Schleiermachers Predigt 3110057395, 9783110057393, 9783110839593

Wolfgang Trillhaas: Friedrich Schleiermachers Predigt (siehe Foto). Mit einer Widmung von W. Trillhaas im Vorsatz. Walte

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German Pages 235 [236] Year 1975

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Schleiermachers Predigt
 3110057395, 9783110057393, 9783110839593

Table of contents :
VORWORT ZUR NEUAUSGABE
Vorwort
Einleitung
1. Kapitel. Schleiermachers Auffassung vom Wesen der Predigt
2. Kapitel. Schleiermachers Gestalt als Prediger
I. Hauptteil: Predigt und Lehre
3. Kapitel. Die Gestalt des Erlösers in der Predigt
4. Kapitel. Kirche und Predigt
5. Kapitel. Predigten über das menschliche Leben
II. Hauptteil: Predigt und Text
6. Kapitel. Die Behandlung des Texte
7. Kapitel. Schleiermachers spekulatives System
8. Kapitel. Schleiermachers Bibelverständnis
9. Kapitel. Kritischer Ertrag
1. Anhang. Figürliche Darstellungen zu Schleiermachers spekulativem System
2. Anhang. Chronologisches Verzeichnis der im Druck erschienenen Predigten Schleiermachers
Inhaltsverzeichnis

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WOLFGANG TRILLHAAS

SCHLEIERMACHERS PREDIGT

w DE G

SCHLEIERMACHERS PREDIGT

VON

WOLFGANG TRILLHAAS

ZWEITE, UM EIN VORWORT ERGÄNZTE AUFLAGE

WALTER DE GRUYTER

BERLIN • NEW YORK

1975

THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK TÖPELMANN HERAUSGEGEBEN VON

K. ALAND, K. G. KUHN, C. H. RATSCHOW UND E. SCHLINK 28. BAND

Um ein Vorwort zur Neuausgabe ergänzter unveränderter photomechanischer Nach­ druck der 1933 im J. C. Hinrichs-Verlag, Leipzig, erschienenen 1. Auflage. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages J. C. Hinrichs.

ISBN 311005739 5

VORWORT ZUR NEUAUSGABE „Schleiermachers Predigt und das homiletische Problem“ erschien 1933 im Verlag der J. C. Hinrichs’schen Buchhandlung zu Leipzig. Es ist dasjenige meiner Bücher, das wohl die freundlichste Aufnahme überhaupt gefunden hat. Aber die Zeitumstände des Erscheinungsjahres brachten es mit sich, daß es unter der Sturzflut der damaligen Aktuali­ täten bald aus dem Gesichtskreis verdrängt worden ist. Die Ereignisse, die mit dem Kriegsende Zusammenhängen, haben dann vollends be­ wirkt, daß es seit langem nicht mehr greifbar ist und auch in vielen Bibliotheken fehlt. Dem Hinrichs’schen Verlag ist dafür zu danken, daß er das Buch zu einer Neuausgabe freigegeben hat. Diese Neuausgabe scheint mir rein äußerlich dadurch gerechtfertigt zu sein, daß seit dem ersten Erscheinen keine weitere Monographie über das Predigtwerk Schleiermachers erschienen ist. Dieses Predigtwerk macht ein Drittel seiner literarischen Hinterlassenschaft aus. Aber noch immer stehen die Predigten Schleiermachers offenkundig im Schatten des Interesses der Schleiermacherforschung. Sie werden nur von Fall zu Fall beachtet, einzelne derselben dienen immer wiederkehrend als Kron­ zeugen der Forschung. Diese Forschung ist freilich seit dem Ende der fünfziger Jahre mäch­ tig belebt worden. Es ist nicht ohne Interesse, das Feld dieser Studien zu überblicken. Sie liegen fast durchweg auf systematischem Gebiet. Ich lasse hier die chronologische Reihenfolge außer acht und nenne die hervorragenden Belege für diese Beobachtung. Sehr allgemeiner Natur sind: W. Schultz, Schleiermacher und der Protestantismus, 1957, und F. Hertel, Das theologische Denken Schleiermachers, 1965. Wichtige Arbeiten gelten der Durchleuchtung seines Systems, wenn man so will: seiner Theorie eines neuzeitlichen Christentums. Hier sind vor allem zu nennen H.-J. Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, 1964, und von demselben Verfasser: Theologie und Philosophie, Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, 1974. Hinsichtlich der Ethik hat den systematischen Gesamtaspekt im Blick P. J. j0rgensen, Die Ethik Schleiermachers, 1959, während drei neuere Arbeiten diesen

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Vorwort zur Neuausgabe

Gesamtaspekt am jungen Schleiermacher erproben: P. Seifert, Die Theologie des jungen Schleiermacher, 1970, F. Weber, Schleiermachers Wissenschaftsbegriff. Eine Studie auf Grund seiner frühesten Abhand­ lungen, 1973; hierzu tritt jetzt E. Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, 1974. Thematisch gesehen bildet eine besondere Gruppe unter den neueren Forschungen diejenige, welche einzelne dogmatische Artikel, aber auch bestimmte unverwechselbare Aspekte des systematischen Werkes in den Vordergrund rückt. Das ist unmittelbar einleuchtend dort, wo dem kon­ stituierenden Einfluß des Begriffs der Kirche im Werk Schleiermachers nachgegangen wird: H. Samson, Die Kirche als Grundbegriff der theo­ logischen Ethik Schleiermachers, 1958; W. Brandt, Der hl. Geist und die Kirche bei Schleiermacher, 1968, und vor allem das einschlägige Kapitel in T. Rendtorff, Kirche und Theologie, 1966 (19702). Spezielle systematische Themen werden dann in den folgenden Studien behandelt: K. M. Beckmann, Der Begriff der Häresie bei Schleiermacher, 1959; Chr. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, 1963; H. Fischer, Subjektivität und Sünde. Kierkegaards Begriff der Sünde mit ständiger Rücksicht auf Schleiermachers Lehre von der Sünde, 1963; M. Honecker, Schleier­ macher und das Kirchenrecht, 1968; D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, 1969; M. E. Miller, Schleiermachers Theologie des Reiches Gottes im Zusammenhang seines Gesamtsystems, 1970; F. Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 1970. Bei einigen Hervorbringungen der neueren Schleiermacherforschung ist die Schattenexistenz des Predigtwerkes um so auffälliger, als die Thematik eigentlich ganz in die Nähe der Predigten führen müßte. Ich meine hier besonders das Buch von E. Quapp, Christus im Leben Schleiermachers, 1972, und die noch ungedruckte Göttinger Habilita­ tionsschrift von D. Lange, Historischer Jesus und mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß. Ich habe die Außerachtlassung der Pre­ digten hier nicht kritisch zu erörtern. Auch der von M. Redeker aus dem Nachlaß edierte zweite Band des „Leben Schleiermachers“ von W. Dilthey (II, 1 und II, 2 1966) bringt zu den Predigten nichts Wesent­ liches mehr bei. Die einzige Arbeit der jüngsten Schleiermacherforschung, die freilich auch die Landschaft dieser Literatur weit überragt und die das Predigt­ werk Schleiermachers voll zu Ehren bringt, ist die Schrift von E. Hirsch, Schleiermachers Christusglaube, 1968. In drei Studien werden hier die „Weihnachtsfeier“, die Oster- und Himmelfahrtspredigten sowie die Predigt von Jesu Sterben am Kreuz behandelt. Ich kenne keine neuere

Vorwort zur Neuausgabe

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Interpretation Schleiermacherscher Texte, in welcher so wie hier echte theologische Kritik sich mit dem tiefen Ernst verbindet, in dem Schleier­ machers in Christus gegründete Gewißheit verstanden und vertreten wird. Ich kann in die Würdigung dieser drei Studien von der Sache her nicht weiter eintreten. Ich kann nur aussprechen, daß sie zu den ein­ schlägigen Kapiteln meines Buches wirkliche Fortsetzungen darstellen, auf die ich nachdrücklich und dankbar hinweise. Im großen und ganzen ist die Sachlage doch so, daß ich meine Mono­ graphie über Schleiermachers Predigt noch einmal der Öffentlichkeit vorlegen kann. Das Buch trägt natürlich die Spuren der Problemlage seiner Entste­ hungsjahre. Ich erkenne in ihnen rückblickend zugleich die Spuren meiner eigenen Lebensgeschichte. Eine doppelte Spannung suchte damals ihren Ausgleich. Und über sie muß ich mich besonders erklären. Ais ich das Buch schrieb, war ich in einer weithin unklaren Abkehr von der Theologie Karl Barths begriffen. Karl Barth war für mich nicht nur der überragende Lehrer meiner Anfangsjahre in der Theologie, er hat mir seine liebevolle Freundschaft, bei zunehmenden Befremdungen über meine Arbeit immerhin seine warmherzige kritische Sympathie zugewendet, bis auch diese nach dem Erscheinen meiner Ethik (1. Ausl. 1959) erloschen ist. Insoweit finden sich in dem Buch unbezweifelbare „barthianische" Reste. Dazu gehören das ungebrochene Reden von „Lehre" und die gelinde gegen Schleiermacher gewendete Schul­ meisterei. Aber es ist ja in dem Buche längst nicht mehr beherrschend. Andererseits ist in der ganzen Zeit meines engen Verhältnisses zu Karl Barth zweierlei immer unbewältigt geblieben. Es war einmal — was hier nicht zur Debatte steht — die Münchener Phänomenologie, mit deren eindrucksvollen Vertretern in München und in Göttingen ich in fortwährender enger Beziehung blieb. Das andere unbewältigte Erbe waren die Einflüsse, die ich in meinen jungen Jahren durch den „freien Protestantismus“ empfangen hatte: durch die „liberalen" Prediger meiner Heimatstadt Nürnberg, Chr. Geyer und Fr. Ritteimeyer, durch die Lektüre der Zeitschriften „Die christliche Welt" und „Christentum und Gegenwart" und durch mein Elternhaus. Ohne diese Einwirkung hätte mich Schleiermacher nie so fasziniert. Eben von diesen Einflüssen des kirchlichen Liberalismus her ergab sich freilich noch eine ganz andere Spannung. Ich habe mich ja mit dem ersten Teil des vorliegenden Buches bei der Theologischen Fakultät in Erlangen um den Lizentiatengrad beworben; der zweite Teil ist meine Habilitationsschrift. Beides diente also dem theologischen Ausweis vor einer „kirchlichen“ und überdies „lutherischen" Fakultät. Auch das hat

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Vorwort zur Neuausgabe

seine Spuren in dem Buch hinterlassen. Es war nicht Opportunismus, sondern entsprach genau meiner Überzeugung, wenn sowohl diese Kirchlichkeit als auch die Achsenbegriffe der reformatorischen Theo­ logie — alles das lag ja gar nicht so weit ab von den Intentionen der „Dialektischen Theologie" in ihrer ersten Phase — mir entscheidende Kriterien für die Wahrnehmung der Eigentümlichkeiten der Schleiermacherschen Theologie geliefert haben. Sie haben mir geholfen, dem geliebten und faszinierenden Gegenstand meiner Beobachtungen kri­ tisch zu begegnen und ihm nicht nur in interpretativer Einfühlung zu verfallen. Die wiederholte Durchprüfung des Textes läßt mich fragen, ob die mich damals bewegenden Motive seither ihr sachliches Recht eingebüßt haben. Ich glaube es nicht, wenn ich auch das damalige Anliegen heute an vielen Stellen anders, modifizierter und differenzierter ausdrücken würde. Einige Sätze lassen mich vor meiner damaligen dogmatischen und kirchlichen Unbekümmertheit erschrecken. Mit den vorgerückten Jahren empfindet man stark den Wandel des Denkstils und der Sprache. Aber man wird das auch nicht überschätzen dürfen, zumal dann, wenn man sich immer frei fühlte, den anderen nicht nach dem Munde zu reden. Die Sachfragen, welche die Predigtgeschichte für uns bereit hält, überdauern in ihrer Dringlichkeit den Moment. Es wäre ein Leichtes, Literaturangaben nachzutragen und auf den neuesten Stand zu bringen. Wie in dem christologischen Kapitel auf E. Hirsch, so wäre zum 4. Kapitel auf das Buch von T. Rendtorff (s. o.) besonders hinzuweisen. Aber das alles würde die Neuausgabe unver­ hältnismäßig verteuern und für die Analyse des Predigtwerkes dann doch wenig Zuwachs an Erkenntnis bringen. Andererseits mag das Durchscheinen der Entstehungszeit, sowohl der allgemeinen theolo­ gischen Situation wie meiner eigenen Problematik der Lektüre etwas historisches Salz beigeben, wie es auch bei dem kürzlich geschehenen Neudruck der Dissertation meines Freundes Gerhard von Rad der Fall ist, die etwa zur selben Zeit derselben Fakultät vorgelegt worden ist. So bleibt mir nur noch, dem Verlag Walter de Gruyter & Co. dafür zu danken, daß er zur Rückkehr dieses Buches ins heutige Gespräch seine hilfreiche Hand geboten hat.

Göttingen im Oktober 1974

W. Trillhaas

Vorwort Mit der vorliegenden Untersuchung über SchleiermacherS Predigt­ arbeit führe ich an einem Punkte das Programm der „homiletischen Forschung" aus, welches ich in „Zwischen den Zeiten" 1932 S. 532 ff. ausgestellt habe. Ich habe dort die Forderung erhoben, es müsse neben und vor der „praktischen" Homiletik, welche die Predigt als Aus­ gabe der Kirche im Auge hat, eine Erforschung dessen einhergehen, was je und dann als Sinn, Inhalt und Methode der Predigt angesehen wurde, welche die Kirche zu allen Zeitm begründet hat. Ich über­ schreite damit freilich noch grundsätzlicher, alö dies Fezer etwa schon getan hat, die Grenzen, welche just Schleiermacher der praktischen Theologie gezogen hat. Er gilt zwar als der Mann, welcher in seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" (1811; § 31) die praktische Theologie zur „Krone des theologischen Studiums" geadelt hat. Ohne Anwendung auf ein christliches Kirchenregiment hören nach ihm alle theologischen Kenntnisse auf, theologische zu sein (ebd. Einl. § 5 u. 6). Aber in der 2. Auflage der „Kurzen Darstellung" fehlt das Wort von der „Krone". Daß es in der FrerichS'fchen Aus­ gabe seiner praktischen Theologie (S. 26) vorkommt, beweist bei der Textherstellung dieses Buches gar nichts. Dagegen hat Schleier­ macher in seiner theologischen Programmschrist (2. Ausgabe 1830) als Aufgabe der praktischen Theologie bezeichnet, „die besonnme Tätig­ keit, zu welcher sich die mit jenen Gefühlen zusammenhängenden Ge­ mütsbewegungen entwickeln, mit klarem Bewußtsein zu ordnen und zum Ziel zu führen" (§257). Daß diese Besonnenheit nur formal gemeint ist, zeigt die Einschränkung des Programms der prastischen Theologie auf das bloß Methodische (§ 263 ff.), besonders aber der Satz „Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondem, indem sie dieses voraussetzt, hat sie eS nur zu tun mit der richtigen VerfahrungSweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben" (§ 260). Hier liegt die Wurzel für den Schaden der ganzen prastischen Theologie: die Abkehr vom Grundsätzlichen und die Neigung, die „Tätigkeit" der

Vorwon

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Kirche in einem System von „Leistungen" darzustellen. Man kann aber diese Entleerung der praktischen Theologie nicht angreifen und die ganze Schleiermachersche Auffassung von der Aufgabenverteilung der Theologie, besonders der praktischen, doch beibehalten. Entweder die praktische Theologie ist nicht Theologie — dann hat sie aufzuhören — oder sie ist es — dann aber hat sie an den theologischen Grund­ fragen Anteil zu nehmen. Jedenfalls ist die Situation nur ironisch zu beurteilen, wo die praktische Theologie im Kompetenzstreit vor die Türe der Theologie gesetzt wird mit dem Erfolg, daß nun hinter jener verschlossenen Türe ein großer Dogmatiker nach dem anderen sich mit der — Predigtfrage beschäftigt! Der erste Hauptteil „Predigt und Lehre" sucht die Verflochtenheit des dogmatischen Gehaltes mit dem speziell homiletischen, der zweite die Verknüpfung der hermeneutischen Problematik mit der Predigt­ frage darzutun. 3n beidem aber ist es mir darum zu tun über den Einzelfall Schleiermacher und seine Erforschung hinaus zur sachlichen Frage vorzudringen. Im zweiten Hauptteil warf mich die Sache bis ins spekulative System Schleiermachers selbst zurück. Ich habe die schwierigen systematischen Zusammenhänge in dem ersten Anhang durch figürliche Darstellungen veranschaulicht. Der zweite Anhang bietet das so dringend nötige chronologische Verzeichnis aller vor­ liegenden Predigten und Predigtentwürfe SchleiermacherS. Bei seiner Herstellung hat mich Herr cand. theol. Otto Zimmerer in umsich­ tiger Weise unterstützt, wofür ich ihm auch hier danke. DaS Verzeich­ nis, dessen Abkürzungen für die ganze Arbeit maßgebend sind, leidet lediglich unter der Tatsache, daß seither die Verwalter, ja selbst die Herausgeber einzelner Predigten keinen Drang empfunden haben, die übrigen Brocken zu sammeln, daß nichts umkomme. Letzteres wird unterdessen wohl vielfach eingetreten sein. Der zweite Hauptteil ist — wenig geändert — der Theologischen Fakultät Erlangen als Habilitationsschrift vorgelegen. Erlangen, März 1933.

