevor wir nicht organisch affiziert werden; und sobald dies geschieht, denken wir zuerst daran, daß uns ein Ding affiziert und unterscheiden dann am Dinge. So sind organische und intellektuelle Seite des Denkens unzertrennlich, und unsere Antwort ist eine ganz allgemeine. 22, Chaos und Sein. Wir haben also keine Ursache, beide 16. 6. Tätigkeiten im Leben als zwei verschiedene anzusehen, und § 1 1 4 ich habe sie daher auch nur die beiden P o l e des D e n k e n s genannt. Doch in der Betrachtung werden wir sie unterscheiden müssen, denn die eine kann abnehmen, während die andere wächst. Dies berechtigt uns, beide relativ zu tren-

Fangen wir mit der organischen Funktion an, so ist die mit dem öffnen der Sinne gegebene chaotische Mannigfaltigkeit der Impressionen noch kein Denken, bis ein Gegenstand fixiert wird und in der bestimmten Einheit die intellektuelle Funktion sich verkündigt. Sind wir dagegen von oben herabgestiegen zur Einheit der zugleich wahrnehmbaren einzelnen Dinge und nehmen nun auch diese heraus, so ist das übrigbleibende Chaos von Impressionen kein Denken mehr. Alles wirkliche bestimmte Denken ist also in das Zusammentreffen der Tätigkeiten1) beider Pole eingeschlossen. Und dieses gibt nun vorläufig unserm ersten Merkmal des Wissens einen bestimmten Gehalt. Es wird sein die notwendige Identität aller in demjenigen Verfahren beim Denken, welches die Tätigkeiten1) beider Pole zusammenhält. 1)

Jon.: „Tätigkeit".

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nen. Das Minimum der intellektuellen Seite fängt schon bei der ersten Fixierung eines Gegenstandes an; das Maximum liegt im Allgemeinen, in der höchsten Abstraktion. Zwischen beiden Punkten müssen alle Vernunfttätigkeiten zu finden sein. Der organischen Tätigkeit scheint hier nichts übrigzubleiben als das Aufnehmen der Mannigfaltigkeit von Eindrücken. Das Fixieren des einzelnen Gegenstandes gehört bereits der intellektuellen Funktion an. Doch modifiziert dies auch schon die Eindrücke und erweitert die organische Tätigkeit. Wenn also nur im Zusammensein beider Funktionen das wirkliche Denken besteht, so entsteht die Frage: Kann man auch in dieser Beziehung das eigentliche Wissen von demjenigen Denken, das kein Wissen ist, unterscheiden? — Vorher müssen wir eine andere Aufgabe lösen: ob von dem, was allem Wissen zugrunde liegt, dasselbe gilt, daß darin beide Seiten des Denkens vereinigt sein müssen, oder ob ein Getrenntsein beider möglich ist. Wir haben schon früher darüber etwas festgesetzt, aber nur negativ, daß nämlich das zugrunde liegende ursprüngliche Wissen nicht ebenso sein könne, wie es in der Erfahrung, im gewöhnlichen Bewußtsein vorkommt, und daß es XXII. V e r s u c h , die t r a n s z e n d e n t a l e A u f g a b e zu lösen von der polarischen D u p l i z i t ä t des Denkens aus. Ehe wir nun versuchen zu fragen, welches denn nun in Beziehung auf diese1) polarische Duplizität der Unterschied des Wissens von allem übrigen Denken ist, welches eigentlich für uns ein Umweg wäre, können wir versuchen, ob wir von eben diesem Punkt aus unmittelbar die transzendentale Seite der Aufgabe lösen können. — In demjenigen Zusammentreffen beider Tätigkeiten, welches im wirklichen Denken vorkommt, haben wir das zum Grunde Liegende nicht zu suchen; also vielleicht gerade in den einzelnen Seiten, die abgesondert im wirklichen Denken nicht vorkommen. Nehmen wir aus der Vorstellung von der unbestimmten Mannigfaltigkeit der Impressionen die Bestimmbarkeit, welche die erste Tendenz der intellektuellen Funktion in sich schließt, hinweg, so bleibt übrig das Chaos, welches eigentlich keine Vorstellung mehr ist, weil wir sie weder durch Merkmale fixieren, noch zu einem sinnlichen Bild beleben können, sondern eine Gedankengrenze. Sie bezeichnet nichts anderes als den möglichen Anfang des Denkens von der organischen Seite an und für sich; und daß sie kein wirkliches Denken mehr ist, sieht man auch daraus, daß sie nur die Indifferenz ist von Affektion und NichtJon.: „ d i e " . S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

IO

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nicht im Verlauf unserer geistigen Entwicklung entstanden sein kann. Denn alles so Entstandene kann wieder streitig werden, bevor wir den allgemeinen Zusammenhang gef u n d e n haben. Das war eine vorläufige Kautel. Wir können die F r a g e nur hypothetisch entscheiden. Angenommen, das allem Wissen zugrunde Liegende bestehe auch in einer solchen Verbindung der organischen und intellektuellen Tätigkeit, so kennen wir kein anderes Resultat der organischen Tätigkeit, als was beständig in unserem Bewußtsein liegt. Wir haben dies zurückzuführen auf die Zeit unseres Lebens, wo wir nur solche Eindrücke empfingen. Und da hier die intellektuelle Seite noch fehlt, können wir noch kein Wissen annehmen. Auf der anderen Seite sieht man als das Resultat der intellektuellen Tätigkeit, welches aller bestimmten Äußerung der organischen Tätigkeit vorangeht, die eingeborenen Beg r i f f e oder Ideen an. Dies ist aber kein wirkliches Denken mehr. Wir haben keinen hinreichenden Grund, es abzuaffektion. Da wir nun keinen Grund haben zu behaupten, das Denken als zeitlicher Akt könne nicht von der organischen Seite anfangen, so müssen wir auch sagen, daß diese Vorstellungsgrenze in allen dieselbige sei. Nehmen wir von dem Ding die Möglichkeit, daß es organisch affiziere, weg, so bleibt (entsprechend dem Chaos) nichts übrig als das b l o ß e Sein o h n e Tun. Dieses ist ebenfalls nur eine Gedankengrenze, wie man daraus sieht, daß es nur die Indifferenz ist zwischen Gegensatz und Nichtgegensatz, und bezeichnet nichts anderes als den möglichen Anfang des Denkens von der intellektuellen Seite, wie oben. Auch diese Grenze also ist aus demselben Grunde in allen dieselbe. Hier haben wir also gemeinschaftlich allem Denken zum Grunde Liegendes, in demselben aber nicht Anzutreffendes. Allein wir können von diesem Punkte, aus nichts machen. Denn man kann sagen, der Streit fange schon da an, daß der eine eine andere Bestimmbarkeit in das Chaos setze und eine andere Affektionsmöglichkeit in das Sein. Demnach, da ein wirkliches Ineinandersein beider Seiten alles wirkliche Denken bildet, so kann auch nur das mögliche Ineinandersein beider, d. h. ihre Beziehung aufeinander als in allen dieselbige, das gemeinschaftlich zum Grunde Liegende sein. Wir können also nur noch den Versuch machen zu fragen: Wie m ü s s e n sich b e i d e S e i t e n a u f e i n a n d e r b e z i e h e n , wenn der Z u s t a n d s t r e i t i g e r V o r s t e l l u n g e n soll a u f g e h o b e n werden können?

Chaos und Sein

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leugnen, aber den Inhalt können wir uns nicht vorstellen, denn er kann nicht erkannt werden, weil dann die organische Seite ins Spiel käme. Weiter kommen wir von dieser Seite aus nicht. Fangen wir daher wieder damit an, jede der beiden Tätigkeiten auf ihr Minimum zu reduzieren. Wenn wir ein Einströmen verworrener Eindrücke annehmen ohne intellektuelle Tätigkeit und uns im Denkenwollen begriffen ansehen, so müssen wir auch ein geöffnetes intellektuelles Bestreben annehmen, in jener Mannigfaltigkeit Ordnung zu finden und zu machen. In diesem Bestreben zu sondern, zu bestimmen und zu fixieren ist also schon ein Minimum der intellektuellen Tätigkeit mitgesetzt. Wir brauchen weiter nichts zu tun,, als diese Bestimmbarkeit der Impressionen wegzudenken, um an die Grenze des Denkens zu gelangen. Diese Vorstellung hat man von jeher das C h a o s genannt: das Mannigfaltige, in der absoluten Verworrenheit gesetzt. Wirklich denken können wir uns dies nicht, weder in einem sinnlichen Bilde, noch nach Merkmalen. Kann nun diese Vorstellung allem wirklichen Denken zugrunde liegen, u n d ist sie ein Teil der Lösung unserer transzendentalen Aufgabe? Von der Seite der relativen Sonderung der beiden Tätigkeiten betrachtet, müßte das Denken ebensogut auf der einen wie auf der andern Seite beginnen können. Nun können wir uns das Chaos weder außer uns vorstellen — denn dazu müßte die Möglichkeit eines bestimmten Bildes gegeben sein —, noch in uns —, denn dazu gehörte die Bestimmung von Merkmalen, die wir ihm eben nicht beilegen können. Und wenn die Dichter bestrebt waren, diese Vorstellung zu beleben, so geschah es so, d a ß sie Bestimmtes setzten und wieder aufhoben. Dies soll dann das sinnliche Bild sein von dem Nichtgesetzthaben überhaupt. Das Chaos ist also nichts anderes als der absolute A n f a n g des Dealkens von der organischen Seite aus, indem von dem Denken selbst als Tendenz abstrahiert wird. Und hierin liegt die Möglichkeit, daß das Denken von der organischen Seite anfangen kann. Doch haben wir keinen Grund zu entscheiden, ob der Anfang nicht auch ebensogut von der anderen Seite aus geschehen kann. 10*

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Abstrahieren wir nun das Organische soviel als möglich. Wenn man alle organischen Bilder und Gegensätze verschwinden läßt und von den untergeordneten Vorstellungen sich immer mehr erhebt zur allgemeinen V o r s t e l l u n g d e s D i n g e s , so bleibt von der organischen Tätigkeit nur übrig die Möglichkeit der Impressionen. Die Vorstellung des Dinges bezeichnet, nur umgekehrt, dasselbe, was die bestimmbare Unbestimmtheit der Impressionen. Hier haben wir also die intellektuelle Tätigkeit allein, aber mitgedacht die Möglichkeit des Tuns, d. h. die Möglichkeit einer Einwirkung auf die organische Seite unseres Lebens. Denken wir auch die Möglichkeit der organischen Affektion fort, so haben wir die Grenze des Denkens, die wir sprachlich bezeichnen können als die bloße V o r s t e l l u n g d e s S e i n s . Dies ist kein wirkliches Denken mehr, denn es sind darin weder ein sinnliches Bild, noch bestimmte Merkmale. Das bloße Sein steht also dem Chaos gegenüber. Es ist nichts als die Vorstellung von dem möglichen Anfang des Denkens von der intellektuellen Seite her, ohne auch nur die Tendenz der organischen mitzusetzen. Inwiefern wir uns den Akt des Denkens als einen aus beiden zusammengesetzten, zeitlichen denken, müssen wir uns vorstellen, daß jene beiden Grenzen dem wirklichen Denken auf jeder Seite vorhergehen. Haben wir nun hiermit etwas gefunden, was einen wirklichen Teil zur Auflösung der transzendentalen Seite unserer Aufgabe darstellen könnte, d. h. gehören diese Gedankengrenzen zu den Vorstellungen, auf die wir bei Schlichtung streitiger Vorstellungen zurückkommen müssen ? Wenn wir den Versuch machten, bei streitigen Vorstellungen hierauf zurückzugehen und den anderen fragen wollten: „Glaubst du, daß du, wenn du beide Seiten bis zur Grenze verfolgst, auf der einen Seite auf das Chaos, auf der anderen auf das Sein stößt?", so wird er dies zugeben. Doch sieht man nicht, was das helfen sollte zur Vereinigung streitiger Vorstellungen. Denn schreitet man vom Chaos fort, so kommt es zur unbestimmten, bestimmbaren Mannigfaltigkeit, deren Bestimmimg noch streitig werden kann. Daher liegt in jener Urvorsitellung des Chaos kein Kriterium der Wahrheit. — Andrerseits kann aus der Vorstellung des reinen Seins der eine durch organische Tätigkeit andere

WechselVerhältnis der beiden Pole

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Gegensätze entwickeln als der andere. Jene beiden Punkte liegen in jedem, aber nicht als wirkliches Denken, und es gibt von ihnen aus keinen bestimmten Weg des Fortschreitens. Alles wirkliche Denken und alle Möglichkeit streitiger Vorstellungen liegt also zwischen beiden Punkten eingeschlossen. Wenn es nun aber ein wirkliches Wissen geben soll, so müssen wir auch zu einem übereinstimmenden, dem Ganzen zugrunde Liegenden kommen, das allen Zwist entscheidet. Jene beiden Gedankengrenzen sind solche Vorstellungen; nur wußten wir bisher aus ihnen nichts zu machen, weil wir sie als Repräsentanten der verschiedenen Denkseiten für sich gesetzt hatten. Nun liegt aber das Wissen in der Beziehung beider Seiten aufeinander. In der B e z i e h u n g a u f e i n a n d e r b i l d e n a l s o j e n e b e i d e n P u n k t e den G r u n d , in dem d i e M ö g l i c h k e i t d e r A u f l ö s u n g s t r e i t i g e r V o r s t e l l u n g e n l i e g t . Gelingt es uns, dieser Formel einen Wert unterzulegen, so haben wir die transzendentale Seite unserer Aufgabe gelöst. Wir müssen also diesen Versuch machen. Schlägt er fehl, so müssen wir das Wissen noch näher zu bestimmen suchen. - _ Das Wechselverhältnis der beiden Pole im Prozeß des 17. 5. Denkens. Wenn wir ausgehen von der unbestimmten Man§§ 118 nigfaltigkeit der organischen Eindrücke und sagen, daraus bis soll ein gleichmäßiges, übereinstimmendes Denken ent1 1 9 stehen, so muß jene Mannigfaltigkeit auf dieselbe Weise bestimmt werden durch das Fixieren von Gegenständen, indem wir sie zu Einheiten bringen. Wenn wir nun die Gegenstände, in die wir eine bestimmte Vielheit gebracht haben, auf die andere Seite beziehen, so sind es die gleichen, insofern sie unter dieselben Begriffe gebracht werden können; und nur insofern sind sie Gegenstände des Denkens, als die Operationen des Auf- und Absteigens dieselben sind. Soll es also überhaupt ein Wissen geben, welches von der sinnlichen Seite des Denkens anfängt, so muß in allen dieselbe Beziehung des Prozesses der intellektuellen Seite des Denkens auf diese sinnliche Seite stattfinden. Geschieht dies in der Totalität, so muß ein übereinstimmendes Denken zum Vorschein kommen. Findet der eine nicht dieselbe Einheit, 23

WechselVerhältnis der beiden Pole

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Gegensätze entwickeln als der andere. Jene beiden Punkte liegen in jedem, aber nicht als wirkliches Denken, und es gibt von ihnen aus keinen bestimmten Weg des Fortschreitens. Alles wirkliche Denken und alle Möglichkeit streitiger Vorstellungen liegt also zwischen beiden Punkten eingeschlossen. Wenn es nun aber ein wirkliches Wissen geben soll, so müssen wir auch zu einem übereinstimmenden, dem Ganzen zugrunde Liegenden kommen, das allen Zwist entscheidet. Jene beiden Gedankengrenzen sind solche Vorstellungen; nur wußten wir bisher aus ihnen nichts zu machen, weil wir sie als Repräsentanten der verschiedenen Denkseiten für sich gesetzt hatten. Nun liegt aber das Wissen in der Beziehung beider Seiten aufeinander. In der B e z i e h u n g a u f e i n a n d e r b i l d e n a l s o j e n e b e i d e n P u n k t e den G r u n d , in dem d i e M ö g l i c h k e i t d e r A u f l ö s u n g s t r e i t i g e r V o r s t e l l u n g e n l i e g t . Gelingt es uns, dieser Formel einen Wert unterzulegen, so haben wir die transzendentale Seite unserer Aufgabe gelöst. Wir müssen also diesen Versuch machen. Schlägt er fehl, so müssen wir das Wissen noch näher zu bestimmen suchen. - _ Das Wechselverhältnis der beiden Pole im Prozeß des 17. 5. Denkens. Wenn wir ausgehen von der unbestimmten Man§§ 118 nigfaltigkeit der organischen Eindrücke und sagen, daraus bis soll ein gleichmäßiges, übereinstimmendes Denken ent1 1 9 stehen, so muß jene Mannigfaltigkeit auf dieselbe Weise bestimmt werden durch das Fixieren von Gegenständen, indem wir sie zu Einheiten bringen. Wenn wir nun die Gegenstände, in die wir eine bestimmte Vielheit gebracht haben, auf die andere Seite beziehen, so sind es die gleichen, insofern sie unter dieselben Begriffe gebracht werden können; und nur insofern sind sie Gegenstände des Denkens, als die Operationen des Auf- und Absteigens dieselben sind. Soll es also überhaupt ein Wissen geben, welches von der sinnlichen Seite des Denkens anfängt, so muß in allen dieselbe Beziehung des Prozesses der intellektuellen Seite des Denkens auf diese sinnliche Seite stattfinden. Geschieht dies in der Totalität, so muß ein übereinstimmendes Denken zum Vorschein kommen. Findet der eine nicht dieselbe Einheit, 23

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durch die ex die Mannigfaltigkeit fixiert, so wird er nicht zu denselben Gegenständen kommen. Dasselbe findet auf der entgegengesetzten Seite statt. Wir denken uns den Anfang auf der intellektuellen Seite mit dem bloßen Sein ohne alle Beziehung auf die organische Tätigkeit. Dann ist es eigentlich kein Gedanke mehr, sondern die Indifferenz des Setzens und Nichtsetzens; nichts mehr als Grenze des Denkens, also eigentlich Nichts. Aber es mag als Formel stehen zur Bezeichnung des Anfangs des Denkens von der intellektuellen Seite. In dieser Vorstellung vom bloßen Sein ist immer viel weniger gesetzt als in irgendeinem bestimmten Begriffe. Denn dieser enthält stets die Erinnerung an die Dinge, woraus er abstrahiert ist. Was ist nun in einem bestimmten Begriffe mehr als im bloßen Sein? Es ist ein Gleichsetzen und Entgegensetzen im BeXXIII. Es darf also alsdann nicht das eintreten, daß gleiche Impressionen anders fixiert werden von einigen, d. h. der ganze intellektuelle Prozeß (den wir hier durch Fiktion isolieren müssen) muß derselbe sein in allen, damit die letzten Punkte desselben gleichmäßig eingreifen können in die organischen Funktionen. Ebenso auch umgekehrt darf nicht eintreten, daß vom bloßen Sein aus in dem einen andere Gegensätze fixiert werden als in dem andern. Wenn nun aber die höchsten Gegensätze diejenigen sind, durch welche die allgemeinsten Begriffe gesondert werden, so müssen sie auch die organischen Impressionen1) am stärksten massieren, d. h. wenn der ganze organische Prozeß (fiktionsweise) allein vollendet wäre, müßte er in allen derselbe sein für das Hineintreten des bestimmten Gegensatzes. Zusammengenommen also: Innere Form der intellektuellen Seite und äußerer Stoff der sensuellen Seite müssen in allen Denkenden dieselbigen sein. Nehmen wir aber gleich das Postulat des Überzeugungsgefühls dazu, ohne welche gleichfalls keine Auflösung streitiger Vorstellungen möglich ist, so folgt dann auch zweitens, daß jene innere Form und dieser äußere Stoff auch wirklich füreinander sind, d. h. jedes auf seine Weise dasselbige, was das andere auf die seinige ist. Das heißt streng genommen nur, daß in uns jedes von beiden nur zur vollkommensten Klarheit kommt durch die vollkommenste Klarheit des andern. Oder: In unseren Impressionen ist noch immer Chaotisches, wenn nicht der ganze intellektuelle Prozeß ihnen eingebildet ist. Und ebenso: In unserm intellektuellen Prozeß ist noch immer mehr oder weniger Indifferenz von Gegensatz und Nichtgegensatz, wenn nicht die Totalität der organischen Impressionen ihm eingebildet ist. Jon.: ,,Affektionen".

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griffe, und diese Operation ist im bloßen Sein verschwunden. Das Gleich- und Entgegensetzen ist das Resultat der intellektuellen Tätigkeit. Denken wir uns, dies wäre in allen dasselbe, so ist dies nur dann möglich, wenn auch die Totalität der organischen Impressionen für alle dieselbe ist. Wollten wir annehmen, es sei zwar in allen angelegt als dasselbe künftige Denken desselben Systems von Gleich- und Entgegensetzungen, es kämen aber in dem einen nicht dieselben organischen Momente vor wie in dem anderen, so könnte kein übereinstimmendes Denken zustande kommen. Die Möglichkeit der Lösung unserer Aufgabe liegt also in der Identität der Beziehung der einen Seite auf die andere in allen; wir müssen uns d i e s e l b e O p e r a t i o n d e s G l e i c h - und E n t g e g e n s e t z e n s denken als bezogen auf d i e s e l b e T o t a l i t ä t d e r I m p r e s s i o n e n , und so auch umgekehrt, d. h. es muß in allen, für welche eine Auflösung streitiger Vorstellungen möglich sein soll, erstens angelegt sein dieselbe Entwicklung von Gegensätzen in ihrer geistigen Tätigkeit, und zweitens in ihnen vorkommen können dieselbe Mannigfaltigkeit von organischen Impressionen. Daß nun das Denken aller in allen dasselbe ist, versteht sich von selbst. Wir wollen dies mit anderen gangbaren Ausdrücken vergleichen. Es ist das Wahre in dem Ausdrucke der a n g e b o r n e n B e g r i f f e . Angeborensein heißt aber eigentlich nur: dem Denken vorhergehend, und es kann nichts anderes damit gemeint sein, als daß dieselbe Richtung auf dasselbe System von Begriffen in allen angelegt ist; denn sonst würde aus allen organischen Impressionen kein Denken. Das andere ist dasselbe, wie wenn man sagt: in allen Menschen ist dieselbe Organisation und alle sind in dieselbe Welt gestellt. O r g a n i s a t i o n i s t d a s N a c h a u ß e n - G e ö f f n e t - s e i n d e s L e b e n s . Nun aber haben wir uns den Ausdruck „Welt" noch nicht angeeignet. Er muß in Beziehung auf unsere Frage stehen. — In jedem Denken ist eine Beziehung auf ein Gedachtes, und dieses wird unterschieden und außer jenem gesetzt. Beim Zustandekommen des Denkens sind jene beiden Pole tätig. Inwiefern das Denken vom sensuellen Punkte anfangen, soll, müssen die Organe Eindrücke bekommen; sonst ist es kein wirkliches Anfangen, sondern entweder ein Wiederholen des

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Gedachten, ein Erinnern oder ein freies Spiel der Phantasie. Wenn wir uns also im Zustand der Empfänglichkeit denken, so m u ß die Tätigkeit in demjenigen liegen, was außerhalb der Organisation gesetzt ist. Sagen wir nun, die Totalität der Impressionen sei f ü r alle dieselbe und sie seien alle in dieselbe Welt gesetzt, so bedeutet Welt die Gesamtheit dessen, woraus die organischen Vorstellungen entstehen. D a ß dies beides die notwendigen Voraussetzungen zur Lösung unserer Aufgabe sind, ist klar. Denn gesetzt, es wäre in dem einen dasselbe System von Begriffen angelegt wie im anderen, aber er empfinge keine organischen Impressionen, die jenen Begriffen gemäß wären, so könnte kein Denken wirklich werden. Dasselbe wäre der Fall, wenn mehrere in dieselbe Welt gestellt wären, aber in dem einen nicht dasselbe System von Gleich- und Entgegensetzungen angelegt wäre wie in dem anderen. Dann wären seine Gedanken ganz anders, und auch kein Mittel vorhanden, sich zu verständigen, da beide eben nicht auf gleiche Weise gleich- und entgegensetzen, d. h. die Gegenstände fixieren. In der Voraussetzung liegt auch die unmittelbare Zusammengehörigkeit der in allen Menschen angelegten Gleich- und Entgegensetzungen mit der Totalität der organischen Impressionen, welche ihnen allen möglich sind in ein und derselben Welt. Diese Zusammengehörigkeit beider ist die Kombination des jetzt Gefundenen mit dem Früheren, wo wir die Beziehung des Denkens auf das Gedachte als ein Ruhendes und Feststehendes annahmen. Die Idee der Zusammengehörigkeit unserer Gleich- u n d Entgegensetzungen mit der Totalität der organischen Impressionen ist nichts anderes als die allgemeine Grundlage der Beziehung des Denkens auf das Gedachte und des Ruhens des Geistes beim Denken über einen Gegenstand. Ich beruhige mich bei der Beziehung des Denkens auf das Gedachte h e i ß t : ich beziehe ihn auf alle meine anderen Vonstellungen. Beruhige ich mich nicht, so heißt das, ich stelle mir die Möglichkeit vor, d a ß ein anderes Denken über einen anderen Gegenstand, der mit dem eristeren in einer Verbindung steht, ein anderes Denken über diesen Gegenstand hervorbringen wird, als ich jetzt habe; d. h. die Voraussetzung der notwendigen Zusammengehörigkeit unserer Begriffe und der Welt bedingt alles

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Denken. (Die Welt ist nicht der Ort für die unbestimmte Mannigfaltigkeit der Impressionen, sondern dasjenige, was durch das Denken schon bestimmt ist.) Beides, Begriff und Welt, in ihrer Totalität für sich, gehören also zusammen, sind dasselbe, nur auf verschiedene Weise angesehen, das eine reduziert auf den intellektuellen, das andere auf den sensuellen Pol unseres Denkens. Die Begriffe sind dasselbe als ein Innerliches, was die Welt als ein Äußerliches ist. Die Zusammengehörigkeit beider ist in allen Menschen als dasselbe gesetzt. In dieser realen Beziehung, worin der ganze Prozeß der intellektuellen und organischen Seite des Denkens steht, und in der Identität beider für alle ist die Möglichkeit eines übereinstimmenden Denkens für alle und also die Möglichkeit der Ausgleichung streitiger Vorstellungen gesetzt. 2 20-

O h n e eine Überzeugung des Denkenden, d. h. ohne die Ruhe des Denkens, ist eine Auflösung des Streits nicht möglich; und dazu ist die Zusammengehörigkeit beider Tätigkeiten nötig. In der intellektuellen Seite muß also ein solches System von Gegensätzen angelegt sein, wodurch das Chaotische der Impressionen auf gleiche Art bei allen Denkenden fixiert wird, und diese Impressionen müssen sich bei allen so entwickeln, daß das organische System der Vorstellungen in der intellektuellen Seite sich auf gleiche Art realisieren läßt. Denken wir uns beide Pole der Denktätigkeit getrennt, so ist der intellektuelle nur eine dem Menschen innewohnende Form des Denkens, der organische nichts alsein bloßer Stoff zum Denken, ohne daß schon ein Denken daraus wird. Wir haben nun sogleich auf das Ende des Denkprozesses gesehen und darin die absolute Übereinstimmung beider Seiten gesetzt, so daß der eine Pol aufgehe in den andern, beide in der Totalität gedacht. Darin aber liegt noch nicht, daß wir behaupten können, daß solche Übereinstimmung vorhanden sein werde auf einem anderen Punkt als in der absoluten Totalität. Denken wir uns die organischen Impressionen noch im Wachsen, noch nicht alle zum Bewußtsein gebracht, so können wir nicht wissen, ob nicht manches in der intellektuellen Seite nur erst als leere Form existiert

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und noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Hat das Denken angefangen bei der intellektuellen Seite, so ist es noch nicht zur Vollendung gekommen, solange in den chaotischen Impressionen noch manches Unaufgelöste zurückgeblieben ist. §§120 Neue Charakteristik des Wissens. Nun können wir das 122 Resultat unserer Betrachtimg durch die verschiedenen Teile unserer A u f g a b e hindurchführen. Soll ein Zustand streitiger Vorstellungen gehoben werden, so ist e r s t e n s , damit ein in mehreren gleichmäßiges Denken entstehe, die I d e n t i t ä t b e i d e r P o l e nötig. Z w e i t e n s muß in beiden Subjekten auf demselben Punkt der Zustand der Ü b e r z e u g u n g entstehen, d. h. dieselben Gedanken über denselben X X I V . Das heißt, wir haben nicht eher Ursach, eine völlige Durchdringung, also ein Wissen anzunehmen, als in der Totalität, d. h. wenn der allgemeine Zusammenhang von allem gegeben ist. Sonach haben wir folgendes R e s u l t a t ü b e r das, w a s a l l e m D e n k e n im B e s t r e b e n n a c h A u f l ö s u n g s t r e i t i g e r 1 ) V o r stellungen zugrunde liegt. 1. Sofern dabei ein in mehreren gleichmäßiges Denken entstehen muß — die I d e n t i t ä t b e i d e r S e i t e n f ü r sich in allen. 2. Sofern diesem Überzeugung beigegeben sein muß — das F ü r e i n a n d e r b e i d e r S e i t e n , so daß, der Prozeß mag anfangen, bei welcher er will, in der völligen Durchdringung beider auch der Prozeß aufhört. Denn Überzeugung und Aufhören des Reizes zum Denken über den Gegenstand ist ein und dasselbe. Endlich 3. insofern die Aufgabe nur gelöst ist, wenn zugleich der Zusammenhang alles Wissens gegeben ist — die aus dem Obigen folgende S t e l l v e r t r e t u n g eines d e n k e n d e n S u b j e k t s d u r c h ein a n d e r e s , nämlich daß die in A angelegten Denkformen nicht nur für A sind, sondern auch für B, und also auch angewendet werden können auf die organischen Impressionen von B ; und daß die'organischen Impressionen auch sind für die Denkformen von B, und also jeder in den Gedankenbildungsprozeß des andern-eintreten kann. Denn ohne dies ließe sich kein gemeingeltender Zusammenhang zustande bringen. Ob nun aber dies die ganze Lösung der transzendentalen Seite der Aufgabe sei, können wir nicht behaupten und haben nicht Ursach, es vorauszusetzen, da wir nur so gelegentlich dazu gekommen sind. Wir gehen also nun weiter und fragen nach der C h a r a k t e r i s t i k des W i s s e n s in b e z u g auf die b e i d e n F u n k t i o n e n im D e n k e n . *) H s . : „streitender", korr. Jon.

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und noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Hat das Denken angefangen bei der intellektuellen Seite, so ist es noch nicht zur Vollendung gekommen, solange in den chaotischen Impressionen noch manches Unaufgelöste zurückgeblieben ist. §§120 Neue Charakteristik des Wissens. Nun können wir das 122 Resultat unserer Betrachtimg durch die verschiedenen Teile unserer A u f g a b e hindurchführen. Soll ein Zustand streitiger Vorstellungen gehoben werden, so ist e r s t e n s , damit ein in mehreren gleichmäßiges Denken entstehe, die I d e n t i t ä t b e i d e r P o l e nötig. Z w e i t e n s muß in beiden Subjekten auf demselben Punkt der Zustand der Ü b e r z e u g u n g entstehen, d. h. dieselben Gedanken über denselben X X I V . Das heißt, wir haben nicht eher Ursach, eine völlige Durchdringung, also ein Wissen anzunehmen, als in der Totalität, d. h. wenn der allgemeine Zusammenhang von allem gegeben ist. Sonach haben wir folgendes R e s u l t a t ü b e r das, w a s a l l e m D e n k e n im B e s t r e b e n n a c h A u f l ö s u n g s t r e i t i g e r 1 ) V o r stellungen zugrunde liegt. 1. Sofern dabei ein in mehreren gleichmäßiges Denken entstehen muß — die I d e n t i t ä t b e i d e r S e i t e n f ü r sich in allen. 2. Sofern diesem Überzeugung beigegeben sein muß — das F ü r e i n a n d e r b e i d e r S e i t e n , so daß, der Prozeß mag anfangen, bei welcher er will, in der völligen Durchdringung beider auch der Prozeß aufhört. Denn Überzeugung und Aufhören des Reizes zum Denken über den Gegenstand ist ein und dasselbe. Endlich 3. insofern die Aufgabe nur gelöst ist, wenn zugleich der Zusammenhang alles Wissens gegeben ist — die aus dem Obigen folgende S t e l l v e r t r e t u n g eines d e n k e n d e n S u b j e k t s d u r c h ein a n d e r e s , nämlich daß die in A angelegten Denkformen nicht nur für A sind, sondern auch für B, und also auch angewendet werden können auf die organischen Impressionen von B ; und daß die'organischen Impressionen auch sind für die Denkformen von B, und also jeder in den Gedankenbildungsprozeß des andern-eintreten kann. Denn ohne dies ließe sich kein gemeingeltender Zusammenhang zustande bringen. Ob nun aber dies die ganze Lösung der transzendentalen Seite der Aufgabe sei, können wir nicht behaupten und haben nicht Ursach, es vorauszusetzen, da wir nur so gelegentlich dazu gekommen sind. Wir gehen also nun weiter und fragen nach der C h a r a k t e r i s t i k des W i s s e n s in b e z u g auf die b e i d e n F u n k t i o n e n im D e n k e n . *) H s . : „streitender", korr. Jon.

Neue Charakteristik des Wissens

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Gegenstand müssen beide beruhigen, und der Glaube in ihnen entstehen, daß das Denken über ihren Gegenstand ein unabänderliches sei. Dies ist nun nichts anderes, als daß die organische Seite in der intellektuellen vollkommen aufgehe und sich beide vollkommen durchdringen. D i e I m p r e s s i o n muß d i e F o r m v o l l k o m m e n a u e f ü l l e n , und d i e s e jene v o l l k o m m e n aus ihrem c h a o t i s c h e n Z u s t a n d e h e r v o r h e b e n . Dann wird der Reiz, weiter darüber zu denken, aufhören und die Ruhe eintreten. Diese beruht aber wesentlich auf der Möglichkeit einer solchen Durchdringung beider Seiten, und es ist gleich, ob wir sagen, die organische und intellektuelle Seite, die beiden Pole der Denktätigkeit, oder die Außenwelt, der Grund der Impressionen, und die Vernunft gehören zusammen. D r i t t e n s hatten wir gefunden, daß eine eigentliche Auflösung des Streites nur möglich sei mit dem absoluten Zusammenhange alles Wissens. Darin liegt nun nichts anderes als in dem Vorigen, daß nämlich jene beiden Seiten sich nur dann ganz durchdringen können, wenn wir sie beide in der Totalität setzen. In der Totalität der Denkform aber liegt der absolute Zusammenhang, und in der Totalität des Denkstoffes der organischen Impressionen die absolute Totalität der Außenwelt; und beides zusammen gibt das vollkommene Wissen. Solange das nicht geschieht, ist unser Wissen immer nur im Werden begriffen, denn es ist noch manches der Impressionen chaotisch, manche Form nicht ausgefüllt. Wir stellten uns nun zuerst die Aufgabe, ob es auch von der Seite der Beziehung des Denkens auf das Gedachte einen Unterschied gebe zwischen dem Wissen und dem Denken, das kein Wissen ist. Hiervon waren wir abgewichen und hatten gesehen, ob wir nicht von unserem damaligen Punkt aus gleich unsere Seite auflösen könnten; und hatten gefunden, daß jene bestimmten Beziehungen der beiden Seiten aufeinander notwendig vorausgesetzt werden müssen. Aber wir sind nicht berechtigt zu behaupten, daß dies der ganze Inhalt der transzendentalen Seite unserer Aufgabe sei, da wir nur beiläufig dazu gekommen sind. Daher wollen wir den ursprünglichen Gang verfolgen und nach dem charakteristischen Merkmal fragen, wodurch sich das Wissen von allem anderen Denken unterscheidet.

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Zu dieser Untersuchung bahnen wir uns den W e g durch ein Korollarium aus dem Vorhergesagten. Wir gehen dabei wieder zurück auf das Vereinigtsein der beiden Pole in jedem wirklichen Denken. Stellen wir uns das Denken nun vor in seiner Entstehung, als eine Vereinigung, als ein Vereinigtwerden beider, so haben wir keinen Grund zu glauben, d a ß es notwendig nur von einer Seite anfangen dürfe. Vorausgesetzt die Notwendigkeit der Zusammengehörigkeit beider Pole und eine Mehrheit denkender Subjekte, in denen jene beiden Seiten identisch sind, müssen wir sagen: Sind die Denktätigkeiten in allen dieselben und auch die Beziehungen aufeinander dieselben, so muß es einerlei sein, ob ich die Denktätigkeit des einen Subjekts auf die Impressionen desselben Subjekts beziehe oder auf die eines anderen; und ebenso muß es gleich sein, ob ich die organischen Gegenstände in Beziehung bringe auf das System desselben oder eines anderen Subjekts. Und so gut wie die beiden T ä tigkeiten füreinander sind in einem Subjekt, so sind sie auch füreinander in verschiedenen Subjekten, d. h. es sind dieselben Bedingungen, die zur Auflösung des Streits notwendig sind, die auch notwendig sind f ü r ein Zunehmen des Denkens oder Wissens des einen durch den anderen. Denn was dieser in seine Organisation aufgenommen hat, darauf kann ich meine Denkform richten, und die Begriffe oder Denkformen, die, in einem anderen entwickelt sind, in mir aber nicht, kann ich in Verbindung bringen mit demjenigen, was mir in meiner sinnlichen Anschauung wird, wozu ich aber die Begriffe in meiner intellektuellen Seite noch nicht entwickelt habe; und es kommt also ein Denken in mir zustande dadurch, d a ß ich mir einen intellektuellen Prozeß des andern aneigne, oder, wenn ich diesen habe, die Eindrücke des andern; und dadurch kann ein gemeinsames Wissen zwischen beiden entstehen, ohne d a ß alle dasselbe tun. In d i e s e m P r o z e ß d e s g e g e n s e i t i g e n A n e i g n e n s leben wir stets und ergänzen immer unsere Vors t e l l u n g e n , wo w i r e i n i g s i n d ; u n d wo d i e s e r P r o zeß ge hemm t wird, suchen wir die durch die Hemmung entstandenen streitigen Vorstellungen zu s c h l i c h t e n . D i e s ist d e r i n n e r e L e b e n s g r u n d ,

Die drei Stufen des Denkprozesses

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v e r m ö g e dessen wir E r f a h r u n g und G e d a n k e n e r gänzen. Zu der Voraussetzung des Streits haben wir hierdurch etwas Zusammengehöriges gefunden. Der Streit würde nie entstehen, wenn jeder nur an sich selbst gewiesen wäre. Aber stets stehen wir in Mitteilung und Ergänzung zueinander. Im Streben nach solcher Ergänzimg entsteht zuweilen der Streit; doch immer in Verbindimg mit der weit größeren gemeinsamen Entwicklung des gleichen Denkens. ^bis3

Denkprozesses. Wir fragen jetzt wieder, wie sich das Wissen verhalte zu jedem anderen Denken in bezug auf die beiden Pole der Denktätigkeit. Wir sagen, daß das Denken bei jedem der beiden Pole anfangen könne. Aber wir müssen hinzufügen, daß es in dem einen oder anderen Falle eine verschiedene Tätigkeit sein und jedesmal einen anderem Charakter haben wird, sofern einmal die eine Seite vorherrschen, die andere zurücktreten werde und umgekehrt. Jedoch müssen wir uns auch einen solchen Zustand denken können, in dem ein vollkommenes Gleichmaß der beiden Tätigkeiten besteht. Dasjenige Denken, in dem die organische Tätigkeit überwiegend ist, ist das W a h r n e h m e n ; dasjenige, wo die intellektuelle Tätigkeit vorherrscht und die organische nur begleitet, nennen, wir das D e n k e n im e n g e r e n S i n n e ; das, wo beide im Gleichgewicht stehen, bezeichnen wir durch das Wort A n s c h a u ung. Solchem Denken können wir es nicht anmerken, ob es von der organischen oder intellektuellen Seite seinen Anfang genommen hat. Wir kehren zurück auf den Punkt des gleichgültigen Anfangs. In jedem Anfang liegt aber ein Vorsprung, also auch ein Überwiegen der einen Seite, also eine differentnerte Einheit. Möglich aber ist sowohl ein gleichzeitiger Anfang als auch eine Fortsetzung des späteren Teüs bis zur gänzlichen Aufhebung des Übergewichts. Also ist in dieser Beziehung das Denken ein dreifaches. Anfang und Ubergewicht der organischen Seite = Wahrnehmung; Anfang und Übergewicht der intellektuellen Seite = Denken im engeren Sinn; völliges Gleichgewicht beider, es mag entstanden sein, wie es wül, = Anschauen.

Die drei Stufen des Denkprozesses

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v e r m ö g e dessen wir E r f a h r u n g und G e d a n k e n e r gänzen. Zu der Voraussetzung des Streits haben wir hierdurch etwas Zusammengehöriges gefunden. Der Streit würde nie entstehen, wenn jeder nur an sich selbst gewiesen wäre. Aber stets stehen wir in Mitteilung und Ergänzung zueinander. Im Streben nach solcher Ergänzimg entsteht zuweilen der Streit; doch immer in Verbindimg mit der weit größeren gemeinsamen Entwicklung des gleichen Denkens. ^bis3

Denkprozesses. Wir fragen jetzt wieder, wie sich das Wissen verhalte zu jedem anderen Denken in bezug auf die beiden Pole der Denktätigkeit. Wir sagen, daß das Denken bei jedem der beiden Pole anfangen könne. Aber wir müssen hinzufügen, daß es in dem einen oder anderen Falle eine verschiedene Tätigkeit sein und jedesmal einen anderem Charakter haben wird, sofern einmal die eine Seite vorherrschen, die andere zurücktreten werde und umgekehrt. Jedoch müssen wir uns auch einen solchen Zustand denken können, in dem ein vollkommenes Gleichmaß der beiden Tätigkeiten besteht. Dasjenige Denken, in dem die organische Tätigkeit überwiegend ist, ist das W a h r n e h m e n ; dasjenige, wo die intellektuelle Tätigkeit vorherrscht und die organische nur begleitet, nennen, wir das D e n k e n im e n g e r e n S i n n e ; das, wo beide im Gleichgewicht stehen, bezeichnen wir durch das Wort A n s c h a u ung. Solchem Denken können wir es nicht anmerken, ob es von der organischen oder intellektuellen Seite seinen Anfang genommen hat. Wir kehren zurück auf den Punkt des gleichgültigen Anfangs. In jedem Anfang liegt aber ein Vorsprung, also auch ein Überwiegen der einen Seite, also eine differentnerte Einheit. Möglich aber ist sowohl ein gleichzeitiger Anfang als auch eine Fortsetzung des späteren Teüs bis zur gänzlichen Aufhebung des Übergewichts. Also ist in dieser Beziehung das Denken ein dreifaches. Anfang und Ubergewicht der organischen Seite = Wahrnehmung; Anfang und Übergewicht der intellektuellen Seite = Denken im engeren Sinn; völliges Gleichgewicht beider, es mag entstanden sein, wie es wül, = Anschauen.

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Dies soll kein in der Zeit bestehender Unterschied sein; denn es liegt schon in der Natur des zeitlichen Aktes, d a ß ein absolutes Gleichgewicht darin nur zufällig ist. Immer ist ein Überwiegen der einen oder anderen Funktion vorhanden. Deshalb haben wir auch unseren Gegenstand nach dem Übergewicht d e r einen oder anderen Funktion geteilt. 25 21-

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Der Ausdruck „ W a h r n e h m u n g " ist dem gewöhnlichen Sprachgebrauch gemäß. Man nennt so das organische Auffassen, wenn man vom unmittelbaren sinnlichen Eindruck redet, den man selbst empfängt im Gegensatz zu dem durch einen anderen vermittelten und mitgeteilten. Beim Wahrnehmen ist immer schon die intellektuelle Seite beteiligt, insofern das Wahrgenommene uns zum Bewußtsein kommt. Das Denken im engeren Sinn steht dem Wahrnehmen gegenüber. Die sensuelle Funktion ist auch hier immer schon da als Wahrnehmung, Erinnerung oder Mitteilung, bleibt aber etwas Untergeordnetes. Ein schlimmer Umstand ist es, daß in einer wissenschaftlichen Betrachtung ein Ausdruck bald im engeren, bald im weiteren Sinne gebraucht wird. Dies bedarf immer einer Rechtfertigung. Den AusEs fragt sich nun, wie sich d a s Wissen zu d i e s e n d r e i F o r m e n v e r h ä l t , ob zu allen dreien gleich oder an einer ausschließlich haftend. XXV. Im voraus schon wird jeder geneigt sein zu sagen, daß das Anschauen ein Wissen sein müsse, weil man nämlich dessen von beiden Seiten gleich gewiß geworden, mit dem Denken und Wahrnehmen aber sei es nicht so. Indes ist in bezug auf das Denken zu merken, daß wir eben deshalb den ganzen Prozeß mit dem Namen D e n k e n bezeichnen, weil dieses Denken im engeren Sinn die bestimmte Form ist, von welcher wir den Tieren am wenigsten ein Analogon zuschreiben. Soll nun nicht auch in demjenigen die Vollendung sein können, worin sich uns das eigentümlich Menschliche darstellt ? Und vom Wahrnehmen ist zu merken, daß, wenn das Anschauen nur im Oszillieren zwischen dem Wahrnehmen und Denken sein kann, wenigstens die ganze Hälfte der Anschauung, welche wir die äußere nennen, und welcher wir die gemeinsamste Gewißheit zuschreiben, am stärksten nach der Wahrnehmung oszilliert. Indem wir also die Anschauung beiseite lassen, fragen wir: I n welchem F a l l e wird d a s D e n k e n u n d W a h r n e h m e n ein Wissen w e r d e n ? Erstlich in bezug auf die Identität der Produktion. Wenn, von gleichen Impressionen ausgehend, in be-

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druck „ D e n k e n " wollen wir in ¡seinem engeren Sinn nehmen, und, als einen imehr innerlichen Prozeß der Wahrnehmung entgegenstellen. Denn gemeiniglich faßt man es im Gegensatz zur organischen Funktion. Man denkt, wenn man frei im Innern komponiert. Vergleichen wir unseren Prozeß mit dem entsprechenden im tierischen Leben, so werden wir sagen: Schreiben wir der niederen Animalität einen solchen Prozeß überhaupt zu, so ist er ein Analogon zum Wahrnehmen, niemals zum Denken; und unentschieden bleibt, wodurch unsere intellektuelle Funktion suppliert wird. Des Denkens sind wir uns als einer eigentlich menschlichen Form bewußt. Daher erweitern wir dieses Wort über alle menschlichen Geistesfunktionen. Die dritte Form, die A n s c h a u u n g , ist das Gleichgewicht der beiden ersten Formen, das wir uns auf eine zweifache Weise zustandekommend denken: erstens, wenn vom Anfang des ganzen Prozesses an von beiden Seiten auf gleiche Weise fortgeschritten worden ist; zweitens durch eine Umkehrung des Prozesses im Prozesse selbst, indem die eine Tätigkeit von ihrem Übergewicht abläßt, wenn also z. B. die organische Tätigkeit eher aufhört, die intellektuelle Seite aber noch fortdauert und so jene gleichsam einholt. Allein in einem einzelnen zeitlichen Akt ist das absolute Gleichgewicht etwas sehr Zufälliges, ja, man könnte sagen, es sei nur ein Gedankending. Doch haben wir diesen Ausdruck „Anschauung" in der Sprache, und er bezeichnet gezug auf ein identisches System von Denkformen die Gegenstände fixiert werden, dann ist das Wahrnehmen ein Wissen. Und wenn, von gleichen Denkformen ausgehend, für identisch erkannte Impressionen ihnen unterlegt werden, dann ist das Denken ein Wissen. Zweitens, in bezug auf die Überzeugung wird offenbar das Wahrnehmen ein Wissen sein, wenn ich denke: es gibt ein Denken, welches diesem Wahrnehmen gleichhaltig, und das Denken, wenn ich denke: es gibt ein Wahrnehmen, was diesem Denken gleichhaltig ist. Denn dann hört der Reiz zur Fortsetzung desselben Aktes auf, indem eine solche Voraussetzung das Wahrnehmen und das Denken dem Anschauen gleichsetzt. Also ist ein Wissen alles Denken im weiteren Sinn, in welchem die Differenz des Übergewichtes der Funktionen verschwunden ist, sei es nun durch wirkliche aufhebende Durchdringung beider Funktionen in der Anschauung oder durch ahnende Voraussetzung des identischen Denkens im Wahrnehmen, und umgekehrt.

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nau jenes Gleichgewicht, das wir uns als eine Approximation zu denken haben, wobei das Übergewicht der einen Seite über die andere nicht gewollt wird. Diese mittlere Form entsteht nur aus der Oszillation zwischen den beiden anderen, und jedes Anschauen, könnte man es genau zerlegen, würde wieder der einen oder anderen Form zufallen. Gewöhnlich braucht man den Ausdruck für eine solche Art des Denkens, die ursprünglich von Wahrnehmungen ausgegangen, aber ganz vom Denken durchdrungen ist. Wir brauchen ihn aber auch von einem Akt, der bei der zweiten Form anfängt, mehr die Form der inneren Konstruktion an sich trägt und in das Wahrnehmen übergeht, denken ihn also als etwas mehr Innerliches. Diese mittlere Form erscheint uns als das Bestreben, die Einseitigkeit beider Formen aufzuheben, also eigentlich als die Vollendung beider. Wird es uns nicht immer als ein vollkommener Akt erscheinen, der in der Indifferenz der Anschauung aufgeht? Wir werden uns nicht bedenken,, dies zu bejahen. Denken wir uns ein geistiges Wesen, dessen Tätigkeit immer nur zwischen Wahrnehmung und Denken schwankt, ohne je eine Anschauung zu haben, so wird uns diese Tätigkeit als unvollkommen erscheinen. Die allgemeine Erfahrung zeigt freilich, daß bei den meisten Menschen der Prozeß in einer dieser beiden Reihen bleibt, und nur selten Punkte der vollkommenen Durchdringung angetroffen werden. Wie verhält sich denn nun das Denken, was wir als Wissen bezeichneten, zu diesen drei Formen; kann es unter allen dreien vorkommen oder nur unter einer? Sehen wir es im allgemeinen als die Vollkommenheit unseres Prozesses, so müßten wir es in der Durchdringung der beiden Formen in der Anschauimg setzen. Gehen wir aber von dem Zustand streitiger Vorstellungen aus, so kommt das Wissen vielleicht anderswo zu stehen, und wir müssen sehen, wie es sich ausgleicht. Das Wissen, so sagten wir, sei dasjenige Denken, was von allen auf dieselbe Weise vollzogen worden ist; es ist bedingt durch die Uniformität des Prozesses. Da kann dann etwas Gedachtes und etwas Wahrgenommenes ebensogut ein Wissen sein. Wenn wir den Zustand streitiger Vorstellungen in einem und demselben Subjekt betrachten, so wird das Öenken fortgesetzt, bis die Überzeugimg einge-

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treten ist, und dies ist dann das Wissen. Wie verhält sich nun der Zustand der Ü b e r z e u g u n g zu jenen dreiFormen? Ist das Überzeugungsgefühl in allen drei Formen möglich.? Ruhen wir überhaupt je bei einem Prozeß, der eine von diesen Formen hat und in dem Charakter des Übergewichts geblieben ist? Die Antwort haben wir eigentlich schon gegeben, indem wir sagten, daß wir in unserem Bewußtsein nur wenige Punkte fänden, wo Approximation an jenes Gleichgewicht wäre. Aber das Gefühl der Überzeugimg haben wir auch in anderen Fällen, auch in einer Wahrnehmung und in einem Gedanken. Können wir uns hier nicht eines Unterschiedes bemächtigen, der uns weiterführt? Die R u h e am Ende der Anschauung ist in jedem Falle ein Unbedingtes. In den beiden anderen Formen gibt es Prozesse, bei denen wir zugleich ruhen und nicht ruhen, das Ruhen also nur eine Pause ist. Diese beiden Formen stehen einander gegenüber als sich gegenseitig ergänzend und zusammengehörig, so daß, hätten wir nur die eine Form und die andere nicht, das Anschauen nicht möglich sein würde. Die Möglichkeit zur Ruhe liegt bei einer Form immer in dem Mitgesetztsein der anderen Form. Wo dies nicht ist, kann ich wohl den Prozeß abbrechen, doch ohne daß ich eine Überzeugung gewinne. B e i w e l c h e m D e n k e n und W a h r n e h m e n w e r d e n wir r u h e n , o h n e d a ß es e i n A n s c h a u e n ist? Bei einer Wahrnehmung kann ich ruhen, wenn ich voraussetze, daß es ein Denken gibt, welches derselben vollkommen entspricht. Und ebenso kann ich bei einem Denken ruhen, wo ich ein vollkommen entsprechendes Wahrnehmen voraussetzen kann. Kann ich jene Voraussetzung nicht machen, so ruhe ich nicht, sondern habe das Wissen nur als ein historisches. Von der organischen Seite anfangend ist das erste das Fixieren der Gegenstände, und darin kann eine Wahrnehmung abgeschlossen sein. In welchem Fall würde ich das für ein Wissen halten? Unstreitig''dann, wenn ich sagen kann: hätte ich angefangen bei der intellektuellen Seite, so hätte ich kommen müssen auf die Form, unter der der Gegenstand jetzt von mir subsumiert wird. Dasselbe gilt von seiten der intellektuellen Funktion. Hätten wir ohne alle organische Funktion zur Bildimg der Gegensätze kommen S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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können und zum Begriff der Gattungen, und hätten unter diese die Arten gesetzt, und es fehlten uns gewisse Arten, die wir noch nicht wahrgenommen, schließen aber von diesen auf sie, d a ß sie da sein müssen, und d a ß wir nur noch nicht die Wahrnehmung gemacht hätten, so gibt es ebensogut eine Ruhe. In der ergänzenden Beziehung der einen auf die andere Form ist das Denken ein Wissen, indem ich beide auf die Indifferenz der Anschauung beziehe. Im Anschauen ist es u n b e d i n g t ; in den beiden anderen Formen ist es b e d i n g t f ü r den Fall, wo ich die Durchdringung a n t i z i p i e r e . Von dieser Seite aus werden wir also sagen können: D a s W i s s e n i s t d a s j e n i g e D e n k e n , wo d e r G e g e n s a t z d i e ser beiden F o r m e n als v e r s c h w i n d e n d g e d a c h t w i r d , so d a ß s i e a l s o k e i n e n E i n f l u ß a u f d a s R e sultat haben. 26 22

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Wir haben gesehen, d a ß es nicht eher ein vollendetes Wissen geben kann, bis der ganze Zusammenhang alles Wissens gegeben ist. Und dies müssen wir noch in bezug auf unsere jetzige Frage untersuchen. Ist der Zusammenhang gegeben, so ist auch in jedem einzelnen Akt des Wissens die Totalität alles anderen Wissens implizite mitgesetzt, d. h. der einzelne Akt ist nicht diese Totalität, sondern es ist die Möglichkeit da, von jedem einzelnen Akt zu jedem andern zu kommen. Es ist also der bloße Weg gegeben, nicht das Wissen selbst, sonst hörte jedes bestimmte und einzelne Wissen auf. Wenden wir dies auf unsere Formen an, so muß in dem Wissen unter der Form der Anschauung die VerEndlich in bezug auf die Darstellung des absoluten Zusammenhanges, welcher mit allem Wissen gegeben sein soll, XXVI. so ist klar, daß, inwiefern beides verbunden sein soll, auch in einem jeden Wissen der ganze Zusammenhang gesetzt sein muß. Also in jeder einzelnen Anschauung nicht etwa alle insgesamt, denn dann hörte ihre Einzelheit und Bestimmtheit auf, aber (z. B. einzelne Kraft, einzelne Gattung) in jeder der Zyklus ihrer inneren Modifikabilität und der Umfang ihrer äußeren Relationen mitgesetzt. Dann aber auch ebenso, da Denken nur Wissen ist in der Beziehung auf Wahrnehmung, jeder Gedanke verknüpft mit der Totalität des Wahrnehmbaren, und jede Wahrnehmung mit der Totalität des Denkbaren.

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knüpfung aller anderen Anschauungen liegen, d. h. in der einzelnen Anschauung müssen, wir die Totalität aller anderen haben in dem angegebenen Sinne. Es sei z. B. die Naturwissenschaft ein in sich abgeschlossenes Gebiet, das uns das ganze Wissen repräsentiere; haben wir hier eine einzelne Anschauung, entweder den von lebendiger Kraft oder die einer bestimmten Form des Seins, einer bestimmten Gattung von Wesen, so muß in dieser Anschauung zugleich der Keim aller anderen Anschauungen dieses Gebietes liegen. D. h. ich weiß von jener Kraft nichts, wenn mir darin nicht das ganze System von Kräften gegeben ist. Denn die Kräfte denken wir uns in einem gewissen Zusammenhang und Gegensatz, und wir haben die Charakteristik der einzelnen nicht gefaßt, sind wir uns nicht auch der anderen klar. Die einzelne Kraft kann in verschiedenen Modifikationen vorkommen; diese aber müssen wir ebenfalls mitsetzen in den allgemeinen Begriff als ihre i n n e r e M o d i f i k a b i l i t ä t . Ebenso müssen wir in der Anschauung der Gattung alle ihre untergeordneten Spezies haben und auch im Gegensatz zu allen anderen Gattungen sie auffassen, damit wir ihre gehörige Stelle anweisen können. Also nur in der Totalität des Ganzen haben wir das Wissen des Einzelnen. Nun ist das Wissen in jeder der beiden anderen Tätigkeiten des Denkens nur insofern, als ich die eine Seite durch die andere ergänze und die Resultate ihrer Prozesse gleichsetze. Dieses Wissen ist der Anschauung analog, wenn der Unterschied beider Seiten auf das Resultat keinen Einfluß hat. Die Anschauung ist in solchem Fall geteilt. Der eine Teil ist mir gegeben, der andere wird vorausgesetzt. Soll ich also einen Akt des Denkens im engeren Sinne für ein Wissen halten, so liegt darin die Voraussetzung, daß ihm eine Wahrnehmung entgegenstehe, die ihm gleichhaltig sei; und in dieser Wahrnehmung liegt die Totalität aller übrigen. Der Gedanke wird also Wissen, wenn er verbunden ist mit der Totalität der Wahrnehmungen. Er könnte nicht so sein, wie er ist, wenn nicht die Totalität der Wahrnehmungen so wäre, wie sie ist. Ebenso umgekehrt: Einer Wahrnehmung, die ein Wissen sein will, steht ein Gedanke gegenüber. In dem Gedanken aber liegt die Totalität aller Gedanken, und 11*

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die einzelne Wahrnehmung könnte nicht so sein, wie sie ist, wäre nicht die Totalität der Gedanken so, wie sie ist. Und die Wahrnehmung ist also durch den Gedanken als eine solche gesetzt. In keiner dieser beiden Funktionen haben wir also ein Wissen, wenn nicht die Totalität der anderen mitgesetzt ist. Denn sonst könnten wir das Verhältnis zwischen den beiden Funktionen nicht bestimmen. Jedes Wissen ist also die Totalität des Ganzen im Einzelnen; denn wo das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen irgendwie noch nicht bestimmt ist, ist das Wissen unvollkommen. Unser nächster Zweck ist jetzt, die Auflösung der transzendentalen Seite unserer Aufgabe zu finden. Wir haben hier in der Beziehung der beiden Formen der Denktätigkeit schon eine Lösung gefunden, doch ohne Gewährleistung der Vollständigkeit unserer Auflösung. Die Identität dessen, woraus die organischen Impressionen für alle entstehen, und dessen, worauf die Gleich- und Entgegensetzung in der Begriffsbildung für alle beruht, war unser Resultat, zu dem wir indessen mehr exkursorisch gelangt waren, so daß noch keine Sicherheit ist, ob der rechtmäßige Weg zu demselben Ziel geführt hätte. Um nun zu sehen, inwiefern die Identität beider Denkkräfte dem Wissen zugrunde liegt, müssen wir sehen, wie sich das Wissen vom unvollständigen Denken unterscheidet und welche Eigentümlichkeit in jedem dieser Prozesse liegt. §§123 D1S

Verhältnis des Wissens zum individuellen Denken. Wir

127 gehen auf etwas zurück, was wir schon früher betrachtet haben, nämlich, daß ein Denken, welches den Zustand streitiger Vorstellungen beendigt, als ein solches gedacht werden Verhältnis des Wissens zum individuellen Denken. Indem nun jedes Denken als Wissen ein solches sein muß, auf der Identität der denkenden Subjekte ruhend, so müssen wir, ehe wir zur Aufsuchung der eigentümlichen Grundlagen desselben fortgehen können, erst sein Verhältnis zum individuellen Denken so genau als möglich ausmitteln. Jeder Einzelne als solcher ist nur in der Identität und Differenz zu den anderen, und wie in der einzelnen Lebenseinheit beides ineinander ist, so auch in jedem Akt als einem Moment dieses Lebens. Daher ist in jedem Denken Allgemeingültigkeit und Besonderheit, nur in verschiedenem Maß. Auch in den Geschmacksurteüen ist Allgemeingültiges, nämlich

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die einzelne Wahrnehmung könnte nicht so sein, wie sie ist, wäre nicht die Totalität der Gedanken so, wie sie ist. Und die Wahrnehmung ist also durch den Gedanken als eine solche gesetzt. In keiner dieser beiden Funktionen haben wir also ein Wissen, wenn nicht die Totalität der anderen mitgesetzt ist. Denn sonst könnten wir das Verhältnis zwischen den beiden Funktionen nicht bestimmen. Jedes Wissen ist also die Totalität des Ganzen im Einzelnen; denn wo das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen irgendwie noch nicht bestimmt ist, ist das Wissen unvollkommen. Unser nächster Zweck ist jetzt, die Auflösung der transzendentalen Seite unserer Aufgabe zu finden. Wir haben hier in der Beziehung der beiden Formen der Denktätigkeit schon eine Lösung gefunden, doch ohne Gewährleistung der Vollständigkeit unserer Auflösung. Die Identität dessen, woraus die organischen Impressionen für alle entstehen, und dessen, worauf die Gleich- und Entgegensetzung in der Begriffsbildung für alle beruht, war unser Resultat, zu dem wir indessen mehr exkursorisch gelangt waren, so daß noch keine Sicherheit ist, ob der rechtmäßige Weg zu demselben Ziel geführt hätte. Um nun zu sehen, inwiefern die Identität beider Denkkräfte dem Wissen zugrunde liegt, müssen wir sehen, wie sich das Wissen vom unvollständigen Denken unterscheidet und welche Eigentümlichkeit in jedem dieser Prozesse liegt. §§123 D1S

Verhältnis des Wissens zum individuellen Denken. Wir

127 gehen auf etwas zurück, was wir schon früher betrachtet haben, nämlich, daß ein Denken, welches den Zustand streitiger Vorstellungen beendigt, als ein solches gedacht werden Verhältnis des Wissens zum individuellen Denken. Indem nun jedes Denken als Wissen ein solches sein muß, auf der Identität der denkenden Subjekte ruhend, so müssen wir, ehe wir zur Aufsuchung der eigentümlichen Grundlagen desselben fortgehen können, erst sein Verhältnis zum individuellen Denken so genau als möglich ausmitteln. Jeder Einzelne als solcher ist nur in der Identität und Differenz zu den anderen, und wie in der einzelnen Lebenseinheit beides ineinander ist, so auch in jedem Akt als einem Moment dieses Lebens. Daher ist in jedem Denken Allgemeingültigkeit und Besonderheit, nur in verschiedenem Maß. Auch in den Geschmacksurteüen ist Allgemeingültiges, nämlich

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muß, das auf gleiche Weise vollzogen wäre und womit die Ruhe des Einzelnen im Denken über den fraglichen Gegenstand mitgesetzt ist. Wir hatten gesehen, daß diese beiden Merkmale nicht immer koinzidieren, sondern d a ß sich bisweilen das letztere finde ohne das erstere. So z. B. in den Geschmacksurteilen, Maximen des Handelns u. dgl. Die Überzeugung kann gleich sein, aber man ist auf verschiedenen Wegen dahin gekommen. S o g i b t e s a l s o e i n z w e i f a c h e s D e n k e n : d a s j e n i g e , w e l c h e s in d e r I d e n t i t ä t a l l e r d e n k e n d e n S u b j e k t e — und nur das kann ein Wissen sein — u n d d a s j e n i g e , w e l c h e s i n i h r e r D i f f e r e n z s e i n e n G r u n d h a t , welches das Individuelle ist, wo jeder einen Rullepunkt findet, aber sich bewußt ist, d a ß er auf einem eigenen abgeschlossenen Gebiete versiert. Wir müssen nun fragen, wo dieses individuelle Denken seinen Ort hat in bezug auf das Vorhingesagte. Liegt es innerhalb oder außerhalb des Zusammenhanges des Wissens? Denke ich einen einzelnen Gedanken als Wissen in lebendiger Verknüpfung mit der Totalität aller Wahrnehmungen und vice versa, so muß in diesen beiden alles individuelle Denken eingeschlossen sein. Denn wir haben nichts weiter als das sensuelle und intellektuelle Gebiet gesetzt, und also kann außerhalb desselben kein Denken liegen. In allen Subjekten müssen wir eine absolute Identität aller Wahrnehmungen setzen, d. h. die Wahrnehmung eines jeden ist ebensogut für diesen wie für alle übrigen gesetzt. Dasselbe gilt vom Denken im engeren Sinne. Nun setzen wir aber ein individuelles Denken, das doch auch seinen Grund die Begriffe, über deren Anwendung man streitig ist, und auch in der objektivsten Anschauung als lebendigem1) Moment muß etwas Individuelles sein, so daß auch die gleichhaltige als Glied in der Zeitreihe in jedem eine andere ist. Also zunächst entspricht kein Akt der Idee des Wissens genau, und ist also auch nur sofern ein Wissen, als wir, wenn auch nicht vollkommen, doch in jedem Fall so genau, als es erfordert wird, das Individuelle von dem Allgemeingültigen sondern und uns desselben als solchen bewußt werden können. Wo dies aber übersehen wird, da wird auch das Verhältnis des einzelnen Wissens zur Idee des Wissens ganz verfehlt. *) Hs.: „lebendiger"; korr. Jon.

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haben muß in der organischen und intellektuellen Seite, sonst wäre es kein Denken. Beide Seiten enthalten also den Grund zum allgemeinen oder zum individuellen Denken. Wie sollen wir uns nun das Verhältnis beider Reihen denken? Wir werden sie nicht trennen können, schon deshalb nicht, weil die Ruhe, die der Einzelne bei beiden Arten des Denkens findet, dieselbe ist; wir können sie nicht anders als ein sich vollkommen Durchdringendes denken. Wir wissen also: Die Frage nach der Lösung des Streites ist nur zu beantworten, sofern in den streitenden Subjekten die Identität konkurriert, nicht die Differenz. Also müssen hier die Grenzen zwischen Identität und Differenz der Menschen angewiesen werden. Denken wir uns einen Moment des Wissens und beziehen ihn auf unser Ich, auf unser einzelnes Wesen und Leben, so ist darin auch das allgemeingültige und individuelle Denken gesetzt; und also muß auch in dem Wissen etwas liegen, was die Differenz des Subjekts repräsentiert. In jedem Urteil, worin wir abweichen von der Identität, bedienen wir uns der Begriffe, die dem gemeinsamen Wissen angehören. In jedem Urteil, worin wir die Identität mit allen anderen aussprechen, liegt doch die Individualität des Einzelnen, wenn auch nur als Minimum. So muß bei den Geschmacksurteilen etwas Allgemeingültiges sein,, nämlich die Begriffe, mit denen wir uns verständigen und über deren Anwendung wir nur streitig sind (z. B. schön und häßlich). Der Gedanke, so wie er bei dem einen gefunden wird, ist immer derselbe, doch zugleich immer etwas anders wie bei dem anderen in seiner ganzen Reihe des Lebens. Also sowohl das Individuelle ist durchdrungen von dem Allgemeingültigen als auch das Allgemeingültige von dem Individuellen, und alles Wissen ist durchdrungen von der Differenz der denkenden Subjekte, wenn auch in verschiedenem Grade. Aber man kann nur ein Wissen haben, wenn man das Allgemeingültige trennt von dem Individuellen. So müssen wir das Verhältnis beider bestimmen und beide voneinander unterscheiden. Denn nur durch diese Unterschiede können wir bestimmen, inwieweit der einzelne Gedanke der Idee des Wissens entspricht. Denn kein einzelner wirklicher Gedanke als einzelner Lebensmoment ist reines Wissen, weil er tingiert wird durch das Individuelle.

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Diese Operation der Scheidung müssen wir so genau wie möglich vorzunehmen verstehen. Wir haben ebenso notwendig das eine zu suchen wie das andere, und zwar nicht abgesondert von dem anderen. 27 23-

Die Differenz können wir uns nicht gleichmäßig denken, sondern, wie jede Vielheit, ungleichmäßig, als wachsend oder abnehmend, also in verschiedenen Abstufungen. Können wir also ein Minimum und ein Maximum derselben finden, so gibt uns das schon die Grenzen, zwischen denen wir operieren können. Wir haben gesehen, daß auch der gleichartige Gedanke etwas Individuelles hat, insofern anderes bei ihm als nachfolgend und anderes als vorhergehend, anderes als Vergangenheit und anderes als Zukunft in ihm gesetzt ist. Haben wir dies aus einem inneren Grunde abgeleitet, so liegt hier zugleich eine innere Differenz zugrunde. Wir müssen nun sehen, worin hierbei das Minimum von Differenz besteht. Es ist klar, daß, wo wir eine Identität der Abstammung und Erzeugung oder Fortentwicklung finden, wir auch eine Identität von Vergangenheit und Zukunft setzen können. Und hier liegt der Grund einer immer mehr verschwindenden Differenz. Dies bestätigt auch die Erfahrung. W o der eine die Vergangenheit, die dem andern zugrunde liegt, voraussetzen kann, wird sein Denken von dem des anderen weniger different sein. Je mehr gleiche Schicksale und Anlagen zwei Menschen haben, desto mehr denken sie übereinstimmend und sehen die Entwicklung des Gedankens des anderen voraus ; desto mehr werden wir das Denken des einen dem des anderen substituieren können. Je mehr das Individuelle zunimmt, desto weniger kann der eine den anderen verstehen. Beim Maximum der Differenz werden die Menschen sich am wenigsten verstellen können. Und dies wird der Fall sein, wenn sie verschiedene Sprachen reden; und am meisten, wenn diese Sprachen wieder tinter sich sehr verschieden sind. Dies scheint nur ein äußerer Grund der Differenz zu sein und die Identität der Abstammung zu leugnen. Sagt man aber, daß die Differenz der Sprache ihren Grund hat in der Differenz der Organisation der Sprechwerkzeuge, so ist doch auch schon dies nichts Äußer-

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liches; denn diese Organisation ist wesentlicher Bestandteil der Organisation im allgemeinen, und diese wieder ein wesentlicher Faktor des Denkens selbst. Ferner entsteht das Sprechen mit dem Denken zugleich, und bei gleichem Denken kann keine verschiedene Sprache entstehen. Denn die Verschiedenheit der Sprache beruht nicht bloß auf den Tönen, sondern auch auf den verschiedenen Sprachformen. Diese aber hängen mit den verschiedenen Denkformen am nächsten zusammen. Die Denkformen selbst müssen also verschieden sein. Die Differenz der Sprache setzt eine Differenz des Denkens selbst voraus. Eis kann keine größeren Differenzen geben wie zwischen denen,.welche verschiedene Sprachen reden, und zwar nach Maßgabe dieser Verschiedenheit. Dagegen sind diejenigen näher verbunden, die die gleiche Sprache reden. Zwischen diesen beiden Grenzen lassen sich nun verschiedene Abstufungen und unendlich viele Zwischenglieder denken, bis wir auf die I d e n t i t ä t d e r A b s t a m m u n g u n d E r z e u g u n g kommen, wo die Differenz verschwindet. So haben wir also konzentrische Sphären, in denen eine größere oder geringere Gemeinsamkeit der Erfahrung und der Konstruktion im Denken gegeben ist. XXVII. Indem wir nun beides als Ineinander voraussetzen, müssen wir zunächst nach dem Verhältnis der Beimischung fragen, welches wir aller Analogie nach nicht Ursache haben als gleich vorauszusetzen. Deshalb ist ein Maximum und Minimum zu suchen. Wenn nun jeder Akt ein anderer ist als Glied einer anderen Reihe, d. h. weil ceteris paribus anderes Vergangenes und Künftiges in ihm gesetzt ist, so wird das Minimum da sein, wo mehrere gleiche Abstammung haben und auf dieselbe Weise entwickelt werden. Denn die Gleichheit der Abstammung ist eine innere Identität des Daseins, und also ein innerer Grund des Verschwindens der Differenz. Die Probe gibt die Erfahrung, weil bei so Verwandten am meisten vorkommt, daß sie ihre Gedanken gegenseitig erraten. Um das Maximum zu finden, dient zur Richtschnur, daß, je mehr das Individuelle vorherrscht, um desto weniger man nicht nur sich ausgleichen kann, sondern man versteht sich auch um desto weniger. Also fragt man: Welche verstehen sich am wenigsten? so ist die natürliche Antwort: die, welche verschiedene Sprache reden; und dies ist kein bloß äußerer Grund, weil jede Sprache nicht nur andere Töne, sondern auch andere Worteinheit und andere Denkformen hat. Mindestverwandte Sprachen also geben das Maximum der Differenz. Innerhalb der-

Verhältnis des Wissens zum individuellen Denken

Es fragt sich nun aber, ob unsere Aufgabe der Lösung des Streits ganz aufgehoben ist zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen reden. Niemand wird dies bejahen, da wir durch Erfahrung des Gegenteils belehrt werden. Denn beständig suchte man dieses Verhältnis von Irrationalität im Denken auf verschiedene Art aufzuheben. J e mehr sich der Verkehr erweiterte unter den Menschen, tun so mehr entwickelte sich der Gedanke einer für alle Sprachen allgemeingültigen Philosophie und das Bestreben, eine allgemeine Sprache au finden, um sich über das Individuelle des Denkens zu erheben. Aufgelöst ist diese Aufgabe nie, sie kann es nur werden durch Approximation. Demi in jeder Sprache liegt doch etwas Besonderes, über das sie sich nie erheben kann; auch müssen wir zwischen den verschiedenen Sprachen ein größeres oder geringeres gemeinschaftliches Gebiet der Verständigung anerkennen. Dasjenige an der Sprache, was am meisten Formel ist, die Verbindungswörter, ist doch in keiner Sprache gleichwertig und gleichbedeutend mit dem in einer anderen. So haben wir innerhalb derselben Sprache konzentrische Sphären, und außerhalb derselben, d. h. in verschiedenen Sprachen, kleinere oder größere Kreise, die sich durchschneiden und dadurch ein gemeinschaftliches Gebiet von dem besonderen trennen. selben Sprache also gibt es verschiedene konzentrische Sphären gemeinsamer Erfahrung und .Prinzipien, und verschiedene Sprachen haben verschiedene Ausschnitte miteinander gemein. Das gänzliche Auseinandersein kommt nicht vor, weil sich doch gleich mit dem Bedürfnis auch ein Mittel der Verständigung entwickelt. Und hieran liegt die Autorisation, die Idee des Wissens festzuhalten, wenngleich kein einzelner Denkakt derselben vollständig entspricht. Wie denn besonders auch das phüosophische Denken anfangs zwar auch nicht über die Sprache hinaus sah, hernach aber immer mehr sich die Aufgabe gestellt hat, die Beschränkung derselben zu vernichten. Wir setzen also das Allgemeingültige in dem Differenten immer voraus, und unser Ziel ist, es möglichst rein darzustellen. Verhältnis des transzendenten Grundes zur Individualität. In dem transzendentalen Teil unserer Aufgabe aber ist offenbar an und für sich der Einfluß Null zu setzen. Denn wir haben das Differente als wesentlich gefunden dem wirklichen Wissen, sofern es ein zeitlicher Akt ist, und sofern es durch die Rede vollendet wird. Was wir aber hier (§ 127) suchen, ist etwas vor jedem

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Wollen wir hierin das Transzendente suchen als denjenigen Teil unserer Aufgabe, bei dem wir jetzt stehen, so wird die Auflösung des Streits nur gelingen, wenn wir gleich anfangs auf die Differenz sehen und gleich wissen, wieweit das Individuelle reicht, wieweit das Allgemeingültige. Ein allgemeiner Zusammenhang des Wissens ist nicht denkbar ohne eine Konstruktion des Individuellen und ohne das aufgefundene Verhältnis der Individualität zur Identität. Aber hierin sehen wir schon, daß diese Aufgabe eine unendliche ist und nur allmählich gelöst werden kann. Denn die Durchsuchung der ganzen Natur der Menschheit im allgemeinen und der Natur des Einzelnen setzt eine unendliche Anschauung des Menschen voraus. Aber dadurch wird unsere Aufgabe nicht aufgehoben; denn wir müssen die Idee des Wissens festhalten und also immer glauben, daß hinter der Individualität die Identität steht. Wir haben dieses Verhältnis, wonach es immer nur bei einer relativen Identität des Denkens bleibt, somit auf das bestimmteste gefunden, sehend erstens auf die Identität des Denkens und Redens, und zweitens auf das Verhältnis, in dem der Gedanke als zeitliche Erscheinung zur Idee selbst steht. Der letzte Punkt involviert die Wirklichkeit des Denkens und sein Hervortreten als Tat, zeitlichen Akt und an sich auch etwas Unaussprechliches, so daß wir nur in der Einkleidung uns würden vor dem Individuellen zu hüten haben. Ist nun der Einfluß am Zielpunkt Null, so muß er auch desto mehr verschwinden, je mehr wir uns diesem nähern, und wir müssen also von dem gegebenen Wissen aus so rückwärts gehen, daß dieser Einfluß sich zugleich verringert. Das T r a n s z e n d e n t e 1 ) ist zu suchen von der Ü b e r z e u g u n g aus. Hiernach haben wir zu beurteilen, von welchem Merkmal des Wissens wir ausgehen müssen. Nicht von der Identität der Struktur, denn diese ist am meisten von der Individualität alteriert. Auch nicht voAi allgemeinen Zusammenhang; denn diesen haben wir erst, wenn wir uns den ganzen Umfang des Individuellen mit seinen Gründen mit hineinkonstruiert haben. Also von dem Ruhen des Geistes, welches den Zustand der Überzeugung bildet. Dieser ist in allen drei Formen: in den zwei gegenüberstehenden, sofern sie sich aufeinander beziehen; in der mittleren zwar ohne Beschränkung, allein sie ist selbst nur als approximierendes Ineinander der beiden anderen gegeben. Also bleiben wir am besten bei der Beziehung beider aufeinander stehen. x)

Jon. „transcendentale".

Verhältnis des Wissens zum individuellen Denken

der erste das Wesen des Denkens. Mit dem Bewußtsein des Wissens ist diese Relativität gesetzt, und es kann nur eine beiständige Annäherung geben, indem wir die Schranken der Differenz immer mehr zerbrechen. Aber ganz können wir es nie, sondern die Identität ist immer nur auf der einen Seite die Voraussetzung der Aufgabe, auf der anderen immer das Ziel, wonach wir streben müssen. Fragen wir nun, wie sich dieses Verhältnis der Relativität zur Lösung unserer Aufgabe verhält, so werden wir zu bestimmen haben den Einfluß der Differenz des Denkenden auf die Art, zum Bewußtsein eines solchen Urwissens zu kommen. Die Differenz manifestiert sich in der zeitlichen Wirklichkeit des Denkens durch den Ausgang und die Verknüpfung in der Rede. In diesen Angeln hat sie ihre Haltung. Aber was wir jetzt solchen, scheint diesem vorherzugehen, weil es an kein zeitliches Moment gebunden ist und auch an keine Differenz der Sprache. In bezug auf dieses Urwissen dürfen wir uns also an die Relativität des Wissens nicht kehren, denn diese liegt nur in dem Wissen, was wirklich zeitlich entsteht, nicht in demjenigen, was allem vorhergeht. J e näher wir dem Endpunkte kommen, desto mehr muß die Differenz verschwinden. Und haben wir nur die richtige Methode, ihn zu finden, so wird die Differenz unbedeutend sein, bis sie gleich Null wird. Und hierdurch haben wir zugleich einen kritischen Kanon, wie wir jenes Urwissen finden können. Wir haben nun schon verschiedene Merkmale des Wissens gefunden, und es fragt sich, ob wir eine Indikation dafür haben, mit welchem Kriterium wir am besten bei dieser Untersuchung anfangen können. Der erste Punkt war die Identität des Prozesses. Hiermit können wir jedoch nicht anfangen, denn wir sind im wirklichen Denken immer schon in die Differenz verwickelt, und diese wird nicht allein in den Resultaten sein, sondern es wird auch in einem jeden eine andere rückwärtsgehende Verknüpfung geben. Der zweite Punkt war die Identität des Zusammenhanges alles Wissens. Auch hiermit läßt sich nicht anfangen, weil wir ihn nicht eher finden können., bis das Verhältnis des Allgemeinen und Individuellen gefunden ist. So bleibt uns nur

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dasjenige Merkmal übrig, wonach das Wissen dasjenige Denken ist, mit dein der Reiz aufhört, weiter zu denken, d. h. bei dem sich die Ü b e r z e u g u n g einfindet. Hier tritt die Individualität am ersten zurück; und so ist das Merkmal der Überzeugung das beste, wo wir von dem Einfluß der Differenz bei der Operation am wenigsten gestört werden. Dieses Denken geht nun aus von dem Verhältnis des Denkens zum Gedachten, inwiefern dieses unter die allgemeine Vorstellung des Seienden gefaßt ist, und unsere Aufgabe wird sein, von hier aus immer weiter fortzuschreiten, so daß die Differenz immer mehr zurücktritt. Wir haben dieses Kriterium in allen drei Formen des Denkens gefunden: in der Anschauung unbedingt, in der Wahrnehmung bedingter, insofern die andere Seite vorausgesetzt wurde, und so auch beim-Denken im engeren Sinne. Beide Arten können wir auf die Anschauimg zurückführen, indem wir sie ansehen wie zwei Annäherungen an dieselbe. Was muß nun vorausgesetzt werden bei einem solchen Denken, wo bei Beziehung des Denkens (i. eng. S.) auf das Wahrnehmen des Gedachben Beruhigung eintritt? 28

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Begriff und Bild. Wenn wir einen Akt des Denkens betrachten, in welchem die organische Funktion die ursprüng^bis8 lic^16 u11^ hervorragende ist, den wir also als Wahrnehmung 131 ansehen, und fragen, wie durch einen solchen ein Gedachtes wirklich vorgestellt wird, so geschieht dies vermittelst des B i l d e s (nicht im engeren Sinn von Gesichtsbild, sondern im Sinne des Zusammentreffens der organischen Eindrücke überhaupt). So wie wir ein solches haben, ist schon die chaotische Mannigfaltigkeit verschwunden; wir haben schon einen Gegenstand fixiert und alles übrige ausgeschlossen; und je vollständiger das Bild ist, um so mehr wird alles darin unterschieden. Fragen wir nun: wie wird ein Gegenstand vorgestellt, wenn die intellektuelle Seite die überwiegende und ursprüngliche ist, so werden wir sagen müssen: da ist dasjenige, was dem Bild am nächsten ist, das allerletzte. Diese Funktion fängt mit der Voraussetzung an, die wir als Grenze des Denkens auffaßten, mit dem Sein überhaupt, und schreitet von hier aus fort durch Gleich- und Entgegensetzung. Die Vorstellungsweise, die sich so bildet, 5-

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

dasjenige Merkmal übrig, wonach das Wissen dasjenige Denken ist, mit dein der Reiz aufhört, weiter zu denken, d. h. bei dem sich die Ü b e r z e u g u n g einfindet. Hier tritt die Individualität am ersten zurück; und so ist das Merkmal der Überzeugung das beste, wo wir von dem Einfluß der Differenz bei der Operation am wenigsten gestört werden. Dieses Denken geht nun aus von dem Verhältnis des Denkens zum Gedachten, inwiefern dieses unter die allgemeine Vorstellung des Seienden gefaßt ist, und unsere Aufgabe wird sein, von hier aus immer weiter fortzuschreiten, so daß die Differenz immer mehr zurücktritt. Wir haben dieses Kriterium in allen drei Formen des Denkens gefunden: in der Anschauung unbedingt, in der Wahrnehmung bedingter, insofern die andere Seite vorausgesetzt wurde, und so auch beim-Denken im engeren Sinne. Beide Arten können wir auf die Anschauimg zurückführen, indem wir sie ansehen wie zwei Annäherungen an dieselbe. Was muß nun vorausgesetzt werden bei einem solchen Denken, wo bei Beziehung des Denkens (i. eng. S.) auf das Wahrnehmen des Gedachben Beruhigung eintritt? 28

-

Begriff und Bild. Wenn wir einen Akt des Denkens betrachten, in welchem die organische Funktion die ursprüng^bis8 lic^16 u11^ hervorragende ist, den wir also als Wahrnehmung 131 ansehen, und fragen, wie durch einen solchen ein Gedachtes wirklich vorgestellt wird, so geschieht dies vermittelst des B i l d e s (nicht im engeren Sinn von Gesichtsbild, sondern im Sinne des Zusammentreffens der organischen Eindrücke überhaupt). So wie wir ein solches haben, ist schon die chaotische Mannigfaltigkeit verschwunden; wir haben schon einen Gegenstand fixiert und alles übrige ausgeschlossen; und je vollständiger das Bild ist, um so mehr wird alles darin unterschieden. Fragen wir nun: wie wird ein Gegenstand vorgestellt, wenn die intellektuelle Seite die überwiegende und ursprüngliche ist, so werden wir sagen müssen: da ist dasjenige, was dem Bild am nächsten ist, das allerletzte. Diese Funktion fängt mit der Voraussetzung an, die wir als Grenze des Denkens auffaßten, mit dem Sein überhaupt, und schreitet von hier aus fort durch Gleich- und Entgegensetzung. Die Vorstellungsweise, die sich so bildet, 5-

Begriff und Bild

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ist das, was wir B e g r i f f nennen. Hier wird der Gegenstand zwar als eins gesetzt, ist aber nicht so unmittelbar wirklich als eins gegeben wie das Bild. Wollen wir das Bild einem andern mitteilen, so können wir es nur tun mit einer zusammenfassenden Beschreibung von organischen Eindrücken. Dem anderen wird zugemutet, dasselbe Bild durch dasselbe Organ hervorzubringen. Haben wir einen Gegenstand des Denkens im engeren Sinne aufgefaßt, so sind die einzelnen relativ entgegengesetzten Momente die herrschertden in der Erklärung, und durch diese Einzelheit wird ein Begriff vom Gegenstande gedacht. Begriff und Bild sollen also dasselbe darstellen, aber sie tun es auf verschiedene! Wteise. Teilen wir einem anderen einen Begriff mit, so sucht er, ihn sich zum Bild zu gestalten. Aber er wird auch wissen, daß das nicht dieselbe Tätigkeit ist wie bei der Bildung des Begriffs, und bleibt sich des Unterschiedes bewußt. Der Begriff wird vollständig sein, wenn nur der Gegenstand unter alle Gegensätze gebracht ist und in bezug darauf ihm etwas beigelegt und anderes ausgeschlossen wird. Das B i l d wird also immer gleichsam als die s t e t i g e , konkrete, der B e g r i f f aber als die d i s k r e t e , in Gegensätze zerfällte Darstellung des Gegenstandes anzusehen sein. Man begeht hier o f t den Irrtum, daß man sich denkt, Begriff und Bild wären noch anderweitig verschieden. Das Bild stelle nur den bestimmten Gegenstand dar, wie die organischen Eindrücke darin vereinzelt sind, der Begriff dagegen allein das Allgemeine. Das ist unrichtig. Der Begriff kann in der mannigfaltigsten Abstufung des Allgemeinen und des Besonderen gesetzt sein. D a s B i l d i s t d e r s e l b e n A b s t u f u n g f ä h i g . Daher können wir auch den Begriff bis aufs Einzelne verfolgen, wie wir das Bild auf das ganz Allgemeine ausdehnen können. Denn das einzelne Ding ist nur ein solches vermöge seiner räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, die aber ebensogut auf Gegensätze zu bringen sind. Und es ist nichts auf dem einen Wege zu erlangen, was nicht auch auf dem anderen Wege zu erlangen wäre. Früher schon ist gezeigt worden, daß auch das allerallgemeinste Denken eine sinnliche Beimischung hat. Wenn dieses als das angesehen wird, was unmittelbar zum Einzelnen führt, so muß auch das Denken

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

bis zum Einzelnen heruntergeführt werden können. In einem Denken im engeren Sinne und im Wahrnehmen kann ein und dasselbe gesetzt sein, aber auf verschiedene Art. Beide Seiten des Prozesses beziehen sich aber überall aufs genaueste aufeinander, so daß die eine notwendig die andere ergänzen muß. Daher nennt man nur dasjenige Denken ein Wissen, bei dem man ein korrespondierendes Wahrnehmen voraussetzen kann. Wenn wir von einem Gegenstande zu einer Vorstellung kommen unter der Form des Wahrnehmens, so drücken wir dies so aus: der Gegenstand sei uns gegenwärtig geworden. Verbinde ich mit einer Vorstellung den Gedanken, daß der Gegenstand nicht angetroffen werde, so ist das kein Wissen. Wenn ich, von der Seite der organischen Eindrücke ausgehend, mir einen Gegenstand fixiert und hernach den Prozeß der organischen Funktion fortgesetzt habe, so ist das nur ein Wissen, insofern der Gegenstand auch seinen Ort findet im System der Begriffe. Dabei setze ich dann noch voraus, daß, wenn dies nicht der Fall wäre, ich irgendwie muß tinrichtig zu Werke gegangen sein, wenn es nicht ein Spiel der Phantasie sein soll. Wenn, wir einen Begriff für irrig erklären, so liegt darin immer, daß, wenn ich mir denke, ich wäre zu demselben Gegenstand wahrnehmend gekommen, das Bild ein anderes sein würde, als welches dem Begriff korrespondiert. Ebenso bei der Wahrnehmung. Das Identische beider Seiten ist die Wahrheit, das Differente der Irrtum. Im Zustand der Überzeugung hört der Trieb des Denkens über den Gegenstand auf. Das Denkenwollen ist also der Anfang des Denkens. Und indem wir nun das Denken auf das Gedachte beziehen und das Gedachte außer dem Denken setzen, so ist das Denkenwollen nur dieses, daß dasjenige, was außer dem Denken ist, in dasselbe aufgenommen werden soll. Glauben wir den Gegenstand aufgenommen zu haben, d. h. glauben wir, daß das Denken und das Gedachte ein und dasselbe ist, so hört das Denkenwollen auf. ii bis2 137

Real und ideal als höchster Gegensatz auf der intellektuellen Seite. Betrachten wir das Verhältnis der beiden Seiten der Denktätigkeit zum Gedachten. Alles, was wir als Gegenstand des Denkens setzen, setzen wir auch so, daß es uns

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

bis zum Einzelnen heruntergeführt werden können. In einem Denken im engeren Sinne und im Wahrnehmen kann ein und dasselbe gesetzt sein, aber auf verschiedene Art. Beide Seiten des Prozesses beziehen sich aber überall aufs genaueste aufeinander, so daß die eine notwendig die andere ergänzen muß. Daher nennt man nur dasjenige Denken ein Wissen, bei dem man ein korrespondierendes Wahrnehmen voraussetzen kann. Wenn wir von einem Gegenstande zu einer Vorstellung kommen unter der Form des Wahrnehmens, so drücken wir dies so aus: der Gegenstand sei uns gegenwärtig geworden. Verbinde ich mit einer Vorstellung den Gedanken, daß der Gegenstand nicht angetroffen werde, so ist das kein Wissen. Wenn ich, von der Seite der organischen Eindrücke ausgehend, mir einen Gegenstand fixiert und hernach den Prozeß der organischen Funktion fortgesetzt habe, so ist das nur ein Wissen, insofern der Gegenstand auch seinen Ort findet im System der Begriffe. Dabei setze ich dann noch voraus, daß, wenn dies nicht der Fall wäre, ich irgendwie muß tinrichtig zu Werke gegangen sein, wenn es nicht ein Spiel der Phantasie sein soll. Wenn, wir einen Begriff für irrig erklären, so liegt darin immer, daß, wenn ich mir denke, ich wäre zu demselben Gegenstand wahrnehmend gekommen, das Bild ein anderes sein würde, als welches dem Begriff korrespondiert. Ebenso bei der Wahrnehmung. Das Identische beider Seiten ist die Wahrheit, das Differente der Irrtum. Im Zustand der Überzeugung hört der Trieb des Denkens über den Gegenstand auf. Das Denkenwollen ist also der Anfang des Denkens. Und indem wir nun das Denken auf das Gedachte beziehen und das Gedachte außer dem Denken setzen, so ist das Denkenwollen nur dieses, daß dasjenige, was außer dem Denken ist, in dasselbe aufgenommen werden soll. Glauben wir den Gegenstand aufgenommen zu haben, d. h. glauben wir, daß das Denken und das Gedachte ein und dasselbe ist, so hört das Denkenwollen auf. ii bis2 137

Real und ideal als höchster Gegensatz auf der intellektuellen Seite. Betrachten wir das Verhältnis der beiden Seiten der Denktätigkeit zum Gedachten. Alles, was wir als Gegenstand des Denkens setzen, setzen wir auch so, daß es uns

Der Gegensatz des Realen und Idealen

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kann auffordern zu einer solchen Tätigkeit des Denkens, die nur aufhört mit dem Zustand der Überzeugung. Nun ist in jedem Denken auch die Tätigkeit der organischen F u n k tion. Diese wird also auch immer in Bewegung gesetzt; und insofern ist alles, was wir als Gegenstand des Denkens setzen, auch dasjenige, was die organische Funktion antreibt. Wie verhält sich nun im Denkenden selbst die intellektuelle Funktion des Denkens zur sinnlichen? Wir müssen zurückgehen zu der Voraussetzung einer Mehrheit denkender Subjekte, die in eine Mitteilung des Denkens treten können. Jede Mitteilung, wodurch der eine zum Gegenstand f ü r den anderen wird und also ins Gebiet des Seins gehört, beruht immer auf der organischen Tätigkeit in der Rede und darstellenden Tätigkeit. Also ist es die organische F u n k tion im Denken, wodurch sich der Denkende mitteilt. Durch die intellektuelle Bewegung im Denken ist das Subjekt ein XXVIII. K o n s t r u k t i o n des G e g e n s a t z e s r e a l u n d i d e a l . Wenn also Denken und Wahrnehmen beides Wissen sein kann, jedes in Beziehung auf das andere, so unterscheiden wir ein richtiges Denken dadurch, daß das ihm gleichhaltige richtige Wahrnehmen genau zusammenstimmen müßte mit dem in jenem Denken schon enthaltenen organischen Element. Wäre aber das Denken unrichtig, so würde das richtige Wahrnehmen etwas in sich enthalten, was mit dem organischen Element in jenem Denken nicht zusammenstimmt. Ebenso, wenn ein Wahrnehmen richtig ist, so muß das ihm gleichhaltige Denken genau zusammenstimmen mit dem in jenem Wahrnehmen schon enthaltenen intellektuellen Element. Das Wissen setzt also voraus, daß dasselbige gesetzt sein könne im Wahrnehmen wie im Denken, aber im Wahrnehmen auf eine andere Weise als im Denken, und daß, diese Differenz der Modalität abgerechnet, die Totalität des Wahrnehmens gleich sei der Totalität des Denkens. Da nun außerdem auch Gleichheit des Verfahrens vorausgesetzt wird, so folgt, daß, wenn überhaupt Wissen möglich sein soll, auch die Annäherung an das Wissen die Hauptmasse des Denkens ausmachen muß, und der Irrtum nur zufälliges Verkennen des Zusammengehörigen, am besten wieder gut zu machen dadurch, daß man, wo man im Denken dissentiert, sich über das Wahrnehmen zu verständigen sucht und umgekehrt. Gehen wir nun darauf zurück, daß wir für uns und für einander die Identität sind des Denkens und des Gedachten oder Seins, indem wir denkendes Sein sind und seiendes Denken, so ist offenbar, daß die intellektuelle Seite im seienden Denken das Denken ist, und die organische im denkenden Sein das Sein, weil nämlich mittels der organischen Seite jeder affizierend ist und affiziert

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Denkendes, und durch die organische Bewegung im Darstellen ist es ein Denkbares. Die organische Funktion repräsentiert also das Gegenständliche, außer dem Denken Gesetzte. Solange unsere Gedanken rein innerlich sind, sind sie für keinen als für uns. Es gibt kein Denken ohne organische Tätigkeit; und so wird freilich jeder Gegenstand durch die Rede. Wenn sich das so verhält, so können wir dies beides identifizieren und sagen: Der Denkende als solcher und die intellektuelle Funktion im Denkenden sind ein und dasselbe. Das Gegenständliche und Seiende im Denkenden und die organische Funktion sind wieder dasselbe, weil diese das ist, wodurch der Denkende selbst im Denken ein Sein wird. Beides erfüllt erst die allgemeine Voraussetzimg des Seins, von welcher das Denkenwollen auf der intellektuellen Seite ausgeht, und beides erfüllt auch erst die totale Möglichkeit der organischen Eindrücke auf der anderen Seite. In diesem Unterscheiden und zugleich Identischsetzen des Denkens und Wahrnehmens ist uns ein Gegensatz gegeben, welcher zusammengefaßt dem Sein, inwiefern es für das Denken ist, völlig gleich ist, d. h. es kann uns nichts vorkommen, was nicht entweder ein Denkendes oder ein Gedachtes oder beides zugleich wäre. Und in diesem Gegensatz ist also das ganze Sein, wie es für das Denken ist und das Denken, wie es für das Sein ist, beschlossen, so daß das Wissen nichts ist als die reine Gleichheit von beiden. Beides zusammen erfüllt erst die allgemeine Voraussetzung des und mittels der intellektuellen in sich ruhend als denkenwollend ohne wirkliches Denken. Daher ist nun der Gegensatz von beiden auch ein Gegensatz im Sein, und da das Sein nur ist für uns in bezug auf das Denken, so ist nun dieser Gegensatz auch der höchste für uns, so daß er alles Sein, was im wirklichen Denken vorkommen kann, erschöpft. Wir nennen ihn in dieser Beziehung den Gegensatz des Realen und Idealen und denken uns unter dem Realen das Sein, sofern es im Denken dem Bilde zugrunde liegt als ein stetiges Gegebenes, unter dem Idealen das Sein, wie es im wirklichen Denken dem Begriff zugrunde liegt als lebendige Entgegensetzung. Und die allem Wissen zugrunde liegende Voraussetzung ist nun die Gleichsetzung beider Glieder des Gegensatzes, daß nämlich das reale Sein als äußerliches Stetiges und das ideale Sein als innerliches sich Entgegensetzendes beide dasselbe sind, nur auf andere Weise.