Wolfgang TrillhaaS.

Einleitung i. Das vorliegende Buch ist mit einem doppelten Interesse befrachtet. Eö will die Erkenntnis Schleiermachers in Bezug auf seine Predigten fördern und es will gleichzeitig einen grundsätzlichen Beitrag zur Diskussion des Predigtproblemes überhaupt bieten. Wir sind uns über die damit verbundenen Schwierigkeiten vollauf im klaren. Ob eö gelungen ist, die auseinanderstrebenden Interessen zusammenzu­ halten, kann nicht auS dem Thema, sondern nur aus der Durchführung der Arbeit selbst entschieden werden. Jedenfalls sprachen gewichtige sachliche Gründe für diese Jneinösetzung des historischen und des grundsätzlich-homiletischen Anliegens. Homiletik ist zuerst und zuletzt Methodenfrage. Aber während anderwärts das methodologische Problem geradezu als das Wurzel­ problem der Wissenschaft erkannt wurde, ging eS in der Homiletik umgekehrt. Man verwechselte hier Methode mit Rezept und verfehlte so gerade die Hauptsache, nämlich daß die richtige Methode die Vor­ aussetzung für die Erkenntnis des „Gegenstandes" sei, ja, daß Eigen­ art der Methode und Eigenart des „Gegenstandes" in der genauesten Entsprechung.stünden. Gerade um des willen aber läßt sich die Grund­ frage der Homiletik, sofern sie Methodenfrage ist, nicht im luftleeren Raum erledigen. Als solchen betrachten wir alle Formalien der Rede­ kunst, alle psychologischen Allgemeinheiten, mit denen ja das Spezi­ fikum der Predigt gar nicht erreicht wird, aber auch alles Reden vom „Wort Gottes", das nur aus einer Anstrengung dieses Begriffes her­ vorgeht. Wir versuchen daher die Predigtfrage anzugreifen, indem wir sie an vorliegenden Predigten studieren. Unsere Wahl ist dabei nicht zufällig auf Schleiermacher gefallen. Selten ist bei einem neueren Prediger das Material so ausgebreitet, die Auffassung so ausgeprägt und auch der theologische Umkreis so sichtbar als bei ihm. Bei Schleiermacher ist gerade seine Predigtarbeit bisher unverhältnismäßig im Dunkel geblieben, obwohl er hier nahezu am originalsten gewirkt hat. Wir versuchen deshalb unö ein Gesamtbild W. Trtllhaas: SchlciermacherS Predigt 1

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Einleitung

seiner Predigtarbeit zu verschaffen. Dabei ist eS unö freilich weniger um Erforschung von einzelnen Geschichtszusammenhängen zu tun alö darum, den geschichtlichen Schleiermacher zum Reden zu bringen über seine Predigten, ihre Theologie, ihre Schriftauölegung und die Ab­ sichten, welche er bei seiner Predigtarbeit eigentlich hatte.

II. Von feiten Schleiermachers erhebt sich jedoch eine große Schwie­ rigkeit. Sein Leben bietet das Bild eines ungeheuren Wandels. Der Herrnhuter Zögling verwandelt sich in einen Schüler, ja in ein Glied der idealistischen Philosophie. Der rationalistische Kritiker deö KirchenglaubenS wird zum Schöpfer deö modernen Religionöbegriffö. Zu­ letzt aber steht ein Mann vor uns, der den Anspruch an sich stellte, schlecht und recht Theologe — Pfarrer und Professor — der evangelischen Kirche Preußens zu sein. Es ist umfassende Kenntnis und Forschung nötig, allein die Spuren dieses Wandels ins einzelne nachzuweisen. Schwieriger ist es noch, die Motive der wissenschaftlichen Entwicklung zu erkennen, wenn auch das Rätsel des plötzlich erwachenden theolo­ gischen Interesses bei Schleiermacher noch kaum gedeutet ist. 3n Diltheyö „Leben Schleiermachers" erscheint diese Kernfrage für die theologische Beurteilung Schleiermacherö nur zum Schluß deS bio­ graphischen Fragmentes, gleichsam am Rande noch angedeutet. In WehrungS schönem Buch über „Schleiermacher in der Zeit seines Werdens" (1927) ist diese eigentliche Rätselfrage nicht mehr gestellt. Eö ist aber zu überlegen, ob der „Wandel" einen Wechsel völlig ent­ gegengesetzter Lebensinhalte darstellt: Pietismus, Rationalismus, Idealismus, Romantik, kirchliche Theologie. Eö könnte nämlich sein, daß die leicht beeinflußbare, weibliche und wandelbare Natur des klugen Mannes vielmehr so sich entwickelt hat, daß sie bei Festhalten des „Ertrages" einer Epoche nur neue Gesichtspunkte hinzu gewonnen hat. Ich erinnere zum Beleg nur an seine lebenslängliche, positive, ja sehnsüchtige Stellung zu Herrnhut. „Hier ging mir zuerst das Be­ wußtsein auf von dem Verhältnis des Menschen zu einer höheren Welt, freilich in einer kleinen Gestalt, wie man auch sagt, daß auch Geister oft als Kinder und Zwerge erscheinen, aber es sind doch Geister und für daS Wesentliche ist eS einerlei (!). Hier entwickelte sich zuerst die mystische Anlage . . . Damals keimte sie auf, jetzt ist sie ausgebildet und ich kann sagen, daß ich nach allem wieder ein Herrnhuter geworden bin, nur von einer höheren Ordnung." So schreibt er an G. Reimer

Einleitung

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1802 aus GnadenfreiEs wäre ferner daran zu erinnern, daß der Geist der Aufklärung seiner Studenten- und ersten Predigerjahre noch unverändert fortlebt in der merkwürdig skeptischen Behandlung der Weihnachtö-, Oster- und Himmelfahrtsgeschichte. Auch sein plato­ nischer Idealismus, für den ja rationalistische Geschichtskritik nur die Wege ebnete, hat in der ganzen Urbild-Spekulation von den „Reden" bis in die Christologie der Glaubenslehre hinein einen bleibenden Niederschlag gefunden, ganz abgesehen von dem philosophischen Neben­ sinn seiner theologischen Begriffe. Die „Weihnachtsfeier" von 1806 ist darum nicht nur für SchleiermacherS Christologie, sondern indirekt auch für die Deutung seiner Entwicklung wichtig. Die nacheinander auftretenden „Standpunkte" sind in Wahrheit beieinander liegende, wenn auch nacheinander erworbene Gesichtspunkte des reifen theo­ logischen Denkers.

III. Schleiermacher war kein Mann des Umbruches, wie man ihn so oft hingestellt hat. Zweifellos kam seine Verpflanzung in den Herrn­ huter Boden seiner Naturanlage entgegen, und der kritisch-philoso­ phische Geist, der ihn durch Aufklärung und Idealismus hindurch­ führte, war die eigentliche Triebkraft seines VorwärtödrängenS. Seine theologische Aufgabe im engem Sinne — und die „Reden" sind ja noch kein theologisches Buch — trat von außen an ihn heran. Man muß die Dokumente aus der Hallenser Zeit über seine Einarbeitung in den Vorlesungöbetrieb lesen1 2,3 um sich von seiner bisherigen theologischen Unberührtheit zu überzeugen. Welche Bedeutung hat doch die philo­ sophische Theologie in seiner ersten theologischen Veröffentlichung, der Kurzen Darstellung von 1811, und noch die Glaubenslehre er­ scheint wie eine wissenschaftliche Selbstlegitimation deS philosophischen Geistes über seinen theologischen Beruf. Jedenfalls ist er doch wohl erst seit Übemahme seiner Hallenser Professur bewußter Theologe. Die Theologie steht hierbei durchaus im Rahmen seines Wissenschafts­ systems, und gewichtige theologische Begriffe finden nicht dort in der Glaubenslehre, sondem hier an den verschiedenm Stellen seines philo­ sophischen Systems ihre Deutung. Es ist daher nicht ohne Grund, roenn Paul Schütz2 meint, Schleiermacher sei in seiner Glaubenslehre

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„Aus SchleiermacherS Leben", in Briefen Bd. i, S. 308 f. Sm Briefwechsel mit Gaß, hrSg. v. W. Gaß, Berlin 18 $2, vgl. auch Dilthey, Leben SchleiermacherS, HrSg. v. Mulert, 1922, S. 753 ff. 3 Säkulare Religion, Tübingen 1932, S. 135. !•

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Einleitung

„beinahe so etwas wie ein Outsider von sich selbst". Umgekehrt betont Schütz, daß Schleiermachers Predigten „überraschenderweise im Zusammenhang seines Systemes ihren selbstverständlichen und natür­ lichen Ort einnehmen". Dies ist richtig. Doch ist das berührte Problem der Predigten im Zusammenhang von Schleiermachers theologischer Entwicklung noch umfassender. Er hat schon gepredigt, lange bevor er als Theologe zu Selbständigkeit und Bedeutung gelangte. Seine Anschauung vom Christentum hat er hier also nicht nur am frühesten, sondern auch un­ abhängig von seiner theologischen Anschauung, vor allem lange vor deren Festlegung, ausgesprochen. Dies allein hätte den Predigten als Quelle für die theologische Erforschung Schleiermachers einen ersten Rang sichern müssen. ES kommt hinzu, daß die Entwicklung des Predigers Schleiermacher gegenüber der theoretischen Entwicklung, wenn schon nicht ohne Zusammenhang mit ihr, doch durchaus ihre eigene Logik hat. Wichtige theoretische Wandlungen finden — begreif­ licherweise — in den Predigten keinen Niederschlag; manche christ­ lichen Anschauungen sind hier hinwiederum deutlicher als z. B. in der Glaubenslehre und ohne Sinnverhüllung ausgesprochen. Es ist eigenartig, daß besonders die frühen Predigten oftmals auf ihre geistesgeschichtliche, aber fast kaum auf ihre christliche oder theolo­ gische Bedeutung hin untersucht worden sind. Und doch sind sie zu­ nächst in dieser Richtung zu verstehen. Man kann jedenfalls bei den Predigten damit nicht schon gleich anfangen, daß man in ihnen christ­ liche Verbrämungen philosophischer Gedanken sieht, wozu E. Brunner sehr neigt. Jede geschichtliche Gestalt hat das Recht, zunächst nach ihren eigenen Worten verstanden zu werden, ehe man versucht „besser zu verstehen, als sie sich selbst verstand". Wir wollen versuchen, Schleier­ machers Predigten, dieses Dritteil seiner Hinterlassenschaft, auch end­ lich zunächst für sich selbst zu nehmen.

IV. Es ist unS nicht nur um Darstellung, sondern auch um Gespräch, baS heißt um Lemen wie um Kritik, zu tun. Wir sind kritisch genug, Schleiermacher nicht nur unfern Lehrer sein zu lassen, bescheiden ge­ nug, nicht als seine Richter aufzutreten. Doch ist unser Versuch von einer erheblichen Schwierigkeit gedrückt. Jede Gestalt der Geschichte hat ihr doppeltes Gesicht. Das eine, das „Gesicht an sich", bietet sich dem Historiker dar, daö „wirksame" Gesicht aber der Geschichte, der Polemik wie den Nachfolgern. Beides ist das Gesicht einer einzigen

Einleitung

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Person, und doch, stets wird der Historiker gegen lebendige Ausein­ andersetzung über Zeiträume hinweg Einspruch erheben, denn solche Auseinandersetzung ist ja Ausschaltung der dazwischenliegenden Zeit und damit der Geschichte. Wiederum, bewunderndes Verstehen oder entschuldigende Erklärung erfüllt nie die Bedürfnisse dessen, der lebendige Zwiesprache sucht. So müssen wir fast fürchten, den von Nietzsche empfundenen Zwiespalt zwischen Historie und Leben auch am Leibe dieser Arbeit zu tragen, so ehrlich wir unS um seine Aus­ söhnung bemüht haben. Aber wir versprachen unS gerade bei dem tiefen Graben, den das Jahrhundert zwischen seiner und unserer theo­ logischen Haltung bedeutet, nur eine Befruchtung der Zwiesprache. Galt doch seine unS jetzt fremd gewordene Lösung derselben ewigen Aufgabe Gottes an seine Kirche. Das Gespräch mit Schleiermacher sucht daher nicht seinen oszillie­ renden Werdegang, nicht den schillernden, vieldeutigen und vielgedeu­ teten Gedankenkomplex der Glaubenslehre, sondern das lebendige Gesicht deö werdenden und gewordenen Predigers zu verstehen. Wir treten nicht ungerüstet, sondern voll Fragen an ihn heran. Wir wollen homiletische Forschung treiben, das heißt durch das Verständnis dieses Predigers zum Selbstverständniö vordringen. Steht ja Schleier­ macher wie auch wir im Raum der Kirche, er wie wir voll Selbst­ reflexion auf das eigene Menschenleben. An ihn ist mitgedacht bei mancher Parole, welche für die Predigt heute ausgegeben wird. Sei eö die radikale Erlebnispredigt, die am religions-psychologifch er­ mittelten Bedürfnis der Gemeinde orientiert ist, sei eS die Forderung, unter Verzicht auf alle natürlich-menschlichen Analogien die „Bot­ schaft" „steil von oben" zu verkündigen, sei eö der Versuch, die „Gottes­ wirklichkeit" des Textes der Gemeinde nahezubringen — keiner dieser Predigtbegriffe ist ohne wenigstens indirekten Hinblick auf Schleier­ macher gewonnen. Wie sich in jedem Predigtbegriff, wenn er ernst ist, eine theo­ logische Totalanschauung ausspricht, so versuchen wir auch Schleier­ machers weltanschaulichen und theologischen Rahmen seiner Predigten sichtbar zu machen. Nicht nur wie er predigte, sondern wie bei ihm die ganze Predigtaufgabe theologisch gemeint ist, — nur das Gesamtbild kann unö Bescheid geben.

I. Kapitel

Schleiermachers Auffassung vom Wesen

der Predigt Iwei Möglichkeiten liegen vor uns, an Schleiermacherö Predigten heranzutreten. Wir könnten die großen philosophisch-theologischen Grundzüge seines Denkens darzustellen versuchen, um hieraus einen Rahmen für sein Predigtwerk zu gewinnen. Indessen wäre die Ab­ sicht einer solchen grundsätzlichen Einleitung kaum einzusehen, bevor nicht eine Zusammenschau der gesamten Predigtarbeit erreicht wäre. Bis dahin ist somit diese wichtige Aufgabe zurückzustellen. Wir werden ihr erst zu Anfang des zweiten Hauptteiles nähertreten. Wir könnten aber auch unmittelbar in die Predigtanalysen eintreten. Doch wäre gegen diesen Weg einzuwenden, daß unö jeder Zusammenhang und jeder Gesichtspunkt mangeln würde. So bleibt uns als Mittelweg nur übrig, Schleiermacherö unmittelbar auf die Predigt bezogenen Grundanschauungen und dann seine Eigenart als Prediger kennen zu lernen, um hieraus ein Vorverständnis dessen zu gewinnen, was aus dem Predigtstoff selbst erarbeitet und schließlich zu einer homiletischen Gesamtanschauung verbunden werden soll. So gilt unsere Aufmerk­ samkeit also zunächst der Predigttheorie Schleiermacherö, und alsdann der Betrachtung seiner Predigergestalt, wie sie unö auö Biographie und Nachlaß entgegentritt. — Lange vor seiner theologischen Wirksamkeit hat Schleiermacher in einem gleichsam vortheologischen Dokument seine Idee von Predigt und Prediger ausgebreitet, und zwar in den „Reden über die Religion" von 1799, vornehmlich in deren erster und vierter. Freilich deckt sich, waö er hier beschreibt, kaum mit dem gewöhn­ lichen Begriff des Predigers. Hat er doch auch zunächst eine rein anthropologische Absicht bei seinem Kampfe für die Religion, die er als das Herzstück wahrer innerer Bildung erweisen und bei den Zeit­ genossen heimisch machen will. — Auch in der menschlichen Veran-

i. Die Aufnahme in die Gemeinschaft Jesu: Taufe und Erziehung

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lauschen, und der Reiz, die Anwendung eines christlichen SatzeS auf das jugendliche Bewußtsein zu prüfen und daran zu bewähren, was ihn dazu veranlaßt hat. Aber hier soll uns nicht dieses Nebeninteresse beschäftigen, sondern die Verkündigung aus Anlaß von Taufen und die Predigten über Erziehung. Denn Taufe und Erziehung sind darum wichtig, weil in beiden Anfänge des christlichen Glaubens und Lebens bezeichnet sind. Dieses „Anfängen" ist nun bei der Taufe weit proble­ matischer als bei der Erziehung. Schleiermachers Auffassung der Taufe in der Glaubenslehre (§§ 136—138) ist zunächst bezeichnet durch enge Verbindung von Taufe und Wiedergeburt. In dem faktischen Auseinandertreten beider sieht Schleiermacher nicht nur das Problem der Taufe, sondern auch ihre Unvollkommenheit begründet. War bestenfalls in der apostolischen Zeit die Identität beider gegeben, so treten hernach zwei Möglichkeiten ein, die nun die dialektischen Grenzen für den wahren Sinn der Taufe bedeuten. Entweder bezeichnet die Taufe die Bestätigung der voll­ zogenen Wiedergeburt, dann ist freilich klar, daß die Taufe als Akt zurücktritt hinter die Wiedergeburt, ohne die sie nur leere Form ist. Oder aber die Taufe geht — gewissermaßen alö deren Voraussetzung — der Wiedergeburt voraus, sodaß die Bedeutung des Taufaktes in der Aufnahme in die Kirche liegt, durch deren Wirksamkeit alsdann das neue Leben entsteht. Magisch wirkt die Taufe auch dann nicht, denn sonst wäre ja Gotteö Gnade förmlich an die Willkür des Taufenden gebunden. Diese beiden Grenzen bieten nun für Schlciermacher den „nötigen freien Spielraum" für die kirchliche Lehre. Aber beide Grenzen sind so gezogen, daß die Wirksamkeit der Taufe sich an der Subjektivität des Getauften entscheidet. Und damit stehen wir bereits nahe der dialektischen Mitte, wo die beiden Gegensätze in einem umkehrbaren Satze zusammenfallen. Denn indem die Taufhandlung auch in der Ketzertaufe die Aufnahme des Täuflings in die wahre Kirche zur Ab­ sicht hat, ist sie gültig, und indem die Wiedertäufer betonen, daß ohne die vom Heiligen Geiste gewirkte Wiedergeburt die bloße Handlung nichts sei, kann Schleiermacher mit besonders freundlichen Worten gerade für sie seine Ausführungen über die Taufe beschließen. — In­ dessen liegt die uns besonders angehende Schwierigkeit bei der Kinder­ taufe. Sie ist in der Glaubenslehre als Sonderfall behandelt (§ 138). Da sie nur mit dem in der „Firmelung" nachzuholenden Glaubens­ bekenntnis zusammen gültig ist, ist sie an sich betrachtet eine unvoll­ kommene Taufe. Da sie nun nicht magisch wirkt, begründet sie keinen Unterschied zwischen getauften und ungetauften Kindem. Es wäre

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

auch ganz gut möglich gewesen, die Kindertaufe in der ReformationSzeit, ja selbst jetzt noch aufzugeben, und zur alten Übung zurückzukehren. Was hat bei einer solchen Sachlage die Kindertaufe noch für einen Sinn? ES wird durch sie der natürliche Zusammenhang betont, den die Kinder durch ihre christlichen Eltern mit der Kirche haben. Sie werden in die Kirche gebracht, wobei das eigene Glaubensbekenntnis der Kinder alö Ziel vorgestellt wird. Eö wird durch die allerorts in der Christenheit übliche Kindertaufe angedeutet, „daß die Neugeborenen nicht ihren Eltern auöschließend angehören, sondern gemeinschaftlich der ganzen Gesellschaft". Zweifellos bedeutet dieses Verständnis der Taufe eine Verkürzung der alten Tauflehre. Der Charakter der Taufe als einer Gabe Gottes, ihre notwendige Verbindung mit dem Worte Gottes, die sichtbare Verheißung der Gnade Gottes, deren wir unö im Rückblick auf die Taufe getrösten können, ihre Eigenschaft als Bund Gottes mit dem Menschen, ihr biblischer Zusammenhang mit der Mission, — nichts von alledem ist bei Schleiermacher berührt. Die vier Taufreden, die uns überliefert sind (4,818—828) erwecken einen reicheren Eindruck. Hier scheint manches hinzugefügt zu dem Verständnis der Taufe, wie es in der Glaubenslehre ausgesprochen ist. Vor allem erscheint hier die Taufe wesentlich als Kindertaufe \ In der bei der Taufe der eigenen erstgeborenen Tochter gehaltenen Rede wird Bezug genommen auf den Kampf zwischen Fleisch und Geist, den die Kinder alö Erbteil empfangen haben. Wegen dieses Kampfes müssen die Kinder „in die erlösende Kraft Christi eingetaucht" werden. In verschiedener Weise taucht der Gedanke auf, daß die Taufe etwas vermittelt, was möglichst zum Lebenöanfang schon vermittelt wird. Zwar werden sie nicht in die christliche Kirche wie in den Staat hinein­ geboren, aber weil wir an die allgemeine Empfänglichkeit der mensch­ lichen Natur für die Offenbarung GotteS in seinem Sohne glauben, darum bringen wir die Kinder zur Taufe, also um sie von Anfang ihres Lebens an in der christlichen Gemeinde der Wirksamkeit der gött1 Schon in der „Weihnachtsfeier" ist in der Erzählung der Agnes die Zusammenstellung von Weihnachten, Lebensanfang und Taufe gegeben. Hier bürgt das religiöse Gefühl der Verwandten für die Einwohnung des Hl. Geistes und entgegen der ausstrahlenden Glorie des Christkindes sieht Leonhard in dieser Begebenheit ein Hineinstrahlen ewigen Glanzes in das Kind, also die „Weihe des LebenSanfangeS" als Sinn der Taufe. Diese Verbindung von Geburt und Taufe hat im Berneuchener Buch, Hamburg 1926, S. 119, eine Neubelebung erfahren, wo die Taufe als „die wesensnotwendige Verkündigung über die Ge­ burt in daö Erdenleben hinein" bezeichnet wird.

i. Die Aufnahme in die Gemeinschaft Jesu: Taufe und Erziehung

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lichen Gnade auszusetzen (4,821s.). Bis zu welcher Bedeutung sich dieser Gesichtspunkt steigert, zeigt die Anknüpfung der vierten Tauf­ rede bei der Auferweckung deS Töchterleins Jairi. Dort bei dem Mäd­ chen, das wirklich „nur" geschlafen hat, weckt Jesus die schlafenden Kräfte des Leibes. Hier bei der Taufe aber wird er gerufen, um die geistigen Kräfte deS Menschen zu wecken. Die Taufe ist also wirklich nur eine Einführung in die „innere Sphäre" der Kirche, nachdem sie schon durch Geburt in der „äußeren Sphäre" Bürger des Staates ge­ worden sind. Zugunsten dieser höheren Beziehung entäußern sich also die Eltern ihrer persönlichen Beziehung zu dem Kinde und empfangen es von der Kirche zurück als deren natürliche Bevollmächtigte. Somit ist der Täufling nicht nur Glied der Familie, sondern auch Glied des Staates und der Kirche. Man ist versucht, diese Beziehungen sämtlich als die natürlichen Beziehungen des Menschen anzusehen, wenn schon die Taufe eine Beziehung zur christlichen Gemeinschaft herstellt, die im Sinne der anderen „natürlich" ist. Nun ist freilich die Taufe der Kinder erst im Hinblick auf die folgende Einwirkung des christlichen Geistes vollkommen. Dies spricht sich darinnen aus, daß am Schlüsse sämtlicher vier Taufreden davon die Rede ist, daß die Eltern wie auch die Freundschaft der Familie Mitarbeiter, „Werkzeuge der göttlichen Gnade" seien (4,822), durch deren Arbeit erst die Gnade der Taufe, die Aufnahme in die Kirche, zur vollen Wirksamkeit gelange. Inhaltlich sind wir damit bei der synergisti­ schen Tauflehre der Schleiermacherschen Dogmatik angelangt, und es bedarf keiner weiteren Begründung, wenn wir unmittelbar von hier auö die Fortsetzung und Vervollständigung der Sache in den Erziehungs­ predigten suchen. Die Erziehung hat Schleiermacher am vollständigsten in den drei Erziehungöpredigten (1,579—620) behandelt, welche 1818 im Rahmen der Hausstandspredigten gehalten wurden. Als Text dazu dienten Kol. 3,21, Eph. 6,4 und 6,1—3. Der Gedanke zu Eingang der zweiten Predigt, daß die Erzieher Werkzeuge des göttlichen Geistes seien, macht die Erziehung für Schlciermacher zu einem Gegenstand der christlichen Predigt. Aber wir wissen auö anderem Zusammenhänge, daß der „Geist" bei ihm als Gemeingeist gedacht ist, und daß darum eben die Gemeinde mit der Erziehungsaufgabe befaßt wird, weil in ihrem Geiste die Er­ ziehung geschehen soll. Die Erziehung ist ein übersubjektives Werk — dieser Gedanke steht hier im Anfang. „Das gesamte junge Geschlecht unter unö wird erzogen von dem gesamten älteren" (1,579). Wendet sich doch schon, wie die zweite Taufrede ausführt, die Taufe an die „all-

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

gemeine Empfänglichkeit der menschlichen Natur für die Offenbarung Gottes in seinem Sohne" (4,821s.)1, was zu Beginn der zweiten Er­ ziehungspredigt ähnlich ausgesprochen ist: Die Jugend ist — gewisser­ maßen von Hause aus — ohne unsere besondere Bestimmung — ein Gegenstand der Wirksamkeit des göttlichen Geistes. Diese Tatsache liegt unserem Erziehungswerk voraus. Wir nehmen also nur bewußt an einem Vorgang teil und fördern ihn nach Kräften, der sich auch ohne unser Zutun abspielt. Das Überindividuelle wird so stark empfun­ den, daß geradezu die Frage sich aufdrängt, ob wir überhaupt etwas beitragen können (1,601). Was wir beitragen können, richtet sich nun zunächst nach dem Ge­ sichtspunkt, daß unsere Erziehung eine Bemühung um „die richtige und gottgefällige Entwicklung der geistigen Kräfte" ist. Die erste Predigt entwickelt die negative, die zweite die positive Seite der Auf­ gabe. Der Prediger warnt davor, die Kinder zu erbittern. Denn Er­ bitterung weckt die Sünden der Eltern in den Kindern wieder auf, zerstört die riatürliche Verbundenheit der Familie durch die geistige Macht der Liebe und verdirbt die Grundlage für allen weiteren Fort­ schritt. Umgekehrt fordert die zweite Predigt Zucht, nicht Furcht vor Strafe, sondern Stärkung des Herzens zum Guten, und vor allem Ermahnung zum Herrn. Nicht früh genug kann der fromme Sinn geweckt, Gottes- und ChristuSerkenntniö gepflegt werden. Denn von allen Seiten ist auch die Jugend schon von ungöttlichem Wesen um­ geben, und der Feind ist wachsam, Unkraut unter den Weizen zu säen, während wir schlafen. Darum muß der Jugend rechtzeitig die „Sehn­ sucht nach dem seligeren Zustande deö Menschen" erregt, das „Bedürfnis eines höheren Beistandes fühlbar gemacht" werden. Wir müssen der Jugend Gott nahe bringen, es ziemt uns „sowohl die Liebe zu dem Erlöser, der die Quelle deö Lebens und der Seligkeit ist, als auch die Liebe zu Gott, der uns seinen Sohn geschenkt hat, in ihr aufzuregen" (1,602 s.). Es wäre nicht recht, diese christliche Erziehung zu unter­ lassen aus Angst, es könnten sich unzureichende Vorstellungen von Gott bilden. Auch wir sind ja nur Kinder vor Gott, welche ihn nicht umspannen und begreifen können. Hingegen ist es eine Art Rechen­ schaft über sich selbst, welche die Eltern in solcher Erziehung den Kindern ablegen. „Ja schon sobald sie aufmerksam werden auf unö und unser 1 Die hier sowie z. B. auch 1,587 wiederkehrende Anspielung auf die Mission berühr nicht auf dem biblischen Zusammenhang von Tauf- und Missionöbefehl, sondern auf der „allgemeinen Empfänglichkeit der menschlichen Natur für die Offenbarung Gottes," welche in der Kindertaufe von uns bezeugt wird.

i. Die Aufnahme in die Gemeinschaft Jesu: Taufe und Erziehung

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ganzes Leben, und anfangen das Innere und Geiftige desselben zu bemerken und zu fragen. Woher ist das? könnten wir da unseren Kindern den verleugnen, dessen Leben in uns alles das ist, was sie an uns ehren und lieben?" (1,606.) Es wäre indessen eine völlig unzureichende Vorstellung von den Gedanken der Schleiermacherschen Erziehungspredigten, wollte man meinen, hier sei das Erziehungsgeschehen als ein eindeutiges Handeln der Eltern an den Kindern gedacht. Vielmehr ist die Erziehung ein Kreislauf, eine Rückkehr des Erziehers zu sich selbst. Diese Entsprechung zeigt sich schon darin, daß die dritte Erziehungpredigt von den Pflichten der Kinder handelt, also innerhalb des ErziehungSgedankenS die Um­ kehrung bedeutet. Wenn im zweiten Teil der ersten Erziehungspredigt davon die Rede ist, was die Jugend für die Eltern sein soll, so wird uns damit der Segen der Erziehung für uns selbst geschildert: „Da soll unö die ursprüngliche ruhige Gestalt des Lebens wieder entgegen­ treten,. . . da soll unS wieder lebendig werden, daß Gott den Menschen einfältig geschaffen hat" (1,588). ES ist mehr als bloßes Auöruhen, cS ist kräftigende Anschauung des Ursprunges, welche den Eltern durch die Erziehung vermittelt ist. Sie helfen nicht nur den Kindern, sondern sich selbst damit empor: „Denn wie wir selbst bilden und heiligen, werden auch wir geheiliget und gebildet werden; und so wird ein gott­ gefälliger Bau emporsteigen auf dem Grunde, den der Herr selbst gelegt hat und den keiner ungestraft verrücken darf" (1,608). Es handelt sich also bei diesem Kreislauf nicht um eine in sich verbleibende Be­ wegung des Lebens, sondern um Fortbewegung, um „Heiligung". Der Gedanke an die Zukunft ist ja im Zusammenhänge mit der Er­ ziehung natürlich. Wiewohl wir nur im Glauben und nicht im Schauen leben, können wir uns doch „keinen Glauben vorstellen, in welchem nicht schon irgendwie ein wenn gleich dunkles und schwankendes Schauen enthalten wäre" (1,589). Zukunft schauen können wir aber an unseren Kindern. Schon der Erlöser weist unö auf diesen Trost, indem er sagte, den Kindern gehöre das Himmelreich, in das die Erwachsenen damals nicht eingehen wollten. Darum erhebt sich Schleiermacher auch auf der Linie solcher Gedanken zu großem Pathos: Die Kinder sollen besser werden als die Eltern waren, das ist insoferne ein christliches Erziehungs­ ziel, als nur in solchem Fortschritt jedes Heranwachsenden Geschlechtes über sein erziehendes hinaus das Reich Gottes gebaut wird. Das ist für Schleiermacher der letzte Sinn der Lebenöbewegung, welche wir Erziehung nennen. Vielleicht könnte das Thema der letzten Predigt über Kinderzucht den Eindruck erwecken, als ob hier doch noch

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

ein fremdes Element in dem Bilde dieser sich gleichsam von selbst entfaltenden Erziehung stehen geblieben wäre. In dieser Predigt ist vom Gehorsam die Rede. Aber dieser Gehorsam, der uns hier als Maßstab für die Richtigkeit der Erziehung geschildert wird, hat mit knechtischer Furcht, mit Gewaltsamkeit nichts zu tun. Er hat „Ver­ heißung", aber nicht im Sinne des Lohngedankenö, sondern weil der Gehorsam das Fundament der Ordnung, vorab des Staates ist. In diesem durchaus natürlich-vernünftigen Sinne spielt also Schleier­ macher an auf die „Verheißung" im Text (Eph. 6,1—3) „auf daß du lange lebest auf Erden" — nämlich im Staate! Der „billige" Gehorsam ist, waö das persönliche Leben anbelangt, eine heilsame Vorschule wahrer Freiheit, nämlich eine Schule der Ehrfurcht und deS Gefühls noch mangelnder Reife — kurz, auch hier erfolgt eine völlige Naturali­ sierung der christlichen Erziehungsaufgabe. Besinnen wir uns an diesem Punkte noch einmal darauf zurück, welche Bedeutung diesem harmonischen Fortschritt über Geben und Nehmen zukommt, der hier als Kinderzucht beschrieben ist: Es ist die Aufnahme in die Gemeinschaft Christi! Es hat bei der Taufe begonnen und in einer Beschreibung natürlicher menschlicher Dinge geendet. Das festzustellen ist im Sinne Schleiermachers kein Tadel, sondern höchstes Lob. Wir verstehen, daß ein solches Predigen wirklich sich getrost und richtig als Darstellen bezeichnen kann. Aller Rat, aller Tadel, alle Belehrung wollen in solchen Predigten nichts anderes sein als Mäeutik, ein Offnen der Augen der Gemeinde für ihre eigenen Lebensgesetze und Sachverhalte. Dies tritt im höchsten Maße zutage, wenn wir nun im folgenden Abschnitt über das christliche Hauswesen bandeln.