Der Gegensatz des Realen und Idealen

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Seins, wovon das Denkenwollen von der intellektuellen Seite ausgeht, und erfüllt die mögliche Totalität der organischen Eindrücke auf der anderen Seite. Wenn wir uns dies aus der bloßen Formel in einen lebendigen Gedanken verwandeln, so müssen wir damit anfangen, dem Gegensatz einen Namen zu geben, welcher an und für sich ganz gleichgültig ist, ausgenommen, inwiefern darin eine Verführung läge, etwas anderes dabei zu denken. Doch kann dies verhütet werden durch die vorhergehende Auseinandersetzung. Jener Gegensatz ist ungefähr dasselbe, was die meisten mit dem Namen des I d e a l e n und R e a l e n bezeichnen. Es verhält sich mit ihm so: Das Sein als Gegenstand des Denkens, inwiefern es uns durch die organische Funktion gegenwärtig wird und werden kann (und dazu gehört die organische Funktion im Denken selbst, wodurch der eine dem anderen gegenwärtig wird), ist das Reale. Das Denken aber, der Prozeß selbst, inwiefern das Sein dadurch dem Denkenden ein Inneres wird und nun vorzugsweise die intellektuelle Funktion im Denken ist, ist das Ideale. Und beides zusammen ist die T o t a l i t ä t d e s S e i n s . Alles aber, was nun in dem Prozeß des Denkens in bezug auf das Sein geschieht, kann nur ein Wissen sein, wo wir überhaupt das Ideale und Reale als gleich setzen können. Wäre diese Voraussetzung falsch, so existierte auch die Idee des Wissens nicht, und es könnte auch gar keinen Trieb dazu geben, weil nie ein Ruhepunkt eintreten könnte. Das Denken ginge seinen Weg für sich und das Sein ebenso (inklusive, daß es den organischen Eindruck in uns hervorbringt). Außerhalb dieses Gegensatzes liegt nichts, was ein wirkliches Denken, und nichts, was ein denkbares, in Wissen auflösbares Sein ist. Wo ein solches vorkommen soll, muß eine Beziehung des Denkens auf das Sein stattfinden, und innerhalb dieser ist allemal jener Gegensatz schon enthalten. Wir haben nun gleich anfänglich, als wir die beiden Formen der Denktätigkeit unterschieden, gesehen, daß die intellektuelle Funktion, anfangend bei der Grenze, nur fortschreiten kann durch Entgegensetzung, wie die organische nur durch Zusammenfassung. Nun sind wir hier im Gebiet des Denkens im engeren Sinne, denn wir sind von dem bloßen Sein, das n o c h k e i n Gedanke ist, fortgeschritten zu S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

einem Gegensatz und haben uns diesen gedacht als das Sein erschöpfend, und dieser i s t ein Gedanke. Jedes Denken ist aber nur ein Wissen, inwiefern ihm eine Wahrnehmung entspricht. Soll also unser jetziges Denken, wonach das Sein in diesen Gegensatz zerspalten sei, ein Wissen sein, so muß auch ihm eine Wahrnehmung entsprechen. Um eine solche Wahrnehmimg zu haben, müssen wir in einer organischen Tätigkeit begriffen sein. Diese ist aber als einzelne nicht das Sein erschöpfend, und wir können das Entsprechende nur in demjenigen finden, was in allen Akten des Denkens gleich gegenwärtig ist und insofern die Totalität des Wahrnehmens in sich schließt. Nun gibt es keine Wahrnehmung, worin nicht unser Selbstbewußtsein und das gegenständliche Bewußtsein eins wären. Das Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein des Denkens, das Ideale, das objektive Bewußtsein das Reale. Beide sind also notwendig immer ineinander; denn ohne Selbstbewußtsein nehmen wir nichts wahr, und ohne das objektive Bewußtsein wird nichts wahrgenommen. Die Forderung, die wir an einen jeden Gedanken als Wissen stellen, ist also hier erfüllt, und wir können vorläufig sagen: dasjenige ist ein Wissen, wenn das Sein in diesem Gegensatz erschöpft ist. Innerhalb desselben müssen alle Denkoperationen begriffen isein und die Totalität aller Beziehungen unserer selbst als Seiender auf das Denken und als Denkender auf das Sein. Alles weitere Denken ist eine Entwicklung und Fortschreitung von diesem allgemeinen Gegensatze aus, und hierin liegt die Entwicklung des ganzen Gebietes des Wissens. 29

Raum- und Zeiterfullung als höchster Gegensatz auf 30.5. der organischen Seite. Da doch einmal das Wissen nur unter den beiden Formen, dem Denken im engeren Sinn und dem Wahrnehmen, möglich ist (das Anschauen ist nur eine approximierende Oszillation jener beiden) runter welche Form gehört dann das eben Gefundene, daß ein Gedanke nicht möglich ist, ohne das Sein in ein Reales und Ideales zu zerspalten, und wie sind wir dazu gekommen? Wir sind dazu gekommen auf dem Wege des Denkens im engeren Sinne, denn unser ganzes Verfahren ist von der Entgegensetzung ausgegangen. Wir müssen nun sehen, unser Resultat

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einem Gegensatz und haben uns diesen gedacht als das Sein erschöpfend, und dieser i s t ein Gedanke. Jedes Denken ist aber nur ein Wissen, inwiefern ihm eine Wahrnehmung entspricht. Soll also unser jetziges Denken, wonach das Sein in diesen Gegensatz zerspalten sei, ein Wissen sein, so muß auch ihm eine Wahrnehmung entsprechen. Um eine solche Wahrnehmimg zu haben, müssen wir in einer organischen Tätigkeit begriffen sein. Diese ist aber als einzelne nicht das Sein erschöpfend, und wir können das Entsprechende nur in demjenigen finden, was in allen Akten des Denkens gleich gegenwärtig ist und insofern die Totalität des Wahrnehmens in sich schließt. Nun gibt es keine Wahrnehmung, worin nicht unser Selbstbewußtsein und das gegenständliche Bewußtsein eins wären. Das Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein des Denkens, das Ideale, das objektive Bewußtsein das Reale. Beide sind also notwendig immer ineinander; denn ohne Selbstbewußtsein nehmen wir nichts wahr, und ohne das objektive Bewußtsein wird nichts wahrgenommen. Die Forderung, die wir an einen jeden Gedanken als Wissen stellen, ist also hier erfüllt, und wir können vorläufig sagen: dasjenige ist ein Wissen, wenn das Sein in diesem Gegensatz erschöpft ist. Innerhalb desselben müssen alle Denkoperationen begriffen isein und die Totalität aller Beziehungen unserer selbst als Seiender auf das Denken und als Denkender auf das Sein. Alles weitere Denken ist eine Entwicklung und Fortschreitung von diesem allgemeinen Gegensatze aus, und hierin liegt die Entwicklung des ganzen Gebietes des Wissens. 29

Raum- und Zeiterfullung als höchster Gegensatz auf 30.5. der organischen Seite. Da doch einmal das Wissen nur unter den beiden Formen, dem Denken im engeren Sinn und dem Wahrnehmen, möglich ist (das Anschauen ist nur eine approximierende Oszillation jener beiden) runter welche Form gehört dann das eben Gefundene, daß ein Gedanke nicht möglich ist, ohne das Sein in ein Reales und Ideales zu zerspalten, und wie sind wir dazu gekommen? Wir sind dazu gekommen auf dem Wege des Denkens im engeren Sinne, denn unser ganzes Verfahren ist von der Entgegensetzung ausgegangen. Wir müssen nun sehen, unser Resultat

Der Gegensatz von Raum- und Zeiterfüllung

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auch von der anderen Seite aus zu bewähren. Daraus folgt nun nicht, daß wir von Anfang an den umgekehrten Weg gehen müssen; es genügt vielmehr, daß wir unseren ganzen bisherigen Gang nach dieser Seite hinüber parallelisieren. In beiden Funktionen, der organischen und intellektuellen, X X I X . Was wir also hier dem Wissen zum Grunde legen, das verhält sich zu dem dem bloßen Denken zum Grunde Gelegten wie das Erfüllte zum Leeren. Das bloße Sein, ohne einen Gegensatz mitzusetzen, ist leer, deshalb nur Gedankengrenze; das durch einen höchsten Gegensatz, der zugleich Quelle vieler untergeordneten sein kann, zusammengefaßte Sein ist ein erfülltes. R a u m - und Z e i t e r f ü l l u n g als B i l d des Idealen und R e alen. Wir sind aber zu diesem Gegensatz auch auf demselben Wege gekommen, also unter der Form des Denkens im engeren Sinn. Soll nun der Gegensatz ein Wissen sein, so muß ihm etwas entsprechen, wozu wir auf dem organischen Wege gelangen unter der Form der Wahrnehmung. Also, anfangend von dem Gegenstück des bloßen Seins, ist die unbestimmte Mannigfaltigkeit der Eindrücke ein Stetiges, d. h., worin jede Trennung nur Willkür ist. Wenn nun getrennt werden soll nach Analogie, so ist das dem Sein Entsprechende die Raumerfüllung und das dem Denken Entsprechende die Zeiterfüllung. Denn diese enthält die Auffassung, in jene1) aber verweisen wir das, was zu der Auffassung als Leidendem das Tätige ist. Absolut läßt sich beides nicht trennen, aber das Maximum des Gegensatzes ist, wenn das eine kann als Minimum gesetzt werden und das andere als Maximum, weil nämlich der absolute Gegensatz wäre, wenn eines gesetzt wäre und das andere nicht gesetzt. Also jeder Zeitmoment bezieht sich auf eine unendliche Raumerfüllung, jeder Raumpunkt auf eine unendliche Zeiterfüllung. Offenbar aber ist die Auffassung das im Wahrnehmen, was dem Denken entspricht, die Zeiterfüllung also das Ideale; die Einwirkung dasjenige, was dem Sein entspricht, und wodurch sich eben die Auffassung auf ein gegenständliches Wahrgenommenes bezieht, also der Raum das Reale. Wenn also Zeiterfüllung zu Raumerfüllung wie Ideales zu Realem, dann auch die unbestimmte Mannigfaltigkeit, unter diesem Gegensatz gefaßt, zu dem Sein, unter jenem Gegensatz gefaßt, wie der organische Pol zum intellektuellen, also wie Bild zum Begriff. Denn wo die intellektuelle Seite überwiegt, da dominiert das Zusammengreifen des Entgegengesetzten; wo die organische Seite überwiegt, da dominiert das Bild, d. h. die Begrenzung des Stetigen. J e mehr nun beides approximiert und die lebendige Entgegensetzung als Zeiterfüllung gebildet wird und die Raumerfüllung als Denkbares entgegengesetzt, um desto mehr wird die Gleichsetzung selbst lebendige Anschauung. Hs. „jenen" 13*

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fanden wir, wenn wir die beiden Seiten isolierten, einen conatus zum Denken, der selbst noch kein Denken war: der Möglichkeit des Denkens im engeren Sinne lag die Vorstellung des bloßen Seins zugrunde; der Möglichkeit des Wissens die Vorstellung des Seins in seinen Gegensätzen. Beide verhalten sich zueinander wie L e e r e und F ü l l e ; denn das bloße Sein kann zur Erfüllung des Bewußtseins nicht ohne organische Tätigkeit kommen. Das Sein aber, welches durch den höchsten Gegensatz alle anderen in sich begreift, ist absolute Fülle. Nun müssen wir auf den gegenüberstehenden Punkt gehen. Der organischen Seite lag das Chaos, die unbestimmte Mannigfaltigkeit der Impressionen, zugrunde, das Affiziertsein im allgemeinen, ohne eine Tendenz zur Bestimmung einer Einheit. Diese rein unbestimmte Mannigfaltigkeit, ohne Hinzutreten der intellektuellen Funktion, ohne bestimmten Grund der Teilung und Sonderung (jede Trennung wäre ein Akt der Willkür, denn wir müßten einige organische Funktionen schließen, während wir sie alle geöffnet gesetzt haben. Dieses Verschließen ist ein partielles Nichtwollen, also ein rein Willkürliches) ist das, was wir als das Stetige (continuum) bezeichnen. Ihr gegenüber liegt die wesentliche Form der intellektuellen Funktion als Entgegensetzung. Was ich entgegensetze, denke ich von vornherein als ein Auseinander, ein Diskretes. Das Stetige können wir uns nicht denken ohne das Bestreben, zu trennen und gleichzusetzen. Der Stetigkeit steht also gegenüber die Möglichkeit der Trennung. Für dieses Stetige sind uns zwei Formen gegeben — R a u m und Z e i t . Und so denken wir uns die unbestimmte Mannigfaltigkeit als zweifach stetig, als allgemeine Raumund Zeiterfüllung. Wir können Impressionen nicht anders auffassen als in der Zeit, aber so, daß wir sie beziehen auf den Raum. Das Außer-uns, abstrahiert von der Zeit, ist die allgemeine Raumerfüllung; das Außer-uns, abstrahiert vom Raum, ist die allgemeine Zeiterfüllung. Aber jeder Moment der Zeit führt mit seinem Inhalt auf eine allgemeine Raumerfüllung, jeder Punkt des Raumes auf eine allgemeine Zeiterfüllung zurück. Wir werden also sagen müssen: Wennsich die organische Seite der Denktätigkeit verhält zur intellek-

Der Gegensatz von Raum- und Zeiterfüllung

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tuellen wie jener allgemeine Conatus, der im Chaos liegt, zum allgemeinen Conatus im bloßen Sein, so verhält sich auch ebenso der Gedanke des Seins unter dem Gegensatz des Idealen und Realen zu dem unbestimmten Bilde der Mannigfaltigkeit der Impressionen unter dem Gegensatz der Raum- u n d Zeiterfüllung. Die Mannigfaltigkeit der Impressionen, die durch Zeit und Raum bestimmt wird, ist parallel dem Gegensatz des Idealen und Realen. Beides ist dasselbe, nur das eine auf die Weise der intellektuellen, das andere auf die der organischen Funktion gesetzt. Wir werden dies näher zu prüfen haben, denn bis jetzt haben wir nur einen Parallelismus gesetzt; es f r a g t sich aber, ob auch der Gehalt hiermit übereinstimmt. Wenn wir uns selbst als die Identität des Seins und des Denkens bewußt sind und uns gegeneinander ein denkendes Sein und ein seiendes Denken sind, so repräsentiert hier das Ideale das Denken und das Reale das Sein. Das Reale ist, was im denkenden Sein das Sein ist, und das Ideale, was im seienden Denken das Denken ist. D a ß das Denken ein Sein wird, geschieht durch die organische Seite, wo es schon fixiert ist als Erinnerung; oder es kommt uns durch Analogie oder Ähnlichkeit wieder vor. Wogegen überall die Entgegensetzung das Denken repräsentiert, also das ideale Sein. Werden wir dies auch durchführen können von der Seite der organischen Impression? Verhält es sich so, d a ß der Gegensatz von Raum- und Zeiterfüllung höchster Gegensatz ist, der alles von dieser Seite umfasse? Wir werden dies nicht leugnen können. D a ß an sich die Raumerfüllung uns das Sein repräsentiert, ist offenbar. Denn das Denken, an sich betrachtet, der organischen Seite gegenüberstehend und also von der intellektuellen Funktion aus angesehen, hat als ein rein Inneres mit dem Raum nichts zu schaffen. Repräsentiert uns nun eine bestimmte Zeiterfüllung mehr das Denken im Sein als das Sein im Denken ? — Eine absolute Trennung können wir hier nicht machen; denn jeder Denkakt geht auf eine Raumerfüllung zurück. Wir können also nur relativ trennen, indem wir das eine als Minimum u n d das andere als Maximum setzen. Was ist nun hier die größte relative Trennung? Wir setzen eine Zeiterfüllung als Minimum und

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eine Raumerfüllung als Maximum, d. h. das Minimum von Zeit, erfüllt durch das Maximum von Raum. Dies ist offenbar realisiert in jedem Moment organischer Impression; denn in einem solchen ist das Bewußtsein mehr oder weniger durch die ganze Raumerfüllung erfüllt. Nim ist aber die Auffassung in die Zeit gesetzt und das Aufgefaßte in den Raum. Also entspricht die Zeit dem Akt der Auffassung, also dem Denken; denn die Auffassimg ist dasjenige, wodurch die organische Impression übergeht ins Denken. Der Raum repräsentiert das Gedachte. So entsprechen sich Raum und Zeit. R a u m i s t a l s o d i e o r g a n i s c h e W e i s e , d a s j e n i g e z u s e t z e n , w a s in d e r i n t e l l e k t u e l l e n F u n k tion als das R e a l e gesetzt w i r d ; und Zeit nichts a n d e r e s a l s d i e o r g a n i s c h e W e i s e , d a s j e n i g e zu s e t z e n , was wir auf der i n t e l l e k t u e l l e n S e i t e als I d e a l e s setzen. Wie verhält sich nun ein Akt des Denkens mit überwiegender organischer Funktion zu einem Akt mit überwiegender intellektueller? Wir werden schwerlich etwas anderes finden können als das B i l d und den B e g r i f f ; beides als dasselbe gesetzt, aber auf andere Weise. D e r e r f ü l l t e R a u m ist n i c h t s a n d e r e s als das B i l d d e s r e a l e n S e i n s ; die e r f ü l l t e Z e i t nichts als das B i l d des i d e a l e n Seins. Das i d e a l e Sein ist d e r B e g r i f f d e r e r f ü l l t e n Z e i t , d a s r e a l e S e i n d e r B e g r i f f d e s erf ü l l t e n R a u m e s . D a ß überall im Denken, wo die organische Funktion dominiert, das Bild dominiert, ist klar. Und dort, wo die intellektuelle Seite dominiert, dominiert das Begreifen. Es gibt kein Entgegensetzen, was ein wirkliches Denken wäre, wenn wir nicht zugleich zusammenfassen. Auch der Gegensatz ideal und real ist nicht eher ein Gedanke, als bis er zusammengefaßt ist. Dieses Zusammenfassen des Entgegengesetzten ist das Begreifen, dem das Bild ganz entgegensteht auf der organischen Seite. Je mehr eins das andere durchdringt, d. h. je mehr die Raumerfüllung alles das umfaßt, was das Reale im Denken ist; und je mehr die Zeiterfüllung uns als der Zusammenhang und das Ideale im Denken erscheint, desto näher kommen wir der Anschauung.

Der höchste Gegensatz

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Die Anschauung als die dritte Form ist das absolute Ineinandersein von B i l d und Begriff. Raum und Zeit gehen rein auf die organische Tätigkeit und sind das reine Schema und Substrat alles Bildlichen. Die Zusammenfassung beider ist die Totalität des Bildlichen unter dem höchsten Gegensatz. Die andere Seite ist die Totalität des Denkens im engeren Sinne unter dem höchsten Gegensatz des Idealen und Realen zusammengefaßt. Beides steht also von beiden Seiten einander gegenüber, und beides ist einander gleich. 30-

Verhältnis des höchsten Gegensatzes zur transzenden-

31.6. talen Aufgabe. Nim kommt es zunächst darauf an, zu fragen, wie sich das Gefundene zu unserer eigentlichen AufX X X . Thema wie oben. Indem nun aber dieser Gegensatz wegen des Vorhandenseins in den zwei entgegengesetzten Formen als ein wirkliches Wissen erscheint, so ist er nicht das geforderte Transzendentale, welches in keinem wirklichen Denken vorkommt. a) Als G r u n d l a g e des Z u s a m m e n h a n g e s . Sehen wir darauf, daß das einzelne adäquate Wissen bedingt ist durch den Zusammenhang alles Wissens, und also die Grundlage von jenem auch die Grundlage von diesem sein muß, und wir denken uns im höchsten Gegensatz und seiner Zusammenfassung alle untergeordneten mit ihrer Zusammenfassung, und ebenso in 1 ) der ursprünglichen Zeitbestimmung aus der allgemeinen Raumerfüllung, und der ursprünglichen Raumbestimmung aus der allgemeinen Zeiterfüllung2) in allen sukzessiven Bestimmungen begriffen, und reduzieren immer beide Seiten aufeinander, so ist alsdann die Totalität alles Wissens, und zwar im absoluten Zusammenhang, sowohl dem Stetigen als dem der Entgegensetzung, gegeben. Diese Totalität ist also in unserem Ergebnis implizite mitgesetzt, d. h. also wirklich nicht mitgesetzt, aber so, daß im obigen die ganze Bedingung dazu enthalten ist. Von dieser Seite also wäre die Aufgabe gelöset. — b) Als G r u n d l a g e des e i n z e l n e n W i s s e n s . Was aber das einzelne Wissen betrifft, so ist sie nicht gelöset, wenn und sofern das Gefundene ein wirkliches Wissen ist. Nun ist alles daran Wissen, außer das vorausgesetzte Sein an sich (die Gedankengrenze), worin der Gegensatz zusammengefaßt ist. Diese ist das Transzendente, welches also hier nur nicht von dem wirklichen Wissen gelöset ist. Also ist die Aufgabe unvollkommen gelöset. (? Warum aber, da ja, was kein wirkliches Denken ist, niemals 3 ) an und für sich vorkommen kann?)«) Hs.: „von"; korr. v. Hg. ') Jon.: „auch niemals".

2)

Hs.: „Zeiterfüllung aus". *) Bemerkg. im Text.

Der höchste Gegensatz

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Die Anschauung als die dritte Form ist das absolute Ineinandersein von B i l d und Begriff. Raum und Zeit gehen rein auf die organische Tätigkeit und sind das reine Schema und Substrat alles Bildlichen. Die Zusammenfassung beider ist die Totalität des Bildlichen unter dem höchsten Gegensatz. Die andere Seite ist die Totalität des Denkens im engeren Sinne unter dem höchsten Gegensatz des Idealen und Realen zusammengefaßt. Beides steht also von beiden Seiten einander gegenüber, und beides ist einander gleich. 30-

Verhältnis des höchsten Gegensatzes zur transzenden-

31.6. talen Aufgabe. Nim kommt es zunächst darauf an, zu fragen, wie sich das Gefundene zu unserer eigentlichen AufX X X . Thema wie oben. Indem nun aber dieser Gegensatz wegen des Vorhandenseins in den zwei entgegengesetzten Formen als ein wirkliches Wissen erscheint, so ist er nicht das geforderte Transzendentale, welches in keinem wirklichen Denken vorkommt. a) Als G r u n d l a g e des Z u s a m m e n h a n g e s . Sehen wir darauf, daß das einzelne adäquate Wissen bedingt ist durch den Zusammenhang alles Wissens, und also die Grundlage von jenem auch die Grundlage von diesem sein muß, und wir denken uns im höchsten Gegensatz und seiner Zusammenfassung alle untergeordneten mit ihrer Zusammenfassung, und ebenso in 1 ) der ursprünglichen Zeitbestimmung aus der allgemeinen Raumerfüllung, und der ursprünglichen Raumbestimmung aus der allgemeinen Zeiterfüllung2) in allen sukzessiven Bestimmungen begriffen, und reduzieren immer beide Seiten aufeinander, so ist alsdann die Totalität alles Wissens, und zwar im absoluten Zusammenhang, sowohl dem Stetigen als dem der Entgegensetzung, gegeben. Diese Totalität ist also in unserem Ergebnis implizite mitgesetzt, d. h. also wirklich nicht mitgesetzt, aber so, daß im obigen die ganze Bedingung dazu enthalten ist. Von dieser Seite also wäre die Aufgabe gelöset. — b) Als G r u n d l a g e des e i n z e l n e n W i s s e n s . Was aber das einzelne Wissen betrifft, so ist sie nicht gelöset, wenn und sofern das Gefundene ein wirkliches Wissen ist. Nun ist alles daran Wissen, außer das vorausgesetzte Sein an sich (die Gedankengrenze), worin der Gegensatz zusammengefaßt ist. Diese ist das Transzendente, welches also hier nur nicht von dem wirklichen Wissen gelöset ist. Also ist die Aufgabe unvollkommen gelöset. (? Warum aber, da ja, was kein wirkliches Denken ist, niemals 3 ) an und für sich vorkommen kann?)«) Hs.: „von"; korr. v. Hg. ') Jon.: „auch niemals".

2)

Hs.: „Zeiterfüllung aus". *) Bemerkg. im Text.

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gäbe verhält. Wir sagten: Der Gegensatz des Realen und Idealen sei der höchste, unter welchem das ganze Sein, der Gegensatz von Raum- und Zeiterfüllung der höchste, unter welchem die chaotische Mannigfaltigkeit der Impressionen zusammengefaßt sei. Die allgemeine Aufgabe, die Methode zur Auflösung streitiger VorsteEungen zu lösen, griffen wir von der transzendentalen Seite an und suchten das, was allem Wissen zugrunde liegt. Unser Aufgefundenes liegt nun — was die Prinzipien sowohl wie den Zusammenhang des Wissens betrifft — allerdings allem Wissen zugrunde. Wer ein Wissen will, muß auch die Konstitution des Gegensatzes des Idealen und Realen wollen. Denn indem darin ausgesprochen ist die Beziehung des Denkens und Seins in ihrem Maximum, so ist dadurch das Wissen von allem unvollkommenen Denken unterschieden. Je größer diese Beziehung ist, desto mehr wird es ein Wissen. Ebenso haben wir gesehen, daß es für jedes Wissen gleich sein muß, ob es von der organischen oder intellektuellen Funktion ausgegangen ist. Also sind diese beiden als zusammengehörig gesetzt,und die Genesis des Denkens können wir uns von beiden Seiten aus konstruieren. Das setzt aber voraus eine Unabhängigkeit des einen von deim anderen, die in unserem Gegensatz ebenfalls ausgedrückt ist. Denn wir haben den Gegensatz des Idealen und Realen als das Höchste im Sein selbst gesetzt, indem wir von der Voraussetzung ausgingen, daß uns das Sein im Denken, d. h. in den Denkenden gegeben sei. Indem das Ideale dem Denken im Denken, das Reale dem Sein im Denken entspricht, so entspricht derselbe Gegensatz den beiden Funktionen im Denken, und also werden diese selbst voneinander unabhängig. Beide Funktionen sind also nur im Sein an und für sich begründet. Wer ein Wissen, will, der will ein unabhängiges Verhältnis dieser beiden Funktionen; und dies sind sie nur, wenn sie sich als gleichgeltend darstellen. Also zeigt sich dieser Gegensatz als dasjenige, was dem Bestreben, ein Wissen hervorzubringen, zugrunde liegt. Und wenn er nicht anerkannt wird, so fällt das Bestreben selbst zusammen. Wir haben gesagt: Als Grundlage unseres Prozesses müßten wir einen höchsten Gegensatz finden, der allem Wissen

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vorangeht, selbst aber im gewöhnlichen wirklichen Denken nicht vorkommt. Denn käme er vor, so wäre er nur ein untergeordneter und darum oft streitiger. Wie ist es nun mit dem Gegensatz, den wir aufgestellt haben; gehört er nicht schon dem Denken an? Wir haben ihn doch unter einer Form des wirklichen Denkens gefunden und suchten ihn hernach von der anderen Seite. Dann ist er also nicht das, was wir suchen. Hier müssen wir zugleich noch auf den zweiten Punkt sehen, daß nämlich kein Wissen sei, ehe nicht der allgemeine Zusammenhang alles Wissens gegeben ist. Was also dem Wissen vorausgeht, muß auch diesem Zusammenhang vorausgehen. Nun ist der Gegensatz des Realen und Idealen der höchste auf der intellektuellen Seite, und der der Raumund Zeiterfüllung der höchste Gegensatz auf der organischen Seite des Denkens. Diese höchsten Gegensätze setzen die Möglichkeit einer Entwicklung untergeordneter Gegensätze voraus, die nun noch, zusammengefaßt werden können durch die Zusammenfassung jenes Gegensatzes. Denken wir uns von diesem Gegensatz aus das Denken durch das Wahrnehmen ergänzt, alle untergeordneten Gegensätze entwickelt und das Verfahren vollendet, so haben wir den allgemeinen Zusammenhang des Wissens. Denken wir andererseits, wie sich die unbestimmte Mannigfaltigkeit der organischen Impressionen als ein Stetiges entwickelt, und wie wir immer in dem doppelten Prozeß der Zeitbestimmung unter der unbestimmten Raumerfüllung und umgekehrt begriffen sind, und suchen das Entsprechende auf der intellektuellen Seite, so kommen wir auch von dieser Seite aus zu allem Zusammenhang. In beiden zusammen und in ihrer relativen Entgegensetzung auf die Approximation der Anschauung bezogen, ist der Zusammenhang alles Wissens implizite enthalten. Unter der Form des wirklichen Denkens und des wirklichen Wahrnehmens ist der allgemeine Zusammenhang noch nicht gegeben, aber er kann durch einen stetigen Prozeß daraus entwickelt werden. Beziehen wir das Aufgefundene auf das einzelne Wissen, so werden wir es nach allem übrigen Gefundenen und Bestätigten als ein wirkliches Wissen bezeichnen müssen. Es ist nämlich in ihm zweierlei gesetzt, was wir noch nicht geschieden haben. Die Form des Denkens im engeren Sinn

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besteht in Entgegensetzung und Zusammenfassung des Entgegengesetzten. So ist also auch der höchste Gegensatz eine Entgegensetzung, also ein Gedachtes, und das Denken in dieser Form ein wirkliches Denken, also kein Transzendentes und keine Voraussetzung des Denkens. Es ist aber zugleich auch, weil wir ihm gegenüber ein Bildliches fanden und beides ineinander denken konnten, ein wirkliches Wissen. Ein wirkliches Wissen aber ist nicht bloße Entgegensetzung an und für sich, sondern zusammengefaßte Entgegensetzung. Das Gefundene konnte also nur ein wirkliches Wissen sein, wenn wir es zusammenfassen unter der Form des erschöpften Seins. Der höchste Gegensatz, als das Sein an sich erschöpfend, ist also die Grenze des wirklichen Wissens, die wir immer denken wollen und nicht denken können. Das Wissen geht erst an, indem wir diesen Gegensatz auf die Raum- und Zeiterfüllung beziehen. Das Transzendente ist also nur in diesem Vorausgehen. So haben wir allerdings einen Schritt weiter getan und in der Zusammenfassung der höchsten Gegensätze die Basis der Konstruktion alles Wissens gefunden. Aber das Gesuchte in seiner Vollkommenheit haben wir noch nicht gefunden. Die Gedankengrenze wird nur ein wirkliches Denken, insofern wir sie uns erfüllt denken durch den Gegensatz. Das eigentlich Transzendentale haben wir noch nicht, denn es ist in einer Verbindung, zu deren Lösung wir noch einen anderen Weg einschlagen müssen. Wir haben das Denken bisher immer nur an sich betrachtet, ohne es zu zerlegen. Nun wollen wir es uns in seinen verschiedenen Formen vorhalten, weil wir noch eines Neuen bedürfen zur Vollendung des Vorigen, was sich uns nur durch die Unterscheidung entwickeln kann. Könnten wir uns ein wirkliches Denken konstruieren, so ist zu fragen: wird dies nur eingestaltig sein oder werden wir hier verschiedene Formen aufstellen können? — Nun gibt es zwei Formen, unter denen Vorstellungen streitig sein können: B e g r i f f e und U r t e i l e . Andere streitige Formen des Bewußtseins und andere Weisen der Verknüpfung als die Verknüpfung der Merkmale im Begriff und der Begriffe im Urteil keimen wir nicht. Alles übrige ist nur Ausgleichungs-

Begriff und Urteil

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mittel. Doch müssen wir uns noch überzeugen, d a ß diese beiden Formen die Verknüpfung erschöpfen. Gibt es aber jenseits und zwischen beiden kein Drittes, so haben wir unsere A u f g a b e vollständig gefunden. Denn die transzendentale und formale Seite unserer A u f g a b e sind in gewisser Hinsicht ein und dasselbe. In der Lösung muß also etwas sein, was auf die Identität des Transzendentalen und F o r malen geht. S o muß alles Denken an dieser Verknüpfimg teilnehmen, und wir müssen daher das Wissen von seiten seiner Verknüpfung betrachten.

2. Aufsuchung dessen, was in der transzendentalen Seite der formalen entspricht (Schi.) 31 -

Gegenseitige Beziehung von Begriff und Urteil. W i r müssen hierbei zurückgehen auf die Feststellung, d a ß in ^bis^ jedem Denken die beiden Seiten der Denktätigkeit sind. Im 142 B e g r i f f dominiert die intellektuelle Seite, denn er ist eben die Zusammenfassung des Unterschiedenen und also relative Entgegensetzung; die organische Funktion tritt zurück. Das B i l d wird darin als ein Minimum enthalten sein, wie wir uns denn keines B e g r i f f e s bewußt sind, worin nicht ein Schema wäre vom Gegenstande. Im B e g r i f f im weiteren Sinne kann auch das B i l d hervortreten. Im Bilde ist ein Thema wie oben.

Nun aber fehlt uns auch der Form nach noch etwas. Denn sofern in gewisser Hinsicht die transzendentale und formale Seite dasselbe sein sollen, muß in jener etwas sein, was dieser entspricht und sie daxin repräsentiert, und dies ist aufzusuchen, aber auch als etwas außer dem wirklichen Denken Vorkommendes. Jene Identität aber war nur unter der Bedingung möglich, daß jedes Wissen selbst schon ein verknüpftes sei, und wir müssen also, um das diese Eigenschaft Begründende in der Grundlage zu finden, das W i s s e n als v e r k n ü p f t e s betrachten. B e g r i f f u n d U r t e i l . Im Zustande streitiger Vorstellungen finden wir nur zweierlei streitig: Begriffe und Urteile; alles andere ist nur Ausgleichung. Begriff ist Verknüpfung von Merkmalen, Urteü ist Verknüpfung von verschiedenartigen Begriffen. Wollen wir nun freilich diese Duplizität ansehen als die Formen des Wissens, sofern es ein verknüpftes ist, erschöpfend, so hätten

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mittel. Doch müssen wir uns noch überzeugen, d a ß diese beiden Formen die Verknüpfung erschöpfen. Gibt es aber jenseits und zwischen beiden kein Drittes, so haben wir unsere A u f g a b e vollständig gefunden. Denn die transzendentale und formale Seite unserer A u f g a b e sind in gewisser Hinsicht ein und dasselbe. In der Lösung muß also etwas sein, was auf die Identität des Transzendentalen und F o r malen geht. S o muß alles Denken an dieser Verknüpfimg teilnehmen, und wir müssen daher das Wissen von seiten seiner Verknüpfung betrachten.

2. Aufsuchung dessen, was in der transzendentalen Seite der formalen entspricht (Schi.) 31 -

Gegenseitige Beziehung von Begriff und Urteil. W i r müssen hierbei zurückgehen auf die Feststellung, d a ß in ^bis^ jedem Denken die beiden Seiten der Denktätigkeit sind. Im 142 B e g r i f f dominiert die intellektuelle Seite, denn er ist eben die Zusammenfassung des Unterschiedenen und also relative Entgegensetzung; die organische Funktion tritt zurück. Das B i l d wird darin als ein Minimum enthalten sein, wie wir uns denn keines B e g r i f f e s bewußt sind, worin nicht ein Schema wäre vom Gegenstande. Im B e g r i f f im weiteren Sinne kann auch das B i l d hervortreten. Im Bilde ist ein Thema wie oben.

Nun aber fehlt uns auch der Form nach noch etwas. Denn sofern in gewisser Hinsicht die transzendentale und formale Seite dasselbe sein sollen, muß in jener etwas sein, was dieser entspricht und sie daxin repräsentiert, und dies ist aufzusuchen, aber auch als etwas außer dem wirklichen Denken Vorkommendes. Jene Identität aber war nur unter der Bedingung möglich, daß jedes Wissen selbst schon ein verknüpftes sei, und wir müssen also, um das diese Eigenschaft Begründende in der Grundlage zu finden, das W i s s e n als v e r k n ü p f t e s betrachten. B e g r i f f u n d U r t e i l . Im Zustande streitiger Vorstellungen finden wir nur zweierlei streitig: Begriffe und Urteile; alles andere ist nur Ausgleichung. Begriff ist Verknüpfung von Merkmalen, Urteü ist Verknüpfung von verschiedenartigen Begriffen. Wollen wir nun freilich diese Duplizität ansehen als die Formen des Wissens, sofern es ein verknüpftes ist, erschöpfend, so hätten

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Etwas von Begriff, und die Entgegensetzung ist als ein Minimum enthalten. Gehen wir noch weiter und abstrahieren von der Entgegensetzung, so verlieren wir auch das Bild und bekommen die unbestimmte Mannigfaltigkeit von Impressionen. Das Denken hört endlich auf, und es ist dann nichts weiter gesetzt als die organische Impression selbst, nur in ihrer Beziehung auf die Organe, nicht auf objektive Weise, d. h. es bleibt nur das E m p f i n d e n . Der Begriff, mehr auf die organische Seite reduziert, ist die Grenze des Denkens nach der Seite der Empfindung. Indem wir Begriff und Urteil als relativ einander entgegengesetzt ansehen, wollen wir das Minimum des Begriffs dem Maximum des Urteils gegenüberstellen. Was können wir noch jenseits des Urteils haben? Ein Urteil ist eine Verknüpfung von Begriffen, in der die Stärke der Überzeugung gesetzt ist, womit wir die Verknüpfung vornehmen. Es ist eine Handlung, die wir vornehmen, die unter die Rubrik der Denktätigkeit gehört, eine Aussage über etwas, das im System des Seins gesetzt ist. Mit diesem Sein stehen wir in beständigem zweifachen Verhältnis. Bald agieren wir nach außen, bald fühlen wir uns von demselben bewegt und finden Widerstand. In einem solchen doppelten Verhältnis von Aktion und Reaktion gegen die Totalität der Welt befinden wir uns immer. Die Verknüpfimg im Urteil ist eine Aktion wir dazu kein volles Recht und stellten mithin unser Verfahren unter eine neue Bedingung. Nämlich alles Folgende würde nur gültig sein, sofern es keine anderen gäbe, und wir müßten also anheimstellen, ob jemand uns andere brächte. Daher also ist es besser, die Frage gleich zu stellen, ob dies alle Formen des W i s s e n s sind. Wobei nur zu bemerken: i. Die Bezeichnungen sind von der intellektuellen Seite her genommen, und es versteht sich, daß ihnen auf Seiten der Wahrnehmung etwas entsprechen muß; was aber, interessiert uns hier nicht, da wir überwiegend im intellektuellen Prozeß begriffen sind. 2. Das Verfahren kann kein andres sein, als daß wir beide in ihrem Unterschied als Endpunkte setzen und fragen, was außerhalb derselben läge, ob das noch ein Denken sein könnte. 3. Es muß nicht nur kein anderes Wissen geben, sondern auch kein anderes Denken; denn der Unterschied zwischen Wissen und anderem Denken liegt nicht in der Form an sich. Sondern, gäbe es noch ein Denken, was weder Begriff noch Urteil wäre, so müßte auch unter dieser Form gewußt werden können.

Begriff und Urteil

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in uns. Sehen wir sie an als eine im Sein gesetzte, so kommen wir mittelbar oder unmittelbar auf eine organische A f f e k tion zurück. Beruht sie auf Wahrnehmung, so ist es die Erfahrung. Betrachten wir die Reaktion in ihrem Ursprung bei uns selbst, so liegt ihr ein W o l l e n zum Grunde. U n d w i e d i e G r e n z e d e s B e g r i f f s d a s E m p f i n d e n i s t , so i s t d a s W o l l e n d i e G r e n z e d e s U r t e i l s . Die Vergleichung von Begriff und Urteil bringt uns also an die Grenze des Denkens, so daß das ganze Denken vom Minimum des Begriffs bis zum Maximum des Urteils in diese Grenzen eingeschlossen sein muß. Es wäre eine unendliche Forderung, zu beweisen, daß es außer den beiden Denkformen keine dritte gebe. Wir müssen uns dabei beruhigen, bis uns jemand solche dritte Form produziert. Können wir aber nicht wenigstens aus dem Verhältnis zwischen Begriff und Urteil anschaulich machen, daß ein drittes unmöglich ist? Betrachten wir zuerst das Urteil als Verknüpfung, so können wir uns wohl, wenn uns ein Subjekt gegeben ist, eine Menge von Urteilen denken über dasselbe Subjekt. Dies erscheint also als die Einheit, und das Urteil als die Vielheit; das Subjekt als das Beharrliche, und das Urteil als das Wechselnde. Fixieren wir z. B. einen Gegenstand aus der organischen Impression und folgen ihm als einem Begriff durch viele Zustände, so sind dies Urteile; aber der eine Gegenstand bleibt. D u r c h d e n B e g r i f f w i r d a l s o d a s B e h a r r l i c h e g e s e t z t , denn das Subjekt ist immer Beg r i f f , und d u r c h d a s U r t e i l w i r d d a s W e c h s e l n d e gesetzt. Gibt es nun außer dem Beharrlichen und Wechselnden noch ein Drittes? — Man ist wohl gewohnt, die Denkformen so zu teilen, daß man aufeinander folgen läßt: Begriff, Urteil und Schluß. Aber dieses Dritte existiert eigentlich gar nicht. Ein S c h l u ß ist nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Urteilen, wodurch ein Urteil aufgelöst wird. Das letzte ist die Konklusion. Das Wissen im Syllogismus ist entweder diese Konklusion selbst oder das Verhältnis der Urteile untereinander. Auf der einen Seite fällt also der Syllogismus unter das Urteil; auf der anderen Seite ist hier nur ein Verhältnis von Urteilen; d. h., das eine Urteil ist

igo

Friedrich Schleiermachers Dialektik

gleichsam das Subjekt, das andere gleichsam das Prädikat; und also ist der ganze Schluß ein Urteil und bleibt also ganz in diesem Gebiet. Begriff und Urteil erschöpfen mithin alles Denken. Wir können daher wohl weiter fortschreiten und f r a g e n : Wie verhalten sich beide als Wissen und in der Genesis des Denkens? Jedes Urteil setzt seinem Wesen nach den Begriff voraus. Bisweilen sind beide Elemente des Urteils allgemeine Begriffe; bisweilen ist das Subjekt ein mehr Bildliches, ein aus der Mannigfaltigkeit der organischen Impressionen gerissenes Ding. Ein einzelnes Bild, sobald es Subjekt ist, ist unter einen Begriff subsumiert. Das nun, was vom Subjekt prädiziert wird, ist auch bisweilen eine unmittelbare sinnliche Vorstellung; allein diese ist auch unter den Begriff aufgenommen. E s m u ß die Identität der beiden Seiten in sich tragen, denn es wird gedacht. Sobald ein Ding einen Namen bekommt, ist es seihon ein Allgemeines geworden und mannigfach modifikabel. Beides im Urteil ist also schon vorher als Begriff gesetzt. Das ist zugleich das Maß des Urteils, welches desto vollkommener ist, je mehr das darin Gesetzte als Begriff gesetzt ist. Wenn ich z. B. sage: „Das Metall glänzt", und ich nehme ein bestimmtes Metall, nicht den allgemeinen Begriff, so ist „glänzen" eine organische Affektion. Aber indem sie einen Namen bekommen hat, ist sie allgemeine Vorstellung geworden, hat Modifikabilität (wie denn die Chemiker mehrere Arten des Glanzes aufzählen); trägt also die Entgegensetzung in sich und ist also Begriff. Das Urteil setzt also auf jede Art den Begriff voraus. Dies ist zugleich der Mäßstab des Urteils: es ist um so vollkommener, je mehr, und um so unvollkommener, je weniger vom Begriff darin vorkommt. Sage ich z. B. ganz unbestimmt: „Da glänzt etwas" und beziehe das „glänzt" auf ein unbekanntes X, dann ist es bezogen, aber nicht auf etwas Bestimmtes. Im Glänzen sind auch die verschiedenen Modifikationen noch nicht gesetzt, sondern es ist eine mannigfaltige Unbestimmtheit darin. Teile ich mir aber die sinnliche Vorstellung nach den verschiedenen mineralogischen Benennungen von Glanz, so wird das Urteil immer vollkommener.

Begriff und Urteil Mit dem Begriff steht es auch so, indem er seinerseits das Urteil voraussetzt. Wollen wir uns einen B e g r i f f deutlich machen, so müssen wir so vollkommen wie möglich uns eine Mannigfaltigkeit von Merkmalen zusammenordnen. Z u den Merkmalen kommen wir nicht anders als durch das Urteil. U n d verfolgen wir den Begriff wie vorher vom organischen Minimum her („dort glänzt etwas"), so müssen wir eine Menge Urteile fällen, ehe wir zum Begriff kommen. Dies ist aber nur e i n Ursprung des B e g r i f f s ; wir müssen ihn auch noch von der intellektuellen Seite aus betrachten. D a haben wir als sein Wesen die Entgegensetzung. J e d e Entgegensetzung ist eine Scheidung, die nicht anders als durch ein Urteil vollzogen wird. Teilen wir z. B. den allgemeinen Beg r i f f des Lebens in vegetativ und animalisch, so ist das eine Scheidung, eine Ausschließung, die nur durch ein Urteil g e X X X I . Nach §§ 138—143. Zu § 138. Minimum des Begriffs und Maximum des Urteils als Grenze gegen die benachbarten Funktionen bestimmen den Umfang des Denkens. Zwischen ihnen gibt es auch nichts, weil Begriff überall das Beharrliche und Urteil den Wechsel repräsentiert, zwischen welchen beiden es nichts gibt. — Man könnte sagen, das Wissen im Urteil sei nicht sowohl die Konklusion, als ihre Auflösung in die Sätze. Allein diese ist selbst wieder ein Urteü. Carls, des Menschen, Sterblichkeit folgt aus aller Menschen Sterblichkeit. (§ 139 habe ich ausgelassen, da ich noch zu Anfang wiederholt, wie wir gegenwärtig darin begriffen wären, das Wissen als verknüpftes zu betrachten, um das Transzendente auch auf das Formale beziehen zu können.) § 140 per se. § 141. Dies güt nicht nur vom Subjekt, sondern auch vom Prädikat, wenn dieses bestimmbar ist. Z. B. Fettglanz statt Glanz überhaupt, so ist der Begriff zwar enger, aber es ist doch überhaupt mehr begriffen, indem im Begriff Fettglanz auch die anderen Arten bestimmt ausgeschlossen und also entgegengesetzt sind; wogegen im allgemeinen Begriff Glanz die Modifikabilität nur als eine unbestimmte Mannigfaltigkeit gesetzt, also nicht begriffen ist. Zu § 142. Der B e g r i f f von der b i l d l i c h e n S e i t e , weü schon der Einheitsbestimmung (z. B. Etwas glänzt) ein Urteil zum Grunde liegt. Aber auch von der F o r m e l s e i t e ; denn die Entgegensetzung kann nur durch scheidende und ausschließende Urteüe bewirkt werden. Zu § 143. Die niedrigste Stufe ruht nur auf einem Urteil; der Begriff, der nach Maßgabe seiner Form den Gegenstand erschöpft, muß ein ganzes System von Urteilen vor sich her haben.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

schehen kann. Das Tier ist nicht Pflanze, und die Pflanze ist nicht Tier. Begriff und Urteil setzen also einander voraus. Der Begriff ist um so vollkommener, je mehr er auf einem ganzen Zyklus von Urteilen beruht. J e mehr in einem Urteil begriffen ist, d. h. je mehr Begriff darin ist, desto vollkommener ist es. J e mehr ich von einem Gegenstand Prädikate setze, desto deutlicher wird mir sein Begriff. J e d e r B e g r i f f w i r d n u r in d e m M a ß e e i n W i s s e n s e i n , a l s d i e zum G r u n d e l i e g e n d e n U r t e i l e e i n W i s s e n s i n d . Hier scheinen wir in einem Zirkel begriffen zu sein; denn wo sollen wir anfangen,, wenn wir vom Begriff zum Urteil übergehen wollen und umgekehrt. Indem wir das Verhältnis beider suchten, sind wir in Ratlosigkeit verfallen, aus der wir uns zu ziehen haben. Betrachten wir das Wissen an sich, so besagt jener Satz - nichts als das gegenseitige Bedingtsein beider Formen. Betrachten wir das zeitliche Werden des Wissens, so besagt der Satz, daß von jedem Punkt des menschlichen Bewußtseins aus die Annäherung an die Vollkommenheit nie durch eine der beiden Formen allein geschehen kann, sondern nur in ihrer Verbindung. Sehen wir auf die Genesis beider Formen, so sagt unser Satz: Die Vollkommenheit des Begriffs beruht auf einer Mannigfaltigkeit von Operationen und die Vollkommenheit des Urteils ebenfalls. Darin liegt, daß ein vollkommenes Urteil nur dadurch entsteht, daß ein möglichst großer Zyklus von Begriffen vorangeht, und umgekehrt.

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X X X I I . Nach §§ 144—150 1 ). Der Kreis ist nur einer, wenn man das Wissen zeitlich betrachtet, weil man nämlich nicht weiß, mit welchem von beiden man anfangen kann. An und für sich sagt es nur gegenseitige Abhängigkeit aus. Der Kreis als solcher löst sich in den zwiefachen positiven Inhalt, daß 1. vorwärts von jedem gegebenen Punkt nur in Verbindung mit der andern jede Form kann vervollkommnet werden, 2. rückwärts hinter jedem gegebenen Punkt ein solcher liegt, wo das Bewußtsein nur eine verworrene Indifferenz von Begriff und Urteil ist. Hierzu ist die Formel „Etwas glänzt" schon Annäherung. Die Geschichte *) Jon. korr. : „Nach §§ 144—154.

Zu § 144."

Das

G e b i e t der B e g r i f f e

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Gehen wir also zurück auf einen früheren Punkt unseres zeitlichen Bewußtseins, so sind die Begriffe und Urteile unvollkommener, und so kommen wir schließlich auf einen Punkt, wo beide schlechthin unvollkommen sind. Da ist auch ihre Entgegensetzung unvollkommen und also eine Verworrenheit beider. Von dieser Verworrenheit aus entsteht in der zeitlichen Entwicklung des Bewußtseins der immer stärker hervortretende Gegensatz zwischen Urteil und Begriff. In dem Beispiel „Dort glänzt etwas" ist der Begriff durch das Urteil erst gesetzt, der Satz also ein Urteil von einem im Setzen begriffenen Gegenstande. Betrachten wir das Wissen, abgesehen von seiner Genesis in der Zeit, so ist die Vorstellung von einer Entgegensetzung beider Formen und von einer gegenseitigen Abhängigkeit nichts Widersprechendes. Betrachten wir es in der Zeit, so müssen wir auf solche Verworrenheit zurückgehen. Dies stimmt auch ganz mit der Geschichte unseres Bewußtseins überein. Dieses ist anfänglich immer ein verworrenes und wird danach erst klarer. Hierin spiegelt sich auch, daß es kein Wissen außer in dem Zusammenhange des Wissens 'überhaupt gibt. §§ 145 Das Gebiet des Begriffs. Sein Zusammenhang und l ö 4 seine Grenzen. Wir betrachten nun jede Form für sich und begrenzen und scheiden sie in sich selbst. Bis jetzt ist uns der Begriff eins gewesen; nun soll er eine Mannigfaltigkeit werden. Setzen wir ihn als eins und fragen: Was ist unseres Bewußtseins bestätigt dieses, indem jedes mit der Verworrenheit anfängt. Wir b e t r a c h t e n nun B e g r i f f und U r t e i l , jedes, i n w i e fern es wieder ein M a n n i g f a l t i g e s sein kann. Zu § 145. Die schwebende Einheit ist uns überall im Zustand streitiger Vorstellung gegeben. Sie liegt aber auch schon im Ineinander beider Funktionen. Jeder wirkliche Begriff ist vermöge seiner organischen Seite als stetig ein völlig Bestimmtes, wovon nur aufgestiegen werden kann, und vermöge seiner intellektuellen ein Höheres, weil die Entgegensetzung auf mancherlei Weise verbüdlicht werden kann. Zu § 146. Auch von dem einzelnen Dinge gibt es einen vollkommenen oder unvollkommeneren Begriff, je nachdem er auf einem vollständigen Zyklus von Urteilen ruht oder nicht. Erscheint nun auch dieser als ein höherer, so ist der Satz allgemein. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Das

G e b i e t der B e g r i f f e

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Gehen wir also zurück auf einen früheren Punkt unseres zeitlichen Bewußtseins, so sind die Begriffe und Urteile unvollkommener, und so kommen wir schließlich auf einen Punkt, wo beide schlechthin unvollkommen sind. Da ist auch ihre Entgegensetzung unvollkommen und also eine Verworrenheit beider. Von dieser Verworrenheit aus entsteht in der zeitlichen Entwicklung des Bewußtseins der immer stärker hervortretende Gegensatz zwischen Urteil und Begriff. In dem Beispiel „Dort glänzt etwas" ist der Begriff durch das Urteil erst gesetzt, der Satz also ein Urteil von einem im Setzen begriffenen Gegenstande. Betrachten wir das Wissen, abgesehen von seiner Genesis in der Zeit, so ist die Vorstellung von einer Entgegensetzung beider Formen und von einer gegenseitigen Abhängigkeit nichts Widersprechendes. Betrachten wir es in der Zeit, so müssen wir auf solche Verworrenheit zurückgehen. Dies stimmt auch ganz mit der Geschichte unseres Bewußtseins überein. Dieses ist anfänglich immer ein verworrenes und wird danach erst klarer. Hierin spiegelt sich auch, daß es kein Wissen außer in dem Zusammenhange des Wissens 'überhaupt gibt. §§ 145 Das Gebiet des Begriffs. Sein Zusammenhang und l ö 4 seine Grenzen. Wir betrachten nun jede Form für sich und begrenzen und scheiden sie in sich selbst. Bis jetzt ist uns der Begriff eins gewesen; nun soll er eine Mannigfaltigkeit werden. Setzen wir ihn als eins und fragen: Was ist unseres Bewußtseins bestätigt dieses, indem jedes mit der Verworrenheit anfängt. Wir b e t r a c h t e n nun B e g r i f f und U r t e i l , jedes, i n w i e fern es wieder ein M a n n i g f a l t i g e s sein kann. Zu § 145. Die schwebende Einheit ist uns überall im Zustand streitiger Vorstellung gegeben. Sie liegt aber auch schon im Ineinander beider Funktionen. Jeder wirkliche Begriff ist vermöge seiner organischen Seite als stetig ein völlig Bestimmtes, wovon nur aufgestiegen werden kann, und vermöge seiner intellektuellen ein Höheres, weil die Entgegensetzung auf mancherlei Weise verbüdlicht werden kann. Zu § 146. Auch von dem einzelnen Dinge gibt es einen vollkommenen oder unvollkommeneren Begriff, je nachdem er auf einem vollständigen Zyklus von Urteilen ruht oder nicht. Erscheint nun auch dieser als ein höherer, so ist der Satz allgemein. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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seine Einheit oder sein Wesen? so ist zu sagen: D e r B e g r i f f i s t i n sich, s c h o n i m m e r e i n e s c h w e b e n d e E i n h e i t ; und es ist mit d e m s e l b e n i m m e r z u g l e i c h ein r e l a t i v e r G e g e n s a t z des A l l g e m e i n e n und B e s o n d e r e n , des Höheren und N i e d e r e n gesetzt. Ein höherer Begriff ist derjenige, der mehrere niedere unter sich begreift, der also eine Mannigfaltigkeit von Begriffen in sich schließt, also einer inneren Teilung in sich selbst fähig ist. Und ein niederer Begriff ist derjenige, welcher eine Menge von ebenso teilbaren Begriffen voraussetzt, aber nicht in sich schließt. Sagt man: „Der Begriff ist eine schwebende Einheit", so liegt darin: jeder Begriff ist zugleich das eine und andere in anderer Beziehung; und es Zu § 147. Wenn ich aber nun unterscheide das ruhende (bestimmte) Insekt und das kriechende, so ist dies eigentlich kein Begriff mehr, sondern nur ein verlarvtes Urteil, und der Begriff als niedrigster geht aus in eine unendliche Menge solcher Urteile. Nun aber kann man, eben deshalb, weil der Begriff des einzelnen Dinges auch noch kein absolut niedrigster ist, dasselbe auf jeder Stufe wiederholen. Auch der Begriff der Gattung kann als niedrigster angesehen werden; und geht dann in eine bloße Unendlichkeit von Urteilen aus. Z. B. „Hund" verschiebt sich mit verlängertem Leibe und erhöhten Beinen zum Windhund, wo die Urteile allerdings dem Begriff der Arten gleichgelten, aber die Form der Entgegensetzung verlieren. Zu § 148. Das Maß des Ausschließens ist das Maß des Niederen. Der Begriff Ding schließt noch aus, weil das Denken als Beziehung auf das Sein im Ding als solchem nicht gesetzt ist. Zu § 149. Steigen wir höher hinauf, so ist das Sein, sofern das Bezogenwerden auf das Denken ausgeschlossen, also das Denken mit hineingesetzt ist, kein Begriff mehr, weil die bestimmte Einheit darin fehlt; und es bleibt nur übrig eine Möglichkeit von unendlich vielen Urteilen, durch welche bestimmte Einheit gesetzt und die Beziehung wieder hergestellt wird1). Der Begriff des Sein/s/2), an welchem entgegengesetzt werden kann, ist nur ein uneigentlicher Begriff. Eben das kann nun auf jedem Punkte geschehen. Wenn ich z. B. keinen höheren Begriff setzen will als „Hund", so kann ich nur übergehen in die Totalität der koordinierten Begriffe. Allein, sofern diese nicht aus dem höheren Begriff des Tieres durch Entgegensetzung sollen abgeleitet sein, so sind sie nur Urteile (NB. Dies scheint mir weder so, noch so, wie es §§ 150 und 151 vorgetragen ist, völlig auf dem reinen zu sein), und zwar negative, was der Hund nicht ist. A m Rande ein (?).

2)

Jon. „als Sein".

Das Gebiet der Begriffe

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gibt also eigentlich gar keine Bestimmtheit, denn jeder hat diese zwiefache Beziehung nach oben und nach unten. Versetzen wir uns zurück in den Zustand streitiger Vorstellungen, so findet dieser Zustand unter der Form des Begriffes statt, wenn ein Begriff von dem einen so, von dem anderen anders bestimmt wird. Dies also müssen wir voraussetzen als das allgemein Gegebene. Wollen wir zurückgehen auf einen früheren Punkt im wirklichen Denken unter derselben Form des Begriffs, wo dies nicht geschehen wäre, so können wir kommen entweder auf das am meisten Organische im Begriff oder auf das am meisten Intellektuelle. Fassen wir diese beiden Punkte ins Auge, so ist es so gut, als hätten wir alle ins Auge gefaßt; und finden wir hier die Identität, so gilt dies für jeden Punkt der Begriffsbildung. Wir gehen wieder von der Mitte aus. Wenn wir sagen, d a ß es mit dem schwebenden Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen seine Richtigkeit hat, so wird ein vollkommen ausgebildeter Begriff insofern ein höherer sein, als er mehreres unter sich begreift, und ein niederer, insofern es weniger in ihm zu teilen gibt. Die Teilbarkeit macht also den Wert des Begriffs aus. Wenn wir nun zurückgehen auf die Vorstellung eines einzelnen Dinges, welches schon durch eine Mannigfaltigkeit von Urteilen zum Begriff geworden ist, so läßt sich in einer solchen Vorstellung nichts mehr verändern, ohne die Beziehung des Denkens auf das Gedachte zu ändern. Und sie erscheint als der absolut niedrigste Begriff. Haben wir hier noch den schwebenden Gegensatz, und gibt es auch hier noch etwas zu teilen? Unter der Mannigfaltigkeit von Urteilen, die dem Begriff vorangehen, sind auch solche, die wir nicht in ein und demselben Moment gemacht haben, weil sie einander ausschließen. So z. B. bei einem beweglichen Gegenstand, wo sich die Urteile der Ruhe und Bewegung ausschließen. Es ist also darin die Indifferenz der Ruhe und Bewegung, d. h. es ist die Möglichkeit dieser einander ausschließenden Prädikate gesetzt. Nun kann man den Begriff selbst so modifizieren, daß man bald das eine, bald das andere Prädikat setzt. Indem das einzelne Ding Erscheinungen oder Tätigkeiten aus sich entwickelt, welche seinen ganzen Charakter in sich tragen, aber doch 13*

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einmal so, ein anderes Mal anders bestimmt sind, so verhalten sich die beiden Vorstellungen des Ruhenden zu dem Sich bewegen den, wie sich der niedere zum höheren Begriff verhält. In bezug auf die verschiedenen Zustände ist der Begriff wieder ein allgemeiner. Einen absolut niedrigen Begriff gibt es nicht. Denn wenn ich den allgemeinen Begriff „Tier" durch Unterabteilungen durchgeführt und auf die Art und das Individuum bezogen habe und dann sage: „das ruhende" oder „das sich bewegende Tier", so sind diese Vorstellungen nicht mehr eigentliche, sondern uneigentliche Begriffe. Denn dies ist nur eine andere Form für den Ausspruch der Tatsache: „Das Tier ruht, weil es momentan ist." Es gibt also keinen absolut niedrigsten Begriff, sondern ich kann jeden Punkt in der Begriffs-Auf-und-Absteigung als den niedrigsten setzen, und so endet er nach unten in die Möglichkeit einer Mannigfaltigkeit von Urteilen. Jedem solchen Urteil kann ich dann wieder die Form eines Begriffes geben. Begriff und Urteil können also ineinander übergehen vermittelst der Form. Der Begriff hat keine andere Grenze als das verkleidete Urteil. Dies gilt auch für die Anwendung auf höhere Begriffe. Haben wir z. B. den Begriff einer Gattung, der verschiedene Arten untergeordnet sind, die wir vollständig haben mögen, so können wir die Bestimmung der Arten in Urteile auflösen. Wie verhalten sich die niederen Begriffe zu den höheren ? Der höhere Begriff ist in dem niederen enthalten, aber näher bestimmt; und so kann man nun immer weiter herabsteigen bis zu dem einzelnen Ding. Allein wir können auch abbrechen und demselben Begriff die Form des Urteils geben. Sage ich z. B.: „Das Wesen des Tieres ist das animalische Leben" und entwickle die verschiedenen Tätigkeiten des animalischen Lebens, so erhalte ich die verschiedenen Gattungsbegriffe in der Form des Urteils. Die Grenze der Begriffsbildung nach unten ist immer eine Mannigfaltigkeit von Urteilen. Dadurch, daß ich in Urteile übergehe, wird mir der letzte Begriff der niedrigste. — Inwiefern ist nun ein Begriff ein höherer? Insofern, als ich eine Menge von Teilungen, die in dem niederen gesetzt sind, wieder aufhebe, und der Begriff nun einem anderen entgegengesetzt wird. Wenn wir den niederen Begriff von Arten

D a s Gebiet der Begriffe

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und Gattungen der Tiere und Pflanzen haben und gehen hinauf zu dem allgemeinen Begriff beider, so ist dieser Begriff ein höherer; denn die Mannigfaltigkeit der niederen läßt sich aus ihm entwickeln. So kommen wir zum Begriff des D i n g e s . Hier ist alles Mannigfaltige mit aufgenommen. Es ist aber noch die bestimmte Einheit des Seins darin gesetzt, die ihn zum Begriff macht. Auf diese Entgegensetzung bezieht sich der Begriff. Daß aber dies die Grenze nach oben hin ist, können wir nicht sagen, denn im Ding sind das Sein und das Denken noch entgegengesetzt. Es wäre also noch ein höherer möglich, worin diese Beziehung aufgehoben wäre, d. h. der Begriff des S e i n s , inwiefern darin der Gegensatz von Gegenstand und Gedanke aufgehoben ist. Ist dies aber noch ein Begriff? E r ist es nur der Form nach; eigentlich ein Urteil, nur die Möglichkeit einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Urteilen, die wir in dem einen zusammenfassen: „Das Sein, in dem alle Entgegensetzung aufgehoben ist." Man erkennt hier schon die Verwandtschaft mit dem Urteil an der Partizipialform. „Das Sein, aus dem alle Entgegensetzung entwickelt werden kann", ist ebensoviel wie das Vorige und setzt die Möglichkeit aller Urteile. Dies muß sich auf jedem Punkt wiederholen lassen; und ein Begriff ist nur insofern ein höherer, als er sich in eine Mannigfaltigkeit von Urteilen auflösen läßt. Das Urteil beruht immer auf der Entgegensetzung von Subjekt und Prädikat. So geht der Begriff nach beiden Seiten in eine Mannigfaltigkeit von Urteilen über, aber ohne Grenzen, denn diese kann ich willkürlich setzen.

ö- 6*

Wir haben manche Mittelsätze übersprungen, die wir nachholen müssen. Jeder wirkliche Begriff ist zugleich ein höherer und niederer. Der Gegensatz des höheren und niederen Beg r i f f s bezieht sich immer zugleich auf die Duplizität der Funktionen im Denken. Jeder Begriff ist ein niederer vermöge seiner organischen Seite und ein höherer vermöge seiner intellektuellen Seite. Im niederen Begriff ist immer mehr Entgegensetzung als im höheren. Je höher hinauf, um so mehr Entgegensetzung wird aufgehoben. Im Beg r i f f des Dinges haben wir zweierlei: die bestimmte Einheit des Seins und die unbestimmte Mannigfaltigkeit der

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Beziehung auf das Denken. Heben wir jenes auf, so kommen wir an die Grenze des Denkens. Heben wir dieses zweite auf, so haben wir auch keinen Begriff mehr, denn die Entgegensetzung ist aufgehoben. Was bleibt dann übrig? Das aufgehobene Entgegensetzen zwischen dem Sein und dem Denken. Dies hat die Form eines Urteils, obgleich eines negativen. (Sagen wir: „ D i e Identität von Sein und Denken", so ist es positiv ausgeXXXIII. Berichtigender Zusatz zum letzten, i. Der Begriff Ding ist noch ein niederer Begriff. Jeder niedere ist ein solcher, insofern mehr in ihm entgegengesetzt ist; der niedere kann in einen höheren verwandelt werden, wenn Entgegensetzung aufgehoben wird. Im Begriff Ding kann noch die Entgegensetzung von Gedanken und Gegenstand aufgehoben werden; also ist er noch ein niederer. 2. Der höhere aber ist kein wirklicher mehr. Wenn ich /die/ Beziehimg auf das Denken wegnehme, so hat dann auch das Denken keine Beziehung mehr auf das Sein. Also wird dies nicht mit Überzeugung an und für sich gedacht. Ist aber diese Beziehung weggenommen, so ist im Sein auch keine b e s t i m m t e Einheit mehr, als welche nur1) aus dieser Beziehung hervorgeht. 3. Der Form nach lautet er: Das Sein mit a u f g e h o b e n e r E n t g e g e n setzung. Dies ist verkapptes Urteil. In dem Urteil aber ist eine Mannigfaltigkeit von Urteilen mitgesetzt, weil die Entgegensetzung unendlich mannigfaltig ist. Die Begriffslinie endet also nach oben ebenfalls in eine Unendlichkeit2) möglicher Urteile, welche aber negativ, also auch kein wirkliches Denken sind. Das Sein mit aufgehobener Entgegensetzung ist also kein wirkliches Wissen, weil es weder Begriff noch Urteil ist, und wir nur diese Arten kennen. Es schien uns ein Wissen, weil wir es der Identität der Raum- und Zeiterfüllung gleichstellten. Allein diese ist auch kein wirkliches Wahrnehmen, sondern nur die Voraussetzung, auf welche alle wirkliche Wahrnehmung bezogen wird. Indem es also transzendente Voraussetzung bleibt, so fragt sich: H a b e n wir durch die z w e i t e B e t r a c h t u n g g e w o n n e n , was uns bei der ersten f e h l t e , nämlich die B e z i e h u n g auf die f o r m a l e Seite? Antwort: Ja. Es sagt uns nämlich, daß jede Annäherung zum Wissen eine Entfernung ist von der verworrenen Indifferenz, also eine Spannung des Gegensatzes zwischen Begriff und Urteil, und dies ist also Beziehung der transzendenten Voraussetzung auf die Verknüpfung. Diese ist aber auch selbst in jene aufgenommen, weil sie überall als der Ubergang von Begriff und Urteil erscheint. Dieses Resultat haben wir zwar erst von Seiten des Begriffs gewonnen, und müssen nun erst suchen, es auch von Seiten des Urteils zu gewinnen. „nur" fehlt bei Jon.

a)

Hs.: „Mannigfaltigkeit", korr. Jon.

Das Gebiet der Begriffe

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drückt.) Durch die Negation wird nun nichts prädiziert, und das Subjekt ist auch nicht bestimmt. Wir haben also eine unendliche Menge negativer Urteile, da alle Entgegensetzungen unendlich sind, und wir vieles aufheben und ausschließen können. Der Begriff endet also nach beiden Seiten in eine unbestimmte Mannigfaltigkeit von Urteilen. Dies halten wir fest und gehen auf unseren früheren Punkt zurück, wo wir veranlaßt wurden, einen anderen Weg zu nehmen. Wir sagten: Das Sein, in welchem alle Gegensätze aufgehoben sind, entspricht auf der organischen Seite der allgemeinen Vorstellung des erfüllten Raumes und der erfüllten Zeit. Dies mußte uns ein wirkliches Wissen scheinen, da es entstanden war in der Duplizität des Denkens. Nachdem wir nun das Denken in der Duplizität des Begriffs und Urteils gefaßt und gesehen haben, daß dieser selbige Punkt weder ein Begriff sei noch ein Urteil, so haben wir doch recht gehabt, daß dies die transzendente Voraussetzung sei zu allem Wissen und nicht ein Wissen und Denken selbst. Wir haben nun noch den Schein aufzulösen, als sei dies ein eigentliches Wissen. Die Gleichsetzung von Raum- und Zeiterfüllung und von Begriff und Urteil als Akten des Denkens für sich trägt allerdings die Form des Wissens an sich und erscheint in der Richtung auf die Anschauung. Allein ihrem Inhalt nach betrachtet ist das eine ebensowenig wie das andere ein wirkliches Denken. Denn daß wir nichts Wirkliches denken, wenn wir nur die Aufhebung der Entgegensetzung denken, ist klar; wir verneinen nur, setzen aber nichts. Es ist also nur eine Gedankengrenze, kein Denken selbst. Denke ich die absolute Raumerfiillung und Zeiterfüllung, so denke ich auch nichts. Raumerfüllung ist nichts als die Möglichkeit, Gegeilstände zu setzen; Zeiterfüllung nichts als die Möglichkeit, Impressionen zu setzen. Das Leere ist nur aufgehoben, aber nichts ist gesetzt. Sagen wir aber, dies sei die transzendente Voraussetzung alles Wissens, so ist allerdings darin eingeschlossen, daß es der Punkt sei, wo das wirkliche Denken anfängt, und der Punkt, von dem man ausgehen muß, streitige Vorstellungen zu lösen und den Zusammenhang des Wissens zu konstruieren; d. h., daß sich hieraus die Entgegensetzung entwickeln und die wirkliche Raum- und Zeiterfüllung hervorgehen kann. Als

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wir dies das erstemal fanden und noch ungewiß waren, ob es schon die wirkliche Voraussetzung sei, bemerkten wir gleich, daß es nicht die ganze transzendentale Seite sein könne, weil darin nichts gesetzt sei, was auf die Gesetze der Verknüpfung im Denken sich beziehe. Jetzt haben wir auch B e g r i f f und Urteil auf diesen Gegensatz bezogen, und die ganze transzendente Voraussetzung ist nun vollständig, weil hier auf die transzendentale und formale Seite gesehen wird, und die Voraussetzung auch eine Beziehung auf die Gesetze des Denkens gewonnen hat. Jede Annäherung an die Idee des Wissens muß eine größere Spannung sein zwischen B e g r i f f und Urteil. Von der Grundlage beider, die aber nichts von beiden war, müssen wir fortschreiten bis zur größten Spannung. So haben wir also das Gesetz der Verknüpfung mit der transzendentalen Seite gefunden. §§166

Das Gebiet der Urteile. Urteilsarten und Urteilsgrenzen.

!63 Es ist kein gutes Zeichen, zu früh an sein Ziel zu kommen. D a wir unseren W e g nur vom B e g r i f f her genommen haben, haben wir Ursache, vorsichtig zu sein wegen unseres Resultates und müssen dieselbe Betrachtung anstellen, vom Urteil ausgehend. Das Urteil soll uns ebenso ein Mannigfaltiges werden wie der B e g r i f f . Nun wissen wir aber nichts vom Urteil als seine allgemeine Form: die Beziehung zweier B e g r i f f e aufeinander. Das, worauf bezogen wird, ist das Zu § 155. Wenn uns das Urteü auch ein zwiefaches werden soll, so müssen wir Minimum und Maximum aufsuchen. Da nun Urteil Beziehung zweier Begriffe ist, so dürfen sie nicht dieselben sein, aber auch nicht entgegengesetzt. In beiden Fällen ist das Urteil Null. Also partielle Identität und Entgegensetzung verbunden. (Das Urteil desto größer, je geringer die Identität (?)). Man kann aber auch von der Beziehung ausgehen. Die Beziehung darf nicht das Wesen aufheben, sie darf auch nicht das Wesen selbst sein. (NB. Oder so: Die Urteüsverknüpfung darf nicht die Begriffsverknüpfung selbst sein, aber auch diese nicht aufheben.) Also die Möglichkeit derselben muß im Wesen liegen. Z. B. im Begriff Hund muß der Begriff Beweglichkeit liegen, d. h. die Möglichkeit des Laufens; aber der Inhalt des Urteüs: „Der Hund läuft" kann nicht im Begriff selbst gesetzt sein. Jenes ist das u n e i g e n t l i c h e Urteü, weil ich dadurch nichts erkenne, als was in der Begriffsbüdung schon erkannt ist. Dieses das e i g e n t l i c h e , weil es eine im Begriff nicht gesetzte Verknüpfung enthält.

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wir dies das erstemal fanden und noch ungewiß waren, ob es schon die wirkliche Voraussetzung sei, bemerkten wir gleich, daß es nicht die ganze transzendentale Seite sein könne, weil darin nichts gesetzt sei, was auf die Gesetze der Verknüpfung im Denken sich beziehe. Jetzt haben wir auch B e g r i f f und Urteil auf diesen Gegensatz bezogen, und die ganze transzendente Voraussetzung ist nun vollständig, weil hier auf die transzendentale und formale Seite gesehen wird, und die Voraussetzung auch eine Beziehung auf die Gesetze des Denkens gewonnen hat. Jede Annäherung an die Idee des Wissens muß eine größere Spannung sein zwischen B e g r i f f und Urteil. Von der Grundlage beider, die aber nichts von beiden war, müssen wir fortschreiten bis zur größten Spannung. So haben wir also das Gesetz der Verknüpfung mit der transzendentalen Seite gefunden. §§166

Das Gebiet der Urteile. Urteilsarten und Urteilsgrenzen.

!63 Es ist kein gutes Zeichen, zu früh an sein Ziel zu kommen. D a wir unseren W e g nur vom B e g r i f f her genommen haben, haben wir Ursache, vorsichtig zu sein wegen unseres Resultates und müssen dieselbe Betrachtung anstellen, vom Urteil ausgehend. Das Urteil soll uns ebenso ein Mannigfaltiges werden wie der B e g r i f f . Nun wissen wir aber nichts vom Urteil als seine allgemeine Form: die Beziehung zweier B e g r i f f e aufeinander. Das, worauf bezogen wird, ist das Zu § 155. Wenn uns das Urteü auch ein zwiefaches werden soll, so müssen wir Minimum und Maximum aufsuchen. Da nun Urteil Beziehung zweier Begriffe ist, so dürfen sie nicht dieselben sein, aber auch nicht entgegengesetzt. In beiden Fällen ist das Urteil Null. Also partielle Identität und Entgegensetzung verbunden. (Das Urteil desto größer, je geringer die Identität (?)). Man kann aber auch von der Beziehung ausgehen. Die Beziehung darf nicht das Wesen aufheben, sie darf auch nicht das Wesen selbst sein. (NB. Oder so: Die Urteüsverknüpfung darf nicht die Begriffsverknüpfung selbst sein, aber auch diese nicht aufheben.) Also die Möglichkeit derselben muß im Wesen liegen. Z. B. im Begriff Hund muß der Begriff Beweglichkeit liegen, d. h. die Möglichkeit des Laufens; aber der Inhalt des Urteüs: „Der Hund läuft" kann nicht im Begriff selbst gesetzt sein. Jenes ist das u n e i g e n t l i c h e Urteü, weil ich dadurch nichts erkenne, als was in der Begriffsbüdung schon erkannt ist. Dieses das e i g e n t l i c h e , weil es eine im Begriff nicht gesetzte Verknüpfung enthält.

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Subjekt; und das, was die Beziehung aussagt, ist das Prädikat. Betrachten wir das Urteil in der Form der Wahrnehmung, so beziehen wir eine bestimmte Impression auf einen bestimmten Gegenstand. Das Setzen des Gegenstandes ist dann im Subjekt ausgedrückt. Wie verhalten sich nun die beiden Begriffe (SubjektPrädikat) im Urteil zueinander? Abstrahieren wir vom Urteil und betrachten beide bloß als Begriffe, so sind sie außereinander, d. h. verschieden. Die Urteile, wo ein Begriff auf sich selbst bezogen wird, nennt man i d e n t i s c h e , sind aber nichts als die leere Form eines Urteils. Wenn ein wirkliches Urteil sein soll, so dürfen die Begrifffe nicht identisch sein. Die identischen Urteile drückt man so aus: A = A, d. h., so oft ich dasselbe setze, ist auch dasselbe gesetzt. (Es ist die Wiederholbarkeit des Aktes, wodurch der Begriff gesetzt ist.) Der entgegengesetzte Punkt ist: damit ein wirkliches Urteil sei, dürfen die beiden Begriffe auch nicht einander absolut entgegengesetzt sein; denn sonst hebt der eine den andern auf, und der ganze Akt wird Null, d. h. wir haben wieder nur die leere Form des Urteils. Aber bei jenem bleibt doch noch das Setzen des Begriffs übrig, hier aber kommen wir gleich auf Null. Was liegt nun zwischen der absoluten Identität und der völligen Entgegensetzung? Wenn in einem Begriff dasselbe gesetzt ist wie in einem anderen, im anderen aber noch etwas hinzukommt, so sind die Begriffe nicht absolut identisch und auch nicht absolut entgegengesetzt. Von dieser Seite werden wir nichts anderes finden als eine partielle Identität und partielle Entgegensetzung. Dasselbe können wir nun betrachten, indem wir auf das Urteil als eigentlichen Akt sehen. In einem Fall wird diese Beziehung des einen auf das andre Null; im andern ist der Akt nichts als die Wiederholung des schon Gesetzten und also eigentlich auch Null. Aber kein Reales, nicht eine Null der Multiplikation, sondern der Addition. Zwischen beiden Grenzen liegt also, daß in dem einen Begriff die Möglichkeit der Beziehung zum andern gesetzt ist als etwas, das sich nicht aufhebt, aber nicht schon wirklich in ihm gesetzt ist. Wenn in einem Begriff schon etwas gesetzt ist, was auch im andern, iso ist das Urteil ein u n e i g e n t l i c h e s . Im Ur-

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teil „Der Hund ist ein Tier" ist im Begriff „Hund" der Begriff „Tier" schon gesetzt. Spreche ich das Urteil aus, so erfahre ich nichts, als ich schon wissen mußte, als ich das Urteil bildete. Wenn aber im Begriff des Subjekts nur die Möglichkeit der Beziehung des Prädikats ausgesagt ist (z. B. „Der Hund läuft"), so ist in dem Subjekt das Prädikat nicht wirklich enthalten, sondern nur die Möglichkeit des Laufens oder Nichtlaufens. So haben wir zwei verschiedene Formen des Urteils: das eigentliche und das uneigentliche. Das letzte ist nicht immer etwas Leeres wie das identische; aber es ist als Urteil doch nicht so wie das eigentliche. Zwischen dem uneigentlichen und eigentlichen Urteil ist also ein ähnliches Verhältnis wie zwischen dem niederen und höheren Begriff. Wir haben aber die Begriffe auch unterschieden als vollkommene und unvollkommene und sagten, daß ein Begriff um so vollkommener sei, je größer und vollkommener der Zyklus von Urteilen ist, worauf er ruht. Denken wir uns den schlechthin vollkommenen Begriff, so muß in ihm alles, was in Beziehung auf ihn zufällig ist, was aber seiner Möglichkeit nach Urteile enthält, in dem Umfang des Begriffs mitgesetzt sein. Das Laufen ist z. B. im Begriff „Hund" der Möglichkeit nach schon mitgesetzt. Selbst der Grad der Beweglichkeit muß mitgesetzt sein, z. B. beim Faultier der relative Mangel an Beweglichkeit, so daß die Differenz zwischen eigentlichem und uneigentlichem Urteil verschwindet. Umgekehrt wird diese desto größer, je unvollständiger der Begriff ist. Ist z. B. der Begriff „Hund" vollständig gesetzt, so liegt darin schon die Möglichkeit des Laufens. Und wgnn ich sage: „Der Hund läuft", XXXIV. Jenes ist als Erkenntnis kleiner, dieses größer. — Zu § 155*). Der Gegensatz ist aber deshalb ein fließender, weil dasselbe Urteil beides sein kann, je nachdem der Begriff ist. Der unvollkommenste Begriff läßt den meisten freien Spielraum für eigentliche Urteile. Der vollkommenste Begriff hat alles in sich aufgenommen (z. B. der Begriff „Hund" die Beweglichkeit in ihrer bestimmten Art und ihrem Grade, item die Differenz der Größe und der Farben), und es bleibt für das eigentliche Urteil nichts übrig als das Individuum und der Moment (Jetzt läuft der Hund. Dieser Hund läuft). !) Fehlt bei Jon.

Der Seinscharakter im Begriff und Urteil

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so sage ich damit etwas ganz Allgemeines. Es bleibt also für das Urteil nichts übrig als die Eigentümlichkeit des Moments: „Jetzt läuft der Hund." Je vollständiger der Begriff ist, um so weniger bleibt für das Urteil übrig.

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Wie steht es nun mit dem Verhältnis von Begriff und Urteil, wenn wir auf ihre beiderseitige Differenz sehen ? Denke ich mir einen absolut unvollständigen Begriff, so wird es in bezug auf das Subjekt gar keine uneigentlichen Urteile geben; denn er enthält nichts in sich, und es muß daher erst desto mehr gesetzt werden, wodurch dann das eigentliche Urteil entsteht. In der Fixierung des Gegenstandes ist noch nichts gegeben. In dem Beispiel: „ E s glänzt etwas" ist gar kein Begriff. Dieser wird erst gesetzt und durch Urteile vervollständigt. Es ist nichts da als das Glänzen. Ich würde den Gegenstand gar nicht herausheben, wenn diese Wahrnehmung nicht wäre. Daraus folgt: J e u n v o l l s t ä n d i g e r ein B e g r i f f ist, d e s t o g r ö ß e r ist das Geb i e t d e r e i g e n t l i c h e n U r t e i l e . Denke ich mich im Es fragt sich nun, wie weit dies gehen kann. Und das geht hervor aus §§ 157—163, indem man den Gehalt des Urteils zuerst von Seiten des Subjekts und dann von seiten des Prädikats betrachtet 1 ). Zu § 157. Bei einem Prädikatsbegriff fragt man gleich danach, worin er gesetzt ist; bei einem Subjektsbegriff, was darin gesetzt ist. Anm. 1. Man kann einem Prädikatsbegriff die Form eines Subjektsbegriffes geben, besonders, wenn darin noch etwas näher bestimmt sein soll. Das Wesen bleibt dadurch ungeändert. 2. Auch bei dem Subjektsbegriff kann man fragen, w o r i n er gesetzt ist, nämlich als niederer in welchem höheren. Allein dies ist auch nur Form und kann nur vorkommen, wenn der Begriff nicht von beiden Seiten konstruiert ist. (NB. Das Marginale wegen des Partizips verstehe ich nicht mehr.) Zu § 158. Der Satz klingt barock. Die Totalität des Nichtseins ist auch zuviel gesagt. Denn damit wäre auch alles Entgegengesetzte mit in die Prädikate gesetzt. Also nur die Totalität des bloßen Nichtseins oder des Partiellen. Zu § 159. Oder nach § 157 ausgedrückt. Jedes Urteil sagt aus, wie in einem ein anderes gesetzt wird. Es kann aber desto mehr in jedem Urteil gesetzt werden, je weniger in dem Subjekt schon „betrachtet" fehlt in der Hs.

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Urteilen immer fortfahrend, aber nicht den Begriff vervollständigend, so wird meine Kenntnis des Gegenstandes in lauter eigentlichen Urteilen bestehen, weil noch keine Begriffsbestimmunig da ist, in der Urteile enthalten wären. Denken wir uns den Begriff vollständiger, so wird schon eine Menge von Urteilen in ihn aufgenommen sein, weil sie das Wesen des Gegenstandes konstituieren helfen, und es entstehen uneigentliche Urteile. Das Gebiet der eigentlichen Urteile verringert sich immer mehr, je vollständiger der Beg r i f f wird. Wieweit läßt sich dies treiben? „Der Hund läuft" ist ein eigentliches Urteil; „Der Hund kann laufen" ein uneigentliches. Denn es wäre eine große Unbestimmtheit im Beg r i f f , wenn die Möglichkeit der Bewegung nicht mit aufgenommen wäre. Ist „Laufen" hier schon in seiner D i f f e renz vom „Gehen" gesetzt, so ist der Begriff schon vollständiger. Dann ist das, was als das Eigentümliche des Urteils übrigbleibt, nur Bestimmung des Momentes. J e v o l l s t ä n d i g e r also der B e g r i f f ist, desto w e n i g e r ist das E i g e n t l i c h e i n j e d e m U r t e i l . Ein Urteil, welches von dem Hund die Farbe oder Größe aussagt, gibt schon einen vollständigen Begriff, wenn die Differenz zwischen dem Minimum und Maximum im Begriff mitgesetzt ist. Dann ist vor dem Urteil (d. h. als Begriff) gesetzt ist, und umgekehrt, wie dies in § 160 aufgenommen ist. Zu § 160. Die absolute Verringerung der Setzbarkeit durch Urteil ist die gänzliche Vernichtung derselben; und dann muß also alles Sein im Subjekt schon als Begriff gesetzt sein. Zu §§ 161 u. 162. Hier ist noch ein verdächtiger Schein von Erschleichung in dem Übergehen von der Einheit des Prädikats zur Vielheit der Prädikate. Aber aus eben dem Grunde, weü die absolute Verringerung des Urteüs nur in einem Subjekt sein kann, weü nämlich, wenn viele gesetzt sind, jedes noch einen Teü seines Seins in einem anderen haben kann, und also auch noch geurteüt wird: aus eben dem Grunde ist die absolute Vergrößerung des Urteüs nur in der Allheit der Prädikate. Denn wenn ein Prädikat in unendlich vielen Subjekten ist, ist doch von allen nur ein und dasselbe auszusagen; und nur, wenn von allen alles auszusagen ist, haben wir das absolute Maximum des Urteüens. Die Subjekte sind dann (Null = Minimum) so wenig gesetzt, das in keinem etwas gesetzt ist, wodurch irgendein eigentliches Urteü aufgehoben würde, und dies ist in § 163 aufgenommen.

Der Seinscharakter im Begriff und Urteil

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das Urteil, das die Größe einer bestimmten Art aussagt, wieder ein uneigen tliches, außer wenn es über einen einzelnen Hund entscheidet. Wenn also der Begriff die absolute Vollständigkeit hat, so wird dadurch die größte Einschränkung der Urteile entstehen. Und es ist dann keine Erkenntnis gesetzt, welche nicht in der Bestimmung des Beg r i f f s auch schon läge, außer der Raum- und Zeitbestimmung. Wie steht es nun mit dem Gegensatz zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Urteil in bezug auf die Vollständigkeit des Begriffs? Dasselbe Urteil kann in demselben Fall ein eigentliches und uneigentliches sein, jenachdem das Subjekt früher mehr oder minder bestimmt» war. Und dies kann man nicht wissen, wenn iman nicht weiß, wieweit der Begriff des Subjekts schon ist bestimmt gewesen. Wir können daher nur vom eigentlichen Urteil reden, weil uns das uneigentliche immer auf die Begriffsbildung zurückführt. Was sind nun die inneren Verhältnisse des eigentlichen Urteils ? Es ist die Verknüpfung des Prädikats und Subjekts, und es kommt darauf an, wie sich diese zueinander verhalten. Das Subjekt weist uns zurück auf einen ganzen vorhergegangenen Prozeß von Begriffsbildung, der mit der Fixierung des Gegenstandes angefangen hat („Etwas glänzt"; dann: „Das Metall glänzt"). Das Subjekt ist immer ein für sich Gesetztes, das Prädikat immer ein in einem anderen Gesetztes. In dem „Etwas" ist immer schon ein Für-sich-gesetztes, in dem „glänzt" ist ein In-einem-andern-gesetztes. Wie verhalten sich Subjekt und Prädikat vor dem Urteil als Begriffe? Vor dem Urteil ist das Prädikat außer dem Subjekt gesetzt; also das Nichtsein des Subjekts. Und die Totalität der Prädikate wäre die Totalität des Nichtseins des Subjekts. Dies gilt von jedem Prädikat. Je vollständiger der Begriff ist, desto geringer ist das Gebiet dieses Nichtseins, denn um so weniger Urteile sind möglich. Wenn also vor dem Urteil das Subjekt das Sein und das Prädikat das Nichtsein ist, so ist jedes Urteil eine Identität von Sein und Nichtsein des Subjekts, und die Grenzen seines Gebietes sind aus dem Maximum des Seins und Nichtseins zu finden.

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Eine zusammengezogene Formel für das schon Gesagte könnte also lauten: J e g r ö ß e r das S e i n im S u b j e k t i s t , d e s t o g e r i n g e r ist das N i c h t s e i n , das d a m i t v e r k n ü p f t w e r d e n kann, und d e s t o m e h r z i e h t s i c h das G e b i e t des U r t e i l s zusammen. J e w e n i g e r Sein aber gesetzt ist, desto mehr U r t e i l e sind m ö g l i c h . O d e r , je mehr S e i n in einem S u b j e k t g e setzt i s t , desto w e n i g e r ist von ihm a u s g e schlossen. Es wird also hier ein ähnliches Verhältnis zwischen den Begriffen desselben Gegenstandes bestehen, je nachdem sie vollständiger oder unvollständiger sind, wie zwischen höheren und niederen Begriffen. Wovon am meisten ausgeschlossen ist, von dem kann auch am meisten prädiziert werden. Setzen wir den Begriff „Hund", so sind ausgeschlossen alle anderen Arten von Tieren und alles, was nicht Tier ist. Aber mitgesetzt sind alle Spielarten. Nimmt man aber eine Spielart, so sind die übrigen ausgeschlossen und der Begriff ein geringerer. Setzen wir einen bestimmten Hund, so ist da ein noch geringeres Sein gesetzt, und desto größer ist das Gebiet der Urteile. Können wir dies so weit treiben, daß eine Form über die andere verlorengeht? — Steigen wir hinaus bis zu einem absoluten Subjekt, in welchem alles Sein gesetzt und alles Nichtsein ausgeschlossen ist, so kann nichts von ihm prädiziert werden in einem eigentlicher Urteil. Das identische Urteil ist hier allein möglich: Das Sein ist. Die Form des Urteils hört also hier förmlich auf, und so kommen wir von der Seite des Urteils ans Ende. Das Prädikat ist immer ein in einem anderen zu Setzendes. Es wird nichts dadurch fixiert, sondern nur von einem zu Fixierenden etwas ausgesagt. Denn hören wir einen Prädikatsbegriff, so suchen wir seinen Ort, denn er muß einen Gegenstand haben. Der Form nach kann man das immer miteinander vertauschen. Jedes Zeitwort ist reiner Prädikatsbegriff (z. B. „Der Hund läuft"). Sage ich: „Das Laufen", so hat der Begriff die Form des Subjekts; das heißt eben: Der Begriff als Prädikatsbegriff ist noch bestimmbar oder modifikabel. Doch bleibt er immer ein Prädikatsbegriff und wird nie ein Subjektsbegriff. Der Prädikats-

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begriff kann noch bestimmt werden auf transitorische Art: „Der Hund läuft stark oder schwach." Das Prädikat ist stets ein in einem andern gesetztes Sein und ist als solches dasselbe in diesem oder jenem. DasLaufen aller vierfüßigen Tiere ist dasselbe in einem wie im andern. Der Begriff ist also um so vollständiger, in je mehreren er gesetzt ist. Ist aber das Laufen der zweifüßigen Tiere nicht etwas ähnliches wie das der vierfüßigen? Gewiß; so erhält der Begriff des Laufens einen noch größeren Umfang. Dennoch behält er immer die Natur, daß er in einem andern setzbar ist. Wenn alles so in allem gesetzt ist, daß kein Für-sich-gesetztsein, kein Subjekt übrigbleibt, so ist dies das Maximum auf der Seite des Prädikats. Denken wir uns einen Begriff bestimmt, so werden wir alle seine Merkmale auflösen können in Aktionen oder Zustände; das Subjekt wird ganz in dem Prädikatsbegriff aufgehen. Dies gilt selbst vom schlechthin Beharrlichen. Z. B.: Was ist ein Dreieck? Der Raum zwischen drei sich schneidenden Linien. Was ist uns nun dabei in den Gedanken gekommen? Das Sichschneiden der Linien. Und dies muß man als Bewegimg setzen. Dann ist der ganze Begriff in Aktionen aufgelöst, und wir haben lauter Prädikatsbegriffe. Das Subjekt ist verschwunden, weil es in Prädikatsbegriffe aufgelöst ist. Ebenso kann man den Begriff des tierischen Lebens in lauter Aktionen auflösen, die in allen auf gleiche Weise gesetzt sind. Und dann hat man lauter in einem anderen gesetztes Sein. Das aber, worin es gesetzt ist, ist verschwunden. X X X V . Wenn nun das absolute Subjekt kein Begriff mehr ist, weder von Seiten der organischen Funktion, weil es nicht aus einem größeren herausgenommen ist, noch von seiten der intellektuellen, weil es durch keinen Gegensatz bestimmt ist, und ebenso auch die Unendlichkeit der Prädikate, weil jedes in allem Gesetzte auch aus keinem herausgenommen und keinem entgegengesetzt ist: Wie v e r h a l t e n sich die D e n k g r e n z e n d e s U r t e i l s und B e g r i f f s gegeneinander? Antwort (zu § 164): 1. Das Sein mit aufgehobenem Gegensatz verhält sich zum absoluten Subjekt wie der unvollkommene Begriff zum vollkommenen. 2. Ebenso verhält sich die unendliche Mannigfaltigkeit möglicher Urteile zur Totalität der Prädikate. 3. Beide gleichnamige sind identisch und verhalten sich zueinander wie die intellektuelle Seite zur organischen.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Das Gebiet des B e g r i f f s endigte in eine Mannigfaltigkeit von Urteilen. Das Gebiet des Urteils ist begrenzt durch das Setzen eines absoluten Subjekts und durch das Setzen einer Unendlichkeit von Prädikaten, wodurch das Subjekt aufgehoben wird, und wo also aus Mangel an Subjekten kein Urteil mehr stattfinden kann. D e r B e g r i f f d e s a b s o l u t e n Subjekts und der B e g r i f f der absoluten G e m e i n s c h a f t l i c h k e i t der P r ä d i k a t e sind die Grenzen, in d e n e n das G e b i e t des U r t e i l s e i n g e s c h l o s sen ist. 36-

Verhältnis zwischen Begriffe- und Urteilsgrenzen. Dies sind uns jetzt noch bloße Formeln, die wir nun zusammenb i ß fügen müssen durch Begrenzung des B e g r i f f s und Urteils. 167 W i r haben gefunden, daß der B e g r i f f begrenzt wird durch die im Denken nicht zustande zu bringende Vorstellung des Seins, in welchem der Gegensatz und die Beziehimg des Denkens auf das Gedachte aufgehoben ist. A u f der anderen Seite geht der B e g r i f f aus in die Möglichkeit einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Urteilen. Das Urteil haben wir begrenzt durch das absolute Subjekt und durch die unendliche Mannigfaltigkeit von Prädikaten, welches ein durchaus in einem andern gesetztes Sein ist. W i e verhalten sich diese beiden Begrenzungen gegeneinander? Sind sie voneinander verschieden oder identisch? Denken wir uns das Sein, in welchem alle Entgegensetzung aufgehoben ist, so kann davon nichts prädiziert, nur negiert 7-

Erläuterungen hierüber. Zu § 165. 1. Daß ich die organische Grenze die absolute Mannigfaltigkeit des Erscheinens nenne, ist sprachgemäß. Denn Erscheinen wird immer nur von dem, was aus der organischen Funktion hervorgeht, gebraucht. Selbst was wir innere Erscheinung nennen, führen wir auf organische Funktion zurück, nur daß sie nicht von außen, sondern von innen affiziert ist, und also nur mit Unrecht auf etwas Äußeres bezogen wird. Dann wird auch, wenn wir etwas Erscheinung nennen, zweifelhaft gelassen, ob es etwas für sich Seiendes sei oder nur etwas in einem andern. Ja, bei einer bloßen Erscheinung präsumieren wir immer das letzte 1 ), und so deutet also der Name auf die Natur des Prädikates. *) Hs.: „erste"; korr. Jon.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Das Gebiet des B e g r i f f s endigte in eine Mannigfaltigkeit von Urteilen. Das Gebiet des Urteils ist begrenzt durch das Setzen eines absoluten Subjekts und durch das Setzen einer Unendlichkeit von Prädikaten, wodurch das Subjekt aufgehoben wird, und wo also aus Mangel an Subjekten kein Urteil mehr stattfinden kann. D e r B e g r i f f d e s a b s o l u t e n Subjekts und der B e g r i f f der absoluten G e m e i n s c h a f t l i c h k e i t der P r ä d i k a t e sind die Grenzen, in d e n e n das G e b i e t des U r t e i l s e i n g e s c h l o s sen ist. 36-

Verhältnis zwischen Begriffe- und Urteilsgrenzen. Dies sind uns jetzt noch bloße Formeln, die wir nun zusammenb i ß fügen müssen durch Begrenzung des B e g r i f f s und Urteils. 167 W i r haben gefunden, daß der B e g r i f f begrenzt wird durch die im Denken nicht zustande zu bringende Vorstellung des Seins, in welchem der Gegensatz und die Beziehimg des Denkens auf das Gedachte aufgehoben ist. A u f der anderen Seite geht der B e g r i f f aus in die Möglichkeit einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Urteilen. Das Urteil haben wir begrenzt durch das absolute Subjekt und durch die unendliche Mannigfaltigkeit von Prädikaten, welches ein durchaus in einem andern gesetztes Sein ist. W i e verhalten sich diese beiden Begrenzungen gegeneinander? Sind sie voneinander verschieden oder identisch? Denken wir uns das Sein, in welchem alle Entgegensetzung aufgehoben ist, so kann davon nichts prädiziert, nur negiert 7-

Erläuterungen hierüber. Zu § 165. 1. Daß ich die organische Grenze die absolute Mannigfaltigkeit des Erscheinens nenne, ist sprachgemäß. Denn Erscheinen wird immer nur von dem, was aus der organischen Funktion hervorgeht, gebraucht. Selbst was wir innere Erscheinung nennen, führen wir auf organische Funktion zurück, nur daß sie nicht von außen, sondern von innen affiziert ist, und also nur mit Unrecht auf etwas Äußeres bezogen wird. Dann wird auch, wenn wir etwas Erscheinung nennen, zweifelhaft gelassen, ob es etwas für sich Seiendes sei oder nur etwas in einem andern. Ja, bei einer bloßen Erscheinung präsumieren wir immer das letzte 1 ), und so deutet also der Name auf die Natur des Prädikates. *) Hs.: „erste"; korr. Jon.

Begriffs- und

Urteilsgrenzen

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werden. Könnte etwas prädiziert werden, so wäre ja noch eine Entgegensetzung da. Wie steht es dagegen mit dem absoluten Subjekt. O f f e n bar ist dies darin mit dem absoluten Sein gleich, daß nichts von ihm prädiziert werden kann. Wenn wir noch das zu Hilfe nehmen, daß wir einen Unterschied gesetzt haben zwischen der Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Beg r i f f e und uns fragen: Was ist der Begriff vom Sein, in welchem die Entgegensetzung des Denkens und Gegenstandes aufgehoben ist? so müssen wir sagen: Es liegt ihm kein Urteil zum Grunde; er ist also ein unvollkommener Begriff. Das absolute Subjekt dagegen ist der vollkommenste Beg r i f f , denn er schließt alle Prädikate ein; und es müßte erst alles prädiziert werden, ehe der Begriff gesetzt werden könnte. Beide kommen darin überein, daß nichts von ihnen ausgesagt werden kann. Bei dem ersten wissen wir, daß wir keinen Begriff mehr, bei dem zweiten, daß wir die Totalität der Urteile nie zustande bringen können. Sie sind also in allem, was in ihnen gesetzt ist, gleich, nur, daß es in dem einen unvollkommen, im andern vollkommen gesetzt ist. Hieran gibt sich wieder zu erkennen die Relativität des Gegensatzes zwischen Begriff und Urteil. Wir haben gesagt: Der Begriff geht nach unten aus in eine unendliche Mannigfaltigkeit von möglichen Urteilen,. Der letzte Begriff ist nur der Form nach ein solcher. Das Urteil war begrenzt durch die Totalität der Prädikate, so daß alle Subjekte im Prädikat aufgelöst waren. Daß dies auch nur die Form des Begriffs hat, ist klar. Beide stimmen also auch darin überein, daß sie unter der Form von Vorstellungen keine wirklichen Vorstellungen mehr sind, sondern nur die Grenzen derselben. Der niedrigste Begriff ist nie vollkommen, bevor nicht die unendliche Mannigfaltigkeit von Urteilen gesetzt ist. E r wird es also auch nie. Es ist daher nichts bestimmt gesetzt, weder in dem einen noch in dem andern. Sie sind nur verschieden in der Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Denn in der Vorstellung einer Totalität von Prädikaten ist die der Totalität von Urteilen vorausgesetzt. Der Begriff von dieser Totalität ist also vollkommen. Der Begriff der Möglichkeit der Urteile ist aber unvollkommen, weil noch nichts gesetzt ist. Schleiermacher,

Dialektik.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Wie verhalten sich nun diese beiden gleichgesetzten Grenzen gegeneinander? In der Bildung der Begriffs- und Urteilslinie liegt das wirkliche Denken, und die beiden Formen sind nur in einer relativen Entgegensetzung gegeneinander. Wir sagten: Der Begriff des einzelnen Gegenstandes ist derjenige, in welchem das größte Übergewicht der organischen Funktion gesetzt ist. Hieraus fanden wir die eine Grenze, indem wir den Begriff des einzelnen Gegenstandes noch als einen höheren setzten, unter dem ein niederer stehen sollte. Das ist also die Denkgrenze nach der Seite der organischen Funktion. Es fragt sich nun, ob wir uns dies auch anschaulich machen können, wenn wir auf die Formel sehen, die wir als Grenze des Urteils aufgestellt haben. Die unendliche Mannigfaltigkeit von Urteilen ist nichts andres als die absolute Quelle aller organischen Impressionen, die chaotische Mannigfaltigkeit des Wahrnehmbaren, ein unbestimmtes Ineinandersein, in dem nichts unterschieden werden kann. Das ist die Totalität von Prädikaten, worin alles Subjektsein aufgehoben, wie auch nichts Bestimmtes gesetzt ist, auch. Aber die letzte Art, die Sache zu denken, ist allemal die vollkommenere, denn ich setze darin die Totalität der Subjekte voraus. Beide Ausdrücke sind also einander gleich, nur daß der eine als unvollkommener, der andere als vollkommener Begriff die Grenze des Denkens nach der organischen Seite bezeichnet. Es wird sehr leicht sein, zu zeigen, daß die beiden anderen Seiten die Grenze des Denkens nach der intellektuellen Seite sind. Im Begriff des Dinges ist noch der Gegensatz von Denken und Gegenstand gesetzt. Dieser Begriff erscheint also rein auf dem Gebiet des Denkens entstanden. Die Aufhebung der Entgegensetzung ist der Akt des Zusammenfassens, den wir in der intellektuellen Funktion aufgefaßt haben. Dieser unvollkommene Begriff ist also die Grenze des Denkens nach der intellektuellen Seite hin. Ebenso ist das absolute Subjekt nichts als die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Prädikat, die wir vorher entgegensetzten, also rein auf der intellektuellen Seite. Wenn wir also sagen: wir haben zwei Ausdrücke für die Grenzen des Denkens nach der organischen und intellek-

Begriffs- und Urteilsgrenzen

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tuellen Seite, so fragt sich, ob diese gleich oder entgegengesetzt sind. Wir ¡haben keine Ursache, die Sache bestimmt zu entscheiden. Aber gehen wir zurück auf die Auflösung streitiger Vorstellungen, so sehen wir, daß ein Wissen nur möglich ist, wenn sich die relativen Formen in der Annäherung an die dritte Form identifizieren können, d. h. wenn wir zu demselben Resultat gelangen sowohl mit dem Übergewicht der intellektuellen wie der organischen Seite. Jeder, der von der Voraussetzung des einen Wissens ausgeht und einen Zustand streitiger Vorstellungen schlichten will, muß beide Denkgrenzen für identisch halten. Also müssen wir sagen: Das absolute Sein, in welchem alle Entgegensetzung aufgehoben ist, und die absolute Mannigfaltigkeit des Erscheinens, in welchem die unendliche Mannigfaltigkeit von Urteilen liegt, welche die absolute Gemeinschaftlichkeit des Seins ist, weil noch keine Begriffsbildung ist, sind wesentlich ein und dasselbe; aber so, daß man bei dem einen absieht von dem wirklichen Denken und bei dem andern von der Vollendung des wirklichen Denkens. Dieses Resultat ist der Form nach aus dem Bisherigen klar, aber doch noch einer Erörterung bedürftig. Wir haben einen terminus eingeführt: das Sein als Einheit des absoluten Subjekts, in welchem alle Prädikate eingeschlossen sind. Dieser Ausdruck ist deutlich. Die entgegengesetzte Grenze haben wir bezeichnet als a b s o l u t e M a n n i g f a l t i g k e i t d e s E r s c h e i n e n s . Dieser Ausdruck ist noch nicht vorgekommen. Die beiden Denkgrenzen verhalten sich 2. Das Verhältnis des unvollkommenen Begriffs zum vollkommenen ist hier auch nur Form, weil keines ein wirkliches Denken ist, gründet sich aber darauf, daß das absolute Subjekt den ganzen Urteüsprozeß und also auch Begriffsprozeß (welche alle wieder in Aktionen müssen aufgelöst sein) voraussetzt. Das unentgegengesetzte Sein aber ist die bloße Negation des wirklichen Denkens und setzt keine bestimmten Begriffe oder Urteile voraus. Ebenso auf der anderen Seite. Die Gemeinschaftlichkeit des Seins ist die allgemeine, das Für-sich-gesetztsein aufhebende Wechselwirkung und setzt alle Urteile als wirklich gebildet voraus. Die unbestimmte Mannigfaltigkeit möglicher Urteile aber ist die Negation des Urteils und damit1) auch des Begriffs, undist also das schlechthin Unvollkommene, als Grenze dargestellt. J)

Hs.: „mit demselben"; korr. Jon. 1 4 *

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

wie das Übergewicht der intellektuellen Funktion zur organischen. Was wir „Erscheinen" nennen, liegt immer auf der organischen Seite. Wir werden nie etwas eine Erscheinung nennen, wozu wir nicht auf dem Wege der organischen Funktion gekommen sind. Diese kann ja auch innerlich sein, braucht nicht immer auf Äußeres zu gehen. Denn sagen wir: „Es hat jemand eine Erscheinung gehabt, es ist aber nichts gesehen oder gehört", so leugnen wir doch nicht eine innere organische Bewegung. Sprechen wir z. B. vom Regenbogen, so ist dies auch wieder kein Ding, sondern nur eine Tatsache, und doch sagen wir: er erscheint. Die organische Funktion kann hier nicht geleugnet werden; aber es wäre ein falsches Urteil, wenn der Regenbogen hierdurch als Subjekt gesetzt würde. Insofern also ist der Ausdruck als sprachgemäß gerechtfertigt, indem er nichts bezeichnen soll als was auf der Seite der organischen Funktion liegt. Wir haben ihn nun gebraucht als Denkgrenze nach dieser Seite, gleichgeltend den beiden anderen: der Totalität der Prädikate und der Mannigfaltigkeit möglicher Urteile. Der engere Sinn des Erscheinens ist, daß wir das eigentliche Sein dem absprechen, was uns erscheint, daß wir in bezug auf dasselbe das Für-sich-gesetztsein aufheben. Das Erscheinen soll veranlassen, Subjekte dazuzusetzen; das Sein dabei ist noch immer ungewiß. Dazu fordert die unendliche Mannigfaltigkeit der Prädikate auch auf, und sie sollen im Subjekt gesetzt sein. Jeder Moment in dem Sein eines einzelnen, Dinges und jedes einzelne Ding in bezug auf die Arten und Gattungen fällt auch unter den Begriff der Erscheinung. Denn ein solcher Begriff ist immer noch limitiert, indem jeder nur verstanden werden kann mit dem anderen Moment und mit den Arten und Gattungen im Zusammenhange. In der einen Grenze ist also das absolute Sein, in der andern die absolute Mannigfaltigkeit der Erscheinung gesetzt. Beides, als rein identisch gesetzt, ist die transzendente Voraussetzung und setzt das wirkliche Wissen. Dies werden wir anschaulich machen, indem wir die einzelnen Punkte der Identität beider Seiten durchführend aufzeigen. Durch dieses Identischsetzen wird der Gegensatz zwischen Begriff und Urteil und die Differenz zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit aufgehoben.

Identität der Denkgrenzen

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36Die Identität der Grenzen in Beziehung auf das wirk10.6. liehe Denken. Inwiefern läßt sich die A u f h e b u n g des Unterschiedes zwischen B e g r i f f und Urteil rechtfertigen? B e g r i f f und Urteil hatten wir doch unterschieden; wir werden auch nie ein wirkliches Denken f ü r identisch halten können, wenn es einmal unter der F o r m des B e g r i f f s und ein andermal unter der F o r m des Urteils gegeben ist. A l l e s wirkliche Denken besteht in einem Übergang vom unvollkommenen zum vollkommenen Denken; in diesem Überg a n g besteht der Gegensatz. Die A u f h e b u n g jenes Gegensatzes ist also nur da möglich, wo wir uns auf der Grenze des Denkens befinden; im wirklichen Denken bleibt er fest.

X X X V I . Fortsetzung der Erläuterung 1 ). (Begriffs- und Urteilsgrenze, Vollkommenes und Unvollkommenes, aufeinander bezogen, repräsentieren im Transzendentalen die formale Seite1))Inwiefern wir nun hieran das früher Vermißte, nämlich die Beziehung auf die formale Seite unserer Aufgabe, gewonnen haben, geht aus folgendem hervor. Jeder Begriff, sofern er unvollkommen ist, setzt er noch ein Sein ohne Entgegensetzung. Denn wenn er unvollkommen ist, so ist noch manches in seinem Gegenstande Enthaltenes in ihn nicht aufgenommen. Aber es kann auch nicht das Gegenteil davon aufgenommen sein, sonst wäre er nicht unvollkommen, sondern falsch. Also ist das Nichtaufgenommene und dessen Gegenteil gar nicht in ihm entgegengesetzt. Jeder Begriff, sofern er vollkommen ist, so ist alles Prädikable in ihn aufgenommen, er trägt also die Form des absoluten Subjekts an sich und ist von demselben nur durch die Größe unterschieden. Nun ist jeder wirkliche Begriff sowohl vollkommen als unvollkommen. Die eine Grenze bezeichnet also seine positive Seite, die andere seine negative. Beide Grenzen sind also identisch, sofern sie das wirkliche Denken zum Gegenstande haben; jede aber, für sich bezeichnet, nur die eine Seite in abstracto und ist kein wirkliches Denken. Beide aber, aufeinander bezogen, bezeichnen die Methode des Fortschreitens in der Begriffsbildung, d. h. also die Beziehung auf die formale Seite. Ebenso ist es nun mit den Urteilsgrenzen. Wenn das eigentliche Urteil, auf den relativ vollkommenen Begriff folgend, das einzige eigentliche Urteil ist, so ist also der erste Anfang desselben das Setzen der möglichen Geschichte oder möglichen Individualisierung, und im ersten wirklichen Urteil sind alle folgenden nicht mitgesetzt, sondern ausgeschlossen. Jedes Urteil also, sofern es noch nicht mit den dazugehörigen verbunden ist, trägt die Form der Mannigfaltigkeit möglicher Urteile in sich. Umgekehrt, wenn Tätigkeit Fehlt bei Jon.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

In welchem Sinne können nun aber die beiden Denkgrenzen des Begriffs und Urteils identisch sein? Ihrer Form nach können sie es nicht sein;denn die eine setzt voraus, daß noch gar nichts gedacht worden sei, und so ist sie die rückwärtsgehende Konstruktion des Denkprozesses. Ebenso können wir die absolute Vollkommenheit nicht bewerkstelligen. Beides setzen wir hinaus über die ganze mit Denken erfüllte Zeit. In seiner Form ist es rein entgegengesetzt, beides wird nach entgegengesetzten Seiten vom wirklichen Denken mit konstruiert. Wenn wir uns nun im Bezirk des wirklichen Denkens einen vollkommenen und einen unvollkommenen Begriff vorstellen, so sind sie auf andere Art verschieden, je nachdem sie denselben oder einen anderen Gegenstand haben. Daß Begriff und Urteil einen Gegenstand haben können, ist offenbar. Hier gibt es eine relative Identität von Gedanken über denselben Gegenstand. Verschieden sind sie nur durch die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit. Relativ: denn der Gegenstand verändert sich nicht; nur als Gedachtes kann er für den Denkenden ein anderer werden, wenn sich sein Bewußtsein darüber ausdehnt, was jenem aber nicht Abbruch tut. Was vom wirklichen Denken gilt, muß auch von den Grenzen gelten. Sie sind also beide identisch, insofern derselbe und Empfänglichkeit des einzelnen Dinges oder Beziehungen des einzelnen Momentes erschöpft sind, so ist alles in ihm selbst und es selbst in allem. Also jedes Urteil als vollkommen trägt die Form der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins und unterscheidet sich von demselben nur durch die Größe. Die beiden Urteilsgrenzen also sind identisch, sofern sie das wirkliche Denken zum Gegenstande haben. Denn sie sind wirklich in jedem, und, aufeinander bezogen, stellen sie die Form des Fortschreitens in der Urteüsbüdung auf. Auf der Begriffsseite müssen wir in jedem Augenblick die verworrene Indifferenz verlassen und auf das absolute Subjekt losgehen. In der Urteüsbüdung müssen wir in jedem Augenblick das chaotische Ineinander verlassen und uns der absoluten Gemeinschaftlichkeit nähern. Nur wer sich an diese Exponenten hält, kann zu einer Annäherung an das Wissen kommen. Inwiefern aber nun die transzendente Grundlage alles Wissens uns hierin wirklich gegeben ist, das geht nur hervor, wenn wir auf das Verhältnis der Denkgrenzen zur organischen und intellektuellen Funktion im Denken sehen.

Identität der Denkgrenzen

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Gegenstand gesetzt ist. Sobald aber das Denken einen Gegenstand hat (auf einen Gegenstand bezogen ist), ist es keine Denkgrenze mehr, sondern ein wirkliches Denken. Wie können wir also die Denkgrenzen in bezug auf einen Gegenstand identisch setzen, da sie dann aufhören, Grenzen zu sein? Beziehen sie sich aber auf keinen Gegenstand, so sind sie nicht identisch. So scheinen wir aber unsere ganze bisherige Operation zu vernichten. Finden wir hier einen Avisweg? — Wie waren wir denn zu der ganzen Konstruktion gekommen? Offenbar, indem wir vom wirklichen Denken ausgingen, es in seiner Entwicklung als eine Reihe setzten, die wir verlängerten, bis die Form verschwand und der Inhalt blieb, oder bis der Inhalt verschwand und die Form blieb. So beziehen sich die Denkgrenzen immer auf einen wirklichen Gegenstand, aber nur auf partielle Weise. Wir wollen im wirklichen Denken zwei Punkte setzen und diese in bezug auf die Denkformen vergleichen. Denken wir uns einen unvollkommenen Begriff eines Gegenstandes und einen vollkommenen, wie verhalten sich diese? Der Begriff ruht auf einem Zyklus von Urteilen; er ist also desto vollkommener, je vollkommener der Zyklus von Urteilen ist. D. h. was früher vom Gegenstand als Subjekt prädiziert wurde, ist jetzt in die Einheit des Subjekts aufgenommen. Der vollkommene Begriff charakterisiert sich also durch diejenige Form, die wir aufgestellt haben: durch das absolute Subjekt, von dem nichts mehr prädiziert werden kann. Denn denken wir uns jeden Begriff in der absoluten Vollkommenheit, so kann nichts weiter von ihm prädiziert werden. — Bei unvollkommenen Begriffen müssen wir unterscheiden, da wir im Denken nicht stehenbleiben können, ob wir unter überwiegender organischer oder iatellektueller Funktion fortschreiten wollen. Wenn ein Begriff unter der Form des Denkens im engeren Sinne vollkommen werden soll, so müssen die Operationen der Entgegensetzung und Zusammenfassung, die noch nicht vollendet sind, in ihm öfter wiederholt werden. Inwiefern der Begriff hier ein unvollkommener ist, so ist in unserem Denken noch nicht entgegengesetzt, was entgegengesetzt werden soll, und nähert sich also dem Sein, das noch keinen Gegensatz hat. Die Vorstellung dieser Denkgrenze ist also die Form des unvoll-

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kommenen Begriffs und hat somit eine Beziehung auf das wirkliche Denken. Weil aber ein jeder wirkliche Begriff sowohl vollkommen als unvollkommen ist, so sind beide Denkgrenzen in ihm eins. Wenn ich die Form des Vollkommenen und Unvollkommenen isoliere und als Abstraktum betrachte, was am wirklichen Gegenstande eins ist, so habe ich kein wirkliches Denken mehr. Wie steht es nun mit den Grenzen des Urteils ? Was ist jene absolute Gemeinschaftlichkeit des Seins, wo alles in Prädikate aufgelöst und also jedes Subjekt als ein solches gesetzt wird, das in Aktionen aufgelöst werden müßte? Auch dies ist eine Formel, die nie vollzogen werden kann. Denn solange wir prädizieren, setzen wir auch ein Subjekt. Es ist also kein wirkliches Denken mehr unter der Form des Urteils; aber auch kein Begriff mehr, wenn es auch die Form desselben hat, weil ihm kein Gegenstand mehr entspricht. Wenn wir auch hier wieder innerhalb des wirklichen Denkens zwei Punkte vergleichen, die im Bereich des Urteils gesetzt sind (wie vorher im Bereich des Begriffs), wie werden sich dann hier jene Grenzen verhalten? Hierzu müssen wir zurückkommen auf das, was wir früher an einem Beispiel auseinandergesetzt hatten: „Dort glänzt etwas." Das Prädikat ist dominierend, das Subjekt das untergeordnete, und es ist also eigentlich das Setzen eines Seins in einem anderen. Denken wir uns nun diese mit dem Prädikat begonnene Bewegung fortgesetzt, ohne daß sie durch eine entgegengesetzte in Begriffsbildung übergeht, so wird das Urteil dadurch vollendet, daß ich das Prädikat überall setze, wo es zu setzen ist. Sobald ich etwas anderes getan habe, bin ich schon in die Begriffsbildung übergegangen. Das Streben des Urteils an sich geht also darauf, das Gesetzte in seinem In-einem-andern-gesetztsein zu erschöpfen (das in einem andern Gesetzte überall zu setzen). Das Urteil in seiner Vollständigkeit trägt die Form an sich, vom Subjekt zu abstrahieren. Denn das Prädikat ist eigentlich nur gewollt, das Subjekt ist nur da, um dem Prädikat zu dienen, damit alles Gesetzte in einem andern gesetzt sei und nichts für sich selbst. Betrachten wir das Urteil in der rückgängigen Bewegung, so kommt es auf das andere zurück, denn wo nichts gesetzt

Identität der Denkgrenzen

ist, worauf ich beziehen kann, bleibt nur die Möglichkeit des Prädizierens, die Möglichkeit mannigfaltiger Urteile. Zwischen den beiden Grenzen liegt alle mögliche Urteilsbildung. Aber da dem Urteil der Begriff zugrunde liegt, wird es unvollkommen werden, wenn ein mangelhaftes Subjekt gesetzt wird. Auch hier beziehen sich die Denkgrenzen auf das wirkliche Denken. Die eine stellt das unvollkommene Denken dar, die andre das vollkommene. Alle unsere Urteile sehen wir nur an als dem Begriff vorausgehend. Aber dies ist eine unbegründete Gewohnheit, und wir können ebenso immer aufs Urteil ausgehen. So haben wir zwei einander relativ entgegengesetzte Denkgrenzen unter zwei verschiedenen Formen gefunden; und diese sollen nun der Punkt sein, wovon wir ausgehen müssen, um streitige Vorstellungen zu schlichten. Aber sie sind es nur, inwiefern wir sie identifizieren. Nun haben wir auch die formale Seite unserer Aufgabe gefunden, die uns immer noch fehlte. Auf der Seite des Begriffs will jeder von einem Sein, in welchem noch nichts entgegengesetzt ist, zu einem solchen gelangen, in welchem mehrere Entgegensetzungen gesetzt und aufgehoben sind; und ebenso auf der Seite des Urteils will jeder das unbestimmte Ineinander, welches nur die Möglichkeit mannigfaltiger Urteile enthält, verlassen, um zur absoluten Gemeinschaftlichkeit der Prädikate zu gelangen. Inwiefern ist nun hiermit die transzendente Voraussetzung vollständig gegeben? Es ist die doppelte Beziehung auf das Denken von der organischen und intellektuellen Seite gesetzt, und beides ist gleichgesetzt: d i e a b s o l u t e E i n h e i t des Seins und die M a n n i g f a l t i g k e i t des E r s c h e i n e n s . Dies ist der C h a r a k t e r d e s W i s s e n s : Das Gesetz des Denkens, welches den Prozeß von seiner intellektuellen Seite aus konstituiert, und das Sein, von welchem die Totalität aller organischen Impressionen ausgeht, muß als ein und dasselbe gesetzt werden, d. h. als vollkommen adäquat. Anders ist keine Schlichtung streitiger Vorstellungen möglich. Was auf der organischen Seite gefehlt wird, muß auf der anderen Seite berichtigt werden und umgekehrt.

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Friedrich Schleiermachers

Dialektik

Die Denkgrenzen als Primär- und Finalvoraussetzung.

11. 6. Dj[e Formeln von einem Sein ohne Entgegensetzung und von einem absoluten Subjekt sind die Grenzen des Denkens und beziehen sich auf die intellektuelle Funktion; die Formeln von einem Mannigfaltigen möglicher Urteile in Beziehung auf das Verworrene der Impressionen und von einer Gemeinschaftlichkeit der Prädikate repräsentieren die organische Funktion. Beides müssen wir gleichsetzen und allem Wissen zugrunde liegend ansehen, denn in jedem wirklichen Denken sind beide Funktionen immer ineinander. Hieraus haben wir schon früher gefolgert, daß diese beiden Funktionen in sehr verschiedenem Verhältnis beieinander sind, XXXVII. Nämlich die unvollkommene Begriffs- und Urteilsgrenze an sich sind die primäre Voraussetzung alles Denkens, die wir in jedem Denken schon hinter uns haben. Immer haben wir schon entgegengesetzt und bestimmt. Daß es aber im Denken eine annähernde Fortschreitung an das Wissen gibt, beruht nur darauf, daß die organische Entwicklung und die intellektuelle in ihrer Totalität dieselben sind, und also auch jedes in der einen unter etwas in der anderen kann subsumiert werden. Und dies beruht auf der Idee des absoluten Subjekts, in welchem der Gegensatz zwischen dem Denkenden und Gedachten aufgehoben ist. Dies erstreckt sich aber zugleich auch über das Gebiet des Urteils. Denn die absolute Gemeinschaftlichkeit des Seins ist nur in dem absoluten Subjekt, und in diesem also ebensogut der Gegensatz zwischen Urteil und Tatsache, worauf allein das eigentliche Urteil sich bezieht, als der zwischen Begriff und Gegenstand aufgehoben. Wenn nun nicht in unserem Urteilen dasselbe gesetzt ist wie in der realen Gemeinschaftlichkeit des Seins, und in dieser alles Urteilen selbst als Tatsache mit enthalten, so ist alles Denken nur w i l l k ü r l i c h , und es besteht kein Unterschied zwischen dem bloßen Denken und dem Wissen. Das Urteilen aber ist der organischen Funktion näher, wie es zugleich die Quelle ist vom Bildlichen im Begriff. Das Begriffbilden ist der intellektuellen Funktion näher, wie es auch die Quelle ist vom Entgegensetzen im Urteil. Wie nun Begriff und Urteil aufeinander beruhen, so beruhen also auch organische und intellektuelle Funktion aufeinander. Das Wissen beruht darauf, daß die ideale Entwicklung in der intellektuellen Funktion, welche in alles büdliche Vorstellen und Urteilen hineingeht, und die Gesamtentwicklung der organischen Eindrücke, welche in alles Entgegensetzen und Begreifen eingeht, ein und dasselbe ist, wiewohl wir diese Selbigkeit nie gehabt im wirklichen Denken, sondern immer hinter derselben zurückbleiben, indem sie nur ist im absoluten Subjekt und in der absoluten Gemeinschaftlichkeit alles Seins.

Die Denkgrenzen und das wirkliche Denken

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und daß dadurch doch nicht etwa zwei verschiedene Gebiete des Denkens ausgeschieden werden. Dasselbe Sein kann unter der einen oder der anderen Form im Bewußtsein dargestellt werden. Was so vom wirklichen Denken gilt, muß auch von diesen Grenzen des Denkens gelten. Was heißt also jene Gleichsetzung? Unsere Denkgrenzen haben zwei verschiedene Formen : die eine gestaltet sich so, daß alles wirkliche Denken als ein Späteres, die andere so, daß alles Denken als ein Früheres gedacht wird. Setzen wir beides gleich, so würde das heißen: die Formel des Seins ohne Entgegensetzung in ihrem Verhältnis zum absoluten Subjekt, in welchem alle Entgegensetzung eingeschlossen ist, ist gleichzusetzen der Formel von der Mannigfaltigkeit möglicher Urteile in ihrem Verhältnis zur absoluten Gemeinschaftlichkeit alles Seins. Sehen wir auf das Verhältnis der beiden Funktionen, so heißt das soviel: das, wodurch die unendliche Mannigfaltigkeit möglicher Urteile bedingt ist, ist eben dasselbe Sein, in welchem noch nichts entgegengesetzt ist, aber woraus alle Entgegensetzung entwickelt werden kann. Wird so entwickelt, so entstehen Begriffe. Wird das Chaotische bestimmt, so entstehen Vorstellungen unter der Form des Wahrnehmens. Beides in der Totalität und an und für sich gedacht, ist ein und dasselbe, d. h. für jedes, was bestimmt werden kann von der Seite der organischen Funktion, gibt es auch etwas, das gebildet werden kann unter der Form des Denkens im engeren Sinne. Ohne diese Voraussetzung würde es nie ein Denken geben, welches ein Wissen werden könnte. Das vorausgesetzte Sein, in welchem durch unsere intellektuelle Funktion die Entgegensetzunigen entwickelt und zusammengefaßt werden, ist dasselbe mit dem äußerlich Gegebenen; oder: Bilder und Begriffe der Gegenstände müssen dasselbe sein. Wird diese Voraussetzung nicht angenommen, so ist keine Anschauung möglich; d. h. es gäbe dann kein Denken, worin sich die beiden Formen durchdringen; und sie müßten immer auseinandergehen, wenn in der einen etwas anderes gesetzt wäre als in der anderen. Es gäbe dann auch keine Beziehimg unserer Denkformen auf die sinnliche Vorstellung, die also nie geordnet werden könnte, sondern immer ins Chaotische zurücksinken müßte.

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Wir müßten dann also zwei Gebiete des Denkens haben. Wenn aber diese nicht aufeinander zurückgeführt werden können, so ist in dem einen das Denken kein Wissen, weil es sich nicht auf ein Gedachtes bezieht; und auch in dem anderen keins, weil es nicht zurückgeführt werden kann auf die Identität der Konstruktion in allen. Nun haben wir aber gesehen, daß jene beiden Grenzen, das Sein ohne Entgegensetzung und die unendliche Mannigfaltigkeit von Urteilen, nur Wahrheit haben, inwiefern man sie auf die anderen beiden, auf das absolute Subjekt und die absolute Gemeinschaftlichkeit alles Seins, zurückführt. Das heißt: In den Operationen unseres Denkens sind wir das Denkende, und unser Denken bezieht sich auf ein Gedachtes, und über diesen relativen Gegensatz kommen wir im wirklichen Denken nicht hinaus; denn er ist sogar in uns, wenn wir u n s denken. Dieser Gegensatz verschwindet aber im- absoluten Subjekt, weil hier nichts mehr prädiziert werden kann, und in welchem alle Entgegensetzung zusammengefaßt, also die reine Identität des Denkenden und Seienden, des Denkens und des Gedachten gesetzt ist. Wenden wir das noch besonders an. Wir haben gesagt: In der Idee des absoluten Subjekts verschwindet der Gegensatz zwischen dem Denken und seinem Gegenstande, denn beide müssen in demselben eins geworden sein. Dies werden wir mehr auf den Begriff als auf das Urteil beziehen, und insofern ist hier immer eine Einseitigkeit. Diese Einseitigkeit müssen wir ergänzen und denselben Prozeß auf der anderen Seite vornehmen und sagen: Die Vorstellung von der Möglichkeit unendlich mannigfaltiger Urteile hat nur eine Wahrheit, wenn man sie bezieht auf die Idee der absoluten Gemeinschaftlichkeit alles Seins, kraft deren alles in jedem gesetzt ist, und alles von allem prädiziert. Dies ist die Aufhebung alles Absolut-für-sich-gesetztseins, also das Setzen eines allgemeinen Zusammenhanges, d. h. einer Geschiedenheit, die aber wieder verknüpft wird. Denken wir uns z. B. die Vorstellung von Elementen als die letzte Auflösung desjenigen, was in unseren organischen Impressionen auf das Außer-uns zurückgewiesen wird; und stellen wir den Satz auf: In allen Dingen sind alle Elemente gesetzt, so ist das ein Ausdruck der Gemeinschaftlichkeit

Die Denkgrenzen und das wirkliche Denken

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des Seins. Wir können uns nur bestimmte Elemente als geschieden denken; sie sind also geschieden, aber in jedem wirklich Gesetzten wieder verknüpft. Die Verknüpfung solcher Verschiedenen setzt die absolute Totalität aller Urteile voraus. Bringen wir dies auf die Analogie mit dem Vorigen zurück. Wie dort der Unterschied zwischen Denken und Gegenstand verschwindet, so hier (in der Idee von der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins) der G e g e n s a t z v o n U r t e i l u n d T a t s a c h e . Es ist hier aber immer nur das eigentliche Urteil gemeint. Als eigentlichen Gegenstand des Urteils haben wir nun die Tatsache. Die Tatsache ist der Ausspruch jedes Urteils; und jede Form des Seins, ob Gattung, Art usw., unter dem Gesichtspunkt des Urteils betrachtet, ist Tatsache. Jeder Moment wird, indem eine Tatsache wird. Das eigentliche Urteil versiert im Gebiet der Tatsachen, und der Gegensatz von Urteil und Tatsache ist derselbe wie der von Begriff und Gegenstand. Durch die Idee von der absoluten Gemeinschaftlichkeit alles Seins ist auch dieser Gegensatz aufgehoben, denn der Gegensatz schlösse ja die Gemeinschaftlichkeit aus. Das absolute Subjekt oder die absolute Gemeinschaftlichkeit alles Seins zu denken ist einerlei, weil eins nur durch das andere ist. Jene erste Identität war gleichsam das Leere, wovon alles wirkliche Denken ausgeht, d. h. wir könnten nie eine Operation des Denkens, die ein Wissen werden soll, .mit irgendeiner Art des Bewußtseins anfangen, wenn wir nicht voraussetzten., daß dasjenige, was wir unter der Form der Entgegensetzung ideal entwickeln, im Sein real gesetzt sei und umgekehrt. Die andere Identität ist diejenige, welche alles wirkliche Denken unter beiden Formen als gleichgesetzt voraussetzt; d. h. wir kommen nie auf das absolute Subjekt im wirklichen Denken, so daß es uns unter der Form des Organischen gegeben wäre, und ebenso 1411 ter der Form des Urteils nie dahin, daß der Gegensatz zwischen Subjekt und Prädikat verschwinde; aber wir beziehen alles wirkliche Denken darauf. Und jene Voraussetzung und diese Beziehung liegen eigentlich jedem Denken, welches ein Wissen werden soll, zugrunde. Geschähe dies nicht, so hätten wir keine Veranlassung, die beiden Denkformen einander zu approximieren, um zur Anschauung zu kommen, und keine Ursache, das, was unter der

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Form des Begriffs und unter der Form des Urteils gesetzt, ineinander aufzulösen. Sind wir in jener Auflösung nicht begriffen, so werden wir nicht sicher sein, ob das, was wir im Urteil als Subjekt setzen, dasselbe sei, was wir im B e g r i f f e konstituierten. So können wir also die Einseitigkeiten, bei denen wir stehengeblieben waren, ergänzen, indem wir sagen: Es ist dieselbe F i n a l f o r m , in welcher der Gegensatz zwischen Begriff und Gegenstand, Urteil und Tatsache, zwischen Sein als Gedachtem und Sein als Denkendem verschwindet. Was bedeutet es nun, daß uns das Denken in diesen beiden Formen, der gleichsam leeren und erfüllten, gegeben ist ? Gehen wir auf den Znstand streitiger Vorstellungen zurück. Jeder muß schon zum wirklichen Denken gekommen sein, und die Entstehung des Gedankens muß hinter ihm liegen unter der Form der Entgegensetzung und der Ausscheidung aus dem Mannigfaltigen. Diese Entgegensetzung und diese Bestimmung ist die P r i m ä r v o r a u s s e t z u n g , die allem Denken schlechthin zugrunde liegt. Aber den Streit aufheben können wir nur in Beziehung auf die F i n a l v o r a u s s e t z u n g ; ohne diese können wir uns nicht einmal den conatus dazu erklären. Die besondere Anwendung ist diese: Wenn wir sagen, d a ß die beiden Formen des Denkens, Begriff und Urteil, in der Identifikation jener beiden transzendenten Voraussetzungen aufhören, einander entgegengesetzt zu sein, so ist alles ebensogut unter der Form des Begriffs wie des Urteils begriffen. Daraus könnte man folgern: E s könnte alles Wissen sein nur in der Form des Begriffs oder nur in der Form des eigentlichen Urteils unter Ausschließung des Begriffs. Da nun das eigentliche Urteil mehr der organischen Funktion, der Begriff mehr der intellektuellen angehört, so würde der eine das Wissen auf die organische Funktion gründen, der andere auf die intellektuelle. Und hieraus entsteht der Gegensatz zwischen Realismus und Idealismus. Das Setzen der einen Form, wodurch die andere Form ausgeschlossen wird, wird von uns geleugnet. Im wirklichen Denken, sagen wir, ist Annäherung an das Wissen nur möglich unter beiden Formen.

Idealismus und Realismus

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38Die Einseitigkeit des Idealismus und Realismus. W i r 13.6. w o j X e n nun durch unsere Voraussetzung diese beiden einsei' bis 8 t i S e n Ansichten aufheben. W i r haben zuletzt die allgemeine 176 Voraussetzung des Denkens betrachtet, wie sie zugleich die formale Seite repräsentiert und so die Grundlage des Wissens in seinem Unterschied vom Denken ist. Die gegenüberstehenden Grenzen sind identisch, insofern sie das vollkommene und unvollkommene Denken bezeichnen, aber nur insofern man B e g r i f f und Urteil immer verbunden denkt. Das Isolieren der einen oder andern Form in bezug auf das Wissen heißt R e a l i s m u s oder I d e a l i s m u s . Diese Ausdrücke werden wie alle, welche irgendwie Parteinamen sind, sehr willkürlich gebraucht. Z u f o l g e der bisherigen Voraussetzungen kann man nie behaupten, das Wissen sei nur unter der ausschließenden F o r m des B e g r i f f s oder Urteils g e setzt. D a ß eine Neigung zu solcher Einseitigkeit in der menschlichen Natur liegt, geht aus allen unseren Erörterungen hervor. Bei jeder Entgegensetzung gibt es ein relatives Übergewicht des einen oder anderen, was zu solcher Einseitigkeit führen kann.

B e g r i f f und Urteil haben wir so begrenzt, d a ß wir immer nur vom eigentlichen Urteil reden, das dem B e g r i f f vorangeht. Der Gegenstand des Urteils ist immer das e i n z e l n e Die nächste Anwendung, welche wir hiervon machen müssen, ist die, daß ohnerachtet dieser Selbigkeit wir nicht glauben dürfen, das Wissen haben zu können in der einen Form ohne die andere, d. h. daß wir uns den G e g e n s a t z von I d e a l i s m u s und R e a l i s m u s auflösen. X X X V I I I . Der Zusammenhang ist der, daß die entgegengesetzten Grenzen nur identische sind, weü sie jede eine andere Seite des wirklichen Denkens repräsentieren, insofern man beide Formen des Denkens gleichsetzt, und zwar sie gleichsetzt in bezug auf die Idee des Wissens. — Der I d e a l i s m u s , den wir demgemäß hier bestreiten (§ 168), ist die aus überwiegender Zuneigung zum Prozeß der Begriffsbüdung entstandene ausschließende Einseitigkeit, welche dem Gebiet der Urteüsbüdung das Wissen abspricht. Es ist nämlich auch hier nur von eigentlichen Urteüen die Rede. Diese haben das vereinzelte Sein zum Gegenstande, welches wir nur in der Unendlichkeit der seine Zustände aussagenden Urteile haben, das aber als eigentlicher Begriff nie kann gegeben sein. Daher diese Ansicht sich vorzüglich dahin ausspricht, das Gebiet des Einzelnen sei das des Scheins.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

D i n g oder der e i n z e l n e Moment, denn das A l l g e m e i n e ist immer Gegenstand des vollständigen B e g r i f f s , der dem Urteil vorangegangen ist; und dieses Moment ist immer in der Unendlichkeit der Urteile gesetzt. Wenn eine überwiegende Neigung besteht, das Wissen unter der Form des B e g r i f f s zu konstruieren, so sucht man das einzelne Sein aus dem Gebiet des Wissens auszuschließen, weil es nicht im B e g r i f f aufgeht. Soll der B e g r i f f als die einzige F o r m des Wissens gelten, so ist das Einzelne kein Sein, und das Nichtsetzen unter der Form des Urteils ist das Nichtsein. Beides ist also das Nichtwißbare. In der Vorstellung des Vereinzelten sei, so sagt man dann, keine Identität des Denkens und Gegenstandes; sie gehöre ins Gebiet des Scheins. Das geformte Wissen käme vom andern Ende her, von der absoluten Einheit des Seins, wovon durch spaltende Entgegensetzung und Zusammenfassung das System von Beg r i f f e n entstehe. E s mag dies nun jemand so fest behaupten, wie er will, so kann er doch nicht leugnen, daß der Zustand der Überzeugung, das Nicht-weiter-fortsetzen-wollen des Denkens, als Charakter des Wissens in dem Verkehr unseres Bewußtseins mit dem vereinzelten Sein ebensogut vorkomme wie in der Konstruktion des Begriffs. Dies wird auch zugegeben, und doch werden beiderlei Zustände vom Idealisten nicht für identisch gehalten; vielmehr wird das Überzeugungsgef ü h l des einzelnen Wissens, die OQ&rj öd£a, ganz gesondert von dem des allgemeinen Wissens, der Bniarrmrj. Wegen dieser Duplizität einer höheren und niederen Potenz ist das Bewußtsein gespalten und die D i f f e renz des allgemeinen und individuellen Denkens aufgehoben, die wir doch schon als unerläßlich gefunden haben. A l l e Gefühlszustände blieben dann ungelöst und alles Individuelle ausgeschlossen. Kein Element zu einer Differenz dürfte darin sein, und das Denken müßte in allen dasselbe sein. So aber müßten auch alle Geschmacksurteile gleich sein und ließen sich von dem einen auf den andern übertragen. Darf das Denken nur bei der absoluten Einheit des Seins anfangen, so schließt die folgende Reihe alles Individuelle aus. Setzen wir alles von der organischen Seite beiseite, so kann von jenem Punkt aus nichts ins Denken kommen,

Idealismus und Realismus

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was eine solche Differenz konstituiere. Das können wir schon deshalb nicht zugeben, weil unser ganzes Ausgleichungsmittel, die Sprache, tingiert ist von einem solchen Eigentümlichen. Endlich wäre auch das willkürliche Denken (sinnliche Phantasieren) — da es als wirkliches Denken, wie wir gesehen haben, ebensogut von der intellektuellen wie von der organischen Seite anfangen kann und von jeder Seite aus ein anderes wird — ganz verschieden vom Denken, das auf dem Wege zum Wissen liegt. Auch diese Differenz ist durch den Idealismus aufgehoben. Die andere Einseitigkeit ist das ausschließende Herübergreifen der Neigung, das Wissen im Gebiet des vereinzelten Seins durch das Urteilen zu konstruieren, welches nun den Begriff ausschließt. Diese Ansicht verbindet sich vorzüglich mit dem Vorwurf, den man der entgegengesetzten macht: In der Auffassimg des Einzelnen fühle sich jeder notwendig gebunden. In der Komposition der reinen Begriffe dagegen sei das Bewußtsein nie so bestimmt, daß wir das willkürliche Denken vom wirklichen unterscheiden können. Folglich müsse das Wissen von dem Punkt ausgehen, worin die meiste Notwendigkeit liege. Das Denken unter der Form des Urteils entspreche dem Sein, das Denken unter der Form des Begriffs entspreche ihm nicht; es sei also ein leeres Denken, welches nur seinen Zweck haben kann in der Begrenzung und Zusammenfassung des anderen Denkens. Das Einzelne, die niedrigste Stufe des Begriffs, habe Sein, die allgemeinen Begriffe aber seien keine Dinge, sondern leere Bezeichnungen, aus der Abstraktion einer Masse von Urteilen entstanden. Dies ist der Realismus. Streng genommen setzt diese Ansicht das Wissen nur in der Form des eigentlichen Urteils. Hier aber wird das Subjekt nicht gesetzt", sondern nur vorausgesetzt. Das Setzen des Subjekts geschieht nicht selbst durch ein Urteil, sondern hat seine Abstammung im Gebiet der Begriffsbildung. Also ist das ganze Gebiet der Subjekte in diesem System als ein willkürliches gesetzt. Was im Urteil vorausgesetzt wird, sind nur leere Bezeichnungen, und das Urteil hat also auch das Nichtseiende in sich, es ist nur im beständigen Fluß der PrädiS c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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kate ohne Subjekt. Die Bestimmtheit des Wissens geht da verloren, denn es ist kein Subjekt bestimmt. Der konstante Realist muß zugeben, daß die Begriffe nicht gesetzt sind, sondern nur die Prädikate. E s wird nichts gewußt als unter der Form des unvollständigen Urteils, in dem kein Subjekt gesetzt ist, sondern alle Tatsachen, die uns im Urteil vorkämen, würden dann auf ein Unbekanntes = x bezogen werden. Hieraus geht hervor, daß, wenn die Tendenz dieser ausschließenden Tätigkeit so weit geht, daß die intellektuelle Funktion für das zu Erklärende, zu Denkende nichts beiträgt, es auch nicht mehr möglich ist, die andere Seite, die organische Funktion, auf bestimmte Weise auseinanderzuhalten, sondern, indem das System bestimmter Subjekte fehlt, werden die Urteile selbst ein chaotisches Ineinanderfließen, und es ist alles Wissen aufgehoben. Der Realismus (§ 169) ist die aus entgegengesetzter Vorliebe entstehende entgegengesetzte ausschließende Einseitigkeit und heftet sich zunächst an den letzten dem Idealismus gemachten Vorwurf; daß er willkürliches und gemeingültiges Denken nicht zu trennen wisse, und an die Gebundenheit in der Wahrnehmung. Hiernach werden die allgemeinen Dinge ein Nichtseiendes, d. h. die allgemeinen Begriffe leere Formen. Es folgt aber daraus, daß auch die Urteüe sich in einen unbestimmten Fluß verlieren, weü bei jeder Subjektsbestimmung die allgemeinen Begriffe konkurrieren. Damit geht also die Bestimmtheit des Wissens verloren. Zu §§ 170—172. Wir kommen daher so zu stehen, daß wir die Skepsis uns gegenüber haben, und zu beiden Seiten die beiden Einseitigkeiten, deren jede ein Element der Skepsis in sich trägt, so daß nur1) durch die Annahme: Es gibt nur ein wirkliches2) Wissen unter der Form des Begriffs, sofern es auch eins gibt unter der Form des Urteils, und ebenso mit der Form des Urteüs /die Einseitigkeit aufgehoben wird/8). — Daraus folgt nun, daß auch im Sein etwas der Form der Begriffsbüdung und etwas der Form der Urteilsbildung entspreche, also auf der einen Seite eine Teilung des Seins nach Gegensatz, auf der andern eine Entwicklung des vereinzelten Seins, nach welcher jeder auf alles wirkt und von allem leidet. — Und hiermit kehren wir nun zur genaueren B e t r a c h t u n g der transzendenten Voraussetzung als solcher /zurück/ und lassen ihre Beziehung auf das F o r male hier ruhen, weil wir sonst gleich zur Behandlung der formalen Seite an sich übergehen müssen. 2) „wirkliches" fehlt bei Jon. Jon.: „wir". Der Satz hört in der Hs. mit „Urteils" auf. Jon. erg.: „einen der Skepsis völlig entgegengesetzten Standpunkt einnehmen". 8)

Idealismus und Realismus

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Indem wir den Idealismus leugnen, so leugnen wir gar nicht das, was diese Ansicht setzt, daß nämlich unter der Form des Begriffs gewußt werde. Wir leugnen nur ihre Negation, d a ß unter der Form des Urteils nicht gewußt werde. Das Positive der zweiten Ansicht leugnen wir gleichfalls nicht, sondern auch nur ihre Negation. Hätten wir auch das Positive geleugnet, so wäre unsere Setzung, daß weder unter der Form des Begriffs noch des Urteils gewußt werde, die vollkommenste Darstellung des Skeptizismus. Wir dagegen stehen auf einem Punkte, der der Skepsis entgegengesetzter ist als jeder andere. Jeder andere Punkt hat ein Element der Skepsis in sich. Wir negieren alle Elemente der Skepsis, d. h. wir setzen die Idee des Wissens so vollständig, als sie gesetzt werden kann. Wenn wir diese Stellung noch einmal in die Elemente auflösen, so nehmen wir an: 1. ein Wissen unter der Form des Begriffs, welches von allen identisch vollzogen wird. Zu dem Wissen rechnen wir aber die Identität des Denkens und Seins. Indem nun das System der Begriffe ein Zyklus ist von Entgegensetzungen, so müssen wir auch voraussetzen, es entspreche diesem System der Begriffe eine Teilung des Seins. Jede Zusammenfassung und Trennung hat etwas Entsprechendes im Sein. 2. Ebenso nehmen wir ein Wissen an unter der Form des Urteils, d. h. wir sagen, es gebe Urteile, die von allen auf dieselbe Weise vollzogen werden, und: es gebe ein System eigentlicher Urteile, welche aussagen, was dem vereinzelten Sein zukommt, und diese müssen bei allen übereinstimmen. Auch hier nehmen wir an eine solche Entwicklung des Seins, die dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil entspricht. Dieses ist die absolute Gemeinschaftlichkeit des Seins,, und wir nehmen daher an, daß das einzelne Sein als ein besonderes, verschieden Gesetztes zugleich ein gemeinschaftliches sei., als ein gemeinschaftliches tue und leide. Das ist also diejenige Konstruktion des Wissens, welche wesentlich zusammenhängt mit der Art, wie wir uns die transzendentale Seite in bezug auf die formale gedacht haben. Was wir im formalen Teil zu entwickeln haben, muß hier anknüpfen. Man muß nämlich so verknüpfen, daß man aus 15*

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der Identität des Denkens und Seins nie herauskomme. Davon abstrahieren wir aber noch und fassen erst die transzendentale Seite nach ihren verschiedenen Elementen und Folgerungen zusammen. 396'

Wir haben uns zwei Grenzen des Denkens gesetzt: eine, die man beim wirklichen Denken schon hinter sich hat und eine, die man nie erreicht. Wenn wir das dem Wissen zugrunde Liegende als außerhalb des Denkens dächten, so X X X I X . Wenn wir in der Auflösung unserer Aufgabe auf eine Denkgrenze gekommen waren, darstellend dasjenige, was wir in jedem wirklichen Denken immer schon hinter uns hatten, so konnten wir auch nur sagen: Dieser entspricht etwas, was uns im wirklichen Leben niemals vorkommt, weder als auf uns wirkend, noch als von uns leidend; und dies ist nur etwas Negatives, wozu wir uns das Positive suchen müssen. Dieses Positive aber können wir wirklich nur finden, wenn wir von dem dem wirklichen Denken Entsprechenden ausgehen und in der Analogie desselben bleiben. Wir bedürfen aber eines solchen positiven Gehaltes. Denn wenn der Denkgrenze, von der wir ausgehen, nichts entspricht, dem wirklichen Denken aber, welches wir uns als Fortsetzung von jener Denkgrenze aus vorstellen können, entspricht wirklich etwas, so müßte dann das Entsprechende aus dem Nichtentsprechenden, das Etwas aus dem Leeren geworden sein, welches nicht geht. Also, bloß so negativ vorgestellt, ist die Denkgrenze nur das dem Denken, welches kein Wissen ist, und sofern es auf die Idee des Wissens gar nicht bezogen ist, Vorangehende. Dasselbe gilt auch von der entgegengesetzten Denkgrenze. Denn wenn demjenigen, worin unser Wissen endet, nichts entspricht, so wird aus dem Wissen durch dessen Vollendung das Nichtwissen, welches nicht geht. Daher auch in dieser Hinsicht (§§ 173, 174) die beiden Denkgrenzen gleich sind, daß ein positiver Charakter derselben gesucht werden muß, welcher aus den obigen Gründen identisch sein muß. Um nun das Positive in jener Analogie bleibend zu finden, müssen wir a u f s neue, von beiden F o r m e n des w i r k l i c h e n Denkens ausgehend, das ihnen im Sein E n t s p r e c h e n d e genauer a u f f a s s e n . Zu § 175. Wenn es als Identisches in der organischen Funktion gegründet sein sollte, so wären nur die sub 1. und 2. angeführten Fälle möglich, weil sich in der organischen Funktion, da jede Tätigkeit für sich räumlich und zeitlich eine andere ist, nur dieses beides auf die Identität der Produktion beziehen kann. Man kann den Hauptsatz sub 2. auch so ausdrücken: Jede Wahrnehmung als solche bezieht sich auf das ganze System der Begriffe, und dies kann nachgewiesen werden aus der Gemeinschaftlichkeit des Seins.

Aufhebung der Einseitigkeiten

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wäre dies nur negativ, und wir haben unsere Aufgabe dann noch nicht positiv gelöst. (Entspräche diesen Formeln nichts im Gedachten, so wären sie selbst nichts, und so entstände das Wissen aus dem Nichts.) Wir müssen daher ausgehen von einer Analogie des Zusammenhanges des Seins und Denkens im wirklichen Denken, um unsere Aufgabe positiv zu lösen. Wir knüpfen an das letzte an. Indem wir unsere Voraussetzung festhalten und darauf zurückgehen, daß es dasselbe Sein sei, welches das Gedachte ist im Verhältnis zum Wissen unter der Form des Begriffs, und daselbe, welches das Gedachte ist unter der Form des Urteils, so folgt daraus, daß, da die Grenzen des Denkens unter der Form des Begriffs und des Urteils identisch sind, auch das, was im Gedachten das Entsprechende ist, dasselbe sei, d. h. daß es dasselbe Sein ist, dem unser Denken im engeren Sinne und dem es unter der Form des Urteils entspricht. Dies gilt innerhalb des wirklichen Denkens. Können wir es nun anwenden auf die Frage nach dem Wert unserer Denkgrenzen, inwiefern ihnen etwas im Sein entspricht? Dasjenige, was dem absoluten Subjekt und der absoluten Einheit des Seins entspricht, muß dasselbe sein. Das absolute Subjekt wäre dies nicht, wenn noch etwas außer demselben ihm entgegengesetzt werden könnte. Der Wert des absoluten Subjekts besteht nur, insofern wir ihm die Einheit des Seins substituieren. Ebenso verlöre die Formel: Einheit des Seins ohne Entgegensetzung, ihren Wert, wenn von ihr noch sonst etwas prädiziert werden könnte. Entspräche nun diesen Grenzen nicht ein Sein, so wäre das Wissen entstanden aus dem Unwissen. Die Übereinstimmung des Denkens und Gedachten kann nicht entstehen aus dem, worin keine Übereinstimmung ist. Nun aber bezieht sich das Denken auf beide Grenzen und soll beiden entsprechen, als Sein gedacht. Daher kann dies doch auch nur dasselbe sein. Also können sich jene beiden Grenzen nur in ihrer Identität auf das Denken beziehen und nur so den Übergang des Denkens vom Unvollkommenen zum Vollkommenen repräsentieren. So müssen sich nun aber auch beide auf etwas

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Gleiches im Sein beziehen, denn sonst ginge uns hier die Übereinstimmung wieder verloren. In den Formeln selbst haben wir uns das so vorgestellt, daß sie ein und daselbe sind, nur verschieden in ihrem Verhältnis zum wirklichen Denken in der Zeit. Unser Resultat ist also: 1. Es muß den beiden Voraussetzungen ein dem wirklichen Sein Entsprechendes zugrunde Liegendes gesetzt werden. 2. Dieses Entsprechende muß identisch sein.

3. Transzendentale Erörterung über das W i s s e n unter der F o r m des Begriffs §176

Die Einerleiheit der Vernunft und die Lehre von den eingeborenen Begriffen. Sofern das Wissen ein von allen Denkenden identisch produziertes Denken ist und es stattfinden soll unter der Form des B e g r i f f s und nur in der vereinten Tätigkeit des Organischen und Intellektuellen sein Wesen hat, so kann es nicht seinen Grund haben in der organischen Funktion und in dem, was uns organisch affiziert. Das könnte nur stattfinden, wenn wir sagten: das Wissen Zu § 176. Es bleibt nun nichts anderes übrig, worin die Identität der Begriffsproduktion könnte gegründet sein. Wenn hier dem Ausdruck i n t e l l e k t u e l l e F u n k t i o n der Ausdruck Vern u n f t substituiert wird, so geschieht es nur ebenso, wie dem Ausdruck organische F u n k t i o n der Ausdruck Sinn substituiert wird, und soll dadurch gar nichts erschlichen werden. Das Begründetsein heißt nichts andres als: Die Vernunft als lebendiges Prinzip, als Tätigkeit im Denken, ist prädeterminiert, diese und keine anderen Begriffe hervorzubringen. Eben das sagt der Ausdruck: Sie ist der Ort der B e g r i f f e , welches sagen will: jeder Begriff ist Ausdruck der Vernunfttätigkeit nach einer bestimmten Richtung. Alle anderen Ausdrücke, indem sie das, was nur formal sein kann, zur Anschauung machen, also irgendwie versinnlichen wollen, bringen etwas Falsches hinein. Die schlimmste Verirrung mit dem Ausdruck angeborene B e g r i f f e , nächstdem, daß er involviert, die Begriffe könnten sein vor der Tätigkeit der Sinne, welche erst mit der Geburt beginnt, ist die, daß man sagt: E s g i b t angeborene B e g r i f f e , woraus folgt, einige wären angeboren, andere nicht. Wir sind aber bei unserem Satz von keinem Unterschied der Begriffe ausgegangen und müssen ihn also auch ganz allgemein halten.

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Gleiches im Sein beziehen, denn sonst ginge uns hier die Übereinstimmung wieder verloren. In den Formeln selbst haben wir uns das so vorgestellt, daß sie ein und daselbe sind, nur verschieden in ihrem Verhältnis zum wirklichen Denken in der Zeit. Unser Resultat ist also: 1. Es muß den beiden Voraussetzungen ein dem wirklichen Sein Entsprechendes zugrunde Liegendes gesetzt werden. 2. Dieses Entsprechende muß identisch sein.

3. Transzendentale Erörterung über das W i s s e n unter der F o r m des Begriffs §176

Die Einerleiheit der Vernunft und die Lehre von den eingeborenen Begriffen. Sofern das Wissen ein von allen Denkenden identisch produziertes Denken ist und es stattfinden soll unter der Form des B e g r i f f s und nur in der vereinten Tätigkeit des Organischen und Intellektuellen sein Wesen hat, so kann es nicht seinen Grund haben in der organischen Funktion und in dem, was uns organisch affiziert. Das könnte nur stattfinden, wenn wir sagten: das Wissen Zu § 176. Es bleibt nun nichts anderes übrig, worin die Identität der Begriffsproduktion könnte gegründet sein. Wenn hier dem Ausdruck i n t e l l e k t u e l l e F u n k t i o n der Ausdruck Vern u n f t substituiert wird, so geschieht es nur ebenso, wie dem Ausdruck organische F u n k t i o n der Ausdruck Sinn substituiert wird, und soll dadurch gar nichts erschlichen werden. Das Begründetsein heißt nichts andres als: Die Vernunft als lebendiges Prinzip, als Tätigkeit im Denken, ist prädeterminiert, diese und keine anderen Begriffe hervorzubringen. Eben das sagt der Ausdruck: Sie ist der Ort der B e g r i f f e , welches sagen will: jeder Begriff ist Ausdruck der Vernunfttätigkeit nach einer bestimmten Richtung. Alle anderen Ausdrücke, indem sie das, was nur formal sein kann, zur Anschauung machen, also irgendwie versinnlichen wollen, bringen etwas Falsches hinein. Die schlimmste Verirrung mit dem Ausdruck angeborene B e g r i f f e , nächstdem, daß er involviert, die Begriffe könnten sein vor der Tätigkeit der Sinne, welche erst mit der Geburt beginnt, ist die, daß man sagt: E s g i b t angeborene B e g r i f f e , woraus folgt, einige wären angeboren, andere nicht. Wir sind aber bei unserem Satz von keinem Unterschied der Begriffe ausgegangen und müssen ihn also auch ganz allgemein halten.

Die Lehre von den eingeborenen Begriffen

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ist ein identisch produziertes Denken, insofern die organischen Funktionen der Denkenden zusammengehörig sind und insofern sie in allen einerlei sind. Allein die Zusammengehörigkeit der organischen Affektionen kann deshalb nicht der Grund dieses Denkens sein, weil, wenn wir uns die organischen Affektionen jemandes zu eigen machen, das schon auf der identischen Begriffskonstruktion beruht. Ein und dieselbe organische Affektion führt zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen auf verschiedene Begriffe zurück. In der organischen Funktion ist uns nicht der Begriff, der aus dem Prozeß der Entgegensetzung hervorgeht, gegeben, sondern nur das Stetige, was in verschiedenen Beziehungen unter verschiedenen Umständen und. Zeiten sein kann. Sehe ich einen Rubin oder Smaragd, so subsumiere ich ihn unter den Begriff von Farbe (der Erscheinung), in anderer Beziehung unter den Begriff der kristallinischen Bildung, des Gesteins usw. Daher ist der Begriff als solcher in dem, was die organische Funktion gibt, niemals enthalten. Ein jedes Wahrgenommene als solches bezieht sich sogar auf das ganze System der Begriffe an sich, und es kann anders kein bestimmter Begriff entstehen. Man kann von jedem zu allem kommen; es kommt also ganz darauf an, was ich aus den Gegenständen herausnehme. Wenn also das Wissen von dieser Seite nicht in organischen. Funktionen gegründet ist, so muß es in der intellektuellen Funktion gegründet sein. Wenn wir nun das Organische als das Sensuelle angesehen haben, so können wir der intellektuellen Funktion den Ausdruck V e r n u n f t und der organischen Funktion den Ausdruck S i n n substituieren. Sehen wir von der Zeitlichkeit der Begriffsproduktion ab — -das müssen wir, weil wir das suchen, was allem wirklichen und zeitlichen Denken vorausgeht —, so werden wir sagen müssen: D i e B e g r i f f s p r o d u k t i o n i m w i r k l i c h e n D e n k e n , i n w i e f e r n s i e e i n W i s s e n ist, ist g e g r ü n d e t in d e r E i n e r l e i h e i t d e r V e r n u n f t i n a l l e n , d. h. i s t z e i t l o s i n i h r g e s e t z t . Es gibt ein Wissen unter der Form des Begriffs nur, insofern das ganze System aller Begriffe in der allen Denkenden identischen Vernunft zeitlos gegeben ist. Im wirklichen Denken kann nichts Zeitloses vorkommen, denn wir können einen Gedanken nur in seiner

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Relation zum zeitlichen Denken, nicht an sich, in uns haben. Wir können also freilich nicht sagen, daß die Begriffe als zeitliche Akte in der Vernunft zeitlos gesetzt sind, sondern: die in allen identische Vernunft, als l e b e n d i g e s P r i n z i p d e r g e i s t i g e n T ä t i g k e i t betrachtet, ist in allen zur selbigen Bildung der Begriffe p r ä d e t e r m i n i e r t . Dieses Prädeterminiertsein ist das Positive in unserem Satz, daß durch die identische Vernunft die Begriffe zeitlos gegeben sein müssen. Es ist dasselbe, als wenn wir sagen, in dem Samen sei die ganze Pflanze prädeterminiert. Wenn wir uns von diesem Ausdruck entfernen und wollen uns dasselbe bildlicher und lebendiger darstellen, so kommen wir schon aus dem transzendenten Gebiet heraus. Sage ich z. B., die Begriffe sch 1 um mern in der Vernunft und werden in das Leben erweckt, so ist damit schon zuviel gesagt. Denn man könnte daraus folgern, sie wären als Begriffe vor dem zeitlichen Denken in der Vernunft gesetzt, und die Notwendigkeit ihrer Produktion sei gleichfalls in ihr gesetzt. Gehen wir von der Zeit zum Raum über, so können wir sagen: die identische Vernunft ist der O r t aller wahren Begriffe, der XOTCOQ eidcöv nach Piaton, der es von Gott sagt, den er aber als absolute Vernunft nimmt. Aber Begriffe werden sie erst in der zeitlichen Entwicklung. Geht man noch weiter im sinnlichen Ausdruck und sagt: die Begriffe sind a n g e b o r e n , so ist das Wahre daran das, was wir gesagt haben. Nur ist der Ausdruck zu weit von der transzendentalen Reinheit entfernt und führt leicht zu Mißverständnissen. Es liegt die Anlage in dieser Formel, daß die Begriffsproduktion getrennt sein kann von der organischen Funktion, denn das Angeborene geht auf einen Zustand zurück, wo die organische Funktion noch nicht tätig war. Dadurch zerstören wir das, worauf unser Satz selbst beruht, daß zu jedem wirklichen Denken beide Seiten gehören. In diesen Ausdruck hat man noch mehr Verwirrung gebracht dadurch, daß man gesagt hat, einige Begriffe seien angeboren, andere erworben. Wir sind auf keinen Unterschied in den Begriffen gekommen; er ist durch nichts begründet und würde eine Spaltung in die Begriffsproduktion setzen, die sich nicht rechtfertigen ließe und Irrtum hervorbringen würde.

Entstehung und Entwicklung der Begriffe 40-

Entstehung und Entwicklung der Begriffe.

233 Zusätze.

17-6- Wenn wir sagen mußten, daß die ganze Begriffsbildung ^ b j s 7 ihren Grund habe in der Identität der intellektuellen Funk179 tion oder Vernunft in allen, so heißt dies nichts anderes, als d a ß diese ihrer Natur nach zur Produktion solcher Beg r i f f e prädeterminiert sei. Wie entsteht nun aber das wirkliche Vorhandensein der Begriffe? Die Begriffe, zu deren Bildung die Vernunft prädeterminiert ist, entwickeln sich in jedem auf Veranlassimg der organischen Funktion. Der Inhalt der Begriffe überhaupt ist in der Vernunft prädeterminiert. Die Begriffe kommen zustande, je nachdem die organische Funktion sie hervorruft. Darin liegt nun, daß jeder für sich, die Totalität der organischen Affektionen durchgehend, dieselben Begriffe zustande bringt. (Wäre also einer für sich allein aller organischen Affektionen teilhaftig geworden, so hätte er die gesamte gleiche Begriffsbildung.) Dies gilt ohne Unterschied, ob die Produktion überwiegend einem einzelnen oder anderen zugehört. Nim kann allerdings niemand für sich allein alle Begriffe gleichmäßig ausbilden; es bedarf des Zusammenseins mit anderen und der Mitteilung der Begriffe. Aber jeder, dereinen Begriff zuerst entwickelt, verhält sich zum andern nicht wie der Erfinder zum Nachahmer, sondern wie der primus inter pares. Es war geschichtlicher Zufall, daß er zuerst diesen XL. Zwei Zusätze zu dem letzten. 1. (§ 177) Wenn die Vernunft nur zur Begriffsbüdung prädeterminiert ist, so muß noch etwas anderes den Übergang in das wirkliche Denken vermitteln. Da nun in jedem beide Funktionen tätig sind, so muß es die andere sein, so daß die intellektuelle im beständigen Denkenwollen ist und die organische ihre Richtung fixiert. — Das E r i n n e r n liegt nur darin, daß jeder, indem er die Wahrnehmung des andern nimmt, seine Prädetermination für diese Begriffe als ein jener Wahrnehmung vorangehendes Faktum ansieht. — Zu § 178. Das Selbstbewußtsein, abgesehen von allem bestimmten Inhalt, ist nichts anderes als das Bewußtsein von dem Einssein und der Zusammengehörigkeit von beiden Funktionen. (NB. Die Idee des Mikrokosmos habe ich ausgelassen.) 2. (§ 179) Man könnte hiergegen anführen die Mythologien. Allein, sofern sie ein Ganzes bilden, suchen wir auch einen tieferen Gehaltsinn und sehen die unhaltbaren Begriffe nur als Einkleidungen an. Die falschen Begriffe in bestimmten Wissenschaften büden kein Ganzes unter sich, sondern, wie sie aus verschiedenen Gebieten sich gegeneinander verhalten, ist nur eine geschichtliche Zufälligkeit.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Begriff fand. Auf dem Gebiet des Begriffs ist es daher nicht möglich, daß eine bloße Überlieferung stattfinde, ausgenommen eine solche stellvertretende. Das ist das Richtige in dem platonischen Ausdruck, daß alles Lernen nur ein E r i n n e r n sei, was leicht mißverstanden wird, als wären die Begriffe schon vor dem organischen Affizieren dagewesen. Jeder Begriff wird vom andern so anerkannt, als wäre er hervorgegangen aus seinem eigenen Bewußtsein, als hätte er ihn selbst entwickelt. Dehnen wir die Gleichmäßigkeit der Begriffsbildung auf die Menschheit aus: worauf gründet sich hier dieser Anspruch? Auf die Gleichheit des Selbstbewußtseins. Die intellektuelle Funktion ist in allen Menschen auf die gleiche Weise prädeterminiert. Aber daraus folgt noch nicht, daß sie von allen auf gleiche Weise entwickelt werde. Jeder wird aber nur das System zustande bringen, wozu er nach seinem Standpunkt aufgeregt ist. Wird ein Mensch völlig .isoliert, so bringt er nicht dasselbe Begriffssystem zustande wie die anderen; denn die organische Funktion ist auf dem Standpunkt eines jeden verschieden. Worauf beruht denn nun das Recht, die Affektionen eines anderen auf mich zu übertragen? Auf der Identität der organischen Funktionen, abgesehen von ihrem objektiven Inhalt. B e i d e s z u s a m m e n : d i e o r g a n i s c h e u n d d i e intellektuelle, identisch gesetzt, sind das S e l b s t b e w u ß t s e i n , das Ich, abgesehen von d e m , w a s a l s g e s c h i c h t l i c h d a r i n g e s e t z t ist. Und an dieses stellen wir die Forderung einer gleichmäßigen Begriffsbildung. Die Gleichheit bloß auf der einen Seite des Denkens bedingt noch keine gleichmäßige Begriffsbildung. Von oben her, vom Intellektuellen aus, und von unten her, vom Wahrnehmen aus, muß die Begriffsbildung prädeterminiert sein. Kinder und rohe Menschen dehnen dieses Postulat so weit aus, daß sie diese Identität auch auf Tiere beziehen, indem sie in ihnen Begriffsbildunjg voraussetzen und mit ihnen Gespräche führen. — Wo ist hier die Scheidung? Wo das Selbstbewußtsein entwickelt ist bis zu einer gewissen Bestimmtheit, da schränkt sich das Postulat in unsere Grenzen ein und knüpft sich an das Gefühl der Identität, das uns die menschliche Gestalt gibt, indem wir es auf die Einheit der organischen Funktion beziehen und von hier

Entstehung und Entwicklung der Begriffe

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aus auf die Einheit der intellektuellen Funktion schließen. Hierin liegt die Voraussetzung, daß alle Begriffe, welche das Wissen konstituieren, ein Ganzes bilden, wenn wir alle von allen Menschen gemachte Erfahrung zusammennehmen. Es gibt nun aber unter der Form des Begriffs und Urteils ein anderes Denken, welches kein Wissen ist. Dieses willkürliche Denken verhält sich zu jenem nicht so, daß es ebenfalls ein Ganzes unter sich bildete, von jenem verschieden, sondern es besteht nur aus einzelnen Punkten, welche der ganzen geschichtlichen Entwicklung derjenigen Punkte, welche das Wissen bilden, als Übergangspunkte anhängen. Wir finden bei allen Völkern M y t h o l o g i e n , das sind Begriffe, denen wir als solchen unmittelbar keine Wahrheit zuschreiben und denen kein Sein entspricht. Aber sie bilden doch ein Ganzes unter sich, eine Art von System; es ist eine Gemeinsamkeit in ihnen, eine allgemeine Anerkennung. Doch können wir sie nicht ansehen als das Wissen konstituierend. In der Nationalität allein liegt auch nicht das Hindernis, daß sie kein Wissen werden, sondern in der Willkürlichkeit der Konstruktion. Es läßt sich dabei nicht sagen, d a ß man auf der organischen Seite zu demselben Resultat gelangt wäre, wie es von innen durch die Phantasie entstanden ist. Sobald wir aber dahinter kommen, daß sie ein Ganzes unter sich bilden, so suchen wir auch eine höhere Wahrheit darin auf. Aber ganz anders ist es, wenn wir acht geben auf die Entwicklung unseres Naturwissens und finden eine Menge von Begriffen, die man hernach verlassen hat und für falsch anerkennt. Daß man sie für ein Wissen hielt, kommt daher, daß man ein falsches Urteil fällte, daß man glaubte, die von innen konstruierten Begriffe (Hypothesen) hätten auch von der Wahrnehmung aus gebildet werden können. Nachher kam man von der Erfahrung aus dahinter, daß das nicht so sei, und so verließ man jene Begriffe. Sie waren Übergangspunkte und bezeichneten die Unvollkommenheit eines jeden Wissens, das zwischen dem Anfangspunkt und der Totalität des Wissens liegt. So finden wir also überall einen solchen Wechsel. Diese Begriffe bilden nicht ein Ganzes, sondern sind geschichtlich zufällig geworden; sie hätten zu derselben Zeit auch anders sein können.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

§§ 180 Über das Sein, sofern es dem Begriff entspricht. Kraft und Erscheinung. Wir gehen nun nach dieser Digression einen Schritt weiter. Wir wollten unsere transzendentale Voraussetzung von der Seite ansehen, daß wir aufsuchen wollten, wieweit ihr etwas im Sein entsprechen müsse. Dies können wir nicht anders als in der Analogie mit dem wirklichen Wissen, und waren auf die Form des Begriffes zurückgegangen. Dieser ist schwebend zwischen dem höheren und niederen. Z u jedem höheren gibt es einen niederen Beg r i f f und umgekehrt; und jeder kann als ein höherer und niederer angesehen werden. Diesem Verhältnis muß nun auch etwas im Sein entsprechen. Der Begriff, sei er ein Wissen oder nicht, hat sein Wesen in diesem Gegensatz, und alles im Gebiet des Begriffs Gesetzte ist auch in der Form dieses Gegensatzes gesetzt. Es kann daher nichts im Sein dem Begriffe entsprechen, als inwiefern es diesem Gegensatz entspricht. Es muß also auch in dem Gegenstand diese Duplizität sein. Wenn wir dies vergleichen mit dem, was wir neulich gefunden haben, nämlich, daß der Idealismus, insofern er den Realismus, und umgekehrt der Realismus, insofern er den Idealismus ausschließt, falsch wären, Wir gehen nun weiter und fragen, was das dem B e g r i f f E n t s p r e c h e n d e im Sein ist. Es findet sich (§§ 180—182) der dem schwebenden Begriff analoge Gegensatz von K r a f t und Erscheinung. Zu § 180. Es bleibt nichts übrig von einem Begriff, wenn man das wegnimmt, was sich auf den höheren bezieht, unter dem er steht, und auf die niederen, die er sich aus sich entwickelt. Diese Lehre ist nun direkt, was aus Verwerfung des Idealismus und Realismus indirekt zusammengesetzt war. Denn wenn auch dem niedrigsten Begriff, der nur in eigentlichen Urteilen entwickelt werden kann, das Sein entspricht, so kann auch in Urteüen gewußt werden, sofern das Einzelne einen Anteil hat an der Natur des Allgemeinen, d. h. gegenüberstehend dem sich von selbst verstehenden Realismus der Ideen der Idealismus des Realen. Zu § 181. Hiernach kommt also Kraft nie anders als durch ihre Erscheinung ins Bewußtsein, und die Erscheinung wiederum bringt wesentlich nicht sich selbst, sondern ihre Kraft ins Bewußtsein. Zu § 182. Auch das einzelne Ding als Kraft kommt nur durch seine Zustände als Erscheinungen ins Bewußtsein, und auch die Gattung als Erscheinung bringt nur ihre Kraft (z. B. das tierische Leben) ins Bewußtsein.