2. Das christliche Hauswesen in den Predigten Vergleicht man in der „Christlichen Sitte", was Schleiermacher über die Kirche und den Staat sagt, so ergibt sich folgendes Bild: Beide, Kirche und Staat, erscheinen als Zwischenglieder jeweils zwischen zwei Endpunkten. In der Ordnung, welcher die Kirche zugehört, steht am Anfang die Person Christi. Als Ziel wird angegeben die in Christo vollendete Menschheit. Dieses Ziel aber wird durch einen Prozeß von Gesinnungöbildung angestrebt, deren Ort die Kirche ist. Nun ist natürlich auch für diese Gesinnungsbildung ein konkreter Träger er­ forderlich, und als diesen nennt uns Schleiermacher die Geschlechtsgemein-

2. Das christliche Hauswesen in den Predigten

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schäft, im weiteren Sinne das Hauswesen. Nur eine aus Hauswesen bestehende Kirche ist vollständig. — In der Ordnung, welcher der Staat zugehört, steht am Anfänge die Einzelpersönlichkeit. Angesichts der Verbreitung der menschlichen Gattung über die Erde ist nun der ideale Zielpunkt die „absolute Gemeinschaftlichkeit", also bewußtes sittliches Zusammenleben der Menschen in ihren natürlichen Bedingungen. Dieses Ziel wird angestrebt durch Talent- und Naturbildung im wei­ testen Sinne, die jedoch an der „nationellen Differenz" der Menschen ihre unübersteigliche Schranke hat. So kommt es zur Staatenbildung der Völker, welche sich selbst wiederum differenzieren in ihrer Talent­ bildung (Wissenschaft), Naturbildung (Mechanik des äußeren Lebens) und in der Kunst. Überblickt man dieses kurz wiedergegebene Schema, so hat man zweierlei Ordnungen vor sich, die wir ungefähr Erlösungs- und Schöpfungsordung nennen könnten. Wir beobachten hierbei, daß die Familie nur in der Heilsordnung, nicht aber in der Schöpfungsordnung be­ gegnet. Auch ist in Schleiermachers „Lehre vom Staat"\ soviel wir sehen, der Familie keine besondere Bedeutung zugemessen. Umgekehrt erscheint dieselbe Familie hier wie in den Predigten als Keimzelle der Kirche, als Heiligtum, als Tempel Gottes. Es ist sicher kein Zufall, daß die Texte der Hausstandpredigten über die Ehe, sowie die Ge­ danken der Traureden die „Stiftung des heiligen Ehestandes" durch Gott in der Schöpfung ganz beiseite lassen, hingegen sich des öfteren versenken in das Mysterium der Einheit Christi mit der Gemeinde, deren Abbild nach Eph. 5,22—31 die Ehe ist. Wird an der bezeichneten Schriftstelle? die Innigkeit eines irdischen Verhältnisses als Gleichnis für die Innigkeit des himmlischen Verhältnisses Christi zu seiner Ge­ meinde herangezogen, so deutet die auch von Schleiermacher geteilte römisch-katholische Auffassung das Verhältnis um: die mystische Ver­ bindung Christi und der Gemeinde muß dazu dienen, die irdische Ehe als Schule der Liebe und des Kreuzes im Sinne mystischer Verklärung umzudeuten. Da nun aber Schleiermacher von der Geschlechtsgemein-

1 Hrsg. v. Brandis, Berlin 1845. 2 Ich verstehe sie (mit Hofmann)"als Bekräftigung der Schöpfungs­ ordnung durch Christus, nicht als Einbeziehung der Ehe in eine Hierarchie, deren Spitze Christus ist (so Harleß zu V. 22 f.: Der Mann sei für das Weib „Repräsentant des Erlösers"). Vieldeutig ist die röm.-kath. Auffassung der Ehe, bald „von Christus eingesetztes Sakrament des Neuen Bundes", bald „Symbol der Einheit Christi und seiner Kirche" unter Berufung auf unsere Stelle. Vgl. B. Bartmann, Grundriß der Dogmatik, Freiburg 1923, § 166.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

5. Predigten über das menschliche Leben

schäft zum HauSwesen, von der Ehe zur Familie übergeht, indem er auch Kinder, Gesinde und Gäste teilnehmen läßt an dem geistigen Leben des Hauseö, müssen wir in diesem weiteren Umfange das Myste­ rium deS Hauses zu verstehen suchen. Den Kern deS christlichen Hauses stellt die Ehe dar, welcher 2 HauSstandöpredigten gewidmet sind und wozu noch 4 Traureden vor­ liegen. Nicht im Natürlichen, darin, daß Mann und Frau ein Fleisch sind, liegt das Kennzeichen einer rechten Ehe, sondern, hat „diese irdische Vollkommenheit nicht ihren Grund in einer höheren, so fehlt ihr immer noch die rechte Haltung". Das höhere Ziel des Christlichen ist dieses, daß einer den andem heilige und sich von ihm heiligen lasse. Darum steht Schleiermacher nicht an, die Ehe als ein „von Gott verordnetes Gnadenmittel" (1,559) zu bezeichnen, für daö sich keiner zu gut sein soll, dessen vielmehr jeder bedarf. Die Ehe dient der Vollendung des Menschen und ist vollendet, wenn jeder Herd sich richtig einordnet in die größere Haushaltung einer bürgerlichen Gesellschaft. Materiell ist die Ehe, im weiteren Sinne die Familie, natürlich ebenso für den Staat wie für die Kirche Keimzelle, aber das, was die Familie zur christ­ lichen macht, setzt sie in besondere Beziehung zur Kirche: Irdisches und Himmlisches sind in ihr eins. Die natürliche Ungleichheit zwischen den Ehegatten löst sich auf in der vollkommenen Gleichheit, wenn Christus das Urbild der Hingabe ist. Wohl bemächtigt sich das Weib des Mannes in der Liebe, wohl ist der Mann als Vorstand des Hauses des Weibes Haupt, aber beide sind sich dessen bewußt, daß wir zur Freiheit erlöst sind. Nun ist das Weib untertan und doch befreit, der Mann daö Haupt des Weibeö und doch ihm in Liebe anhangend. So ist die Ehe nicht ein „Stand", darein uns Gott „gesetzt" hat, eine Schule der Liebe und des Kreuzes, sondern ein Kreislauf, durch welchen wir geheiligt werden, indem wir anderen zur Heiligung verhelfen, nämlich zur inneren Be­ reicherung, zur Zusammenfassung der überkommenen Eigenarten (4,845 ff.), zur Freiheit. An diesem Wechselstrom des Gebens und Nehmens soll nun alles Anteil haben, was im Hause lebt, vor allem die Kinder, von denen im vorigen Abschnitt die Rede war, aber ebenso das Hauögesinde und der Gast. Was das Verhältnis der Gebietenden zu den Dienenden an­ belangt, so beurteilt es Schleiermacher zunächst als ein notwendiges Übel für beide Teile. Für die Gebieter, weil sie genötigt sind, fremde Menschen im Heiligtum ihres Hauses zu haben, für die Dienenden, weil auch ihnen in ihrer zurückgesetzten Lage das begreifliche Freiheits­ verlangen innewohnt. Aber alsbald betont Schleiermacher, daß hier

2. DaS christliche Hauswesen in den Predigten

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eine Ungleichheit vorliegt, welche ausgeglichen werden soll. Ist doch auch der Herr ein Knecht Christi, und der Diener ein Freigelassener Christi. In diesem Bewußtsein müssen beide Teile verbunden sein. Denn die Christen sollen das Hauswesen „in allen seinen Gestaltungen vornehmlich als einen Teil der Gemeine Christi" betrachten (1,631). Das hat als praktische Folge: „Man soll im häuslichen Leben ja auch sonst (also schon natürlicherweise!) die bürgerlichen Verhältnisse zum großen Teil vergessen". Nun aber erst im christlichen Leben! „Wir verlangen, daß das Göttliche und Natürliche. . . alles andere verdunkeln soll" (1,630). Dies ist Schleiermachers Formel: „Wo findet alles Bessere im Menschen mehr Haltung und Ruhe als im häuslichen Leben, wenn es nur irgend christlich und natürlich geordnet ist?" (1,627.) Diese Affinität des Menschlichen und Natür­ lichen ist gewiß nicht zufällig. Wenn Gebieter und Diener sich als Menschen natürlich begegnen, so hat es schließlich dieselbe Wirkung, wie wenn sie sich begegnen als Glieder der gleichen Gemeinde. Selbst­ verständlich ist das „Christliche" oder daö „Göttliche" „das Höhere", aber eS tritt mit dem Natürlichen nicht in Widerspruch, sondern be­ stätigt und vollendet es. Gratia non tollit naturam sed perficit! Schleiermachers Bemühen geht also in seinen HauöstandSpredigten nicht dahin, die Dienstherren wie die Dienenden über die Pflichten ihres Standes einfach und direkt zu belehren, ihnen den Segen und das Kreuzt dieser göttlichen Ordnung eindrücklich zu machen, sondern er deutet auf einen tieferen Sinn ihres Standes, gewissermaßen auf eine Ordnung hinter der sichtbaren äußeren Ordnung. Für die Er­ füllung der Standespflicht im lutherischen Sinne ist eS unwichtig „von jedem einzelnen Verhältnis fühlen, wie unentbehrlich eS im Ganzen ist" (1,632). Dies ist aber für Schleiermacher die religiöse Aufgabe. Er will den Sinn dafür erwecken, wie jeder an der großen Harmonie an seinem Orte und in seiner Weise teilnimmt. „Wenn wir eingesehen haben, wie auf der einen Seite zwar mancherlei jedoch unvermeidliche und notwendige Übel mit diesem Verhältnis verbunden sind, wie aber 1 Jeder irdische Stand hat sein „Kreuz", weil er nicht allenthalben in un­ mittelbarer Kontinuität zum Reiche Gotteö steht. Bei der Standespredigt kann der Vorbehalt „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden" nie auS dem Auge verloren werden. Bei Schleiermacher stehen Erdenberuf und Beruf im Reiche Gottes in einer Kontinuität, welche die Standespredigt aufzeigen soll. Die Schwierigkeit der lutherischen Standespredigt rührt daher, daß der irdische Beruf nur eine indirekte Beziehung zum Reiche Gottes hat. Der irdische Beruf dient der Schöpfungsordnung, d. h. aber der Welt der Sünde; seine Verheißung ist eS darum: „tectum cruce“.

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I. Haupttcil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

auf der anderen Seite der große göttliche Hausstand auf Erden, dessen Glieder wir alle sind, auch dadurch gefördert werden kann: so muß ja doch das Unbedeutende uns wichtig geworden sein, das Ungleiche sich geebnet haben und die Lust an dem Willen Gottes in diesem Verhältnis alles andere daran überwiegen" (ebd.). Diese Lust erwächst nicht aus Einsicht, da dem Verstände daS Universum nicht zugänglich ist, sondern sie beruht auf dem Gefühl für das über unseren Wahrnehmungskreis Hinausliegende. Für solches Gefühl will Schleiermacher den Sinn er­ wecken. Bedenkt man jedoch, daß dieses Gefühl im Sinne SchleiermacherS auch nichts anderes ist als eine sogar sehr unmittelbare Weise von Gegebenheit, so wird klar, daß ohne die Einsicht in solche Ge­ gebenheit niemandem eine Erfüllung seiner Standespflicht religiös kann zugemutet werden. Diese Einsicht, welche Schleiermacher erwecken will, bringt cS mit sich, daß „jeder seinem Beruf die edle und erfreuliche Seite ab­ gewinnt" (1,6; 5). Die äußerliche Ordnung ist der mehr oder weniger unabänderliche „Stand", unter dessen Pflichten, unter dessen Kreuz wir leiden. Als die tiefere Ordnung jedoch erscheint bei genauem Zu­ sehen ein Kreislauf, ein Wechsel von Geben und Nehmen. Der Zu­ stand der Dienenden im Hause wird zum Sinnbild von unser aller Verhältnis zu Gott: auch wir sind nur Gottes Knechte. Aber indem Gott mit unö sein „Reich der freien Kinder Gottes auf Erden" bauen will, fällt der Glanz jener Freiheit auch auf das Verhältnis der Dienen­ den. Die äußere Ungleichheit wird hier — formal genau so wie bei der Ehe — aufgehoben von der höheren Gleichheit, deren Erkenntnis zur Förderung aller dient. Was noch über die Gastfreundschaft und die Wohltätigkeit zu sagen ist, bringt theologisch nichts anderes mehr hinzu. Der Text über die Gastfreundschaft Hebr. 13,2 hält einer menschlichen Gewohnheit und Übung, die überall einen leiblichen Anfang hat, ein geistiges Ziel vor. „Und das ist ja das Wesen deö Christentums, alles Leibliche zu vergeistigen" (1,647). Die Zeiten, wo Engel den Abraham und Lot besuchten, sind zwar vorbei. Aber noch immer kommen durch Gäste Hoffnung und Warnung unter unser Dach, noch immer verscheucht rechte Gastfreundschaft die Sorgen. Ist doch auch der Erlöser gerne in Häusern eingekehrt. „Und immer entspann sich eine Fülle der Lehre und des geistigen Genusses auö der leiblichen Bewirtung" (1,648). Eben wegen jener geistigen Aufgabe ragt die christliche Gastfreundschaft weit hinaus über die bloß auf den leiblichen Notstand gerichtete Wohl­ tätigkeit. So falsch es wäre, nur um der eigenen geistigen Bereicherung

2. DaS christliche Hauswesen in den Predigten

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LeS Hauses willen Gäste zu laden, so sicher steht doch dem gastlichen Hause ein Gewinn in Aussicht bei dem Wechsel geistigen Gebens und Nehmens. Und zwar wird dieser Gewinn an Sorglosigkeit, an neuer Hoffnung oft am natürlichsten und ungezwungensten erreicht im heiteren geselligen Gespräch, wenn es nur wirklicher geistiger Verkehr bleibt. Ja hierin besonders, „in dieser natürlichen Ordnung der Dinge sollen wir einer dem anderen Engel Gottes sein" (1,655 s.). Die „leich­ teren Augenblicke geselliger Ruhe und Freude" (ebd.) sind geradezu der Endpunkt der wünschenswerten Entwicklung der Gastfreundschaft, der Prüfstein, wie weit sie wirklich, auch im Natürlichen, die geistige Aufgabe im Auge behält. An diesem Prüfstein aber hat sich unser Verkehr zu regeln, hier hat unsere Gastfreundschaft ihre Grenzen. Denn „wenn wir uns ohne Bedacht allerlei Menschen hingeben, ziehen sich mancherlei Gefahren um uns zusammen und können unö unversehens umstricken". Darum „wird es unser fester Wille sein, unseren ge­ selligen Kreis reinzuhalten, weil die Engel GotteS gewiß nicht eingehen, wo die Sünde gehegt wird, sondern nur zu den reinen Lieblingen Gottes" (1,655). — Damit aber ist natürlich die apostolische Forderung des Textes beschränkt worden, und das Wort von den Engeln, das dort Verheißung ist, zu einem Regulativ unseres Verkehrs umgedeutet. Aber worauf es Schleiermacher mit alledem ankommt, ist deutlich geworden. Hinter der äußeren Ordnung unseres Umganges gibt es eine geistige, einen Kreislauf des Gebens und Nehmens, an dem wir teilhaben sollen. Ebenso will die letzte Hausstandöpredigt über die christliche Wohl­ tätigkeit hinter die äußere Notwendigkeit zurückführen zum rechten Grund und zur rechten Art der Wohltätigkeit. Der Gegensatz von Reich und Arm ist in GotteS Ordnung beschlossen. Aber an ihm soll sich der Wechselstrom der Liebe entzünden. Dieser Wechselstrom zeigt dem Geber daS Maß seines Abstandes von der Dürftigkeit, macht ihn dank­ bar für seinen Besitz und fließt damit auf ihn zurück. Freilich, wenn daS Geben und Empfangen zwischen Einzelnen geübt wird, sind Bitter­ keit dort und Werkgerechtigkeit hier naheliegende Gefahren. Aber nicht nur aus solchem psychologischen Grunde, sondern auS dem dialektischen Begriff der Liebe heraus ist zu fordern, daß die Wohltätigkeit der Ge­ meinde übertragen werde. Nicht dem Geschäftsbetrieb deö Staates, sondern der christlichen Gemeinde. Hier ist ein Weg, durch den das Hauswesen einmündet in den großen Strom der christlichen Gemeinde. Aber dazu muß man durch die äußerliche Ordnung hindurchschauen auf die geistige Ordnung, für welche die Hausstandspredigten den Blick öffnen wollen. W. Trtllhaas: Schletermachcrs Dredlgt 8

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Erst von dieser geistigen Ordnung auö erschließt sich der christ­ liche Sinn deS Familienlebens für Schleiermacher. Nicht das bloße Stehen in seinem Stande, sondern der Wechselstrom der Liebe, der Kreislauf von Geben und Empfangen ist es, der Eltern und Kinder, Mann und Weib, Herrschaft und Dienende, HauScltern und Gäste, Arm und Reich umschließt. Wo solches Leben von Christus entzündet ist, da ist das Hauswesen für Schleiermacher — wie er es gerne nennt — ein „Heiligtum".