Kraft und Erscheinung

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so finden wir hier unmittelbar, was dort nur mittelbar: wenn die ausschließende Einseitigkeit falsch ist, so muß das Wahre die zusammenfassende Kombination sein. In dem Sein muß auch ein solcher schwebender Gegensatz sein. Jeder Begriff kann ebensogut als der niedrigste angesehen werden, so daß das Urteil eintritt, wie als der höchste, so daß sich aus demselben entwickelt, was unter der Form des Begriffs gedacht werden kann. Die allgemeinen Begriffe als solche sind ein Wissen und ihnen kommt Realität zu. Dies ist der R e a l i s m u s der Ideen. Es wird also nicht nur unter der Form des Urteils gewußt, sondern auch unter der Form des Begriffs. Aber auch dasjenige, was als Begriff als das Niedrigste gesetzt ist, hat eine Beziehung, in welcher es als das Höhere gesetzt werden kann, und so kommt auch ihm Realität zu. Das Denken unter der Form des Urteils, d. h. das Geschichtliche, das Wissen vom Einzelnen, hat also auch einen Anteil an den allgemeinen Begriffen und seine Wahrheit im Zusammenhang mit dem Begriff. Also ist der Grund des Höheren und Niederen derselbe. Was ist nun dies Entsprechende im Sein? Der niedere Begriff ist in dem höheren seiner Möglichkeit nach begründet und bringt ihn zur Anschauung in einer Mannigfaltigkeitnäherer Bestimmtheiten. In den niederen, aus jenen höheren gebildeten Begriffen sind diese höheren mitgesetzt, aber bestimmter. Der höhere Begriff ist ein produktives Zusammenfassen einer Mehrheit des Niederen. Was bringt uns im Sein das Höhere als ein Niederes zur Anschauung? Es ist die Erscheinung. Das Höhere, worin eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen gegründet ist, der produktive Grund des Erscheinens, ist die K r a f t . Wenn es ein Wissen geben soll, so muß dem Verhältnis der Begriffe der G e g e n s a t z von K r a f t und E r s c h e i n u n g im Sein entsprechen. Kraft ist reale Wahrheit des höheren Begriffs, die Erscheinung entspricht der Mannigfaltigkeit der niederen Begriffe. Betrachten wir den höheren Begriff in bezug auf den niederen, so sagen wir freilich: der höhere Begriff ist ein produktives Zusammenfassen des niederen. Und so auch: die Kraft faßt die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zusammen. Darin aber liegt nicht die Notwendigkeit, daß die Erscheinung uns eher gegeben sei als die Kraft,

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Friedrich Schleiermachers

Dialektik

wie der niedere Begriff auch nicht eher gegeben zu sein braucht als der höhere. In einer gewissen Beziehung ist das, was in einer anderen Beziehung Erscheinung ist, substantielle K r a f t ; und was substantielle K r a f t ist, ist in einer anderen Beziehung Erscheinung, bis wir auf dasjenige kommen, was der Grenze des B e g r i f f s entspricht. Jede K r a f t ist Erscheinung eines höheren Begriffs. Gibt es noch einen höheren, so ist jene Erscheinung zugleich Erscheinung dieses höheren Begriffs. Dem allgemeinen Begriff „ T i e r " entspricht die Gesamtheit des tierischen Lebens, also ein höherer B e g r i f f . Also ist das tierische Leben eine Kraft, welcher eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen untergeordnet ist. Selbst die höheren Klassen sind nur Erscheinungen des tierischen Lebens. Aber ebensogut ist auch das tierische Leben Erscheinung des Lebens überhaupt, welches eine K r a f t ist. Inwiefern sich etwas als eine Mannigfaltigkeit von Urteilen darstellt, so ist das nur eine Kraft, die mannigfaltig erscheint.

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SS 1

Die höchste Kraft und der Irrtum der pantheistischen Konstruktion. Jedes als der produktive Grund einer Man-

b i s nigfaltigkeit Vorhandene ist als K r a f t Vorhandenes, und 188 jedes als Modifikation eines Höheren Vorhandene ist als Erscheinung Vorhandenes. Alles Sein, dem ein wirkliches Denken entsprechen soll, muß beides sein oder die Identität von Erscheinung und K r a f t darstellen. Sehen wir etwas als bloße Erscheinung an, so wird es schlechthin als niedrigster Beg r i f f gedacht, und man redet davon in der Form des Urteils und fragt nach dem Gesetz dieser Erscheinung; d. h. man fragt, was das Gesetzte leidet von anderen und was es wirkt

S8

XLI. Noch zu § 182. Beispiel : menschliche Natur. Sie teilt sich in Funktionen; jede von diesen ist Kraft (abgesehen von ihren Äußerungen im Zusammenhange mit anderen nennen wir sie Vermögen), die wirklich wird in verschiedentlich modifizierten Aktionen. Nur die einzelne Aktion im einzelnen Menschen ist bloß Erscheinung; allein der einzelne Mensch selbst ist wieder eine lebendige Einheit von Kräften; denn er bringt nicht nur Aktionen dieser einzelnen Funktion auf eine übereinstimmende Weise hervor, sondern auch alle anderen, und ist also eine eigentümliche Totalität. Aber er ist Erscheinung seiner Volkstümlichkeit, welche lebendige, in der gleichmäßigen Reproduktion ein-

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wie der niedere Begriff auch nicht eher gegeben zu sein braucht als der höhere. In einer gewissen Beziehung ist das, was in einer anderen Beziehung Erscheinung ist, substantielle K r a f t ; und was substantielle K r a f t ist, ist in einer anderen Beziehung Erscheinung, bis wir auf dasjenige kommen, was der Grenze des B e g r i f f s entspricht. Jede K r a f t ist Erscheinung eines höheren Begriffs. Gibt es noch einen höheren, so ist jene Erscheinung zugleich Erscheinung dieses höheren Begriffs. Dem allgemeinen Begriff „ T i e r " entspricht die Gesamtheit des tierischen Lebens, also ein höherer B e g r i f f . Also ist das tierische Leben eine Kraft, welcher eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen untergeordnet ist. Selbst die höheren Klassen sind nur Erscheinungen des tierischen Lebens. Aber ebensogut ist auch das tierische Leben Erscheinung des Lebens überhaupt, welches eine K r a f t ist. Inwiefern sich etwas als eine Mannigfaltigkeit von Urteilen darstellt, so ist das nur eine Kraft, die mannigfaltig erscheint.

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Die höchste Kraft und der Irrtum der pantheistischen Konstruktion. Jedes als der produktive Grund einer Man-

b i s nigfaltigkeit Vorhandene ist als K r a f t Vorhandenes, und 188 jedes als Modifikation eines Höheren Vorhandene ist als Erscheinung Vorhandenes. Alles Sein, dem ein wirkliches Denken entsprechen soll, muß beides sein oder die Identität von Erscheinung und K r a f t darstellen. Sehen wir etwas als bloße Erscheinung an, so wird es schlechthin als niedrigster Beg r i f f gedacht, und man redet davon in der Form des Urteils und fragt nach dem Gesetz dieser Erscheinung; d. h. man fragt, was das Gesetzte leidet von anderen und was es wirkt

S8

XLI. Noch zu § 182. Beispiel : menschliche Natur. Sie teilt sich in Funktionen; jede von diesen ist Kraft (abgesehen von ihren Äußerungen im Zusammenhange mit anderen nennen wir sie Vermögen), die wirklich wird in verschiedentlich modifizierten Aktionen. Nur die einzelne Aktion im einzelnen Menschen ist bloß Erscheinung; allein der einzelne Mensch selbst ist wieder eine lebendige Einheit von Kräften; denn er bringt nicht nur Aktionen dieser einzelnen Funktion auf eine übereinstimmende Weise hervor, sondern auch alle anderen, und ist also eine eigentümliche Totalität. Aber er ist Erscheinung seiner Volkstümlichkeit, welche lebendige, in der gleichmäßigen Reproduktion ein-

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auf anderes. Dagegen können wir dasselbe auch als K r a f t betrachten, und so wird diese Identität von K r a f t und E r scheinung lins immer bleiben. Nehmen wir z. B. den B e g r i f f der menschlichen Natur, so werden wir alle geneigt sein, sie unter die lebendigen K r ä f t e zu setzen. W i r können uns nun die menschliche Natur teilen, so daß sie in viele untergeordnete K r ä f t e zerfällt, die aber noch immer Kräfte bleiben, z. B. die beiden Arten, sich zu äußern, die mehr geistigen und mehr leiblichen. Diese beiden erscheinen in ihren einzelnen Aktionen, und wenn wir sie als verschiedene Vermögen, so oder so zu handeln, immittelbar auf die menschliche Natur beziehen, so betrachten wir sie als etwas A l l g e meines und also als Kraft. Beziehen wir sie aber auf die Aktionen des einzelnen Menschen, dann können wir sie nicht mehr als Kraft, sondern müssen sie als Erscheinung setzen. Der einzelne Mensch ist also der Ort, an dem alle diese E r scheinungen der Funktionen der menschlichen Natur sich zelner Wesen sich erhaltende Kraft ist. Diese wiederum Erscheinung der Rasse — und so ist auch die menschliche Natur wieder Erscheinung der geistigen Lebenskraft. Zu § 183. Versuch, so weit als möglich hinaufzusteigen von Seite der Wahrnehmung. Wenn wir ein Einzelnes unbestimmt setzen, um ein Urteil zu sprechen, so kommen wir nicht weiter, bis zusammengehörige Urteile und Einflüsse der entgegengesetzten Funktion eintreten. So kommen wir zum begriffsmäßig bestimmten Einzelnen, aber nicht weiter. Wiederholt sich der Prozeß, so kommen wir durch koordinierte Einzelne zur Art. Wiederholt sich dieser, dann durch koordinierte Arten zur Gattung, und so fort bis zu tierischem und vegetativem Leben. Aber ebenso hätten wir vom Anorganischen aus durch die Neigung, das Tote in irgendein Lebensgebiet mit einzupflanzen, zum allgemeinen Leben kommen können, und die Identität von beiden wäre nun das Leben der Erde als Einheit. Und dieses wäre nun, sofern wir mit unserer Wahrnehmung an unsere Erde gebunden sind, die höchste Kraft. In dieser sind nun auch, sofern alles uns bekannte wirkliche Denken ebenfalls in der menschlichen Organisation der Erde eingeschlossen ist, die höchsten Gegensätze eingeschlossen und also außer ihr aufgehoben, und es gäbe auch außer ihr kein Denken, für welche sie Gegenstand wäre, sondern auch dieses Verhältnis wäre ein rein inneres. Was wir eigentlich suchen als das der transzendenten Voraussetzung Entsprechende im Sein, das ist das unbedingte Sein (Gottheit, höchstes Wesen, Absolutes, auch Nichts). Daß dieses nun die Einheit der Erde nicht ist, /davon/ überzeugen wir uns leicht.

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darstellen. E r ist also ein Komplexus der Funktionen, die Einheit der Erscheinungen der menschlichen Natur zugleich, weil die nötigen Erscheinungen in ihm gebildet sind. Aber den einzelnen Menschen können wir wieder als lebendige Kraft betrachten, nur untergeordneterer Art als die menschliche Natur, die sich in verschiedenen Handlungen und Äußerungen zur Erscheinung bringt. Sein Dasein ist Kraft, produktiver Grund des Mannigfaltigen, und in jedem einzelnen erscheint sein ganzes Wesen. Nun können wir aber auch sagen, der einzelne Mensch sei eine Erscheinung seines Volkes, und der eigentümliche Charakter dieses Volkes ist eine Modifikation der lebendigen Kraft, die die menschliche Natur manifestiert; denn diese erscheint uns eben nicht anders denn als Komplexus von Volkscharakteren. Und indem sich der Charakter des Volkes immer wieder in den entstehenden Generationen erneuert, erscheint er eben als Kraft. Überall also im wirklichen Denken kommen wir auf diese Duplizität und auf Abstufungen, worin sich diese Identität von Kraft und Erscheinung zeigt. Und wo sie nicht mehr ist, kommen wir an die Grenzen des Denkens. Wir haben nun gesehen, daß es Punkte gibt, die die Form des Denkens an sich tragen,, uns aber nur die Grenzen desselben darstellen. Und wir haben einen Punkt gefunden, von dem wir ausgehen müssen und den wir also immer hinter uns haben, und einen, zu dem wir immer hin wollen und also immer vor uns haben. Beide können wir also als Gedanken nicht vollziehen, weil es hier nicht zu einem Zusammensein beider Funktionen des Denkens kommt. Sollen nun diese Punkte die Grundlage des Wissens sein, so muß ihnen auf der Seite des Seins etwas Analoges entsprechen. Als Grenze des Beg r i f f s hatten wir gefunden: 1. die bloße Möglichkeit mannigfaltiger Urteile, 2. den Gedanken des Seins, worin die Entgegensetzung aufgehoben war. Was entspricht nun diesen Gedanken im Gebiete des Gedachten? Was ist die Realität dieser Begriffe und ihr Gehalt in Beziehung auf das Sein? Dem Allgemeinen entspricht das Sein als Kraft gesetzt. Dem Allgemeinsten also müßte die Kraft entsprechen, über die hinaus es nichts mehr geben kann, oder diejenige, die nicht mehr als Erscheinung gedacht werden kann. Denn sonst

Der Irrtum der pantheistischen Konstruktion

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käme sie in der Wirklichkeit vor und nicht als bloße Voraussetzung. Dasjenige, was wir suchen als diesem Begriff entsprechend, muß etwas sein, wodurch das Sein als Gegenstand des Denkens bedingt ist; aber es darf nicht eigentlich als Gedanke gedacht werden können. Das Entsprechende muß also die Bedingung sein zu allem wirklichen Sein, und insofern muß es den Bedingungen des Derikens oder unserer Voraussetzung entsprechen. Was ist nun dieses bedingende Sein, das allem andern zugrunde liegt, das wir aber nie als ein Wirkliches und Gegebenes vor uns haben? Alles uns wirklich Gegebene ist immer durch ein anderes bedingt, sowohl unter der Form des Begriffs als des Urteils. Denn der Begriff hat immer seinen Ort in dem schwebenden Gegensatz des Höheren und Niederen, des Allgemeinen und Besonderen, und hat eine Begrenzung in der Richtung der Subordination und Koordination, ist also durch seine Grenzen bedingt. Dasjenige, was wir als Voraussetzung postulierten, muß aber das U n b e d i n g t e sein, und nur das können wir von ihm aussagen. Hier kommen wir auf ein Gebiet, wo wir die verschiedensten Bezeichnungen finden: das Unbedingte, gleich dem Höchsten, Absoluten, der Gottheit, dem Nichts. Wir sehen hier ganz ab von diesen Bezeichnungen und nehmen nur an, daß durch alle dasselbe bezeichnet werde. Wir stellen nur fest, daß dies die oberste Kraft sein muß, die alles bedingt, und die zugleich nicht wieder Erscheinung sein kann: das schlechthin Vorausgesetzte zu allem Gegebenen. Wir wollen nun einmal sehen, wie wir auf einem anderen Wege, nämlich vom wirklichen Denken aus, dahin kommen können, dies zu denken. Hier gibt es zwei Fälle: Entweder gehen wir von einem Punkte aus, der in der Form des Denkens im engeren Sinne liegt (d. h. wo die Form der Entgegensetzung herrscht), oder von einem Punkte, der in der Wahrnehmung liegt (d. h. wo man zusammenfaßt). Fangen wir nun von der Seite der Wahrnehmung an, so setzen wir aus dem Mannigfaltigen einen bestimmten Gegenstand heraus. Ist dies geschehen, so muß ihm von der anderen Seite zu Hilfe gekommen werden; entweder durch Urteile oder durch Begriffe. Dann haben S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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wir diesem Dinge den Charakter eines einzelnen gegeben, folglich, eine Identität von Kraft und Erscheinung mitgesetzt. Nun müssen wir eine Menge Urteile aussagen und den ganzen Komplexus von Urteilen zusammenfassen. Dann, entsteht uns die Aufgabe, den höheren Begriff für den mehrerer gleicher Dinge zu suchen. Danach steigen wir höher hinauf und suchen die Kraft desselben oder den Gattimgsbegriff, in welchem die verschiedenen Mannigfaltigkeiten gesetzt sind; und so kommen wir hier auf den schwebenden Gegensatz von Art und Gattung. Den Begriff der Gattung müssen wir dann wieder vervollständigen, wie vorher den Begriff der Art. Und haben wir alle Arten darin aufgenommen, so kann für diesen Punkt nichts mehr geschehen, bis der ähnliche Prozeß von der anderen Seite aus beginnt, d. h. bis wir ähnliche Gattungen finden, die Gattung als Erscheinung setzen und nun wieder deren Kraft finden wollen. Wir sind bei diesem Verfahren immer ausgegangen von den Gegenständen, die uns die Erde darbietet. Doch dürfen wir nicht allein auf das Lebendige sehen, sondern auch auf das Tote, das aber nur im Gegensatz zu jenem tot ist. Denn in das Gebiet des Lebens müssen wir auch dieses setzen, weil es eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen aus sich entwickelt. Das Tote ist kein bloß Leidendes, sondern selbst ein Tätiges, und immer regt sich das Streben der Forschung, seine Erscheinung in das Leben aufzunehmen. Haben wir mit unserem Prozeß auf dem Gebiete des Anorganischen versiert, so haben wir es hier (z. B. bei den Mineralien) mit Totem zu tun, und alle Erscheinungen werden a n , nicht a u s dem Gegenstande entwickelt. Denken wir uns aber die Gestaltung als Genesis, sehen wir auf seinen Anfang und auf die Entwicklung seiner Gestalt, so müssen wir sagen: Bis zur Vollendung seiner Gestalt war es lebendig, denn es entwickelte Erscheinungen aus sich. Jetzt allerdings erscheint das Ding tot und leidend und wird aufgelöst durch Witterung und chemische Prozesse. Dann aber bildet sich daraus eine andere Gestalt, und so liegt alles in einem Wechsel von Leben und Tod. So kommen wir auf den Gegensatz des einzelnen und allgemeinen Lebens und, wenn wir noch höher steigen, zu unserem ganzen Weltkörper. Er ist die

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Identität des allgemeinen und besonderen Lebens und muß also die Kraft sein, zu der alle anderen Kräfte auf ihm sich als Erscheinungen verhalten. Fragen wir nun, ob wir in ihm das höchste Sein entsprechend den Voraussetzungen des Denkens haben, so werden wir dies in gewisser Hinsicht bejahen müssen. Denn die Erde als Einheit des allgemeinen und besonderen Lebens ist uns nicht mehr als Wahrnehmung gegeben, sondern nur als Gedanke, der außerhalb des Gebiets des Wirklichen liegt, d. h. von der Seite der intellektuellen Funktion, wobei wir uns die Wahrnehmung von innen her nachbilden. E r ist also eigentlich nicht wirklicher Gedanke mehr, und wir können von dieser Seite nicht weiterkommen, wenn uns nichts Höheres gegeben ist. 42 1 9 , 6-

Wenn wir die Einheit des Weltkörpers gefunden haben als die Kraft, wozu sich alles Untergeordnete als Erscheinung verhält, so haben wir hier eine Einheit der Entgegensetzimg, in welche selbst der Gegensatz des Realen und Idealen eingeschlossen ist. Doch für das Unbedingte können wir diese Einheit deshalb nicht halten, weil die Voraussetzung nur eine provisorische sein konnte. Wir lassen sie wieder fallen, denn wir sind mit unserem Denken nicht streng gebunden an unseren Weltkörper. Indem wir ihn als Einheit setzen, liegt schon darin die Richtung, ihn zugleich als Einzelheit gegenüber mehreren koordinierten Weltkörpern zu setzen und also in unserem Denken über ihn hinauszugehen. Wir kamen nur deshalb nicht weiter, weil es uns an organischen Affektionen fehlte. Diese aber können wir durch den Gedanken ergänzen und uns eine unendliche MannigXLII. Eigentlich aber doch nur deswegen, weil die Voraussetzung falsch ist, und wir nicht ganz an die Erde gebunden sind, wenngleich wir bei den anderen Weltkörpern den Prozeß nicht von der Wahrnehmung des einzelnen darauf anfangen können. Dieses aber läßt sich ergänzen durch den Gedanken. So kommen wir auf die Mehrheit der Weltkörper, und, weü wir hier bestimmte Verhältnisse wahrnehmen, auch der Systeme, und zuletzt also, wenn wir diese alle als Erscheinungen setzen, auf die Einheit einer weltbüdenden, selbst nicht erscheinenden Kraft. Es fragt sich, ob diese das Unbedingte ist. Dies ist natura naturans, wie die Gesamtheit der Erscheinung natura naturata (natura na16*

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faltigkeit solcher Weltkörper denken in ihrer Einheit als Kraft. Nun entsteht das Streben, hierzu das Höhere zu suchen. Das Höchste wäre dann die Einheit der weltbildenturans ist nicht das Unbedingte)1). Die Frage ist zu verneinen. Denn die Kraft ist nicht anders als in der Totalität ihrer Erscheinungen, und also durch diese bedingt in gewissem Sinne. Unmöglich kann sich das zum Grunde hegende Sein zu dem gesamten Gedachten ebenso verhalten wie etwas innerhalb des Gedachten zum andern; und wir sind also nicht von dem Wirklichen in den Urgrund übergegangen. — Eine andere Methode auch innerhalb der Begriffsform wäre, beim Sein, in welchem der Gegensatz aufgehoben ist, also bei der Abstraktion anzufangen. Dazu entspricht die Vorstellung des höchsten Wesens, sofern von demselben alle Entgegensetzung ausgeht. Dazu aber gehört als Gegensatz die bloße Möglichkeit der Urteile, welcher die chaotische Materie entspricht (§ 185). Daher ist nun die ursprüngliche Verfahrungsweise, daß man nur diese beiden zusammengenommen für das transzendente, dem Wirklichen zum Grunde liegende Sein hält, Gott und die Materie, indem aus dieser von jenem die Welt gebildet wird. Die Materie ist aber das wahre Nichtsein, da sie nur räumlich2) gedacht werden kann, aber sinnlich unbestimmt sein soll. Also an sich ist wenig Unterschied, ob gesagt wird, Gott habe die Welt aus der ewigen Materie gemacht, oder aus nichts gemacht. Nur in jener Form ist Gott nicht unbedingt, weil das in ihm Gesetzte doch eigentlich die weit bildende Tätigkeit ist. Wenn nun diese durch das Mitgesetztsein einer transzendenten Materie bedingt ist, so ist auch Gott durch die Materie bedingt, wie die Materie durch ihn. Gibt man nun die Ewigkeit der Materie auf und sagt, Gott habe zuerst die Materie hervorgebracht und aus dieser die Welt gebildet, so ist das die schlechteste Auskunft wegen des leeren Zwischenmomentes. Wie erscheint aber hiermit verglichen der Ausdruck, daß Gott die Welt aus nichts gemacht? Offenbar ist darin indirekt gesetzt, daß es noch eines anderen transzendenten Faktors, wenn auch nur eines negativen, bedürfe, um Gott als die Grundlage des wirklichen Seins zu denken. Gott erscheint sonach hier allerdings nur als unserer intellektuellen Funktion entsprechend und aus dem Chaos, wie wir durch Entgegensetzung, bildend. Die eine Form ist also ebenso unvollkommen /als die andere/, und wenn natura naturans uns die Einheit im Transzendenten bewahrt, so ist sie nicht transzendent genug; bei Gott und Materie aber kommt man aus der Duplizität nicht heraus. Doch haben wir uns hieraus die Entstehung mehrerer Vorstellungsweisen des Transzendenten erklärt. l ) a

Rb. in d. Hs.; fehlt bei Jon. ) Durchstr.: „sinnlich".

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den Kraft, zu der sich alle übrigen Kräfte als Erscheinungen verhalten; und in dieser Vorstellung geht der Gegensatz des Denkens und Seins auch auf. Ist dies nun das Unbedingte? Es ist ungefähr dieselbe Vorstellung, die naan sonst mit dem Ausdruck n a t u r a n a tu r a n s bezeichnet, und der die Gesamtheit der Erscheinung als gebildete Welt oder die n a t u r a n a t u r a t a gegenübersteht. In dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung ist dies offenbar das Höchste, und innerhalb desselben können, wir nicht weitergehen. Da wir aber dennoch in diesem Gegensatz bleiben, so kann dies nicht das Unbedingte sein, was wir nach unserer transzendenten Voraussetzung als dem Denken entsprechend suchen, weil sich das sogenannte Unbedingte zum Untergeordneten ebenso verhält wie eine einzelne Kraft zum Zyklus ihrer Erscheinungen. Es liegt nur in der Einseitigkeit des Prozesses, wenn es uns so scheint, als wenn die Kraft zum Zyklus ihrer Erscheinungen in dem gleichen Verhältnis stehe wie das Unbedingte zum Bedingten. D e n n d i e K r a f t ist d u r c h d i e T o t a l i t ä t der E r s c h e i n u n g e n b e d i n g t , s i e i s t n u r im Z y k l u s d e r E r s c h e i n u n g e n u n d im Z u g l e i c h g e s e t z t s e i n d e r s e l b e n . Wenn wir das Unbedingte nur in diesem Verhältnis setzen und konstruieren können, so ist es nur im partiellen Entgegengesetztsein in den einzelnen Erscheinungen. Das Unbedingte wird eigentlich geleugnet, weil das Gesetzte nur ein Bedingtes ist. Beginnen wir nun die Sache von der anderen Seite. Bisher sind wir von unten aufgestiegen, vom Setzen des Einzelnen bis zum Inbegriff aller Begriffe. Wenn wir nun von oben anfangen, dann ist der höchste Gegensatz das erste, wovon wir ausgehen. Indem wir ihn setzen, besinnen wir uns, daß wir das Sein durch diesen Gegensatz geteilt haben und also das Unbedingte das ist, worin alle Gegensätze enthalten sind und woraus sie hervorgehen. Kommen wir mit dieser Form dem Unbedingten näher als mit dem Vorigen? Ehe wir die Frage beantworten, sehen wir auf die andere Grenze des Begriffs, die bloße Möglichkeit mannigfaltiger Urteile, und fragen, was dieser Form im Sein entspricht. Das ist nun nichts anderes, als was wir mit dem Ausdruck M a t e r i e bezeichnen, rein an und für sich und ohne weiteres.

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Denn das eigentliche Urteil, von dem hier immer nur die Rede ist, hat nur das Einzelne aufzustellen, das einzelne Moment und das Individuum. Die Möglichkeit mannigfaltiger Urteile beruht also auf der Raum- und Zeiterfüllung; und diese, an und f ü r sich betrachtet, ist die Materie. Ist dies nun etwas, oder ist es nichts? Wir haben diese beiden Erfüllungen gesetzt als etwas, was wir im wirklichen Denken schon immer hinter uns haben. Denn in diesem müssen wir immer schon etwas gesetzt haben, und diesem Gesetzten muß etwas anderes als die Materie entsprechen, eine bestimmte Form des Seins; die Materie aber als der Grund der organischen Affektionen ist noch eine chaotische Unbestimmtheit. So bezeichnet diese Vorstellung eigentlich das Nichtsein, d. h. dasjenige, was jedes eigentliche Sein schon hinter sich hat. Was hat die Vorstellung von der Materie für eine Beziehung auf das wirkliche Sein? Es ist das, von dem wir sagen, daß das wirkliche Sein daraus besteht, ebenso wie die Möglichkeit mannigfaltiger Urteile dem Fixieren des Einzelnen vorhergehen müsse. Hat denn nun dieser Gedanke: „Das wirkliche Sein besteht aus der Materie" eine Realität ? Nein, sondern er ist nur die Korrespondenz zu der Formel, die wir uns in bezug auf das Denken setzen mußten, aufs Sein übertragen. Ebenso wie jenes kein wirkliches Denken ist, ist auch dies kein wirkliches Sein, also das Nichtsein, das alles wirkliche Sein schon hinter sich hat. Gehen wir jetzt wieder zum Vorigen zurück und denken wir uns das Sein, inwiefern darin der höchste Gegensatz aufgehoben ist. Liegt dieses Sein dem wirklichen Sein zugrunde? Jedes wirkliche Sein ist ein Zusammenfassen der Gegensätze und setzt die Entgegensetzung voraus. Das, was das Entgegengesetztsein nicht voraussetzt, sondern von diesem vorausgesetzt wird, ist also nicht das wirkliche Sein, liegt aber auch diesem nicht zugrunde, denn es entspricht nur der einen Seite des Prozesses, und wir haben bei diesem Verfahren nur die Seite der Denktätigkeit vorausgesetzt. Beide entgegengesetzten Denkgrenzen müssen wir also erst kombinieren; und hieraus entsteht die Vorstellung vom unbedingten Sein oder von der G o 11he i t, welche aus der Materie die Welt gebildet hat.

Der Irrtum der pantheistischen Konstruktion

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Dies hielt man eine geraume Zeit hindurch für die transzendentale Voraussetzung im Denken, so daß man sich dachte, die Methode für die Schlichtung streitiger Vorstellungen beruhe auf der Voraussetzung, daß die Welt durch die Materie und durch die Gottheit gebildet sei. Indes ist diese Vorstellung, wie man schon aus der Stellung der Wörter sieht, nur ein Durchgangspunkt für das Spätere gewesen. Denn wir haben hier eine Duplizität, in der natürlich das eine Glied dasselbe Recht hat wie das andre. Daher man die Materie als gleich ursprünglich und ewig mit der Gottheit setzen muß: nämlich Gott als das Handelnde, die Materie als das Leidende; beide unabhängig voneinander. Dann wird die Gottheit so vorgestellt als das Sein, von dem die Entgegensetzung ausgeht. Daraus ist das wirkliche Sein entstanden, welches dem wirklichen Denken entspricht. Nun können wir das Denken des wirklichen Seins immer in diese beiden Faktoren (das Handelnde und das Leidende) Zerfällen. Aber mit dieser Zerfällung hört auch das wirkliche Denken auf. Denn das bloß Leidende ohne Handeln und das bloß Handelnde ohne Leiden ist kein wirkliches Denken mehr. Dieses ist vielmehr nur in der Identität beider. Nun ist aber die Duplizität das, wobei wir im Denken nicht stehenbleiben können. So trat an die Stelle der mit Gott gleichen Materie die Vorstellung, daß Gott die Materie hervorbringt. Infolgedessen räsonierte man natürlicherweise, Gott habe zuerst die Materie, dann die Welt erschaffen. Dann entsteht aber die Frage: Warum soll er beide nicht zugleich geschaffen haben; warum nicht unmittelbar die Welt, und warum zuerst die Materie? Offenbar stammt diese Vorstellung aus der Ansicht, welche diese Duplizität annimmt. Die Materie muß nun als ein Geschaffenes s e i n , wird also als ein Seiendes gesetzt. Die Materie ist aber das Nicht-Sein, welches das Sein immer hinter sich hat. Sein und Materie schließen einander immer aus. Wenn wir uns das Verhältnis des Gewordenseins des bedingten Seins aus dem unbedingten in der Duplizität des Aktes denken, so wäre doch, als die Materie geworden, nichts geworden; d. h. man setzt den andern Punkt der Formel nach, hebt ihn aber dem Inhalt nach wieder auf und sagt, Gott habe die Welt aus Nichts geschaffen. Die Duplizität wird also noch immer

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gesetzt, im letzten Fall' aber nur einseitig, weil sie aufgehoben ist in beziug auf den Gehalt. D i e G o t t h e i t , w e l c h e aus d e r M a t e r i e die W e l t s c h a f f t , ist n i c h t d a s u n b e d i n g t e Sein; ebenso ist es aber auch n i c h t die Gottheit, welche die Welt aus nichts s c h a f f t , w e i l a u c h h i e r i n e i n e D u p l i z i t ä t l i e g t . Sagen wir: Das Unbedingte ist das, was die Welt hervorbringt (Gott hat die Welt geschaffen), dann ist Gott und die weltbildende Kraft einerlei und die Welt die Totalität ihrer Erscheinung, und wir haben wieder die wechselseitige Bedingtheit, nur in anderer Form. Diese Duplizität ist daher in diesem Kreise nicht zu umgehen. Welches Recht nun in diesen zwei Vorstellungen ist, sich über die eine zu erheben, die andre zu vernichten, das ist klar. Sie haben beide gleiches Recht. Denn die eine ist von der einen Formel der Denkgrenze ausgegangen, die andre von der anderen Formel. Jede trägt also eine Einseitigkeit in sich, und diese ist das Hindernis, das Unbedingte zu haben und zu setzen. Wie steht es ¡also um die Lösung unserer Aufgabe, das Unbedingte zu finden? Wenn wir bei der bloßen transzendentalen Voraussetzung stehenbleiben, so können wir uns bei dem gefundenen Primärpunkt und der Finalform beruhigen. Sobald wir aber sagen: dies muß auch die Voraussetzimg f ü r das Denken sein, insofern es ein Wissen werden will und für die Zusammengehörigkeit des Denkens und des Gedachten, so sehen wir überall das Denken darin begriffen, auch diesen Denkgrenzen einzuräumen, daß ihnen im Sein etwas entspreche; d. h. wir sehen das Denken darin begriffen, sich als Wissen geltend zu machen. Aber diese Zusammengehörigkeit zustande zu bringen und nachzuweisen, kann uns in diesem Kreise nicht gelingen. Denn wir kommen dabei immer auf einen Punkt, der noch bedingt ist und im wirklichen Denken liegt. Da sich aber hierin nichts verhält wie das Unbedingte zum Bedingten, so haben wir auch darin das Unbedingte noch nicht gesetzt, oder wir bekommen die zuletzt bezeichnete Duplizität, worin jedes durch das andre bedingt ist, wobei wir also nicht stehenbleiben können. Das bestimmte Bewußtsein dessen, was unserer Voraussetzung im Denken als Gedachtes entspricht, erreichen wir also nie. Es mag wohl aber daher rühren, weil

Die Identität der Urteilsproduktion

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wir diese Frage nur von der einen Form des Denkens (dem B e g r i f f ) aus beantwortet haben. Wir werden daher dieselbe F r a g e wiederholen müssen in bezug auf das Urteil.

4. Transzendentale Erörterung über das Wissen unter der Form des Urteils 43-

Die Identität der Urteilsproduktion. W i r können hierbei 20. 6. denselben Gang einschlagen, den wir bei der anderen F o r m ^ bis 9 S 6 1 1 0 1 1 1 1 1 1 6 1 1 haben. Wir halten uns also auch hier daran, d a ß 192 das Wissen ein von allen gleichmäßig produziertes Denken unter der Form des Urteils ist. Dieses Wissen ist nun nicht gegründet in der Identität der intellektuellen Funktion, denn diese konkurriert nicht beim Urteil; es wird nur auf sie bezogen. E s h ä n g t a b e r e i g e n t l i c h auch nicht an der I d e n t i t ä t d e r o r g a n i s c h e n F u n k t i o n . Diese bedingt zwar gewissermaßen die Identität des Urteils, begründet sie aber ebensowenig. Denn es läßt sich wohl denken, daß, wenn auch die Organisation dieselbe ist, die Affektionen aber verschieden, auch die Urteile verschieden ausfallen. Wir werden hier also gewiesen auf die I d e n t i tät der B e z i e h u n g z w i s c h e n der organischen XLIII. Ebenso ist nun zu Werke zu gehen auf der Seite des Urteüs, um zu sehen, was den aus seiner Begrenzung hervorgegangenen transzendenten Voraussetzungen als transzendentes Sein entspricht. Der Gang wie oben. Zu § 189. Daß auch die Identität der organischen Funktion an sich nicht bestimmt /ist/, liegt in zweierlei. 1. In jedem Moment sind unendliche Veränderungen, von denen der eine dieses, der andere jenes wahrnehmen kann. 2. Auch bei gleichen Affektionen kann der vorhergegangene Zustand ganz andere Urteüe hervorbringen. Daher (§ 190) das gleiche der Beziehung immer mit von dem früheren Denkprozeß abhängt (vgl. § 192). Zu § 191. Beruht auf dem Vorigen. Jeder kann das Wahrgenommene des andern in seinen Gedankengang verweben. Das ganze Urteil, bei welchem immer auch Begriffstätigkeit mitwirkt, kann nur übertragen werden, sofern diese letztere gleich ist. Daher kann man auf der anderen Seite sagen: Jeder muß selbst auslegen. Zu § 192. Inwiefern dieser Anspruch begrenzt wird durch den individuellen Faktor, darauf darf hier nicht Rücksicht genommen werden.

Die Identität der Urteilsproduktion

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wir diese Frage nur von der einen Form des Denkens (dem B e g r i f f ) aus beantwortet haben. Wir werden daher dieselbe F r a g e wiederholen müssen in bezug auf das Urteil.

4. Transzendentale Erörterung über das Wissen unter der Form des Urteils 43-

Die Identität der Urteilsproduktion. W i r können hierbei 20. 6. denselben Gang einschlagen, den wir bei der anderen F o r m ^ bis 9 S 6 1 1 0 1 1 1 1 1 1 6 1 1 haben. Wir halten uns also auch hier daran, d a ß 192 das Wissen ein von allen gleichmäßig produziertes Denken unter der Form des Urteils ist. Dieses Wissen ist nun nicht gegründet in der Identität der intellektuellen Funktion, denn diese konkurriert nicht beim Urteil; es wird nur auf sie bezogen. E s h ä n g t a b e r e i g e n t l i c h auch nicht an der I d e n t i t ä t d e r o r g a n i s c h e n F u n k t i o n . Diese bedingt zwar gewissermaßen die Identität des Urteils, begründet sie aber ebensowenig. Denn es läßt sich wohl denken, daß, wenn auch die Organisation dieselbe ist, die Affektionen aber verschieden, auch die Urteile verschieden ausfallen. Wir werden hier also gewiesen auf die I d e n t i tät der B e z i e h u n g z w i s c h e n der organischen XLIII. Ebenso ist nun zu Werke zu gehen auf der Seite des Urteüs, um zu sehen, was den aus seiner Begrenzung hervorgegangenen transzendenten Voraussetzungen als transzendentes Sein entspricht. Der Gang wie oben. Zu § 189. Daß auch die Identität der organischen Funktion an sich nicht bestimmt /ist/, liegt in zweierlei. 1. In jedem Moment sind unendliche Veränderungen, von denen der eine dieses, der andere jenes wahrnehmen kann. 2. Auch bei gleichen Affektionen kann der vorhergegangene Zustand ganz andere Urteüe hervorbringen. Daher (§ 190) das gleiche der Beziehung immer mit von dem früheren Denkprozeß abhängt (vgl. § 192). Zu § 191. Beruht auf dem Vorigen. Jeder kann das Wahrgenommene des andern in seinen Gedankengang verweben. Das ganze Urteil, bei welchem immer auch Begriffstätigkeit mitwirkt, kann nur übertragen werden, sofern diese letztere gleich ist. Daher kann man auf der anderen Seite sagen: Jeder muß selbst auslegen. Zu § 192. Inwiefern dieser Anspruch begrenzt wird durch den individuellen Faktor, darauf darf hier nicht Rücksicht genommen werden.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

F u n k t i o n u n d d e m a u ß e r u n s g e s e t z t e n S e i n als auf den Grund der Identität des Urteils. Wir kommen hier auf die Beziehung zwischen Organisation und Affektion und resümieren den U n t e r s c h i e d v o n E m p f i n d u n g u n d W a h r n e h m u n g . Beide beziehen sich auf die organische Affektion. Aber die Empfindung ist m e h r n a c h i n n e n g e k e h r t , eine Aussage über das Äffizierte (über das Äffiziertsein) ; die Wahrnehmung m e h r n a c h a u ß e n g e w e n d e t , eine Aussage über das Affizierende. Das Urteil aber geht nicht von der Empfindung aus. Ein Urteil, das unseren eigenen Zustand beschreibt, ist bereits ein Akt der Wahrnehiming, in dem wir uns selbst als Empfindende gegenständlich werden. Man pflegt dies auch so auszudrücken, daß das Wahre im Denken (das Wissen) davon abhänge, d a ß allen dieselbe Außenwelt gegeben sei. Dies ist richtig, wenn wir es beschränken i. auf die Identität der Urteilsproduktion, 2. auf die Identität der Organisation (wenn wir die Organisation selbst zur Außenwelt rechnen). Jener Ausdruck bedeutet dann, daß, wenn ein Urteil ein Wissen sein soll, vorausgesetzt werde, daß alle, die mit ihrer Organisation in gleichem Verhältnis zum äußeren Sein stehen, auch gleiche Urteile produzieren werden. Das Urteil des einen kann daher das des anderen ergänzen. Ich nehme das Urteil des anderen in mich auf, weil ich voraussetze, daß ich unter denselben Umständen und bei derselben organischen Affektion ebenso geurteilt hätte. Doch kann man allerdings in anderer Beziehung auch sagen, daß solche Substitution nicht stattfinden kann, sondern daß jeder sein Urteil selbst bilden muß. Die das Wissen konstituierenden Urteile entwickeln sich nur aus diesem identisch Gegebenen in jedem nach Maßgabe der Tätigkeit seiner intellektuellen Funktion. Das Urteil ruht auf der ganzen Denktätigkeit des Urteilenden. Besitzt jemand diese nicht, so können die Urteile anderer auch keine Wahrheit für ihn haben. Denn die Begriffe (Subjekt und Prädikat) werden für das Urteil vorausgesetzt ; und hierzu gehören viele Denktätigkeiten, die erst vollzogen werden müssen. Insofern gibt es also keine unmittelbare Übertragung des Urteils; nur die Beschreibung der Wahrnehmung kann mitgeteilt werden, woraus dann jeder sich selbst sein Urteil bilden kann. Den-

Das Seinsverhältnis des Urteils

251

ken wir uns den Prozeß der Begriffsbildung nach gleichen Bedingungen immer mehr fortschreitend, so kann sich auch die Möglichkeit der Übertragung von Urteilen immer mehr erweitern, und es findet dann auf einer gewissen Stufe ein Glaube an die Richtigkeit der Übertragung des Urteils statt. W i r glauben dem, mit dem wir auf gleicher Bildungsstufe stehen. Und so gibt es einen gemeinsamen G l a u b a i ganzer Zeiten, Gegenden, Menschenklassen in bezug auf die Identität des gesamten Denkprozesses. §§193 D a s Urteil und die Gemeinschaftlichkeit des Seins. bis 194 Was ist nun dasjenige im Sem, was der Form des Urteils entspricht? E s ist die G e m e i n s c h a f t l i c h k e i t d e s S e i n s , das Alles-in-sich-haben eines jeden, das Hineinsetzen des Prädikats, welches im Begriff noch nicht liegt, nämlich der Möglichkeit nach. Das heißt: das S y s t e m d e r g e g e n s e i t i g e n E i n w i r k u n g e n ist das, wodurch das Wissen unter der Form des Urteils bedingt ist. Wäre nun das Urteil nur eine Form in unserem Denken und für dasselbe, so wären die Formen des Urteils zwar ein Denken, aber kein Wissen, weil dem Gedachten nichts entspricht. Nur inwiefern im Sein dieselbe gegenseitige A b hängigkeit auf dem Gebiet des Zeitlichen und Räumlichen ist, kann das Urteil ein Wissen sein. Das eigentliche Urteil setzt ein Prädikat in das Subjekt, das in seinem B e g r i f f noch nicht liegt. Ist der B e g r i f f vollZu § 193. Die Gemeinschaftlichkeit des Seins darf nur von oben resümiert werden, und es kommt nur noch darauf an zu zeigen, daß diese in dem Gegensatz von Ursach und Wirkung ausgedrückt ist. Die wahre Ursächlichkeit im wirklichen Sein ist aber immer nur etwas Momentanes. Kein Ding ist Ursach, d. h. bewirkt einen bestimmten Erfolg, nur durch sein Sein, sondern durch sein Irgendwie-bestimmtsein, welches nicht in ihm selbst gegründet ist, als inwiefern anderes in ihm gesetzt ist. Ebenso auch jedes Tätige, sofern eine Wirkung in ihm erfolgt, wird in seiner Tätigkeit auf anderes bestimmt, und es entsteht also eine neue Ursächlichkeit. An diesem System hat übrigens alles Anteil, was in einem Subjekt geschieht. Denn auch das im Wesen Liegende, z. B. Blühen vor der Frucht bei der Pflanze, ist doch seiner Zeitlich keit nach nicht durch das Wesen, sondern durch anderes, z. B. hier durch die atmosphärischen Verhältnisse, bestimmt. — (§ 194 ist schon oben vorgekommen).

Das Seinsverhältnis des Urteils

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ken wir uns den Prozeß der Begriffsbildung nach gleichen Bedingungen immer mehr fortschreitend, so kann sich auch die Möglichkeit der Übertragung von Urteilen immer mehr erweitern, und es findet dann auf einer gewissen Stufe ein Glaube an die Richtigkeit der Übertragung des Urteils statt. W i r glauben dem, mit dem wir auf gleicher Bildungsstufe stehen. Und so gibt es einen gemeinsamen G l a u b a i ganzer Zeiten, Gegenden, Menschenklassen in bezug auf die Identität des gesamten Denkprozesses. §§193 D a s Urteil und die Gemeinschaftlichkeit des Seins. bis 194 Was ist nun dasjenige im Sem, was der Form des Urteils entspricht? E s ist die G e m e i n s c h a f t l i c h k e i t d e s S e i n s , das Alles-in-sich-haben eines jeden, das Hineinsetzen des Prädikats, welches im Begriff noch nicht liegt, nämlich der Möglichkeit nach. Das heißt: das S y s t e m d e r g e g e n s e i t i g e n E i n w i r k u n g e n ist das, wodurch das Wissen unter der Form des Urteils bedingt ist. Wäre nun das Urteil nur eine Form in unserem Denken und für dasselbe, so wären die Formen des Urteils zwar ein Denken, aber kein Wissen, weil dem Gedachten nichts entspricht. Nur inwiefern im Sein dieselbe gegenseitige A b hängigkeit auf dem Gebiet des Zeitlichen und Räumlichen ist, kann das Urteil ein Wissen sein. Das eigentliche Urteil setzt ein Prädikat in das Subjekt, das in seinem B e g r i f f noch nicht liegt. Ist der B e g r i f f vollZu § 193. Die Gemeinschaftlichkeit des Seins darf nur von oben resümiert werden, und es kommt nur noch darauf an zu zeigen, daß diese in dem Gegensatz von Ursach und Wirkung ausgedrückt ist. Die wahre Ursächlichkeit im wirklichen Sein ist aber immer nur etwas Momentanes. Kein Ding ist Ursach, d. h. bewirkt einen bestimmten Erfolg, nur durch sein Sein, sondern durch sein Irgendwie-bestimmtsein, welches nicht in ihm selbst gegründet ist, als inwiefern anderes in ihm gesetzt ist. Ebenso auch jedes Tätige, sofern eine Wirkung in ihm erfolgt, wird in seiner Tätigkeit auf anderes bestimmt, und es entsteht also eine neue Ursächlichkeit. An diesem System hat übrigens alles Anteil, was in einem Subjekt geschieht. Denn auch das im Wesen Liegende, z. B. Blühen vor der Frucht bei der Pflanze, ist doch seiner Zeitlich keit nach nicht durch das Wesen, sondern durch anderes, z. B. hier durch die atmosphärischen Verhältnisse, bestimmt. — (§ 194 ist schon oben vorgekommen).

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

ständig, so liegen zwar der Möglichkeit nach alle Prädikate in ihm, der Wirklichkeit und Zeitlichkeit nach aber noch nicht. Dies ist das Bedingtsein des einen durch das andere, denn Zeit- und Raumverhältnisse sind nur durch das Nachund Nebeneinander gegeben. Das Verhältnis der Gemeinschaftlichkeit des Daseins oder der Gegenseitigkeit der Einwirkungen des Zeitlichen und Räumlichen aufeinander können wir uns unter keine andere Form bringen, als daß wir sagen: Das eine ist in dem andern wirkend, das andre von diesem leidend. Wenn ich sage: „In diesem Ding einer gewissen Art geschieht jetzt etwas, das in seinem Begriff der Möglichkeit nach liegt, aber nicht der Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Geschehens nach", so muß der Grund des Geschehens in einem anderen als dem Dinge selbst liegen. Also muß es durch ein anderes bestimmt sein. So liegen z. B. im Begriff „Pflanze" die Tatsachen des Blühens und Fruchttragens und zugleich auch die Priorität und Posteriorität des einen und andern. Sage ich: „Die Pflanze steht jetzt in der Blüte", so liegt das Blühen der Möglichkeit nach im Begriff der Pflanze, und bestimmter noch: es liegt vor dem Fruchttragen. Was aber zwischen Blüte und Frucht liegt, hat seinen Grund nicht im Begriff, sondern in einem anderen. Daß die Pflanze gerade jetzt blüht, liegt in den Gesamteinflüssen der Atmosphäre, und das Urteil über die Pflanze setzt sie also in bezug auf diese Einflüsse als leidend. — Nehmen wir ein komplizierteres Beispiel. In der intellektuellen Funktion des Menschen ist das ganze System der Begriffe prädeterminiert. Es wird aber nur entwickelt, indem es sich in der organischen Funktion kristallisiert. Sage ich von einem Menschen: „Er weiß dies", so ist dieses Wissen als möglich im Begriff des Menschen gesetzt. Setze ich es der Zeit nach, so setze ich es in sein entwickeltes Bewußtsein. Dazu aber müssen vorausgesetzt werden die besondere Art, wie dieser Mensch existiert, alle Einflüsse auf seine begriffliche Entwicklung und die Sprache; also auch das Zusammenleben mit anderen Menschen. So trägt sich also die Tätigkeit des Menschen nicht selbst, sondern hängt von anderen Bestimmungen ab. Er wird von anderen Menschen affiziert und ist zugleich, indem er die Affektionen in Begriffe umsetzt, ein

Statische und dynamische Ansicht des Seins

253

Tätiger. So setze ich also auch in obigem Urteil ein Tätiges und Leidendes voraus. E s f o l g t daraus, d a ß in jedem Urteil, wenn auch nicht gerade ein anderes gesetzt ist, worauf das Faktum bezogen wird, ein Zusammenhang und Aufeinanderbeziehen von Tätigkeit und Leiden ist; und nicht nur im einzelnen, sondern auch im Zusammensein. ^ bis 5 197

un< *

dynamische Ansicht des Seins. Sehen wir von hier aus noch einmal zurück auf das Verhältnis zwischen dem Denken unter der Form des B e g r i f f s und unter der Form des Urteils. Setzen wir diese relativ einander entgegen, so wird uns im ersten, wenn wir es isolieren, alles Sein als ein Stehendes, Sich-hnmer-gleich-bleibencLes erscheinen. Denn das Ungleiche ist das zeitlich und räumlich Bedingte, das nur seiner Möglichkeit nach in den B e g r i f f aufgenommen 'ist. Könnten wir nun ein Wissen haben, das ausschließlich unter der Form des B e g r i f f s steht, so wäre das Sein als ein Sichgleichbleibendes, Unveränderliches dargestellt; alle

Zu §§ 195, 196. Parallel den einseitigen Ansichten des Realismus und Idealismus stoßen wir hier auf diese beiden vorzüglich antiken Ansichten. Der Fluß bezieht sich offenbar auf das Urteilsgebiet, weü beide im Räumlichen und Zeitlichen versieren; in beiden aber muß es eine Kontinuität der Veränderung geben, weil sonst die Zeit leer wäre und das Leben selbst keine Kontinuität hätte. Daß sich das Stehen auf den Begriff bezieht, ist auch klar; denn wenn wir dieses Gebiet dem Urteil entgegensetzen, müssen wir auch die Erscheinung als untergeordnete Kraft setzen. Diese aber als solche ist nach unserer Erklärung in sich eingeschlossen, weil ihr Wirken nicht allein von ihr ausgeht, und sie enthält ihre Zustände nur der Möglichkeit nach, also allezeit gleichmäßig und unzeitlich. Beide Sätze sind nun wahr, aber nur beschränkt. Denn das Gebiet des eigentlichen Urteils kann doch nur uneigentlich auf Begriff zurückgeführt werden; und so gibt es auch immer eine Stufe der Begriffsbildung, welche vor dem Urteil hergeht und innerhalb der es kein Urteil gibt. Ohnerachtet dieser Begrenzung ist doch § 195 vollkommen wahr. Denn Ursach und Wirkung sind immer nur an den erscheinenden Kräften; und wenn das Tote nur Wirkungen aufzunehmen scheint, so gehört es doch immer auch der tätigen Seite des allgemeinen Lebens, wenngleich als Minimum, /an/. Auch der verwitternde Stein wirkt auf die Atmosphäre, und der noch in der Erde eingeschlossene konstituiert einen Teil ihrer Schwere.

Statische und dynamische Ansicht des Seins

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Tätiger. So setze ich also auch in obigem Urteil ein Tätiges und Leidendes voraus. E s f o l g t daraus, d a ß in jedem Urteil, wenn auch nicht gerade ein anderes gesetzt ist, worauf das Faktum bezogen wird, ein Zusammenhang und Aufeinanderbeziehen von Tätigkeit und Leiden ist; und nicht nur im einzelnen, sondern auch im Zusammensein. ^ bis 5 197

un< *

dynamische Ansicht des Seins. Sehen wir von hier aus noch einmal zurück auf das Verhältnis zwischen dem Denken unter der Form des B e g r i f f s und unter der Form des Urteils. Setzen wir diese relativ einander entgegen, so wird uns im ersten, wenn wir es isolieren, alles Sein als ein Stehendes, Sich-hnmer-gleich-bleibencLes erscheinen. Denn das Ungleiche ist das zeitlich und räumlich Bedingte, das nur seiner Möglichkeit nach in den B e g r i f f aufgenommen 'ist. Könnten wir nun ein Wissen haben, das ausschließlich unter der Form des B e g r i f f s steht, so wäre das Sein als ein Sichgleichbleibendes, Unveränderliches dargestellt; alle

Zu §§ 195, 196. Parallel den einseitigen Ansichten des Realismus und Idealismus stoßen wir hier auf diese beiden vorzüglich antiken Ansichten. Der Fluß bezieht sich offenbar auf das Urteilsgebiet, weü beide im Räumlichen und Zeitlichen versieren; in beiden aber muß es eine Kontinuität der Veränderung geben, weil sonst die Zeit leer wäre und das Leben selbst keine Kontinuität hätte. Daß sich das Stehen auf den Begriff bezieht, ist auch klar; denn wenn wir dieses Gebiet dem Urteil entgegensetzen, müssen wir auch die Erscheinung als untergeordnete Kraft setzen. Diese aber als solche ist nach unserer Erklärung in sich eingeschlossen, weil ihr Wirken nicht allein von ihr ausgeht, und sie enthält ihre Zustände nur der Möglichkeit nach, also allezeit gleichmäßig und unzeitlich. Beide Sätze sind nun wahr, aber nur beschränkt. Denn das Gebiet des eigentlichen Urteils kann doch nur uneigentlich auf Begriff zurückgeführt werden; und so gibt es auch immer eine Stufe der Begriffsbildung, welche vor dem Urteil hergeht und innerhalb der es kein Urteil gibt. Ohnerachtet dieser Begrenzung ist doch § 195 vollkommen wahr. Denn Ursach und Wirkung sind immer nur an den erscheinenden Kräften; und wenn das Tote nur Wirkungen aufzunehmen scheint, so gehört es doch immer auch der tätigen Seite des allgemeinen Lebens, wenngleich als Minimum, /an/. Auch der verwitternde Stein wirkt auf die Atmosphäre, und der noch in der Erde eingeschlossene konstituiert einen Teil ihrer Schwere.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Subjekts- und Prädikatsbegriffe wären ihrer Natur nach unveränderlich gesetzt. Hätten wir dagegen f ü r das Sein nur das Auge des Urteils und könnten ohne Begriffe zur Realisation aller Urteile gelangen, so würde das Sein als das durchaus Fließende gesetzt sein, als das Veränderliche und Bunte, weil überall nur d a s Zeiüiche und Räumliche gesetzt wäre; nur ein Tätiges und Leidendes. Das Urteil bezieht sich immer nur auf einen bestimmten Moment und einen bestimmten Raum. Soll es f ü r einen anderen gesetzt sein, so m u ß es wiederholt werden. Nun gibt es wirklich diese entgegengesetzten einseitigen Ansichten. Die einen (Eleaten) sagen, mir das Sichgleichbleibende sei das eigentliche Sein und das Fließende der Schein; die andern (Heraklit), nur das Fließende sei das Sein und die Wahrheit. Die einen haben damit nur gesagt, die F o r m des Begriffs, die andern, die F o r m des Urteils entspräche dem Sein. Diesen beiden Ansichten müssen wir nun das zugestehen, was wir hier ausgeführt haben: In dem als stehend gesetzten Sein ist nur soviel Wahrheit, als das Sein dem Begriff entspricht, u n d in dem als fließend gesetzten Sein nur soviel Wahrheit, als das Sein dem Urteil entspricht. Das Ausgeschlossensein des einen oder andern müssen wir dagegen verwerfen, weil es nur eine Fiktion ist. Zu Begriffen kommen wir nur durch Urteile; jene sind nur wahr, wenn diese wahr sind. Die Wahrheit des einen besteht nur mit d e r Wahrheit des andern; und das Sein ist nur ein Stehendes, sofern es zugleich ein Fließendes ist. J e mehr wir den Begriff zur Vollständigkeit erheben, um so mehr wird das Urteil eingeschränkt. Aber sofern es über räumliche und zeiüiche Verhältnisse etwas aussagt, hat es immer ein Gebiet sich gegenüber, in dem Veränderlichkeit stattfindet. J e unvollständiger die Begriffe sind, desto größer wird das Gebiet des Urteils. Räumen wir aber diesem auch noch so viel ein, so werden wir doch auf einen Punkt kommen, wo der Begriff unentbehrlich ist; denn jedes Urteil muß ein Subjekt und ein Prädikat haben, und diese sind stets Begriffe. So sehr wir alles unter dem Gesichtspunkt des Urteils betrachten, so gibt es doch etwas, wo der Begriff nicht angetastet werden kann; und also ein Gebiet, wo das Sein als ein durchaus Sichgleichbleibendes gesetzt ist.

Fürsichsein und

Beisammensein

255

Diejenige Art des Denkens, welche das Wissen überwiegend unter der Form des Urteils setzen will, nennen wir das e m p i r i s c h e u n d h i s t o r i s c h e W i s s e n ; diejenige Art, welche das Wissen vorwiegend unter der Form des Begriffs setzt, nennen wir das s p e k u l a t i v e W i s s e n . Beides muß sich nun im Sein ebenso verhalten, d. h. das endliche Sein muß dargestellt werden können in einem S y s t e m v o n U r s a c h e u n d W i r k u n g , entsprechend dem Flusse, d. h. unter der Form des Urteils; aber auch als Totalität d e r s u b s t a n t i e l l e n F o r m e n , entsprechend dem Sichgleichbleibenden, d. h. unter der Form des Begriffs. Das endliche Sein muß in beiden aufgehen. Dann werden wir erst sehen können, wie es um die Grenzen dieses Gebietes und um das Transzendente eigentlich steht. 44Ein- und zweifaktorige Urteile. Wechselbeziehung 21.6. z w i s c l i e n Fürsichsein und Beisammensein. Keins der bei§ 1 9 9 den genannten Systeme läßt sich isolieren. Aber es läßt sich doch so stellen, daß das andere ihm gegenüber ein Minimum wird, und daß sich beide gegenseitig begrenzen. Bleiben wir zunächst stehen bei dem Verhältnis von Ursache und Wirkung, das sich auf die Gemeinschaftlichkeit des Seins bezieht, so kann die Bestimmtheit eines jeden durch alles andere nur eine ungleichmäßige sein. Hier wird man einzelne untergeordnete Gebiete setzen können, die unter sich enger zusammenhängen. Das ist nichts als eine Anwendung vom Typus der Begriffsbildung auf das ganze System des Seins, insofern es der Entwicklung des Urteils entspricht. Jedes solcher einzelnen Gebiete eines besonderen Beisammenseins und also für sich Gesetzte muß zugleich ein organischer Bestandteil im System der Kräfte sein. Gehen wir einen Augenblick zurück auf die beiden verschiedenen Formen des Urteils (wo einmal Wirkendes und Leidendes zusammen, oder wo nur eins von beiden bestimmt ausgedrückt ist und suppliert werden muß), so ist klar, d a ß die Beziehung zweier Gegenstände, von denen der eine tätig, der andere leidend ist, in einer höheren zusammengefaßt werden muß. D e n G e g e n s a t z z w i s c h e n R e z e p t i v i tät und S p o n t a n e i t ä t können w i r n u r a l s e i n e n r e l a t i v e n , n i c h t a l s e i n e n a b s o l u t e n d e n k e n . In der

Fürsichsein und

Beisammensein

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Diejenige Art des Denkens, welche das Wissen überwiegend unter der Form des Urteils setzen will, nennen wir das e m p i r i s c h e u n d h i s t o r i s c h e W i s s e n ; diejenige Art, welche das Wissen vorwiegend unter der Form des Begriffs setzt, nennen wir das s p e k u l a t i v e W i s s e n . Beides muß sich nun im Sein ebenso verhalten, d. h. das endliche Sein muß dargestellt werden können in einem S y s t e m v o n U r s a c h e u n d W i r k u n g , entsprechend dem Flusse, d. h. unter der Form des Urteils; aber auch als Totalität d e r s u b s t a n t i e l l e n F o r m e n , entsprechend dem Sichgleichbleibenden, d. h. unter der Form des Begriffs. Das endliche Sein muß in beiden aufgehen. Dann werden wir erst sehen können, wie es um die Grenzen dieses Gebietes und um das Transzendente eigentlich steht. 44Ein- und zweifaktorige Urteile. Wechselbeziehung 21.6. z w i s c l i e n Fürsichsein und Beisammensein. Keins der bei§ 1 9 9 den genannten Systeme läßt sich isolieren. Aber es läßt sich doch so stellen, daß das andere ihm gegenüber ein Minimum wird, und daß sich beide gegenseitig begrenzen. Bleiben wir zunächst stehen bei dem Verhältnis von Ursache und Wirkung, das sich auf die Gemeinschaftlichkeit des Seins bezieht, so kann die Bestimmtheit eines jeden durch alles andere nur eine ungleichmäßige sein. Hier wird man einzelne untergeordnete Gebiete setzen können, die unter sich enger zusammenhängen. Das ist nichts als eine Anwendung vom Typus der Begriffsbildung auf das ganze System des Seins, insofern es der Entwicklung des Urteils entspricht. Jedes solcher einzelnen Gebiete eines besonderen Beisammenseins und also für sich Gesetzte muß zugleich ein organischer Bestandteil im System der Kräfte sein. Gehen wir einen Augenblick zurück auf die beiden verschiedenen Formen des Urteils (wo einmal Wirkendes und Leidendes zusammen, oder wo nur eins von beiden bestimmt ausgedrückt ist und suppliert werden muß), so ist klar, d a ß die Beziehung zweier Gegenstände, von denen der eine tätig, der andere leidend ist, in einer höheren zusammengefaßt werden muß. D e n G e g e n s a t z z w i s c h e n R e z e p t i v i tät und S p o n t a n e i t ä t können w i r n u r a l s e i n e n r e l a t i v e n , n i c h t a l s e i n e n a b s o l u t e n d e n k e n . In der

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Empfänglichkeit muß die Kraft als Minimum mitgesetzt sein, und beide vereinigen sich in einer höheren Kraft. Durch das Urteil: „A liebt B" ist eine geistige Wirksamkeit gesetzt, der eine geistige Empfänglichkeit entsprechen muß. Beides liegt in einem und demselben System, dem Gebiet des Geistes. Sobald die Beziehung auf einen Gegenstand geht, der in einem anderen Gebiet liegt, wird der Ausdruck uneigentlich; z. B.: „Der Mensch liebt die Wissenschaft", da die Wissenschaft nichts außer ihm, sondern für ihn und in ihm ist. Selbst in der Liebe des Menschen zum Tier liegt Gleichartigkeit vor, wenn das Wort in bezug auf das weitere Gebiet des Lebendigen überhaupt eigentlich gebraucht wird. Betrachten wir die andere Form des Urteils, wo nur ein Faktor ausgesprochen ist und der andre latitiert, so läßt sie sich stets auf die erste Form zurückführen. „A lernt etwas", ist die unvollständige Form von „B lehrt A etwas". Die Vorstellung des Lehrers muß suppliert werden, wenn auch A sein eigener Lehrer ist. Je weniger wir auf solche Weise supplieren können, um so mehr liegt der latitierende Faktor im Gebiet des allgemeinen Lebens. So in dem Urteil: „Der Baum blüht". Das Wirkende muß hier in einem größeren Gebiet gesucht werden. So wird man immer höher hinaufgetrieben, bis man zu einem Punkte gelangt, wo das System von Ursache und Wirkung (das im Urteil versiert) aufgeht in das organische System der Kräfte, d. h. wo man sagen muß: das Sein, insofern es den Typus der Urteilsbildung repräsentiert, ist das System der Kausalität; das Sein, insofern es dem Typus der Begriffsbildung entspricht, ist das System der Kräfte; und beide gehen unmittelbar ineinander über. Es gibt keinen organisch ausgesonderten Teil im System der Kräfte, worin nicht zugleich auch eine geschlossene Aussonderung aus dem System von Ursache und Wirkung gesetzt wäre. § 198

Die Polarität von Freiheit und Notwendigkeit. Ein anderer Gegensatz, in dem wir häufig versieren, ist der von F r e i h e i t und N o t w e n d i g k e i t . Die Ausdrücke werden in sehr verschiedener Bedeutung genommen, so daß wir uns darüber verständigen müssen.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Empfänglichkeit muß die Kraft als Minimum mitgesetzt sein, und beide vereinigen sich in einer höheren Kraft. Durch das Urteil: „A liebt B" ist eine geistige Wirksamkeit gesetzt, der eine geistige Empfänglichkeit entsprechen muß. Beides liegt in einem und demselben System, dem Gebiet des Geistes. Sobald die Beziehung auf einen Gegenstand geht, der in einem anderen Gebiet liegt, wird der Ausdruck uneigentlich; z. B.: „Der Mensch liebt die Wissenschaft", da die Wissenschaft nichts außer ihm, sondern für ihn und in ihm ist. Selbst in der Liebe des Menschen zum Tier liegt Gleichartigkeit vor, wenn das Wort in bezug auf das weitere Gebiet des Lebendigen überhaupt eigentlich gebraucht wird. Betrachten wir die andere Form des Urteils, wo nur ein Faktor ausgesprochen ist und der andre latitiert, so läßt sie sich stets auf die erste Form zurückführen. „A lernt etwas", ist die unvollständige Form von „B lehrt A etwas". Die Vorstellung des Lehrers muß suppliert werden, wenn auch A sein eigener Lehrer ist. Je weniger wir auf solche Weise supplieren können, um so mehr liegt der latitierende Faktor im Gebiet des allgemeinen Lebens. So in dem Urteil: „Der Baum blüht". Das Wirkende muß hier in einem größeren Gebiet gesucht werden. So wird man immer höher hinaufgetrieben, bis man zu einem Punkte gelangt, wo das System von Ursache und Wirkung (das im Urteil versiert) aufgeht in das organische System der Kräfte, d. h. wo man sagen muß: das Sein, insofern es den Typus der Urteilsbildung repräsentiert, ist das System der Kausalität; das Sein, insofern es dem Typus der Begriffsbildung entspricht, ist das System der Kräfte; und beide gehen unmittelbar ineinander über. Es gibt keinen organisch ausgesonderten Teil im System der Kräfte, worin nicht zugleich auch eine geschlossene Aussonderung aus dem System von Ursache und Wirkung gesetzt wäre. § 198

Die Polarität von Freiheit und Notwendigkeit. Ein anderer Gegensatz, in dem wir häufig versieren, ist der von F r e i h e i t und N o t w e n d i g k e i t . Die Ausdrücke werden in sehr verschiedener Bedeutung genommen, so daß wir uns darüber verständigen müssen.

Freiheit und Notwendigkeit

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Der Begriff der Notwendigkeit geht immer auf das Verhältnis der Kausalität, der Begriff der Freiheit immer auf das System der Kräfte zurück. Nichts ist frei, als was als Kraft gesetzt wird; und notwendig ist etwas, insofern es als Ursache oder als Wirkung gesetzt ist. W o wir irgend Freiheit setzen, denken wir an die Art und Weise eines für sich gesetzten Seins, zu wirken oder zu erscheinen (sich zu äußern). Das Substrat (Subjekt) der Erscheinung aber ist die Kraft, und die Erscheinung ist in der Kraft begründet und dadurch bestimmt. In der Notwendigkeit dagegen liegt die Bestimmtheit durch ein anderes; das Sein ist mithin als ein Leidendes gesetzt. XLIV. F r e i h e i t und N o t w e n d i g k e i t 1 ) . Zu § 197. Das Wesentliche davon ist auch schon früher vorgekommen, und ich habe es hier nur kurz aufgenommen. Zu § 198. Alles Sein, sofern es das Urteil repräsentiert, ist n o t w e n d i g , nicht nur als Wirkung, sondern auch als Ursache (vgl. das zu § 193 Gesagte), weil es als beides durch anderes bestimmt ist. Wogegen F r e i h e i t nur die Aussichselbstentwicklung ist. Also überall auch die Erscheinung, sofern sie weder Ursach ist noch Wirkung, sondern rein auf die Kraft bezogen. Freiheit geht daher soweit als Leben. Die Frage, ob die Tiere Maschinen sind, ist gleich mit der, ob sie lebendig sind. Auch die Pflanze hat ihre Freiheit. Zu § 199. Da nun das gegenseitige Bedingtsein nicht gleichmäßig sein kann, so ist es natürlich — wenngleich eine Begriffsbüdungsoperation, welche im Gebiet des Urteils gemacht wird — , daß wir es uns teilen, und der Sinn ist nun, daß diese Teilungen immer irgendwie mit dem Organismus des Begriffsgebietes selbst zusammenfallen. Bei den zweifaktorigen Urteilen ist allemal ein Identisches gesetzt. Geliebt wird nur, wer auch wieder lieben kann; also hier ist die geistige Natur das gemeinsame Gebiet. Bei den einfaktorigen ist gewöhnlich irgendein Teil des allgemeinen Lebens der latitierende Faktor. (Der umgekehrte Satz ist nicht so einleuchtend, muß aber doch auch wahr sein. Nur wenn man ein Begriffsgebiet zeigen will als ein Urteilsgebiet, muß man etwas darin aufsuchen, was irgendeinen Gegensatz büdet und worauf man die beiden Faktoren verteüen kann.) Also müssen wir auf jedem Punkte des endlichen Seins die Identität von Freiheit und Notwendigkeit voraussetzen, und zwar so, daß ihr Gebiet gleich ist. Der Stein, als solcher tot, hat keine Freiheit, aber auch keine Notwendigkeit, und so, was wenig Selbstentwicklung hat, geht auch wenig in das System der Kausalität ein. Rb. in der Hs.; fehlt bei Jon. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Es scheint mir, als ob der Begriff der Notwendigkeit oft weiter als zulässig ausgedehnt werde. Sagt jemand: „Ich kann nicht fliegen", so ist dies keine Beschränkung seiner Freiheit, weil die Ursache des Nichtkönnens nicht außer ihm gesetzt ist, und weil er diese Kraft gar nicht in sich findet. Sage ich: „Der Mensch muß denken, solange er wacht", so ist dies ebenfalls keine Beschränkung der Freiheit von außen her. Das „Muß" drückt wohl eine Notwendigkeit aus; doch ist dies nur eine äußere Form; denn wir fragen nicht nach dem Inhalt, sondern bloß nach der Aktion im allgemeinen. Diese Notwendigkeit steht der Freiheit des Denkens nicht entgegen; es ist dadurch nur die Kraft selbst ausgedrückt, und das ist eben seine Freiheit, daß er denkt, denn es ist das beständige Erscheinen seiner Kraft. Daß die Notwendigkeit nicht allein darauf beruht, inwiefern etwas als Wirkung, sondern auch inwiefern es als Ursache gesetzt ist, bedarf wohl noch einer Erörterung. Das erste ist klar; das zweite 'beruht darauf, daß Ursache und Kraft keineswegs identisch sind, sondern beide unterschieden werden müssen. Die Ursache hat zu ihrem Korrelat die Wirkung und geht wesentlich aus dem Subjekt heraus. Dem Begriff der Kraft steiht die Erscheinung gegenüber. Aber dies ist ein immanentes Verhältnis, ein Für-sich-selbstseiendes. Ursache dagegen drückt das Sein transitiv aus. Das Aus-sich-hierausgehen involviert das Gesetztsein in das System der Notwendigkeit, also der gegenseitigen Bedingtheiten. Sage ich: „Der Mensch dichtet", so denke ich mir dies als einen Akt seiner Freiheit, weil es eine Erscheinung seiner Kraft ist. Sage ich aber: „Der Dichter rührt durch sein Gedicht einen andern", so geht hier die Ursache, das Gedicht, in den andern über; und nun ist die Wirkung durch das Gedicht bedingt, aber auch das Gedicht durch die Wirkung. Der Dichter ist dichtend nur frei, wenn er an diese Wirkung nicht denkt, und hört auf frei zu sein, wenn er daran denkt. Denn nun muß er danach streben, die Wirkung hervorzubringen und sein Gedicht danach einzurichten. Er bezieht seine Handlung auf den Erfolg, und so ist er auch seiner selbst nicht mehr als eines durch sich selbst bestimmten bewußt.

Freiheit und Notwendigkeit

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E s gibt keine Ursache, die nicht zugleich Wirkung ist, und die Wirkung wird immer wieder Ursache. Freiheit ist also immer nur da, wo das Ganze auf das System der K r ä f t e bezogen wird. Die Notwendigkeit wird auf das Gebiet des Zusammenhanges bezogen, sei es als Ursache oder Wirkung. W i r können hiervon eine Anwendung machen, wenn wir auf etwas Früheres zurückgehen. Das empirische Wissen bezieht sich auf das Sein im Typus des Urteils; d. h. das empirische Wissen ist dasjenige, wodurch wir das Sein in seiner Notwendigkeit erkennen, d. h. im einzelnen seiner Kausalitätsbeziehungen. Das spekulative Wissen ist also dasjenige, das alle Dinge unter der Form des B e g r i f f s erkennt in ihrer Freiheit, inwiefern das Sein als K r a f t gesetzt ist. Früher haben wir gesehen, wie auch dieser Gegensatz kein absoluter ist. Bewegen wir uns allein im Gebiet von Ursache und Wirkung, so werden wir, sofern jede Ursache immer zugleich Wirkung ist, von einem zum andern getrieben und kommen ins Chaotische. Das Wissen wird etwas Zufälliges und wir wenden uns aufs Spekulative zurück. Beziehen wir aber im Spekulativen das Freie nicht zugleich aufs Notwendige, so können wir nie das Wissen vom willkürlichen Denken unterscheiden. Die feste Unterscheidung des spekulativen Wissens vom willkürlichen Denken beruht auf der Verbindung mit dein Empirischen. W i r haben jetzt dies Resultat: Im Gebiet des Seins, wie es im Denken dem Gedachten entspricht, müssen Freiheit und Notwendigkeit ebenso identisch gesetzt werden, wie jedes System der K r ä f t e auf ein System von Ursache und Wirkung und umgekehrt bezogen wird. Das Sein der Beg r i f f s b i l d u n g und das Sein der Urteilsbildung sind identisch. Das Sein, inwiefern es den Typus der Urteilsbildung repräsentiert, ist die Totalität des Kausalitätsgebietes. L ä ß t sich nun alles Denken auf das Urteil zurückführen, so alles Sein auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung; aber auch umgekehrt. Wenn wir nun das Transzendente suchen, das sich auf die F o r m des Urteils bezieht, so haben wir hier eine Denkgrenze: die absolute Gemeinschaftlichkeit des Seins, d. h. das Chaotische, das Nebeneinandergesetztsein von allem, das ndvta ofiov. Vergleichen wir dies mit der Begriffsgrenze, so ist dies der Begriff der Materie, nur in 17*

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der Form des Urteils ausgedrückt. Das Sein, welches dieser Grenze entspricht, ist also auch hier wieder die negative Seite der transzendentalen Voraussetzung. Die andere Grenze des Urteils war das absolute Subjekt, von dem nichts mehr prädiziert werden kann. Wie verhält sich dies zur anderen Begriffsgrenze in Ansehung des entsprechenden Seins? Und wie können wir das Verhältnis von Ursache und Wirkimg auf beide Grenzen anwenden? Dann werden wir sehen, ob wir das transzendente Sein besser konstruieren können als vorher. 45

Wenn das Sein als Komplexus der Kräfte das Gebiet der 24. 6. Freiheit ist und das Sein als System der Ursache und Wirkung das Gebiet der Notwendigkeit, so müssen beide Seiten, wie wir gesehen haben, immer irgendwie zusammentreffen. Alles Dasein, dem wir im wirklichen Sein einen bestimmten Ort anweisen können, gehört daher ebensosehr in das Gebiet der Freiheit wie in das der Notwendigkeit. Freilich scheint das Anorganische keine Freiheit zu haben, denn es entwickelt keine Erscheinung aus sich. Doch gehört es irgendwie in das Gebiet des Lebens und m u ß am allgemeinen Leben teilnehmen. Solange wir noch einem Sein diese Identität von Freiheit und Notwendigkeit zuschreiben, sind wir noch im Gebiet des wirklichen Seins, nicht in dem der transzendentalen Voraussetzung. Die Grenze des Denkens in bezug auf das Urteil setzt das Prädikat als Maximum, das Subjekt als Minimum, und dies führt uns zur Gemeinschaftlichkeit des Seins, die der Materie, d. h. der Möglichkeit einer Mannigfaltigkeit von Urteilen entspricht. Die Materie hatten wir als ein Nichtsein erkannt; denn es fehlt hier an einem Subjekt, und wir denken uns darunter immer nur die Möglichkeit, affiziert zu werden. Man hat Verfolgen wir nun unsere Aufgabe, nach dem den Urteüsgrenzen entsprechenden Sein zu fragen, so ist die bloße Gemeinschaftlichkeit ganz zusammenfallend mit der Materie; jedes Nichtgesetzte ist die bloße Möglichkeit, von anderem bestimmt zu werden. Daher man auch die Materie als die absolute Trägheit oder Passivität setzt. (Der physikalische Sprachgebrauch, die Trägheit der Materie zu beschreiben als ihre Kraft, in jedesmaligem Zustande zu beharren, ist eine Adulteration auf einem andern Gebiet und nicht hierher gehörig.)

Schicksal und Vorsehung

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diesem Begriff auf einem anderen Gebiet dadurch aufgeholfen, d a ß man gesagt hat, die Trägheit der Materie sei etwas Positives, nämlich die Tendenz des Gegenstandes, sich in seinem Zustande zu erhalten. Dies gilt für das physikalische Gebiet und berührt unseren Ausdruck von der Passivität der Materie nicht. Wir fragen: Wie verhält sich dieses Sein zum Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit? Wenn der Materie nur Trägheit, kein Herausentwickeln von Erscheinung eignet, so ist hier die Freiheit gleich Null. Diesem so vorgestellten Sein hängt also die isolierte Notwendigkeit an, in der zugleich die Unmöglichkeit liegt, den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit zu entwickeln. Schicksal und Vorsehung. Wollten wir dies einen Augenblick als das Transzendente, als Voraussetzung und Grundlage alles Seins ansehen, so würde das soviel heißen: Jeder Punkt im wirklichen Sein hat den Zustand, bloße Materie XLV. S c h i c k s a l und Vorsehung 1 ). Fragen wir nun nach dem den Urteilsgrenzen entsprechenden transzendenten Sein, so ist offenbar, daß in der absoluten Gemeinschaftlichkeit keine Aussichselbstentwicklung sein kann, weil nichts für sich gesetzt ist, sondern nur Notwendigkeit, und die transzendente Basis ist also die gebärende Notwendigkeit = S c h i c k s a l , aus welchem die Freiheit nur als ein Schein hervorgeht, um immer wieder darin unterzugehen. Darin stimmt sowohl der poetische als der philosophische Gebrauch zusammen. Die Form der Vorstellung ist philosophisch, weü sie das Ursprüngliche sucht, aber sie ist es nicht ihrem Gehalte nach, weil sie auf dem Nichtsein, nämlich der Materie, ruht. Daher auch wesentlich die Ansicht, daß alles aus der Materie geworden sei, mit derselben zusammenhängt. Die entgegengesetzte Grenze ist die ei&avaaia des Urteils im Begriff. Denn absolutes Subjekt ist Grenze unter Begriffsform. Hat nun dieses Subjekt nichts Prädikables außer sich, so ist es die absolute Aussichselbstentwicklung, in Beziehung auf welche es aber auch keine andere gibt; sondern unter dieser gibt es überall nur durch die Koordination bestimmte Notwendigkeit. Diese nur Notwendigkeit gebärende Freiheit ist = Vorsehung. Nach § 199. Nun muß aber auch schon jeder organische Teil des Zusammenseins, als in einem organischen Kraftgebiet aufgehend, wenn man ihn nur völlig isolieren könnte, auf dieselbe Art ein absolutes Subjekt sein. Und da aus ähnlichen Gründen die Idee der natura naturans nicht genügte, so kann auch die Vorsehung nicht der Forderung entsprechen. l)

Rb. in d. Hs.; fehlt bei Jon.

Schicksal und Vorsehung

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diesem Begriff auf einem anderen Gebiet dadurch aufgeholfen, d a ß man gesagt hat, die Trägheit der Materie sei etwas Positives, nämlich die Tendenz des Gegenstandes, sich in seinem Zustande zu erhalten. Dies gilt für das physikalische Gebiet und berührt unseren Ausdruck von der Passivität der Materie nicht. Wir fragen: Wie verhält sich dieses Sein zum Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit? Wenn der Materie nur Trägheit, kein Herausentwickeln von Erscheinung eignet, so ist hier die Freiheit gleich Null. Diesem so vorgestellten Sein hängt also die isolierte Notwendigkeit an, in der zugleich die Unmöglichkeit liegt, den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit zu entwickeln. Schicksal und Vorsehung. Wollten wir dies einen Augenblick als das Transzendente, als Voraussetzung und Grundlage alles Seins ansehen, so würde das soviel heißen: Jeder Punkt im wirklichen Sein hat den Zustand, bloße Materie XLV. S c h i c k s a l und Vorsehung 1 ). Fragen wir nun nach dem den Urteilsgrenzen entsprechenden transzendenten Sein, so ist offenbar, daß in der absoluten Gemeinschaftlichkeit keine Aussichselbstentwicklung sein kann, weil nichts für sich gesetzt ist, sondern nur Notwendigkeit, und die transzendente Basis ist also die gebärende Notwendigkeit = S c h i c k s a l , aus welchem die Freiheit nur als ein Schein hervorgeht, um immer wieder darin unterzugehen. Darin stimmt sowohl der poetische als der philosophische Gebrauch zusammen. Die Form der Vorstellung ist philosophisch, weü sie das Ursprüngliche sucht, aber sie ist es nicht ihrem Gehalte nach, weil sie auf dem Nichtsein, nämlich der Materie, ruht. Daher auch wesentlich die Ansicht, daß alles aus der Materie geworden sei, mit derselben zusammenhängt. Die entgegengesetzte Grenze ist die ei&avaaia des Urteils im Begriff. Denn absolutes Subjekt ist Grenze unter Begriffsform. Hat nun dieses Subjekt nichts Prädikables außer sich, so ist es die absolute Aussichselbstentwicklung, in Beziehung auf welche es aber auch keine andere gibt; sondern unter dieser gibt es überall nur durch die Koordination bestimmte Notwendigkeit. Diese nur Notwendigkeit gebärende Freiheit ist = Vorsehung. Nach § 199. Nun muß aber auch schon jeder organische Teil des Zusammenseins, als in einem organischen Kraftgebiet aufgehend, wenn man ihn nur völlig isolieren könnte, auf dieselbe Art ein absolutes Subjekt sein. Und da aus ähnlichen Gründen die Idee der natura naturans nicht genügte, so kann auch die Vorsehung nicht der Forderung entsprechen. l)

Rb. in d. Hs.; fehlt bei Jon.

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zu sein, hinter sich. Die Vorstellung des Seins, die aus jener Annahme entstehen müßte, ist eben dasjenige, was man durch den Atisdruck „ S c h i c k s a l " bezeichnet. Es ist die Idee, nach der die Grundlage alles Seins eine solche isolierte Notwendigkeit sei, woraus sich niemals die Freiheit entwickeln könnte. Dies haftet selbst dem poetischen Gebrauch dieser Idee an. Die Freiheit geht unter und wird im Untergehen als bloßer Schein dargestellt: eine weithin herrschende Vorstellung, die indessen auf der bloßen Negation beruht. Der Formel nach können wir wohl aussprechen, daß allem Sein die Materie zugrunde liegt; doch können wir nie einsehen, wie daraus eine Mannigfaltigkeit des bestimmten Seins entstanden ist. Die bloße Materie kann deshalb unmöglich die transzendente Grundlage des wirklichen Seins bilden. Daß die Vorstellung vom Schicksal deshalb rein materialistisch ist, erhellt aus dem Bisherigen. Sieht man also die bloße Gemeinschaftlichkeit des Seins als transzendente Basis an, so findet man in der Materie den Stoff, im Schicksal die Form des wirklichen Seins. Die Materie ist dann das bestimmte Nichtsein (eigentlich das nichtbestimmte Sein, dem man eine physikalische Gestalt beilegt). Das Schicksal, die isolierte Notwendigkeit, ist ebenfalls ein Nichtsein, denn die Notwendigkeit ist Bestimmtsein durch ein anderes. Und so gibt es lauter Bestimmtes, nichts Bestimmendes. Das aber ist eine einseitige Vorstellungsart, die oft aufgestellt worden ist; philosophisch der Form nach, weil sie auf der transzendenten Grundlage ruht und zum Bedingten das Unbedingte sucht. Nicht aber ihrem Gehalt nach. Ihr Unbedingtes ist die reine Negation, und deshalb verneint sie alle wirkliche Philosophie. Die andere Grenze des Urteils war die, wo das Subjekt unendlich und absolut ist, so daß davon nichts mehr prädiziert werden kann. Die Gemeinschaftlichkeit des Seins liegt vor allen Urteilen; das absolute Subjekt ist das Ziel alles eigentlichen Urteilens. Solange wir noch urteilen, haben wir dieses Subjekt noch nicht; aber alles Urteilen zielt darauf hin, indem es alle Prädikate in den Begriff setzen will. Vergleichen wir dies mit der anderen Grenze des Denkens unter der Form des Begriffs, mit dem Sein, das alle Entgegensetzung in sich schließt, so wissen wir: beide Seiten

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sind einander gleich. Jenem Gedanken entspricht die absolute Kraft, die selbst nicht mehr erscheint, sondern wozu sich alle anderen Kräfte als Erscheinungen verhalten. Dies war kein Nichtsein mehr; aber der Idee der transzendenten Grundlage des Seins entsprach es doch nicht. Wollen wir nun dieselbe Denkgrenze unter der Form des Urteils betrachten: wie muß sich dann das ihr entsprechende Sein gestalten ? Das Gebiet des Urteils verhält sich zum Gebiet des Begriffs wie Notwendigkeit zur Freiheit. Ist nun die Grenze des Urteils nach oben sein Aufhören, weil man bei einem Subjekt ohne Prädikat ankommt, so ist das bloße Subjekt kein Urteil mehr, sondern kehrt in die Form des Begriffs zurück. Die transzendente Grundlage des Seins für dieses Gebiet kann also immer nur die Freiheit darstellen, nicht die Notwendigkeit. Da es aber dann darin keine Entgegensetzung mehr gibt, und alle Gemeinschaftlichkeit des Seins und alles Bestimmtwerden des einen durch das andere nur in dem liegt, was wir in diesem Subjekt setzen, so bleibt uns nur die Freiheit übrig, innerhalb welcher alle Notwendigkeit liegt, so daß, wenn wir das absolute Subjekt betrachten, wir sagen müssen, es sei das absolut Freie. Nichts ist außerhalb gesetzt, wodurch es könnte bestimmt werden. Alles dagegen, was darin gesetzt ist, ist, für sich betrachtet, insofern ein Notwendiges, weil es mit der Gemeinschaftlichkeit des Seins gesetzt ist. Es ist das Fürsichsein, aber subsumiert unter die Gemeinschaftlichkeit des Seins. Vorher sagten wir, die absolute Kraft, die selbst nicht erscheine, entspreche der Formel einer natura naturans. Von der Seite des Urteils entspricht dies der Idee der Freiheit, unter der alles schlechthin notwendig ist. Von jener Idee hatten wir gesehen, daß sie der transzendentalen Voraussetzung nicht entsprechen könne, weil jede untergeordnete Kraft, für sich gesetzt, ohne Koordiniertes, dieselben Verhältnisse darbietet und aus sich untergeordnete Kräfte entNB. Was zwischen §§ 202 und 211 steht, ist teils hier gleich vorweggenommen, teils gehört es mehr zu der der formalen Seite zugewendeten vorangegangenen Entwicklung des Transzendenten, und es muß also nun übergegangen werden zu der Deduktion, wie das Transzendente wirklich gesetzt ist im Gefühl.

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wickelt, die ihrerseits wieder das gleiche tun. Verhält es sich nun etwa auch so mit jener Freiheit; d a ß wir nämlich, wenn wir auch hier einen untergeordneten Punkt f ü r sich setzen und von den anderen koordinierten Punkten abstrahieren, dasselbe Resultat bekommen ? Dies folgt in der Tat aus dem Vorigen. Jedes wirkliche Sein, als K r a f t gesetzt und f ü r sich betrachtet, ist der absoluten K r a f t ähnlich. Jede organische Teilung im Gebiete der Gemeinschaft des Seins wird auch immer einer organischen Teilung des Systems der K r ä f t e entsprechen. Folglich muß jede K r a f t untergeordneter Art angesehen werden müssen als reine Freiheit, unter der wiederum alles reine Notwendigkeit ist. Beim Aufsteigen von niederen zu höheren Begriffen, so hatten wir es schon früher gesagt, haben wir die höheren nur dann verstanden, wenn wir die niederen als reinen abgeschlossenen Zyklus anschauten. Folglich muß in diesem, dem höheren untergeordneten Sein, reine Notwendigkeit sein, in jenem aber Freiheit, sofern wir von aller Koordination absehen. Die Idee der Freiheit, worunter alles als Notwendigkeit enthalten ist, finden wir also schon im wirklichen Sein, nur eingeschränkter und mit dem Vorbehalt, d a ß sich das Einzelne niemals so vollkommen isolieren läßt. Was so in der Analogie mit dem wirklichen Sein steht, kann nicht dessen Grundlage sein; denn es ist dasselbe wie das Wirkliche, nur mit unendlichem M a ß (nur d a ß es sein M a ß nicht mehr hat und mithin unendlich und deshalb einzig ist). Auf der entgegengesetzten Seite ergab sich nun als Inhalt des Seins, inwiefern die bloße Materie die Grundlage sein sollte, das reine In-sich-unbestimmt-sein unter der Form des S c h i c k s a l s , der absoluten Notwendigkeit ohne Freiheit. Diesem Ausdruck des Schicksals steht der B e g r i f f der V o r s e h u n g , ngovoia, gegenüber, worunter wir uns eine transzendente Grundlage alles Seienden denken, welche die Freiheit nur als Schein, die Notwendigkeit aber als das Wirkliche darstellt. Denn etwas entwickelt seine Erscheinung nicht aus sich seihst, wenn in bezug auf die transzendente Grundlage alles in gegenseitiger Bestimmtheit gesetzt ist. Beide Formeln können also nicht der transzendenten Grundlage des Seins entsprechen, weil sie Analoges im wirk-

Kritik der Grenzformeln

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liehen Sein haben. Die Vorstellung der Vorsehung steht der Vorstellung der natura naturans ganz gleich. Gewöhnlich denkt man sich, zur Idee einer natura naturalis geselle sich der B e g r i f f des Schicksals; dies ist aber nicht richtig.

5. Wissen und Wollen und ihre relative Identität im Gefühl 46-

Kritik der vier Formeln für den transzendenten Grund. 26. 6. w i r haben bis jetzt vier unzureichende Formeln des Transzendenten gefunden: 1. die natura naturans, 2. die Gottheit im Gegensatz zur Materie, 3. die Idee des Schicksals oder der Notwendigkeit und 4. die Idee der Vorsehung oder der Freiheit. D a ß die Ideen eines K r ä f t e erzeugenden oder Notwendigkeit erzeugenden Prinzips sich nicht als transzendenter Grund alles Seins bewähren können, ist offenbar. Bei der Idee der Gottheit und der Vorsehung scheint dies nicht so natürlich zu sein. Die Idee der Vorsehung entstand, .indem wir auf das Gebiet des Denkens unter der F o r m des Urteils sahen. Dieses Gebiet geht immer auf das, was geX L V I . Es kann unerwartet sein, daß Vorsehung und Gott ebensowenig der Forderung entsprechen sollen als die negative, also antiphilosophische Formel Schicksal und als die physische und also hypophilosophische Formel der natura naturans. Dies muß sich aufklären durch Erwägung der verschiedenen Art, wie sie unzureichend sind. S c h i c k s a l und V o r s e h u n g g e m e i n s c h a f t l i c h deswegen, weil sie sich nur auf das Geschehen, d. i. das Gebiet von Ursach und Wirkung, beziehen. Vorsehung aber doch weit vorzüglicher, weil Schicksal sich nur auf die negative Seite stützt. (NB. Inwiefern es richtig ist, Schicksal und Vorsehung als Bewußtloses und Bewußtes zu unterscheiden, habe ich dahingestellt sein lassen und nicht erörtert)1). G o t t u n d N a t u r g e m e i n s c h a f t l i c h deswegen, weil sie sich nur auf das Begriffsgebiet beziehen. Aber Gott vorzüglicher, weil Natur nur ein Verhältnis darbietet, wie es auch im wirklichen Sein vorkommt. G o t t und V o r s e h u n g behalten also einen Vorzug, und es entsteht daraus eine Tendenz, sie gegenseitig durcheinander zu ergänzen. Denn wenn G o t t der V o r s e h u n g zubringt die Beziehung auf das stehende Sein, und die V o r s e h u n g der G o t t h e i t zubringt ihre wahre Unbedingtheit, so sind beide erx)

Diese Unterscheidung findet sich in der Hs. 1814, § 202. 1.

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liehen Sein haben. Die Vorstellung der Vorsehung steht der Vorstellung der natura naturans ganz gleich. Gewöhnlich denkt man sich, zur Idee einer natura naturalis geselle sich der B e g r i f f des Schicksals; dies ist aber nicht richtig.

5. Wissen und Wollen und ihre relative Identität im Gefühl 46-

Kritik der vier Formeln für den transzendenten Grund. 26. 6. w i r haben bis jetzt vier unzureichende Formeln des Transzendenten gefunden: 1. die natura naturans, 2. die Gottheit im Gegensatz zur Materie, 3. die Idee des Schicksals oder der Notwendigkeit und 4. die Idee der Vorsehung oder der Freiheit. D a ß die Ideen eines K r ä f t e erzeugenden oder Notwendigkeit erzeugenden Prinzips sich nicht als transzendenter Grund alles Seins bewähren können, ist offenbar. Bei der Idee der Gottheit und der Vorsehung scheint dies nicht so natürlich zu sein. Die Idee der Vorsehung entstand, .indem wir auf das Gebiet des Denkens unter der F o r m des Urteils sahen. Dieses Gebiet geht immer auf das, was geX L V I . Es kann unerwartet sein, daß Vorsehung und Gott ebensowenig der Forderung entsprechen sollen als die negative, also antiphilosophische Formel Schicksal und als die physische und also hypophilosophische Formel der natura naturans. Dies muß sich aufklären durch Erwägung der verschiedenen Art, wie sie unzureichend sind. S c h i c k s a l und V o r s e h u n g g e m e i n s c h a f t l i c h deswegen, weil sie sich nur auf das Geschehen, d. i. das Gebiet von Ursach und Wirkung, beziehen. Vorsehung aber doch weit vorzüglicher, weil Schicksal sich nur auf die negative Seite stützt. (NB. Inwiefern es richtig ist, Schicksal und Vorsehung als Bewußtloses und Bewußtes zu unterscheiden, habe ich dahingestellt sein lassen und nicht erörtert)1). G o t t u n d N a t u r g e m e i n s c h a f t l i c h deswegen, weil sie sich nur auf das Begriffsgebiet beziehen. Aber Gott vorzüglicher, weil Natur nur ein Verhältnis darbietet, wie es auch im wirklichen Sein vorkommt. G o t t und V o r s e h u n g behalten also einen Vorzug, und es entsteht daraus eine Tendenz, sie gegenseitig durcheinander zu ergänzen. Denn wenn G o t t der V o r s e h u n g zubringt die Beziehung auf das stehende Sein, und die V o r s e h u n g der G o t t h e i t zubringt ihre wahre Unbedingtheit, so sind beide erx)

Diese Unterscheidung findet sich in der Hs. 1814, § 202. 1.

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schieht, auf das Einzelne des Daseins und Momentes, auf die zeit- und räume rfüllende Erscheinung. Sie korrespondiert der Idee des Schicksals, nur als Freiheit gesetzt. Sie ist die Idee einer Notwendigkeit erheischenden Freiheit. Diese geht auf das Aus-sieh-selbst-entwickeln, die Notwendigkeit auf ein Bestimmen von außen her und auf die Bedingtheit durch Zusammensein. Alles, wozu die Idee der Vorsehung Grund sein konnte, mußte also in das Gebiet der Notwendigkeit fallen. In dieser Beschränkung liegt nun ein Unterschied beider Ideen. Die Idee des Schicksals hängt rein an der negativen Seite (denn wenn man das durch ein anderes Bestimmte isoliert, so ist es Negation); denn da die Gemeinschaftlichkeit des Seins das Fürsichgesetztsein ausschließt, so ist es bloße Negation; wogegen die Idee der Vorsehung am positiven Faktor hängt. Denn wenn auch alles aus Ursache gänzt, und dies wird auch in allen natürlichen Theologien versucht. Allein es zeigen sich auch immer Schwierigkeiten, weil G o t t auch der Vorsehung das durch die Materie Bedingte mit zubringt, was jener Formel eignet, und dadurch verliert nun die V o r s e h u n g von ihrer Unbedingtheit. Also Gott und Vorsehung bleiben immer die vorzüglichsten unter jenen Formeln, aber sie gehen auch nicht zusammen, so wenig als eine von ihnen mit den anderen zusammengeht, und wir haben also eine Quadraplizität gefunden, da wir nur eine Einheit brauchen können. Es entsteht nun die Frage: Gibt uns dies eine Andeutung von dem transzendenten Grunde ? Und diese können w i r n i c h t anders als bejahen. Denn es bedarf eines Unbedingten zu dem absolut bedingten Kausalitätsgebiet, und also muß der Urgrund sich verhalten wie Schicksal oder Vorsehimg oder wie beides. Ebenso ist in der Kraft als solcher das Gebiet der Raumund Zeiterfüllung nicht mit gesetzt, und doch bedarf sie dessen, um zu erscheinen. Also ist der Gegensatz von Kraft und Erscheinung auch ein Bedingtsein, wozu es eines Unbedingten bedarf, und so muß sich der Urgrund verhalten wie Gott oder Natur. Mißlungen ist uns das Unternehmen also nur in dieser Beziehung, nicht als Denkgrenze oder Quelle der Denkformen, sondern nur als Urgrund des Seins. Und auch dies nur insofern, als wir nicht eine Einheit des Ausdruckes gefunden haben. Dieses aber hat natürlich unüberwindliche Schwierigkeiten, solange wir nur von den Denkformen ausgehen. Denn dann bleiben wir wesentlich in dem Gegensatz des Denkens und Gedachten und können aus der Duplizität nicht hinaus. Nicht wie Jon.: „wir uns".

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und Wirkung Entstandene notwendig ist, so ist doch die transzendente Freiheit die positive Einheit des ganzen Systems der aufeinander bezogenen Ursachen und Wirkungen. Freilich gebraucht mein den Ausdruck Vorsehung in einem weiteren Sinne und setzt ihn mit der Idee der Gottheit gleich. Was aus der Vereinigung beider Ideen folgt, können wir hier nicht untersuchen. Wir haben beides für sich genommen und gesondert, da wir bei unserem Gang auf keinen Punkt stießen, wo sie zusammengekommen wären. Die Beziehung auf die korrespondierende Materie als die Basis des räum- und zeiterfüllenden Seins wird oft als Vorsehung gefaßt. Für die Idee der Gottheit aber, wie wir sie fanden, war es ziemlich gleich, ob sie eine ewige Materie gegenüber hat und daraus das wirkliche Sein gemacht, oder ob sie auch diese aus nichts geschaffen hat. In beiden Auffassungen liegt eine Einseitigkeit, wie auch die Idee der natura naturalis und des Schicksals eine Unzulänglichkeit ist. Es sind Vorstellungen, die natürlich aus den Denkgrenzen entstehen, wenn man auf diese anwendet die Korrespondenz des Denkens und Gedachten. Fragen wir weiter: G e b e n u n s d i e s e F o r m e l n i r g e n d e i n Zeichen vom transzendenten Grunde d e s S e i n s , o d e r v e r s i e r e n s i e b l o ß im G e b i e t e d e s D e n k e n s ? , so müssen wir unsere Antwort in zwei Grenzen einschließen. Inwiefern sie uns eine Andeutung vom transzendenten Grunde geben wollen, sind sie doch schon in ihrer Differenz unvollkommen. Denn wir können keine zwei Wir finden aber einen Ausweg im Anfang unserer Aufgabe. Denn im Zustand des Streites sind wir einander und auch jeder sich selbst die Aufhebung jenes Gegensatzes, nämlich das denkende Sein oder das seiende Denken. Wenn wir also die bisherigen sicheren Resultate voraussetzen, nämlich: es gibt etwas allem wirklichen Denken zum Grunde Liegendes und allem wirklichen Sein zum Grunde Liegendes (denn Leugnen des Urgrundes gibt es nicht anders als scheinbar, nämlich immer nur gegen beschränkte Darstellung, z. B. die auf die Materie bezogene Gottheit), nur daß wir keine Formel im Gedanken finden können, um den Urgrund adäquat auszudrücken, so fragt sich, ob wir uns seiner bemächtigen können, wenn nicht im Denken, so doch im denkenden Sein.

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dieser Differenzen identifizieren, während doch der Urgrund eine Einheit sein muß. Wir konnten die Idee der Gottheit und Kraft nicht identifizieren, weil in der Idee der kräfteerzeugenden Kraft keine Anlage zu solcher Duplizität ist. Nun ist die Frage, ob wir nicht die Idee der Gottheit mit den übrigen Formeln identifizieren können; dann verschwänden alle verdächtigen Differenzen. Allein eine solche Identifikation kann gleichfalls nicht stattfinden. Stellt man die oft identifizierten Gedanken von Gott und Vorsehimg zusammen, und verhält es sich so, wie wir es früher fanden, daß in der Idee der Gottheit immer eine Duplizität latitiert, so geht sie nicht aus dem Gegensatz heraus, wenn es auch nur der Gegensatz ist des Denkens und Gedachten. Die Vorstellung, daß die Gottheit aus dem Nichtsein das Sein bildet, entspricht dem Typus der künstlerischen Tätigkeit. Aber die weltbildende Idee, also der Gedanke, liegt in Gott und trägt die Identität des Denkens und Gedachten nicht in sich; besonders dort nicht, wo der Gottheit eine ewige Materie gegenübergestellt wird. Die Vorstellung, nach der die Gottheit als zuerst die Materie, dann die Welt hervorbringend gedacht wird, ist nur ein Notbehelf, in dem die Tendenz liegt, der Gottheit die Ursprünglichkeit und Einzigkeit zu vindizieren. Unter welcher Form man sich auch den Prozeß vorstellt, ob als ewige Schöpfung oder durch Teilung der göttlichen Akte oder durch das Setzen eines Nichts, so hat man doch immer den Begriff der Zeit gesetzt. Auch in dem Ausdruck „Gott hat die Welt aus nichts geschaffen" liegt mit dem der Schöpfung vorangestellten Nichts eine Zeitbestimmung. Es ist derselbe, wenngleich leere Typus. Sagt man: „Gott hat die Welt von Ewigkeit her geschaffen", so bleibt doch immer in der Duplizität des Schaffenden und Geschaffenen der Typus des Gegensatzes von Priorität und Posteriorität, wodurch die Ewigkeit wieder vernichtet wird. Die Idee der Zeit läßt sich wohl der Form nach, nicht aber der Sache nach fortschaffen. Dieser Darstellung hat sich deshalb immer eine Polemik entgegengestellt, die man Atheismus nennt. Der Atheismus bestreitet nur den transzendenten Grund in dieser beschränkten Form. Er leugnet keineswegs den transzendenten Grund selbst;

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denn dann würde er gegen das Wissen überhaupt und gegen den Gegensatz des Bedingten und Unbedingten gehen, woraus folgen würde, daß jeder sich selbst oder irgendein anderes zum Unbedingten machen kann. In der Vorstellung der Gottheit latitiert also immer eine Duplizität, und diese ist nicht identisch mit der gefundenen Idee der Vorsehung. In dieser ist keine Neigung zur Zweiheit, sie schließt vielmehr jede Duplizität aus, sie steht der Notwendigkeit erzeugenden Notwendigkeit, der Kräfte erzeugenden Kraft entgegen als Notwendigkeit erzeugende Freiheit, die auf das Geschehen geht. Man kann sie deshalb auch nie auf eine adäquate Weise in jene so bestimmte Idee der Gottheit hineintragen, weshalb sich auch in solchen Versuchen immer eine Irrationalität beider Ideen zueinander findet, wie in allen natürlichen Theologien und spekulativen Dogmatiken, die auf philosophischem Grunde ruhen. Die Tendenz der Identifikation entsteht daraus, daß eins das andere ergänzt. Die Vorsehung, welche auf das Geschehen geht, wird ergänzt durch die Idee der Gottheit, die sich auf das Sein bezieht. Andrerseits: In der Idee der Gottheit kommt immer das Bedingtsein zum Vorschein; in der Idee der Vorsehung ist Einheit und Unbedingtheit gesetzt. Die Gottheit ist bedingt durch die Beziehung auf die Materie; und diese Bedingtheit soll aufgehoben werden durch die Identifizierungmit der Vorsehung, welche darin besteht, daß die Idee der Notwendigkeit von den Grenzen entbunden ist. — Nun geht die Idee der Vorsehung auf den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, da sie auf dem Urteil beruht. Also ist ihre Unbedingtheit nur auf diesem Gebiet gefunden; in der Übertragung auf die Idee der Gottheit ist sie erschlichen. Die anderen Formeln lassen sich nun noch weniger identifizieren, und so haben wir eine durchgehende Differenz. Eine Einheit suchend haben wir eine z w e i f a c h e D u p l i z i t ä t gefunden. Geben uns mm diese Formeln gar keine Andeutung vom Wesen des transzendenten Grundes? Allerdings, denn wir sind zu ihnen gekommen durch die Voraussetzung der Beziehung des Denkens auf das Gedachte. Sie enthalten alle etwas, was dem transzendenten Grunde eigen

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ist, aber sie stellen nicht die Einheit dar und bleiben auf untergeordneter Stufe stehen. Ist uns nun also, indem wir auf diese Resultate gekommen sind, unser Unternehmen ganz mißlungen? E s wäre es, wenn wir glaubten, jetzt am Ende der Untersuchung zu sein und bei diesen Formeln stehenbleiben zu müssen. So aber wird erstens dadurch nichts umgeworfen von dem, was wir als Transzendentes in Beziehung auf das reine Denken, und zweitens bleibt bestehen, was wir als Beziehung der realen auf die formale Seite unserer A u f g a b e gefunden hatten. Das Unzureichende liegt iallein daxin, d a ß wir, von der Beziehung zwischen Denken und Gedachtem ausgehend, im Gebiet des Gegensatzes stehenblieben. Nach vier verschiedenen Seiten sind wir auf bedingte Weise aus dem Gegensatz herausgegangen. Aus einer bedingten Weise ergibt sich aber kein Unbedingtes. Den W e g des Gegensatzes konnten wir nicht umgehen. Gibt es nun doch noch einen Punkt, wo der Gegensatz auf primäre oder sekundäre Weise aufgehoben ist, und wir als Einheit finden könnten, was wir bisher als Vielheit gefunden hatten? W i r dürfen nur auf die einfache Formel zurückgehen, auf der unsere A u f g a b e ruht: D i e I d e n t i t ä t d e s Seins und D e n k e n s tragen wir in uns selbst; wir selbst sind Sein und Denken, das denkende Sein u n d d a s s e i e n d e D e n k e n . Denn bei streitigen Vorstellungen ist jeder dem andern das Sein; und hat man die streitigen Vorstellungen allein, so ist man sich selbst das Sein. W i r dürfen aber nicht beim Denken stehenbleiben und nicht immer von diesem Prozeß ausgehen; denn der transzendente Grund des Seins kann kein Gedachtes sein. Der Grund des Mißlingens im serer Unternehmung liegt also darin, d a ß wir uns das Transzendente d e n k e n wollen. So kommen wir aus dem Gegensatz nicht heraus und gelangen zu einer Vielheit statt zur Einheit. Wir müssen also von der Identität des Seins und Denkens i n u n s ausgehen, um zu jenem transzendenten Grunde alles Seins aufzusteigen. 47-

Die Vorstellungen vom transzendenten Grunde und das 26. 6. Jdeal des Wissens. Woher kommen denn nun aber diese Vorstellungen, wie wir sie entwickelt haben, und wie sie sich

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ist, aber sie stellen nicht die Einheit dar und bleiben auf untergeordneter Stufe stehen. Ist uns nun also, indem wir auf diese Resultate gekommen sind, unser Unternehmen ganz mißlungen? E s wäre es, wenn wir glaubten, jetzt am Ende der Untersuchung zu sein und bei diesen Formeln stehenbleiben zu müssen. So aber wird erstens dadurch nichts umgeworfen von dem, was wir als Transzendentes in Beziehung auf das reine Denken, und zweitens bleibt bestehen, was wir als Beziehung der realen auf die formale Seite unserer A u f g a b e gefunden hatten. Das Unzureichende liegt iallein daxin, d a ß wir, von der Beziehung zwischen Denken und Gedachtem ausgehend, im Gebiet des Gegensatzes stehenblieben. Nach vier verschiedenen Seiten sind wir auf bedingte Weise aus dem Gegensatz herausgegangen. Aus einer bedingten Weise ergibt sich aber kein Unbedingtes. Den W e g des Gegensatzes konnten wir nicht umgehen. Gibt es nun doch noch einen Punkt, wo der Gegensatz auf primäre oder sekundäre Weise aufgehoben ist, und wir als Einheit finden könnten, was wir bisher als Vielheit gefunden hatten? W i r dürfen nur auf die einfache Formel zurückgehen, auf der unsere A u f g a b e ruht: D i e I d e n t i t ä t d e s Seins und D e n k e n s tragen wir in uns selbst; wir selbst sind Sein und Denken, das denkende Sein u n d d a s s e i e n d e D e n k e n . Denn bei streitigen Vorstellungen ist jeder dem andern das Sein; und hat man die streitigen Vorstellungen allein, so ist man sich selbst das Sein. W i r dürfen aber nicht beim Denken stehenbleiben und nicht immer von diesem Prozeß ausgehen; denn der transzendente Grund des Seins kann kein Gedachtes sein. Der Grund des Mißlingens im serer Unternehmung liegt also darin, d a ß wir uns das Transzendente d e n k e n wollen. So kommen wir aus dem Gegensatz nicht heraus und gelangen zu einer Vielheit statt zur Einheit. Wir müssen also von der Identität des Seins und Denkens i n u n s ausgehen, um zu jenem transzendenten Grunde alles Seins aufzusteigen. 47-

Die Vorstellungen vom transzendenten Grunde und das 26. 6. Jdeal des Wissens. Woher kommen denn nun aber diese Vorstellungen, wie wir sie entwickelt haben, und wie sie sich

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stets im Leben finden? Mit dem wirklichen Denken ist uns stets verbunden das Zurückgehenwollen auf den transzendenten Grund. Diese Idee von der transzendenten Voraussetzung alles Denkens als allgemeiner Bedingung dafür, d a ß unser Denken ein Wissen sei, in ihrer Identität mit dem transzendenten Grunde alles Seins, ist ein das Bewußtsein ständig treibendes und gestaltendes Prinzip. Denn es hält uns immer fest im Streben nach dem Wissen und in dem Durchdringenwollen des wirklichen Seins, inwiefern wir immer auf den letzten Grund desselben zurückgehen. Die wirkliche Vollendung alles Wissens kann nur jenseits aller streitigen Vorstellungen liegen. Wir müssen daher stets im XLVII. Denn völlig beruhigen können wir uns bei jener Unvollständigkeit nicht, wiewohl wir ihre Unvermeidlichkeit einsehen und die Analogie derselben mit unserem ganzen Zustande. Denn wie nur bei vollendetem wirklichen Wissen das Empirische und Spekulative sich durchdringen können zu absolut reiner Anschauung im einzelnen und allgemeiner Kongruenz im ganzen, so deutet auch das Auseinanderbleiben der Begriifs- und Urteilsform in der Vorstellung des transzendenten Grundes auf eben diese Unvollendung und darauf, daß wie hier so auch dort die komparative Kritik beider Formen das Ineinandersein derselben vertreten muß. Allein so gefaßt sind nun die Ausdrücke des Transzendenten allen Schicksalen des wirklichen Denkens unterworfen, d. h. sie werden immer wieder in das Gebiet des Streites hineingezogen und können denselben also nicht schlichten, und inwiefern dieser Streit auch in jedem selbst gesetzt ist, muß auch die Überzeugung eines jeden eine schwankende sein. Wie denn jeder sich dessen bewußt sein wird, daß ihm bisweilen seine herrschende Vorstellungsweise verschwinden und ihm eine andere statt dessen aufgehen will. Hierzu nun bedarf es zumeist einer Ergänzung durch eine andere Art, den transzendenten Grund zu haben. Es gibt dazu drei Wege, alle von unserer ursprünglichen Aufgabe ausgehend und sich miteinander bald vereinigend, doch in der Anknüpfungs- und Fassungsweise verschieden. 1. Wir sind im Streit selbst uns und anderen nicht nur Denken, sondern Sein, und es fragt sich, ob als Gegenstück zu dem einseitigen Haben des Grundes im Denken wir ihn auch haben können im Sein, damit so eins das andere ergänze. 2. Das transzendente Denken muß, wenn Streit geschlichtet werden soll, zugleich Verknüpfungsprinzip sein, welches wir auch nicht übersehen haben. Aber dies muß zugleich auch gelten für den Urgrund des Seins, zumal das Denken an sich immer nur der ein-

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Wissen wollen bleiben; und dies wird geschehen, solange jene Vorstellung unser Bewußtsein im Wissenwollen konstituiert. Insofern schadet uns jene Vielheit von Formeln nichts; denn wir wissen hierdurch, welches die Zielpunkte des Wissens sind. Jene vier Formeln sind als Ausdruck der transzendentalen Voraussetzung unzureichend, d. h. was wir suchen, ist weder das eine noch das andere, ja wir können es überhaupt nicht auf adäquate Weise in Gedanken setzen, weil diese als Bedingtes das Unbedingte nie wiedergeben können. Wir haben also jene transzendentale Voraussetzung in uns als das treibende Prinzip unseres Bewußtseins, als das höchste Leben des Denkens, als Impuls dazu, aber nicht als einen Gedanken selbst. Sollen und können wir uns damit begnügen ? Es kann scheinen, als hätten wir daran für unsere Aufgabe genug. Wenn wir auf eine jener Formeln zurückgingen, so könnten sie uns immer als Basis der Erkenntnis dienen, wenn wir nur ihre Beziehung auf die Konstitution des wirklichen Denkens festhielten. Allein dies befriedigt uns nur, inwiefern wir die ursprüngliche Aufgabe als Sache des Bedürfnisses und der Verständigung im wirklichen Leben betrachten. Nun ist aber jener Zustand streitiger Vorstellungen auch in jedem einzelnen; und da kein Wissen vollständig wird ohne die Totalität des Ganzen, so müssen wir uns bewußt werden, d a ß diese Vorstellungen an der Unvollkommenheit des wirklichen Denkens teilnehmen und ihre Überzeugung schwankend bleibt. Der Streit über diese Vorstellungen "hört daher nie auf, wie die Geschichte zeigt. Wie oft sie auch angewandt werden, um streitige Vorstellungen zu lösen, so werzelne Akt ist oder die zeitlose Funktion, die Verknüpfung aber ist nur in der Fortschreitung, und diese ist nur in unserem Sein, d. h. der Einheit unserer Momente. Daher denn dieses auf das Vorige zurückkommt. 3. Wir konnten uns des Denkens nur bestimmt bewußt werden, indem wir es von anderen Funktionen trennten. Die am nächsten gegenüberstehende, real immer verbundene, war das Wollen. Beide sind nun auch entgegengesetzt, insofern unser Sein die Verknüpfung verschiedener Momente ist. Denn diese zerfallen in solche, worin das Bewußtsein das überwiegend Leidende ist, unter welche auch das Denken gehört seiner organischen Veranlassung nach, und worin das T ä t i g e , d. h. Wollen. Daher nun auch physisches und ethisches Wissen.

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den sie doch selbst wieder streitig; und jeder stellt sie sich, so gut er kann, zurecht. Unbefriedigung bleibt uns immer, wenn wir den Mangel der Formeln erkennen. Wir haben gesehen, wie diese Formeln wesentlich auf die Formen des Urteils und Begriffs zurückgehen und sich deshalb nicht vollständig reduzieren und identifizieren lassen. Das Wissen unter der Form des Urteils stellt, wenn wir es isolieren und vervollständigen wollten, das empirische Wissen dar, und das Wissen unter der Form des Begriffs das spekulative Wissen. Das Höchste wäre also die Durchdringung des vollständigen spekulativen und vollständigen empirischen Wissens, also die reine Anschauung. Wenn unsere Aufgabe ein Prinzip erfordert, nach welchem wir den Zusammenhang des Wissens konstruieren können, so muß im Transzendenten auch der Grund und die Zulänglichkeit sein; und es muß sich vollständig identifizieren lassen, was sich uns nicht identifizieren wollte. Wir konnten die Durchdringung nicht zustande bringen, sondern nur die Kritik, welche zeigte, was jeder Vorstellung zur Identifikation fehlte. Und diese Kritik vertritt nun die Stelle der vollständigen Durchdringung. Solange wir zu keinem anderen, in sich vollständigen Ausdruck für das Transzendente kommen können, haben wir auch keine Aussicht, das Wissen als vollständige Durchdringimg des Spekulativen und Empirischen aufzustellen. Beide werden immer gesondert bleiben, und wir werden nur die komparative Kritik beider aufstellen können. Könnte es uns gelingen, die Vierheit der Vorstellungen in eine Einheit zu reduzieren, so kämen wir auf die absolute reine Anschauung und auf das vollständige Ineinander des Spekulativen und Empirischen. Es zeigt sich also hier eine genaue Parallele zwischen dem Zustand unserer Vorstellung vom Transzendenten und der Vollständigkeit des Wissens. Dies bestätigt den Satz, daß sich das Gefundene zum wirklichen Denken verhält wie der transzendente Grund zum gesamten Umfang des Denkens. Die drei Wege zum transzendenten Grunde. Um nun den Mangel der inneren Befriedigung zu ergänzen, müssen wir es aufgeben, von der Aktion des Denkens auszugehen, weil hier das Unbedingte nur ein Gedachtes ist, das den S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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den sie doch selbst wieder streitig; und jeder stellt sie sich, so gut er kann, zurecht. Unbefriedigung bleibt uns immer, wenn wir den Mangel der Formeln erkennen. Wir haben gesehen, wie diese Formeln wesentlich auf die Formen des Urteils und Begriffs zurückgehen und sich deshalb nicht vollständig reduzieren und identifizieren lassen. Das Wissen unter der Form des Urteils stellt, wenn wir es isolieren und vervollständigen wollten, das empirische Wissen dar, und das Wissen unter der Form des Begriffs das spekulative Wissen. Das Höchste wäre also die Durchdringung des vollständigen spekulativen und vollständigen empirischen Wissens, also die reine Anschauung. Wenn unsere Aufgabe ein Prinzip erfordert, nach welchem wir den Zusammenhang des Wissens konstruieren können, so muß im Transzendenten auch der Grund und die Zulänglichkeit sein; und es muß sich vollständig identifizieren lassen, was sich uns nicht identifizieren wollte. Wir konnten die Durchdringung nicht zustande bringen, sondern nur die Kritik, welche zeigte, was jeder Vorstellung zur Identifikation fehlte. Und diese Kritik vertritt nun die Stelle der vollständigen Durchdringung. Solange wir zu keinem anderen, in sich vollständigen Ausdruck für das Transzendente kommen können, haben wir auch keine Aussicht, das Wissen als vollständige Durchdringimg des Spekulativen und Empirischen aufzustellen. Beide werden immer gesondert bleiben, und wir werden nur die komparative Kritik beider aufstellen können. Könnte es uns gelingen, die Vierheit der Vorstellungen in eine Einheit zu reduzieren, so kämen wir auf die absolute reine Anschauung und auf das vollständige Ineinander des Spekulativen und Empirischen. Es zeigt sich also hier eine genaue Parallele zwischen dem Zustand unserer Vorstellung vom Transzendenten und der Vollständigkeit des Wissens. Dies bestätigt den Satz, daß sich das Gefundene zum wirklichen Denken verhält wie der transzendente Grund zum gesamten Umfang des Denkens. Die drei Wege zum transzendenten Grunde. Um nun den Mangel der inneren Befriedigung zu ergänzen, müssen wir es aufgeben, von der Aktion des Denkens auszugehen, weil hier das Unbedingte nur ein Gedachtes ist, das den S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Gegensatz nicht verläßt. Wo aber finden wir hier ein Komplement? Es gibt mehrere Wege, die Aufgabe zu lösen und zum Ziele zu gelangen. Die e i n e Indikation gaben wir schon darin, daß wir uns selbst und anderen im Geschäft des Schlichtens nicht bloß Denken, sondern denkendes Sein und seiendes Denken sind und diese Identität wirklich in uns selbst tragen, nach der wir in Beziehung auf unsere transzendentale Aufgabe ausgegangen sind. Insofern das Wissen eine notwendige Aufgabe für uns ist, müssen wir annehmen, daß der transzendente Grund des Seins und Denkens derselbe sei. Dieses Transzendente haben wir bisher nur von der einen Seite, dem Denken, aus gesucht. Wir selbst aber sind auch ein Teil des Seins, und der transzendente Grund desselben muß also auch auf unser Sein Einfluß haben. Indem wir also das suchen, wird es die vorige einseitige Lösung ergänzen. Ein z w e i t e r Weg, ebenfalls von unserer ursprünglichen Aufgabe ausgehend, aber über die bisherige Form unserer Untersuchimg hinausführend, ist dieser: Was dem wirklichen Denken vorausgeht, muß auch Basis aller Verknüpfung und Fortschreitung des Denkens sein. Dies muß sich auch anwenden lassen auf den transzendenten Grund in Beziehung auf das Sein. Jedes Denken war uns bisher ein Akt für sich, und als Denkende sind wir nur im einzelnen Akt; als Seiende aber sind wir Einheit aller einzelnen Akte und Momente. Fortschreitung ist nun Übergang von dem einen Moment zum andern. Dieser geschieht also durch unser Sein, die lebendige Einheit der Aufeinanderfolge der Akte des Denkens. Der transzendente Grund des Denkens, worin die Prinzipien der Verknüpfung enthalten sind, ist nichts anderes als unser eigener transzendenter Grund als denkendes Sein. So führt uns dies auf das Vorige zurück. Ein d r i t t e r Weg, der auf unsere Aufgabe zurückgeht, ist folgender: Wir sahen, daß wir uns unseres Denkens als eines bestimmten Aktes nur bewußt werden konnten, indem wir ihn von anderen bestimmten Akten schieden. Der Akt, mit dem er in relativem Gegensatz steht, war das W o l len; beides steht in Beziehung aufeinander, denn jedes Denken ist ein Wollen und umgekehrt. Das ganze System der Aktionen ist für uns nur vermittels der organischen Affek-

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tionen und des bewegten Bewußtseins da. Hier entsteht uns ein Gegensatz zwischen solchen Momenten, worin das Bewußtsein, in dieser Bewegung betrachtet, mehr ein Leidendes und solchen, worin es mehr ein Tätiges ist. Die ersten Bewegungen sind solche, die wir das Denken nennen; die letzten, wo das Tätige überwiegt, kennzeichnen das Wollen und sind die vom Bewußtsein ausgehenden Veränderungen. Wenn wir uns mit diesem Gegensatz wieder als das denkende Sein ansehen und dies wieder auf das Denken beziehen, so sind die Aktionen der ersten Art der Anfang unseres p h y s i s c h e n W i s s e n s und die der zweiten Art der Anfang des e t h i s c h e n W i s s e n s . Das physische Wissen geht darauf aus, das Sein als den Grund zu den organischen Affektionen zu erfassen, worin das Bewußtsein das Leidende ist; das ethische will das Sein so erfassen, wie es die organischen Affektionen begründet, worin das Bewußtsein das Tätige ist. D e r t r a n s z e n d e n t e G r u n d m u ß n u n w o h l d e r s e l b e G r u n d d e s S e i n s s e i n , d a s u n s af f i z i e r t , als des Seins, welches u n s e r e e i g e n e T ä t i g k e i t ist. Und hier haben wir einen anderen Gegensatz zu vereinigen, worin das Denken nur das eine Glied ist. Es fragt sich nun, ob wir von diesen verschiedenen Wegen aus dahin gelangen, das Mangelhafte unserer Überzeugung zu ergänzen und den transzendenten Grund des Seins auf andere Weise zu haben als durch das Denken. Wenn wir einerseits die Unvollständigkeit der Kritik erkennen und andrerseits uns der Ergänzung bewußt werden, so wird dies die Reinheit des Verfahrens und die Vollständigkeit des Bewußtseins geben, soweit wir sie erreichen können, bevor wir zum Zielpunkt unseres Daseins, zum vollständigen Wissen, gekommen sind. 48

Begründung des neuen Ansatzes vom Wollen her. Jede 27.6. Fortsetzung, die nicht unmittelbar an das Bisherige an^bis2 ^ ü p f t , ist immer ein relativer Anfang und kann willkürlich 213 erscheinen. Hat das ununterbrochene Fortschreiten einen mehr analytischen Charakter, so ist das andere, das einer neuen Entwicklung zugrunde liegt, das gleichsam Erfindende und muß daher eine synthetische Form haben (doch gehört dies in den formalen Teil unserer Aufgabe). 18*

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tionen und des bewegten Bewußtseins da. Hier entsteht uns ein Gegensatz zwischen solchen Momenten, worin das Bewußtsein, in dieser Bewegung betrachtet, mehr ein Leidendes und solchen, worin es mehr ein Tätiges ist. Die ersten Bewegungen sind solche, die wir das Denken nennen; die letzten, wo das Tätige überwiegt, kennzeichnen das Wollen und sind die vom Bewußtsein ausgehenden Veränderungen. Wenn wir uns mit diesem Gegensatz wieder als das denkende Sein ansehen und dies wieder auf das Denken beziehen, so sind die Aktionen der ersten Art der Anfang unseres p h y s i s c h e n W i s s e n s und die der zweiten Art der Anfang des e t h i s c h e n W i s s e n s . Das physische Wissen geht darauf aus, das Sein als den Grund zu den organischen Affektionen zu erfassen, worin das Bewußtsein das Leidende ist; das ethische will das Sein so erfassen, wie es die organischen Affektionen begründet, worin das Bewußtsein das Tätige ist. D e r t r a n s z e n d e n t e G r u n d m u ß n u n w o h l d e r s e l b e G r u n d d e s S e i n s s e i n , d a s u n s af f i z i e r t , als des Seins, welches u n s e r e e i g e n e T ä t i g k e i t ist. Und hier haben wir einen anderen Gegensatz zu vereinigen, worin das Denken nur das eine Glied ist. Es fragt sich nun, ob wir von diesen verschiedenen Wegen aus dahin gelangen, das Mangelhafte unserer Überzeugung zu ergänzen und den transzendenten Grund des Seins auf andere Weise zu haben als durch das Denken. Wenn wir einerseits die Unvollständigkeit der Kritik erkennen und andrerseits uns der Ergänzung bewußt werden, so wird dies die Reinheit des Verfahrens und die Vollständigkeit des Bewußtseins geben, soweit wir sie erreichen können, bevor wir zum Zielpunkt unseres Daseins, zum vollständigen Wissen, gekommen sind. 48

Begründung des neuen Ansatzes vom Wollen her. Jede 27.6. Fortsetzung, die nicht unmittelbar an das Bisherige an^bis2 ^ ü p f t , ist immer ein relativer Anfang und kann willkürlich 213 erscheinen. Hat das ununterbrochene Fortschreiten einen mehr analytischen Charakter, so ist das andere, das einer neuen Entwicklung zugrunde liegt, das gleichsam Erfindende und muß daher eine synthetische Form haben (doch gehört dies in den formalen Teil unserer Aufgabe). 18*

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Dies ist eine relative Opposition. Jedes derartige Verfahren, welches den bisherigen W e g verläßt, muß doch immer wieder mit dem Vorigen in irgendeinem Zusammenhange stehen, da sonst die Kontinuität des Denkens verlorenginge. Nun hatten wir drei Wege vorgeschlagen, auf denen wir an das Vorige anknüpfen können. Wir fragten: 1. Können wir auf der Seite unseres Seins, sofern wir die Identität des Seins und Denkens in uns tragen, das finden, was wir auf der Seite des Denkens allein vergeblich suchten? 2. Was entspricht der transzendenten Grundlage des Seins, insofern sie Verknüpfungsprinzip ist? (Es muß ein und dasselbe sein, was dem Denken an und für sich und der Verknüpfung des Denkens zugrunde liegt und der transzendenten Grundlage des Seins entspricht.) 3. Läßt sich in den dem Denken relativ entgegengesetzten Akten des Wollens die Ergänzung finden? Mit welchem dieser drei Ergänzungswege wir anfangen sollen, ist schwierig zu entscheiden, da uns die Prinzipien der richtigen Verknüpfung noch nicht gegeben sind. Wir XLVI II. Antizipierende Digression über das heuristische Verfahren, welches eintritt, so oft eine Gedankenreihe relativ abbricht. Dieses beruht darauf, daß wir die Ergänzung in demjenigen suchen müssen, was dem bisherigen Anknüpfungspunkte relativ entgegengesetzt ist. So ist das Wollen dem Denken entgegengesetzt als Funktion, und die formale Seite ist relativ entgegengesetzt der transzendentalen, und so wird sub 1. auf den Gegensatz zwischen Denken und Sein zurückgegangen. Die Wahl nun zwischen den drei Punkten scheint auch schwierig und willkürlich. Wir müssen uns aber denken, da sie uns alle gleich gegeben sind, daß wir sie auch alle gleich verfolgen müssen, und es sich eigentlich nur um den Vorrang handelt. Hier also kein anderer Grund als dasjenige zu wählen, was uns das schnellste Resultat und die wenigsten Hindernisse verspricht. Ich schlage vor die Funktion des Wollens. Denn in dieser haben wir das zuerst Genannte auch, weil wir nämlich wollend, d. h. auf andere wirkend, in andere unser Sein hineinlegend, eigentlich sind. Wenn wir nun im Zweiten auch das Erste schon haben, und das Dritte das Zweite in sich schließt, so muß am vorteilhaftesten sein, von diesem auszugehen. (Anm. Das Ausgehen in § 211 vom System der Aktionen in seiner Teüung scheint mehr Willkürliches zu haben als dieses Verfahren, wie denn auch gleich in § 212 auf unseres zurückgegangen wird. Auch § 213 habe ich ganz übergangen.)

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können deshalb nur nach einer gewissen Wahrscheinlichkeit das auswählen, wovon wir uns das beste Resultat versprechen. Ich schlage deshalb vor, mit dem relativen Gegensatz zwischen Denken und Wollen anzufangen. Die Rechtfertigung hierfür liegt in folgendem: Sind wir im Denken begriffen als in einem fortwährenden Zustand, der sich in bestimmte Momente und Aktionen sondert, wobei ein Moment aufhört, ein neuer beginnt und eine Verknüpfung notwendig ist, so ist jedes bewußte Beginnen eines neuen Momentes ein Wollen und jedes Verknüpfen im Denken nur ein besonderer Fall des Wollens. Wir werden deshalb geringere Schwierigkeiten haben, wenn wir nur auf das Wollen selbst, nicht auf die Verknüpfung achten; denn die Verknüpfung weist uns gleich auf die dunkelste Region des Zusammenhanges des Wissens, die wir noch nicht gelöst haben, nämlich auf die formale Seite. Dazu kommt noch, was zugleich dem Anfang unserer Untersuchung zugrunde liegt: Wir haben ein ebenso großes Interesse, den transzendenten Grund des Wollens wie den des Denkens zu suchen; und wir können unsere ganze Aufgabe hier getrost von vorne anfangen. Wir finden uns ebenso beständig im Z u s t a n d s t r e i t i g e n W o l l e n s , der geschlichtet werden muß, wie im Zustand streitiger Vorstellungen. Ein jeder Moment der Unentschlossenheit ist ein streitiger Zustand des Wollens in uns; dies kann auch zwischen mehreren stattfinden. Wir haben also auch hier das Interesse, die Konstruktion eines übereinstimmenden Wollens zustande zu bringen. Ein rein übereinstimmendes Wollen kann es aber nicht eher geben, als bis in beiden streitenden Teilen die Totalität alles menschlichen Wollens gesetzt ist. Der Streit des Wollens zwischen zwei Menschen ist um so größer, je mehr Verschiedenheit in ihnen in Beziehung auf die Totalität des Wollens gesetzt ist. Diese Aufgabe hat ebensoviel Recht, für sich behandelt zu werden, wie die vorige. Haben wir den transzendenten Grund des Wollens nicht gefunden, so ist auch kein Wissen möglich. Kann ich den andern nicht zu einem gemeinsamen Wöllen bringen, d. h. kann ich das übereinstimmende Wollen nicht konstruieren, so kann ich auch die streitigen Vorstellungen nicht schlichten. Beide Aufgaben sind also nicht nur gleich wich-

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tig, sondern innig ineinander verflochten. Auch zur Identität des Wollens brauchen wir ein identisches Denken; denn jede Aktion des Wollens ist ja vom Denken begleitet. Aus dem Letzten sehen wir, wie wohl wir getan haben, diesen Punkt zuerst zu wählen, weil wir so gar nicht aus unserer Aufgabe herausgehen. Wir müssen daher zur Realisation der Untersuchung über den transzendenten Grund des Seins zurückgehen auf das Verhältnis des Denkens als einer Funktion des geistigen Lebens zum Wollen als ebensolcher Funktion. Denken wir uns beide als reibenbildend und in bestimmte Momente gesondert, so ist jeder Moment des Denkens mit einem anderen durch einen Moment des Wollens verknüpft. Ich muß durch einen Akt der Selbstbesinnung von einem Punkt zum andern hinübergehen. Ebenso aber auch umgekehrt ist jeder Moment des Wollens mit dem andern durch das Denken verknüpft. Das Letzte scheint nicht so klar zu sein; denn man klagt oft über gedankenloses Wollen. Doch ist dies immer ein komparatives Urteil. Denn das Denken kann wohl unklar und unbestimmt sein, fehlt aber niemals ganz. Jedem Moment des Wollens als solchem geht ein Denken voran; und jeder Mensch muß über sein Denken, das dem Wollen vorherging, Rechenschaft geben können, wie hell oder dunkel ihm jenes auch sein mag. Betrachten wir nun beide Funktionen in ihrem relativen Gegensatz, so müssen wir auch eine Übereinstimmung des Wollens mit dem Sein voraussetzen, sonst gäbe es hier kein dem Wissen analoges Gebiet. Wie man nicht denken kann, ohne e t w a s zu denken, so will man auch nicht, ohne e t w a s zu wollen. Dieses Etwas aber hat immer einen Ort im Sein, es muß also immer eine Übereinstimmung des Seins mit dem Wollen vorausgesetzt werden. Nun ist es gleich, ob das Wollen mich selbst oder einen anderen zum Gegenstand hat. Das Wollen, das aus mir herausgeht, mag sich auf andere Menschen oder Dinge richten; stets geht es auf sie als auf ein Sein. Wollen wir in einem andern einen Gedanken hervorbringen, so hat das freilich den Anschein, als wende sich das Wollen an das Denken. Doch kann dies nur so geschehen, daß ich mich an sein Ich, die Einheit seiner mannigfaltigen Momente, die Identität der Verknüpfungen, also an das Sein des Menschen

Das Wollen und der transzendente Grund

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richte. Gibt es nun eine solche Totalität des Wollens in uns, so ist dies nichts anderes als die T o t a l i t ä t d e r Z w e c k b e g r i f f e . Dies wäre aber gar nichts, wenn nicht im Sein eine Übereinstimmung mit dem Wollen wäre. Unser Wollen bleibt stets leer, wenn ihm nichts im Sein entspricht. So wäre es. z. B. vergeblich, einem räumlichen Gegenstand eine bestimmte Form geben zu wollen, wenn nicht jene Modifikabilität der Form im Sein läge und in uns nicht die Möglichkeit, diese zu realisieren. Wenn nun Denken und Wollen so ineinandergehen, so gibt uns dies eine durchgehende Beziehimg auf das Sein und eine vollkommene Teilung desselben hinsichtlich des Denkens und Wollens. So geht unsere Aufgabe in die vorige über; denn indem wir den transzendenten Grund des Wollens suchen, finden wir auch den transzendenten Grund des Seins. 49

Das Wollen und der transzendente Grund. Die Par28. 6. aj[i e i e zwischen Wollen und Wissen können wir hier nicht § 214 durch alles Vorige hindurchführen, da wir eine Duplizität der Formen des Wollens nicht haben und nicht suchen. Allein wir setzen doch auf der Seite des Wollens eine identische Konstruktion voraus, die wir indessen nur f ü r relativ erklären, so daß der eigentümliche Faktor des Wissens auch XLIX. Zuerst § 214. Die Parallele läßt sich aber viel genauer ziehen mit der ursprünglichen Aufgabe. Denn wir finden uns auch im Zustande streitiger Wollungen, und müssen diesen auch lösen, wenn wir unserem Wollen Realität geben wollen, weü sonst ein Wollen das andere zerstört. Wir müssen also auch ebenso über das wirkliche Wollen hinaus auf einen in allen identischen Grund. Aber ebenso bedürfen wir auch einer Zusammengehörigkeit des Seins mit dem Wollen; denn wenn es sich nicht so bewegen ließe, wie wir es bewegen wollen, so könnte es nie realisiert werden. Aber der transzendente Grund zu beiden darf nur derselbe sein; denn wenn nicht wirksam, sofern identisch, oder nicht identisch, sofern wirksam, so wäre immer in uns keine Einheit. Wenn nun die weitere Fortsetzung der Parallele ergibt, daß wir von dieser Seite ebensoweit nur kommen als auf der Seite des Denkens, so müßten wir versuchen, ob wir auf etwas Höheres kommen, worin eine Identität von Denken und Wollen ist, und ob sich in diesem die Aufgabe vollkommener1) löse. *) Jon.: „vollkommen".

Das Wollen und der transzendente Grund

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richte. Gibt es nun eine solche Totalität des Wollens in uns, so ist dies nichts anderes als die T o t a l i t ä t d e r Z w e c k b e g r i f f e . Dies wäre aber gar nichts, wenn nicht im Sein eine Übereinstimmung mit dem Wollen wäre. Unser Wollen bleibt stets leer, wenn ihm nichts im Sein entspricht. So wäre es. z. B. vergeblich, einem räumlichen Gegenstand eine bestimmte Form geben zu wollen, wenn nicht jene Modifikabilität der Form im Sein läge und in uns nicht die Möglichkeit, diese zu realisieren. Wenn nun Denken und Wollen so ineinandergehen, so gibt uns dies eine durchgehende Beziehimg auf das Sein und eine vollkommene Teilung desselben hinsichtlich des Denkens und Wollens. So geht unsere Aufgabe in die vorige über; denn indem wir den transzendenten Grund des Wollens suchen, finden wir auch den transzendenten Grund des Seins. 49

Das Wollen und der transzendente Grund. Die Par28. 6. aj[i e i e zwischen Wollen und Wissen können wir hier nicht § 214 durch alles Vorige hindurchführen, da wir eine Duplizität der Formen des Wollens nicht haben und nicht suchen. Allein wir setzen doch auf der Seite des Wollens eine identische Konstruktion voraus, die wir indessen nur f ü r relativ erklären, so daß der eigentümliche Faktor des Wissens auch XLIX. Zuerst § 214. Die Parallele läßt sich aber viel genauer ziehen mit der ursprünglichen Aufgabe. Denn wir finden uns auch im Zustande streitiger Wollungen, und müssen diesen auch lösen, wenn wir unserem Wollen Realität geben wollen, weü sonst ein Wollen das andere zerstört. Wir müssen also auch ebenso über das wirkliche Wollen hinaus auf einen in allen identischen Grund. Aber ebenso bedürfen wir auch einer Zusammengehörigkeit des Seins mit dem Wollen; denn wenn es sich nicht so bewegen ließe, wie wir es bewegen wollen, so könnte es nie realisiert werden. Aber der transzendente Grund zu beiden darf nur derselbe sein; denn wenn nicht wirksam, sofern identisch, oder nicht identisch, sofern wirksam, so wäre immer in uns keine Einheit. Wenn nun die weitere Fortsetzung der Parallele ergibt, daß wir von dieser Seite ebensoweit nur kommen als auf der Seite des Denkens, so müßten wir versuchen, ob wir auf etwas Höheres kommen, worin eine Identität von Denken und Wollen ist, und ob sich in diesem die Aufgabe vollkommener1) löse. *) Jon.: „vollkommen".

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das Wollen bestimmt. Nun wollen wir uns auf einem zwiefachen Wege davon überzeugen, daß der transzendente Grund des Wollens kein anderer sein kann als der des Denkens. Im Einzelnen kann dieser Grund nicht liegen, denn er soll Grund des Identischen der Konstruktion des Wollens in allen sein. Also muß er sich auf die menschliche Gattung beziehen. Aber auch hier werden wir immer weiter hinausgetrieben wie vorher beim Wissen. Soll es ein Wollen geben, so ist es nötig, daß das Wollen, wie wir es im Denken auf Zweckbegriffe zurückführen, zusammenstimme mit dem Gegenstande unseres Wollens. In jedem Handelnden ist das Wollende das Tätige, der Gegenstand des Wollens, das Bestimmte in der Allgemeinheit des Seins, das Leidende. Könnte dieses nun nicht so leiden, wie jenes tätig ist, so wäre der ganze Prozeß unmöglich und das Wollen könnte nie realisiert werden. Und so werden wir wieder auf die Identität des Idealen und Realen getrieben. Jedes Wollen hat zum Grunde ein Denken; jede Verknüpfung im Denken hat zum Maße ihrer Vollkommenheit ein Wollen. Der transzendente Grund beider muß also derselbe sein. Denn wäre er ein zwiefacher, so wäre jedes Wollen, an sich betrachtet, durch sich begründet; insofern es aber mit dem Denken ineinandergeht, müßte es auch in dessen transzendentem Grund begründet sein. Es müßte also über beide hinaus noch ein Höheres existieren, das wir eben suchen wollen. Wir können also auf zwei verschiedenen Wegen, auf dem des Denkens oder des Wollens, das Transzendente suchen. Die Aufgabe mag verschieden sein, das Resultat bleibt dasselbe. Welches ist nun der allgemeinere Weg, der in dieser Hinsicht gewöhnlich eingeschlagen wird? Obgleich keinem von beiden an sich der Vorzug einzuräumen ist — der Parallelismus ist so genau und der Grund so gleich, daß wir keines vorziehen können —, wird im gewöhnlichen Leben der transzendente Grund des Wollens häufiger gesucht als der des Denkens. Nach dem transzendenten Grund des Denkens fragen nur diejenigen, die das Denken zum Wissen konstruieren wollen, die also auf dem Gebiet der Wissenschaft versieren, ein Geschäft, das die anderen jenen übertragen. Die identische Konstruktion des Wollens dagegen empfindet jeder unmittelbar als notwendig und wird immer darauf zu-

Das Wollen und der transzendente Grund

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rückgeführt. Die Voraussetzung des transzendenten Grundes für das Wollen nennt man den G l a u b e n an G o t t . Bei den meisten Menschen ruht der Glaube an Gott als den transzendenten Grund des Seins mehr auf dem, was im G e w i s s e n gegeben ist, d. h. mehr auf der Konstruktion des Wollens als auf dem im Verstände Gegebenen. Auf jenem Gebiet erscheint er uns allen als etwas Ursprüngliches; auf diesem kommt er erst zur Sprache, wenn der Mensch befürchtet, daß ohne Beziehung des Denkens auf den transzendenten Grund eine Skepsis entstehen könnte. Hätte nun diese Ungleichmäßigkeit des Hervortretens ihre Berechtigung, so ginge daraus hervor, daß es der großen Masse der Menschen näherliegen müsse, auf der Seite des Wollens zur Skepsis zu kommen und zum transzendenten Grund genötigt zu werden, als auf der Seite des Denkens. Wenn wir auf die Seite des Denkens zurückgehen, so liegt die Veranlassung zur Skepsis darin, daß die Einheit der intellektuellen und organischen Funktion immer eine werdende und nie gegebene ist. Die Wissenschaftlichen haben die Analyse dieses Prozesses zum Geschäft, die andern aber vollziehen diesen Prozeß ohne Analyse. Bei ihnen ruht das Denken immer auf der Erfahrung, die sie festhält mit ihrer Gewalt, so daß sie hier zur Skepsis nicht kommen können. Auf der Seite des Wollens ist es nicht so; denn dieses fängt nicht mit einem äußerlich, sondern innerlich Gegebenen oder Werdenden an. Der Zustand des streitigen Wollens kommt im Einzelnen öfter vor als der Zustand des streitigen Denkens, der sich erst bei äußerer Veranlassimg entwickelt, während jener im Menschen selbst enthalten ist und sich von selbst entwickelt. Daher kommt es, daß sich die Skepsis im Wollen leichter entwickelt. Das mag wahr sein, ist aber dennoch nicht recht, vielmehr sind beide Funktionen völlig gleich und müssen nach dem gemeinschaftlichen Punkte mit gleichen Kräf ten zielen. Dies führt uns auf die Kritik der Kantischen Ansicht in dieser Sache. K a n t behauptet, das Dasein Gottes könne auf theoretische Weise nicht bewiesen werden, sondern sei begründet durch die Postulate der praktischen Vernunft. „Dasein Gottes" ist schon ein wunderlicher Ausdruck und noch wunderlicher, es auf eine theoretische Weise beweisen zu

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wollen. Was bedeutet dieser Gegensatz in bezug auf unsere bisherige Untersuchung? Es wird vorausgesetzt, daß der Mensch mehr von der Seite des Wollens als des Denkens zum transzendenten Grunde des Seins gebracht werde. Gibt es denn aber keine Postulate der theoretischen Vernunft? In dieser Ansicht wird ausgedrückt, man könne auf dem Gebiet des Wissens ohne den transzendenten Grund fertig werden, auf dem Gebiete des Wollens aber nicht. Dies ist durchaus keine wissenschaftliche Ansicht. In der Masse kann das Übergewicht auf der einen, bei den Gebildeten auf der anderen Seite liegen. In der wissenschaftlichen Konstruktion dagegen dürfen wir nicht von zwei gleichgeltenden Seiten derselben Sache die eine achten, die andere vernachlässigen. Kants Ansicht ist also eine ganz populäre. Vergleichen wir unseren Gang mit dem Kantischen, so sind wir von Anfang an auf das Entgegengesetzte gekommen, weil wir gleich P o s t u l a t e f ü r d a s W i s s e n s u c h t e n . Dies kam daher, weil wir den ganzen Prozeß des Denkens von seiner praktischen Seite aus (nämlich streitige Vorstellungen zu lösen) betrachteten. Durch den philosophischen Prozeß soll aber jede Einseitigkeit aufgehoben werden, und es muß aufhören, daß die Masse in der organischen Seite des Denkens versunken bleibt. Ebenso muß die andere Einseitigkeit verschwinden, indem wir das Wollen viel mehr mit unserem Geschäft verbinden und das Denken im Wissen, kunstmäßig machen. Wir kommen also zu dem vorläufigen Ergebnis: Wenn der transzendente Grund des Wollens ebenso notwendig postuliert werden muß wie der des Denkens und beide ein und dasselbe sind, so werden wir uns des Transzendenten weder von der Seite des Denkens noch von der des Wollens allein bemächtigen können. D e r t r a n s z e n d e n te G r u n d des S e i n s w i r d s o m i t n u r i n d e r I d e n t i t ä t des Denk e n s u n d W o l l e n s e r k a n n t w e r d e n k ö n n e n , d. h. wenn beide einander ergänzen und sich wechselseitig durchdringen. 60•

Sittengesetz und Weltordnung. Wir wollen über die ge• 7> gebene Voraussetzung noch etwas hinzufügen. Wenn wir den transzendenten Grund des Wollens bei einem streitigen Zu-

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wollen. Was bedeutet dieser Gegensatz in bezug auf unsere bisherige Untersuchung? Es wird vorausgesetzt, daß der Mensch mehr von der Seite des Wollens als des Denkens zum transzendenten Grunde des Seins gebracht werde. Gibt es denn aber keine Postulate der theoretischen Vernunft? In dieser Ansicht wird ausgedrückt, man könne auf dem Gebiet des Wissens ohne den transzendenten Grund fertig werden, auf dem Gebiete des Wollens aber nicht. Dies ist durchaus keine wissenschaftliche Ansicht. In der Masse kann das Übergewicht auf der einen, bei den Gebildeten auf der anderen Seite liegen. In der wissenschaftlichen Konstruktion dagegen dürfen wir nicht von zwei gleichgeltenden Seiten derselben Sache die eine achten, die andere vernachlässigen. Kants Ansicht ist also eine ganz populäre. Vergleichen wir unseren Gang mit dem Kantischen, so sind wir von Anfang an auf das Entgegengesetzte gekommen, weil wir gleich P o s t u l a t e f ü r d a s W i s s e n s u c h t e n . Dies kam daher, weil wir den ganzen Prozeß des Denkens von seiner praktischen Seite aus (nämlich streitige Vorstellungen zu lösen) betrachteten. Durch den philosophischen Prozeß soll aber jede Einseitigkeit aufgehoben werden, und es muß aufhören, daß die Masse in der organischen Seite des Denkens versunken bleibt. Ebenso muß die andere Einseitigkeit verschwinden, indem wir das Wollen viel mehr mit unserem Geschäft verbinden und das Denken im Wissen, kunstmäßig machen. Wir kommen also zu dem vorläufigen Ergebnis: Wenn der transzendente Grund des Wollens ebenso notwendig postuliert werden muß wie der des Denkens und beide ein und dasselbe sind, so werden wir uns des Transzendenten weder von der Seite des Denkens noch von der des Wollens allein bemächtigen können. D e r t r a n s z e n d e n te G r u n d des S e i n s w i r d s o m i t n u r i n d e r I d e n t i t ä t des Denk e n s u n d W o l l e n s e r k a n n t w e r d e n k ö n n e n , d. h. wenn beide einander ergänzen und sich wechselseitig durchdringen. 60•

Sittengesetz und Weltordnung. Wir wollen über die ge• 7> gebene Voraussetzung noch etwas hinzufügen. Wenn wir den transzendenten Grund des Wollens bei einem streitigen Zu-

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stände des Wollens suchen, so wird dies ebenfalls ein Wollen sein müssen, welches allem wirklichen Wollen vorausgeht. Und inwiefern nun eine notwendige Übereinstimmimg zwischen dem Sein und dem Wollen gesetzt werden muß, muß eine Zusammengehörigkeit angenommen werden zwischen dem transzendenten Grund des Wollens und demjenigen, worauf das Wollen sich bezieht. Das Wollen geht zunächst nur auf die Erscheinungen, Eigenschaften und Zustände der Dinge. Diese gehen auf das System der Kräfte zurück, und dieses, als Einheit gedacht, schließt die Willenskraft des L. Das Wollen ebenso in seine Mannigfaltigkeit zu verfolgen wie das Denken, liegt zu weit außer unserer Aufgabe und würde uns zur Konstruktion der Ethik führen. Also nur so weit als notwendig die Parallele fortsetzen. Der Grund eines allen identischen Wollens ist ein G e s e t z ; und insofern sich dieses identische Wollen in dem Einzelwesen als für sich gesetzt entwickelt, ist das Wollen S i t t e und das Gesetz S i t t e n g e s e t z . Die I d e n t i t ä t ist auch hier eine r e l a t i v e , b e g r e n z t durch E i g e n t ü m l i c h k e i t . Das G e s e t z erscheint auch hier nie als besonderes zeitliches Wollen, sondern es ist nur in jedem einzelnen Wollen als V e r k n ü p f u n g s p r i n z i p , wie der Grund des Denkens zugleich Verknüpfungsprinzip ist. Da nun an jedem einzelnen Wollen auch die Eigentümlichkeit, die wieder untergeordnet gemeinsam ist, Anteil hat, so erscheint auch das Gesetz in der menschlichen N a t u r d i f f e r e n t i i e r t , doch so, daß die absolute I d e n t i t ä t durchbricht. Das Gesetz an sich ist aber nur innerhalb der menschlichen Natur als K r a f t , die sich in E r s c h e i n u n g e n entwickelt, selbst aber nicht als Einzelnes erscheint. Aber der Grund der Modifikabilität der Dinge durch das Wollen ist nicht in der menschlichen Natur gesetzt, sondern er kann nur in der Identität gesetzt sein des denkenden, also wollenden Seins mit dem in bezug auf jenes bloß gegenständlichen. Diese Identität ist zunächst im Weltkörper als entwickelnder Kraft, und, inwiefern diese nicht isoliert sein kann, in dem absoluten Subjekt. Nun aber kann der Grund der Identität des Wollens und der Grund seiner Realität nicht ein anderer sein (vgl. XLIX). Also muß auch das S i t t e n g e s e t z als solches gegründet sein in dem a b s o l u t e n S u b j e k t oder den ihm gleichgesetzten Formeln. Das heißt also, wenn die Zusammenstimmung des Gesetzes mit der Natur W e l t ordnung heißt: die V o r s e h u n g ist z u g l e i c h W e l t o r d n u n g , G o t t als Schöpfer z u g l e i c h G e s e t z g e b e r (wobei das Wollen in seiner Indifferenz zur Identität die Stelle der Materie vertritt). Die absolute Kraft oder das absolute Subjekt entwickelt zugleich das Gesetz und die Weltordnung.

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Gegenstandes selbst in sich. Sonach gingen also die E r scheinungskräfte in der Willenskraft auf, und wir hätten nur einen Gegenstand innerhalb dieses Gebietes auszugleichen. Diese Lösung geht also in der früheren wieder auf; und da die Kraft keine hinreichende Lösung unserer Aufgabe war, so folgt, daß wir von dieser Seite nicht weiter kommen als von jener. Was nun den transzendenten Grund des Wollens an sich betrifft, so müßte dies ein Wollen sein, das allem einzelnen Da nun diese Formeln mit jenen zusammenfallen, so kommen wir mit dem Wollen nicht weiter als mit dem Denken. Es ist aber auch schon in sich gewiß, daß der transzendente Grund des Denkens und der des Wollens identisch sein müssen. Denn da jedes Wollen nach Maßgabe seiner Klarheit in einem Denken = Zweckbegriff gegründet ist, so müßte es zwei Gründe haben; und jedes Denken, da es nach Maßgabe seiner Klarheit freie Produktivität, also Wollen, ist, müßte auch zwei Gründehaben. Also beruht die Einheit unseres Wesens auf der Identität dieser Gründe. Betrachten wir nun das Maß, in welchem, und die Ursache, warum uns nicht gelungen ist, die Aufgabe zu lösen, so ist die Ursache ohnstreitig die, daß Denken und Wollen beides noch im Gegensatz stehende Funktionen sind und wir in ihnen1) nicht das ergreifen können, was über allen Gegensatz hinausliegt. Es verhalten sich aber gegen die Lösung beide Funktionen gleich. Wie wir hier vom Denken ausgegangen sind und das Wollen nachgeholt haben, so hätten wir bei einer anderen Fassung der Aufgabe vom Wollen ausgehen können und hätten ebenso das Denken nachgeholt. Eines von beiden zu vernachlässigen, ist einseitig, und so war es die natürliche Theologie, welche das Bewußtsein Gottes bloß auf die Denkfunktionen gründen wollte. Ebenso einseitig aber wurde Kant, der sie bloß auf die Willensfunktion gründen wollte, woher denn kam, daß bei Fichte Weltordnung die einzige Formel wurde. Diese Kantische Ausweichung war nicht in seiner spekulativen Strenge gegründet, sondern in seinem unbewußten Zusammenhange mit der Popularphilosophie. Denn die nicht im wissenschaftlichen Streben Begriffenen erhalten das Bewußtsein Gottes vielmehr auf dem praktischen Wege durch die Überzeugung des Gewissens (§ 214, 3). — Was das Maß des Mißlingens betrifft, so ist uns nicht mißlungen, des transzendenten Grundes2) inne zu werden, dies haben wir vielmehr von beiden Funktionen aus erreicht, sondern nur, ihn zu einer Einheit des wirklichen Bewußtseins zu bringen. Wir haben ihn aber, indem wir die Unzulänglichkeit der einseitigen und geteilten Formeln erkennen. *) J o n . : „ i h m " .

a

) Hs.: „den tr. Grund".

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Wollen vorangeht und worauf jedes Wollen auch wieder zurückgeht. Es würde sich dann ebenso leicht zeigen, daß wir auch hier auf die Verknüpfung des Wollens auszugehen haben, indem das Wollen des Einzelnen, wenn der Zustand des streitigen Wollens aufhören soll, ebensogut an das eines anderen als an sein eigenes angeknüpft werden müßte. Hier werden wir auf die Idee eines für alle selbigen Gesetzes kommen, welche allen Volitionen zugrunde liegt und in dem die Realisation aller Volitionen aufginge. Es ist die I d e e des S i t t e n g e s e t z e s als des transzendenten Grundes alles einzelnen Wollens. Man könnte es paradox, ja absurd nennen, daß das Sittengesetz nicht im wirklichen Wollen vorkommen sollte. Doch muß man es nur recht verstehen. Das wirkliche Wollen ist immer nur eine einzelne Anwendung desselben; und so ist es klar, daß das wirkliche Wollen nie das Sittengesetz in seiner Totalität anstrebt, sondern nur im Fortschreiten von einem zum andern. Die Übereinstimmung des Sittengesetzes mit der Erscheinung, auf welche das Wollen geht, also mit dem Naturgesetz, hat man durch die Formel „ W e l t o r d n u n g " bezeichnet. Aber wie das Naturgesetz der Aufgabe nicht genügt, indem wir es auf das Sittengesetz reduzieren, genügt auch das Sittengesetz nicht, indem wir immer erst auf die Weltordnung zurückgehen müssen. Isolieren wir die Funktion des Wollens, so gelangen wir ebensowenig zur Lösung unserer Aufgabe wie durch die Isolierung der Funktion des Denkens. Beide zusammen lösen sie auch nicht, indem im Naturgesetz schon das Sittengesetz liegt. Es fragt sich nun, ob die Identität des Denkens und Wollens eine bloße Formel ist, oder ob wir sie in eine Anschauung verwandeln und ihr einen Inhalt beilegen können. Wir sahen, wie jedes Denken, als Akt betrachtet, auf ein Wollen zurückgeht, welches Abstufungen haben kann, also wie jedem Wollen, wenn es klar und bestimmt sein soll, ein klares und bestimmtes Denken zugrunde liegt. Hierin liegt, daß der Gegensatz zwischen diesen beiden Funktionen immer nur ein relativer ist, weil jede nur eine Funktion der anderen ist. Betrachten wir also das geistige Leben als eine Reihe von Aktionen, so geht die Aktion der einen Art in die der anderen über. — Wie steht es aber hiermit, wenn wir

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beide Arten als Denk- und Willensfunktion unterscheiden? Solange wir uns in der Denkfunktion begriffen denken, ohne daß ein anderes dazwischentritt, haben wir keine Ursache, solche Arten zu unterscheiden. Denn es ist das eine mit dem andern und durch dasselbe gegeben, und ich habe die ganze Gedankenreihe gewollt. — Gebe ich aber von einer GedankenTeihe in die andere über, insofern ich die eine von der anderen unterscheide, so tritt die Aktion des Wollens dazwischen. — Ebenso ist es auf der anderen Seite. Wenn wir uns die Tätigkeit der Funktion des Wollens im engeren Sinne denken, so liegt ihr nach dem Grade der Klarheit und Bestimmtheit ein Zweckbegriff, also ein Denken, zugrunde. Wenn wir darauf sehen, wie im Zweckbegriff Einheit und Vielheit ineinander enthalten sind, so wird hier eine Teilung möglich sein. Aber in jedem Zweckbegriff sind die Geteilten eins, und wir haben noch nicht Ursache, zu unterscheiden. Sobald aber Tätigkeiten vorkommen, die aus jenem Begriff herausgehen, so ist die Funktion der Denktätigkeit dazwischengetreten, wenn auch als ein Minimum. Sowie wir zwei Volitionen unterscheiden, so ist ein Akt des Denkens, sowie wir zwei Gedankenreihen unterscheiden, so ist ein Akt des Wollens hinzugetreten. § 215

] ) a s Gefühl als unmittelbares Selbstbewußtsein. In diesem Wechsel von Denken und Wollen ist nun das zeitliche Leben. Doch gibf es eigentlich gar keinen Wechsel, sondern nur einen Übergang von einem zum andern. Denn zwischen zwei Tätigkeiten, die sich aufeinander beziehen, können wir unmöglich eine Null setzen. Die Identität liegt eben in diesem Übergange; Übergang aus einem zum andern und Identität sind eigentlich dasselbe und nur durch die Zeitform geschieden. Ein Übergang ist nur möglich, wenn zwischen Anfang des einen und Aufhören des andern Identität beider ist. Jede Denktätigkeit ist, von einer anderen Seite angesehen, eine Willenstätigkeit. In dem Übergang ist die Zeitform gesetzt, in der Identität ist sie negiert. Wenn das Leben aus beiden Funktionen entsteht, so ist, wenn ich eine Tätigkeit negiere, das Leben nicht vollständig gesetzt. Nehme ich aber die Identität an, so ist in dem Übergang das ganze Leben gesetzt. Ist in einem Moment nicht das ganze

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beide Arten als Denk- und Willensfunktion unterscheiden? Solange wir uns in der Denkfunktion begriffen denken, ohne daß ein anderes dazwischentritt, haben wir keine Ursache, solche Arten zu unterscheiden. Denn es ist das eine mit dem andern und durch dasselbe gegeben, und ich habe die ganze Gedankenreihe gewollt. — Gebe ich aber von einer GedankenTeihe in die andere über, insofern ich die eine von der anderen unterscheide, so tritt die Aktion des Wollens dazwischen. — Ebenso ist es auf der anderen Seite. Wenn wir uns die Tätigkeit der Funktion des Wollens im engeren Sinne denken, so liegt ihr nach dem Grade der Klarheit und Bestimmtheit ein Zweckbegriff, also ein Denken, zugrunde. Wenn wir darauf sehen, wie im Zweckbegriff Einheit und Vielheit ineinander enthalten sind, so wird hier eine Teilung möglich sein. Aber in jedem Zweckbegriff sind die Geteilten eins, und wir haben noch nicht Ursache, zu unterscheiden. Sobald aber Tätigkeiten vorkommen, die aus jenem Begriff herausgehen, so ist die Funktion der Denktätigkeit dazwischengetreten, wenn auch als ein Minimum. Sowie wir zwei Volitionen unterscheiden, so ist ein Akt des Denkens, sowie wir zwei Gedankenreihen unterscheiden, so ist ein Akt des Wollens hinzugetreten. § 215

] ) a s Gefühl als unmittelbares Selbstbewußtsein. In diesem Wechsel von Denken und Wollen ist nun das zeitliche Leben. Doch gibf es eigentlich gar keinen Wechsel, sondern nur einen Übergang von einem zum andern. Denn zwischen zwei Tätigkeiten, die sich aufeinander beziehen, können wir unmöglich eine Null setzen. Die Identität liegt eben in diesem Übergange; Übergang aus einem zum andern und Identität sind eigentlich dasselbe und nur durch die Zeitform geschieden. Ein Übergang ist nur möglich, wenn zwischen Anfang des einen und Aufhören des andern Identität beider ist. Jede Denktätigkeit ist, von einer anderen Seite angesehen, eine Willenstätigkeit. In dem Übergang ist die Zeitform gesetzt, in der Identität ist sie negiert. Wenn das Leben aus beiden Funktionen entsteht, so ist, wenn ich eine Tätigkeit negiere, das Leben nicht vollständig gesetzt. Nehme ich aber die Identität an, so ist in dem Übergang das ganze Leben gesetzt. Ist in einem Moment nicht das ganze

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Leben gesetzt, so ist dies ein Defekt, zu dem ein Supplement hinzukommen muß. In der Tätigkeit des Denkens ist das Bewußtsein des Gegenstandes, in der Tätigkeit des Wollens ist das Bewußtsein des Widerstandes mitgesetzt; das eine Moment komplettiert das andere. Der Übergang beider Funktionen ineinander muß das Mitgesetztsein des anderen einschließen, d. h. als r e i n e s u n m i t t e l b a r e s S e l b s t b e w u ß t s e i n gesetzt sein. Wir haben also die Identität des Denkens und Wollens im unmittelbaren Selbstbewußtsein. Dieses -unmittelbare Selbstbewßtsein, als wirklich erfüllte Zeit gesetzt, wollen wir durch den Ausdruck „ G e f ü h l " bezeichnen. Wir haben in unserer Sprache keinen anderen Ausdruck hierfür, und es ist nur Mangel an Distinktion, wenn man glaubt, daß dieser Ausdruck noch etwas anderes bedeuten könnte. Es ist dies keine subjektive Passivität; diese heißt vielmehr „ E m p f i n d ü n g " . Der Gegensatz Subjekt—Objekt bleibt hier gänzlich ausgeschlossen als ein nicht anwendbarer. Inwiefern von einem Zustande die Rede ist, so ist es freilich etwas Subjektives; aber jedes Denken ist auch ein Subjektives. Der Übergang aus einer Aktion in die andere ist jedoch in allen ein ,und derselbe. D a ß wir nun im gemeinen Leben den Ausdruck in der Tat ebenso gebrauchen, wenngleich der alltägliche und der wissenschaftliche Sprachgebrauch nie rein ineinander aufgehen, läßt sich leicht zeigen. Man pflegt ihn allerdings als einen relativ allgemeinen Begriff zu behandeln, nämlich als einen Zustand, der zugleich Einheit und Mannigfaltigkeit in sich schließt, und redet von verschiedenen Gefühlen. Aber auch hier ist die objektive Basis dieselbe, nur die Zustände sind verschieden. Denken wir uns nämlich mehrere Menschen in denselben Verhältnissen, aber in verschiedenen Zuständen, [so sind die Gefühle verschieden. Dies beruht auf folgendem: Die Identität der Verhältnisse setzt eine Identität der Beziehungen aller auf das, was in ihnen unid außer ihnein ist, voraus. Die Gefühle sind also verschieden, weil sie nicht alle in demselben Akte übergehen. Freilich sagt man, das unmittelbare Selbstbewußtsein sei das I c h . Dieses bedeutet nun zweierlei. Entweder ist das Ich Objekt, und zwar nicht als Moment gesetzt, sondern abstrakt genommen, oder der

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Sich-selbst-bewußte ist das Ich. Das letztere ist dann aber nicht das unmittelbare, sondern das r e f l e k t i e r t e S e l b s t b e w u ß t s e i n , wo man sich selbst zum Gegenstande geworden ist. Das Gefühl ist durchaus nichts Subjektives, wie man gewöhnlich annimmt, sondern geht ebensowohl auf das allgemeine wie auf das individuelle Selbstbewußtsein. Es ist die a l l g e m e i n e F o r m d e s S i c h - s e l b s t habens. Können wir nun im Gefühl, wie wir es hier angenommen, den transzendenten Grund suchen, wie wir ihn, von jeder der beiden Einzelfunktionen ausgehend, gesucht haben? Aus dem Gebiet der Gegensätze sind wir jetzt heraus. Was hat dies aber nun für eine Beziehung auf den transzendenten Grund des Seins und Wollens, in seiner Identität und Verschiedenheit gedacht? 61

• 7-

Betrachten wir das sogenannte Gefühl näher, so finden wir es als ein überall durchgehendes und begleitendes. Mögen wir uns einen Moment des Denkens oder des Wollens vorstellen, so werden wir ihn immer begleitet finden von dem unmittelbaren Selbstbewußtsein. Es wird o f t ein Minimum, kann aber niemals Null werden. Daher ist das unmittelbare LI. U n m i t t e l b a r e s S e l b s t b e w u ß t s e i n = Gefühl 1 ). Es bleibt indes noch übrig der Versuch, ihn aufzusuchen in der Identität des Denkens und Wollens. Betrachten wir das Leben als Reihe, so ist es ein Übergang aus Denken in Wollen und umgekehrt, beides in seinem relativen Gegensatz betrachtet. Der Übergang ist das aufhörende Denken und das anfangende Wollen, und dieses muß identisch sein. Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesetzt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesetzt auf unsere Weise. Also, sofern nicht mehr das Sein der Dinge in uns gesetzt wird, wird unser Sein in die Dinge gesetzt. Aber unser Sein ist das setzende, und dieses bleibt im Nullpunkt übrig; also unser Sein, als setzend, in der Indifferenz beider Formen. Dies ist das u n m i t t e l b a r e S e l b s t b e w u ß t sein = G e f ü h l , welches ist i. verschieden von dem reflektierten Selbstbewußtsein = Ich, welches nur die Identität des Subjekts in der Differenz der Momente aussagt, und also auf dem Zusammenfassen der Momente beruht, welches allemal ein vermitteltes ist; 2. verschieden von der Empfindung, welches das subjektive Persönliche ist im bestimmten Moment, also mittelst Rb., fehlt bei Jon.

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Selbstbewußtsein als Identität von allem Wollen u n d Denken in jedem Menschen. Das Bewußtsein eines Gegenstandes, sei es ein angeschauter oder ein in innerer Tätigkeit zu schaffender, kann den Moment ganz einnehmen. Doch ist dies nur scheinbar so. Der höchste Moment in der einseitigen Spannung einer Funktion ist ein Maximum der Isolierung. Das Gefühl ist nur zurücktretend, nie ganz verschwindend. Das Selbstbewußtsein steht über allen Funktionen und unterscheidet sich wesentlich von den anderen dadurch, d a ß es entweder immer ist oder gar nicht ist. Die anderen Funktionen werden dagegen durch etwas von außen angeregt, und in jedem Moment ist die Anlage zum Verschwinden gesetzt. Das Selbstbewußtsein dagegen kann nie f ü r einen Augenblick hervorgerufen werden, w e i l e s n i c h t i n B e z i e h u n g a u f e i n e ä u ß e r e A f f e k t i o n s t e h t . So trifft der Affektion gesetzt. Von der Empfindung wird niemand sagen, daß sie die Identität von Denken und Wollen sei1), sondern sie ist nur das Keins von beiden. Im Gefühl sind wir uns die Einheit des denkend wollenden und wollend denkenden Seins irgendwie, aber gleichviel wie, bestimmt. In dieseiyi also haben wir die Analogie mit dem transzendenten Grunde, nämlich die aufhebende Verknüpfung der relativen Gegensätze. Das unmittelbare Selbstbewußtsein ist aber nicht nur im Übergang; sondern, sofern Denken auch Wollen ist und umgekehrt, muß es auch in jedem Moment sein. Und so finden wir auch das Gefühl als beständig jeden Moment, sei er nun vorherrschend denkend oder wollend, immer begleitend. Es scheint zu verschwinden, wenn wir ganz in einer Anschauung oder in einer Handlung aufgehen; aber es scheint nur. Es ist aber auch immer nur begleitend. Es scheint bisweilen allein hervorzutreten und darin Gedanke und Tat unterzugehen; aber dies scheint nur, es sind immer Spuren des Wollens und Keime des Denkens oder umgekehrt beides, wenn auch wieder scheinbar verschwindend, darin mitgesetzt. Das religiöse Gefühl als R e p r ä s e n t a t i o n des t r a n s z e n d e n t e n Grundes 2 ). Diese Aufhebung der Gegensätze könnte aber nicht unser Bewußtsein sein, wenn wir uns selbst darin nicht ein Bedingtes und Bestimmtes wären und würden. Aber nicht bedingt und bestimmt durch etwas selbst im Gegensatz Begriffenes; denn insofern sind darin die Gegensätze nicht aufgehoben, sondern durch dasjenige, worin allein das Denkend-wollende und das Wollend-denkende mit seiner Beziehung auf alles übrige Eins sein kann, also durch den transzendenten Grund selbst. Diese *) „sei" fehlt i. d. Hs. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

a

) Rb.; fehlt bei Jon. 19

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z. B. ein S¿hmerz nicht das unmittelbare Selbstbewußtsein; er gehört in die allgemein^ Kategorie der Empfindung. Wir unterscheiden die Empfindung ebenso wie einen Gedanken, den wir einen Augenblick haben. Der Schmerz affiziert nur einen Teil und dieser konstituiert nicht das Selbstbewußtsein, sondern ist ihm entgegengesetzt, und wir können in demselben Moment eine schmerzhafte und angenehme Empfindung haben. Beides also ist nicht das Selbstbewußtsein, das immer fest stehen muß oder überhaupt nicht sein kann. Selbstbewußtsein und Ich verhalten sich wie Unmittelbares zu Mittelbarem. So stehen auch Gefühl und Affektion in genau demselben Verhältnis. Haben wir das Gefühl vom Ich unterschieden, so ist doch eins ohne das andere nicht zu denken. Es ist kein Ich-Setzen denkbar, wo nicht Gefühl gesetzt wird, und umgekehrt kein Gefühl denkbar, wo das Ich-Setzen nicht sein kann. Wir finden dies in unserer transzendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins nun ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse G e f ü h l , und in diesem also ist der transzendente Grund oder das höchste Wesen selbst repräsentiert. Sie ist also insofern, als in unserem Selbstbewußtsein auch das Sein der Dinge, wie wir selbst, als Wirkendes und Leidendes gesetzt ist, also sofern wir uns dem Sein der Dinge und dieses uns identifizieren; also als Bedingtheit alles Seins, welches in den Gegensatz der Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit verflochten ist, d. h. als allgemeines A b h ä n g i g k e i t s gefühl. Dieses religiöse Gefühl nun, vermittelst dessen der Urgrund ebenso in uns gesetzt ist, wie in der Wahrnehmung die Dinge ins uns gesetzt sind, ist die Ergänzung zu dem, was wir in unserem Verfahren noch vermissen; d. h. jede von unseren Formeln wird eine Beschreibung, des Urgrundes dadurch, daß wir sie auf dieses Gefühl beziehen, sei es die Formel des absoluten Subjektes oder der Urkraft oder des welterschaffenden Gottes oder selbst des Schicksals; wenn sie nur auf dieses Gefühl bezogen wird und sich im Bewußtsein mit demselben identifiziert, gewährt sie uns die Beruhigung. Ebenso aber, da im Gefühl immer das Bewußtsein Gottes verknüpft ist mit einem endlich bestimmten, unser und Entgegengesetztes zusammenfassenden Bewußtsein, so bedarf es einer Isolierung, und diese ist in der Beziehung auf jene Formeln, indem man sich sagt: dasjenige Element des Selbstbewußtseins, welches zugleich jenen Formeln, jeder unter anderen Umständen, entspricht, ist die Repräsentation des transzendenten Grundes in unserem Selbstbewußtsein, und diese ist immer sich selbst gleich, und also die Ergänzung der fehlenden Einheit.