3. Die politische Predigt SchleiermacherS Wirksamkeit als nationaler Prediger gehört in die Epoche der Freiheitskriege hinein und hat wie nichts sonst seinen Namen volkstümlich gemachtl. Später hat er in ruhigen Zeiten auch bei staatlichen Festtagen zu predigen gehabt. Handelt es sich hierbei auch nur um einen kleinen Bruchteil seiner Predigertätigkeit, so hat er doch durch sie jedenfalls unter den politischen Predigern einen ersten Platz erhalten. Von keinem irdischen Lebensverhältnis her droht der christlichen Predigt so viel Gefahr als durch den Staat und die Politik. Ist doch die Predigt irgendwie ein Wirken auf Menschen, eine Beeinflussung deS Volkes, und keine geordnete Gemeinschaftsform hat ähnlich viel Interesse an solcher Einflußnahme, als der Staat. Kirche und Staat haben ähnliche Struktur; sie sind beide öffentliche Organisationen, in die man hineingeboren wird. Aber der Staat hat den Willen zur Macht wie die Macht selbst, und die Kirche ist ebenso verloren, wenn sie dem Staat als Organ anheimfällt, als wenn sie ihrerseits Machtansprüche an den Staat stellt. Schleiermacher hat diese Gefahr gekannt und hinsichtlich der Predigt in der praktischen Theologie (209—212) be­ sprochen. Sein Standpunkt ist klar: alles kann in der Predigt behandelt werden, wenn es religiös behandelt wird. „Verbieten kann der Staat dies nicht (nämlich sich in Politik zu mischen), denn der Geistliche stellt ja nichts Politisches auf, sondern faßt nur die Politik religiös auf" 1 Eine umfassende Darstellung dieser Tätigkeit hat I. Bauer, Schleier­ macher als patr. Prediger, Gießen 1908 gegeben. Die ganze Predigtarbcit Schleier­ macherS in den Jahren 1804—1818 ist hier historisch auSgebreitet. Bei jeder Predigt ist die Datierbarkeit geprüft worden, die nationalen Predigten dieser Zeit sind zudem geistesgeschichtlich, national und rednerisch gewürdigt. Unsere Absicht ist nur auf die theologisch-homiletische Beleuchtung begrenzt.

z. Die politische Predigt

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(211). Dieser Grundsatz ist aus die Sache gesehen richtig, um so mehr, als er nur bei unmittelbar sittlicher Wirkung deS Religiösen sinnvoll ist. ES ist ja auch nicht einzusehen, inwiefern Staat, Volk und Vater­ land etwa hinter die Familie an christlichem Rang zurücktteten sollen. Wirken doch die nationalen und staatlichen Lebensfragen auf allen Gebieten tiefer ins Schicksal des einzelnen hinein als es oft Familie, Schule und Kirche tun, und lag doch bei der Nation mitunter die Sache des Rechtes sogar gegen die verfaßte Kirche. Nur in diesem Sinne darf, aber so muß es auch politische Predigt in der Kirche geben, daß das Volk als Gemeinde Jesu angesprochen wird und die Gemeinde sich als Volk unter Gotteö Hand beugt. Natürlich hat die politische Predigt keinen anderen Auftrag als alle Predigt, dem Volk Gottes gnädigen und heiligen Willen zu verkündigen, es zu trösten und zu mahnen, die lässigen Knie wieder aufzurichten. Doch steht die poli­ tische Predigt unter dem Vorbehalt, daß sie an die Stunde der Ge­ schichte gebunden ist, daß das Vaterland wohl der Ort unserer Pilgrim­ schaft, der unausweichliche Rahmen unseres Erdenberufes, unserer Existenz ist, aber daß wir hier keine bleibende Statt haben, sondem die zukünftige suchen. Schleiermacher ist darum politischer Prediger gewesen, weil er für eine bestimmte Stunde der Geschichte gepredigt hat. Dieses Be­ wußtsein hat ihn dem Pilgerschaftsgedanken unbewußt vielleicht näher gebracht, als alle bewußte Beschäftigung mit Eschatologie. Freilich klingen die Predigten für unser Gefühl im allgemeinen überraschend zeitlos. Der Donner der vaterländischen Schicksale klingt nur von ferne herein, die Predigten gleichen einem Vorhänge, hinter welchem sich die Gestalten der Geschichte bewegen, ohne daß ihre Namen ge­ nannt würden. Diesen Zeitpredigten eignet für unsere Begriffe etwas Zeitloses, aber eö wird wohl so sein: eben darum haben sie ihre Zeit überlebt. Schleiermacher predigt über daö, was allen das Herz bewegt. Doch ist eS seine Größe, daß er die Not des Tages in die Höhe der Sitt­ lichkeit hebt. Nicht Lebensfragen, sondern sittliche Fragen ruft die Not deS Vaterlandes damals wach. Die hinreißende Überzeugungskraft der Predigten ruht darin, daß keine „christlichen Forderungen", daß nicht „ein Wort zur Lage" oder derartiges laut wird, was eine parti­ kulare Existenz neben der Not des Tageö und neben dem Gebot dee Staates führen würde, sondern die Einheit deS Sittlichen wird in schlichter Klarheit gezeigt. Ohne Zweifel stößt sich das exegetische Ge­ wissen gelegentlich an der Textauslegung. In der ersten nationalen 8*

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

Predigt „Wie sehr eS die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört" vom 24. Aug. 1806 (1,218) wird allein das Bild des Textes Eph. 2,19 besprochen, die Fremdling- nud Hausgenossenschaft wird also auf die bürgerlich-staatlichen anstatt auf die christlichen Verhältnisse an­ gewendet. Dasselbe sehen wir in der Gedächtnispredigt auf Friedrich den Großen vom 24. Jan. 1808 (1,353), in der die Weissagung Jesu vom Untergang des Tempels Matth. 24,1—2 auch zu bürgerlich-vater­ ländischen anstatt zu christlichen Überlegungen Anlaß gibt. In dieser kleinen Beobachtung kommt eine Voraussetzung SchleiermacherS zum Ausdruck: Geistliches und Weltliches sind nicht geschieden. Wie das Neue Testament weltliche Bilder auf das Reich Gottes anwendct, so glaubt Schleiermacher auch Wahrheiten auö dem Reich Gottes auf weltliche Verhältnisse übertragen zu können. Denn die ganze Welt ist ja der Ort, wo Gott waltet, und überall dort regieren Gotteö Ge­ setze, überall dort muß Friede sein (1,234). Direkte Anspielungen auf politische Einzeldinge finden sich sehr wenig. Die berühmte Predigt über Friedrich den Großen „über die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit" (1,353) enthält eine ausgedehnte Rechtfertigung der Steinschen Reform. In der Predigt von der „Beharrlichkeit gegen das uns be­ drängende Böse" (Juli 1807 — 1,337) wird eine Anspielung auf das Verhalten einiger Berliner Bürger nach der Schlacht bei Friedland vermutet (1,342)*. Daß die Predigt vom 28. März 1813 (4,69), in welcher der Aufruf „An mein Volk" und der Aufruf zur Landwehr vorzulesen waren, genauere Hinweise auf den politischen Umschwung enthält, sogar eine Anspielung auf Porks Verhalten, versteht sich ja wohl von selbst. Daß die Schlacht bei Leipzig mit Namen genannt ist (4,84), fällt bei einem Prediger auf, der nie historische Namen in Pre­ digten nennt. Einmal (4,90 s.) findet sich auch eine Auseinandersetzung mit den reaktionären Verdächtigungen — eö ist das Jahr 1815. Aber sonst werden derartige Einzeltatsachen aufgesogen von der ethischen Gesamtbetrachtung. Die erste Vaterlandspredigt in Halle vom 24. Aug. 1806 (1,218) zeigt die Erhöhung der Menschenwürde durch bürger­ lichen Sinn und Gemeingeist, die nächste Predigt dieser Sammlung (1,234), wohl vom Oktober 1806, ringt mit dem Kriegsgedanken. Die ganze Welt, Natur und Geschichte, ist ein großer Kriegsschauplatz. Aus dem Kampf ringen sich Wahrheit, Recht und Frieden hervor. „Nur 1 Vgl. I. Bauer, P. P. 52.

z. Die politische Predigt

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eine Gegend des menschlichen Lebens" ist ausgenommen, nämlich „daö stille Heiligtum der Familie". „Was schon wirklich ist und Bestand hat in dem Reiche Gottes, darin ist auch Ordnung und Friede" (1,240). „ES ist nur Schein, daß Streit, wohlgeführter Streit für die Sache der Wahrheit, des Rechts, des Guten auf dem Felde, auf welchem unsere Wirksamkeit gefordert wird, etwas UngöttlicheS sein könnte" (1,242). Der Krieg steht für Schleiermacher unter der Herrschaft der sittlichen Idee. Mit dem Krieg, und wie der Prediger späterhin besonders betont, mit der Niederlage, hat Gott das Volk aus der toten Ruhe aufge­ schreckt. Der Kampf gilt der eigenen Trägheit, er ist immer auch „Streit mit uns selbst". Aber selbst im politischen Krieg gilt der sittliche Maß­ stab. „Es ist nicht ein wilder Krieg, . . . sondern ein besonnener Widerstand ... der sich auf nichts Fremdes auödehnt und kein anderes Verhältnis verletzt" (1,243). Beim bußfertigen Rückblick auf die Ur­ sachen der Niederlage kann aus diesem Grunde Schleiermacher auch auf das „Unrecht" der Teilung Polens anspielen: „Unredlicher Gewinn vergrößerte unser Gebiet. . . denn wir gewannen nur wenig wahre Brüder, die gern denselben Gesetzen folgten" (4,72). Gott ist das Sittliche, daran muß auch im Unglück geglaubt werden, und nur strenge Hingabe an diesen Gott deö Rechtes und der Sittlichkeit kann die Menschen ertüchtigen, Herr über die Not des Vaterlandes zu werden. So wird der nationale Prediger Schleiermacher zum Prediger aller Tugenden: Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, innere Freiheit, die unabhängig ist vom äußeren Druck, das will uns die Züchtigung Gottes lehren und uns so die Überzeugung einprägen, „daß Gott noch

liebt das Volk der Deutschen" (1,258). Hinreißend ist eö zu lesen, wie Schleiexmacher anleitet, den Segen der eingebrochenen Not zu er­ kennen, so in dem grandiosen Vergleich des Einst und Jetzt in der letzten Sonntagspredigt von 1806 „daß die letzten Zeiten nicht schlechter sind als die vorigen" (1,262). Welche Kraft und Selbstgewißheit spricht doch aus der Predigt nach dem Tilsiter Frieden „Der heilsame Rat zu haben als hätten wir nicht" (Juli 1807 zu Berlin — 1,320). „Was verloren ist, kann nur wiedergewonnen werden durch diesen Sinn; was noch übrig ist und in Gefahr schwebt, kann nur erhalten werden durch ihn" (1,336). Erhebung über die zeitlichen Güter und die Hingabe an das Ewige, Ertötung aller Furcht vor dem Tod und vor nachteiligen Folgen, dagegen Gottesfurcht, das heißt Liebe des Herrn, Vertrauen zu seiner Weltrcgierung und Achthaben auf seine Stimme im Gewissen, daö ist es, womit diese politische Predigt in Zeiten der nationalen Niederlage daö Volk ausrüsten möchte. Da er-

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

hebt sich der Prediger, dessen theologische Stellung zum Alten Testa­ ment so gebrochen war, zu wahrhaft alttestamentlichen Klängen. Er „feiert" den Beginn des „Kriegsstandes" und hofft, es „werde nun Gott reuen des Unglücks, das er uns gedachte zu tun" (4,74). Am besten läßt sich daS Pathos ermessen aus dem von Eylert überlieferten Bericht^ von einer Predigt beim AuSmarsch von Freiwilligen, die uns leider sonst nicht erhalten ist: „Und als er zuletzt noch mit dem Feuer der Begeisterung die zum Kampfe gerüsteten edlen Jünglinge an­ redete, dann an deren großenteils anwesende Mütter sich wandte, und mit den Worten schloß: .Selig euer Leib, der einen solchen Sohn getragen, selig eure Brust, die ein solches Kind getränket hat', — da durchzuckte eö die ganze Versammlung, und in das laute Weinen und Schluchzen derselben rief Schlciermacher sein versiegelndes Amen". — Wenige politische Predigten auö der Zeit nach den Freiheitskriegen sind noch erhalten. Es sind Predigten uneingeschränkter Fürstentreue, Warnung vor reaktionärem Mißtrauen und vor allem Betonung der Tugenden, auf die der Staat gebaut ist, des frommen Sinnes, dessen Pflege auch den Fürsten seit vierhundert Jahren am Herzen liegt. — Wie ein erratischer Block liegen diese verhältnismäßig wenigen Zeitpredigten inmitten der anderen, in die das Rauschen der Geschichte nur von ferne herüberklingt, oder in welchen eö meist überhaupt nicht vernehmbar wird. Um so unerwarteter mag dieses energische Ringen um den Sinn der Stunde, um den Willen Gotteö in der Geschichte er­ scheinen. Die hier vertretene Anschauung vom ursächlichen Zusammen­ hang sittlicher Haltung mit dem Schicksal ist idealistisches Gut. Die Frage nach dem Sinn der Führung Gotteö ist biblisches Erbe. In ihr lebt ein Stück von dem Glauben Hiobs und der Psalmen fort. Die Antwort lautet: Gott ist der absolut Sittliche. Die Bahn der Tugend verlassen zu haben ist die Bußerkenntnis im Unglück. Aber der Führung des gerechten Gotteö dürfen wir unö anvertrauen, wenn wir seine Wege wandeln — das ist die Wegweisung für die Zukunft. Über dem

Ganzen aber liegt der frohe Glanz unbedingter Zuversicht. Der Toten deö Krieges wird hemach kaum gedacht, abgesehen vom Totenfest, dessen Einführung in Preußen seit 1817 ursprünglich dem Gedächtnis der Gefallenen galt. Eö ist im Grunde heitere Ruhe, die sich über diese Geschichtsauffassung breitet. Sie gewährt inneren Frieden im äußeren Streit. Etwas anderes mag sich dem Betrachter nach 120 Jahren auf1 Abgedruckt bei I. Bauer, P. P. 97 ff.

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lungen". Die Predigten dieser Sammlungen sind stark erweiterte und umgearbeitete sog. „literarische Predigten", die besonders in der ersten Sammlung (1801) in Wahrheit Abhandlungen sind wie die „Reden über die Religion". Auch der 7. Band, von Sydow aus dem Nachlaß veröffentlicht, enthält zum einen Teil Ausarbeitungen Schleiermachers, zum andern meist von ihm noch durchgesehene Nachschriften. — Der Nachlaß (Bd. 5—10) bringt, von der Hauptmasse des 7. Bandes ab­ gesehen, unkontrollierte Nachschriften Schleiermachersche Predigten, welche Friedrich Jabel und Adolf Sydow zum Druck besorgt haben. Diese bloßen Nachschriften unterliegen allen Bedenken, welche Nach­ schriften infolge der möglichen Fehlerquellen — Hörfehler, Kürzungen — verdienen, aber sie mögen andererseits doch auch einen getreueren Eindruck der wirklichen Predigtweise Schleiermachers vermitteln als die „literarischen Predigten"*. Die 10 Bände der Gesamtausgabe enthalten nicht den ganzen Nachlaß. An den verschiedensten Stellen tauchten noch nachträglich bis in die neuere Zeit Entwürfe, Nachschriften und dergl. auf. Einzelne solcher Fragmente sind von Fr. Jimmer, S. Lommatzsch und dem be­ sonders um die Datierungen hochverdienten I. Bauer veröffentlicht worden. Leider nicht alles, was vorlag. Unterdessen ist viel Material verschollen, einiges ist aber auch noch ungedruckt, sodaß der Gedanke an einen n. Ergänzungsband der Predigten eine versäumte Gelegen­ heit theologischer Forschung bedeutet Für unsere theologische und homiletische Bearbeitung der Pre­ digten Schleiermacherö sind vor allem die eigentlichen „Predigten" der Bände 1—4 und 7 von den Homilien der Bände 5—6 und 8—10 zu unterscheiden. Letztere nähern sich stark der Exegese und entfernen sich insofern von der freieren thematischen Predigt. Die „Predigten" geben unserer Forschung, besonders unter dem Gesichtspunkt „Predigt und Lehre" größeren Spielraum und werden infolgedessen auch im ersten Teile vorwiegend herangezogen. Hingegen bieten die Homilien für SchleiermacherS Textauffassung besondere Aufschlüsse und treten 1 Für den Zweck unserer Betrachtung kommen beide Textgruppen gleicher Weise in Betracht. Hat doch Schleiermacher in der Vorrede zur ersten Samm­ lung auch die geschriebenen Predigten unter sein Prebigtziel gestellt: „Wir wissen selten, wie viele Zuhörer wir haben unter den Anwesenden; warum sollen wir nicht, wenn eS sich tun läßt, die Zahl auch durch entferntere vermehren? Jeder wirke so weit er kann, um fromme Gesinnungen zu beleben und die Menschen über ihr eigenes Gefühl zu verständigen" (1,10). 2 Vgl. im einzelnen den 2. Anhang.

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r. Schleiermachers Gestalt als Prediger

deshalb im zweiten Abschnitt unserer Arbeit den Predigten mehr zur Seite. Die Entwicklung des Predigers Schleiermacher zu be­ schreiben, ist keine leichte Ausgabe\ Am wenigsten hat sich wohl der äußere Aufbau seiner Predigten gewandelt. Schon frühzeitig hat er die Predigtaufgabe mit großem Ernst erfaßt. Doch tragen die Predigten des ersten Jahrzehnts noch ganz das Gepräge der rationalistischen Predigt seiner Zeit. Die moralistische Haltung wird an Christum an­ geschlossen, der als Vorbild und Lehrer betrachtet wird. Gewisse eudämonistische Spekulationen finden sich (z. B. 7,135), Glückseligkeit und Besserung werden wohl auch als „die beiden großen Angelegenheiten des Menschen" (7,68) bezeichnet, ein auffallend reicher Gebrauch des Alten Testamentes, besonders der Psalmen, der Sprüche und des Predigers, deutet auf dessen Beurteilung als antiker WeiöheitSschrift. Indessen, unter dieser zeitgenössischen Decke pulst doch ein eigenes Leben, auS den geheimen gemeinsamen Kanälen der Aufklärung und deö HerrnhutertumS gespeist und in Schärfe und Selbständigkeit des Denkens sich bewährend. Die Ernsthaftigkeit seiner Auseinandersetzung mit der Predigt­ aufgabe in jener Zeit läßt sich daran ermessen, daß er, mit auf Ver­ anlassung des Vaters und Sacks, sich mit der Übersetzung zweier eng­ lischer Prediger befaßte, nämlich mit Joseph Fawcett und Hugh Blair?. Es ist eine Frage, wie weit diese Prediger ihn auch innerlich zu be­ stimmen vermochten. Beide hingen jedenfalls dem Ideal der „Gcbildetenpredigt" nach. Fawcett mochte alö freier Prediger vor reli­ giösen Abendversammlungen Gebildeter in London, besonders durch seine philosophische Tendenz auf Schleiermacher Eindruck machen. Interessant ist, Schleiermacherö Verhältnis zu Hugh Blair zu beobachten. Beide verbindet die Absicht, für Gebildete zu predigen, beiden eignet 1 Vgl. zum folgenden vor allem Dilthey, S. 76 s., S. 57 ff.; Mehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 6. Kapitel; I. Bauer, Schleiermacher als patr. Prediger S. 281 ff. 2 Joseph FawcettS Predigten. AuS dem Englischen übersetzt von F. Schleier­ macher mit einer Vorrede von F. S. G. Sack, I u. II 1798. — Hugh Blair (1718—1800) war presbyterianischer Geistlicher an der Oberkirch« zu Edinburg und Professor der Rhetorik u. Literatur an dortiger Universität. Er hat die Samm­ lung der Werke OssianS mit veranlaßt und diese auch „kritisch" bearbeitet. Sein« Vorlesungen über Rhetorik liegen in 3 Bänden vor (Lectures on Rhetoric and helles lettres, Paris und Basel 1785—1789), seine Predigten in 5 Bänden (Deutsch von Sack u. Schleiermacher Leipzig 1781—1802). Am 4. Band ist Schleiermacher beteiligt, den 5. hat hat er ganz übersetzt.

2. Schleiermachers Gestalt als Prediger

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sorgfältiger und reichlicher Schriftgebrauch, beide nehmen eine gewisse Kontinuität zwischen Vernunfterkenntnis und Schriftoffenbarung an, wenn schon sich gerade hierbei ein tiefer Graben auftut. Bei Blair ist Christus nur ein Sonderfall der allgemeinen Offenbarung Gotteö. Natürliche und geoffenbarte Religion stehen in Analogie; der Glaube an jene bereitet am besten zur Aufnahme der speziellen Offenbarung vor. Von solchen Dingen steht bei Schleiermacher nichts zu lesen. Auch daS Schwelgen in Moralismus, neben dem Blair unverhältnis­ mäßig wenig Predigten über die Heilsbedeutung Christi bietet, trennt beide Prediger. Vielmehr läßt sich an Blair, dem idealen Typuö deS rationalistischen und supranaturalistischen Predigers, der Abstand auch deS jungen Schleiermacher von seiner Zeit ermessen. Als Abschluß der ersten Epoche ist die erste Predigtsammlung von 1801 zu erwähnen, daö berühmte Gegenstück zu den Reden über die Religion. Man kann sagen, daß diese Sammlung das Erbe der Auf­ klärung vertritt, wie die Reden das Herrnhuter Erbe bedeuten (Weh­ rung). Die sittliche Bedeutung der Religion tritt deutlich hervor und eben diese Sittlichkeit wird gedanklich geklärt. Der Eudämonismus verfällt der Ablehnung, dagegen wird die innere Einheit des Sittlichen bis in daS kleinste irdische Verhältnis hinein veranschaulicht und Gott gegenüber die Demut deS Geschöpfes und daS Gefühl völliger Ergeben­ heit gefordert. Eine neue sichtbare Wendung tritt erst ein in dem Augenblick, als Schleiermacher zu dem patriotischen Prediger heranreift, als der er in der populären Geschichtsanschauung fortlebt. DaS sittliche PathoS steht jetzt ganz auf sich, und wenn auch diese Epoche noch kein theolo­ gisches Neuland bedeutet, so tritt in dieser Zeit jedenfalls der formale und ideale Einfluß PlatoS, an dessen Übersetzung er seit Jahren arheitet, stark hervor^. Noch eignet der Religion jene Zeitlosigkeit, die 1 Vgl. I. Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger S. 231 ff., 290 ff. — Von dem romantischen Plato-VerständniS ist Schleiermacher durch eine tiefe Kluft getrennt. Dort bedeutet zunächst die Plato-Verehrung eine Welt subjektiver Bekenntnisse. Plato ist das Ideal des Dichterphilosophen. Für Hölderlin z. B. steigert die Unerreichbarkeit nur die Idealität (Diotima!). DaS Gastmahl ist Vorbild für sein Gedicht „Patmos". Jeder Romantiker interpretiert sich in Plato hinein: Die Realität der Idee, daS ästhetische Verständnis der Philosophie (Schelling), alles wird mit Plato begründet. W. Schlegel hebt dann die sokratische Ironie hervor, welche ihm ein neues Verständnis Shake­ speares erschließt und die hinwiederum bas romantische Erbe Kierkegaards dar­ stellt. Fr. Schlegel baut auf die Ironie dann ein förmliches System auf. — SchleirrmacherS Platostudium steht im völlig anderen Zeichen der klassischen

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2. Schleiermachers Gestalt als Prediger

besonders in der ersten Sammlung auffällt, aber schon werden ihre Kräfte, wenn auch stark versetzt mit platonisch-idealistischem Gedanken­ gut, in das Geschehen der Zeit hineingespannt und zum Kriterium der geschichtlichen Stunde erhoben. Von da ab reißt die Bezugnahme auf die äußeren Lebensverhältnisse in Schleiermacherö Predigten nicht mehr ab. Aber in die Jahre vaterländischer Not fällt auch der Ausbau der Schleiermacherschen Theologie. Rund seit 1810 gewinnt von daher seine Predigt diejenige Farbe und den Inhalt, der dann in den Grund­ zügen festgelegt bis ans Ende seiner Wirksamkeit herrscht. Dieses letzte Stadium, welches das aktuelle, für die Folgezeit wirksame Bild des Predigers enthält, liegt unserer Untersuchung vor allem zugrunde. Wir können hierfür auf die folgenden Kapitel verweisen. Theologisch steht eö in engem inhaltlichen Zusammenhang mit der Glaubenslehre. Im einzelnen aber hoffen wir zeigen zu können, wie viel breiter, deut­ licher und lebensvoller Schleiermacherö Bild des Christentums in den Predigten der Reifezeit herauötritt als in den theoretischen Schriften. — Wir versuchen nunmehr in kurzen Strichen die allgemeinsten Charakterzüge der Schleiermacherschen Predigtweise anzugeben, ohne dem Reiz nachzugeben, schon die äußeren Eigenheiten auf theologische Wurzeln zurückzuführen. In einem Briefe an Gaß spricht Schleiermacher gelegentlich (a. a. O. 119) von „der mir eigenen, ich möchte sagen gewissenhaft antiken Bibelbenutzungöweise". Wir können diese Selbstbeurteilung nicht nur für seine gründliche Exegese für zutreffend erklären, sondern auch für die — im Sinne seiner Zeit — „antike" Neigung zur schönen Form und vor allem zur zeitlosen Betrachtung. Jesus, oder wie er fast aus­ schließlich sagt, der „Erlöser", ist ihm oft mehr eine „antike" denn eine biblische Gestalt, und die lebendige Anknüpfung an Jesus, welche be­ sonders die späteren Predigten auSzeichnet, ist dadurch inS allgemeine gewandelt, daß der Erlöser als die unerreicht edelste Blüte der Mensch­ heit gezeichnet wird. Antik ist auch in den Predigten der Umstand, daß weder Einleitung noch Schluß der Predigten eine „Summe" ihres Inhalts bieten. Sie heben an ohne Vorwegnahme und klingen aus

Philologie. Plato hat Schleiermacherö Denken nur mit Einschränkung regiert. In der Tugendlehre, auch in Erziehungsgedanken und im StaatöethoS einzelner patriotischer Predigten sind PlatoS Spuren deutlicher zu ahnen. Ein Nachweis der Ähnlichkeit einzelner Predigten mit einzelnen Dialogen dürste jedoch über unverbindliche Mutmaßungen kaum hinaus gelangen.

2. Schleiermachers Gestalt als Prediger

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ohne Aufhäufung eines Ergebnisses, sie sind Darstellungen, d. h. Aus­ breitung des Inhalts auf der ganzen Linie. — Die Themata der Predigten sind formal gefaßt und meist — dem dialektischen Schema entsprechend — in zwei, in den selteneren Fällen in drei Unterabschnitte geteilt. Die Sprache ist mehr edel-antik als biblisch, häufig unpopulär und setzt oft große Konzentrationskraft der Gemeinde voraus. Das von Schleiermacher angenommene Zusammen­ sein von Christentum und wahrer Geisteskultur wirkt auch auf seine Predigten: sie zeugen von kultivierter Gedanklichkeit, sind aber ohne solche auch weithin unzugänglich. Die Predigten sind immer, seiner Theorie gemäß, Darstellung und Betrachtung, sind eö selbst dort, wo eine tröstende Aufmunterung aus ihnen hervorgeht, die ins Gewand des Imperativs gekleidet ist. Züchtigung, Demütigung, Warnung im strengen Sinne christlicher Buße treten gänzlich zurück, wenn man sie nicht gerade in einigen patriotischen Predigten finden will. Hiermit steht die Milde seiner Predigten in ursächlichem Zusammenhang: DaS Böse scheint nur als Unverstand und Unvollkommenheit, welchen gerade durch die Predigten aufgeholfen werden soll. Bei aller Gründlichkeit seiner Exegese ist doch von den Schleiermacherschen Predigten zu sagen, daß die Heilige Schrift nicht eigent­ lich die Glaubensquelle für die Predigten ist. Die Heilige Schrift dient vielmehr zur Legitimierung und Regulierung des frommen christlichen Gefühls und der Vernunft, aber sie ist nur soweit gültig — man denke an die bekannte Ausscheidung des Alten Testaments — als sie selbst vom frommen Gefühl und von der Vernunft im höheren Sinne be­ stätigt wird. Dies hängt zusammen mit der ganzen Spiritualisierung des Christentums. Das Wort „geistlich" ist bei Schleiermacher be­ wußt durch „geistig" ersetzt, ein Symptom dieses Spiritualismus, aber auch seines Naturalismus, denn die Geisteömitteilung, wie Schleiermacher sie anschaut, ist ihm „weniger eine Wegnahme sündiger Blindheit, als Vollendung der Natur, als Ausschöpfung"*. Dieser Spiritualismus der Predigten liebt die Abschweifung ins Allgemeine, so daß das Kasuelle der Feste oft ganz zurücktritt, aber er gehört doch eng zusammen mit dem Naturalismus, wie ja auch in Schleiermachers Ethik Geist und Natur nicht streng geschieden, sondern zwei Seiten ihrer selbst sind. Daraus erklärt sich schließlich alö auffallende Eigen­ art seiner Predigten das Fehlen aller Jenseitsvertröstung. Die Selig1 K. H. Sack, Über Schleiermachers und Albertinis Predigten, ThStKr 1831.

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2. Schleiermachers Gestalt als Prediger

fett wird durchweg als schon auf Erden erreichbar hingestellt und jeder Unterschied eines geistlichen und weltlichen Lebens in dieser Welt aufs entschiedenste geleugnet. — Eine letzte Frage wird noch aufzuwerfen sein. Sie betrifft den reformierten Charakter des Predigers Schleiermacher. Diese Frage steht natürlich im Schatten der anderen, wie weit Schleiermacher über­ haupt als reformierter Theologe anzusprechen ist. Er ist auS refor­ mierter kirchlicher Tradition hervorgegangen und hat es auch — wie Wilhelm Niesel nachgewiesen fjat1 — des öfteren gerne betont, der reformierten „Schule" anzugehören. Indessen hat Niesel gleichzeitig gezeigt, wie vorsichtig der Wert dieser Aussagen Schleiermachers zu beurteilen ist. Schon allein die Lehre von der Heiligen Schrift und von der Rechtfertigung aus dem Glauben, die für Schleiermachcr mit einer sehr perfektionistischen Heiligungslehre zusammenfließt, zeigen, wie weit er sich von der reformierten Orthodoxie unterscheidet. Aber gerade in seiner Haltung als Kirchenmann und Prediger ließen sich doch gleich­ zeitig eine Reihe von Zügen entdecken, welche seinen reformierten Cha­ rakter beweisen. Im Unterschied zu seinen lutherischen Zeitgenossen, z. B. zu Reinhard in Dresden, ist für ihn niemals der Perikopenzwang ernsthaft in Betracht gekommen. Aber das ist keine Folge irgend einer Stellungnahme Schleiermachers, sondern reformiertes Kirchenrecht. Ernster ist das Iurücktreten des Kirchenjahres bei ihm zu beurteilen. Allein, äußerlich tritt es gar nicht zurück, wie die zwei Bände seiner Festpredigten beweisen. Wenn die „Festtatsache" in den Festpredigten so leicht ihren individuellen Charakter verliert, wie wir dies in der Einleitung zu Kapitel 3 zeigen werden, so ist das nicht in reformierter Haltung, sondern in der persönlichen theologischen Stellungnahme Schleiermachers begründet. Wenn er Homilien liebt, wenn er den Be­ kenntniszwang ablehnt2, dann mag daö Erinnerungen an reformierte Eigenart wecken. Es wird aber weidlich aufgehoben durch die so un­ reformierte Ablehnung des Alten Testamentes für den kirchlichen Ge­ brauch (Glaubenslehre § 132), durch seine Vorliebe für allerlei Schmuck, z. B. Malerei in der Kirche (Br. 11,178) und durch seine Haltung im liturgischen Streit. Denn hier galt sein Kampf ja bekanntlich nicht der Liturgie überhaupt, sondern der Form ihrer Einführung und den Gesichtspunkten ihrer Reform. — Man wird bei dieser Sachlage zu 1 „Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition" in Zwischen d. Zeiten 1930 S. 511 ff. 2 Z. B. in der Vorrede zu den Augustanapredigten, abgcbruckt im Bd. 5 btt Theol. Schriften.