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eigenen Erfahrung. Wir haben keine Vorstellung vom Ich ohne Reflexion. Dieses entwickelt sich erst allmählich im Menschen, nachdem sein physisches Leben schon begonnen. Bis zu diesem Punkt steht er dem tierischen Leben nahe, die Animalisation ist überwiegend; und über diese Zeit gibt es gar kein Gedächtnis; die spätere Entwicklung des Selbstbewußtseins findet f ü r jene Zeit keinen Anknüpfungspunkt. Jede Zeit ohne Selbstbewußtsein ist Null; so ist es also der Träger aller anderen Funktionen. Wie verhält sich dies zum Grund des denkenden Seins als Identität des Denkens und Wollens? Der transzendente Grund geht allem wirklichen zeiterfüllenden Denken vorher und folgt auf jedes", kommt aber in keiner bestimmten Zeit zur Erscheinung. Er manifestiert sich in der Zurückbeziehung auf das Frühere und in der Voraussetzung für das Künftige, indem er sich wie Unbedingtes zum Bedingten verhält. Er begleitet das wirkliche Denken auf zeitlose Weise, d. h. in der Aktion, in dem Bewußtsein des Denkens kommt er nie an und für sich zur E r scheinung, wird selbst nie Gedanke, ist nur als dasselbe begründend anzusehen. Er begleitet aber auch das wirkliche Sein auf eine zeitlose Weise als unmittelbares Selbstbewußtsein (Gefühl), wie es in jedem nicht däs unbeschränkte Persönliche des Einzelwesens, sondern das allgemein Menschliche ausdrückt. Er ist das Verknüpfende aller Momente beider Funktionen, des Denkens und Wollens, ist die Identität in der Verknüpfimg, ist das wirkliche Sein. Betrachten wir im Verhältnis hierzu die Funktionen des Denkens und Wollens. Das Denken setzt das Sein der Dinge in uns, weil sie uns Gegenstände sind; die Willenstätigkeit macht unser Sein zum Sein der Dinge, weil wir unsere Zweckbegriffe in ihm realisieren. So bleibt unser reines Sein nur im Selbstbewußtsein; in den beiden anderen Funktionen ist es schon mit dem Sein der Dinge vermischt. Wie können wir nun nachweisen, daß der transzendente Grund des Seins das Für-sich-sein des Denkenden auf zeitlose Weise begleitet? „Auf zeitlose Weise" heißt: es soll dieses Begleiten nicht in der Zeit erscheinen und daher nicht wahrgenommen, also auch nicht nachgewiesen werden können, d. h. es soll kein Korrelat in der organischen Funktion 19*

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zu finden sein. — So wäre also die Sache in sich selbst abgeschlossen. Wie aiber verhält sich das Zeitlose zum Zeitlichen und zum unmittelbaren Selbstbewußtsein? Dieses ist uns nie als ein die Zeit allein Erfüllendes, sondern immer nur in der Identität der entgegengesetzten Funktionen gegeben. Es ist ein in der Zeit Mitgesetztwerden. Kein Mensch kann die Forderung erfüllen, er solle sein mittelbares Bewußtsein ganz auslöschen, so daß nichts bleibe als das Selbstbewußtsein. Der Mensch ist sich seiner nur als eines tätigen oder leidenden bewußt; sonst müßte das Leben ausgelöscht werden. Zwischen dem unmittelbaren Selbstbewußtsein und dem reflektierten Ichbewußtsein gibt es immer noch ein Mittelglied. Jedes Gefühl ist stets von einer Affektion begleitet und ist nicht von den wechselnden Affektionen zu trennen. Könnten wir hiervon abstrahieren, so hätten wir das reine Selbstbewußtsein als ein Beharrliches, wo also keine Zeit, Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft gesetzt ist. Wir haben also im unmittelbaren Selbstbewußtsein das Gefühl auf zeitlose Weise. Denn in der Zeit bestimmt ist es nur durch das, was darin mitgesetzt ist. Doch leugnen wir nicht, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein in der Zeit gegeben ist, nur nicht f ü r sich allein, sondern mit einem andern. Eben deshalb können wir seine Zeitlosigkeit an und f ü r sich nicht leugnen. Es muß also möglich sein, daß wir die zeitlose Begleitung des transzendenten Grundes auf irgendeine Art erhalten. D i e s g e s c h i e h t n u n i m r e l i g i ö s e n B e w u ß t s e i n . Hier ist das unmittelbare Selbstbewußtsein auf dasjenige, was allem wirklichen Sein und allen Affektionen zugrunde liegt, gerichtet. Wir mögen uns diese Modifikationen des unmittelbaren Selbstbewußtseins erklären wie wir wollen, sei es als Fiktion oder Täuschung, so ist doch das Bestreben des Menschen darin ausgedrückt, das Transzendente zu ergreifen. Es ist etwas darin, was weder das Denken noch seine Beziehung auf das Sein ausdrückt; alles das bleibt hinter jenem zurück. Dies kann nur als ein Faktum hingestellt werden. Wir finden aber1 eine vollständige Analogie zwischen diesem und dem unmittelbaren Selbstbewußtsein. Denn wie dieses ist auch das religiöse Gefühl nie unmittelbar einen Moment erfüllend. Denn niemand wird einen Moment des Bewußtseins fixieren,

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wo die Beziehung des unmittelbaren Selbstbewußtseins auf den transzendenten Grund ganz rein, wäre. Wir haben es immer zugleich mit einem andern, d. h. unser Selbstbewußtsein ist immer von der äußeren Mannigfaltigkeit affiziert, zugleich aber auch vom transzendenten Grunde an sich, welcher alle Mannigfaltigkeit aufhebt. Diese beiden Seiten liegen immer im Selbstbewußtsein, und es gibt keinen Moment, wo die religiöse Seite ganz fehlte. Sie kann in einzelnen Momenten scheinbar verschwinden, wo das Selbstbewußtsein nur an seine zeitlichen Affektionen gebunden erscheint, aber niemals ganz. Ebenso gibt es Momente des Selbstbewußtseins, wo das religiöse Gefühl sehr stark hervortritt und alles andere zurück. Aber nie wird auch das religiöse Gefühl ganz allein dominieren» Vergleichen wir dies mit den Formeln, die wir für den transzendenten Grund des Seins seitens des Denkens und Wollens erhalten haben, und wobei wir nie eine Vielheit ausschließen konnten, so haben wir auch hier eine solche Vielheit, weil wir die religiöse Seite des Gefühls nicht sondern können von der nach außen gekehrten. Doch haben wir in jedem Moment die Rückkehr von diesem Geteilten zur ungeteilten Einheit. In allen religiösen Momenten werden die sich widersprechenden Momente aufgehoben, und Wechsellosigkeit ist der eigentliche Ausdruck der zeitlosen Begleitung des transzendenten Grundes in unserem wirklichen Sein. Wenn wir im Denken den transzendenten Grund suchen, so sind wir uns bewußt, nichts anderes als ihn zu suchen. Stellen wir jedoch irgendein Resultat auf, so werden wir nach verschiedenen Seiten hin und her gezogen und nie befriedigt. Solange wir bei der Funktion des Denkens allein bleiben, bleiben wir immer im Gegensatz; das eine Resultat negiert immer das andere. Das Suchen ist also rein, das Resultat dagegen unbefriedigend. Indem wir aber dieses Suchen auf die Art beziehen, wie das unmittelbare Selbstbewußtsein zeitlos in uns mitgesetzt ist, so ist damit das Komplement mitgegeben. In dieser Einheit haben wir den transzendenten Grund, aber wir haben ihn derart, daß wir zugleich zuviel haben. Es ist nämlich stets eine Affektion damit vermischt. Insofern wir aber irgendeine jener Formeln des Transzendenten auf das religiöse Gefühl beziehen,

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

so heißt dies, wir wollen sie ihm adäquat setzen, wobei wir zugleich das Bewußtsein haben, d a ß sie nicht adäquat ist. Der Mangel auf der einen Seite und das Zuviel auf der andern heben sich gegenseitig a u f ; beides zusammengenommen führt die eigentliche Befriedigung herbei. 623-

Verhältnis von Philosophie und Religion Das Wesentliehe unseres bisherigen Ganges bestand in folgendem: W i r gingen ursprünglich aus vom Interesse der Funktion des Denkens, und dies trieb uns auf den jenseits alles Bestimmten liegenden transzendenten Grund. Auf dem Gebiet des Denkens fanden wir keinen Ausdruck, der der Anforderung vollkommen entspräche. Nun war es leicht zu sehen, d a ß dies damit zusammenhängt, daß der Funktion des Denkens in uns immer ein relativ Entgegengesetztes gegenübersteht, und die relativen Gegensätze einander ergänzen. Hierauf gingen wir zurück, versetzten uns in das Interesse der Funktion des Wollens und parallelisierten den Prozeß, fanden aber doch nur wieder Einseitiges. Wir faßten deshalb die Gegensätze beider Funktionen selbst zusammen und kamen auf das unmittelbare Selbstbewußtsein als die IdenLII und LIII. V e r h ä l t n i s v o n P h i l o s o p h i e u n d R e l i g i o n . Durch diese Erklärung treten wir nun in die Mitte zwischen zwei entgegengesetzte Ansichten, deren eine glaubt, die Gefühlszustände lägen in einer Entwicklungsperiode, welche der Spekulation vorangehe, und diese sei also höher als Religion, die andere dagegen alle Versuche, Gott zu denken, aus dem Interesse des Gefühls ableitet 1 ). Wir sind gegen beide, i. Das Gefühl kann nie etwas bloß Vergangenes sein, weil es in uns selbst die Identität des Entgegengesetzten ist; und die Einheit, welche das Gefühl hinzubringt, ist durch das Denken nicht zu ersetzen. 2. Die Reflexion, welche über das Gefühl angestellt wird von denen, welche nicht im wissenschaftlichen Streben begriffen sind, bringt die Formeln nur in einem untergeordneten Sinne hervor, und es kann also die spekulative Tätigkeit, welche sich auf den transzendenten Grund richtet, nicht entbehrt werden. Alles Anthropoeidische, dessen freilich auch viel in die natürliche Theologie der Philosophen eingedrungen ist, kommt aus jener Quelle. Dieser Neigung wegen hält sich die Reflexion über das religiöse Gefühl, deren Ort die Glaubenslehre ist, vorzüglich an die Formel mit scheinbarer Duplizität. Hs.: „die andern im Gegenteil leiten

ab", korr. Jon.

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so heißt dies, wir wollen sie ihm adäquat setzen, wobei wir zugleich das Bewußtsein haben, d a ß sie nicht adäquat ist. Der Mangel auf der einen Seite und das Zuviel auf der andern heben sich gegenseitig a u f ; beides zusammengenommen führt die eigentliche Befriedigung herbei. 623-

Verhältnis von Philosophie und Religion Das Wesentliehe unseres bisherigen Ganges bestand in folgendem: W i r gingen ursprünglich aus vom Interesse der Funktion des Denkens, und dies trieb uns auf den jenseits alles Bestimmten liegenden transzendenten Grund. Auf dem Gebiet des Denkens fanden wir keinen Ausdruck, der der Anforderung vollkommen entspräche. Nun war es leicht zu sehen, d a ß dies damit zusammenhängt, daß der Funktion des Denkens in uns immer ein relativ Entgegengesetztes gegenübersteht, und die relativen Gegensätze einander ergänzen. Hierauf gingen wir zurück, versetzten uns in das Interesse der Funktion des Wollens und parallelisierten den Prozeß, fanden aber doch nur wieder Einseitiges. Wir faßten deshalb die Gegensätze beider Funktionen selbst zusammen und kamen auf das unmittelbare Selbstbewußtsein als die IdenLII und LIII. V e r h ä l t n i s v o n P h i l o s o p h i e u n d R e l i g i o n . Durch diese Erklärung treten wir nun in die Mitte zwischen zwei entgegengesetzte Ansichten, deren eine glaubt, die Gefühlszustände lägen in einer Entwicklungsperiode, welche der Spekulation vorangehe, und diese sei also höher als Religion, die andere dagegen alle Versuche, Gott zu denken, aus dem Interesse des Gefühls ableitet 1 ). Wir sind gegen beide, i. Das Gefühl kann nie etwas bloß Vergangenes sein, weil es in uns selbst die Identität des Entgegengesetzten ist; und die Einheit, welche das Gefühl hinzubringt, ist durch das Denken nicht zu ersetzen. 2. Die Reflexion, welche über das Gefühl angestellt wird von denen, welche nicht im wissenschaftlichen Streben begriffen sind, bringt die Formeln nur in einem untergeordneten Sinne hervor, und es kann also die spekulative Tätigkeit, welche sich auf den transzendenten Grund richtet, nicht entbehrt werden. Alles Anthropoeidische, dessen freilich auch viel in die natürliche Theologie der Philosophen eingedrungen ist, kommt aus jener Quelle. Dieser Neigung wegen hält sich die Reflexion über das religiöse Gefühl, deren Ort die Glaubenslehre ist, vorzüglich an die Formel mit scheinbarer Duplizität. Hs.: „die andern im Gegenteil leiten

ab", korr. Jon.

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tität beider, worin das Mangelhafte des Denkens und das Zuviel des Wollens aufgehoben ist. Das unmittelbare Selbstbewußtsein ist die Abspiegelung des Seins, inwiefern die Gegensätze von Denken und Wollen darin aufgehoben sind. Doch wäre dies nicht ohne die Funktionen, deren Identität hier gesetzt ist, die aber in relativem Gegensatze stehen. Nachdem wir also gehört haben, daß im religiösen Gefühl die Abspiegelung des Seins gesetzt ist, wenden wir uns der Frage zu, wie die Denkfunktion mit ihren Resultaten und die Funktion des unmittelbaren Selbstbewußtseins zueinander stehen. In der Geschichte der neueren Philosophie finden wir hier einen Gegensatz in bezug auf das Verhältnis beider Funktionen zum transzendenten Grunde. Einige setzen die Abspiegelung des transzendenten Grundes niedriger als die spekulative Tätigkeit und behaupten, das Religiöse müsse dem Philosophischen und Spekulativen als Durchgangspunkt vorausgehen. Andere stellen die religiöse Abspiegelung obenan als das Höchste, was die menschliche Natur erreichen kann; und die spekulative Tätigkeit sehen sie so durch jene bedingt an, daß sie nur die Reflexion über das enthalte, was in jener gegeben ist. Es ist nun nur ein Schein,, wenn behauptet wird, unsere Ansicht läge auf der letzteren Seite. Wir sind ja auf diese Betrachtung nur gekommen, weil unser erster Versuch mit den einseitigen Funktionen eines Komplementes bedurfte. Dies suchten wir zunächst in der Funktion der Willenstätigkeit. Doch waren wir uns der Gleichstellung beider Funktionen bewußt und gaben weder der einen noch der andern den Vorzug, bekämpften deshalb auch Kants Ansicht, daß Gott ein Postulat der praktischen Vernunft sei. Dasselbe gilt vom Verhältnis der Funktion des unmittelbaren Selbstbewußtseins zu den beiden anderen. Sie steht freilich als Einheit höher als die Gegensätze; doch sind diese Gegensätze wieder nur relativ aufgehoben. Das Selbstbewußtsein ist nie für sich da, sondern seiner Realität nach bedingt durch die beiden anderen Funktionen. Auf seiten der Denk- und Willensfunktion sind wir des transzendenten Grundes wohl inne geworden, nur konnten wir ihn nicht adäquat in einer dieser Formen ausdrücken; er erscheint weder im einzelnen Gedanken noch im einzelnen

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Wollen. Erkennen wir das Inadäquate der Lösung und nehmen jene beiden Funktionen zusammen, so haben wir ihn. Das unmittelbare Selbstbewußtsein kann den transzendenten Grund nicht isolieren, die Denk- und Willensfunktionen können dies zwar, aber ihr Ausdruck ist dem Transzendenten nicht adäquat. Das Zuviel im Selbstbewußtsein wird gutgemacht durch den Mangel in den Formeln der beiden anderen Funktionen. Hätten wir gleich anfangs das unmittelbare Selbstbewußtsein zuin Gegenstand unserer Betrachtung gemacht, so wären wir auf dasselbe Resultat gekommen. Wir hätten zwar gefunden, daß sich das absolute Sein darin abspiegelt; aber wir hätten es dann auch immer in Verbindimg mit einem anderen, dem endlichen Selbstbewußtsein, und wären genötigt, auf die anderen Funktionen zurückzugehen, um zu sehen, ob wir das Fehlende ergänzen könnten. Und so wäre zu jenem ebensosehr ein Komplement entstanden. Wir geben also keiner Funktion mit ihren Resultaten den Vorzug, beide stehen f ü r uns völlig gleich, indem jede eine andere Art von Unvollständigkeit hervorbringt. Beide ergänzen einander, so daß wir sagen müssen: Die Unmöglichkeit, im unmittelbaren Selbstbewußtsein den transzendenten Grund rein darzustellen^ wird ergänzt durch die gefundenen Formeln der anderen Funktionen; und umgekehrt ergänzt der transzendente Grund des Selbstbewußtseins jene Formeln. Diejenigen, welche die religiöse Seite des unmittelbaren Selbstbewußtseins über die Funktion der spekulativen Geistestätigkeit stellen wollen, verwechseln zwei ganz verschiedene Tätigkeiten miteinander. Es gibt freilich über das unmittelbare Selbstbewußtsein und über das Religiöse eine Reflexion, aber diese ist nicht die Analyse der Denkfunktion in bezug auf den transzendenten Grund, d. h. nicht dessen, worin wir hier begriffen sind. Wir finden die Resultate der Reflexion über das religiöse Selbstbewußtsein überall, wo die Religion zum Gegenstand der Kontemplation gemacht wird, d. h. in der Form der G l a u b e n s l e h r e ; und der transzendente Grund kann hier nicht anders betrachtet werden als in der Vermischung mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein. Daher herrscht in jeder Glaubenslehre eine durchgehende Vermenschlichung des transzendenten

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Grundes und eine Analogie mit dem menschlichen Bewußtsein vor, sie mag monotheistisch oder polytheistisch sein. Diese Anthropoisierung hat ihren Grund im Bewußtsein des Endlichen, womit immer das Selbstbewußtsein vermischt ist. Ganz anders ist unser Prozeß, in dem wir begriffen waren, bis wir die Funktion des unmittelbaren Selbstbewußtseins zu H i l f e rufen mußten. Wir gerieten in keine menschliche Analogie zum Transzendenten, sondern gelangten zu. Formeln, die bald mehr Leben und Freiheit, bald mehr T o d und Notwendigkeit aussprechen. Dies sind wesentlich verschiedene Tätigkeiten mit verschiedenen Tendenzen. Die eine will durch Reflexion den religiösen Gehalt des Selbstbewußtseins fixieren und bleibt dann stehen, ohne das Gefundene auf das Denken anzuwenden. Dies ist die Theol o g i e ; die andre will die Denkfunktion fixieren, was wir wollen. Es ist also ein großer Irrtum, beides zu identifizieren. Von allem, was vom höchsten Wesen ausgesagt werden kann, paßt nichts recht, sondern alles bleibt bildlich, wenn es auch noch so absolut erscheint, weil alle Prädikate verknüpft sind mit dem Endlichen, das dem Selbstbewußtsein unzertrennlich innewohnt. Allein auf der andern Seite werden wir von den Resultaten an und f ü r sich, die wir von der Denk- und Willensfunktion aus gefunden haben, sagen müssen, d a ß sie auch inadäquat sind. Z u einer Befriedigung in diesem Punkt kommen wir nur durch ein A u f einanderbeziehen, indem wir d i e Unreinheit des einen durch die Unvollständigkeit des andern vernichten.

6. Das Verhältnis von Gott und Welt §§216 D e r Wert der Formeln des transzendenten Grundes. OIS • 217 Eine zweite Betrachtung ist diese: diejenige Form des transzendenten Grundes, die wir vom Denken aus gefunden hatten und an welche sich die Reflexion über das religiöse Bewußtsein gewöhnlich anschließt, ist die von Gott als dem Weltschöpfer; im Polytheismus unvollkommen, am vollständigsten im Monotheismus. In dieser Form ist ein Verhältnis Gottes zur Welt gesetzt, und bei ihr mußten wir stehen-

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Grundes und eine Analogie mit dem menschlichen Bewußtsein vor, sie mag monotheistisch oder polytheistisch sein. Diese Anthropoisierung hat ihren Grund im Bewußtsein des Endlichen, womit immer das Selbstbewußtsein vermischt ist. Ganz anders ist unser Prozeß, in dem wir begriffen waren, bis wir die Funktion des unmittelbaren Selbstbewußtseins zu H i l f e rufen mußten. Wir gerieten in keine menschliche Analogie zum Transzendenten, sondern gelangten zu. Formeln, die bald mehr Leben und Freiheit, bald mehr T o d und Notwendigkeit aussprechen. Dies sind wesentlich verschiedene Tätigkeiten mit verschiedenen Tendenzen. Die eine will durch Reflexion den religiösen Gehalt des Selbstbewußtseins fixieren und bleibt dann stehen, ohne das Gefundene auf das Denken anzuwenden. Dies ist die Theol o g i e ; die andre will die Denkfunktion fixieren, was wir wollen. Es ist also ein großer Irrtum, beides zu identifizieren. Von allem, was vom höchsten Wesen ausgesagt werden kann, paßt nichts recht, sondern alles bleibt bildlich, wenn es auch noch so absolut erscheint, weil alle Prädikate verknüpft sind mit dem Endlichen, das dem Selbstbewußtsein unzertrennlich innewohnt. Allein auf der andern Seite werden wir von den Resultaten an und f ü r sich, die wir von der Denk- und Willensfunktion aus gefunden haben, sagen müssen, d a ß sie auch inadäquat sind. Z u einer Befriedigung in diesem Punkt kommen wir nur durch ein A u f einanderbeziehen, indem wir d i e Unreinheit des einen durch die Unvollständigkeit des andern vernichten.

6. Das Verhältnis von Gott und Welt §§216 D e r Wert der Formeln des transzendenten Grundes. OIS • 217 Eine zweite Betrachtung ist diese: diejenige Form des transzendenten Grundes, die wir vom Denken aus gefunden hatten und an welche sich die Reflexion über das religiöse Bewußtsein gewöhnlich anschließt, ist die von Gott als dem Weltschöpfer; im Polytheismus unvollkommen, am vollständigsten im Monotheismus. In dieser Form ist ein Verhältnis Gottes zur Welt gesetzt, und bei ihr mußten wir stehen-

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bleiben, als wir den transzendenten Grund suchten. Denn die absolute Kraft, unter der alles Erscheinende ist, läßt sich zurückführen auf die Idee der Welt, die alle Gegenstände einschließt und ebenso das absolute Subjekt, von dem nichts mehr prädiziert werden kann. Wie ist denn nun das Verhältnis in bezug auf die Verschiedenheit der gefundenen Formeln und die Unzulänglichkeit jeder einzelnen? Der transzendente Grund spiegelt sich im religiösen Gehalt des Selbstbewußtseins unmittelbar ab, aber die Reflexion hierüber hängt sich an jene einzelne Formel, die indessen für uns nicht mehr Wert hat als die andern. Wie sollen wir auch dem schöpferischen Verhältnis einsehen, daß ihm in der spekulativen Darstellung ein größeres Recht zukomme als den übrigen? Unser ganzes bisheriges Verfahren spricht dagegen. Die Duplizität bleibt in jener Formel immer versteckt. Auch der aus Nichts schaffende Weltschöpfer ist Künstler in Analogie mit dem Menschen; nur daß er sich zuerst seinen Stoff selbst macht. Auch dies ist eine unvollkommene Vorstellung, die keinen spekulativen Wert hat. Als religiöse Reflexion können wir uns über sie verständigen; aber auch nur für diese Betrachtungsweise ist sie Wahrheit. Verhältnis von Gott und Welt. Gehen wir nun auf unsere Formeln zurück mit der im Gefühl gefundenen supplierenden Einheit, so finden wir, daß sie einen doppelten Wert haben. Im Identifizieren von absoluter Krafteinheit und absoluter Erscheinungsfülle ist unmittelbar die Idee der Welt. So auch im absoluten Subjekt und der absoluten Gemeinschaftlichkeit. Es ist aber zugleich daran die Annäherung zum transzendenten Grunde. Es entsteht notwendig die Frage, wie sich die beiden Werte verhalten. — Erstlich1) negative Antwort. Nicht so wie in der Formel Gott und Weltschöpfer. Denn im Schaffen ist immer freie Handlung implicite mitgesetzt, und so denkt auch jeder, Gott hätte die Welt auch nicht schaffen können. Eine solche Formel für Gott, welche ihn von der Welt trennte2), wenn wir sie auch finden könnten, würde uns weder für unsere Aufgabe noch für die ethische nützlich sein, sondern wir könnten sie nur auf sich beruhen lassen. Denn gesetzt auch, man setzte, weil kein Grund zu einer Untätigkeit vorhanden ist, die Schöpfung ewig, so wäre doch mit der Freiheit notwendig der Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit gesetzt. Jon.: „zunächst"

2)

Jon.: „trennt".

Kritik des Schöpfungsbegriffs

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Wir können also nicht sagen, daß das Verhältnis Gottes zur Welt (als der Totalität des endlichen Seins) im Sinne von Schöpfer und Geschöpf als ein dem Verhältnis des transzendenten Grundes zum mannigfaltigen Sein Entsprechendes und ausschließend spekulativ Gültiges anzusehen sei. Doch ist das eine bloße Negation, und es knüpft sich daran die positive Aufgabe, durch ein rein spekulatives Verfahren den transzendenten Grund zu bestimmen, eine Aufgabe, die sich aus der gegenseitigen Beziehung beider Richtungen des Suchens, des religiösen Selbstbewußtseins und der Spekulation, ergibt. In einem eigentlichen dogmatischen Vortrage, wo das Verfahren jener Reflexion über das religiöse Selbstbewußtsein soll gerechtfertigt werden, kann die Frage entstehen, ob die eine Formel mehr spekulativen Wert hat als die andere. In unserer Betrachtung ist dies gleichgültig. Hier muß die eine Formel ebenso wie die andere, sofern sie als Darstellung des transzendenten Grundes eine versteckte Duplizität enthält, revidiert werden. Wir sehen, wie alle unsere Formeln unvollständig waren. Doch haben sie alle einen wahren Gehalt. Das absolute Subjekt, von dem nichts mehr prädiziert werden kann, in seiner Identität mit der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins, als in jenem absoluten Subjekt eingeschlossen, und ebenso die höchste Kraft, wovon das ganze System der Kräfte die natürlichen Erscheinungen sind —, diese Formeln enthalten aEe die Idee der Welt, denn sie sprechen die Totalität des Seins aus. Wenn wir sagen: Wir kommen an der Grenze des Denkens auf die Vorstellung von einem absoluten Subjekt, so heißt das: die Idee der Welt ist die Grenze unseres wirklichen Denkens, der transzendente Grund liegt außerhalb dieser Grenze. Und so haben wir an jenen Ausdrücken nur einen Weg, vom wirklichen Denken aus dorthin zu kommen. Unsere Formeln für den transzendenten Grund haben einen d o p p e l t e n W e r t : erstens einen r e a l e n , inwiefern sie die Idee der Welt (Totalität des Seins) ausdrücken, und zwar a) in der Form des Begriffs (absolute Kraft und absolute Fülle der Erscheinung), und b) in der Form des Urteils (absolutes Subjekt und absolute Mannigfaltigkeit der Prä-

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

dikate); zweitens einen approximativen oder s y m b o l i s c h e n Wert, nämlich den transzendenten Grund auszudrücken, was nicht adäquat geschieht. Z u dieser Unvollständigkeit haben wir in uns das Komplement, nämlich den Besitz des transzendenten Grundes im immittelbaren Selbstbewußtsein. Das können wir mit demselben Recht sagen, wie wir sagen können, daß durch unsere organische Funktion das Sein der Dinge in uns gesetzt sei. Unsere Formeln drücken jede auf ihre Weise die Idee der Welt aus, und die Frage ist nun: Wie verhalten sich diese doppelten Werte, die Idee der Welt und die Idee des transzendenten Grundes, zueinander ? In der Formel vom Weltschöpfer haben wir dieses Verhältnis schon früher gehabt, obgleich unvollständig; hier können wir anknüpfen'. In dieser Formel liegt immer eine versteckte Duplizität. Setzt man sie auch unter der günstigsten Form, worin das ewige Sein einer Materie geleugnet wird, so liegt in der Idee der Schöpfung immer die Vorstellung von einer freien Produktivität des höchsten Wesens und die Totalität des Seins als deren Resultat. So sind also die beiden Ideen, der höchste Grund und die Totalität des Seins, voneinander getrennt und unabhängig. Es liegt dies freilich im strengen Begriff „Schaffen". Bedeutet dies nur Hervorbringung überhaupt, so müssen wir den Gegensatz wieder aufnehmen von Stoff und Form und müssen sagen, daß hier beides auf dunkle Weise zusammen sei. Immer aber bleibt der Begriff des Schaffens im Gebiet der freien Handlung. Sagen wir: „Der Mensch schafft etwas", so ist der Begriff zwar im uneigentlichen Sinne gebraucht, bezeichnet aber immer eine freie Produktivität. Sagen wir: „Gott hat die Welt geschaffen", so liegt im Hintergrund versteckt die Vorstellung, er hätte sie auch nicht schaffen können. Leugnen wir dies, so verliert der Begriff seine eigentliche Dignität, und wir kommen dann immer entweder auf ein untergeordnetes Produzieren zurück, welches nicht Hervorbringen des Stoffes und der Form zugleich ist, oder es ergibt sich eine völlige Gleichheit und also auch gleiche Ursprünglichkeit beider Ideen. Diese Idee hat daher mehr in der religiösen Reflexion ihren Sitz als in der Spekulation. Im Begriff Gottes als

Kritik des Schöpfungsbegriffs

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Weltschöpfers liegt der Begriff einer freien Handlung, und dadurch wird der transzendente Grund von der Totalität des Seins so getrennt, wie er uns gar nicht gegeben ist und nicht auf dem Wege unserer Untersuchung liegt. Denn nicht einmal als Aufgabe, geschweige als Resultat, ist uns gegeben, den transzendenten Grund zu haben anders als in Beziehung auf das Sein, mögen wir von der Funktion des Denkens oder Wollens oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins ausgehen. Das letzte ist die Identität des Denkens und Wollens, worin der Typus der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins gesetzt ist. Das Bewußtsein Gottes haben wir immer mit dem Bewußtsein der Gemeinschaftlichkeit alles Seins in unserem Selbstbewußtsein, d. h. nicht anders als in dem Moment, wo unser Sein mit dem Sein außer uns verknüpft ist. Nur in Beziehimg auf den Komplexus des Denkens, als der Totalität des Seins entsprechend, haben wir den transzendenten Grund gesucht und könnten ihn auch nicht anders als in diesem Zusammenhange suchen. Dasselbe wäre der Fall, wenn wir den ganzen Weg von der Funktion des Wollens aus gemacht hätten, d. h. wenn unsere ganze Aufgabe keine logische, sondern eine ethische gewesen wäre. Unser Zweck hätte nur sein können, die Zusammenstimmung alles menschlichen Wollens zu suchen. Der transzendente Grund des Wollens würde sich auch dann gewiß immer auf die Totalität der ethischen Aufgabe unseres Daseins bezogen haben. Eine solche Trennung dieser beiden Ideen Gottes oder des transzendenten Grundes und der Welt als der Totalität des Seins ist uns also gar nicht gegeben. Wir haben kein anderes Interesse am transzendenten Grunde als immer in Beziehung auf die Idee der Welt; und auch in unserem unmittelbaren Selbstbewußtsein ist er uns nie anders als in Verknüpfimg mit demselben gegeben. In der Trennung von der Welt wäre er etwas, was wir weder kennten noch wollten. Jeder Versuch, den transzendenten Grund in solcher Verbindungslosigkeit mit der Idee der Welt darzustellen, zerstört immer sich selbst. Im Ausdruck „Schöpfung" wird immer auf das Gebiet der freien Handlung zurückgegangen, d. h. auf eine Handlung, die unter Umständen auch nicht sein könnte. Dann aber müssen wir das höchste Wesen auch ohne Geschaffenes

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

und ohne Welt denken können. Dies aber ist unmöglich, denn wir würden dann alles zerstören, was wir in der Annäherung zum absoluten Grunde gefunden haben. Alles, was aus der Reflexion über das religiöse Gefühl entsteht, hat nur einen Sinn, wenn wir uns Gott mit einer Welt denken. Reduzieren wir den Begriff „Schöpfer" auf den der Allmacht und Liebe als die Tendenz, sich zu manifestieren, so sind dies auch nur inadäquate Ausdrücke für den transzendenten Grund. Denn Allmacht ohne Produkt und Liebe ohne Gegenstand werden zu leeren Formeln; der reale Gehalt hört auf. Das Verhältnis beider Werte unserer Formeln, des realen und symbolischen, muß ein solches sein, daß das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann. Die Art, wie die Idee des transzendenten Grundes entstanden ist, verbietet, sie ohne die Idee der Welt zu denken; aber die Idee der Welt verbietet uns, sie zu denken ohne Bezug auf den transzendenten Grund; denn wir bedürfen des transzendenten Grundes als Voraussetzung für jeden Akt unseres Denkens, das ein Wissen werden will, und für jede Art des Wollens, das sittliche Tat werden will. Ist jede einzelne Erscheinung bedingt durch den transzendenten Grund, so muß es auch die Totalität der Erscheinungen sein. Bei der Idee der Welt können wir daher nicht stehenbleiben. Der reale Wert der Formeln genügt also nicht; und so haben wir die Formeln auch gleich hinsichtlich ihres approximativen Wertes geschätzt und betrachtet. So wie wir nicht bei einem Punkte im Gegensatz von Kraft und Erscheinung stehenbleiben können, so auch nicht bei der Idee der Einheit der Kräfte. Die negative Seite unserer Behauptung steht also nach beiden Seiten hin fest: die Totalität des Seins, vom transzendenten Grunde getrennt, hört auf, dies zu sein und wird zu einer leeren Formel, und umgekehrt. Beide haben wir nur in Beziehung aufeinander. Welches ist nun diese Beziehung? Wir müssen diese negativen Formeln auf eine positive Weise auszudrücken suchen. 64-

7-

Der Unterschied im Transzendenzcharakter von Welt

und Gott. Schon die geschichtliche Betrachtung kann uns §bis8 die Vermutung geben, daß wir einen vollkommenen posi-t 224 tiven Ausdruck dieses Verhältnisses nicht finden werden, da

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und ohne Welt denken können. Dies aber ist unmöglich, denn wir würden dann alles zerstören, was wir in der Annäherung zum absoluten Grunde gefunden haben. Alles, was aus der Reflexion über das religiöse Gefühl entsteht, hat nur einen Sinn, wenn wir uns Gott mit einer Welt denken. Reduzieren wir den Begriff „Schöpfer" auf den der Allmacht und Liebe als die Tendenz, sich zu manifestieren, so sind dies auch nur inadäquate Ausdrücke für den transzendenten Grund. Denn Allmacht ohne Produkt und Liebe ohne Gegenstand werden zu leeren Formeln; der reale Gehalt hört auf. Das Verhältnis beider Werte unserer Formeln, des realen und symbolischen, muß ein solches sein, daß das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann. Die Art, wie die Idee des transzendenten Grundes entstanden ist, verbietet, sie ohne die Idee der Welt zu denken; aber die Idee der Welt verbietet uns, sie zu denken ohne Bezug auf den transzendenten Grund; denn wir bedürfen des transzendenten Grundes als Voraussetzung für jeden Akt unseres Denkens, das ein Wissen werden will, und für jede Art des Wollens, das sittliche Tat werden will. Ist jede einzelne Erscheinung bedingt durch den transzendenten Grund, so muß es auch die Totalität der Erscheinungen sein. Bei der Idee der Welt können wir daher nicht stehenbleiben. Der reale Wert der Formeln genügt also nicht; und so haben wir die Formeln auch gleich hinsichtlich ihres approximativen Wertes geschätzt und betrachtet. So wie wir nicht bei einem Punkte im Gegensatz von Kraft und Erscheinung stehenbleiben können, so auch nicht bei der Idee der Einheit der Kräfte. Die negative Seite unserer Behauptung steht also nach beiden Seiten hin fest: die Totalität des Seins, vom transzendenten Grunde getrennt, hört auf, dies zu sein und wird zu einer leeren Formel, und umgekehrt. Beide haben wir nur in Beziehung aufeinander. Welches ist nun diese Beziehung? Wir müssen diese negativen Formeln auf eine positive Weise auszudrücken suchen. 64-

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Der Unterschied im Transzendenzcharakter von Welt

und Gott. Schon die geschichtliche Betrachtung kann uns §bis8 die Vermutung geben, daß wir einen vollkommenen posi-t 224 tiven Ausdruck dieses Verhältnisses nicht finden werden, da

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jede Formel bisher immer einen Gegensatz bei sich hatte. E s ist auch an und f ü r sich schon schwierig, den Übergang von einem Negativen zu einem Positiven zu finden. Und ohne die Geschichte der Sache zu Hilfe zu nehmen, Jcann man aus unserem letzten Verfahren und aus den Resultaten desselben folgern, daß wir auf einem Gebiete sind, wo wir eine positive Formel nicht zutage fördern können, da sie entweder mehr nach der Seite des Denkens im engeren Sinne oder mehr nach der Seite der Wahrnehmung stattfinden müßte. U n d beides scheint nicht zu genügen. L I V . Bestimmter kann man sagen: Keiner von beiden Werten kann ohne den andern gesetzt werden. K e i n G o t t ohne W e l t , so wie keine W e l t ohne Gott. (§ 219, 2.) Zu einem positiven Ausdruck ist nicht zu kommen, weil wir den einen Wert wenigstens vollständig haben müßten; allein die Welt ist auch, wenngleich in einem untergeordneten Sinne, transzendental (§ 218), sofern nämlich, als sie uns nie und nirgend, auch nicht im unendlichen Prozeß der Zusammenfassung aller Erscheinung, kann organisch gegeben sein, sondern immer nur gedacht. Eine Seite der Denkfunktion ohne die andere gibt kein vollständiges Denken auf dem Wege zum Wissen. (Digr. Ein jedes Ding 1 ) ist zwar ein Unendliches und ist uns nie vollständig organisch gegeben, weil man Raum und Zeit ins Unendlichkleine teilen kann, aber es ist uns doch in einem Akt der Wahrnehmung gegeben, welches bei der Welt unmöglich ist.) Logisch zwar kann man das Verhältnis denken: G o t t = E i n h e i t mit A u s s c h l u ß aller G e g e n s ä t z e ; W e l t = E i n h e i t mit E i n s c h l u ß aller G e g e n s ä t z e . Aber real ist es nicht auszudrücken als nur: es muß im Sein etwas = x diesem logischen Ausdruck entsprechen, und dies ist das Obige. Gott nicht ohne Welt, weil wir nur von dem durch die Welt in uns Hervorgebrachten auf Gott kommen. Die Welt nicht ohne Gott, weil wir die Formel für sie nur finden als etwas Unzureichendes und unserer Forderung nicht Entsprechendes. In diesem notwendigen Zusammendenken liegt aber auch, daß beides gedacht werde als ineinander aufgehend (§ 216, 7). Wenn wir dies so ausdrücken: wenn G o t t über die W e l t h i n a u s r a g t e , so w ä r e e t w a s in ihm nicht w e l t b e d i n g e n d ; u n d wenn die W e l t über G o t t h i n a u s r a g t e , so w ä r e e t w a s in ihr n i c h t g o t t b e d i n g t , so scheinen wir hier doch einen realen Zusammenhang zu setzen, worin Gott aktiv und die Welt passiv erscheint. Dieser sagt aber nichts anderes aus, als daß Gott die noch weiter zurückliegende Voraussetzung ist, also auch die Quelle der totalen, in der Welt als Einheit aller Kraft gesetzten Aktivität. An sich ist es auch nichts, weil die bloße 1

) ,,Ding" fehlt bei Jon.

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Wir müssen hier noch, etwas nachholen. Wenn wir den Ausdruck „ t r a n s z e n d e n t " in dem Sinne nehmen, daß er etwas über das gewöhnliche Denken Hinausgehendes ist, so ist die Idee der Welt ebenso transzendent wie die Idee der Gottheit. Denn, damit sie ein Wissen werden könnte, müßte sie ebenso von selten der Wahrnehmung wie von seiten des Denkens im engeren Sinne gegeben sein, d. h. sie müßte vollkommene Anschauung werden. Dies ist aber nicht möglich, denn für die Erfahrung ist die Welt unendlich und also nie erschöpf bar durch die organische Funktion. In gewisser Hinsicht ist jedes Ding ein Abbild der Welt; ein Unendliches für die Analysis, während die Welt ein Unendliches der Synthesis nach ist. Jeder einzelne Gegenstand, der uns organisch affiziert, ist seinem Umfang nach ein endlicher, aber innerhalb desselben ein unendlicher für das Organ, weil sowohl die erfüllte Zeit wie der erfüllte Raum nach Passivität kein Sein ist; also muß auch die Welt ursprünglich aktiv sein, weü sie ursprünglich ist; sondern hierauf ausgedehnt kommen wir wieder auf die Schöpfung aus nichts zurück. Ganz dem dialektischen Gange entsprechend ist also nur der Ausdruck: Wir können beide realiter nicht identifizieren, weil die beiden Ausdrücke nicht identisch sind; wir können sie auch nicht ganz voneinander trennen, weil es nur zwei W e r t e für dieselbe Forderung sind, auch apagogisch jedes bestimmte Verhältnis unhaltbar ist, und ohne bestimmtes Verhältnis keine wahre Trennung s t a t t f i n d e t . — Dasselbe ist versinnlicht durch den Streit, ob Gott in der Welt oder außerhalb der Welt sei. Das Außerhalb 1 ) setzt einen Gegensatz, der notwendig rückwirkend in Gott einen Gegensatz zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit hervorbringt, wie davon die natürlichen Theologien, welche auf der Schöpfungstheorie ruhen, voll sind. Das Innerhalb geht wesentlich zurück darauf, Gott zu natura naturans und Weltordnung zu machen. Nachdem wir nun hier die Grenze gefunden für das Bestreben, in dem 'Ausdruck des transzendenten Grundes auch das ihm als Sein Entsprechende wieder auszudrücken, so kommen wir nun zurück zu der Identität der transzendenten und formalen Seite und fragen, wie sich beide W e r t e in dieser Hinsicht verhalten. Die Formeln, welche den terminus a quo ausdrücken, sind, auf die Idee der Welt bezogen, rein negativ, also nichtig. Daher drückt sie durchaus nur den terminus ad quem aus. Auf Hs. : „extramund."; korr. Jon.

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¡innen unendlich teilbar ist. Aber die Totalität des Seins kann nie als Einzelnes gefaßt werden; denn dann hörte sie auf, die Kraft zu sein, die nicht wieder Erscheinung ist, sie wäre selbst nur Erscheinung. Sie kann daher nur von der Seite der intellektuellen Funktion aufgefaßt werden als Formel oder als Idee und kann nie in der Wahrnehmung aufgehen und also auch nie ein Wissen werden. D i e I d e e d e r W e l t ist a l s o e b e n s o t r a n s z e n d e n t wie d i e Idee der Gottheit. Jedoch ist deshalb beides nicht das gleiche; wir können die Idee der Welt und die Idee Gottes nicht identifizieren. Denn die Aufgabe, die Welt in der Identität beider Funktionen aufzufassen, ist der analog, den einzelnen Gegenstand innerhalb der Identität als einen Gegenstand des Wissens aufzufassen; dagegen die Idee der Gottheit im Bewußtsein zu realisieren, ist eine zum wirklichen Wissen heterogene Aufgabe. Alles, was in die Idee der Welt aufgenommen die Idee der Gottheit aber bezogen, lassen sich beide Enden absolut verknüpfen, also verhält sie sich zu unserem Denken völlig gleich als /terminus/ a quo und ad quem. Das heißt, jedes wirkliche Denken, sofern es durch Approximation der Idee des Wissens entspricht, ist ein Teil der Idee der Welt, wenngleich diese niemals vollständig wird; sie wird aber doch durch jedes Hinzufügen mehr ausgefüllt. Wogegen die Idee der Gottheit in gar keinem Verhältnis steht zum Fortschreiten, sondern nur zu jedem einzelnen Denken an und für sich, und zwar so, daß jeder partielle Gedanke und jeder Komplexus sich zu derselben gleich verhält, wie auch natürlich groß und klein, Einheit und Vielheit nicht für sie ist. — Es muß also in unserem Erkennen eine beständige Beziehung auf beide stattfinden; aber natürlich wird diese nicht gleich sein. Ich nenne die Richtung auf die Idee der Welt die philosophische oder weltweisheitliche (Digr. Der Name ist hierin begründet als der unsrige, und alle Polemik dagegen, daß er keine richtige Übersetzung wäre, nichtig, denn Übersetzungen dieser Art können nicht etymologisch sein), die andere die theosophische. Die letztere, weil Minimum und Maximum für sie gleich und keine Fortschreitung in ihr angelegt ist, endet, wenn sie sich isoliert, in das gymnosophistische Brüten über die Nasenspitze. Die erstere, isoliert, verliert den Unterschied zwischen dem Wissen und willkürlichen Denken und wird phantastisch, wenn sie vom Denken im engeren Sinne ausgeht; oder sie verliert den Unterschied zwischen der organischen Art der Erfüllung, wenn sie vom Wahrnehmen ausgeht, und wird atomistisch. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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werden kann, ist ebensowohl unter der Form des Begriffs wie unter der des Urteils möglich, und das vollkommene Wissen wäre die Identifikation beider. Der transzendente Grund aber weißt beide Formen ab und kann ebensowenig unter der einen wie unter der anderen Form gedacht werden. Hieraus sehen wir, wie wenig wir imstande sind, das Verhältnis zwischen beiden Ideen auf positive Art auszudrücken, weil wir hierzu wenigstens einen der beiden Gegenstände haben müßten; denn dann könnten wir das andere Glied ausdrücken unter der Form einer bestimmten Beziehung auf dieses. Die Idee der Welt entspricht der Grenze unseres Denkens als terminus ad quem. Alles wirkliche Denken, inwiefern es ein Wissen wird, bleibt also hinter der wirklichen Konstruktion der Idee der Welt zurück. Es scheint also, als wären wir gezwungen, auf den negativen Ausdruck dieses Verhältnisses beschränkt zu bleiben. Zwar wäre es nicht schwer, ihn in einen positiven zu verwandeln, also z. B. zu sagen: die Idee der Welt und der Gottheit sind Korrelate. Dies wäre der Form nach ein positiver Ausdruck, nicht dem Wesen nach. Die Relation ist nicht angegeben, daher ist es unbestimmt und wie alles Unbestimmte negativ. Allein diese negative Formel ist doch insofern wieder positiv, als sie uns Grenzen steckt, innerhalb deren wir uns nur bewegen dürfen, und fordert, d a ß w i r i m m e r d i e Idee der Welt und der Gottheit verbinden müss e n , ohne das, was durch das eine oder das andere geschehen ist, zu zerstören, d. h. wir dürfen in keine Idee etwas setzen, wodurch die Untrennbarkeit aufgehoben wird. Sie gibt uns ein Regulativ für unser Denken, den Grund des Denkens weder unter der Form des Begriffs noch des Urteils aufzufassen. Wenn wir nun fragen, wie sich die objektiven Werte der gefundenen Formeln, der reale und symbolische, für das Interesse der Funktionen des Denkens überhaupt verhalten, so läßt sich doch etwas Bestimmtes, das an und für sich Gehalt hat, ausmitteln. Die Idee der Welt ist als Wissen unerreichbar; so aber, daß sie allein den terminus ad quem des Denkens darstellt. Jedes vollzogene Denken, unter der Form des Wissens gefaßt, ist ein Bestandteil der unendlichen Aufgabe, die Welt in der Identität der intel-

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lektuellen und organischen Funktion aufzufassen, und ist ein wirklicher Teil ihrer Lösung. (In der Approximation zur Idee des Wissens angesehen, ist jedes wirkliche Denken ein integrierender Bestandteil der Lösung der Aufgabe, die Welt anzuschauen.) Was nun die Idee der Gottheit betrifft, so müssen wir sagen, d a ß kein wirkliches Denken ein integrierender Teil der Aufgabe, die Idee der Gottheit aufzufassen, sein kann. An dieser Idee gibt es gar nichts Teilbares, da sie die absolute Einheit ist. Da ist auch keine Identität der beiden Funktionen, weil jede von ihnen zum transzendenten Grund irrational ist. Jedes wirkliche Denken in seiner Approximation zum Wissen ist immer außerhalb der Aufgabe, den transzendenten Grund als wirklichen Gedanken zu vollziehen. Dies ist dasselbe, was wir früher so ausdrückten: Der transzendente Grund m u ß das Wirkliche, wie dieses in Raum und Zeit gesetzt ist, auf eine zeitlose Weise begleiten; o d e r : Die Idee der Gottheit begleitet immer unser Denken als terminus a quo. Der transzendente Grund bleibt immer außerhalb des Denkens und wirklichen Seins, aber ist immer die transzendente Begleitung und der Grund beider. E s gibt daher keine andere Repräsentation dieser Idee als im unmittelbaren Selbstbewußtsein; denn in die beiden Formen der Denkfunktionen kann er nie aufgehen, weder als terminus ad quem noch a quo. Fragen wir in Beziehung auf die Identität der beiden Seiten unserer Aufgabe, wie sich die Korrelate Gott und Welt zur Fortschreitung unseres wirklichen Wissens verhalten, so müssen wir sagen: D i e I d e e d e r G o t t h e i t h a t zu j e d e m e i n z e l n e n D e n k e n d a s s e l b e V e r h ä l t n i s wie zum g e s a m t e n K o m p l e x u s des Wiss e n s . Sie ist Grund des einzelnen Denkens wie des ganzen. Ganz anders steht es mit der Idee der Welt. Diese verhält sich zum ganzen Komplexus des Wissens anders wie zu den einzelnen Teilen. Denn wäre uns jener gegeben, so entspräche er wirklich der Welt, und jedes Einzelne ist nur eine größere oder geringere Annäherung an diese Idee. § 227

Theosophie und Philosophie. Es bleibt noch eins hinzuzufügen und vielleicht noch einige kritische u n d historische 20*

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lektuellen und organischen Funktion aufzufassen, und ist ein wirklicher Teil ihrer Lösung. (In der Approximation zur Idee des Wissens angesehen, ist jedes wirkliche Denken ein integrierender Bestandteil der Lösung der Aufgabe, die Welt anzuschauen.) Was nun die Idee der Gottheit betrifft, so müssen wir sagen, d a ß kein wirkliches Denken ein integrierender Teil der Aufgabe, die Idee der Gottheit aufzufassen, sein kann. An dieser Idee gibt es gar nichts Teilbares, da sie die absolute Einheit ist. Da ist auch keine Identität der beiden Funktionen, weil jede von ihnen zum transzendenten Grund irrational ist. Jedes wirkliche Denken in seiner Approximation zum Wissen ist immer außerhalb der Aufgabe, den transzendenten Grund als wirklichen Gedanken zu vollziehen. Dies ist dasselbe, was wir früher so ausdrückten: Der transzendente Grund m u ß das Wirkliche, wie dieses in Raum und Zeit gesetzt ist, auf eine zeitlose Weise begleiten; o d e r : Die Idee der Gottheit begleitet immer unser Denken als terminus a quo. Der transzendente Grund bleibt immer außerhalb des Denkens und wirklichen Seins, aber ist immer die transzendente Begleitung und der Grund beider. E s gibt daher keine andere Repräsentation dieser Idee als im unmittelbaren Selbstbewußtsein; denn in die beiden Formen der Denkfunktionen kann er nie aufgehen, weder als terminus ad quem noch a quo. Fragen wir in Beziehung auf die Identität der beiden Seiten unserer Aufgabe, wie sich die Korrelate Gott und Welt zur Fortschreitung unseres wirklichen Wissens verhalten, so müssen wir sagen: D i e I d e e d e r G o t t h e i t h a t zu j e d e m e i n z e l n e n D e n k e n d a s s e l b e V e r h ä l t n i s wie zum g e s a m t e n K o m p l e x u s des Wiss e n s . Sie ist Grund des einzelnen Denkens wie des ganzen. Ganz anders steht es mit der Idee der Welt. Diese verhält sich zum ganzen Komplexus des Wissens anders wie zu den einzelnen Teilen. Denn wäre uns jener gegeben, so entspräche er wirklich der Welt, und jedes Einzelne ist nur eine größere oder geringere Annäherung an diese Idee. § 227

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Bemerkungen. Unser wirkliches Denken, auf die Idee des Wissens bezogen, ist nie ohne Beziehung auf diese beiden Ideen, die beide ihre Wurzeln in der Grenze des Denkens haben: eine, worin die Beziehung auf die Welt, und eine zweite, worin die Beziehung auf die Gottheit vorherrscht. Wir wollen die erste die p h i l o s o p h i s c h e und die andere die t h e o s o p h i s c h e Richtung nennen. Man hat gegen die Übersetzung von Philosophie durch Weltweisheit protestiert. Doch ist es gar keine Übersetzung, weil es davon eine solche überhaupt nicht gibt. Aber realiter gehen beide ineinander auf. In jener, der Weltweisheit, welche immer das Wissen in bezug auf die Idee der Welt konstituiert, gibt es ein extensives Zunehmen des Wissens, also ein Wachsen. Denn jedes neue Denken, wenn es e i s Wissen wird, ist ein integrierender Bestandteil der Welt oder des ganzen Komplexus des Seins. Für die andere, die theosophische Richtung, in der sich jedes einzelne Denken zum Grenzpunkt ebenso verhält wie der Komplexus, gibt es kein Interesse des Wachstums. Jenes hat also die Form des bestimmten Fortschreitens, dieses die eines immerwährenden Gleichbleibens. Daher ist das eine das Komplement des andern. Jeder philosophische Prozeß läuft ohne das theosophische Moment Gefahr, phantastisch zu werden, wenn er die Willkür zu weit treibt. Jeder theosophische Prozeß, der nicht zugleich philosophisch ist, droht durch immerwährende Indifferenz ganz gehaltlos zu werden und in die Nullität überzugehen, weil keine Tendenz zum Fortschreiten da ist. Man könnte meinen, diese Unterscheidung sei dem Sprachgebrauch nicht gemäß. Wir sind gewohnt, Leute wie Jakob Böhme und seinesgleichen Theosophen zu nennen. Aber auch sie sind auf eine wahre Weltkonstruktion und von der Absicht, den Komplexus des Seins als einen Komplexus des Wissens von bestimmten Ideen aus zu konstruieren, ausLV. Anm. i. Über Theosophie und Philosophie. Nach der obigen Ansicht scheinen Böhme und Fludd keine Theosophen zu sein. Denn sie gehen auf Weltkonstruktion aus. Diese ist ihnen aber freilich nur Mittel, dessen sie deshalb bedürfen, weil sie das Gefühl für den Unterschied des wirklichen Denkens vom phantastischen wegen ihrer Losreißung von der Tradition verloren hatten. Die Tendenz war also theosophisch, und die philosophische Ausführung diente nur als Mittel.

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gegangen. Und dies fiele also ins Gebiet der Philosophie. Hier aber werden sie als ein Auswuchs behandelt. Den Namen von eigentlichen Philosophen verdienen sie nicht, denn sie schließen sich mit ihrer Methode nicht an das Geschichtliche an; jeder Begriff aber hat zugleich eine geschichtliche Seite. Negiert man diese, so spricht man dem Begriff auch seinen Namen ab. Solche Systeme erscheinen im Vergleich mit deim eigentlichen philosophischen Bestreben als subjektives und willkürliches Denken. Dies ist das Resultat, wenn die theosophische Richtung von der philosophischen isoliert wird. Das Willkürliche besteht darin, daß alles wirkliche Sein nur als Symbol behandelt wird und die Behandlungsweise nicht auf den Zweck hinweist, das wirkliche Sein zu konstruieren, sondern daß man durch das Symbolisieren das Symbolisierte, d. h. die Idee der Gottheit, finden will. Insofern sind dergleichen Leute Theosophen. Aber das Mittel, dessen sie sich bedienen, um dahin zu gelangen, ist philosophisch. Von Seiten des Werkes gehören sie hierher, in der Gesinnung sind sie Theosophen; daß beides zusammen sein muß, ist das einzig Wahre an dieser Richtung. Das rein Theosophische aber bedarf eines solchen philosophischen Hilfsmittels nicht; denn es ist möglich, jedes Denken, das unter die Form des Wissens gebracht ist, auf den transzendenten Grund unter der Form der Gottheit zu beziehen. Mit dem Ausschließen vom Geschichtlichen geht das Gefühl des Unterschiedes verloren zwischen dem Denken, das zum Wissen führt, und dem phantastischen Denken. Im Gebiet der Erfahrung und geschichtlichen Tradition reinigt sich das Gefühl. Indem sich solche mystischen Theosophen von der geschichtlichen Tradition entfernten, verunreinigte sich das Gefühl und wurde ungewiß. Dagegen konstruieren sie sich alles im Zusammenhange. Und dies ist die Genesis aller pseudophilosophischen Konstruktionen. Der absolute Wert der Denkgrenze steht in gleichem Verhältnis zu jedem Denken, das Wissen werden will. Das Verhältnis zur Idee der Welt nimmt alle Gegensätze des Großen und Kleinen, Einfachen und Zusammengesetzten, der Vermehrimg und Verminderung in sich auf. So können wir also sagen, daß bei demjenigen, was hier gesagt ist, wenn man

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Schleiermachers Dialektik

es nur auf die gewöhnliche Ausdrucksweise bezieht, der gemachte Unterschied nicht gefährdet wird. Philosophie und Dogmotik. Wir haben hier in geschichtlicher Betrachtung auf zweierlei zu achten, das aber o f t ineinandergeht, und dessen Trennung nicht zum Bewußtsein gekommen ist. Die Geschichte der Reflexion über die unmittelbare Wahrheit Gottes, die in unserem Selbstbewußtsein unter der F o r m des religiösen Gefühls niedergelegt ist, kann nur auf uneigentliche Weise verfahren; und alle Vermenschlichung gehört ins Gebiet derselben, nicht ins wissenschaftliche. Man muß hier genau sondern, was von jenem Gegenstande in einen Gedanken g e f a ß t werden kann und was kein Wort erreicht. Jenes Gebiet hat die Tendenz, das Selbstbewußtsein zur Darstellung zu bringen. Daher herrschen hier uneigentliche, bildliche Darstellungen vor, die 2. U b e r das V e r h ä l t n i s zur D o g m a t i k oder r e l i g i ö s e n R e f l e x i o n . Wir können uns mit allen Ausdrücken aus jenem Gebiet verständigen, weil sie sich alle auf eine von unseren Formeln beziehen lassen; die polytheistischen unvollkommen ebensogut wie die monotheistischen vollkommen. In jenen verbirgt sich die Einheit, aber die Spaltung ist symbolische Bezeichnung der Beziehung der Einheit entweder auf geistige Funktionen in der ethischen Symbolik oder auf Naturfunktionen; so wie die bildlichen monotheistischen Ausdrücke aus dem wirklichen Denken und Wollen hergenommen und auf das Transzendente als Grenze übertragen sind. Merkwürdig ist aber dabei der Umstand, daß sich weit mehr aus dem Monotheismus als Polytheismus ein Atheismus entwickelt. Zwar die alten Philosophen wurden auch für Atheisten ausgegeben, wenn sie, die Einheit suchend, jene spaltenden Darstellungen entweder auf Geschichte oder auf Poesie zurückzubringen suchten. Aber sie selbst hielten sich doch nicht dafür, weil sie sich des Einheitsuchens bewußt waren. Ja, selbst wenn sie auf den Abweg gerieten, die Einheit unter der Form einer toten Notwendigkeit zu suchen, konnten sie sich nicht für irreligiös halten, weil das Schicksal immer als Einheit über den Göttern schwebte. Im Monotheismus wird das nichtpoetische, sondern mehr didaktische Verfahren vom wahrhaft dialektischen und transzendenten nicht geschieden; und indem es also für das letzte genommen und doch unzureichend befunden wird, kann leicht einer, der bloß kritisch zu Werke geht, auf den Gedanken kommen, daß die Idee, welche sich immer nur so inadäquat und unter partiellen Widersprüchen äußern könne, auch selbst unwahr sein müsse. Und so geben sich aus Mißverstand selbst für Atheisten, die es doch der Sache nach nicht sind.

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es nur auf die gewöhnliche Ausdrucksweise bezieht, der gemachte Unterschied nicht gefährdet wird. Philosophie und Dogmotik. Wir haben hier in geschichtlicher Betrachtung auf zweierlei zu achten, das aber o f t ineinandergeht, und dessen Trennung nicht zum Bewußtsein gekommen ist. Die Geschichte der Reflexion über die unmittelbare Wahrheit Gottes, die in unserem Selbstbewußtsein unter der F o r m des religiösen Gefühls niedergelegt ist, kann nur auf uneigentliche Weise verfahren; und alle Vermenschlichung gehört ins Gebiet derselben, nicht ins wissenschaftliche. Man muß hier genau sondern, was von jenem Gegenstande in einen Gedanken g e f a ß t werden kann und was kein Wort erreicht. Jenes Gebiet hat die Tendenz, das Selbstbewußtsein zur Darstellung zu bringen. Daher herrschen hier uneigentliche, bildliche Darstellungen vor, die 2. U b e r das V e r h ä l t n i s zur D o g m a t i k oder r e l i g i ö s e n R e f l e x i o n . Wir können uns mit allen Ausdrücken aus jenem Gebiet verständigen, weil sie sich alle auf eine von unseren Formeln beziehen lassen; die polytheistischen unvollkommen ebensogut wie die monotheistischen vollkommen. In jenen verbirgt sich die Einheit, aber die Spaltung ist symbolische Bezeichnung der Beziehung der Einheit entweder auf geistige Funktionen in der ethischen Symbolik oder auf Naturfunktionen; so wie die bildlichen monotheistischen Ausdrücke aus dem wirklichen Denken und Wollen hergenommen und auf das Transzendente als Grenze übertragen sind. Merkwürdig ist aber dabei der Umstand, daß sich weit mehr aus dem Monotheismus als Polytheismus ein Atheismus entwickelt. Zwar die alten Philosophen wurden auch für Atheisten ausgegeben, wenn sie, die Einheit suchend, jene spaltenden Darstellungen entweder auf Geschichte oder auf Poesie zurückzubringen suchten. Aber sie selbst hielten sich doch nicht dafür, weil sie sich des Einheitsuchens bewußt waren. Ja, selbst wenn sie auf den Abweg gerieten, die Einheit unter der Form einer toten Notwendigkeit zu suchen, konnten sie sich nicht für irreligiös halten, weil das Schicksal immer als Einheit über den Göttern schwebte. Im Monotheismus wird das nichtpoetische, sondern mehr didaktische Verfahren vom wahrhaft dialektischen und transzendenten nicht geschieden; und indem es also für das letzte genommen und doch unzureichend befunden wird, kann leicht einer, der bloß kritisch zu Werke geht, auf den Gedanken kommen, daß die Idee, welche sich immer nur so inadäquat und unter partiellen Widersprüchen äußern könne, auch selbst unwahr sein müsse. Und so geben sich aus Mißverstand selbst für Atheisten, die es doch der Sache nach nicht sind.

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verschieden sind nach der Reinheit und Ausbildung des Gefühls. Wir werden sie aber stets verstehen können, denn sie lassen sich klassifizieren, je nachdem sie sich auf die eine oder andere der Von uns gefundenen vier Formeln beziehen). Selbst wo die Einheit des transzendenten Grundes aufgehoben ist, können wir in der Trennung das religiöse Selbstbewußtsein finden. Im antiken Polytheismus sind die Vorstellungen und Bilder dasselbe wie in unserer natürlichen Theologie: unmittelbare Reflexion des Selbstbewußtseins, worin die Wahrheit des höchsten Wesens niedergelegt ist, aber zerspalten durch die Erscheinung, nicht gesammelt durch die innere Einheit. Worin ist diese Spaltung begründet und was weist sie nach? Entweder ist eine subjektive Duplizität darin, indem mehrere Funktionen unseres eigenen Geistes auf das höchste Wesen bezogen werden und seiner Symbolisierung dienen. Oder es liegt darin ein verwechselnder Schein zwischen den Ideen der Gottheit und der Welt, so daß die erste an der Mannigfaltigkeit der letzten teilnimmt; besonders, wo Naturkräfte symbolisiert werden. Welt aber ist Einheit des Seins mit Einschluß aller Gegensätze, Gott das Sein mit Ausschluß aller Gegensätze. Erklärt man die Entstehung des Polytheismus ethisch, so sind es die verschiedenen Funktionen des geistigen Lebens, also eine subjektive Mannigfaltigkeit, die zum Grunde liegt. Indessen ist im Polytheismus die Verständigung leichter, weil die Differenz des Geschichtsbewußtseins dieser Reflexion und des philosophischen Denkens zu deutlich ins Auge tritt. Schwerer ist sie dagegen im Monotheismus, wo überall Einheit der religiösen Reflexion herrscht. Hier wird alles auf die Einheit bezogen; die Unterscheidung ist schwerer und daher die Verwechslung zwischen dem Philosophischen und. Dogmatischen leichter. Daher die merkwürdige Erscheinung, daß sich weit mehr auf dem Gebiet des Monotheismus ein bestimmter Atheismus neben der religiösen Reflexion und dem transzendentalen Streben findet. Im Polytheismus finden wir keinen Atheismus, und die griechischen Philosophen gaben sich nicht für Atheisten aus. Wenn sie dennoch häufig so genannt wurden, so kam dies daher, weil sie nur mehr Einheit in die Religion bringen wollten und die Vielheit in die Geschichte und Poesie verwiesen. So war die

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Möglichkeit gegeben, den Polytheismus zu historisieren und zu poetisieren. Dadurch wurde die religiöse Reflexion allerdings in ihren Resultaten zerstört, und dies erregte das Vorurteil des Atheismus gegen sie. Die Philosophen gaben sich selbst nie für Atheisten aus, weil die Einheit, welche in der Gestaltung der Gottheit nicht ausgedrückt war, unter der toten Form des Schicksals latitierte. Wenn nun einige inne wurden, daß die Gottheit unter der Form des Bildes sich nicht als Einheit darstellen lasse und also bei der Idee der allgemeinen Notwendigkeit stehenblieben, so konnte ihnen dies nicht das Gefühl der Irreligiosität geben, weil beim Polytheismus die Idee des Fatums über der Gottheit stand. Diese Idee ergänzte also das mangelhafte Bild. In den neueren Zeiten hat sich jedoch ein in Rede stehender Atheismus, der Sich selbst dafür ausgibt, entwickelt. Unser Grundsatz ist hingegen: Es gibt kein Streben nach dem Wissen, dem nicht die Idee der Einheit des transzendenten Grundes zur Basis diente; und jeder muß hierauf zurückkommen, tun das Wissen zu gestalten. Von hier aus gesehen ist der Atheismus stets ein Mißverständnis. Denn beim Streben nach dem Wissen ist er unmöglich und entsteht nur bei nicht gehöriger Trennung zwischen Dogmatismus und Philosophie. Wo sich die monotheistische Religionsform ausgebildet hat, unterscheidet man nicht immer gehörig die Reflexion über das Religiöse von dem Spekulativen, sondern identifiziert womöglich beides. Die Dialektik führt uns dahin, das Inadäquate aller Formeln des transzendenten Grundes zu finden. Beurteilt man die Resultate des religiösen Verfahrens nach dem dialektischen Verfahren, so können sie nicht genügen und erscheinen inadäquat. Und wer im dialektischen Verfahren beim Einzelnen stehenbleibt, nicht auf das Ganze und Allgemeine sieht, kann leicht folgern: Eine Idee, die überall, wo sie zur Darstellung kommen soll, in unvollkommener Art erscheint, kann nur in sich nichtig sein. Dies aber ist ein Mißverständnis, das nicht entstände, wenn man beides geschieden hielte. Und dies tun wir so genau wie möglich und sehen bei jeder Erscheinung, in welche Region sie gehört. Je mehr man aber beide Richtungen identifiziert, um so eher wird sich die Erscheinung des Atheismus erneuern.

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Werfen wir noch einen Blick auf die K a n t i s c h e Philosophie, so liegt ihrem. Bestreben etwas ganz Ähnliches zum Grunde. Wir haben schon getadelt, daß Kant die Idee der Gottheit nur für ein Postulat der praktischen Vernunft hielt. Betrachten wir die Polemik Kants gegen die Metaphysik seiner Zeit, so ist ganz deutlich, wie sie eben darauf beruht, daß in ihr der Unterschied zwischen der religiösen'Reflexion und dem philosophischen Streben ganz verwischt war. Die natürliche Theologie wurde für philosophisch ausgegeben, lag aber ganz und gar auf dem Gebiet der religiösen Reflexion. (Ebenso verhielt sich die Ontologie zur rationalen Psychologie.) Leibniz und W o l f f allerdings verwischten ganz den Unterschied zwischen Dogmatik und Philosophie in ihrer Ontologie und natürlichen Theologie. Kant war sich seines Fehlers wohl bewußt, wurde aber nicht recht inne, wo er lag, und suchte ihn an unrichtiger Stelle, indem er die ganze Voraussetzung auf die Funktion des Wollens basierte. Auch hatte er von der Funktion des religiösen Gefühls zu wenig in sich, um eine rechte Analyse 'vorzunehmen. Wenn wir noch einmal zurückblicken, so können wir uns mit allen inadäquaten, bildlichen und anthropoeidisierenden Darstellungen des höchsten Wesens befreunden, weil wir sie in das Werden unserer transzendenten Formeln aufnehmen können. Aber wir finden hier zugleich ein Kriterium für Versuche dieser Art. Nur solche Darstellungen erkennen wir an, die auf ihrem eigenen Gebiet keiner weiteren Korrektion mehr bedürfen und nicht gegen das VerKants Polemik, die in die praktische Einseitigkeit endete, hat auch hierhin ihren Grund. Wenn er in der rationalen Theologie und Ontologie sowie in der rationalen Psychologie die verkappte Dogmatik erkannt hätte, so würde er anders zu Werke gegangen sein. Darum halte ich soviel darauf, die Trennung recht stark zu zeichnen, weü sonst die Erscheinung des Atheismus immer noch wiederkehren kann. Wenn wir uns aber auch mit allen Formeln befreunden, so ist es teils nur innerhalb der Grenze (§ 225), welche also zugleich der Kanon ist, wonach alle auf jenem Gebiet sich bildenden Formeln geprüft werden müssen; teils darf das Verständigen kein Aneignen für den phüosophischen Gebrauch selbst sein, denn dadurch wird jene wesentliche Scheidung des Religiösen und Spekulativen erschwert.

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hältnis von Welt und Gott verstoßen, die notwendig zusammengehören, so daß die eine Null wird, wenn man die andere aufhebt. Dies ist die Regel für jede Korrektion auf diesem Gebiet. Wenn sich z. B. die religiösen Darstellungen dahin verwirren, daß sie uns aufgeben, Gott vor Erschaffung der Well zu denken, so ist dies ein gefährliches Extrem, das leicht den Atheismus hervorruft, weil bereits eine Nullität in dieser Ansicht steckt. Mit den anderen Vorstellungen können wir uns befreunden, denn sie wollen nur die unmittelbare, in unserem Selbstbewußtsein niedergelegte Wahrheit ausdrücken, nicht aber das Verhältnis von Welt und Gott. Für das Wissen aber können diese Vorstellungen nichts leisten. Des transzendenten Grundes können wir uns als der Grenze unseres Denkens bewußt sein. Er gehört unter die aQQrjra; denn alles, was in der Sprache liegt, hat immer nur eine Beziehung aufs Endliche. 66

Unserem Wissen liegt also zum Grunde die Idee der Ein- heit, wo alle Gegensätze ausgeschlossen sind, und die Idee der Einheit, in welcher alle Gegensätze eingeschlossen sind. Der ersten entspricht die Idee der Gottheit als der absolute transzendente Grund alles Seins, und der anderen die Idee der Welt als der Totalität alles partiellen Seins. Diese aber zu vollziehen oder jene wirklich zu beschreiben sind wir unvermögend, weil beide über unser Wissen und Denken hinausgehen. Dies führt uns auf den zweiten, formalen Teil unserer Aufgabe, wo wir das bisher Gesuchte wieder aufsuchen als Prinzip der Konstruktion alles Wissens. Jedes Wissen ist in sich selbst schon ein verknüpftes. Und was dem Wissen zum Grunde liegt, muß auch allen Verknüpfungen zum Grunde liegen. Auf die formale Seite bezogen, haben wir gesehen, ist die Idee der Einheit, aus welcher alle Gegensätze ausgeschlossen sind, dasjenige, worauf alles Denken zurückgeht, inwiefern es Wissen werden will; die Idee der Einheit mit allen Gegensätzen dasjenige, wohinein alles Denken als Wissen gesetzt sein will. Jedes Denken, welches Wissen werden will, bezieht sich völlig auf dieselbe Weise auf die Idee der Gottheit zurück.

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Einleitung § 230

Das Wissen in der Bewegung. Jedes Wissen ist in sich selbst schon ein verknüpftes, sowohl das einzelne, als das, wodurch der Komplexus entsteht. Mit Beziehung auf den transzendenten Grund müssen wir nun jeden A k t des Denkens so konstruieren lernen, daß er mit Recht unter die Idee des Wissens subsumiert werden kann. Ein einzelner Gedanke ist nicht eher ein vollkommenes Wissen, bis wir den Z u sammenhang des ganzen Wissens haben. D a ß es nur ein Schein ist, wenn wir dennoch glauben, auf einzelnen Gebieten ein vollkommenes Wissen zu haben, darüber ist schon das Gehörige gesagt worden. Die Prinzipien des Verfahrens in der Konstruktion des Denkens in bezug auf das Wissen wollen wir suchen; und so betrachten wir dabei uns selbst, inwiefern die Funktion des Denkens uns angehört, in der Bewegung, im Akt. W i r s u c h e n d a s W e r d e n d e s W i s s e n s . Jeder wirkliche A k t hat einen inneren und äußeren Faktor. Jener ist die Selbsttätigkeit, der aber immer unbestimmt bliebe ohne den äußeren. Die Funktion des Denkens ist ein beständiges Denkenwollen. Damit aber daraus ein wirkliches Denken werde, muß eine äußere Bestimmung hinzukommen. Für jeden A k t des Denkens ist aber dieser bestimmende Faktor in allem vorigen Denken gegeben. Deshalb können wir uns einen absoluten A n f a n g des Denkens nicht vorstellen, sondern müssen uns vielmehr mitten in das Denken hineinstellen. W i r s e h e n a l s o a b von dem äußeren Faktor, der m a t e r i e l l e n S e i t e jedes Moments, und von dem, was aus früheren Denkakten schon materiell geworden ist, und gehen zurück auf die I d e e d e s W i s s e n s als auf das eigentliche bewegende Prinzip und die lebendige K r a f t , d i e beständig in Tätigkeit ist und sich im wirklichen BeLVI. ad i (§ 230). Erläutert sich zwar am besten aus Beispielen, wo die Veranlassung überwiegend organisch ist; allein auch das in uns selbst schon Gegebene ist in dem aufgestellten Sinne materielle Seite. Ein Wissen, sofern es durch die Verknüpfungsgesetze zustande kommt, wird nur von diesem aus, aber nicht durch jenes, sondern nur durch die Tätigkeit des treibenden Prinzips.

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wußtsein g e s c h i c h t l i c h r e a l i s i e r e n w i l l in der Anwendung auf den äußeren Faktor oder die Veranlassung. § 23l

Das rezeptive und spontane Element im werdenden Wissen. Indem wir auf dieses Verhältnis als auf ein notwendiges und wesentliches sehen, weil wir uns kein Wissen anders entstanden denken können als durch diesen äußeren Faktor, müssen wir in der inneren Kraft einen Gegensatz annehmen zwischen einem mehr Rezeptiven und einem mehr Selbsttätigen. Das erste bezeichnet ein reladves Übergewicht des äußeren, das zweite des inneren Faktors. Dies versteht sich so. Das Denkenwollen als lebendige Kraft ist eine p e r manente, aber unbestimmte A g i l i t ä t des G e i s t e s . Indem sich diese ohne bestimmte Richtung auf das vorkommende Äußere, auf die organische Affektion, wendet, wird in dieser allein der Bestimmungsgrund liegen, was f ü r ein wirkliches Wissen sich in jedem Moment entwickeln wird. Dies ist offenbar das G e b i e t d e r g e m e i n e n E r f a h r u n g , in dem die lebendige Kraft überwiegend rezeptiv ist. Denn indem wir erfahren, haben wir keine bestimmte Richtung, etwas wissen zu wollen, in unserem Innern gehabt und nehmen nur, was sich darbietet. Auch bei der inneren Erfahrung ist die Idee des Wissens nur unter der Form der Empfänglichkeit gesetzt. Der andere Gegensatz ist, wenn ein Wissen wird nach einem v o r h e r g e h e n d e n b e s t i m m t e n W o l l e n . In unserem Denkenwollen liegt dann schon eine b e s t i m m t e F o r m vorgebildet, die sich gleichsam n a c h i h r e r M a t e r i e u m s i e h t . Hier sind wir nicht der äußeren Veranlassung hingegeben, sondern ergreifen das, was sich auf die bestimmte Form bezieht. Dieses zugrunde liegende bestirrtmte Wollen muß dann auch freilich ein Denken sein, weil es sonst keinen Akt des Denkens bestimmen könnte. Setzen wir z. B. das Verhältnis der ad 2 (§ 231). Wenn kein bestimmter Impuls vorhanden ist, sondern nur der allgemeine, so wird der Inhalt des nächsten Wissens nur durch die Veranlassung bestimmt. Beispiel: Wenn wir schlechthin in die Natur hinausgehen1), sammeln wir bloße E r f a h r u n g , was da ist oder vorgeht. Wenn wir uns aufgegeben haben das Verhältnis der vegetativen Natur zu den atmosphärischen Veränderungen, so stellen wir Beobachtung an. l

) Hs.: „herausgehen"; korr. Jon.

Das rezeptive und spontane Element

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vegetativen Natur zur Atmosphäre als wesentliches Moment ihres Lebens, so werden hier vor sich gehende Veränderungen auch dort ähnliche zur Folge haben. Gehen wir mit dieser Vorstellung in die Natur hinaus, so sehen wir uns nach den Manifestationen jenes Verhältnisses um und lassen alles übrige beiseite. Ohne bestimmtes Denkenwollen bemerken wir diese Beziehungen nicht, sondern sehen nur eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, ohne sie zu sondern. Der Gegensatz ist natürlich nur ein relativer; denn auch die bloße Erfahrimg ist nicht ohne Selbsttätigkeit zu denken. Ebenso ist auf der anderen Seite stets etwas Rezeptives; denn es gibt keinen Gedanken ohne organische Affektion. In dem mehr rezeptiven Wissen kommt es überwiegend an auf die F o r m d e s W i s s e n s a n s i c h , in dem mehr selbsttätigen mehr auf die F o r m d e r V e r k e t t u n g d e s s e l b e n . Im ersten nämlich ist das, was in und durch uns produziert wird, die Form; die organische Affektion ist hier überwiegend das Bestimmende, die intellektuelle Funktion ist nur das Nichtwiderstehen-wollen. Die Materie ist ohne unsere Selbsttätigkeit gesetzt; die Form kommt erst durch unsere Selbsttätigkeit zustande. Denken wir uns zwei Menschen, die beide dem von außen Kommenden hingegeben sind, und es kommt in dem einen ein Wissen zustande, in dem andern nicht, so rührt dies daher, weil der eine die Form des Wissens vollzieht, der andere nicht. Jede organische Affektion kann nämlich Wahrnehmung oder Empfindung werden. Jener erste hat nun in der Wahrnehmung die Form des Wissens vollzogen, der zweite nicht; d. h. in ihm war das Denkenwollen nicht gehörig als treibende Kraft gesetzt, und darum ist er in der Empfindung steckengeblieben. Die Form des Wissens wird also durch Selbsttätigkeit produziert, die Materie ist gegeben. Das aber ist nichts anderes als ein Verknüpfen, indem jede Wahrnehmung in Beziehung zur anderen tritt. Das Sein als das uns Affizierende ist für sich nicht geschieden; es wird erst als ein einzelnes durch die Form des Wissens gesetzt. §232,1 Di e j(i e e der "Welt und der Gottheit als konstruktive Prinzipien. Beziehen wir dies zurück auf die beiden Ideen, die das Resultat unserer transzendentalen Untersuchung dar-

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stellen, so werden wir sagen: Im Falle des mehr rezeptiven Wissens ist die Idee der Gottheit in uns tätig, die Idee der Welt, der Totalität des Seins, dagegen a u ß e r uns tätig. Jene bestimmt die Form des Wissens im Akte selbst, diese die Verknüpfung. Was ist nun in einem solchen F a l l die Vermittlung zwischen dem äußeren Faktor als Gegebenem und dem richtigen Gelingen unserer Tätigkeit, damit es eine Approximation an das wirkliche Wissen wird? Es ist die R e i n h e i t d e s A u f f a s s e n s , und diese ist die reine Hingebung an das Sein als solches; d. h. es ist die Tätigkeit der Gottheit oder der unbedingten absoluten Einheit in uns. Dies kann daher nicht kontrolliert werden, sondern ruht auf der reinen Überzeugung, daß man in der H i n g e b u n g a n d a s S e i n gewesen sei. Daher gibt es für die reine Auffassung kein Kriterium für andere, wohl aber für uns selbst. Können wir dabei auf die Idee der Gottheit zurückgehen, so haben wir das Sein rein aufgefaßt. Dieses immittelbare Sichzurückbeziehen auf den transzendenten Grund als solchen beim Auffassen ist der eigentliche S i n n d e s B e schwörens. Bei der anderen Form des Wissens, das auf einem Suchen ruht, ist es dagegen gerade umgekehrt. Hier ist die Verknüpfung in uns tätig, also die Idee der Welt als Totalität alles Verknüpften. Wie bin ich dann aber sicher, daß ich richtig verknüpfe und daß hierdurch ein Wissen wird? Hierauf müssen wir antworten: wenn wir sicher sind, daß wir das wirkliche Sein aufgefaßt haben. Die Bürgschaft liegt in der ad 3 (§ 232). Im ersten ist die Welt außer uns tätig und die Gottheit in uns. Wenn wir nämlich im reinen Auffassen sind und das sich darbietende Sein nicht in Beziehung auf irgendein anderes, sondern nur um die Idee des Wissens daran darzustellen, also vom transzendenten Grunde aus, uns einbilden wollen. Was wir bei wahrgenommenen Tatsachen beschwören, ist diese Reinheit des Auffassens, und jenes ist die bei allem Schwur zum Grunde liegende Idee. Bei dem spontanen Wissen ist die Idee der Welt in uns tätig, weil wir verknüpfen wollen, und die Gottheit außer uns, indem sie keinen trügerischen Schein stellt zwischen das Sein außer uns und unser Wissenwollen. Und dies ist unser Glaube an Gott im Erkennen. — In dem Gebiet der überwiegenden intellektuellen Funktion entspricht der Erf a h r u n g die E n t d e c k u n g , und der B e o b a c h t u n g die K o n struktion.

Konstruktion und Kombination des Wissens

321

Überzeugung, daß das außer mix gesetzte Sein und das in mir affizierte ein und dasselbe ist, d. h. daß zwischen beiden nichts Fremdes gesetzt ist. Unsere Verknüpfung, inwiefern der organische Faktor darin nicht fehlen darf, ruht auf der Überzeugung, daß Gott den Menschen über die Zusammengehörigkeit der organischen Eindrücke nicht täuscht. Hier ist also die Idee der Welt das in uns Tätige und die Idee der Gottheit das, worauf wir als äußere Bedingung zurückgehen. V233 2 Konstruktion und Kombination des Wissens. Wenn wir dies als allgemeines Schema der Aktion, die wir suchen, zugrunde legen, so ist hier immer zweierlei verbunden, was für die Betrachtung relativ zu trennen ist: 1. die K o n s t r u k t i o n eines Denkens an und für sich, und 2. die K o m b i n a t i o n eines Denkens mit einem schon Gedachten und Gegebenen. Wir haben also den Unterschied beider zu betrachten. Was das erste betrifft, so sind wir schon darüber einig, daß es nur eine zweifache Konstruktion des Denkens an sich geben kann: die Begriffs- und Urteilsbildung, die wir nun für sich betrachten müssen. Die Richtigkeit beider bedingt das Wissen. Was das zweite, die Kombination, betrifft, so gibt es auch hier eine zweifache Operation: die h e u r i s t i s c h e und a r c h i t e k t o n i s c h e . Die erste ist eine K o m b i n a t i o n n a c h a u ß e n hin, inwiefern ich zu einem gegebenen Wissen ein anderes suche; die andere eine K o m b i n a t i o n n a c h i n n e n hin, indem ich die Vielheit in Ordnung bringe, aus einer Vielheit eine bestimmte Einheit bilde. 57

-

7-

Die Theorie der Konstruktion soll uns lehren, wie ein Denken zum Wissen wird; die Lehre der Kombination, wie ein gegebenes oder gesuchtes Wissen mit dem übrigen verknüpft wird. Wir haben schon früher vorausgesetzt, daß beides eigentlich ein und dasselbe ist, indem jedes Wissen eine Verknüpfung ist. Hierbei mußten wir auf das ursprüngad 4 (§ 233). Überall wird in der Veranlassung auch schon ein innerer Faktor vorausgesetzt. Nur von einem schon gegebenen wirklichen Denken aus können wir Begriffe und Urteile bilden, da wir einen eigentlichen Anfang des wirklichen Denkens nicht können ins Bewußtsein aufnehmen. Begriffsbildung ist mehr spontan, Urteilsbildung mehr rezeptiv. S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

21

322

Friedrich Schleiermachers Dialektik

lieh Chaotische zurückgehen. Als ein Ineinander zeigen sich beide in der Kindheit des Menschen. Nun aber kommen die Regeln des Denkens erst zum Bewußtsein, wenn das Denken bereits angefangen hat und eine Differenz gesetzt ist. Einen absoluten Anfang können wir also nicht annehmen, sondern nur einen relativen. Erst, wenn der Prozeß des Denkens geschlossen ist, ist beides wieder einerlei. Denn dann ist alles, wie es gegeben ist, so auch verknüpft; hinzu kommt nichts mehr, und es darf dann nur angeschaut werden. Da wir nun an jenes Ende nie kommen und es immer nur vor uns haben, sind wir immer in der relativen Differenz der Konstruktion und Kombination begriffen. ^und* heuristische und architektonische Verfahren. Die 235 Konstruktion ist Begriffs- und Urteilsbildung; von ihr ist schon im transzendentalen Teil gesprochen worden. Alle Kombination ist entweder heuristisch oder architektonisch. Das erste Wort stammt vom F i n d e n her und setzt also ein S u c h e n voraus. Daher gehört das heuristische Denken mehr unter das selbsttätige Denken. Dessenungeachtet ist doch auch im rezeptiven Denken die heuristische Operation vorhanden; nur mehr auf eine untergeordnete Weise. Wenn wir uns auch in die Region der organischen Affektionen hinein begeben ohne ein bestimmtes Wollen, so treffen wir doch eine Auswahl tinter dem, was wir vom Gegebenen ins Bewußtsein aufnehmen wollen. Diese Auswahl kann bewußter oder unbewußter Art sein. Im ersten Falle, wo in LVII ad 5 (§ 234). Heuristische Operation mehr vom Gewollten aus, a r c h i t e k t o n i s c h e mehr vom Gegebenen aus. Denn es ist für dies ordnende Verfahren gleichgültig, woher das Wissen gekommen; also hat auch das bestimmte Wollen hier keinen anderen Wert als die unbestimmte Agilität. Was architektonisiert werden soll, wird als Eines angesehen, entweder an sich, oder mit dem früheren zusammen. Also immer nach innen. Das architektonische Verfahren geht in die Konstruktion über; denn nur das Architektonisierte ist ein Wissen. Das durch absichtliches Wollen Gefundene hat schon architektonischen Prozeß in sich, aber untergeordnet. ad 6 (§ 235). Durch diesen Übergang des Architektonischen in die Begriffsbildung ist der Kreis geschlossen und die gegenseitige Bedingtheit vollständig gesetzt.