I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

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dem Schluß kommen, daß Schleiermacher nur in dem Sinne der Typ eines reformierten Predigers ist, in dem etwa Zinzendorf der Typus des Lutheraners ist. Für die Beurteilung Schleiermachers wird daher, der damaligen Zeitlage entsprechend, der konfessionelle Gesichtspunkt wenig ergiebig sein.

I. Hauptteil.

Predigt und Lehre

3. Kapitel Die Gestalt des Erlösers in der Predigt Eingang: Die christologischen Grundzüge in Dogmatik und Predigt Daß ein Zusammenhang zwischen der Predigt der Kirche und Jesuö Christus besteht, ist keine Frage der Theologie. Dennoch kann dieser Zusammenhang auf verschiedene Weise betrachtet werden. Die äußer­ lichste Betrachtungsweise ist die religionsgeschichtliche. Die Predigt ist nicht, wie sonst bei einer „Weltreligion", Kampfes- und Propa­ gandamittel deS Christentums, sondern sie ist ein wesentlicher Auftrag der Kirche Christi an ihre Glieder. Die Predigt begründet den Glauben an Christus, durch sie unterscheidet sich die Kirche von den „Völkern". — Neben diese religionSgeschichtliche Beurteilung deS Verhältnisses von Christus und Predigt tritt die dogmatische. Wird in jener nach einer differentia specifica der Kirche gegenüber den „Völkern" gefragt, so hier nach dem christologischen Inhalt der Predigt. Jeder Prediger hat eine Christologie, welche der Dogmatiker in der Predigt auffinden und dogmatisch beurteilen kann. Christus, d. h. die Lehre von ihm, ist wesentlicher Inhalt der christlichen Predigt. — Beide Verhältnisse haben freilich für die Homiletik grundlegende Bedeutung, liegen aber alö Voraussetzungen der Homiletik nur indirekt in deren Problem­ bereich. Ihr Gesichtspunkt für daS Verhältnis von Christus und Predigt ist das schwierigste. Denn sie muß nach dem inneren Ver­ hältnis der Predigtsubstanz zu dem in der Kirche gegenwärtigen Christus fragen. In welchem Verhältnis sieht sich die Predigt selbst zu Christus? Sie fragt nach dem gleichsam transzendentalen Sachverhalt, inwiefern die Predigt „von Christus" redet, ob sie etwa von ihm berichtet oder

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

seine Lehre weitergibt, ob sie sein Wort selbst ist, ob sie den ganzen

Christus bringt. Natürlich hängen alle diese Betrachtungsweisen unter sich zu­ sammen. Eine kann auf die andere zurückgeführt werden. Dies ist auch der Grund, warum wir hier bei der zweiten Betrachtungsweise, bei der inhaltlich-dogmatischen einsetzen wollen, um von ihr auS zur dritten vorzudringen. Wir können die christologische Frage der Homi­ letik auch bei Schlciermacher nur dann angreifen, wenn wir den dog­ matischen Vordergrund durchschritten, die Grundzüge der Christologie SchleiermacherS in kurzen Strichen gekennzeichnet haben. Die häufige Darstellung und Erörterung der christologischen Lehre SchleiermacherS an anderen Orten1 mag hierbei unsere Kürze rechtfertigen. Die Schätzung Christi soll sich nach Schleiermacher auf die Wir­ kungen gründen, die von ihm zu unserem Wohle auögehen. Dies ist vor allem für die erste Zeit SchleiermacherS augenfällig, wo der Ton auf den moralischen Wirkungen liegt. Aber eS trifft auch für die spätere Zeit vollauf zu. „WaS für unsere Zeit an die Stelle der Wunder tritt, daö ist die geschichtliche Kunde von der Beschaffenheit sowie von dem Umfang und Bestand der geistigen Wirkungen Christi. Diese haben wir vor den Zeitgenossen des Erlösers voraus und an ihnen ein Zeug­ nis, dessen Kraft in demselben Maße zunimmt, nach welchem die An­ schaulichkeit der Wunder sich verliert" (Gl. L. § 103,4). Sind die „Wir­ kungen" Christi anfangs moralisch gedacht, so später religiös und geistig, und die Summe eben dieser „Wirkungen" ist bann daö „neue Gesamt­ leben", in welchem sich die Mitteilung der „unsündlichen Vollkommen­ heit" des Erlösers vollzieht (Gl. L. § 88). Auf zwei Tatsachen liegt für Schleiermacher besonderer Nachdruck: Die Wirkungen sind natür­ licher Art — denn alles Übernatürlich-wunderbare hat ja für ihn Sinn und Ziel im Natürlichen. Um der Wirkungen willen nennt Schleier­ macher Christum in den Predigten fast ausschließlich „Erlöser". Die Wirkungen sind aber auch vollkommen, ja darin erweist sich geradezu die Göttlichkeit deö Erlösers, daß er in Ewigkeit vollkommene Wir­ kungen hervorzurufen vermag. Hier liegen dann die Wurzeln für SchleiermacherS perfektionistische Neigungen. Christus ist für Schleiermacher, das wird besonders in den „Reden" hervorgehoben, der „Mittler". Aber dieser Mittler-Begriff der „Reden" ist kulturphilosophischer Herkunft und auf das religiöse Leben nur an1 Vgl. hierzu des. Herm. Bleek, Die Grundlagen der Christologie Schleier­ macherS, Freiburg 1898. Ernst Günther, Die Entwicklung der Lehre von der Person Christi im 19. Jahrh., Tübingen 1911.

Eingang: Die christologischen Grundzüge in Dogmatik und Predigt

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gewandt. Später indessen kommt für den Theologen Schleiermacher nur mehr Christus als originaler Mittler in Betracht. Das idealmenschliche Selbstporträt der „Monologen", das erst­ mals Bleek als Quelle für die Christologie SchleiermacherS erschlossen hat, zeigt schon daS Ideal der EntwicklungSlosigkeit und sittlichen JrrtumSlosigkeit, besonders ersteres ein Aug, den dann die Weihnachtöpredigten bedeutsam an Christus in den Vordergrund stellen. Ohne Iweifel ist hier die Lehre Kants vom intelligiblen Charakter im Hin­ tergründe wirksam. Diese Eigenart der Christologie SchleiermacherS kehrt dann in der „antiken" Betrachtungsweise* der Predigten wieder und stellt die menschlich-natürliche Anschauung stark in Frage. Mit der idealen Betrachtung Christi geht übrigens SchleiermacherS Scheu vor der Bindung des Glaubens an einzelne Tatsachen Hand in Hand. Dies tritt in der „Weihnachtsfeier" bei Leonhards Rede deutlich zu Tage, erklärt aber ebenso den Grundgedanken der dortigen Rede Ernsts: Schon in der Geburt deö Kindeö ist die Vollendung des Lebens gegeben. Sicher ist auch die Ausschließung der Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft Christi aus der eigentlichen Christo­ logie (Gl. L. § 99) mit dieser Neigung in Verbindung zu bringen. Wird doch auch in den Weihnachtöpredigten gelegentlich betont, daß Christus nicht durch das, was er tat, sondern durch daS, was er selber war, unser Erlöser ist. Hieraus erklärt sich dann vor allem die mangelnde gegenseitige Eigenart der Festpredigten, die wir unten besprechen. Die ideale Betrachtung ist nun am deutlichsten ausgesprochen ür dem eigentlich originalen Begriff der Christologie SchleiermacherS, in dem deö Urbildes. Schon in der geistig-spekulativen Anschauung der „Weihnachtsfeier" kündigt er sich an, wenn Eduard hier den Johannes­ prolog zum Zeugnis dafür anruft, daß Christus der „Mensch an sich" und die kirchliche Gemeinschaft „der dargestellte Mensch an sich" sei. Der Vorbildgedanke der ersten Predigerjahre SchleiermacherS wird bewußt zum Urbildgedanken der Glaubenslehre (§93) gewendet, der die positive Seite zur EntwicklungSlosigkeit Christi bietet. Alö Urbild eignet Christo eine Produktivität, die dem Vorbilde nicht zukäme, als Urbild ist er jedoch der Geschichte seiner Gemeinde nicht vorausliegend, sondern einwohnend. Der Erlöser ist seinem ganzen Wesen nach neu und ursprünglich, aber doch seiner Erscheinung nach — und in seiner Erscheinung tritt daö Wesen restlos hervor — historisch real und mensch­ lich. Während sich sein geistiger und leiblicher Organismus nach mensch1 Vgl. den stoischen Christus seiner Passionspredigten.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

kicher Weise entwickelt, ist doch fortwährend sein Gottesbewußtsein im Gegensatz zum sonstigen menschlichen schlechthin kräftig und ge­ währleistet das Sein Gottes in ihm. Um schließlich noch eine mehr formale Eigenart der Schleiermacherschen Christologie zu nennen, so wäre auf das tiefe Mißtrauen gegen dogmatische Formulierung zu verweisen. Die eigenartig schwebend-skeptische Behandlung der Christologie, seine Kritik an der Zweinaturen- und Präexistenzlehre zeugen davon. Hingegen wurde schon in der „Weihnachtsfeier" die Musik als der direkteste Ausdruck der Religion bezeichnet. Joseph sagt: „Alle Formen sind mir zu steif und alles Reden zu langweilig und kalt. Der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt auch mir eine sprachlose Freude." Wenn auch Schleiermacher des weiteren keineswegs sprachlos blieb in Äußerungen über Christus, so dürfen wir doch als Grundtendenz festhalten, daß nicht in der formulierten oder wenigstens diskutierten Lehre sein christologischeS Anliegen zu treffen ist, sondern in der Beschreibung deS christlichen Lebens, wie wir es vor allem dann in den Predigten finden. — Während der „Lehre" stets eine Neigung zur Auseinanderlegung deS Ganzen in einzelne Teile innewohnt, in Lehrsätze, HeilStatsachen, Artikel oder dergl., muß Schleiermacher, der daS christliche Leben beschreiben will, alles zur Einheit führen. Dieser Zug wird in allen Festpredigten Schleiermacherö ganz besonders erkenn­ bar. Man kann bei ihm geradezu von einer Identität aller christ­ lichen Feste sprechen. Gelegentliche Wendungen sind hierfür bezeich­ nend. Wir wollen „eine so festliche Stunde, wie unsere weihnachtlichen sind, auf eine würdige und angemessene Weise auöfüllen, wenn wir miteinander betrachten ..." (2,344). In sehr vielen Predigten ist das Bemühen spürbar, den Predigtinhalt vom festlichen Anlaß abzulösen und ins Allgemeine zu heben. Aber für diese mehr allgemeinen Be­ obachtungen bringt nun die Weihnachtöpredigt von 1833 (8,763) einen förmlichen Beleg. Schleiermacher befaßt sich schon eingangs sehr wohl­ wollend mit der Ansicht, „nicht auf besondere ausgezeichnete Tage solle sich daS tiefste und innerste Gefühl der Dankbarkeit für die Erscheinung deS Erlösers erstrecken . . ., sondern auf immer gleiche Weise sollten wir dieser Freude voll sein" (3,765). Am Schlüsse der genannten Predigt aber wird förmlich die Identität aller christlichen großen Feste im christlichen Leben erörtert. Die einzelnen Feste werden hier gleichsam als modi des gleichen christlichen Lebens geschildert: Ostern verkörpert die Begeisterung der ersten Zeit. „Jedes Wort, das sie (die Apostel) verkündigten, war nichts anderes als eine neue Osterfeier" (3,775).

Eingang: Die christologischen Grundzüge in Dogmatik und Predigt

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Pfingsten ist daS Fest der Verbreitung der christlichen Kirche durch die Wirksamkeit des göttlichen Geistes. „Aber das stille ruhige Leben mitten in der christlichen Kirche, wie es unser schönes und bescheidenes Los ist - - ." wird gefeiert durch „dieö schöne Fest der Weihnachten". „Und so lasset uns auch gestehen, eS ist ein schönes Fest; welches jedes Jahr uns wiederkehrt; aber eS hat doch seine Wahrheit und Bedeutung nur in diesem immer fortgehenden Werke, nur dadurch, daß wir eö in jedem Augenblick aufs neue feiern..." (3,776). Wie die Einheit deS Urbildes in der Einheit des christlichen Lebens wohnt, so ist, waS in Lehre und Kirchenjahr auSeinandertritt im Grunde eins. Die homi­ letische Eigenart Schleiermacherö hat auch hier ihren streng theolo­ gischen Grund, dessen Folge wir immer wieder betrachten können: DaS Einzelne ist daS Widerspiel des Ganzen, am individuellen Anlaß hat die Predigt das Allgemeine aufzuzeigen. Unter diesen Gesichtspunkten haben wir nun den christologischen Predigten Schleiermachers noch einige Bemerkungen darüber vorauözuschicken, wie die Gestalt deS Erlösers abgesehen von den besonderen festlichen Anlässen in den Predigten erscheint. ES mag zunächst auffallen, daß verhältnismäßig wenig Predigten Wunder Jesu zum Gegenstand haben. Der Grund ist an vielen Stellen von Schleiermacher ausgesprochen worden. Auf Wunder ist der Glaube nicht angewiesen. Im Grunde gibt es ja für Schleier­ macher nur ein Wunder, nämlich das durch die Erscheinung des Er­ lösers begonnene neue Leben. „Zu oft und zu reichlich, als daß wir noch nötig haben sollten unseren Glauben an einzelnen Wundertaten zu stärken, hat sich seitdem unter uns jenes große Wunder erneuert . . ., daß nämlich an die Stelle der Finsternis das göttliche Licht getreten ist, daß die Kinder dieser Welt umgeschaffen sind durch daö Wort und die Kraft Jesu in Kinder Gottes" (1,401s.). So stellt Schleiermacher auch in der Predigt „über die Erzählung von den Besessenen bei den Gergesenern" (1,401) das Matth. 8,28—34 berichtete Ereignis unter diese allgemeinen Gesichtspunkte: 1. Der Erlöser bemächtigt sich auch der verlorenen Seelen. 2. Daö Gericht ergeht über alle, die für die inneren Angelegenheiten ihres Herzens und für die großen des mensch­ lichen Lebens nicht des Erlösers Stimme hören und seine seligmachende Kraft nicht in ihre Mitte aufnehmen wollen. 3. Wie der Erlöser sollen auch wir uns vertrauensvoll auf bessere Zeit bescheiden, wenn nur einzelne von Jesu Macht ergriffen werden. — Eine grundsätzliche Predigt über die Wunderfrage haben wir über den Text Apostelg.i0,36—38 „Jesus der Wundertäter" (4,608), die einer offenbar ZusammenhängenW. Tri ll Haas: Schletcrmachers Predigt

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 3. Die Gestalt des Erlösers

den Serie von Dorfastenpredigten angehört*. Der erste Teil bringt die wunderbaren Wirkungen Jesu in ein Analogieverhältnis zu mensch­ lichen Wirkungen z. B. des Arztes. Wie Jesus weit mehr war denn bloßer Mensch, so umfassen seine Wirkungen das Geistige und Leibliche. Aber Jesus hat die Gelegenheiten zu solchen leiblichen Hilfserweisungen nicht aufgesucht, sondern nur wahrgenommen, und hat sie „seinem höheren, auf das geistige Wohl des Menschen gerichteten Berufe ganz untergeordnet" (4,614). Wichtig aber wird sodann der Gedanke, daß die Grenze zwischen Natürlichem und Übernatürlichem nur schwer be­ stimmbar ist, denn für die höhere Betrachtung schwindet ja der Unter­ schied. In der Gesamtheit seiner Wirkungen steht darum allerdings die Lehre voraus, freilich nicht im rationalistischen Sinne, sondem in dem der „geistigen Wirkung". „Unser Bedürfnis: daß die Seele durch ihn erlöst werden muß — soll uns auch erst das Auge aufschließen für den ganzen inneren Zusammenhang seines wohltätigen und wunder­ tätigen Lebens . . .; nicht aber soll uns das Wunderbare ... der Grund sein des Glaubens" (4,621)2. Und wenn auch, je mehr wir uns vom Zeitalter der Apostel entfernen, die Spuren jener Kräfte dunkler und unsicherer werden, so gilt: „Und doch sind auch wir gesalbt von oben mit dem heiligen Geiste und mit Kraft. Ja, aber nicht der Ein­ zelne ist es, sondern es ist die Gesamtheit der Gläubigen, welcher Christus die Verheißung gegeben hat und an der sie in Erfüllung gegangen" (4,622). — Diese Predigt gibt umfassende Auskunft über die Anschau­ ung unseres Predigers von den Wundern, eine Anschauung, die auch für die Festpredigten grundsätzliche Bedeutung hat. Da wir eben gehört haben, daß Christi leibliche Hilfe seinem Lehrberuf untergeordnet ist, dürften wir erstaunt sein auch über dieses spezielle Lehramt Christi wenig Predigten zu finden, abgesehen davon, daß hier und da einzelne Worte Christi für allgemein-christliche Be­ trachtungen zum Anlaß genommen sind, die freilich besonders beim späteren Schleiermacher durch die Person Christi besonderes Gewicht erhalten. — Auch hierfür wenden wir uns an die einschlägige Predigt der oben erwähnten Vorfastenreihe über Johannes 7,18 „Christus als Lehrer" (4,597). Jesus ist Prophet, aber nicht Schüler der alttestamentlichen Propheten, sondern vielmehr in unbedingter Originalität. Er war Prophet auch nicht nur in einzelnen Augenblicken seines Lebens,

1 Vgl. 4,597. Sm Hinblick auf eine Bemerkung 9,244 möchte ich die Reihe in« Jahr 1825 verlegen. 2 Diesen Gedanken betont auch in erweiterter Form die Predigt vom 1. S. n.Epiph. 1833 „Über die Wunder de« Erlöser«" (3,462).