Heuristisches und architektonisches Verfahren

323

uns ein Wissen schon vorgebildet sein muß, finden die Regeln des heuristischen Verfahrens ihre Anwendung. Der Terminus des Architektonischen schreibt sich her vom aQXirexrcov, der den Grundriß des Gebäudes nach seiner Lage und Bestimmung entwerfen und jedem einzelnen Teil seinen Platz anweisen soll. Das architektonische Verfahren ist mehr innerer Natur; der äußere Umriß des Wissens wird hier als ein Gegebenes vorausgesetzt, und es ist gleich, ob ein Wissen vermöge eines bestimmten Wollens oder ohne ein solches entstanden ist. So ist die a r c h i t e k t o n i s c h e Oper a t i o n überwiegend auf das aufnehmende Denken, die h e u r i s t i s c h e O p e r a t i o n dagegen überwiegend auf das von einem bestimmten Wollen geleitete Denken gegründet, die erste mehr n a c h i n n e n , die zweite mehr n a c h a u ß e n sich erstreckend. Wie die heuristische Operation im rezeptiven Denken eine untergeordnete Stelle hat, so ist die architektonische Operation dem von einem bestimmten Wollen geleiteten Denken untergeordnet. Man sucht immer auf den architektonischen Zustand des schon Gegebenen hin. Dies wird klar, wenn man das Denken zweier Menschen vergleicht, von denen der eine die Elemente des Wissens chaotisch, der andre sie bereits geordnet in sich trägt. Der erste kann beim Denkenwollen immer nur von einem bestimmten Punkte, der zweite immer von einem Ganzen ausgehen. Und ein Ganzes ist es ihm nur, weil alle Elemente architektonisch geordnet sind. Daß beide Operationen, die Konstruktion des einzelnen Wissens und die Kombination, die Verknüpfimg desselben, in der Realität nie getrennt sein können, ist klar. Denn wir suchen ein Denken, das unter die Idee des Wissens subsumiert ist, und darin liegt immer schon eine gewisse Vollendung der Form, die eine Verknüpfung erfordert. Aus dieser Wechselwirkung beider entsteht uns nun freilich die Frage nach der Priorität der einen oder der anderen Funktion. Da wir aber auf den absoluten Anfang des Denkens nicht zurückgehen können, so können wir jeden neuen Punkt des Denkens als der einen oder anderen Operation angehörend ansehen. Die Kombination geht in die Konstruktion zurück; ein Begriff ist um so vollkommener, je mehr alles Einzelne in ihm architektonisch geordnet ist. 21*

Erster

Abschnitt

Theorie der Konstruktion oder der Zustandebringung des Denkens als Wissen Vorbetrachtung. Die Zustände des Wissens und der Irrtum § 236

Verhältnis des Denkens zum Überzeugungsgefuhl. Wie sollen wir es anfangen, ein Denken als wirkliches Wissen zustande zu bringen? Hier müssen wir zuerst daran anknüpfen, daß wir die I d e e des W i s s e n s in ihrer lebendigen Bewegung a l s e i n t r e i b e n d e s P r i n z i p in d e r S e e l e betrachten., das sich im Bewußtsein auf zeitliche Weise realisieren will. Wenn wir nun die verschiedenen Momente des Denkens betrachten, wie wir sie üben ohne die Regeln, so glauben wir immer ein Wissen zustande gebracht zu haben, wenn sich mit dem Resultat zugleich das Ü b e r z e u g u n g s g e f ü h l einstellt. Das Ausbleiben dieses Gefühls ist immer verbunden mit der Fortsetzung der inneren Bewegung in derselben Richtung. Haben wir dagegen jenes Gefühl, so schließen wir einen Akt ab und fangen einen neuen Akt an. Erster

Abschnitt

Konstruktion ad 7 (§ 236). Wenn das Überzeugungsgefühl, welches allein einen Denkakt, der auf die Idee des Wissens bezogen wird, abschließt, sich nicht falsch gesellte, könnte kein Zustand des Streites entstehen. Nun wollen wir diesen Zustand vermeiden lernen; also müssen wir zunächst die Verhältnisse des Denkens zu diesem Gefühl fest1) ins Auge fassen. Rb. zu § 237 in Heft 1814; vermutl. 1818: Dies ist hier ausgelassen und erst nachgeholt bei der bestimmten Einteilung. Ferner in Heft 1822: NB. 8 (§ 237) ist ausgelassen. Es ist eine Betrachtung des architektonischen Verfahrens, sofern es sich unter die Form der Konstruktion stellt, und gehört nicht hierher. *) „fest" fehlt bei Jon.

Das Überzeugungsgefühl

325

Nun gäbe es keinen Zustand streitiger Vorstellungen, wenn sich das Überzeugungsgefühl nicht oft zu früh einstellte. Der Streit entsteht allemal daraus, daß man zu wissen glaubt und daß mehrere auf verschiedene Weise zu wissen glauben. Vorher konnten wir diese Bemerkung über das Überzeugungsgefühl unerwähnt lassen; jetzt kommt es uns darauf an, dahin zu trachten, daß kein falsches entstehe. Das erste, was wir tun müssen, ehe wir zu den beiden Teilen der Konstruktion übergehen, ist, daß wir uns das V e r h ä l t n i s d e s D e n k e n s z u m Ü b e r z e u g u n g s g e f ü h l mit den verschiedenen hierbei möglichen Fällen klarmachen. Wir setzen also die Idee des Wissens als ein b e w e g e n d e s P r i n z i p , d. h. wir streben aus dem Denken zum Wissen, vergleichen jeden Schritt der Bewegung mit der Idee des Wissens und billigen oder verwerfen ihn, je nachdem er uns angemessen erscheint oder nicht. Die Vergleichungkann aber nie vollständig sein, denn jeder Akt als ein in der Zeiterfüllung gesetzter ist ein in sich selbst Unendliches. So ist es möglich, daß wir eine Vorstellung in Pauseh und Bogen f ü r ein Wissen halten, ungeachtet vieles Einzelne darin ist, das kein Wissen ist. § 238

Dos vierfache Verhältnis des Denkens zur Idee des Wissens. So ist ein Akt des Denkens entweder wirklich eine Abbildung der Idee des Wissens, d. h. ihr gemäß konstruiert, oder nicht. Da nun jeder Akt eine relative Vollständigkeit hat, so muß man auch dieses Verhältnis feststellen. Daraus folgen v i e r s i c h k r e u z e n d e V e r h ä l t n i s s e . ad 9 (§ 238). Es sind zwei sich kreuzende Einteilungen. — Man hat exzipiert gegen die Formel „Wissen des Wissens", weil das ins Unendliche fortgehen könne; allein es ist hier von dem unmittelbaren Zeugnis des Selbstbewußtseins über die Beschaffenheit des Denkens die Rede. Dieses kann höchstens noch einmal an der Wahrnehmung reflektiert werden, was noch einen Gegensatz gäbe zwischen reflektiertem und nichtreflektiertem Gefühl vom Wert eines Denkaktes; aber an eine unendliche Wiederholbarkeit ist nicht zu denken. Schon dieser letzte Gegensatz aber interessiert uns hier nicht, und wir haben nur jedes Glied der einen Einteüung mit beiden der anderen zu kombinieren. Im allgemeinen sagt die Kombination aus: 1. Das Überzeugungsgefühl bestimmt den subjektiven Wert des Zustandes,

326

Friedrich Schleiermachers Dialektik

Wir gehen zunächst auf die beiden Hauptmerkmale des Wissens zurück, daß es ein von allen gleichmäßig konstruiertes Denken und ein dem Gegenstande entsprechendes Denken sein müsse. Weiß ich, daß mein Denken diesen Charakter in isich trägt, so w e i ß i c h um m e i n W i s s e n ; wo nicht, so weiß ich, ohne das Wissen zu wissen. Man hat diese Distinktion f ü r nichtig erklärt und gesagt, das Wissen und das Wissen um das Wissen seien identisch, indem sich dies ins Unendliche fortsetzen ließe. Aber der Ausdruck „Wissen" bezeichnet in beiden Fällen nicht dasselbe, sondern im ersten Fall das ursprüngliche, im zweiten das abgeleitete. Das erste „ I c h weiß" betrifft den Zustand meines Denkens über den Gegenstand; das zweite ist ein Selbstbewußtsein, kein Zustand des Denkens, und drückt aus, daß sich mit meinem Denken ein Überzeugungsgefühl verbindet. Dies kann man sich freilich auch wieder denken, doch ist es dann nur eine Reflexion. D a ß aber die Beschaffenheit des Denkens eines Gegenstandes und des Selbstbewußtseins nicht dasselbe ist, kann niemand leugnen; und so ist auch jene Duplizität nicht zu bestreiten. Es gibt also ein Wissen um das Wissen und ein Nichtwissen um das Wissen. Ein Denken, das jene beiden Charaktere an sich trägt, ist ein Wissen. Verbindet sich mit dem Wissen ein Überzeugungsgefühl, so habe ich das Bewußtsein meines Wissens. Verbindet sich mit dem Denken, welches den Charakter nicht hat, das Verwerfungsgefühl, so habe ich das Bewußtsein meines Nichtwissens. Tritt keins von beiden Gefühlen ein, so bin ich im und für diesen ist es gleich, ob der Gehalt ein Wissen ist oder nicht. D. h. G e w u ß t e s N i c h t w i s s e n ist s u b j e k t i v ebensogut als g e w u ß t e s Wissen. 2. Der Wissensgehalt entscheidet über den o b j e k t i v e n Wert des Aktes, und n i c h t g e w u ß t e s W i s s e n ist ebensogut als gewußtes. (Anm. Dies gibt das Ansehen, als ob richtige Meinung ebensogut wäre als «WOTJ^MJ; allein jene ist immer mit Irrtum vermischt. Klarer ist es auf der negativen Seite, daß g e w u ß t e s N i c h t w i s s e n o b j e k t i v n i c h t besser ist als nicht gewußtes.) Daß nun g e w u ß t e s Wissen E r k e n n t n i s ist und nicht g e w u ß t e s N i c h t w i s s e n I r r t u m , leuchtet ein. G e w u ß t e s N i c h t w i s s e n , welches aber doch als Denken wirklich ist, ist P h a n t a s i e r e n und Versuchen. Es kann gewollt werden als Durchgangspunkt.

Die Mittelzustände des Wissens

327

Zustande der Ungewißheit. Ob der Einzelne, der weiß, das Gefühl des Wissens hat oder nicht, ändert an dem Wert seines Wissens nichts; aber sein Zustand als Zustand eines Einzelwesens hat in beiden Fällen eine verschiedene Dignität. Denn wer um sein Wissen weiß, ist vollkommen. Darin liegt also die s u b j e k t i v e D i f f e r e n z b e i e i n e r o b jektiven Identität. Ebenso ist es umgekehrt. Wissen und Nichtwissen stehen einander entgegen als Akte des menschlichen Geistes. Der erste drückt ein Gewordenes aus, der zweite etwas, das noch werden soll. A b e r es ist von gleichem Wert, ob ich um mein Wissen weiß oder um mein Nichtwissen. Denn beidemal ist eine g r o ß e Klarheit des Selbstbewußtseins darin. Hierin liegt eine s u b j e k t i v e I d e n t i t ä t b e i o b j e k t i v e r D i f ferenz. §238,4 D e r erste Mittelzustand: das Wissen um mein Nichtwissen. Das Vollkommenste ist also das g e w u ß t e W i s s e n , denn darin ist das Maximum in subjektiver und objektiver Hinsicht; das Unvollkommenste dagegen das n i c h t g e w u ß t e N i c h t w i s s e n . Das letzte ist der Irrtum, das erste das Wissen xax' ¿goxrjv. Diese beiden Zustände sind also die am meisten entgegengesetzten, während das n i c h t g e w u ß t e W i s s e n und das g e w u ß t e N i c h t w i s s e n Mitteilzustände darstellen. Das gewußte Nichtwissen ist ein Denken, aber kein Wissen, weil es nicht nach den Gesetzen der Allgemeinheit der Konstruktion (nach der Einheit der Konstruktion) gebildet ist; ein Denken, das nicht dem Sein entspricht. A l s Denken aber ist es Selbsttätigkeit, die von den Banden der Allgemeingültigkeit und des Seins losgelöst ist, d. h. es ist das f r e i e P h a n t a s i e r e n . Soll nun dieser Zustand sein oder nicht sein? Im kombinatorischen Prozeß, vorzüglich im Gebiet des heuristischen Verfahrens, ist das freie Phantasieren ein f ü r uns unentbehrliches Element; nur dürfen wir nicht dabei stehenbleiben, sondern es nur als einen Durchgangspunkt betrachten. W i r machen mancherlei Hypothesen, ehe wir zum Wissen kommen. Man könnte nun denken, dies sei ein Raten und der Virtuos im Denken dürfe nie raten. Aber dies ist nur Schein; denn nicht der ist der größte Virtuos, der gleich das Rechte trifft,

328

Friedrich Schleiermachers Dialektik

sondern der das Überzeugungsgefühl nicht eher hat, bis er das Rechte getroffen hat. In dem andern ist eine gewisse Dürftigkeit des Denkens, denn er ist immer auf einen bestimmten Punkt gerichtet, u n d es ist nur gutes Glück, wenn er es t r i f f t ; das gute Glück aber ist niemals Virtuosität. Der Vollkommenste ist, dem immer zugleich die meisten Möglichkeiten vorschweben, aus denen er nun die rechte Wahl trifft. E r übersieht das ganze Gebiet des Denkens.

68.

Der zweite Mittelzustand: Nichtwissen um mein Wissen.

11. 7 . s t e h t e s n u n jjüt dgjn n i c h t g e w u ß t e n W i s s e n und § 238, dessen Verhältnis zu den drei anderen Punkten? Dieser Zustand ist insofern schwerer zu erklären, weil dabei vorausgesetzt zu werden scheint, d a ß die Idee des Wissens im Denken realisiert werden könnte, ohne d a ß sich das Überzeugungsgefühl einfindet. Wäre das wirklich so, dann hätte das Überzeugungsgefühl keinen besonderen Wert und könnte nicht als Maß unserer Denkfunktion angesehen werden. Nun haben wir aber das Wissen bezeichnet durch zwei Charaktere: Identität der Konstruktion und Übereinstimmung des Gedankens mit dem Sein. Beide sind nicht immer auf dieselbe Weise ursprünglich; u n d daher bezieht sich auch das Überzeugungsgefühl nicht immer auf beide gleichstark (also geht auch das Überzeugungsgefühl nicht in jedem Akt in LVIII. Am schwierigsten ist das n i c h t g e w u ß t e Wissen. Eigentlich also nach dem Obigen ein Wissen ohne Überzeugungsgefühl. Ist es aber möglich, daß das Überzeugungsgefühl nicht entstehe, wo doch in einem Denken die Idee des Wissens abgebildet ist, so ist auch das Gefühl keine Norm. Der Fall ist also zu erklären aus den ungleich verbundenen zwiefachen Charakteren des Wissens; daher auch seine doppelte Gestalt. Ich habe daher diesmal die s k e p t i s c h e I n n e h a l t u n g und die r i c h t i g e Meinung so erklärt: Bei der richtigen Meinung zeigt sich der Mangel des Überzeugungsgefühls nicht eher, als bis Zweifel erregt werden. Es ist Überzeugungsgefühl vorhanden von Übereinstimmung mit dem Gegenstande, aber keines von Gesetzmäßigkeit der Konstruktion; doch kann diese da sein. Bei der skeptischen Innehaltung ist Überzeugungsgefühl da von der Richtigkeit der Konstruktion, aber keines von der Übereinstimmung mit dem Gegenstande, wiewohl diese auch da sein kann. (Ich halte indes diese Ableitung nicht für vollkommen; an der Sache aber habe ich keinen Zweifel.)

Bedingtes und reines Denken

329

g l e i c h e r W e i s e auf b e i d e C h a r a k t e r e ) . S i n d wir b e i ü b e r wiegender Tätigkeit der organischen Funktion im reinen A u f f a s s e n d e r N a t u r b e g r i f f e n , so s i n d wir ü b e r z e u g t , d a ß u n s e r e W a h r n e h m u n g d e m Sein e n t s p r i c h t . N u r d a r a u f b e zieht s i c h d a n n u n s e r e Ü b e r z e u g u n g , u n d so h a b e n w i r d i e e i n e S e i t e (die o r g a n i s c h e ) d e s Wissens. A b e r i n d e m wir uns nicht ebenso der Konstruktion bewußt sind u n d nicht d u r c h g e p r ü f t h a b e n , o b d e r G e d a n k e k o n s t r u i e r t sei, w i e i h n alle k o n s t r u i e r e n müssen, so k a n n d a s Ü b e r z e u g u n g s g e f ü h l n a c h dieser S e i t e h i n h i e r n i c h t a u f t r e t e n . W i r h a b e n es a l s o m i t e i n e m g e t e i l t e n Z u s t a n d z u tun. D a s s e l b e k a n n s t a t t f i n d e n von d e r intellektuellen S e i t e d e s D e n k e n s aus. S o k ö n n e n wir d e n A k t d e s D e n k e n s m i t so b e s o n n e n e m B e w u ß t s e i n begleitet h a b e n , d a ß wir wissen, d i e Konstruktion sei allgemeingültig, aber es fehlt uns die Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m G e g e n s t a n d e , weil diese n i c h t so u r s p r ü n g l i c h g e g e b e n ist. D a s letzte ist d i e s k e p t i s c h e P o s i t i o n , d a s e r s t e das, was d i e A l t e n d i e oq&>) öo£a n a n n t e n , wo ü b e r d i e K o n s t r u k t i o n des W i s s e n s k e i n e R e c h e n s c h a f t g e g e b e n w e r d e n k a n n . W i e v e r h a l t e n sich d i e s e b e i d e n g e g e n e i n a n d e r ? W e n n wir d i e s k e p t i s c h e Position als einen D u r c h g a n g s p u n k t b e t r a c h t e n , s o ist d i e s d e r e i n z i g e u n d r e c h t e W e g , z u m b e w u ß t e n W i s s e n z u g e l a n g e n . D e n n dies k a n n n i c h t e h e r e n t s t e h e n , bis b e i d e C h a r a k t e r e z u s a m m e n f a l l e n . W e n n w i r d e n a n d e r e n Z u s t a n d , d i e r i c h t i g e M e i n u n g , b e t r a c h t e n , so l i e g t e r d e m I r r t u m a m n ä c h s t e n . D e n n wer ü b e r d i e K o n s t r u k t i o n seines Wissens nicht Rechenschaft geben kann, kann auch leicht e i n D e n k e n als Wissen ansehen, d a s d e m G e g e n s t a n d e n i c h t e n t s p r i c h t . W i r müssen d i e Z u s t ä n d e also s o t e i l e n : A n d e n E n d p u n k t e n liegen, d a s g e w u ß t e W i s s e n u n d d e r I r r t u m ; d i e skeptische Position liegt d e m ersten, d i e r i c h t i g e M e i n u n g d e m letzten n ä h e r .

§ 239

Bedingtes und reines Denken. Wir müssen jedoch noch einen Unterschied im Denken auffassen, u m hiervon den rechten Gebrauch zu machen. Irgendein einzelner Denkakt k a n n in zwei g a n z v e r s c h i e d e n e n Beziehungen v o r k o m m e n . W i r b e t r a c h t e n u n s i m D e n k e n w o l l e n b e g r i f f e n . Dieses k a n n nun ein unabhängiges oder abhängiges sein; wir müssen

33°

Friedrich Schleiermachers Dialektik

unterscheiden das Denkenwollen um seiner selbst und um eines andern willen (z. B. um eines praktischen Zweckes willen, mit welchem es gesetzt, aber auch davon abhängig ist). Ein solches Denken wollen wir ein b e d i n g t e s , jenes das r e i n e D e n k e n nennen, weil es durch nichts als durch das Interesse am Denken selbst erzeugt wird. Dieser Unterschied hat auf die vorkommenden, namentlich auf die Mittelzustände, einen ganz bedeutenden Einfluß. Wenn wir uns in einem bedingten Denken stehend vorstellen und uns bewußt sind, daß das bewußte Wissen immer eine unendliche Aufgabe ist, so können wir nicht danach streben, bis zur höchstmöglichen Approximation an die Idee des Wissens zu kommen, da wir sonst den praktischen Zweck nicht erreichen könnten. Wir werden daher eilen müssen, die Denkakte früher abzuschließen, um danach handeln zu können. Der Zustand der Skepsis also, der den Denkakt nicht abzuschließen gestattet, kann nicht in das Gebiet des bedingten, sondern nur in das des reinen Denkens gehören. Der Zustand der richtigen Meinung ist dagegen recht eigentlich das Eigentum, des bedingten Denkens und hat hier seine Notwendigkeit. Denn dem bedingten Denken liegt stets ein reales Wollen zugrunde, das sich auf eine Handlung bezieht; und hier ist der eigentliche Wert des Denkens seine Übereinstimmung mit dem Gedachten. Nicht den ganzen Gegenstand will ich denken, sondern nur das an ihm, was sich auf mein Handeln bezieht. Bedenkt man nun, daß es dieselben Gegenstände sind, die dem reinen Denken angehören und dem bedingten, das ad 10 (§ 239). Die Hauptsache ist hier der Unterschied zwischen dem bedingten und reinen Denken. Im ersteren wird das Uberzeugungsgefühl affiziert durch das bestimmte Interesse und auf den Denkakt im ganzen bezogen, da es doch eigentlich nur geht auf das, was eben zur Anwendung kommen soll. Hier kann alles richtig sein; es können aber doch dem ganzen Akt (Beispiele sind in der Chemie und Naturgeschichte besonders häufig) falsche Voraussetzungen zum Grunde liegen, welche ihn auf dem Gebiet des reinen Denkens zum Irrtum machen. Alle vorübergegangenen Gestalten der naturwissenschaftlichen Disziplinen sind so zu erklären. Es folgt also, daß die richtige Meinung nur zulässig ist im bedingten Denken. Da wir nun unsere Aufgabe nur für das Gebiet des reinen Denkens betrachten dürfen, so ist

Die skeptische Annahme

331

sich auf das Handeln des Menschen bezieht, so werden wir sehen, daß Vorstellungen, die auf dem Gebiet des bedingten Denkens sehr tauglich und gut sind, durchaus nichts taugen, wenn sie übertragen werden auf das Gebiet des reinen Denkens. Und doch geschieht dies täglich. Aber es ist eben nichts gefährlicher für die Entwicklung des Gebiets des reinen Denkens als diese Übertragung. So ist es z. B. bei der Beschäftigung des Menschen mit der Pflanzenwelt. Hier ist das Praktische das erste. Obwohl man beobachtet, daß g i f tige Kräuter mit genießbaren verwandt sind, so muß man sie doch f ü r das bedingte Denken nach Gegensätzen, unterscheiden, die sich für das reine Denken nicht eignen. (Wenn wir z. B. Schierling, Kerbel und Petersilie betrachten, so sagen wir, der Schierling habe einen gefleckten Stengel, den Kerbel und Petersilie nicht haben. Ferner hat er andersgestaltete Blätter als jene. Diese unterscheidenden Merkmale reichen also hin für den praktischen Zweck.) Das Übertragen jener Vorstellungen wäre dem reinen Denken höchst verderblich. Betrachten wir in allen diesen Fällen das Überzeugungsgefühl, so ist es stets dasselbe; nur hat es in jedem eine andere Anwendung und ist auf einen anderen Gegenstand bezogen. Und so kommt es darauf an, diese richtig zu unterscheiden. Nun haben wir bei unserer Aufgabe nur das reine Denken im Auge. In diesem ist das bedingte eingeschlossen. Denn haben wir jenes, so können wir alles beurteilen, was im Gebiet des bedingten Denkens vorkommt. § 240

Die skeptische Annahme als Durchgangspunkt zum Wissen. Wir wollen dies nun auf die vier Zustände anwenden. Der Irrtum, das nicht gewußte Nichtwissen, muß ausgemerzt werden und in das bewußte Nichtwissen übergehen. Aber auch dies ist nur ein Durchgangspunkt; auch hier ist noch keine Übereinstimmung des Denkens mit dem GeSatz 1 1 (§ 240) eine ganz natürliche Folge. Denn die skeptische Annahme muß sich nicht nur überall der richtigen Meinung, welche immer eindringen will, da jeder zugleich im bedingten Denken begriffen ist, entgegenstellen, sondern sie ist auch für sich notwendig, weil wir wissen, daß vollkommenes einzelnes Wissen nur mit der Totalität gegeben ist; und mit dieser Überzeugung verträgt sich kein vollkommenes Überzeugungsgefühl über das einzelne.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

dachten. — Wie aber steht es mit der skeptischen Position u n d der richtigen Meinung? Die letzte hat ihren eigentlichen Ort nur im bedingten Denken u n d muß also hier gleichfalls ausgeschaltet werden; d. h. jedes Denken, dem sich nur eines äußeren Zweckes wegen die Überzeugung beigesellt, sehen wir an, als wäre es ohne Überzeugungsgef ühl vollzogen: die oqdr] do£a ist auszuschließen. Weil aber doch solche Vorstellungen in jedem vorkommen u n d das menschliche Leben ohne die richtige Meinimg nicht sein kann, ist es notwendig, d a ß ein anderer Mittelpunkt an ihre Stelle trete, nämlich die skeptische Position. Das bedeutet: J e d e Vorstellung müssen wir nach beiden Kriterien des Wissens g e p r ü f t haben, d a wir sonst nicht wissen können, ob sich ihr nichts vom bedingten Denken beigemischt habe. Vor dieser vollkommenen Durchschauung m u ß ein Zweifel an der Wahrheit gesetzt werden. Aber diese skeptische Annahme darf immer nur alsi D u r c h g a n g s p u n k t gesetzt werden. Wenn wir die Geschichte des realen Wissens betrachten und sehen, wie viele Systeme der Physik, Chemie und Naturgeschichte es schon gegeben hat, mit denen sich eine Zeitlang vollkommene Überzeugung verband, so müssen wir sagen: J e stärker diese Überzeugung war, um so mehr stand sie dem Eindringen neuer Systeme entgegen. Der Grund kann allein in dem Drange der richtigen Meinung liegen. Denn alle Bfearbeiter dieser Systeme, die o f f e n bar vom Interesse am reinen Denken ausgegangen waren, verloren diesen Unterschied aus dem Gesicht, und die skeptische Annahme konnte dem heftigen Drange des bedingten Denkens nicht widerstehen. — Daher sehen wir, wie nötig und schwierig die Ausschließung der richtigen Meinung vom reinen Denken ist. D i e s k e p t i s c h e P o s i t i o n s o l l a l s o ü b e r a l l e i n t r e t e n ; überall soll man bei einer Vorstellung deren geschichtlichen Verlauf aufnehmen und zusehen, wo die richtige Meinung im bedingten Denken wurzelt. Erst wenn man ihre Wurzeln im Gebiete des reinen Denkens a u f weisen kann, hat man das Recht, sie hier gelten zu lassen. § 243

D i e Unvermeidborkeit des I r r t u m s . Wie konstruieren wir uns also unseren Prozeß? Das reine Denken entsteht

Unvermeidbarkeit des Irrtums

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immer erst aus dem bedingten. Das Erkennenwollen um des Erkennens willen ist zwar dem Menschen natürlich. A b e r d a es der Mensch nicht gleich realisieren kann, sondern anf a n g s bestimmte Z w e c k e verfolgen (immer auf das Sein zurückwirken) muß, so ist er immer in der richtigen Meinung b e g r i f f e n , d. h. er nimmt Vorstellungen immer b l o ß des praktischen Zweckes wegen f ü r wahr an. E s wäre vergebliche Mühe, das künftige Geschlecht allein auf das reine Denken bilden zu wollen, da wir sonst dessen Selbständigkeit im Leben nicht garantieren können. Das bedingte Denken ist also in jedem Menschen das erste; und erst aus diesem kann das reine Denken hervorgehen. Im bedingten Denken ist aber nur der Irrtum und die richtige Meinung gesetzt, nichts weiter. Das reine Denken erhebt sich aus einer im Bewußtsein gegebenen chaotischen Masse von richtiger Meinung und Irrtum. Beides soll vernichtet werden und in das bewußte Wissen übergehen. Dazu kommen wir durch das bewußte Nichtwissen (das freie Phantasieren) und durch die skeptische Annahme.

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§ 244

Der Irrtum im relativen Anfangspunkt. Wenn sich uns die A u f g a b e so gestellt hat, d a ß wir durch diese verschiedenen Formen des Denkens zu möglichster Approximation gelangen wollen, so müssen wir sagen: Selbst der Irrtum ist Rb. zu § 241 in Heft 1814. Ausgelassen, weil ich es an dieser Stelle nicht mehr verstehe. Vermutl. 1822. Die Vorl. 1818 geht auf diesen Paragraphen noch ein. Femer in Heft 1822: Anm. 12 (§ 241) und 13 (§ 242) sind ausgelassen. ad 14 (§ 243). Die Richtung auf das reine Denken ist zwar ursprünglich; allein wenn wir auch einen Einzelnen ganz für das reine Denken büden wollten, könnten wir doch das Vorangehen des bedingten /Denkens/ nicht verhindern. Wollen wir also das reine Denken vom Anfang entstehen lassen, so muß durch skeptische inoxv gegen den Irrtum gewirkt werden, und dies ist der Sinn des Satzes, daß a l l e W e i s h e i t m i t dem Z w e i f e l a n f ä n g t . L I X . ad 15 (§ 244). Jedes partielle wissenschaftliche Interesse bekommt den Charakter des bedingten Denkens, denn die Begriffe werden eher abgeschlossen, als sie in Beziehung auf alle koordinierten Punkte durchgeprüft sind. Also jeder Punkt, sofern er ein relativer Anfangspunkt ist, ist ein solcher, von welchem aus sich Irrtum und richtige Meinung erzeugen will, solange der leitende Wille nicht auf die Totalität des Erkennens gerichtet ist.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

nie vollkommen isoliert. Denn wollten wir dies annehmen, so würden wir die Grundvoraussetzung der Zusammengehörigkeit des Seins und Denkens aufheben. D e r I r r t u m i s t i m m e r n u r a n d e r W a h r h e i t , n i e f ü r s i c h ; denn es m u ß etwas sein, was im Gedanken dem Sein entsprechend ist, aber auch wieder etwas, welches es nicht ist. Irrtum wird immer einen Grund von Wahrheit haben, worauf er ruht. Dies können wir durch alle verschiedenen Stufen verfolgen. Wird z. B. in einem Urteil dem Subjekt ein Prädikat beigelegt, das ihm nicht zukommt, so ist doch wenigstens das ¡Subjekt richtig gesetzt. Denn jeder Begriff wird durch mehrere Prädikate bestimmt. Das Prädikat soll nun in den Begriff aufgenommen werden, und dadurch würde ein f a l sches Merkmal in den Begriff kommen. Aber er selbst ist deswegen doch nicht ganz unrichtig. So bilden also alle jene Formen mehr oder weniger das Wissen im Denken ab; und wir wollen ihr Minimum und Maximum aufsuchen. Vom Irrtum und der richtigen Meinung entfernen wir uns; durch die skeptische Position und das gewußte Nichtwissen als Basis alles Hypothetischen wollen wir zur Erkenntnis kommen, zu einem Denken, das dem bewußten Wissen ähnlich ist. Das bedingte Denken ist in jedem früher als die Richtung auf das reine Denken. Im bedingten Denken, getrennt vom reinen, ist sowohl das skeptische Verhalten als das bewußte Wissen nur auf zufällige Weise. Irrtum und richtige Meinung dominieren hierbei. So sind die Vorstellungen, die das Kind von den Gegenständen hat, meistenteils falsch und werden erst sukzessive berichtigt an der Meinung der übrigen Menschen, weil sie immer nur von bestimmten einzelnen Beziehungen ausgehen und sich dennoch schon in ihnen ein zu frühes Abschließen, teils schon im Bild, teils nachher auch im Begriff, findet. In diesem Abgeschlossensein der Vorstellungen auf einer so geringen Basis liegt schon ein Irrtum. Unser ganzes Unternehmen steht so: Das reine Denken denken wir uns beginnend nach dem kunstmäßigen Verfahren, das wir finden wollen. So ist immer nur etwas gesetzt, wovon wir uns entfernen wollen, und unser ganzes Verfahren ist ein polemisches. Das bestätigt, d a ß die Skepsis der notwendige Durchgangspunkt ist. Dasselbe gilt von dem

Der Irrtum als Sünde

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freien Phantasieren, welches das Aufsuchen der in der Vorstellung von den Gegenständen noch fehlenden Beziehungen ist. Jene verhindert das Abschließen der Vorstellungen, dieses befördert es. Hier haben wir den eigentlichen S i n n d e s A u s d r u c k s , daß alles Wissen mit dem Z w e i f e l a n f a n g e n m ü s s e . So muß sich das Überzeugungsgefühl von solchen Vorstellungen, welche von einem anderen Interesse aus entstanden sind als von dem am Denken selbst, zurückziehen, wenn sie in das Gebiet des reinen Denkens g e bracht werden. § 246

Der Irrtum als Sünde. Hier sind wir schon in einem Z u sammenhang des Denkens mit den übrigen Tätigkeiten des Menschen, und wir müssen uns daher fragen: W i e s t e h t d e n n d e r I r r t u m in b e z u g a u f d i e T o t a l i t ä t d e r m e n s c h l i c h e n T ä t i g k e i t ü b e r h a u p t ? Nicht nur in bezug auf das reine Denken an sich, sondern in jeder anderen Beziehung ist er das, was nicht sein soll. Auf dem G e biet des Lebens ist er K r a n k h e i t unter dem Gesichtspunkt der Natur. Fassen wir das Leben unter dem Gesichtspunkt der Freiheit, so ist er S ü n d e ; aber beides ist unvermeidlich. D a ß das bedingte Denken dem reinen vorangeht, liegt nicht in der Notwendigkeit der Natur. Unsere Sinne sind nicht wie die tierischen bloß auf das unmittelbare Bedürfnis beschränkt, sondern haben eine absolute Universalität. A n ders ist es beim Tiere. Was in keinem Zusammenhange mit der Animalisation steht, affiziert nicht seine Sinne. D a s Tier empfindet nur Lust in bezug auf das, was sein tierisches Leben fördert, und Widerwillen gegen das, was seinem Leben entgegen ist. Der Gegensatz von Empfindung und Wahr-

ad 16 (§ 245). Die Richtung auf das reine Denken ist ursprünglich, also muß auch, in abstracto betrachtet, die gleichmäßige Entwicklung möglich sein, d. h. das Zurückgedrängtwerden dieser Funktion ist etwas, was nicht sein soll, also, wenn man das Leben aus dem Standpunkt der Natur betrachtet, Krankheit, wenn aus dem der Freiheit, Sünde. (Über die Unvermeidlichkeit 16. 1 [§ 245, 1].) Wenn also das Zurückbleiben Krankheit oder Sünde ist, so ist das Geschäft selbst nicht Krankheit, wie doch oft ist behauptet worden, daß das Erkennenwollen um sein selbst wülen ein krankhafter Zustand sei.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

nehmung ist bei ihm ganz verworren; wo keine Empfindung, ist auch keine Wahrnehmung. Das Tier merkt also nur auf das Nährende, während wir dem Menschen eine solche instinktartige Beschränkung nicht zuschreiben können. Für das geistige Leben, das Erkennen, gibt es nichts absolut Gleichgültiges. Hierauf beruht die Universalität der menschlichen Sinne. Sobald sich das Auge des Kindes öffnet, sehen wir darin die geistige Tätigkeit. Indem es die Bilder fixiert, zeigt sich die intellektuelle Seite, die sich in diesen ersten Anfängen manifestiert. Eben deshalb sehen wir Auge und Ohr als die höheren Sinne an, weil sich in ihnen zuerst die Freiheit von dem Bedürfnis zeigt. So ist also hier schon ein reines Denken, nur liegt es noch auf der Seite des Organischen. In der Notwendigkeit der Natur ist es nun nicht gegeben, daß diese Funktion sich wieder zurückzieht und unter die Botmäßigkeit des Bedürfnisses kommt. Es zeigt sich hierin vielmehr ein Rückgang des Menschen (ein Zurückbleiben und Verfallen in das Niedere), ein Zustand, der entweder krankhaft oder sündlich ist. Dessenungeachtet ist er unvermeidlich, weil er im Zusammenhang steht mit der Entwicklung des Selbstbewußtseins, das darin besteht, daß der Mensch sich seiner Abhängigkeit von der Natur bewußt wird, wodurch er genötigt wird, erst die animalische Seite seines Daseins zu fixieren. Diese Fortschreitung im bedingten Denken soll gehemmt werden durch die Skepsis. Soll sich nun ein ganz neues Denken bilden, so gibt es nichts, wodurch sich dieses Denken vom allgemeinen Zustand des Lebens unterscheidet oder zurückzieht, sondern es ist eine Richtung auf die Freiheit (Befreiung), Gesundheit und Reinheit der ganzen Natur, auf die Befriedigung des ganzen Wesens. Das Zustandebringen des reinen Denkens ist keine Einseitigkeit, wie die antiphilosophische Theorie will. Das Denken nach einem kunstmäßigen Verfahren, meint man, sei kein natürlicher, sondern ein krankhafter Zustand. Dieser Schein zerstreut sich durch unsere eben gegebene Entwicklung. Einseitigkeit des partiellen Wissens. Wird nun eine bestimmte Reihe des reinen Denkens angefangen, so ist auch

Partielles und totales Wissen

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diese ein bedingtes Denken in gewissem Sinn, also dem Irrtum und der richtigen Meinung unterworfen, solange nicht alles aus der Totalität des Zusammenhanges konstruiert ist. Denken wir uns diesen in einem gewissen Grade der Ausführlichkeit gegeben und sollen wir ihn vervollständigen, so geschieht dies durch ein architektonisches Verfahren. Da ist dann an keine Einseitigkeit zu denken, weil man immer die Totalität im Auge hat; und ein solches Denken geht auf das bewußte Wissen aus. Der Irrtum könnte hier nur ein error in calculo sein. Dieser Zusammenhang ist uns aber nicht eher gegeben, als bis uns auch das Einzelne gegeben ist; im Anfang entstehen also einzelne Reihen als ein relativ für sich Gesetztes; und die Tätigkeit, sie zustande zu bringen, nimmt den Charakter des bedingten Denkens an in bezug auf die Totalität des Wissens. Denken wir uns ein rein wissenschaftliches Interesse an einem partiellen Wissen (z. B. an einem Zweig der Naturgeschichte) und ist dieses Interesse gesondert vom wissenschaftlichen Zusammenhang, so nimmt es den Charakter der einseitigen Vorliebe an und tritt ebenso in einen Gegensatz zu den übrigen Zweigen des wissenschaftlichen Denkens wie das bedingte Denken eines praktischen Zweckes wegen. Gewiß sind jene nur untergeordnete Diener der Wissenschaft, die nur Materialien liefern können. Bei ihnen selbst findet nur die richtige Meinung statt, und sie nehmen ein gegebenes System an, ohne an dessen Richtigkeit Zweifel zu haben und es im Zusammenhange mit den anderen wissenschaftlichen Bestrebungen zu denken. Wo sie nun einzelne Zweige des Wissens noch in einen relativen Gegensatz gegeneinanderstellen, der nicht NB. Satz 17 (§ 246) ist ausgelassen. ad 18 (§ 248). Nach diesen Kautelen kann nun zur Sache geschritten werden. Begriffsbildung geht voran, weil jedes eigentliche Urteil schon das Gesetztsein des Subjekts, ja auch des Prädikats, voraussetzt. Der gegenseitigen Bedingtheit wegen setzt freilich Begriffsbildung auch Urteile voraus, allein dies sind nur die unvollständigen oder uneigentlichen. Mit diesem Paragraphen hören die Vorlesungsnotizen für 1822 auf. Dann folgt auf dem Blatt die Bemerkung: „Soweit war ich 1831 gekommen in 61 Stunden." Unmittelbar hieran schließen sich die §§ 62—68 der Niederschrift E von 1831 (Jon. S. 542—567). S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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wieder aufgehoben wird in der Idee des Wissens in seiner Allgemeinheit, da ist Einseitigkeit und bedingtes Denken. Wird z. B. ein Gegensatz aufgestellt zwischen dem empirischen Wissen und dem Wissen a priori oder zwischen Naturwissenschaft und Geschichte, so hat jede Fortschreitung von einem solchen Standpunkt aus immer den Charakter des bedingten Denkens. Da glaubt jeder auf seinem Gebiete etwas zustande zu bringen, ohne daß dies auf einem anderen Gebiete geschieht. Er zieht daher alles in seinen Gegenstand und verdirbt ihn dadurch noch mehr. So wiederholt sich jene Erscheinung des bedingten Denkens im reinen Denken, und wir müssen jeden Gegensatz zwischen einem einzelnen Zweige des Wissens und den übrigen vermeiden. Jede Reihe müssen wir konstruieren mit Rücksicht auf andere und auf ein x, das uns noch nicht ganz klar ist. § 247

Der Vorrang der Theorie der Begriffsbildung. So wollen wir nach diesen Kautelen zur Begriffs- und Urteilsbildung übergehen und mit jener anfangen, weil zum Urteil ein Begriff nötig ist, obgleich geschichtlich und nach dem Verlauf des bedingten Denkens das Urteil dem Begriff vorangeht.

Erste Abteilung Theorie der Begriffsbildung ^uncf approximative Verfahren und die Einteilung der 249 Begriffe. Das Minimum der Begriffsbildung ist das Setzen eines Begriffs als solchen, von dem Urteile ausgesagt werden sollen. Das Minimum der Urteilsbildung ist eine Aussage, wobei das Subjekt als ein unbekanntes gesetzt wird, dessen Begriff durch das Urteil bestimmt werden soll. Ein geschichtliches Bewußtsein unserer Begriffsbildung können wir nicht haben. Wir können uns die ersten Operationen des Denkens nur vorstellen als eine verworrene Indifferenz von Begriff und Urteil. Wir werden in unserem wirklichen Bewußtsein das Analogon noch finden können, wenn

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wieder aufgehoben wird in der Idee des Wissens in seiner Allgemeinheit, da ist Einseitigkeit und bedingtes Denken. Wird z. B. ein Gegensatz aufgestellt zwischen dem empirischen Wissen und dem Wissen a priori oder zwischen Naturwissenschaft und Geschichte, so hat jede Fortschreitung von einem solchen Standpunkt aus immer den Charakter des bedingten Denkens. Da glaubt jeder auf seinem Gebiete etwas zustande zu bringen, ohne daß dies auf einem anderen Gebiete geschieht. Er zieht daher alles in seinen Gegenstand und verdirbt ihn dadurch noch mehr. So wiederholt sich jene Erscheinung des bedingten Denkens im reinen Denken, und wir müssen jeden Gegensatz zwischen einem einzelnen Zweige des Wissens und den übrigen vermeiden. Jede Reihe müssen wir konstruieren mit Rücksicht auf andere und auf ein x, das uns noch nicht ganz klar ist. § 247

Der Vorrang der Theorie der Begriffsbildung. So wollen wir nach diesen Kautelen zur Begriffs- und Urteilsbildung übergehen und mit jener anfangen, weil zum Urteil ein Begriff nötig ist, obgleich geschichtlich und nach dem Verlauf des bedingten Denkens das Urteil dem Begriff vorangeht.

Erste Abteilung Theorie der Begriffsbildung ^uncf approximative Verfahren und die Einteilung der 249 Begriffe. Das Minimum der Begriffsbildung ist das Setzen eines Begriffs als solchen, von dem Urteile ausgesagt werden sollen. Das Minimum der Urteilsbildung ist eine Aussage, wobei das Subjekt als ein unbekanntes gesetzt wird, dessen Begriff durch das Urteil bestimmt werden soll. Ein geschichtliches Bewußtsein unserer Begriffsbildung können wir nicht haben. Wir können uns die ersten Operationen des Denkens nur vorstellen als eine verworrene Indifferenz von Begriff und Urteil. Wir werden in unserem wirklichen Bewußtsein das Analogon noch finden können, wenn

Theorie der Begriffsbildung

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wir mit einem Male in ganz unbekannte Verhältnisse oder in eine völlig neue Umgebung versetzt werden, wenn uns also der F a l l vorkommt, eine Reihe von Tätigkeiten ganz von vorn anzufangen. Ein einzelner Begriff kann für sich nie bis zu einem vollkommenen Wissen kommen, denn er muß erst in der Totalität des Wissens gesetzt werden. Wenn wir die Tätigkeiten ordnen, die sich auf einen Gegenstand beziehen, so ist hier ein Kontinuum; und in dem Maße, in welchem der Zusammenhang des Wissens nicht angelegt ist, kann keine Annäherung an die Idee des Wissens sein. Wir haben früher gesagt: die Vollkommenheit des Wissens unter der Form des Begriffs bestehe darin, daß der Begriff ebensogut mit dem Übergewicht der organischen wie der intellektuellen Seite gebildet werden kann und liege also in der Vollständigkeit der beiden Seiten. Dies ist aber nicht möglich, weil das Gleichgewicht in der Wirklichkeit nicht zu erreichen ist. Die Operation, mit der eine Reihe der Tätigkeiten anfängt, behauptet das Übergewicht darin. Selbst wenn wir beide Richtungen besonders verfolgen, zuerst vom Organischen, dann vom Intellektuellen anfangend, wird zwischen beiden Reihen eine Differenz bleiben. Und solange nicht beide ineinander gebildet sind, ist unser Begriff nicht vollkommen. Was wir eigentlich zu vollziehen haben, ist ein V e r f a h r e n d e r A p p r o x i m a t i o n , welches uns sichert, daß wir immer auf dem Wege zwischen beiden Punkten bleiben. Hier werden wir kaum vermeiden können, uns das Gebiet des Begriffs einzuteilen, weil sich sonst die Regeln, die wir finden möchten, ohne diese Einteilung nur in der höchsten Allgemeinheit halten könnten und auf das D i f f e rente keine Beziehung hätten. Wenn wir nun von dem bloßen Begriff des Begriffs zur wirklichen Tätigkeit, durch die wir eine Menge von Reihen in uns haben und an denen wir abwechselnd arbeiten, übergehen wollen, d. h. von der Einheit zur Mannigfaltigkeit, so müssen wir durch eine bestimmte Vielheit hindurch, und diese wird uns das Prinzip der Einteilung der Begriffe sein. Wie sollen wir uns nun aber das Gebiet der Begriffe selbst teilen? Eine objektive Einteilung gibt es nicht. Auch wenn es eine solche gäbe, so hätten wir sie jetzt noch nicht als ein 22*

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wirkliches Wissen und müßten erst die Lehre vom Begriff abhandeln. Wäre sie uns durch das gemeine Bewußtsein gegeben, so müßten wir immer noch an der Richtigkeit derselben zweifeln. Wir müssen uns also eine solche Einteilung erst zu schaffen suchen, so daß sie mit dem Inhalt der Begriffe als einzelner nichts zu schaffen hat. Wir können uns da eine große Mannigfaltigkeit von Einteilungen denken, wobei das freie Phantasieren tätig ist. Dann aber wäre unser ganzes Verhalten nur provisorisch. Wir müssen also eine Einteilung suchen für unser ganzes künftiges Verfahren; also müssen wir mit etwas anfangen, das für unsere ganze Untersuchung gilt, und die Einteilung muß auf unser Verfahren selbst Bezug nehmen. § 260

Das Einteilungsprinzip. Subjekts- und Prädikatsbegriffe. Stellen wir uns auf das Minimum der Begriffsbildung, so kann ein Begriff nicht anders vervollständigt werden als durch eine Reihe von Urteilen. Begriffs- und Urteilsbildung müssen also einander stets ergänzen. So bekommen wir ganz von selbst eine Einteilung der Begriffe in bezug auf das Urteil, und alle Begriffe müssen in dieser Beziehung S u b j e k t s - oder P r ä d i k a t s b e g r i f f e sein. Man könnte fragen, ob dies eine reale Verschiedenheit im Gebiet der Begriffe sei, d. h. ob man nicht auch umkehren und im Urteil das Subjekt zum Prädikat machen könnte. Die Gegensätze waren bisher immer relativ, also vielleicht auch dieser; und es wäre die Umkehrung nach der Analogie möglich. Doch würde dies nicht die Richtigkeit unseres Verfahrens begründen. Betrachten wir die Sache näher, so müssen wir sagen: Die Sprache beschützt den aufgestellten Gegensatz; denn es gibt keine ausgebildete Sprache, in der nicht diese beiden Hauptklassen von Wörtern (Nenn- und Zeitwörter) wären. Die ersten sind die Subjektsbegriffe, die zweiten die Prädikatsbegriffe. Hier antizipieren wir freilich etwas, was noch nicht dargestellt ist und ins Gebiet des Urteils gehört. Es gibt nämlich zwei verschiedene Arten, das Urteil anzusehen. Einige nehmen zwei Elemente im Urteil an — und dies tun auch wir —, nämlich Subjekt und Prädikat. Dann ist die Einteilung durchgreifend und vollständig. Andre dagegen nehmen drei Elemente

Subjekts- und Prädikatsbegriffe

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an: Subjekt, Prädikat und Kopula. Dann müßten wir auch drei Klassen von Begriffen bekommen. Allein in der Kopula liegt gar keine Mannigfaltigkeit, sie ist eine bloße Verbindungsform. Andre dagegen sagen, Adjektiv und Partizipium seien die eigentlichen Prädikatsbegriffe, und alle anderen Zeitwörter wären nur eine Verschmelzung des Zeitwortes „sein" mit einem Adjektiv oder Partizipium. „Sein" wäre also das einzige Zeitwort. Das nehmen wir nicht an und werden bei der Urteilsbetrachtung darüber Rechenschaft geben. Nach unserer Dichotomie ist das Verbum das eigentliche Prädikatswort, worin auch die Kopula schon enthalten ist. Findet sich ein Adjektiv mit der Kopula, so müssen wir uns beide in einem Verbum zusammengefaßt denken. „Der Jäger schießt" ist der einfache Ausdruck des Satzes, nicht: „Der Jäger ist schießend." Die Sprache ist für unsere Einteilung, denn das Partizipium ist nicht die Wurzel des Verbums, sondern erst aus der Grundform des Verbums abgeleitet. Zur Orientierung müssen wir von dem einfachen Satz zum zusammengesetzten übergehen, in welchem noch andere Wörter sind wie Adjektiv und Adverb. Ersteres gehört zum Nomen, vermehrt also den Subjektsbegriff, letzteres den Prädikatsbegriff. Ehe ich ein Adjektiv einem Substantiv beifüge, muß ich erst ein Urteil gefällt haben. Die Natur desselben bezeichnet schon diese Verwandtschaft. Das Adverb bestimmt den Prädikatsbegriff in Beziehung auf den Subjektsbegriff näher und gehört ihm an als Anhang, mag es nun eine Bestimmung des Ortes oder der Zeit oder sonst etwas aussagen. Halten wir uns an dieses Schema, so wird sich ein jeder eigentliche Begriff auf diese beiden Klassen zurückführen lassen. Sie stützen sich auf die Realität der Sprachen und auf die Theorie der Urteilsbildung, die hiernach ausgeführt werden kann. Unsere nächste Frage ist natürlich: Wie verhalten sich' diese beiden Begriffe als Begriffe gegeneinander? Wir haben nun zwar zuerst gesehen, daß wir im voraus vermuten müssen, es werden sich alle Begriffe in diese beiden Klassen bringen lassen, und wir haben auch vermuten müssen, daß sie alle ineinander übergehen können wegen der Relativität des Gegensatzes. Wenn wir ein Zeitwort erklären, so ver-

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wandeln wir es in ein Nennwort durch den Artikel; und so geht es aus der Natur des Prädikatsbegriffes heraus und erhält den Stempel des Subjektsbegriffes. Hier findet also eine solche Umkehrung statt. Gibt es aber auch Subjektsbegriffe, die in Prädikatsbegriffe übergehen können? Nein, nur gewesene Prädikatsbegriffe tun dies. Subjektsbegriffe können deshalb nicht in Prädikatsbegriffe übergehen, weil jeder Subjektsbegriff aus einer Mannigfaltigkeit von Urteilen entstanden, aus der Vielheit zu einer Einheit geworden ist und diese erst zerstört werden muß, wenn er Prädikatsbegriff werden soll. In dieser Beziehung sind also beide Begriffe einander ungleich; dem einen wohnt eine Möglichkeit bei, in den andern überzugehen, die dem andern fehlt. (Hierin liegt eine Analogie mit dem höchsten Begriff, worin alle anderen Begriffe eingeschlossen sind.) So sehen wir, daß wir feststehen in unserem Vorhaben, alles aus dem Standpunkt des relativen Gegensatzes aufzufassen, um so zum absoluten Subjekt zu kommen, worin alle Prädikate eingeschlossen sind, und von dem nichts mehr prädiziert werden kann. Wogegen, wenn wir rückwärts gehen wollten, wir auf den entgegengesetzten Punkt, in die unbestimmte Mannigfaltigkeit von Prädikaten, das chaotisch Verworrene, kämen, von der wir uns aber immer mehr entfernen sollen, und aus der Einheit eine unbestimmte Vielheit machten. Nun aber besagt auch diese Ungleichheit nichts anderes als eben nur den reinen Standpunkt der Begriffsbildung. Der Subjektsbegriff ist der Begriff nax' E^oynqv, der Prädikatsbegriff repräsentiert das Urteil. Diese Ungleichheit ist aber nicht den Begriffen als solchen eigen, sondern nur in ihrem Verhältnis zur Urteilsbildung. Der Begriff als schwebende Einheit. Prädikats- und Subjektsbegriffe haben Abstufungen, deren jede zugleich ein Allgemeines und Besonderes ist. Ihr Wesen ist eine schwebende Einheit zwischen Allgemeinem und Besonderem. Daß die Subjektsbegriffe solche Übergänge schwebender Einheiten sind, ist schon an sich klar durch ihre A b stufungen nach Klasse, Gattung, Art und Einzelnem. Aber auch von den Prädikatsbegriffen können wir nicht sagen,

Einteilung der Begriffe

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daß irgendeiner das Allgemeinste oder Besonderste sei. Denn dies ist erst möglich, wenn wir zur absoluten Gemeinschaftlichkeit alles Seins kommen. Auch bei einem jeden Zustand, der sich stets auf einen Prädikatsbegriff bezieht, kann man sich entweder an die allgemeinen Züge halten — dann ist der Begriff ein Allgemeines; oder an die kleinsten — dann ist er ein Besonderes. In dieser schwebenden Identität zwischen Allgemeinem und Besonderem und darin, daß es für jeden Begriff eine Grenze gibt, sind also beideBegriffsklassen einander gleich. Und dies ist der Punkt, worauf man vorzüglich zu sehen hat und wonach man zwei verschiedene Begriffsklassen unterscheidet, die eine gleiche Dignität haben und denen alle anderen untergeordnet sind. Kommen wir also auf ein schlechthin Allgemeines, so kommen wir an eine Begriffsgrenze, wo der Gegensatz zwischen beiden Klassen verschwindet. 61

Unterscheidungsmerkmale der Einteilungsglieder. 16. 7. a ) Verhältnis zur Koordination und Subordination. Im Be§ 252 griff selbst muß ein Grund der Einteilung liegen, d. h. beide Klassen müssen relativ entgegengesetzte Merkmale haben. Ferner haben wir in der allgemeinen Charakteristik des Begriffs gesehen, wie jeder Begriff mehrere ihm koordinierte hat, selbst aber wieder anderen subordiniert ist. Und dies ist nun eine nähere Bestimmung des Ausdrucks, daß jeder Begriff zugleich ein allgemeiner und besonderer ist. Im Subjektsbegriff erscheint der Gegensatz zu den koordinierten früher und fester bestimmt als die Einheit unter den höheren. Dies können wir etwa an der Vegetation sehen. In der Naturgeschichte finden wir große Reihen von Subjektsbegriffen, wo eine Spezies auf das bestimmteste von der andern geschieden ist, während der Gattungsbegriff an dem Mangel leidet, selten so deutlich zur Anschauung zu bringen, wie er durch den bestimmten Zyklus von Arten erschöpft sei. Im Gegenteil, er wird immer als unerschöpft angesehen. Das Zusammengefaßtsein der besonderen Begriffe unter den allgemeinen Begriff ist noch nicht so weit gediehen, wie die besonderen Begriffe in ihrem Gegensatz zueinander ausgebildet sind. Man denkt immer, daß noch neue Spezies könnten entdeckt werden. So wie dies statt-

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findet, wird das Verhältnis der Gattung in bezug auf das Subordinierte geändert, nicht so das Verhältnis der Spezies zueinander. Der Gattungsbegriff ist also hier noch nicht so ausgebildet wie der Artbegriff. Bei den Prädikatsbegriffen finden wir dasselbe Verhältnis, nur umgekehrt. Der Gegensatz der einzelnen Arten tritt zurück, aber das Verhältnis derselben zur Gattung ist bestimmt und feststehend. So denkt man sich z. B. beim Begriff der Bewegung, es sei möglich, den ganzen Umfang derselben mitzukonstruieren. Teilen wir nämlich diesen Begriff, wie dies schon die Alten getan haben, in die fortschreitende und immanente Bewegung (etwa: Drehung der Kugel um ihren Mittelpunkt) und die erste wieder in die gerade und krummlinige, so haben wir in dieser Einteilung den Umfang des Begriffes erschöpft. Wollen wir aber den allgemeinen Begriff im einzelnen anwenden, so geht uns da der bestimmte Gegensatz, ohnerachtet auf ihm die Struktur des Begriffes beruht, in der Betrachtung des einzelnen wieder verloren. Viele Bewegungen sind in mehreren Einteilungsgliedern zugleich oder aus ihnen zusammengesetzt. Wir finden Bewegungen, die zugleich peripher und fortschreitend sind, ferner krummlinige, die das Produkt von geradlinigen sind, so daß also hier der reine Gegensatz der Koordination verlorengeht. Im Gebiet des Mineralreichs nähert sich das Verhältnis der Einteilung dem des Prädikatsbegriffes; die Arten gehen da ineinander über, obgleich die höhere Ableitung feststeht. Dies kommt daher, weil die Mineralien alle in den Begriff der Aktion zurückgehen. Wir können hiervon eine recht lebendige Vorstellung erhalten, wenn wir die Begriffe im Werden betrachten, wo sie eben Aktionen waren. Als die Mineralien sich bildeten, waren ihre Begriffe Prädikatsbegriffe. Überhaupt ist überall dort, wo sich etwas erst bildet, der Punkt, wo beiderlei Begriffe ineinander umschlagen. § 251 b) Verhältnis zur Qualität und Quantität. Gradhaftigkeit. Betrachten wir jeden Begriff in bezug auf das allgemeine System der Begriffe, so bekommt jeder Einzelne ein Quantum und wird ein bestimmter Teil des Ganzen. Dies können wir uns am Raum versinnlichen. Auf dem Erdkörper

Einteilung der Begriffe

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sind alle Arten des besonderen Lebens zusammen. Und von diesen sind die einen nur auf einem kleinen, andere auf einem größeren Teile des Erdkörpers zu finden. Dieses quantitative Verhältnis muß überall sein, wo ein einzelner Begriff auf ein System von Begriffen bezogen wird. Das E r kennen kann daher kein vollkommenes sein, wenn wir dieses Verhältnis nicht kennen. Das Quantitative entsteht uns als ein notwendiges Verhältnis, weil jeder Begriff gleichsam im ganzen einen Ort einnimmt und also durch den anderen begrenzt wird. Was sich dagegen in die Erklärung zusammenfassen läßt, ist das Qualitative. Auch hier finden wir bei beiden Beg r i f f e n ein umgekehrtes Verhältnis. B e i d e n S u b j e k t s begriffen tritt überall das Innere, Qualitative hervor und das Quantitative zurück. B e i d e n P r ä d i k a t s b e g r i f f e n u m g e k e h r t . Wir können uns dieses Quantitative dadurch ausdrücken, d a ß wir sagen: Der Begriff läßt einen Grad zu, er läßt sich unter den fließenden Gegensatz des Mehr oder Weniger subsumieren. U n d dies tritt in den Prädikatsbegriffen hervor. Wenn wir eine Gattung von Tieren nehmen und die Quantität so fassen, d a ß wir sagen: an der ganzen lebendigen Produktionskraft der E r d e hat diese Gattung einen solchen Teil, so wird der Grad ihrer Verbreitung dadurch bestimmt. Das Mehr oder Weniger der Ausbreitung ist aber doch zufällig in Beziehung auf die Begriffe der Art. Nur wenn das Ganze als Aktion angesehen wird, ist es wesentlich; und darin liegt schon, d a ß es im Prädikatsbegriff hervortritt. Im Begriff „ P f e r d " ist das Wesentliche, d a ß die Merkmale angegeben werden; in welchem Verhältnis diese stehen, und wie viele oder wie wenige Pferde vorhanden sind, ist hier gleichügltig. Beim Prädikatsbegriff, der eine Aktion oder Passion oder einen aus beiden zusammengesetzten Zustand ausdrückt, f r a g t man am meisten nach dem Grade. Die Liebe ist mehr oder weniger Liebe, je nachdem sie stark oder schwach ist. Hier geht das Quantitative gleich mit hinein, sobald man sich die lebendige Anwendung denkt. Dies ist seit alten Zeiten als ein wesentlicher Einteilungsgrund angesehen worden. Schon bei Piaton findet sich die Einteilung der B e g r i f f e in solche, die ein Mehr oder Weniger zulassen, und in solche,

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die dies nicht tun. Dies ist freilich kein vollständiger Gegensatz, weil das andere Glied die Negation des ersten ist. Aber es vervollständigt sich dasselbe, wenn wir sehen, in welchem Koordinationsverhältnis es steht. Einteilungen halten aber bei den qualitativen Begriffen selten Stich, so, wenn Aristoteles die Liebe einteilt in die gleiche und ungleiche, weil das Verhältnis immer zwischen zweien ist. Die Liebe zwischen Eltern und Kindern nennt er eine ungleiche. Doch ist sie wesentlich dieselbe, denn sie beruht auf einem Naturzusammenhange. Das Qualitative tritt also hier nicht hervor, sondern immer das Quantitative. Jener Gegensatz der Alten muß daher vervollständigt werden, indem wir auf jeder Seite das Positive zusammenfassen: in den Subjektsbegriffen tritt das Qualitative, in den Prädikatsbegriffen das Quantitative hervor, das andere jedesmal zurück; und dann erst ist der Gegensatz rein konstruiert. Doch ist auch dieser Gegensatz nur ein relativer. Das sehen wir, wenn wir weiter hinabsteigen. So seien z. B. die Arten einer Gattung streng gesondert (und dies ist der erste Grad der Vollkommenheit eines Begriffs). Nehmen wir nun aber die unter die Art begriffenen einzelnen Dinge, so stehen diese nicht in einem so strengen Gegensatzverhältnis, sondern hier verwandelt sich der Gegensatz aus einem festen in einen fließenden. Die Prinzipien zur Unterscheidung der einzelnen Dinge aufzustellen, ist eine Aufgabe, die nie vollständig gelöst werden kann. Ist der Begriff nicht so gefaßt, daß das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten angewandt werden kann, so ist er noch ganz unvollkommen.-Je mehr wir also ans Ende kommen, desto mehr verschwindet der Gegensatz. Dies sehen wir schon bei den Subjekts- und Prädikatsbegriffen selbst. Nur in der Mitte ist der Gegensatz stark hervortretend. Arten erschöpfen wohl die Gattung, nicht so die Individuen die Arten. (Weit eher wird man es erreichen, daß die Arten einer Gattung einen vollkommen erschöpfenden Zyklus bilden, als solche zu finden für die Einzelwesen.) Die Wahrheit des Gegensatzes zwischen Subjekts- und Prädikatsbegriffen wird dadurch nicht aufgehoben, sondern verschwindet nur an beiden Enden.

Einseitigkeit des Wissensprozesses

S|253,

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Die Relativität des Gegensatzes und die Einseitigkeit des wissenschaftlichen Prozesses. Hieraus eine Folgerung: Da der Gegensatz nur ein relativer ist, so m u ß es möglich sein, dasjenige, bei dem das eine dominiert, auch unter dem Gesichtspunkt des andern zu betrachten. Es ist also einerlei, ob wir etwas unter dem Gesichtspunkt der festen Koordination des Subjektsbegriffes als Form des materiellen Seins oder unter dem Gesichtspunkt des Mehr oder Minder des Prädikatsbegriffes als Aktion betrachten. Beide Betrachtungsweisen müssen auf jedem Punkt zulässig sein. Und dies schließt ein, d a ß die Erkenntnis eines Gegenstandes nicht eher ganz vollendet ist, als bis man ihn aus beiden Gesichtspunkten betrachtet und diesen Gegensatz bis zur A u f h e b u n g verfolgt hat.

Hätte man dies, so wie es uns klar vor Augen liegt, beim A n f a n g alles wissenschaftlichen Prozesses beobachtet, so wäre uns eine Menge von Irrtümern erspart worden. In der Naturwissenschaft gibt es einen Gegensatz von K r a f t und S t o f f . Erklärt man nun das, was geschieht, aus dem S t o f f oder aus der Verschiedenheit der Kräfte, so bringt dieser Gegensatz immer verschiedene Systeme der Naturwissenschaften im ganzen oder bei der Anwendung auf einzelne Teile hervor. Führt man alles auf fixierte S t o f f e zurück, so wird alles auf den Subjektsbegriff zurückgebracht; erklärt man alles aus der Kraft, so geht alles auf den Prädikatsbeg r i f f zurück. Tut man nur das eine oder das andere, und sieht man den Gegensatz als einen absolut festen an und sucht den anderen Gegensatz auf Null zurückzubringen, so verfährt man einseitig. Der Gegensatz muß von beiden Gesichtspunkten aus betrachtet werden, denn beide Verfahren ergänzen einander. Der Stoff muß wieder angesehen werden als Produkt der Kräfte, und diese bestimmt und gebunden an den Stoff. Und erst, wenn sich beides ergänzt, wird man zur Vollständigkeit der Ansicht gelangen. D a ß man in der Naturgeschichte immer geschwankt hat, ist eine F o l g e der Mangelhaftigkeit des dialektischen Prozesses, den man nicht wissenschaftlich angewendet hat. Die wahre Erkenntnis kann nur in der Kombination beider Verfahren sein.

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Friedrich Schleiermachers

Dialektik

Kanon der materiellen Differenz. So haben wir einen K a n o n , um eine große Menge von Irrtümern zu vermeiden. Dieser Kanon geht auf in dem B e g r i f f der skeptischen Annahme, die wir als notwendigen Durchgangspunkt gesetzt haben: J e d e D a r s t e l l u n g f a s s e n w i r z w e i f e l n d a u f , w e n n s i e z. B. b l o ß a u f d e m S u b j e k t s b e g r i f f g e g r ü n d e t ist. D a n n h a l t e n w i r u n s e r Ü b e r z e u g u n g s g e f ü h l zurück, bis der Gegenstand von d e r a n d e r e n S e i t e e r g ä n z t i s t . Also schon an der Form habe ich ein vollkommenes Kennzeichen, das Mangelhafte einer ganzen Wissenschaft zu erkennen. Indem ich nun auf die andere Seite sehe, so habe ich zugleich die Divination, wie die Wissenschaft zur Vollkommenheit gebracht werden kann. 62-

l7§ 256

Die beiden Wege der Begriffsbildung. Denselben Gang, wollen wir nun gehen in bezug auf die f o r m a l e D i f f e r e n z d e r B e g r i f f e . Der B e g r i f f wird überall angesehen als ein Zugleich von Allgemeinem und Besonderem, also in jedem Punkt im Übergang begriffen von einem zum andern. Entwickelt sich eine Reihe von Begriffen, so bekommen wir Abstufungen von allgemeinen und besonderen Begriffen. Hier kann jeder B e g r i f f entweder vom Besondersten oder vom Allgemeinsten aus gebildet werden. Die Entstehung eines B e g r i f f s von einem Allgemeinen aus nennen wir A b l e i t u n g oder D e d u k t i o n . Hier ist die intellektuelle Funktion die vorherrschende; beim besonderen mehr die organische. Die Ableitung geschieht, wenn man im höheren gegebenen B e g r i f f einen Gegensatz als Einteilungsgrund aufsucht und jeden T e i l dieses Gegensatzes auf den andern bezieht, um immer den B e g r i f f in seiner Vollständigkeit zu erhalten. Der B e g r i f f muß dazu immer in einiger Ausführlichkeit gesetzt sein. Nehmen wir z. B. das tierische Leben. Dazu gehört eine Zirkulation von flüssigen und festen Teilen und ein wärmebildendes Prinzip. Beides setzen wir als einen fließenden Gegensatz mit einem Maximum und Minimum und beziehen es aufeinander. So erhalten wir den Gegensatz von warmblütigen und kaltblütigen Tieren, und so entstehen uns Klassifikationen. Das wäre also ein B e g r i f f , der durch Ableitung entstanden ist, aber nur, indem wir

Wege der Begriffsbildung

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etwas von dem, was im Begriff gesetzt ist, in einen Gegensatz verwandeln. Nun erst ist der Begriff selbst die lebendige Kombination der Merkmale. Die Art der Entstehung der Begriffe vom Besonderen aus nennen wir I n d u k t i o n oder Z u s a m m e n t r a g u n g . Zu einer Zahl unter sich differierender, einzelner, schon gegebener, besonderer Begriffe wird ein gemeinschaftlicher höherer Begriff gesucht, indem aus jedem einzelnen das Gemeinschaftliche herausgenommen wird. Ein so entstandener Begriff wird nie eher vollständig sein, als bis alles zusammengefunden ist, was unter ihn gehören kann. Eher werden sich die koordinierten Begriffe nicht als vollständigen Zyklus darstellen, und eher ist der höhere Begriff nicht vollendet. Dies ist immer ein unendliches Geschäft, auf das aber die Begriffsbildung nicht warten kann. Wenn unsere Gattungsbegriffe in der Botanik so entstanden wären, so hätten wir kein System bekommen, bis nicht die ganze Erde in dieser Hinsicht durchforscht worden wäre. So sind also durch Induktion entstandene Begriffe ungewiß und unzuverlässig. Derselbe Begriff kann aber auch von oben her entstehen, und dies wird ein Beweis werden für die Vollständigkeit der Induktion. Jeder durch Induktion gefundene Begriff muß also durch die Deduktion ergänzt werden. Aber auch in dem Verfahren der Ableitung liegen zwei Schwierigkeiten: i. Eine Teilung läßt sich nur auffinden, wenn der Begriff schon in einer gewissen Ausführlichkeit gegeben ist. Dies setzt voraus, daß der Begriff zugleich von unten her (durch Induktion) entstanden sei. 2. Dann aber wissen wir auch nicht, ob die Teilung vollständig sein wird. Wenn wir etwas finden, das im Begriff einen Gegensatz darbietet, so wird doch nicht alles gleich geschickt sein, den ganzen Begriff zu teilen. Es könnte ja etwas Untergeordnetes sein, was wir als Einteilungsgrund nehmen. Insofern ist jede Einteilung nur provisorisch, bis wir wieder beide Teile zusammenhalten können und die Zusammentragung dies bestätigt. Kanon der formalen Differenz. So erhalten wir einen K a n o n , der sich auf das Wesentliche in der Form der Begriffe bezieht und der von gleichem Wert mit dem vori-

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

gen ist, der sich auf das Materielle im Begriff bezog: J e d e n durch Induktion entstandenen Begriff müssen wir f ü r p r o v i s o r i s c h e r k l ä r e n , s o l a n g e er n i c h t d u r c h d i e D e d u k t i o n b e s t ä t i g t i s t , und zugleich hat jeder Zyklus untergeordneter Begriffe, der durch Deduktion entstanden ist, nur Wahrheit, wenn er zugleich durch Induktion entstanden ist. Dieser Kanon setzt in seiner Anwendung voraus, d a ß uns. mit einem Begriff auch dessen Geschichte gegeben sei. N u r aus dieser Geschichte weiß ich ja, wie ein Begriff entstanden ist (ob durch Induktion oder Deduktion). Ist uns aber die Genesis eines Begriffs allemal mit dem Begriff selbst gegeben? Diese F r a g e können wir nur beantworten, wenn, wir auf den Unterschied zwischen reinem und bedingtem Denken zurückgehen. Insofern uns ein Begriff im Leben vorkommt, ist immer vorauszusetzen, d a ß er aus dem b e dingten Denken entstanden ist, weil das reine Denken f a s t noch auf keinem Gebiet das das Leben wirklich regulierende Prinzip ist. Dies aber entsteht aus dem Bedürfnis und ist dem Zufall unterworfen, keiner Regel. Hier aber gibt e s keine Geschichte, und wir wissen nicht, ob die Induktion oder die Deduktion den größeren Anteil an seiner E n t stehung hatte. F ü r dieses Gebiet würde also der Kanon nicht zu gebrauchen sein. Aber wir können dieses Gebiet auch nicht unmittelbar in ein kunstmäßiges verwandeln, sondern nur vermittels des reinen Denkens. Ist der Begriff dagegen in einem wissenschaftlichen Zusammenhange gegeben, so hat er eine Umgestaltung erfahren und ist uns als ein P r o dukt des reinen Denkens gegeben. Und darin läßt sich immer manifestieren, was die Oberhand und das Ursprüngliche ist, die Deduktion oder Induktion; und die eine Entstehungsweise muß der anderen zur Probe dienen (Induktion m u ß durch Deduktion und Deduktion durch Induktion bestätigt werden). Wir müssen also die Skepsis fortsetzen, in der Annahme, d a ß sich mit dem so entstandenen K o m plexus nicht eher ein vollständiges Überzeugungsgefühl verbinden kann, bis wir keine Einseitigkeit in der Konstruktion der Begriffe mehr gewahren. Jede vereinzelte wissenschaftliche Reihe nimmt aber doch wieder auf untergeordnete Weise den Charakter des b e d i n g -

Genesis des Begriffes

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ten Denkens an in dem Maß, wie sie sich vereinzelt. Auf alles vereinzelte Wissenschaftliche muß folglich jener Kanon angewandt werden, um das Einzelne in den allgemeinen Zusammenhang aufzunehmen. Genesis des Begriffs. Der primitive Zustand. Nun aber kommt zu diesen beiden Hauptpunkten, von denen wir bis jetzt ausgegangen sind, der formalen und materialen Einteilung, noch als Drittes das G e n e t i s c h e a n s i c h , die Art nämlich, wie der Begriff entstanden ist, indem daraus, soweit wir sie verfolgen können, gewußt werden kann, auf welcher Linie der Fortschreitung in der Begriffsbildung wir uns befinden. Daß wir das wissen müssen, wenn unsere Aufgabe adäquat sein soll, ist wohl klar. Das Überzeugungsgefühl ist ja wie der ganze Prozeß der Begriffsbildung ein zeitlich Entstehendes und Wachsendes. Es würde daher dem Wissen am richtigen Verhältnis fehlen, wenn wir keinen Unterschied machten zwischen einem Begriff, der schon einen großen Teil seiner Ergänzung empfangen hat und einem solchen, der noch auf der ersten Stufe der Bildung steht. Diese Differenz muß also gegeben sein, wenn wir fortschreiten wollen, und hierdurch können wir gar nicht umhin, auf die Genesis des Begriffs zu sehen. Dies können wir ab£r nicht im einzelnen, sondern müssen den Prozeß ganz im allgemeinen betrachten. Wir haben gesehen, daß allemal die ersten Glieder dieses Prozesses in den Zustand der Bewußtlosigkeit und Unbestimmtheit zurückfallen. So wird die Nachkonstruktion großen Schwierigkeiten unterliegen. Aber der transzendentale Teil unserer Untersuchung ermutigte uns, auf die Grenze des Denkens zu achten. Und so haben wir schon etwas gefunden, was uns den mangelhaften Zustand fixieren und ergänzen kann. Darauf werden wir also zurückgehen müssen. Was ist also der erste Punkt, den wir vor aller Begriffsbildung als ihr zugrunde liegenden Zustand unseres Bewußtseins betrachten können? Alles wirkliche Denken ist ein Ineinander der organischen und intellektuellen Funktion. Die erste ist uns repräsentiert durch den Sinn und die letzte durch die Vernunft. Vernunft ist die Geistestätigkeit, welche die Entgegensetzung hervorbringt und zusammenfaßt. Wenn nun

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

ein jedes wirkliche Denken ein Ineinander von beiden sein soll, so müssen beide Funktionen dem Denken vorher gegeben sein. Gegeben ist uns der Zustand des Sinnes als Rezeptivität, der der Vernunft als Spontaneität. a) Der

§ 256

Induktionsprozeß

D a s erste Moment des irrtumsfreien Ansatzes. Das Wissenwollen. Nehmen wir nun zur Rezeptivität des Sinnes die Relation auf das äußere Sein als Agens, so ist der Sinn ein erfüllter, und das Erfülltsein ist das Resultat der Einwirkung des Seins auf den Sinn. Ebenso muß die Spontaneität, wenn wir uns die Vernunft als ein Lebendiges denken, ein Trieb, eine Agilität sein. Und damit haben wir uns die beiden Punkte lebendig vorgestellt. Indem nun der Sinn durch das Sein erfüllt ist, und die Vernunft nichts anderes hat, worauf sie sich richten kann, als den erfüllten Sinn, so stehen beide in Relation, und es ist uns dies vor aller Begriffsbildung gegeben: die durch das Erfülltsein des Sinnes entstandene Relation der Vernunft mit dem Sein. Die Technik der Begriffsbildung läßt sich aber an diesen primitiven Zustand nicht anknüpfen. Denn es müssen dem Menschen erst Resultate jener beiden Funktionen gegeben sein, die die Reflexionen darlegen, ehe die Vernunft auf das Sein kunstmäßig gerichtet wird. Diese müssen wir voraussetzen als bestimmt durch die Art der Bedingtheit durchs Sein. Wo geht nun von diesem Punkt aus der Irrtum an, damit wir ihn von hier aus eliminieren können und die Vervollkommnung der Begriffsbildung abschätzen? In diesem Grundzustande selbst ist das Wissenwollen, und wo die Rezeptivität des Sinnes auf die Tätigkeit der intellektuellen Funktion gleichsam wartet, ist ebenfalls das Wissenwollen. Aber sofern kein bestimmtes Resultat in diesem Zustande gesetzt ist, ist auch kein Irrtum gesetzt, sondern der Zustand repräsentiert uns nur die Zusammengehörigkeit der Vernunft mit dem Sinn, inwiefern wir denselben ansehen als den gemeinsamen Ort der Einwirkung auf die Organe. Diese Zusammengehörigkeit ist aber die Grundbedingung

Der iirtumsfreie Ansatz

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aller Wahrheit. Der Irrtum kann erst anfangen, sobald die Sonderung geschehen ist. So teilt sich die ganze Begriffsbildung in das Anfangen mit der Induktion und das Anfangen mit der Deduktion und in das Zusammentreffen beider, wodurch ein wirkliches Denken entsteht. Hier kann schon Irrtum und Meinung sein. Steht nun dies als ein Stetiges mit jenem primitiven Zustande in Verbindung oder liegt noch etwas dazwischen, was an dem primitiven Zustand Anteil haben könnte? Früher haben wir schon gesehen, daß im Prozeß der Urteilsbildung die organische Funktion das Überwiegende ist, weil alle eigentlichen Urteile historischer Art sind, d. h. ein bestimmtes Erfülltsein im Raum und in der Zeit aussagen. Und hiermit hängt zusammen, daß im Prozeß der Begriffsbildung die intellektuelle Funktion überwiegend ist. Nun ist es, wie wir ebenfalls schon früher gesehen haben, einerlei, ob eine Funktion in einer gewissen Reihe von Tätigkeiten das Übergewicht hat, oder ob diese Reihe mit dieser Funktion anfängt. Sollen wir uns nun ein Zusammentreffen beider Weisen denken, so können wir uns dies nur unter der Form des Anfangens von der einen oder anderen Seite denken. Etwas Drittes ist nicht möglich. A k t i o n ist nun die Formel für die Urteilsbildung, D i n g die Formel für die Begriffsbildung. Jener primitive Zustand ist nun die I n d i f f e r e n z v o n A k t i o n u n d D i n g . Alles Denken fängt nun an, indem eine Differenz zwischen Aktion und Ding gesetzt wird, und hat eine Analogie mit dem primitiven Zustande. Solange noch keine andere D i f f e renz als zwischen Aktion und Ding gesetzt ist, ist auch noch kein Resultat gesetzt, also auch noch kein Irrtum möglich. Denn diese Differenz ist ja die Grundbedingung der Form alles Denkens. Aus ihr geht erst die Differenz von Begriffsund Urteilsbildung hervor. 63Das zweite Moment des irrtumsfreien Ansatzes. Die 18-7. disjunktive Agilität. Dieser Fall, daß man zuerst Ding und § 268 Aktion setzen und sondern muß, gilt von allem, worüber man noch nicht gedacht hat. Wenn nun von diesem Punkt aus ein wirkliches Denken entstehen soll, so ist dies entweder Begriffs- oder Urteilsbildung. In jenem ersten ZuS c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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stände ist es keins von beiden. Da nun keine Erkenntnis unter der Form des Begriffs eine vollendete sein kann, wenn sie es nicht auch unter der Form des Urteils ist, und da diese immer zu jener koordiniert sein muß, damit man hernach vom Begriff auf das Urteil zurückkommen kann, so muß jedem Denken dieses Disjunktive vorausgehen, damit das Erfülltsein des Sinnes durch die intellektuelle Funktion entweder als bestimmtes Ding oder als bestimmte Aktion verarbeitet werde. Wenn nicht die gleiche Möglichkeit beider gesetzt wird, so ist schon im voraus die Ergänzung der einen Operation durch die andere aufgehoben. Diese d i s j u n k t i v e A g i l i t ä t , dieses gleichgeltende Verfahren muß bei allen Denkenden stattfinden. Es ist das zweite, der Bildung wirklicher Begriffe vorausgehende Moment, worin gleichfalls weder Irrtum noch Meinung gesetzt ist. Es liegt darin nur die Zerlegbarkeit der unbestimmten Mannigfaltigkeit organischer Eindrücke unter der Form des Begriffs oder des Urteilsi Im ersten Fall wird eine bestimmte Einheit aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit organischer Eindrücke herausgenommen, welche zur Einheit sich bildet, im zweiten Fall eine bestimmte Vielheit angenommen, die sich auf die Einheit bezieht. Das Anfangen des Denkens ist also das Übergehen in die bestimmte Einheit und bestimmte Vielheit. Dies können wir auch so ausdrücken: Indem wir es als ein Axiom hinstellen, welches die Tätigkeit des Geistes im Denken leitet, daß die ganze unbestimmte Mannigfaltigkeit müsse zerteilt werden in Dinge und Aktionen, so wird dadurch die Vorstellung von der chaotischen Materie ausgeschlossen; denn indem jene Aufgabe gesetzt wird, entfernt man sich von der Materie. Und ist die Aufgabe der Teilung der organischen Eindrücke in Dinge und Aktionen gelöst, so ist die Idee der Welt, des allgemeinen Zusammenseins und Zusammenhanges, auf die Mannigfaltigkeit der Eindrücke angewendet, und in dem Maße die chaotische Materie aufgehoben. In jedem wirklichen Denken haben wir jedoch diesen Punkt immer schon hinter uns, und unser Axiom ist eben nur die Methode hierzu. Die Tendenz zu dieser Analyse wenden wir auf jede unbestimmte Mannigfaltigkeit an, und das nicht allein beim Anfang alles Den-

Die disjunktive Agilität

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kens. Auch hier kann kein Irrtum sein, weil noch gar nichts Bestimmtes gesetzt ist, und keine bloße Meinung, weil es eine Grundbedingung aller Wahrheit und alles Erkennens ist, daß es sich zur Einheit und zum Begriff der Welt wie auch zur Sonderung gestalte. Soll aber dies der Anfang des wirklichen Denkens werden, so muß jene Indifferenz, die in der bloßen Disjunktion des Setzens von Dingen und Aktionen besteht, aufgehoben werden. Wie muß dies geschehen, um dem Irrtum vorzubeugen? Nur so, daß wir im weiteren Fortschritt jedes Verfahren als Bedingung und Ergänzung des anderen setzen, d. h. indem wir sagen, daß jedes insofern bestimmt ist, als das andere unbestimmt bleibt, worin zugleich die Tendenz liegt, das andere zu bestimmen, weil jenes bestimmt ist. Denken wir uns z. B. den Zustand, in dem die Sinne gleichsam eben geöffnet sind für die organischen Eindrücke, so würde der Zustand einer unbestimmten Mannigfaltigkeit am vollkommensten sein, wenn sich nichts vor dem andern auszeichnet, sondern alles die Sinne ganz gleich anspräche. Damit hängt zusammen, daß die erste Aufforderung, die Mannigfaltigkeit zu bestimmen, die Aufhebung des Chaotischen bedingt. Nehmen wir nun einmal das Auge als Repräsentanten aller Sinne, so werden wir sagen: Soll sich etwas aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit auszeichnen, so muß es als Lichtpunkt oder als Bewegungspunkt erscheinen. Sind uns dergleichen Punkte gegeben, so können beide als Dinge oder als Aktionen gesetzt werden. Aber als Dinge nur, wenn schon eine Mannigfaltigkeit der Aktionen von demselben Punkt aus gesetzt ist (d. h. dann ist es schon ein bestimmter geworden unter der einen oder anderen Form); und als A k tionen nur dann, wenn schon aus der verworrenen Masse etwas ausgeschieden wäre, auf welche die Aktion als auf das Subjekt bezogen werden könnte. Aller wirkliche Anfang des Denkens beruht also darauf, daß die Einheit und auch die Anlage zu einer bestimmten Vielheit sich aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit ausscheide, denn sonst könnte man nicht eine Mannigfaltigkeit von Aktionen zwischen bestimmten Punkten haben. Die unbestimmte Mannigfaltigkeit muß zu gleicher Zeit in eine bestimmte Vielheit übergehen. 23*

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In diesem Durcheinanderbedingtsein der Begriffs- und Urteilsbildung ist nun ebenfalls weder Irrtum noch Meinung gesetzt. Denn noch ist nichts Bestimmtes gesetzt, also kann auch nichts festgesetzt sein. Wenn nur die Grundlage der Wahrheit gesetzt ist, so kann auch kein Irrtum gesetzt sein. §§ 259 Die Bestimmung der organischen Affektion durch die 265 Vernunft. Wodurch geht nun die wirkliche und definitive Bestimmung vor sich? Sie ist offenbar eine Tätigkeit des. Denkenden und wird nie durch die Einwirkung der Dinge erzwungen. Alle Bestimmung geht nun von der intellektuellen Funktion aus, denn in dieser liegt ja die Spontaneität; d. h., eine bestimmte Bewegung oder Ruhe (eine bestimmte Tätigkeit oder einen bestimmten Zustand) aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit zu setzen, ist Sache der Vernunft. Dies wollen wir nun in bezug auf die Begriffsbildung betrachten. Die intellektuelle Funktion sei in dieser Richtung bestimmt. (Wie sie zu dieser Richtung kommt und bestimmt wird, ist uns verborgen. Wir brauchen uns auch darauf nicht einzulassen und uns nur auf die Zusammengehörigkeit der Funktionen zu beziehen.) Daher nun auch der erste Übergang aus dem Unbestimmten in das Bestimmte, d. h. in das reale Ineinandersein von beiden. Nun haben wir die Beg r i f f e geteilt in Subjekts- und Prädikatsbegriffe. Die Richtung auf die Begriffsbildung muß also in beiden Klassen vorhanden sein. Dabei schließt sie aber zugleich die Richtung auf die Urteilsbildung in sich, und also die Gesamttätigkeit des Denkens. Diese wird angewandt auf das Erfülltsein des Sinnes; und indem die Gesamttätigkeit der Vernunft auf die Gesamttätigkeit des Sinnes angewandt wird, ist dies ein reiner Ausdruck der Idee des Wissens. Also ist auch hier noch kein Irrtum und keine Meinung. Nun sind die Begriffe ihrer Form nach zu teilen in allgemeine und besondere, obgleich dies ein fließender Gegensatz ist. (Jeder wirkliche Begriff ist beides, wird aber zugleich eins von beiden, indem man neben, unter oder über diesen Begriff andere Begriffe setzt.) Soll nun in dem, was weiter geschieht, auch hier ein reiner Ausdruck der Idee des Wissens sein, so muß durch ein und denselben Akt ein

Einwirkung der Vernunft auf den Sinn

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allgemeiner und besonderer Begriff gesetzt werden. In der organischen Affektion ist aber unmittelbar kein Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem, sondern nur das Einzelne gegeben. Unmittelbar also durch die intellektuelle Tätigkeit nach der organischen Seite hin entsteht das Einzelne. Das Einzelne ist jedoch selbst wieder ein Allgemeines, insofern es ein Veränderliches ist. Die verschiedenen Zustände eines Dinges sind im Vergleich mit der Einheit ein Besonderes, während diese Einheit ein Allgemeines ist. Wendet sich nun die Vernunft auf die organische Affektion, so wird das Einzelne auch ein Allgemeines, weil es nur in bezug auf seine Veränderlichkeit aufgefaßt, d. h. in Beziehung auf Begriffs- und Urteilsbildung gesetzt wird. (Als Veränderliches ist das Ding nur gesetzt, insofern mit dem Subjektsbegriff zugleich die Richtung auf den Prädikatsbegriff gesetzt ist.) Wird das einzelne Ding als ein Veränderliches gesetzt, so wird ein Unterschied gesetzt zwischen seiner Beharrlichkeit im Verändern und seiner Veränderlichkeit im Beharren; d. h. d a s w i r k l i c h e S e t z e n e i n e s E i n z e l n e n als B e s t i m m t e n und die H i n e i n b i l d u n g e i n e r a l l g e m e i n e n G e s t a l t u n g in d e n S i n n , d i e e i n e m b e s t i m m t e n Ort im S y s t e m d e r B e g r i f f e e n t s p r i c h t , ist ein und d e r s e l b e Moment; und nur insofern ist etwas gesetzt, auf welches die reine Erkenntnis kann gebaut werden. Entwickeln wir dies näher. Was den Ausdruck der Hineinbildung einer allgemeinen Gestaltung in den Sinn, die einem bestimmten Ort im System der Begriffe entspricht, betrifft, so ist hier zurückzugehen auf den ersten Teil unserer Untersuchungen. Intellektuelle und organische Funktion sind wesentlich verbunden. Das Denken als Maximum der intellektuellen Funktion war nur ein wirkliches Denken, wenn noch ein Minimum der organischen Funktion darin ist. Das Produkt derselben nannten wir früher auch Bild und nennen es hier G e s t a l t , wobei das Auge nur Schema aller sinnlichen Tätigkeiten ist. Das heißt also: es wird jeder Begriff, von der Seite der intellektuellen Funktion gebildet, nur ein wirkliches Denken sein, insofern ein sinnliches Bild darin gesetzt ist, welches das Bewußtsein im Denken beständig begleitet und mit ihm identisch ist. Dies findet sich

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in der organischen Funktion, aber zugleich in der intellektuellen Funktion, insofern es den Begriff repräsentieren soll. Die wirkliche Bestimmung ist ein Akt, der nur von der intellektuellen Funktion ausgeht, indem sie auf die organische wirkt. Diese Tätigkeit ist aber das Hineinbilden der allgemeinen Bilder oder Gestaltungen in den Sinn. Daß dies wirklich allgemeines Faktum ist, ist klar. Sprechen wir einen allgemeinen Begriff aus: Hund, Baum od. dgl., so haben wir immer zugleich ein sinnliches Bild dabei. Dies ist in der organischen Funktion gesetzt, aber es ist immer nur durch die intellektuelle Funktion in den Sinn gekommen. D e r S i n n a l s s o l c h e r i s t a l s o d e r O r t für das System aller allgemeinen Gestalten oder B i l d e r , wie die V e r n u n f t der Ort f ü r das System a l l e r B e g r i f f e u n d U r t e i l e . (Die Totalität der allgemeinen Gestalten im Sinn ist das das System der Begriffe Repräsentierende.) Dieses bedarf keines weiteren Beweises und verträgt auch keine Deduktion weiter. Das Faktum ist, daß das allgemeine Bild als solches nie durch die organische Funktion entsteht; also muß es durch die intellektuelle in bezug auf die organische entstehen. Jede Bestimmung aber ist nur eine richtige, inwiefern das wirkliche Setzen eines Einzelnen als Bestimmten und die Hineinbildung einer allgemeinen Gestaltung in den Sinn, der einem bestimmten Ort im System der Begriffe entspricht, ein und derselbe Moment ist. Dieser Satz bedarf allerdings einer Erläuterung. Heben wir aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit etwas heraus, so wird dies nur ein Keim zu einem wirklichen Begriff, insofern das Allgemeine mit hineingesetzt wird. Denn jeder Begriff ist ja die Identität eines Besonderen und Allgemeinen. Hebe ich z. B. ein einzelnes Tier aus der Mannigfaltigkeit heraus, so wird dies noch kein Begriff, wenn ich es nicht zugleich als ein Veränderliches betrachte. Das Tier, sich bewegend, hat eine bestimmte Gestalt; diese aber ist eine veränderliche, insofern sie sich auf die Bewegung bezieht. So muß in mir die Vorstellung von einem sich immer Gleichbleibenden in der Gestalt und von einer Menge Gestalten in der Bewegung entstehen. Jenes sich immer Gleichbleibende ist aber das Allgemeine im Bilde, dieses das Be-

Einwirkung der Vernunft auf den Sinn

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sondere. In dem Allgemeinen aber ist wieder ein Besonderes; und bringt man dies in Verbindung mit ähnlichem Allgemeinen, das nun ein Besonderes wird, so entsteht der Begriff der Art. Doch muß ich die Veränderlichkeit und Beharrlichkeit unterscheiden im einzelnen Moment, d. h. ich unterscheide das Allgemeine und Besondere in diesem einzelnen Dinge; ich setze in das Allgemeine des einzelnen Dinges das allgemeine Bild der Art. Die ganze Denktätigkeit muß so in einem Akte sein. Nur so ist die reine Idee des Wissens darin gesetzt. In dem aufgestellten Satz war das allgemeine Bild, wel- ches auf die Begriffsbildung zurückgeht, unterschieden von dem einzelnen Bild auf der Seite der organischen Affektion. Was beim Begriff das Allgemeine und Besondere ist, das ist beim Urteil das Beharrliche und Veränderliche. Die einzelne Gestalt muß unter beiden Gesichtspunkten aufgefaßt werden. In der Bewegung der Gestalt muß das Beharrliche hervorgehoben werden: dies gibt die Individuen; und in der Verschiedenheit der Individuen wiederum das Beharrliche: dies gibt die Art. Hier liegen die Keime der Urteilsbildung. Beides aber soll ein und derselbe Moment sein. Denken wir uns nämlich die organische Funktion auf der einen Seite in ihrer Beziehung auf das äußere Sein, so müssen wir sie auch in Beziehung auf die intellektuelle Funktion denken. Die organische Seite, sofern sie Rezeptivität ist, muß auch eine Tätigkeit der intellektuellen Funktion leiden. Nun ist in der intellektuellen Funktion nichts anderes gesetzt als das System der Begriffe als ein in der wirklichen Tätigkeit des Denkens sich zeitlich Entwickelndes; aber zugleich als ein ursprünglich vor allem Denken Gegebenes. Denn die Idee der Welt ist die allgemeine Voraussetzung des, Wissens. Wenn nun die intellektuelle Funktion tätig sein soll auf die organische, so kann sie es nur vermittels des in ihr Gesetzten. Aber sie kann nur in dieser wirken nach Art und Weise der organischen Funktion. Und zwar kann sie hier nur das Bild wirken, die sinnliche Seite des Begriffs, das aber immer ein allgemeines sein muß, da in ihr das Einzelne nicht gesetzt ist.

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Daß also kein wirkliches Denken ohne diese Identität beider Funktionen zustande kommt und daß dies nichts anderes sein kann als das Hineinbilden der allgemeinen Bilder in den Sinn, ist nun klar. Erörterung jedoch bedarf dieses: 4aß das Bild, was durch die Einwirkung der äußeren Dinge in die organische Funktion und durch das Hinzutreten der intellektuellen Funktion ein bestimmtes wird, und die unmittelbare Tätigkeit der intellektuellen Funktion auf die organische in einem und demselben Moment zusammentreffe. Das aber können wir uns so klarmachen: Wir denken uns die intellektuelle Funktion als Tätigkeit. Diese ist also als eine ursprüngliche gesetzt und muß eigentlich mit dem menschlichen Leben anfangen; nur daß sie nicht gleich anfangs erscheint, weil der erste Zustand ein verworrener ist. In dieser Ursprünglichkeit aber ist sie nichts Bestimmtes ünd erscheint nicht gleich als ein Besonderes. Damit sie das werde, dazu gehört ein anderer Impuls. Indem das in der intellektuellen Funktion Ursprüngliche nichts anderes sein kann als die Ideen der Gottheit und der Welt, so muß auf diese die Tätigkeit der intellektuellen Funktion zurückgeführt werden. Wirkte nun die Idee der Welt allein, dann müßte die Tätigkeit eine nach allen Seiten gleichmäßig hingehende sein. Denn die Idee der Welt ist nur total, und so könnte nie ein einzelner Gegenstand fixiert werden, bis alle auf einmal bestimmt wären. Es käme also nie oder nur spät ein vollständiges Weltbild zustande. Könnten wir von dem sinnlichen Faktor ganz abstrahieren, so könnten wir uns nicht vorstellen, wie die Welt im wirklichen Bewußtsein realisiert werden könnte. Einzelnes muß also nacheinander fixiert werden; und dies geschieht durch eine andere Funktion, den organischen Faktor. Und so entsteht nach und nach die Idee der Welt. Zu diesem Nacheinander ist in der intellektuellen Funktion gar kein Grund. Wenn nun" das einzelne Bild zugleich ein allgemeines ist, so können wir das Zusammentreffen beider Tätigkeiten nicht anders auffassen, als daß das organische Bild identisch wird mit einem in der Vernunft einen Ort einnehmenden, d. i. das System der Begriffe repräsentierenden und in die organische Funktion sich hineingestaltenden allgemeinen Bilde. — Fassen wir

Einwirkung der Vernunft auf den Sinn

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dies in eine allgemeine Formel zusammen, so müssen wir sagen: D a ß das w i r k l i c h e D e n k e n ein W i s s e n w o l l e n w i r d , h ä n g t d a v o n a b , d a ß uns e i n e s i n n l i c h e V o r s t e l l u n g von einem einzelnen D i n g auch z u g l e i c h e i n e V o r s t e l l u n g v o n A r t u n d G a t t u n g w i r d . Alles Vorstellen würde sonst rein atomistisch bleiben, und es wäre ein vergebliches Bestreben, aus der chaotischen Mannigfaltigkeit herauszukommen. Bei dem bisher Auseinandergesetzten hat jeder gewiß an Subjektsbegriffe gedacht; es leidet aber auch eine Anwendung auf Prädikatsbegriffe. Denn von den letzten gilt ebenso, daß, indem eine Vorstellung eine einzelne Aktion wird, diese auch zugleich eine allgemeine wird. Es ist in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen beiden Klassen. Es entstehen immer solche Bilder von Aktionen oder Dingen, die aufs Allgemeine zurückweisen. Inwiefern diese allgemein sind, sind sie ein in Beziehung auf verschiedene Modifikationen Beharrliches und sich selbst Gleiches. Als solche könnten sie aber nicht gesetzt werden, wenn nicht Aktion auf Ding und Ding auf Aktion bezogen würde. Denn wenn wir uns eine solche Aktion ohne solche Identität im Mannigfaltigen denken, so ist sie nichts als eine unendliche Reihe von unendlich kleinen Momenten. Hier ist nichts mehr zu unterscheiden, was die Aktion zur Aktion und den Gegenstand zum Gegenstand macht. Ebenso ist die sinnliche Vorstellung des Gegenstandes ohne Aktion auch nur eine Reihe von unendlich kleinen Momenten, welche nacheinander aufgefaßt werden. Im bloßen Akt des organischen Auffassens ist der Unterschied nicht gegeben. Diese Beharrlichkeit ist aber nun nichts anderes als das Heraustreten aus der chaotischen Masse. Die Aktion ist nur dadurch eine, daß sie i r g e n d w o ist (d. h. sie ist auf einem fixierten Punkt); und das Ding ist nur dadurch, daß es e t w a s ist (d. h. durch die Beziehung auf eine Aktion). Denn dadurch wird es eine Einheit, worin die Sukzession der Auffassungsmomente verschwindet. Wenn wir also auf diesen Punkt nur durch die wechselseitige Beziehung des Subjekts- und Prädikatsbegriffes kommen können, so sehen wir, daß auch hier Begriffs- und

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Urteilsbildung stets zusammen beginnen können und verbunden sind. Bei dieser notwendigen Beziehung beider aufeinander müssen wir hier stehenbleiben, da wir noch keinen Unterschied zwischen eigentlichem und uneigentlichem Urteil machen können. Dieser aber tritt nicht eher hervor, als bis der Begriff geworden ist, während wir noch bei dessen Bildung stehen, wo er noch nicht vom Urteil in solcher Weise getrennt worden ist. Sind wir nun hier schon auf einem Gebiete, wo der Irrtum möglich ist? Abstrahieren wir ganz von der Urteilsbildung und gehen nur von der allgemeinen Tätigkeit der Funktion aus, inwiefern sie bestimmt werden will, so ist hier noch kein Irrtum gesetzt. Die Disjunktion zwischen Aktion und Gegenstand enthält noch keinen Irrtum, denn sie spricht aus die Zusammengehörigkeit der intellektuellen Funktion mit dem Sein. Wie ist es nun mit dem Gleichsein des Setzens eines einzelnen Gegenstandes und eines allgemeinen Bildes, worauf der einzelne Gegenstand bezogen wird? Auch hier ist noch kein Irrtum möglich, sonst gäbe es keine Zusammengehörigkeit der intellektuellen und organischen Funktion. Allein unser gewöhnliches Bewußtsein scheint das Gegenteil auszusagen. Sehe ich z. B. ein Tier in einer Entfernung, wo das Bild noch nicht klar genug bestimmt ist, so kann ich ein Pferd für ein Rind halten. Es wird dann das Bild eines einzelnen Gegenstandes auf ein allgemeines Bild bezogen, ohne mit ihm identisch zu sein. Dies liegt aber nicht mehr im Gebiet der werdenden Begriffsbildung, sondern in der dazwischenliegenden Urteilsbildung. Sofern wir von dieser abstrahieren können, haben wir also keinen Irrtum. Das falsche Beziehen ist ein Übereilen, das sich aber stets in der Form des Urteilens ausspricht. Es ist ein zu frühes Abschließen, ohne daß man die gehörigen Data hat. In der zu früh sich eindrängenden Urteilsbildung also liegt der Irrtum. Hält man dieses Eilen an, so wird er auch nie entstehen; und eine andere Form, wo geirrt werden könnte, haben wir noch nicht; denn wir haben von der Einmischung der intellektuellen Funktion ganz abstrahiert.

Die

§ 266

Nominaldefinition

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Die Nominaldefinition als Resultat des primitiven Urteilsprozesses. Es kann nun zwar das Voraneilen der Urteilsbildung gehemmt werden; und dies wird auch geschehen, wenn man im reinen Wissenwollen begriffen ist. Denn dann werden wir sagen, das jetzt entstehende Bild habe auf dem gegenwärtigen Punkt noch nicht seine Vollständigkeit erreicht. Aber wenn wir sagen, die Urteilsbildung trete hernach ein und beginne mit diesem schematischen Prozesse zugleich, so ist doch jede Identifikation mit dem Beziehen des allgemeinen Bildes auf das einzelne immer schon ein Urteil. Was ist nun das Resultat dieses Urteilsbildungsprozesses, der hier die Begriffsbildung fördert, ehe der einzelne Begriff geworden ist? Es ist die N o m i n a l d e f i n i t i o n , ein A g g r e g a t von M e r k m a l e n , wod u r c h d a s V e r h ä l t n i s e i n e s b e s o n d e r e n B i l d e s zu einem a l l g e m e i n e n a u s g e d r ü c k t wird. M e r k m a l e a b e r s i n d n i c h t s a n d e r e s a l s d i e in d a s a l l g e m e i n e B i l d a u f g e n o m m e n e n R e s u l t a t e von w a h r n e h m e n d e n u n d v e r g l e i c h e n d e n U r t e i l e n . Das innere Wesen des Dinges ist durch diese Definition nie ausgedrückt, denn es fehlt die Beziehung auf die intellektuelle Funktion. Und so wird nur das Verhältnis der Gegenstände zu den allgemeinen Formen unserer organischen Funktion in dieser Definition ausgedrückt. In der Beziehung des allgemeinen Bildes auf ein einzelnes ist also der Irrtum möglich, indem die Urteilsbildung der weiteren Entwicklung des Prozesses voraneilt. Ebenso kann es hier auf jedem Punkt sein, und jede Nominaldefinition kann Irrtum enthalten, aber nur insofern ein solches Voraneilen darin ist, und die Urteilsbildung nicht im Verhältnis zum Begriff, dem sie untergeordnet sein muß, geblieben ist. — Wieweit geht nun dies ? Der gesamte Prozeß der Hineinbildung der allgemeinen Bilder in den Sinn und der Beziehung der einzelnen Bilder darauf mit den dazwischenliegenden Urteilen ist das Gebiet der gemeinen Erkenntnis, d. h. der E r f a h r u n g . Denken wir uns aber auf der anderen Seite, daß das Bewußtsein sich auf diese Weise entwickeln könnte, ohne daß das Intellektuelle hinzuträte (ohne daß der Deduktionsprozeß sich damit verbände), so ist dies bloße Abstraktion. Diese ist uns aber auch nicht vollstän-

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

dig gelungen; denn darin, daß jeder werdende Begriff durch die Disjunktion hindurchgeht, liegt schon eine allgemeine Einteilung; und diese ist schon eingetreten, ehe ein bestimmter Punkt gesetzt werden kann. Ebenso ist die Identifikation des allgemeinen und einzelnen Bildes eine Entgegensetzung, und diese ist also ein zweiter Impuls, der von der intellektuellen Funktion ausgegangen ist. In der gemeinen Erkenntnis (Erfahrung) treten als Resultat nur hervor der Prozeß der allgemeinen Bildererzeugung, Schematisierung, und einzelne Bilder, welche darauf bezogen werden. Aber es hätte gar nicht so weit kommen können ohne die intellektuelle Funktion, die von der Deduktion anfängt. Diesen Deduktionsprozeß haben wir schon in das Vorige hineingebracht, denn wir haben hier schon geteilt und entgegengesetzt, indem wir eine Veränderung als Aktion fixieren und einem Subjekt beilegen. Alle Trennung beruht auf einer Entgegensetzung, und die Abschließung eines Momentes ist auch eine Entgegensetzung und beruht immer auf der Tätigkeit der intellektuellen Funktion. Es ist also nur eine Abstraktion, wenn wir allein von dem Erfülltsein des Sinnes ausgehen wollten. Auch bei der Nominaldefinition ist die Einwirkung der intellektuellen Funktion und des Deduktionsprozesses nicht gleich Null. So kann das Wissen schlechthin selbst in seiner untergeordneten Gestalt nicht zustande kommen, ohne ganz dieselben Momente in sich zu enthalten wie das eigentliche Wissen; und eine Trennung des Bewußtseins ist ganz unmöglich. 66-

22- 7-

Das Kriterium der Umkehrbarkeit

der Urteile. Wir

haben uns öfters des Ausdrucks „Aktion" bedient im Gegen^bis6 S a t z ZU ^ o r t »Ding"; aber auch des Ausdrucks „Zu297 stand". Im Gegensatz zu „Ding" ist beides ganz gleich geltend; an und für sich aber scheint es nicht so, und wir müssen sehen, wie es wohl mit der Gleichsetzung dieser Ausdrücke steht, und wo die Differenz zwischen beiden anfängt. Streng genommen beziehen sich beide, inwiefern sie verschieden sind, auf den Gegensatz zwischen Spontaneität und Rezeptivität. Denn was wir Aktion im strengsten Sinne des Wortes nennen, ist alles, was wir dem Subjekt beilegen,

Das Kriterium der Umkehrung

365

aber wozu wir den Grund in ihm selbst suchen, d. h. was wir als Selbsttätigkeit desselben setzen, wobei das Selbstbewußtsein der Grund und die Tätigkeit des Veränderlichen im Subjekt ist. Was wir dagegen Zustand nennen, ist zwar ebenfalls ein Veränderliches im Subjekt, allein wir setzen es nicht auf so bestimmte Weise als Selbsttätigkeit und lassen es unentschieden, ob es im Subjekt selbst oder außerhalb desselben seinen Grund hat. Wir haben außerdem den Ausdruck „Leiden" gebraucht, der zwischen Aktion und Zustand in der Mitte liegt. Beim Ausdruck „Leiden" setzen wir den Grund der Veränderung des Subjekts in bestimmter Form außer demselben, beim Ausdruck „Zustand" lassen wir ihn unbestimmt. Es scheint aber doch das Leiden als Drittes zu jenen beiden anderen, Aktion oder Zustand und Ding, hinzuzugehören, denn jene bilden keinen abgeschlossenen Gegensatz. Legen wir einem Subjekt Leiden bei, so ist das daraus entspringende Urteil tineigentlich und unvollständig, weil dasjenige unbestimmt gelassen wird, was den Grund der Veränderung enthält, und nicht mit seinem Grunde zugleich gesetzt ist. Wird dieser Grund aber mitgesetzt, so ist die Unvollständigkeit aufgehoben. Dieser Grund ist dann das eigentliche Subjekt, und das Urteil ist der Umkehrung fähig. In dem Satze „A liebt" ist das Urteil unbestimmt (Weis liebt A?); denn es ist nur die Selbsttätigkeit gesetzt. Sage ich: „A wird geliebt", so ist dies ein Leiden, das Urteil ebenfalls unvollständig, weil nicht gesetzt ist, von wem A geliebt wird. Sage ich: „A wird von B geliebt", so ist das Urteil vollständig und der Umkehrung fähig. („A wird von B geliebt" = „B liebt A"). Nur in bestimmten Zusammenhängen kann also jene leidendliche Form stattfinden. Und so haben wir den Ausdruck „Leiden" nicht verwechselt mit den beiden anderen Ausdrücken. Ist hier ein Irrtum möglich? In dem, was als reines Materiale dem wirklichen Denken vorhergeht, ist ebensosehr das Chaos der Aktionen wie der Zustände. Die Veränderungen sollen aus dem Chaos ausgeschieden und also auf Bestimmtes bezogen werden. Sehen wir nun auf die Formel „Zustand", so läßt sie zwar den Grund der Veränderung unentschieden, aber sie drückt doch wesentlich ein Zusammensein aus. Aber auch in jeder

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Aktion ist eine solche Beziehung auf ein anderes, und in jedem wahren Urteil muß sie hervortreten. Und so liegt schon darin, daß Aktion und Zustand ihren Grund nicht in sich selbst haben können, sondern daß etwas anderes mitgesetzt sein muß. Und nun pflanzt sich dies auch auf die Selbsttätigkeit fort, so daß auch sie auf etwas Zusammengehöriges geht. Wenn ich z. B. sage: „A liebt", so ist dies zwar eine Selbsttätigkeit, aber ich erwarte doch immer zu hören, wen A liebt. Jedes wahre Urteil (das eigentliche oder uneigentliche) drückt immer ein Zusammensein aus von Subjekt und Prädikat. (Das rein absolute Urteil A = A freilich nicht.) Das Unbestimmte im wahren Urteil ist immer auf die chaotische Masse zurückgeworfen. „A liebt — seil. Etwas." Indem eine Aktion durch die Urteilsbildung aus der chaotischen Verworrenheit herausgesetzt und durch die Schematisierung auf einen bestimmten Gegensatz bezogen wird, so sollte eigentlich die Beziehung geteilt werden. Es sollte bezogen werden auf das Subjekt, und es sollte zugleich ausgedrückt sein das Zusammensein, wie es den Grund der Aktion mit enthält. Wäre es nur auf die chaotische Masse bezogen, so wäre es gar nicht bezogen, sondern ganz unbestimmt. Wenn wir diesen Prozeß näher betrachten, so müssen wir sagen, daß hier richtig und unrichtig geteilt werden kann. Hier kann also der Irrtum schon in der unrichtigen Zerlegung enthalten sein. Denn um das Subjekt streng zu bestimmen, wird die genaue Sonderung der Subjekte der chaotischen Masse als vollendet vorausgesetzt. Es gibt aber immer noch eine Menge von Subjektsbegriffen, die den Charakter der chaotischen Verworrenheit an sich tragen, da jene Sonderung erst nach und nach erfolgt. Sehen wir auf die Veränderungen im Ding, die zu den verschiedenen Formen des substantiellen Seins gehören und betrachten sie als Zustände, so setzen wir voraus, daß sie ihren Grund haben in dem Zusammenhang mit allen übrigen, nicht in sich selbst allein. Kommen wir dabei auf solche, wo wir den Grund nicht in ein anderes Subjekt setzen, sondern in den Gegensatz des besonderen und allgemeinen Lebens, so ist das Subjekt noch kein aufgegebener Gegenstand der näheren Bestimmung, sondern noch in der chaotischen Ver-

Das Kriterium der Umkehrung

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worrenheit. Haben wir das Bewußtsein von dieser Verworrenheit und setzen wir das Urteil so, daß wir die beiden Subjekte als solche ansehen, die noch ferner bestimmt werden sollen, so ist insofern kein Irrtum möglich. Sind dagegen die beiden Subjekte bestimmt, so ist klar, daß wir unrichtig urteilen können, sobald wir nicht sicher sind, ob die Sonderung und Teilung der Subjekte gehörig geschehen ist. Der Irrtum wird immer möglich sein, wenn nicht das Urteil unter zwei verschiedenen Formen gefällt wird, so daß einmal das eine und dann das andere Subjekt dominiert; und dann geben sie die Probe aufeinander. Solange diese beiden Urteile nicht übereinstimmen, müssen wir unser Überzeugungsgefühl zurückhalten. Sagt jemand: „Der Schnupfen, ist in der Atmosphäre gegründet", so ist darin kein Irrtum, weil das Urteil unbestimmt ist, und die Atmosphäre noch das Chaotische ist, worin die Prinzipien enthalten sind. Sagt man aber: „Er hat seinen Grund in der Kälte oder in der Hitze", so ist darin Irrtum möglich, weil wir nicht wissen, ob wir den fechten Teil der Atmosphäre getroffen haben. Hier muß also jene Umkehrung zur Probe dienen. Es liegt also im Urteil eine doppelte Möglichkeit des Irrtums. Die erste Möglichkeit liegt im Herausheben eines bestimmten Subjekts, wo nur ein unbestimmtes gesetzt sein soll; die zweite liegt in der unrichtigen Teilung. Da wir von einer Seite her einen Irrtum begangen haben können, müssen wir zur Bestimmung des Urteils von zwei Seiten ausgehen. Das eine Subjekt im Urteil ist das tätige, das andere das leidende. Spreche ich: „A liebt B", so ist da eine Aktion gesetzt mit einer bestimmten Richtung, die darin gegründet ist, daß B gesetzt ist. A ist also affiziert von B, und dieses Affiziertsein ist mit ein Grund zur Aktion in A. Und so wird mit jeder Aktion ein Leiden verbunden sein. Jede Aktion wird als solche verändert, je mehr sie bedingt ist durch ein anderes. Die Aktion kann ein Minimum werden, wenn das Leiden zu einem Maximum wird. So dachten sich die Alten die Liebe durch magische" Zaubermittel erzeugen zu können. Hier ist also die Liebe keine Aktion, sondern ein Leiden. In dem Urteil „A liebt B" ist völlig unbestimmt gelassen, wieviel Anteil B daran hat. Wenn dieser Anteil bestimmt wird, ist die Möglichkeit des Irrtums da, denn die Teilung

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

kann unrichtig gemacht werden. Hier gibt es keine andere Probe, als daß das Urteil „A liebt B" in Verbindung gesetzt wird mit allen anderen Urteilen über A. Denn A ist in allen seinen veränderlichen Zuständen eine Einheit, und die Zustände müssen also mit dieser Einheit zusammenstimmen. Bleibt die Einheit von A mit dem Urteil bestehen, so ist darin eine Gewährleistung für das Überzeugungsgefühl. Sage ich: „A liebt B wegen einer Eigenschaft in B", so ist ein anderer Kreis des Urteils gezogen und dieser genauer bestimmt. Und indem dies hinzugefügt wird, steigt die Gewißheit im Urteil immer mehr. Stimmt also das Urteil mit dieser Bestimmung und mit allen anderen Urteilen über A zusammen, so wird das Überzeugungsgefühl verstärkt. In noch höherem Maß verstärkt es sich, wenn ich es umkehre und dieselbe Übereinstimmung mit B finde. Der Irrtum wird nur aufgehoben durch völlige Bestimmung des Subjekts und seines Verhältnisses zu den anderen, so daß sie zur Prüfung gebraucht werden kann für die korrespondierende Form desselben Urteils. In der gänzlichen Durchdringung beider soll erst die Abschließung des Überzeugungsgefühls sein. Dieses ist nun das ganze Gebiet, soweit wir es bis jetzt gesetzt haben. Denn alle Urteile, welche Beiträge zur Nominalerklärung eines Gegenstandes geben können, sind von dieser Art, daß sie mehr oder weniger ein Zusammensein ausdrücken, und haben den Grund ihrer Gewißheit in jener Durchdringung. So haben wir also das Gebiet der Induktion vollendet mit Vorbehalt der Deduktion. Wir haben das wirkliche Denken, wie es sich in Reihen von Begriffen und Urteilten gestaltet, betrachtet, und zwar so, daß wir die Reihe von beiden Seiten anfangen konnten, wie es sich im Urteil fixiert. Und das ist das Gebiet, welches auf der einen Seite ins bedingte Denken, auf der anderen Seite ins reine Denken übergeht. Alles, was zur Vervollständigung der Gewißheit gehört, liegt nun im reinen Denken; die eigentliche Wahrheit ist immer nur, inwiefern eine Entwicklung auf die Idee des reinen Denkens bezogen wird, d. h. auf das Wissenwollen. Im bedingten Denken ist dies ganz untergeordnet; hier dominiert das Interesse an einem besonderen Gegenstande, und es wird

Die Wahrheit der allgemeinen Bilder

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gehandelt nach dem willkürlichen Reiz, nicht nach dem Maße des Überzeugungsgefühls. 66

Die Wahrheit der allgemeinen Bilder. Es ist oft gesagt 23. 7. w o r c ien, daß der Sinn nie irre, sondern aller Irrtum vom § 271 Verstände ausgehe. Nun bin ich aber zu keinem Grenztraktate zwischen Sinn und Verstand zugezogen, kenne die Grenzen nicht und kann mir also auch nicht anmaßen, hierüber zu entscheiden. Aber wie wir den Ausdruck nach unseren bisherigen Untersuchungen stellen müssen, ist klar. Offenbar ist der organische Eindruck eine Affektion von außen, wir haben aber auch eine Affektion des Sinnes von innen durch die intellektuelle Tätigkeit angenommen, und dieser wird das Allgemeine, welches mit dem einzelnen Bild zugleich gestaltet wird, zugeschrieben. Beides gehört wirklich dem Sinne an. Und insofern beides derselbe Akt ist, müssen wir ihm Wahrheit zuschreiben und den Irrtum ausschließen. Der Sinn, in diesen beiden Arten affiziert zu sein, irrt nicht. Denn in der einen Art (der äußeren Affektion) stellt er eine reine Naturkraft dar; in der anderen Art weist er auf einen Ort der angeborenen Begriffe hin. Nur übereilen darf man das Urteil nicht. Indem nun im Urteil der Irrtum liegt und dieses dem Verstände zugeschrieben wird, so kann man sagen, daß der Irrtum beim Verstände anfange. Wir können nun dies vom ersten Punkt an, wo wir ihn konstruiert haben, immer weiter verfolgen und sagen: Von dieser Seite her sind die organischen Eindrücke die Quelle aller sog. empirischen Erkenntnis. Aber die allgemeinen Bilder von innen her sind erst der Grund der Verständlichkeit der organischen Bilder und ihres Auseinandertretens. Und beides zusammengenommen sind die Bedingungen der Wahrheit im empirischen Bewußtsein. Wenn man sich nun nicht übereilt mit der willkürlichen Ergänzung eines unvollständigen organischen Bildes, so wird auch der Irrtum aus dem Gebiet des empirischen Bewußtseins ausgeschlossen. Das Falsche entsteht stets aus dem Wissenwollen selbst, also an der Wahrheit. Es beruht darauf, daß sich das Überzeugungsgefühl zu früh einfindet. Der Irrtum ist ebensogut möglich im Gebiet des bedingten wie des reinen Denkens. Dort will man lieber in Beziehung auf ein fremdes InterS c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

esse gleich wissen als noch nicht wissen, wodurch ein Scheinwissen entsteht. Hier ist es das nicht verstandene Interesse des Wissens, und das Abschließen ist oft richtig in bezug auf ein anderes Gebiet, aber nicht in Ansehung des reinen Denkens. Doch dies ist nur die negative Seite der Untersuchung. Es ist nicht genug, daß wir unterscheiden-, wo der Irrtum herkommt, wir müssen auch die Probe darauf machen, wieviel in diesem ganzen Gange des Prozesses an Wissen sei. Das Wissen beruht, wie wir gehört haben, auf zwei Charakteren: auf der allgemeinen Identität der Konstruktion und auf der Übereinstimmung mit dem Sein, worauf sich das Denken bezieht. Was das Letzte betrifft, so ist gesagt worden : Wenn wir nicht eine allgemeine Zusammengehörigkeit des inneren schematischen Prozesses mit dem Sein, insofern es auf die organische Funktion wirkt, annehmen, so gibt es keine Wahrheit in bezug auf das Affiziertsein von außen, und wir hätten nur Empfindung. Denn es wird uns nichts Objekt, als inwiefern der organische Eindruck Bild wird und Beziehung auf ein Einzelnes erhält. Alle Wahrheit beruht also darauf, daß wir annehmen: 1. D i e a l l g e m e i n e n B i l d e r , d i e s i c h in u n s g e stalten, sind identisch mit dem System der angeborenen Begriffe. 2. D i e B e z i e h u n g d e r o r g a n i s c h e n E i n d r ü c k e a u f diese B i l d e r sagt das aus, was die f e s t s t e h e n d e n D i f f e r e n z e n im S e i n s e l b s t s i n d . Freilich wird nicht selten in der Beziehung des allgemeinen Bildes auf ein Einzelnes geirrt. (Wenn ich z. B. ein Pferd für ein Rind ansehe.) Aber dann eben nur, wenn man den organischen Eindruck nicht vollständig genug hat und das Zusammentreffen nicht abwartet. Das allgemeine Bild aber behält seine Wahrheit (der allgemeine Begriff „Tier" liegt immer als Wahrheit zugrunde), wenn auch die Beziehung irrig ist. Wenn ich dagegen das einzelne Bild, statt auf sein allgemeines, auf ein höheres allgemeines beziehe, indem ich etwa sage: „Ich will nicht behaupten, daß jenes Ding da ein Pferd sei; aber ein vierfüßiges Tier ist es gewiß", so ist der Irrtum hier stets an der Wahrheit, denn der höhere Begriff hat den niederen in sich.

Die Wahrheit der allgemeinen Bilder

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Zum Wissen gehört ferner, daß es ein in allen auf dieselbe Art konstituiertes Denken sei. Wieweit wird nun der zweite Charakter des Wissens, die allgemeine Identität der Konstruktion im Denken, in diesem Prozeß, soweit wir ihn bis jetzt beschrieben haben, anzutreffen sein? Der ganze Prozeß ist bedingt durch die Organisation, und diese haftet an der einzelnen Person, und jeder bezieht sich auf die Einheit des einzelnen Lebens. Wir können also nicht wissen, ob der andere ebenso hört oder sieht wie wir. Worin liegt nun die Gleichheit der Konstruktion? Unbewußt darin, daß wir mit Recht voraussetzen, die Organisation folge in allen Menschen denselben Gesetzen. Allein das Denken ist nur Wissen, wenn es Bewußtsein hat. Dieses Bewußtsein von der Gleichheit der Konstruktion muß im Überzeugungsgefühl mit enthalten sein. Wie kommen wir nun dazu, diese Voraussetzung zu verifizieren? Von der Organisation aus nicht. Machen wir aber den Menschen selbst zum Gegenstande unserer Betrachtung, so wird uns der Induktionsprozeß auf die Identität der Organe und Gesetze führen. Aber bis zum vollständigen Resultat können wir das nicht verfolgen, denn immer entzieht sich uns etwas der Betrachtung. Wie das nach außen gewandte Bild im Innern des Organs zum Vorschein kommt, können wir nicht beobachten; von hier aus ist also keine Verifikation möglich. So sind wir auf die Einwirkung der intellektuellen Funktion auf die Sinne angewiesen. Die Gleichheit der Konstruktion können wir hier nur durch den Austausch des Bewußtseins ans Licht bringen. Dieser setzt ein Mittelglied voraus, ein allgemeines und gemeinsames Bezeichnungssystem, das nun die Sprache oder etwas ihr Substituiertes sein mag. Der Tendenz nach ist auch in dem Prozeß, soweit wir ihn verfolgt haben, auf diesem Gebiet schon der Charakter des Wissens. Denn schon der Schematisierungsprozeß bringt das allgemeine Bezeichnungssystem hervor. Will man dies bis in seinen innersten Grund verfolgen, so wird man sich dies nur so erklären können: das allgemeine Bild, das wir uns entwerfen, ist in seiner Allgemeinheit wesentlich ein Unbestimmtes; denn nur das Einzelne ist vollkommen bestimmt. Es ist aber nicht außerhalb des Einzelnen gesetzt, sondern darin enthalten; und die ganze Vor24*

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

Stellung ist eine O s z i l l a t i o n z w i s c h e n d e r B e s t i m m t heit des Einzelnen und der Unbestimmtheit des allgemeinen Bildes. §§272 Di e Sprache als allgemeines Bezeichnungssystem. In ¿75 dieser Oszillation ist die Identität von Einzelnem und Gattung gesetzt. Die Aktion, verschiedene Momente zusammenstellen zu können, bringt schon ein Bezeichnungssystem hervor. Denn wir können das allgemeine Bild in seiner Differenz vom einzelnen nur durch ein Zeichen fixieren, sei nun das Zeichen ein Wort oder wieder ein Bild. Wenn ich z. B. den Umriß eines Gegenstandes male und ihn durch Linien fixiere, so kann ich dabei soviel wie möglich von der Bestimmtheit des Gegenstandes abstrahieren; und dieses sichtbare Zeichen stellt das allgemeine Bild dar. Aber ebenso kann das Wort ein Zeichen sein, womit ich das allgemeine Bild fixiere. Wodurch nun die überwiegende Richtung entsteht, das Bezeichnungssystem in der Rede zu fixieren, können wir hier nicht untersuchen. Denn die Sprache ist unsere konstante Voraussetzung, indem wir von der Kunst, ein Gespräch zu führen, handeln. Und ohne sie hätten wir selbst auf dem Gebiet der Schematisierung nicht so weit kommen können. Das Wort dient also dazu, das allgemeine Bild zu fixieren, um es wieder vergegenwärtigen zu können. Und dies ist die Identität der Konstruktion der Vorstellungen eines und desselben Menschen. Wenn wir die Sprache betrachten, so müssen wir auch wohl gestehen, daß die eigentlichen Appellativa der erste Kern der Sprache und nichts anderes als die Fixierung der allgemeinen Bilder sind. Man hat freilich oft gemeint, die Einzelnamen seien der Kern. Ist dies richtig, so können wir es leicht mit dem früher Gesagten auf das erste reduzieren. Denn auch die Einzelnamen suchen wie die Appellativa eine Identität zu fixieren, aber nur, inwiefern ein Gegenstand gesetzt ist und inwiefern er sich in verschiedenen Momenten verändert. Und so wäre der Unterschied nicht bedeutend. Geschichtlich gesehen ist es nur ein bestimmtes enges Gebiet, wo die Einzelnamen die Priorität haben. Also nicht bloß der Tendenz nach, sondern

Der Wahrheitswert der Sprache

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auch der Wirkung nach zeigt sich die Richtung auf den zweiten Charakter des Wissens in der Sprache. Das Entstehen der Sprache hängt an diesem Schematisierungsprozeß und ist in ihm hinlänglich begründet. Jeder sucht das allgemeine Bild für sich und andere zu fixieren. Ebenso groß ist die innere Notwendigkeit, daß das Bewußtsein aus der persönlichen Verschiedenheit herausgehe, um sich zum Vergleich mit dem, was in uns und anderen geschieht, in die Mitte beider zu stellen. Das Heraustreten der allgemeinen Bilder in der Sprache für alle ist das erste Mittel, streitige Vorstellungen abzuwenden. Daß nun die Sprache uns eine hinlängliche Gewähr ist für die Identität des Prozesses, d. h. daß ich gewiß bin, es müsse, wer mit mir dasselbe Wort ausspricht, auch dabei dasselbe innere Bild konstruieren und dadurch dieselben einzelnen organischen Affektionen bilden, erscheint freilich nur als Voraussetzung, die sich beständig bewähren muß und, indem sie sich bewährt, für wahr erklärt wird. Dies muß beständig erprobt werden und geschieht auch in vielen identischen Momenten. In dem gleichen Maße wächst die Überzeugung von der Identität des Prozesses, und hierbei wird dann suppliert, was uns von Seiten der organischen Funktion immer dunkel bleibt. Man hat hier die Skepsis bis ins Unendliche getrieben und z. B. gefragt, ob bei einer Farbe gleichen Namens der eine vielleicht ein anderes Bild hat als der andere. Dies läßt sich nie ausmitteln, ist aber auch gleichgültig, wenn nur der Gegenstand derselbe ist, den ich habe, und der andere dieselben Aktionen vom Gegenstande beschreibt, die ich beschreibe. Die Ungewißheit geht eigentlich ganz auf die Empfindung zurück. Wir sind beständig in der Probe begriffen, und so auch in der Wahrnehmung der Identität der Konstruktion. Alle Mitteilung über äußere Gegenstände ist beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren. (Norm sei hier der Regenbogen, der doch nichts Objektives ist, sondern nur dem Auge jedes Einzelnen erscheint und von allen auf gleiche Weise bezeichnet und beschrieben wird.) Allein diese Identität, sowohl an sich, als insofern sie zu bestimmtem Bewußtsein gebracht werden kann, hat ihre Grenzen,

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

welche die Relativität des Wissens ausmachen. Wie kann aus dieser Relativität der Irrtum entstehen; und liegen diese Grenzen auch schon auf unserem Gebiet? Das Verständnis der Sprache beruht auf der Identität des menschlichen Bewußtseins. Die in der Sprache niedergelegte identische Konstruktion des Denkens ist keine vollständige Gewähr für die Richtigkeit desselben. Vieles muß hier verbessert werden. Doch beruht der Irrtum auf einem zu frühen Abschließen der Beziehungen des einzelnen Bildes zum allgemeinen. Allein auch im Ganzen gibt es in der Sprache Veränderungen des Gebrauchs derselben. So finden wir in allen Bearbeitungen menschlicher Zweige Veränderungen der Sprache, die auf eine verschiedene Konstruktion des Wissens ausgehen (z. B. die Klassifikation in der Naturgeschichte). Auch hier ist der Irrtum allemal an der Wahrheit und latitiert im Deduktionsverfahren (wovon nachher). Also auch in der Sprache gibt es Irrtum und Wahrheit; auch ein unrichtiges Denken kann gemeinsam werden, so daß das Denken nicht mit dem Gedachten übereinstimmt. Wie ist das im Zusammenhang mit unserer ganzen Untersuchung anzusehen ? Die Abschätzung und der Gebrauch des wissenschaftlichen Gehaltes aller Formeln, die in der Sprache niedergelegt und entwickelt sind, beruht auf Urteilen, wobei ein zu frühes Abschließen, also Irrtum, möglich ist. Wir müssen die Sache noch von einer anderen Seite ansehen. Die Gleichheit in der Konstruktion des Denkens als das eine Element des Wissens hat nur ihre Manifestation in der Sprache. Nun aber gibt es keine allgemeine Sprache, also auch keine allgemeine Gleichheit der Konstruktion. Also ist dieses Merkmal gar nicht realisiert und wird auch nicht realisiert werden. Alle Bestrebungen, zu einer allgemeinen Sprache zu gelangen, sind mißlungen; denn die Verständigung über die allgemeine Sprache selbst ist den einzelnen Sprachen unterworfen. Wir haben schon früher auf diese Begrenzung durch die Sprache aufmerksam gemacht, so daß wir sagen, die Identität der Konstruktion des Denkens ist nichts Allgemeines, sondern in Grenzen eingeschlossen. In der Sprache zeigt sich schon die Relativität

Der Wahrheitswert der Sprache

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des Wissens; die Grenzen sind verschieden nach der Verschiedenheit oder Verwandtschaft der einzelnen Sprachen. Manche Sprache läßt sich leichter in eine andere Sprache auflösen, weil sie ihr verwandter ist; hier kann also eine gleichmäßige Konstruktion des Wissens eher zustande kommen. Wird also die Sprache schon hervorgelockt durch den Prozeß des Schematisierens, so muß in diesem selbst schon eine Differenz und die Relativität des Wissens liegen, welche sich in der Differenz der Sprachen ausdrückt. Die allgemeinen Bilder sind allerdings etwas durch die intellektuelle Funktion im Sinn (der inneren Seite der organischen Funktion) Entstandenes, aber doch durch die organische Funktion Bedingtes. Und nur durch das Zusammenschlagen der beiden Funktionen, der äußeren und inneren, nur durch die Verbindung beider entsteht das Bewußtsein. Wenn wir von der Differenz der Sprache reden, unterscheiden wir die äußere Differenz des Klanges und die innere des Gehaltes. Es ließe sich denken, daß nur der Klang verschieden sei, der Gehalt derselbe. Aber kein Wort, das eine logische Einheit in sich trägt, korrespondiert mit einem Wort einer anderen Sprache. So ist das menschliche Vermögen in Ansehung der Empfänglichkeit für die Tätigkeit der intellektuellen Funktion in den Menschen verschieden. Wo aber diese Differenz der allgemeinen Bilder liegt, ist uns nicht klar. Sie könnte von einer Differenz in der intellektuellen Funktion selbst oder von der Beschaffenheit der äußeren Rezeptivität der organischen Funktion herrühren. Gibt es noch ein Drittes, worin der Grund der Differenz der Sprache liegen könnte? Dies ist unmöglich anzunehmen, wenn wir nicht die Annahme zerstören wollen, daß an sich in der Beziehung eines einzelnen Bildes auf ein allgemeines kein Irrtum sein kann. Denn diese Beziehung selbst ist die Wahrheit. Der erste Fall, daß die Differenz gegründet ist in einer Differenz der intellektuellen Funktion an und für sich, ist auch ausgeschlossen. Denn wäre diese nicht identisch in allen Menschen, so gäbe es überhaupt keine Wahrheit. Ist die Vernunft dieselbe, so ist auch das System der angeborenen Begriffe dasselbe, dessen Sitz sie ist. So bleibt nichts anderes übrig, als daß diese Relativität des Wissens gegründet sei in einer ursprünglichen Differenz der organischen Ein-

Friedrich Schleiermachers Dialektik

drücke. Dadurch ist die Abweichung im Schematisierungsprozeß der verschiedenen Völker, woraus die Verschiedenheit der Sprachen entsteht, begründet. Wir wollen dies hier indessen liegenlassen, und nehmen diese Relativität an, weil wir sie auf dem Wege unserer Aufgabe selbst notwendig finden. Wir kommen darauf, wenn wir streitige Vorstellungen schlichten sollen zwischen zweien, die eine verschiedene Sprache reden. Wie haben wir nun diese Relativität zu behandeln im Sinne unserer Aufgabe, die zum Teil hierdurch aufgehoben wird, weil sie die Identität aller Menschen als denkender Subjekte setzt? Lassen wir sie bestehen, so hebt sie unsere Aufgabe partiell auf. Denn es gäbe hier keine Grenze, und so wäre schließlich auch die Möglichkeit der Schlichtung differenter Vorstellungen in ein und derselben Sprache aufgehoben, weil jede Sprache in sich selbst auf eigentümliche Weise modifiziert ist (vgl. die Geschmacks- und Geruchsurteile, wo die Differenz so groß ist, daß es hier gar keine allgemeinen Namen gibt). Zur Auflösung der Relativität gibt es nur zwei Wege. Entweder setzen wir durch sie im Gedachten eine Differenz. Diese Differenz steht dann im Streit mit der postulierten Identität des Denkens. Sie muß aufgelöst werden, sonst erhalten wir kein Wissen. Dies ist der eine Weg, der auf eine Sonderung beider Gebiete ausgeht. Der andere Weg ist mehr zusammengesetzt, also indirekter. Gesetzt, wir könnten diese Relativität niemals aufheben, so würde uns übrigbleiben, daß wir die Relativität des Wissens selbst auf ein Wissen zurückbrächten. Dann könnten wir sie in die Aufgabe der Konstruktion und Schlichtung des Wissens mit aufnehmen. Alles wirkliche Denken ist dieser Differenz in verschiedenem Grade unterworfen; nur in den oben aufgestellten Denkgrenzen ist eine Identität. Diese Grenzen sind auf der einen Seite die gehaltlose Vorstellung der bloßen Materie, auf der anderen Seite das absolute Subjekt, d. h. die absolute Einheit des Seins, in welchem alle Gegensätze eingeschlossen sind. Sagen wir: es gibt eine Differenz des Sinnes hinsichtlich seiner Empfänglichkeit für die äußeren Gegenstände, so heißt dies: die Differenz im Denken geht an mit dem Anfang der Operation, wodurch Subjekte

Kanon der individuellen Differenz

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gebildet werden. Die Vorstellung der bloßen Materie geht den bestimmten Eindrücken, wodurch Subjekte bestimmt werden, voran, und Differenz ist in ihr nicht möglich, weil hier selbst die chaotische Verworrenheit von Differenz und Indifferenz gesetzt ist. Geht die Differenz des Denkens an, sobald die in sich stetige Einwirkung der intellektuellen Funktion auf die innere Seite des Sinnes eine bestimmte wird, so beginnt sie mit der Gestaltung des allgemeinen Bildes, das stets entweder einem Prädikats- oder Subjektsbegriff angehört. Diese Gestaltung ist nur denkbar unter Voraussetzung eines Gegensatzes. Vor dem Gegensatz ist aber die Identität aller Gegensätze, nämlich das absolute Subjekt, also keine Differenz. Beide aber, die gehaltlose Vorstellung der bloßen Materie und die absolute Einheit des Seins, in welcher alle Gegensätze eingeschlossen sind, sind nur Grundbedingungen des Denkens, nicht das wirkliche Denken selbst. Überall zwischen diesen Punkten, wo ein Denken auf sie bezogen wird, muß notwendig Differenz sein. Dies erhellt aus dem Bisherigen. Die Differenz muß gegründet sein in der organischen Funktion als Rezeptivität von außen, und darin liegt, daß die Differenz überall sein muß, wo etwas von bestimmten organischen Eindrücken abhängt. Nun hat jedes Denken etwas von der organischen Funktion an sich, also auch etwas, wodurch die Differenz begründet ist, also auch etwas von der Differenz selbst. Gesetzt auch, die Totalität der allgemeinen Bilder läge im Sinne und wäre in allen dieselbe, so könnte sie doch nicht anders zum Bewußtsein kommen als durch die einzelnen Eindrücke. Wenn dies die Identität des Menschen als denkenden Subjektes aufzuheben scheint, so ist dagegen zu sagen: Jeder Mensch hat seinen Ort in der Totalität des Seins, und sein Denken repräsentiert das Sein, aber nicht getrennt von seinem Ort. Hieraus ergibt sich als K a n o n : D i e I d e n t i t ä t d e s Denkens drückt die Zusammenstimmung des M e n s c h e n mit d e m S e i n in dem O r t e a u s , wo er sich befindet; die D i f f e r e n z die Verschiedenh e i t s e i n e s D e n k e n s vom S e i n in d e m Orte. Daraus geht von selbst hervor, daß wir kein anderes Mittel haben, unsere Aufgabe mit dieser Relativität in Verbindung zu

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Friedrich Schleiermachers Dialektik

bringen, als indem wir diese selbst auf ein Wissen zurückführen, so daß die Konstruktion der Differenz des Denkens zusammenfällt mit dem Bestreben, die streitigen Vorstellungen zu lösen. Wir müssen die individuelle Differenz selbst erkennen und bleiben also in unserer Aufgabe, nämlich im Wissenwollen. Dies aber ist nur ein neuer Koeffizient in der Annäherung zum wirklichen Wissen. Denn es wird verlangt, die Eigentümlichkeit eines Volkes oder eines einzelnen Menschen vollkommen zu wissen. Und dies sind Gegenstände, von denen wir wissen, daß wir sie immer nur in der Approximation erreichen können. 68

Der Kanon des kritischen Verfahrens. Es bleibt also - nur übrig, daß wir die Relativität selbst zum Gegenstande §§ 276 machen. Nur die Grenzen des Denkens sind vom Einfluß D1S 277 des Individuellen ausgeschlossen. Dies bestätigt die Geschichte, denn wir finden bei allen Völkern dieselben Vorstellungen darüber. Übrigens ist in allen Zweigen des realen Wissens diese Verschiedenheit sichtbar. Das liegt schon in der Sprache. Es geht dies soweit, daß, ungeachtet wir sagen mußten, daß, je mehr ein bestimmtes Denken sich den Grenzen nähert, um so mehr die Identität in der Konstruktion heraustreten müsse, auch hier die individuelle Verschiedenheit dennoch nicht fehlt. Grenze auf der Seite der bloßen Möglichkeit der Subjekte ist die Mathematik, wo immer verschiedene Methoden stattgefunden haben; auf der anderen Seite, wo alles liegt, was der Vorstellung des absoluten Subjektes am meisten verwandt ist, das eigentlich Metaphysische. Auch hier finden wir Differenzen in den Grundvorstellungen, und in der Form, die den wissenschaftlichen Charakter ausmacht, zeigt sich überall die individuelle Verschiedenheit. Aus alledem entsteht ein neuer K a n o n für die Begriffsbildung : Es ist ü b e r a l l s o v i e l A n n ä h e r u n g an d a s w i r k lich g e w u ß t e Wissen, als das V e r f a h r e n des Ind u k t i o n s p r o z e s s e s b e g l e i t e t ist von e i n e m k r i tischen Verfahren, welches das Individuelle a u f s u c h t u n d es in s e i n e m P o s i t i v e n u n d in s e i n e n G r e n z e n zu v e r s t e h e n s u c h t . 28

Kanon der Individualkritik

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Es soll hier etwas gesondert werden, was nicht getrennt ist. Das Verfahren ist also nur eine Abstraktion. Die Sonderung kann daher nie in einem bestimmten Produkte hingestellt werden, sonst wäre sie auch tingiert mit dem Individuellen des Sondernden. Sie kann nur im Prozeß selbst sein. Ist der Kanon richtig, daß nur soviel Annäherung an das Wissen ist, als das Individuelle im Denken aufgesucht wird, so können wir hieraus sehen, wie es eigentlich mit der Forderung der Allgemeingültigkeit in der Wissenschaft steht. Absolute Identität des Wissens kann nur entstehen, wenn der individuelle Faktor ganz eliminiert wäre. Das aber ist nur unter der Voraussetzung einer absolut allgemeinen Sprache möglich. Nun gibt es aber kein Mittel, eine solche Sprache zustandezubringen, wenngleich sie auch ein Produkt der intellektuellen Funktion ist. Denn die Sprache steht nicht überall unter der Botmäßigkeit der Konstruktion und hält am Naturgebiete fest. Überall, wo die Wissenschaft aufwachte, kam diese Sache zur Sprache, zuletzt durch Leibniz (Pasigraphie). Allein dieses Problem entspricht der Quadratur des Zirkels. Man ist auf dem Gebiet des technischen Verfahrens im Denken nie so nahe gewesen, diese Aufgabe zu lösen, wie damals, als die lateinische Sprache die allgemein wissenschaftliche war. Aber dies war zu einer Zeit, als alle Sprachen in einem revolutionären Zustande begriffen waren. Und jener Zustand ging vorüber, als diese sich nach dem Volkscharakter gebildet hatten. Als die neueren Sprachen sich entwickelt hatten, konnte die lateinische ihr Regiment nicht beibehalten, obgleich alles Wissenschaftliche in dieser Sprache niedergelegt war; und es ist heute unmöglich, in ihr die Wissenschaft lebendig darzustellen. Alle Elemente des Bezeichnungssystems, die den Kanon der Sprache bilden, hängen an dem Teil des Begriffsbildungsprozesses, den wir betrachtet haben: Nenn- und Zeitwörter = Subjekts- und Prädikatsbegriffen. Da die Sprache sich gleich an dem schematischen Prozeß entwickelt, so sind die Stammwörter mehr auf die Seite des Induktionsprozesses zu setzen, der sich auf die Wahrnehmung bezieht; alles Abstrakte wird mehr vom Deduktionsprozeß abhängen. Dies ist der Sinn des Ausdrucks, die Sprache sei in ihrem

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Anfang sinnlich. Alle unmittelbare Veränderung bezeichnenden Ausdrücke haben zum Gegenstand die allgemeinen Bilder; aber dem Deduktionsprozeß muß ebensoviel in der Sprache entsprechen wie dem Induktionsprozeß. Die Aufgabe des kritischen Verfahrens, sich des individuellen Faktors zu bemächtigen, ist die, die verschiedenen Charaktere der Sprachen nach ihrem allgemeinen Bilderschematismus aufzufassen. Die Gesichtspunkte hierfür liegen im Bisherigen. Die eine Sprache wird sich mehr auf die Seite des bedingten Denkens, die andere mehr auf die Seite des reinen Denkens hinlenken. Die eine gibt dem Subjekts-, die andere dem Prädikatsbegriff die Priorität; die eine wird die Aktion dem Dinge, die andere das Fixieren der Gegenstände den Aktionen unterordnen. Allein es ist offenbar, daß auch dies nur unter der Form eines allgemeinen Bildes zur Anschauung gebracht werden kann, wie überhaupt alles Individuelle sich nicht auf einen allgemeinen Begriff zurückführen läßt, sondern nur auf einen allgemeinen Ort, wo mehreres Besondere zusammenliegt. Dieselbe Aufgabe wird sich auch auf den Deduktionsprozeß erstrecken. Dann bemüht man sich, die Sprache in Ansehung ihres logischen Gehaltes zu klassifizieren; so bildet man Gegensätze und bezeichnet Ähnlichkeiten und Verwandtschaften. Das Dominierende aber bleibt doch immer das Bild; und zwar so, daß es in der Sprache nicht völlig wiedergegeben werden kann. Wir können nie ein Individuelles durch die Sprache ausdrücken, außer inwiefern es als Bild oder in einer Reihe von Bildern dasteht. Eine Persönlichkeit kann nie durch eine Definition wiedergegeben werden, sondern wie im Roman oder Drama nur durch das Bild, das um so besser ist, je mehr alle Teile darin zusammenhängen. Ebenso ist es mit der Sprache und ihrem individuellen Charakter. Nur einzelne Züge lassen sich als Formeln auffassen, jedoch nur insofern sie anderen entgegengestellt werden. Das aber ist kein eigentliches Zusammenfassen, sondern jeder hat es in sich als Bild. D i e l e t z t e E r g ä n zung der U n v o l l k o m m e n h e i t des W i s s e n s l i e g t h i e r auf d e r S e i t e d e s B i l d e s , u n d d e r g e s a m t e Zyklus individueller Bilder muß die Unvoll-

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kommenheit des allgemeinen Wissens ergänzen; das aber ist nur in beständiger Annäherung möglich. Dies angewandt auf die Aufgabe der allgemeinen Wissenschaft will sagen: E s g i b t a u f k e i n e m G e b i e t e i n v o l l kommenes Wissen als zugleich mit der l e b e n d i g a u f g e f a ß t e n G e s c h i c h t e d e s s e l b e n zu allen Zeiten und an allen Orten, welche durch dieses kritische Verfahren in seinem ganzen Umfange zusammengenommen ist. Und es gibt keine Geschichte desselben ohne seine lebendige Konstruktion. Hier haben wir zugleich in größtem Maßstabe die Auflösung des Streits zwischen dem empirischen Wissen und dem Apriori. Denn dieses kritische Verfahren liegt im E m pirischen, Geschichtlichen, dem unentbehrlichen Supplement der reinen Wissenschaft, wo gezeigt wird, wie zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Völkern gedacht ist. Wer aber sagen wollte, alles Wissen müsse sich endlich in diese Geschichte auflösen, der würde ihr ihr innerstes Leben ausziehen. Denn die Geschichte setzt die lebendigen Bilder der Erkenntnis voraus, in deren Beziehung sie allen Wert hat, und ist nur fruchtbar, wenn man die Wissenschaft weiterbildet; sonst ist sie totes Sammeln. Wir werden hier stehenbleiben und uns leicht bewußt werden, d a ß wir die allgemeinen Regeln f ü r die Begriffsbildung von der organischen Seite, also f ü r den Induktionsprozeß, aufgefaßt haben, wodurch der Irrtum vermieden werden muß, wieviel Wissen darin ist und worin die Ergänzung liegt. Und werden nun auf die andre Seite, den Deduktionsprozeß, gehen können. b) Der

§ 278

Deduktionsprozeß

Die beiden Momente des Deduktionsprozesses. Der De-

duktionsprozeß hängt an der intellektuellen Funktion und geht von dieser aus. Die Grenze des Denkens von hier aus ist die absolute Einheit des Seins, worin alle Gegensätze eingeschlossen sind. Denn nur so kann von ihr alle Entwicklung, nur so die ausgeführte Anschauung der Welt ausgehen. Was von diesem Punkte aus wirkliches Denken werden soll, muß sich aber von jener Denkgrenze entfernen,

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d. h., die Einheit muß eine Vielheit werden und die eingeschlossene Entgegensetzung eine entwickelte. Der Deduktionsprozeß besteht aus zwei untrennbaren Momenten: d e m S e t z e n e i n e s T e i l u n g s g r u n d e s u n d d e r v e r m i t t e l s d e s s e l b e n a u s d e r E i n h e i t zu e n t w i c k e l n d e n V i e l h e i t und wird dadurch auf zwei Seiten gestellt. Die Einheit muß eine Vielheit werden. Die Entwicklung der Entgegensetzung ist die Entstehung von Teilungsgründen in der absoluten Einheit. Diese geht aber darum noch nicht in die Vielheit über, sondern es muß durch Vermittlung der Einheit die Vielheit entstehen. Da dieser Grenzpunkt in jedem Begriff dasjenige bezeichnet, worin er ein höherer ist, und jeder Begriff, sofern er ein solcher ist, jener Grenze zugewendet ist, so werden wir uns den ganzen Prozeß an einem Schema vorbilden können, sehend, wie aus einem höheren Begriff eine Vielheit von niederen wird. Solange die niederen Begriffe nicht als Totalität, als Zyklus dargestellt werden, sind sie kein Wissen. Sie müssen den höheren vollkommen erschöpfen; die Vielheit muß also eine abgeschlossene und ganze sein. Aber auf welchem Wege gelangt man von den höheren Begriffen zu den niederen? In jedem niederen Begriff ist der höhere ganz gesetzt. Aber alles, was im höheren liegt, ist im niederen eigentümlich bestimmt; und jeder niedere ist allen anderen niederen entgegengesetzt. Also allein auf dem Wege der Entgegensetzung innerhalb des Gehalts eines höheren Begriffs lassen sich alle niederen Begriffe finden. Um nun auch Kanones für den Deduktionsprozeß zu finden und zu sehen, wo der Irrtum anfängt, müssen wir wieder auf den Punkt zurückgehen, wo uns das wirkliche Denken entsteht, also auf die ersten Anfänge des Induktionsprozesses. Da sind wir uns auch immer des Deduktionsprozesses als mitwirkenden bewußt. Denn es ist immer die Entgegensetzung von Subjekts- und Prädikatsbegriff darin, es muß immer Aktion und Ding gesetzt werden. Entweder ist der Gegenstand bestimmt, und die Aktion wird gesucht, oder umgekehrt. Aber ein absolutes Gleichgewicht ist in diesen Gegensätzen nicht zu denken; eins von beiden ist immer bestimmter als das andere. In diesem Gegensatz von Aktion und Ding haben wir also das erste Eingreifen des

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Deduktionsprozesses. Wenn wir dies begreifen, werden wir den Charakter des Deduktionsprozesses in seinem ursprünglichen Akt bestimmen können. Die bestimmende Tätigkeit ist immer die Sache des auf das Erkennen gerichteten Triebes, der Spontaneität; das Bestimmbare ist die chaotische Masse der organischen Eindrücke, der Sinn an sich, das schlechthin Erfüllte, die Rezeptivität. Und nichts anderes wäre in ihm, wenn nicht die Vernunft hinzukäme als Spontaneität. In jenem ist das Wissen noch nicht; in der bestimmenden Agilität des Geistes aber auch der Inhalt noch nicht, der ihr nur durch die organischen Eindrücke gegeben werden kann. In der bestimmenden Agilität ist also mit der Spontaneität zugleich die Form des Wissens, aber ohne Inhalt; auf der bestimmbaren Seite ist mit der Rezeptivität zugleich der Inhalt, aber o h n e Form. Schlagen beide zusammen, so entsteht das wirkliche Denken. 69

Wechselbeziehung zwischen Deduktions- und Induk26.7. tionsprozeß. Der Gegensatz zwischen Ding und Aktion teilt §§279 die Bedingung der Gewißheit des Denkens; denn ohne ihn 283 kann keine Begriffs- und Urteilsbildung werden. Hier ist also eine absolute Gewißheit, die den ganzen Prozeß einleitet und einen Punkt der Begriffsbildung mit einem Punkt der Urteilsbildung in Verbindung bringt. Der Gegensatz fällt zusammen mit dem Anfang des Schematisierungsprozesses, wo Eindruck und Bild zusammenfallen. In bezug auf die Disjunktion kann jeder Begriff gleich für die Formel der Subsumtion des einen Prozesses (des Induktionsoder Deduktionsprozesses) unter den anderen gelten. Der Deduktionsprozeß in seiner Verbindung mit dem Induktionsprozeß bewirkt zuerst den Übergang aus der chaotischen Verworrenheit der einzelnen Eindrücke in den Begriff der Welt. Denken wir uns die Totalität von allgemeinen Bildern der Gegenstände und Aktionen, so ist damit auch die Vorstellung der Welt gesetzt. Nun aber ist die Vorstellung der Welt auf diesem Punkt erst eine werdende. Sie ist noch kein wirkliches Wissen, hat aber Beziehung zum allgemeinen Zusammenhang des Wissens, der in der Ein-

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teilung in Dinge und Aktionen schon liegt. Hier haben wir also einen Punkt, der auf der einen Seite zu den Bedingungen des Wissens gehört, auf der anderen schon ein Wissen selbst ist. Denn er könnte ja nicht zustande kommen, wenn nicht durch die organischen Eindrücke ein wirkliches Denken veranlaßt würde. Ist hier schon der Irrtum möglich? Aktion und Ding sind entgegengesetzt; aber auch von einer anderen Seite identisch (auf einem anderen Standpunkt kann man jedes Ding als Aktion ansehen, und umgekehrt). Deshalb ist hier noch kein Irrtum, der nur bei einem absoluten Gegensatz möglich wäre. Wäre es ein absoluter Gegensatz, so könnte keine Umkehrung stattfinden. Der Gegensatz ist also ein relativer. Indem wir dieses Verhältnis in seinem ganzen Umfang betrachten und darauf sehen, daß ein anderer Fortgang entsteht, wenn ich den Anfang einer Denkreihe als Aktion setze oder als Ding, so ist die Wahrheit des ersten Momentes bedingt durch die Folgerichtigkeit des ganzen Verfahrens. Von dieser Seite aus gesehen ist in jenem ersten Punkt eine Indifferenz von Irrtum und Wahrheit. Das erste, was uns als Bedingung und Anfang des wirklichen Denkens mit jedem wirklichen Denken gegeben ist, ist also der Gegensatz von Aktion und Ding, von Prädikatsund Subjektsbegriff. Gehen wir nun im Deduktionsprozeß weiter, so haben wir Einteilungsgründe zu finden und eine bestimmte Vielheit, worin sich die Einheit verwandelt. Das Setzen von Subjekt und Prädikat ist der erste Anfang des Deduktionsprozesses, denn hier wird die Einheit in eine bestimmte Vielheit verwandelt. Diese latitiert hier in der vorläufigen Vorstellung der Welt als Identität des Induktionsund Deduktionsprozesses. Die Vielheit ist keine bestimmte in der Ausführung, sondern nur auf eine divinatorische Weise gegeben. Es ist auch natürlich, daß die allerallgemeinste und erste Einteilung nicht eine so durch sich selbst bestimmte Vielheit geben kann wie eine untergeordnete. Und nie vollenden wir das System der Dinge und Aktionen, sonst vollendeten wir den Begriff der Welt in uns. Diese

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Vollendung wird immer nur Aufgabe bleiben. Doch bildet dieser Punkt keine Ausnahme von der Formel, daß der Deduktionsprozeß immer in jene beiden Hauptmomente zerfalle, die sich nicht voneinander trennen lassen. Wie entwickelt sich nun der Deduktionsprozeß von diesem Punkte aus? Wenn ein wirkliches Denken geworden ist, so ist es ein aus beiden Seiten der Denktätigkeit (der organischen und intellektuellen) zusammengesetztes geworden. Im wirklichen Denken ist uns dieser Gegensatz schon mitgegeben; er geht zurück auf den G e g e n s a t z d e s I d e a l e n u n d R e a l e n . Dieser ist als ein im wirklichen Denken notwendig enthaltener so wesentlich, daß es ohne ihn gar nicht zustande kommt. Es ist dies anzusehen als eine Rückwirkung der intellektuellen Funktion auf die organische. Die intellektuelle Funktion erzeugt, insofern sie auf ihre Aufgabe der Form nach gerichtet ist, den Gegensatz von Ding und Aktion; indem sie auf das Materiale der Veranlassung gerichtet ist, den Gegensatz des Realen und Idealen. Um nun die Möglichkeit des Irrtums in ihrer ersten Spur zu finden, fragen wir: Wie ist uns der Gegensatz des Idealen und Realen entstanden? Er ist uns entstanden durch die Richtung der intellektuellen Funktion auf die Veranlassung oder den Anfang des wirklichen Denkens, und gehört offenbar auf die Seite der Aktion. Der Gegensatz des Idealen und Realen ist also nur gefunden in bezug auf die eine Seite. Diesen Gegensatz, angewendet auf die vorläufige Vorstellung der Welt, pflegt man durch die Ausdrücke Geisterund Körperwelt zu bezeichnen. Der Ort der Entstehung dieser Formel ist offenbar an der Stelle zu suchen, mit der wir es hier zu tun haben. Im übrigen ist der Gedanke unbegründet. Denn es ist eine Einteilung, die uns nur in bezug auf e i n Einteilungsglied (auf ein Moment des Deduktionsprozesses) gegeben war, und die wir ohne Grund auf beide Glieder angewendet haben. Also ist die ganze Vorstellung eine falsche; und wird auf diesem Wege weitergeschritten, so kommt der Irrtum in den Deduktionsprozeß hinein. Alles Fernere wird richtig sein, wenn es auf Aktionen geht, unrichtig, wenn auf Dinge. Auf untergeordnete Art umgekehrt: S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik.

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richtig von Dingen, inwiefern sie als Aktionen, und unrichtig von Aktionen, inwiefern sie als Dinge gesetzt werden. Richtig oder unrichtig vermögen wir aber nachher nicht mehr zu unterscheiden; denn der ganze Gegensatz bezieht sich auf die Vorstellung der Welt, in der alles im Zusammenhang steht und in der jeder Gegensatz Einheit wird. Es ist nun offenbar, wie dieser Gegensatz nachteilig auf alles Spekulative gewirkt hat. Alle Gegensätze von Spiritualismus und Materialismus beruhen darauf. Denn jede Einheit wird hier dem Gegensatz unterworfen, und durch die Formel: „Die Welt ist Eine" löst man den Gegensatz auf. „Die Geisterwelt geht auf in der Körperwelt" ist die materialistische Formel; „Die Körperwelt geht auf in der Geisterwelt" die spiritualistische Formel. Die Bejahung ist in beiden Formeln falsch, weil sie auf einem falschen Gegensatz beruht, die Verneinung dagegen richtig. Um den Irrtum zu vermeiden, hätten wir uns nur an dasjenige halten müssen, in bezug worauf uns der Gegensatz gegeben war; d. h., wir hätten die Aktionen teilen können in geistige und leibliche; aber wir hätten hinzufügen müssen, daß sich der Gegensatz auf das Ding nur insofern beziehe, als er selbst wieder unter den Begriff der Aktion gebracht werden kann. Dies ist aber bei jedem Ding möglich durch den Gegensatz von Erscheinung und Kraft. Wir hätten also sagen müssen : Dieser Gegensatz betrifft nicht Dinge, sondern nur Aktionen und Kräfte. Es gibt also geistige Aktionen und leibliche, nur keine Geisterwelt und leibliche Welt. Aus diesem Beispiel können wir nun einen allgemeinen K a n o n entwickeln. Die Entstehung dieses Gegensatzes war bedingt durch ein Moment von der entgegengesetzten Seite (durch das Anfangen von der Seite der organischen Funktion; diese aber ist der überwiegende Grund des schematischen Prozesses). Wir werden nun sagen können: Jeder Einteilungsgrund, der gefunden wird, d a r f n u r a u f d a s j e n i g e im s c h e m a t i s c h e n P r o z e ß b e z o g e n w e r d e n , w o d u r c h e r v e r a n l a ß t war. Denn in jedem Moment muß der Induktionsprozeß auf den Deduktionsprozeß zurückgehen. Dann wird der Irrtum vermieden.

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Denselben Punkt wollen wir noch zu einer zweiten Frage benutzen. Wenn diese Einteilung im Beispiele des Materialismus und Spiritualismus ein Irrtum ist: hätten wir diesen Irrtum an und für sich erkennen können? Jene Vorstellung von Körper- und Geisterwelt hätte ja anderswo durch bessere Begründung entstehen können, während sie hier vielleicht nicht hinreichend begründet wäre. Dies ist nicht möglich, denn wir kommen im Deduktionsprozeß immer mehr ins Einzelne und erhalten somit niemals eine allgemeinere Einteilung. Jedes Denken also, sofern es Wissen werden soll, muß so gestaltet sein, daß es ebenso im Induktions- wie im Deduktionsprozeß entstehen könnte. Hätten wir nun jenen Gegensatz von Geister- und Körperwelt vom Schematisierungsprozeß aus erhalten können? UnmöglichI Kein Ding kann uns in der Identität des Allgemeinen und Einzelnen als bloß Geistiges im Schema gegeben werden. Denn das Geistige haben wir immer nur von innen heraus, aus dem Bewußtsein. Wir selbst sind immer nur in der Identität des Geistigen und Leiblichen; ein Sein des Geistigen an und für sich im Gegensatz zu einem Sein des Leiblichen kann uns nie gegeben sein. Wo wir also die Probe von der andern Seite nicht machen können, da können wir bestimmt den Irrtum setzen. Wo wir aber sagen können, daß wir sie nach dem schematischen Prozeß machen können, können wir die Gewißheit setzen. Das Überzeugungsgefühl darf sich also nicht eher einstellen, als bis wir auf dem umgekehrten Wege durch den Schematisierungsprozeß dahin gekommen sind. Hieraus folgt der K a n o n : N i c h t s ist ein W i s s e n , d a s wir n i c h t von b e i d e n S e i t e n aus a u f g l e i c h e W e i s e e r h a l t e n haben. Je weiter der Deduktionsprozeß fortschreitet, gesondert vom Induktionsprozeß, desto mehr sind wir dem Irrtum ausgesetzt. Sind beide Glieder dieses Gegensatzes geteilt, so wird uns die Wahl der Fortschreitung immer schwerer, indem wir nicht wissen, ob wir mit einem Ding oder einer Aktion fortschreiten sollen. Und so wird dann der Irrtum gar leicht möglich. Wir hatten im Anfang noch gar nicht einmal die Wahl der Fortschreitung; je mehr sich aber diese Wahl vervielfältigt, um so mehr Möglichkeiten fortzuschreiten sind da, und um so mehr Möglichkeiten zu irren. 25*

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Die Regeln des Fortschreitens. Gehen wir noch einmal - zurück auf die beiden Momente, aus denen durch Deduktion ^bis* begriffe entstehen: die Auffindung eines Teilungsgrundes 288- und die Entwicklung der Vielheit aifs der Einheit, so ist das 291; Letzte immer auf ein Früheres bezogen, auf ein Zusammen297 treffen des Deduktions- und Induktionsprozesses. Wenn ich die Vorstellung der absoluten Einheit des Seins mit allen eingeschlossenen Gegensätzen nicht in gewisser Hinsicht identisch setzte mit der imbestimmten Mannigfaltigkeit der organischen Eindrücke, so würde die vorläufige Vorstellung der Welt nicht gebildet werden können. Denn dies geschieht nur, indem wir bei der Teilung die Totalität der Welt antizipieren, die aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit entstehen soll. Und nur vermittels des Einteilungsgrundes kann die Einheit in eine vorher bestimmte Vielheit aufgelöst werden. Beide Momente können auf keine andere Weise zugleich in einem Deduktionsprozeß vorkommen, als nur in der Anwendung auf ein schon organisch Gegebenes. Und in der ganzen Fortsetzung des Prozesses muß stets dasselbe beachtet werden. In der Vorstellung von der unbestimmten Mannigfaltigkeit, so wie sie durch den wirklichen Denkprozeß aufgenommen wird und also aufhört, die Vorstellung der Materie zu sein, entsteht die Totalität der Bilder, indem die auf der Seite der intellektuellen Funktion liegende Vorstellung des Seins darauf angewendet wird. Sobald wir sagen, der Prozeß dieser Anwendung bestehe in Setzung des Gegenstandes oder der Aktion, so ist dies ein Gegensatz der Begriffs- und Urteilsbildung. Auf das Obige angewandt, bedeutet dies die Auflösung der Einheit aus einer aufgegebenen in eine bestimmte Vielheit von Gegenständen und Aktionen. Wenn nun das allgemeine Schema das zu Teilende ist und aus dieser Einheit eine bestimmte Vielheit untergeordneter Schemata entstehen soll, worin das allgemeine Bild enthalten ist, aber in jedem besonders bestimmt, also nähere Bestimmungen des allgemeinen Bildes, die als Totalität gesetzt sein müssen, d. h. wenn durch den Teilungsgrund dargestellt werden soll die Veränderlichkeit des allgemeinen Bildes, so ist das Resultat in dieser Mannigfaltigkeit wieder 27

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auf Seiten des schematischen Prozesses. Insofern sie aber zusammengefaßt wird in die Einheit, ist es eine Durchdringung des Deduktions- und Induktionsprozesses; und um so mehr nähert sich das Resultat dem Begriff. Das Resultat des Deduktionsprozesses, abgesehen von aller Anwendung auf den organischen Prozeß, ist die F o r m e l , d. h. nichts als ein Teilungsgrund. Die bestimmte Vielheit entsteht nur durch das Zusammentreffen beider Prozesse. Der Teilungsgrund ist nur eine Regel, nach der die Verwandlung einer gegebenen Einheit in eine bestimmte Vielheit vollzogen werden soll. Wenden wir dies auf die vorläufige Vorstellung der Welt an. Diese ist eigentlich nur Begriff, wenn wir uns den ganzen Prozeß vollzogen denken; auf unserem Punkt ist sie also noch kein Begriff. Der Punkt der Identifikation ist nur aufgegeben, noch nicht vollzogen. Weil kein Moment des Denkens abgeschlossen ist, so ist die vorläufige Vorstellung der Welt in der Identität von Bild und Formel stets im Fortbilden begriffen und nur als Aufgabe gesetzt. Und es kann sich das Abgeschlossensein auch nicht durch das Überzeugungsgefühl ankünden. Wir sehen hieraus, wie sich uns der Prozeß in seinem weiteren Fortgehen gestalten muß. Es bestätigt sich, was wir im transzendentalen Teil schon auseinandergesetzt haben, daß es nicht eher ein vollkommenes Wissen gibt als mit der Gesamtheit des Wissens zugleich. Der Begriffsbildungsprozeß ist nicht eher vollendet, als bis alle Einheiten in bestimmte Vielheiten verwandelt sind und sich als die Idee des Ganzen erschöpfend zeigen. Ein Überzeugungsgefühl kann hier nur antizipiert werden, und auf jedem Punkt haben wir eine Indifferenz von Wahrheit und Irrtum. Daher muß der Deduktionsprozeß oft aufgegeben und anders angefangen werden, weil ein Irrtum zum Vorschein kommt. Denken wir uns nun den Begriffsbildungsprozeß nach unseren Regeln bis zum Ende entwickelt, so hätten wir sogleich die Idee der Welt und des Wissens vollständig. Doch dies geschieht faktisch nie. Der Prozeß ist vor den Regeln immer schon kunstlos eingeleitet. Gesetzt nun, wir hätten kunstgemäße Regeln für jenes Verfahren, so werden wir doch stets auf solche geschichtlich schon gegebenen Pro-

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zesse stoßen, die wir wieder auflösen müssen, um darin den Irrtum zu erkennen, ein Geschäft, welches mit der Aufgabe übereinstimmt, zu sehen, wie wir den Irrtum vermeiden können, wenn wir den Prozeß von vorne anfingen. Wir haben angefangen, die Regeln abzustecken zur Vermeidung des Irrtums. Dies bestimmt sich uns näher durch folgenden K a n o n : Jeder relative Anfang eines Deduktionsproz e s s e s m u ß z u r ü c k g e h e n a u f e t w a s im I n d u k t i o n s p r o z e ß Gegebenes. Und jedes R e s u l t a t ist nur e i n v o r l ä u f i g e s (nämlich auf der einen Seite noch Aufgabe, auf der anderen Seite noch Skepsis), w e n n s i c h n i c h t d e r P r o z e ß s o w e i t s c h o n f o r t g e s e t z t u n d in der F o r t s c h r e i t u n g bewährt hat, daß sein E n d e a n t i p i z i e r t w e r d e n kann. Indem wir nun mitten im Prozeß begriffen sind, und unsere eigene Denktätigkeit in die Gedankengemeinschaft aufgenommen ist, müssen wir uns die Fortsetzung desselben unter zwei Formeln denken: 1. den Prozeß immer so anzusehen, als finge man von vorn an, anknüpfend an die Resultate der transzendentalen Untersuchung. So haben wir es hier gemacht, indem wir an die Denkgrenzen, die Entstehung des Teilungsgrundes und an die Auflösung der Einheit anknüpften; 2. jedes Verfahren als ein Glied in dieser Fortschreitung anzusehen, und zu gleicher Zeit auf verschiedenen Punkten als ein in der Mitte anfangendes. So haben wir den Punkt, wo die Totalität des Gegensatzes von Ding und Aktion, die die Vorstellung der Welt involviert, bis zur endlichen Bestimmtheit fortgehen kann. Dies Resultat läßt sich an die Resultate der transzendentalen Untersuchungen anknüpfen. Hierzu ein allgemeines Schema: Denken wir uns, wir hätten einen Punkt, wo die bestimmte Vielheit in eine größere verwandelt worden ist. Wir hätten also z. B. im Gebiet des tierischen Lebens durch die Klassifikation ein bestimmtes Tierreich bekommen, so ist offenbar, daß dies ein Glied in der Fortsetzung unseres Prozesses sein muß, denn es ist ein integrierender Teil der Einheit der Welt. Allein zwischen dem bis jetzt Gefundenen und der

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Idee der Welt liegt eine unübersehbare Reihe. Wir können also den Prozeß des tierischen Lebens nicht eher in die Fortschreitung einreihen, bis wir nicht die Zwischenglieder haben. So ist die ganze Operation provisorisch, d. h. wir wissen nicht, ob der Begriff des Tieres wirklich so ist, wie er uns im vollständigen Prozeß werden müßte, sondern nehmen es nur an. Daß uns dieser Begriff aus dem Gegensatz von Ding und Aktion hervorgehen muß, ist klar. Wird er uns aber gegeben, so wird derjenige, der nicht im wissenschaftlichen Gebiet, also nicht in der reinen Fortsetzung begriffen ist, keine Veranlassung zu einem skeptischen Innehalten haben, wohl aber der Wissenschaftliche, weil er weiß, daß ihm Mittelglieder fehlen. Dies erklärt uns wieder jenes Faktum, daß eine Gewißheit, die dagewesen ist, wieder aufgehoben werden muß, was dadurch gerechtfertigt wird, daß sie eigentlich gar nicht hätte da sein sollen. Selbst solche Teile des Begriffsbildungsprozesses, die dem reinen Denken angehören, nehmen, sobald sie sich isolieren, den Charakter des bedingten Denkens an. So soll z. B. die Zoologie die Einheit des tierischen Lebens in eine bestimmte Vielheit verwandeln, bis auf die geringste Einteilung herab. Nun könnte eigentlich das Ganze nicht eher geschehen, bis wir nicht sähen, wie es hier mit der Idee der Welt steht und wie hier der Gegensatz von Ding und Aktion stattfindet. Nun aber sind alle Ansichten der Zoologie viel älter und zum Teil aus dem bedingten Denken hervorgegangen. Betrachtet man die Wissenschaften abgesondert und auf den praktischen Gebrauch sich beziehend, so teilt man etwa in wilde und zahme Tiere. Dieses Sichlosreißen vom allgemeinen Zusammenhang muß immer in das bedingte Denken hineingehen und ist stets für den wissenschaftlichen Menschen nur etwas Provisorisches. Zwar fängt man immer bei solchen praktischen Bestrebungen an, und alles, was so geschieht, hat immer einen überwiegend empirischen Charakter, d. h. ist eine Einseitigkeit; aber das wissenschaftliche Interesse bemächtigt sich bald des Gegenstandes. Dies gibt uns einen Fingerzeig für unser ferneres Verfahren. Die weiteren Regeln müssen wir nämlich so einrichten, daß wir auch das einzelne Verfahren unter die Regel subsumieren können. Sonst wäre unsere Kunst nicht

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praktisch. Wir müssen aber auch immer auf Einordnung eines solchen einzelnen Verfahrens in die Kontinuität des Ganzen zurücksehen. Der Teilungsgrund ist also das eigentlich Ursprüngliche im Deduktionsprozeß, und die Aufgabe ist, die E i n t e i l u n g s g r ü n d e r i c h t i g zu f i n d e n . Sehen wir nun auf den Gegensatz des reinen und bedingten Denkens, in welchem letzteren der meiste Irrtum ist, so müssen wir zuerst sehen, ob ein Einteilungsgrund motiviert ist durch das Interesse des reinen oder bedingten Denkens. Dabei müssen wir aber auf die Einheit zurückgehen und auf die ursprüngliche Aufgabe, die Einheit zu teilen. Wir müssen also das Prinzip der Veränderlichkeit des allgemeinen Bildes finden. Dies gibt den Gegensatz zwischen einem Konstanten und Wandelbaren. Und nur derjenige Einteilungsgrund kann ein richtiges Verfahren hervorbringen, der in seiner Einheit den Gegensatz zwischen Konstantem und Wandelbarem zu fixieren sucht. Eine solche Einteilung kann immer noch falsch sein; aber der Irrtum wird dann wenigstens nicht ein solcher sein, der im Charakter des bedingten Denkens gegründet ist. Der Irrtum kann im Einteilungsgrunde liegen, denn in ihm ist ja die Indifferenz von Wahrheit und Irrtum. Nur darf man die gegebene Einheit nicht auf untergeordnete Weise teilen durch etwas, das nur eine äußerliche Relation ist. Wir dürfen uns nur an unser Beispiel halten, um zu sehen, welche Einteilungsgründe man vermeiden müsse (z. B. die Pflanzen zu teilen in Kraut und Unkraut, die Tiere in zahme und wilde; denn manches Genus enthält ja beides zugleich). Die Einheit ist hier nicht in sich selbst geteilt, sondern der Teilungsgrund liegt außerhalb der Einheit, bezieht sich auf den Menschen, nicht auf Pflanzen oder Tiere. In solchen Fällen teilt man also allemal unwissenschaftlich. Dies ist aber nur eine negative Lösung der Aufgabe und enthält nur das, was wir vermeiden sollen. Wie kommen wir nun zu einem positiven Kennzeichen des richtigen Einteilens? Die Regeln des Einteilungsprozesses, a) Dichotomie und Trichotomie. Wie muß der Gegensatz, der zum EinteiSS 289 u n s r u n bis l g g d e dienen soll, beschaffen sein an sich und in be290 zug auf das Einzuteilende? Hier tritt uns der Unterschied 71-

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Die Einteilungsarten

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entgegen zwischen'einem Gegensatze, in dem ein Glied negativ ist und solchem, wo beide Glieder positiv sind. Die Kunstausdrücke verwirren hier nur. Vergleichen wir diese Fälle, so ist ein Gegensatz mit einem negativen Gliede eigentlich keine Förderung des Einteilungsprozesses, denn das negative Glied ist ein Unendliches, und das positive erscheint als das Herausnehmen eines Bestimmten aus dem Unendlichen. Dies ist aber nicht der Charakter des Deduktionsprozesses, sondern geschieht auf der Seite des schematischen Prozesses. Wenn wir z. B. sagen: jede Figur ist entweder rund oder nicht rund, so wird durch das Negative nichts gesetzt. Nun muß man den Grund zu etwas Positivem im Negativen suchen. Aber den Gegensatz findet man darin nicht, sondern muß ihn auf dem Wege der Wahrnehmung der unbestimmten Mannigfaltigkeit entnehmen. So vollzieht sich also unter dem Schein der Einteilung, die in der intellektuellen Funktion ihren Sitz hat, etwas, was aus der Wahrnehmung genommen ist. Dann aber ist es eine Täuschung, wenn man meint, dabei im Deduktionsprozeß geblieben zu sein. Auf der anderen Seite kann durch ein solches Verfahren kein Irrtum entstehen, indem sich das Resultat stets nachweisen läßt. Materiell angesehen ist also dieses Verfahren stets unschädlich; formell angesehen ist es Täuschung; denn es richtet eine Verwirrung zwischen den beiden Prozessen an, und stets entstehen auf diese Weise falsche Vorstellungen vom Werte des Gefundenen. Dieses Verfahren ist besonders seit der Zeit der Scholastik aufgekommen, um einer Darstellung, die doch nur empirisch ist, den Schein ,der Apriorität zu geben. Doch dient uns dies zu einer Bemerkung über die andere Form des Gegensatzes, wo beide Glieder positiv sincj. Teilt man z. B. die Tiere in wilde und zahme, so ist beides etwas Positives. Es ist nun eine schwierige Frage, ob dieser Gegensatz auch wirklich teilt. Sind denn alle Tiere entweder wild oder zahm; gibt es nicht noch ein Drittes? Versuchsweise bringe man diesen Gegensatz auf einen negativen zurück. Dies kann auf zwei Arten geschehen: zahm sind die Tiere, inwiefern sie ungefährlich sind; wild, inwiefern die Soziabilität geleugnet wird. Zahm ist also die Negation der Gefährlichkeit, wild die Negation der Soziabilität. Hier

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liegen also zwei Teilungsbegriffe zugrunde, denen man es ansieht, daß sie den Begriff „Tier" nicht nach seinem eigentümlichen Wesen teilen. Aber der Gegensatz schließt nicht. Denn es kann Tiere geben, denen man es ansieht, daß sie ungefährlich, aber doch unfähig sind, an der menschlichen Gesellschaft teilzunehmen. So kann der erste Gegensatz doch zur Prüfung gebracht werden. Aber diese Prüfung ist nicht immer so leicht wie hier, wo die Prädikatsbegriffe leicht zu erforschen sind, weil sie mit den Relationen zusammenhängen, die der Mensch sich selbst setzt. Anders ist es mit den Gegensätzen, die aus der Natur selbst hergenommen sind. So, wenn man sagt: „Alles Ljebendige ist entweder Tier oder Pflanze." Diese Einteilung empfiehlt sich als wahr, wenn man den Menschen unter das Tier subsumiert. Die Glieder schließen sich aus, und es gibt kein drittes Lebendiges. Allein, wenn wir diese Einteilung ansehen wollen nicht als etwas, aus dem Induktionsprozeß Stammendes, sondern wenn es ein Deduktionsprozeß sein soll, so müßte jene Teilung aus dem Begriff des Lebens abgeleitet sein, und wir müßten in diesem Begriff selbst den Einteilungsgrund suchen. Es ist aber offenbar, daß man sich über die Grenzen des animalischen und vegetabilischen Lebens bisher immer noch gestritten hat. So kann man also nicht eher gewiß sein, daß man diese Grenzen wirklich bestimmt hat, bis man den vollständigen dialektischen Begriff des Lebens aufgestellt hat, worin sich der Grund dieser Teilung bestimmt nachweisen lassen muß. Alle Gewißheit des deduktiven Verfahrens geht also davon aus, daß der Begriff den Grund der Teilung in sich trage. Die zu teilende Einheit muß daher vorher reine Identität v