Eingang: Dir christologischen Grundzüge in Dogmatik und Predigt 35

sondern in dessen ununterbrochener Folge. Und in seiner ganzen Lehr­ tätigkeit herrscht ein und derselbe Inhalt. Als dieser von Gott Gesendete, der er war, beschließt er die Reihe der Propheten, ist er der letzte Lehrer. — Aber inwieweit geht nun Christus bei seiner Predigt über den all­ gemeinen Vernunftbesitz der Menschen hinaus? Zunächst ist er in der Tat nur Offenbarer der menschlichen Vernunft und dessen, waö in der Tiefe der menschlichen Seele liegt. Aber das Mehr über die bloße revelatio generalis hinaus, bietet Christus, indem er die Mühseligei» und Beladenen zu sich ruft, ihnen Ruhe verheißt und sie auf den Weg des Lebens zurückführt. „Dazu hat er sein Leben verwendet, daß die Worte, die er redete und die Geist und Leben waren in ihm selbst, auch Geist und Leben würden in denen, welche vermögend waren, sie wahr­ haft in sich aufzunehmen." In dem Wirken von Leben und Liebe ist Christus unser Lehrer. Auf der Suche nach dem christologischen Grundzug der Schleiermacherschen Predigten sehen wir unö also zweimal weggeführt von dem Ausgangspunkt: bei den Wundern Jesu kommt es nicht auf das Über­ natürliche an, sondern auf die geistige Umschaffung, das Wunder Christi ist der Lehre untergeordnet; aber die Lehre ist nun gar nicht in erster Linie „Belehrung der Vernunft", da Christus in dieser Hinsicht nicht über die Mäeutik des vernünftigen Denkens hinauSgeht, sondern der wahre Lehrberuf Christi besteht darinnen, daß er neues Leben und Liebe auf Erden entzündet. Leben und Liebe aber schließen die Menschen zusammen, und darum wollen wir Schleiermacher, um seine christologische Grundanschauung klarzulegen, noch in einen Gedankenkreis hineinfolgen, in welchem sein eigentlichstes Anliegen spürbar wird: eS ist die Wirksamkeit Christi im geselligen Leben. Verschie­ dene Predigten aus verschiedenen Jahren sind diesem Gedankenkreis gewidmet, in vielen anderen ist er mindestens heimlich im Spiel. Wir erinnern daran, daß Schleiermacher in seiner philosophischen Ethik durch die zwiefache Spaltung der Funktionen der Vernunft zu vier „relativen Sphären" gelangt, Staat und Geselligkeit, Wissenschaft und Kirche, welche gleichsam den Ort für die Verwirklichung seiner ethischen Spekulationen bezeichnen*. Von diesen Sphären hat seit der romantischen Epoche die besondere Liebe Schleiermachers unverkenn­ bar der Geselligkeit gegolten, aber seltsamer Weise hat er, so weit wir sehen, erst nach den eigentlich romantischen Jahren seines Lebens diesen Gegenstand — dann freilich bis in die letzte Zeit hinein — zum Gegenstand seiner Predigten gemacht.

1 Vgl. i. Anhang, Fig. i b.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

Nahezu alle hier einschlägigen Predigten haben johanneische Texte*. Im Aufbau der Predigten fällt mehr als sonst die Einteilung nach explicatio und applicatio auf, welche sich durch Wendungen an­ deutet wie diese: „ . . . also sollen auch wir..." oder „. . . so auch jetzt noch....". Diese starke Beziehung zwischen den Ver­ hältnissen deö Erlösers und unseren eigenen ermöglicht eine unverhält­ nismäßig starke Psychologisierung und Vermenschlichung des Umganges Christi mit seinen Jüngern. Der Gedanke kehrt häufig wieder, daß die Liebe des Erlösers auch für unS maßgebend und vorbildlich sei: wir sollen die Brüder lieben, wie der Erlöser unS liebte. Unsere Liebe zum anderen, „soll sie an jener Vollkommenheit teilhaben, kann keine andere sein als die Liebe des Erlösers zu seinen Jüngern" (3,118). Die ganze Predigt vom 4. S. n. Epiph. 1833 (3,486) handelt von diesem Analogieverhältnis, daß unsere brüderliche Gemeinschaft nur durch dieselbe Liebe untereinander erhalten werde, durch die sie ent­ stand. Natürlich wäre dies Analogieverhältnis auch als ein „Zu­ sammenwirken" zu beschreiben, die Freundschaft zwischen dem Er­ löser und den Jüngern beruht in dem Ineinander von menschlichem Werk der Jünger und göttlichem Werk deS Erlösers (3,122) — aber auf diese Seite der Sache kommt es hier nicht an. Im freien weltlichen Leben soll Christus lebendig sein. Hierfür ist die undatierbare, offenbar an Exaudi gehaltene Predigt über Joh. 21, 2—22 sehr instruktiv: „Das Zusammensein der Jünger unter sich und mit dem Erlöser ein Vorbild unseres vertrauten Lebens mit unseren Freunden" (1,449). Die Jünger verkehren als Freunde miteinander. Ihre geringe Zahl befördert die Innerlichkeit des Verkehrs. Ihre innige und dankbare Stimmung befähigt sie zu erquickender Mit­ teilung. (Wer nicht beruhigten Gemütes ist, könnte nur zu eigener Erquickung einem solchen Kreise angehören.) Bei den Jüngern steht zudem der gesellige Genuß mit dem irdischen Beruf ohne Störung im Wechsel, eine Spannung, welcher ausgesprochen „geistige" Berufe an sich mehr überhoben sind. Ja, kein Beruf steht dem Reiche Gotteö fern, alle Berufe hat der Erlöser geheiligt. Lassen die einen „bloß leibliche" Geschäfte den Geist frei, so haben sie um desto mehr eine unmittelbare Beziehung auf daS Reich Gottes. Offenbart sich bei anderen Berufen schon „im irdischen Geschäft die Beziehung auf daS göttliche ... um desto mehr werden wir auch verlangen nach den vertrauten Stunden, in denen das Geistige besonders hervortritt" (1,458). Die Gleichung

Eingang: Die christologischen Grundzüge in Dogmatik und Predigt 37

des Geistigen mit dem Geselligen steht im Hintergrund der ganzen Predigt! Um die irdischen Verhältnisse zu vergeistigen, geht JesuS in sie ein. Diesem beherrschenden Gedanken SchleiermacherS ist z. B. die Predigt „Christus im geselligen Leben" (4,624) gewidmet. Schon die Textwahl: Matth. i2,2o„daS zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen..." ist überaus bezeichnend. Als Gegenstand der hieran anschließenden Predigt nennt Schleiermacher einleitend dies: „Daß er nichts (!) zer­ brach und nichts auslöschte." Die Verkündigung der Barmherzigkeit des Messias wird damit in eine Verkündigung seiner konservativen Haltung umgebogen. Dies wird auch des weiteren bestätigt: „Jede Beschränktheit der Seele, wodurch das Leben dürftig wird und ganz zur Erde hinabgezogen, ohne sich zur Höhe erheben zu können, jede Kälte und Gleichgültigkeit auch gegen irdische Angelegenheiten, da sie ja doch alle mit dem göttlichen Leben Zusammenhängen, wozu wir berufen sind: was ist es anderes als nur Mangel an Liebe?" (4,625.) Darum muß der Gegensatz zum Täufer — nämlich daß des Menschen Sohn ißt und trinkt —, darum muß der Beginn von Jesu öffentlichem Wirken, die Hochzeit zu Kana, darum muß seine Einkehr in Bethanien die „gesellige Neigung des Erlösers" beweisen (4,626s.). Daß sich diese „Neigung" zu Zöllnern und Sündern wendet, bedeutet für Schleiermacher seltsamer Weise nicht primär einen Beweis der Sünder­ liebe Jesu, sondern eine Heiligung auch deö Zöllnerberufes. „Der Herr wußte wohl, wie wenig oft Freiheit herrscht in der Berufswahl des einzelnen" (4,630). — Glaube niemand, daß diese Dinge für SchleiermacherS Christusbild nur Rankenwerk seien: „Und so erscheint unö deS Erlösers Freundlichkeit und Milde im geselligen Verkehre als der rechte Mittelpunkt seines ganzen Wirkens . . . Seine gesellige Hinneigung zu den Menschen gewährte ihm eine Fülle von Veran­ lassungen, ihnen die ewigen Güter des Heils anzubieten, als deren AuSspender er gekommen war. Wenn er das irdische Brot mit ihnen aß, so reichte er ihnen das himmlische Brot. . . Wenn er sich nicht von ihnen zurückzog, um einsam zu leben in der Wüste, sondern mitten unter ihnen wandelte, so tat er eS doch immer als der, in welchem zwar die Fülle der Gottheit wohnte, der aber, weil er Fleisch und Blut angenommen hatte, kein von der Natur geordnetes und dem Geiste angemessenes Gebiet des menschlichen LebenS mied oder verschmähte" (4,634 s.). Auch an anderer Stelle betont Schleiermacher von dem Erlöser, „daß es ihm oblag, in den Augenblicken der Entscheidung nicht minder als während seines ganzen Lebens alle menschlichen Verhält-

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 3. Die Gestalt des Erlösers

nisse, in denen er stand, unversehrt und heilig zu bewahren" (3,714). ES wird freilich nicht richtig sein, Schleiermacher im Blick auf solche Verkündigung zu einem Ethiker der bloßen Berufstreue im Ritschlschen Sinne zu erklären. Seine Betonung des Berufes, die Verurteilung aller Flucht vor weltlichem Beruf (z. B. 3,558) will den Beruf als Ausgangspunkt, als Material für das geistig-gesellige Leben festge­ halten wissen. Es wird deutlich geworden sein, daß JesuS nach SchleiermacherS Auffassung die Berufe und Ordnungen dieser Welt heiligen und verklären will in der Richtung, in welcher an sich schon edle Ge­ selligkeit eine Auflockerung des Individuellen, ein Spiel und einen Genuß deS Geistigen bedeutet. Darum wird auch das Bild der „from­ men Geselligkeit" auf dem Hintergründe johanneischer Liebe gemalt, besonders in der Predigt über Joh.15,14 „Die Jünger Christi Freunde wegen ihres Gehorsams" (3,112). Hier wird ausdrücklich gesagt: „Wo die Liebe sich nur alö eine heftige sinnliche Bewegung zeigt, da beschränkt sich daö Verlangen deS Geistes auf einen engen und niederen Kreis, in dem wir keine Befriedigung ahnden." Aber nun heißt eS: „Wir werden es (trotzdem) nicht wagen wollen, gleichsam mit einem Worte einen so großen Teil geistigen Wohlergehens aus dem mensch­ lichen Leben auf Erden gleichsam zu vernichten: (denn) die höchste Vollkommenheit besteht freilich für jede Liebe darin, wenn sie sich allmählich auögebildet und veredelt hat zu dieser Liebe, die der Erlöser gebietet..." (3,116). In derselben Predigt wird weiterhin bildlich daS Verhältnis so bezeichnet: würde „sich nicht mehr diese höhere Kraft deS geistigen Lebens in uns regen", dann würden wir „wieder auöarten und der wilde Stamm, der irdische Mensch würde wieder hervorsprießen" (3,118). Daö Verhältnis des Erlösers zum geselligen Leben läßt sich sonach auf doppelte Weise beschreiben. Man kann daS Verhältnis der Ana­ logie zugrunde legen, auf welches daS Predigtschema der Explikation und Applikation hinweist und wovon Schleiermacher auch ausdrücklich da und dort spricht: Wir haben überall „Veranlassung, ihm (dem Er­ löser) nachzuahmen" (4,635), — „um dem Erlöser hierin ähnlich zu werden ..." (1,462). Man kann aber auch daö Verhältnis der Iden­ tität annehmen. Eö ist deutlich in dem „Zusammenwirken" deö Er­ lösers mit seinen Jüngern enthalten (3,121s.): Sein Werk ist unser Werk, und diese Identität geht dann in die weltlichen Verhältnisse ein: die Liebe des Erlösers ist die ausgebildete und veredelte natürliche Liebe und der irdische Beruf deö Christen wird zum Beruf im Reiche deö Herrn: „wenn wir unserem Berufe folgend ein jeder von seinem

Eingang: Die christologischen Grundzüge in Dogmatik und Predigt 39 Platze aus das Reich des Herrn fördern" (1,462). Aber das ist eben die Eigenart der Schleiermacherschen Christologie, daß kein Unterschied zwischen dem Verhältnis der Analogie mit ihm und der Identität mit ihm besteht, weil beide im Urbildgedanken ihre Einheit besitzen. Die Bedeutung der Christologie ist dadurch für Schleiermacher streng in die Bezirke des irdischen Daseins einbezogen, mehr noch, sie ist wie das Reich Gotteö förmlich auf die Möglichkeiten dieser Erde beschränkt. So zu urteilen bedeutet freilich die Verneinung der Es­ chatologie, es sei denn, sie wird auf die eben bezeichneten „Grenzen" bezogen. Und in diesem Sinne, als ideales Ziel, als Asymptote einer Entwicklung, drängt diese Christologie Schleiermachers geradezu auf die Eschatologie hin. Wohl bleibt bei dem Text Matth. 12,20 (4,624) eben der Schluß „biö daß er ausführet das Gericht zum Sieg" in der Auslegung unbeachtet. Andererseits aber sieht Schleiermacher das „vertraute Zusammenleben frommer Gemüter" an als „das unmittel­ bare Abbild des Lebens, von welchem geschrieben steht: Und es wird kein Leid mehr sein und kein Tod, keine Tränen und kein Geschrei der Schmerzen, denn daö Alte ist vergangen" (1,463). Und etwas gedämpft eschatologisch schließt die Predigt über „Christus im geselligen Leben": „Je mehr wir von seinem Geiste durchdrungen sind, je mehr wir unö einer Gemütsruhe (!) wie die seinige uns erfreuen und sein Frieden uns erfüllt, um desto mehr werden wir auch hier schon mit ihm herrschen . . . und das Leben immer mehr so reinigen, daß wir überall vor den Menschen und unter ihnen wandeln wie im Himmel, und sie mit in diesem Himmel aufzunehmen suchen, in den Himmel, der in jedem Herzen ist, in dem Gott und der Erlöser wohnen" (4,636). Am emphatischsten aber ist wohl der berühmte Schluß der Predigt überJoh. 13,34 (3,486) ein Jahr vor Schleiermachers Tod, in dem er den Lobpreis der Liebe gegen alle menschlichen Satzungen, Bekenntnisse (!), Gebräuche anstimmt. „Und wenn man euch entgegnet, auf diese Weise würde ja die christliche Kirche etwas sein, was man bei nichts anfassen, bei nichts halten könne, rnan würde nicht wissen, wo sie wäre, wo sie anfinge, wo sie aufhöre: so entgegnet, also ist jeder, der aus dem Geist geboren ist; ihr wisset nicht von wannen er kommt, noch wohin er fährt, aber ihr hört sein Sausen. Und wohl euch, wenn ihr es vernehmt; wohl euch, wenn euer eigenes Leben mit zusammengefaßt ist in diesem Wesen des Geistes. . ." (3/498). Mögen diese Gedankengänge der Predigten, dogmatisch beurteilt, auch weitabführen von den schulmäßigen Themen der Christologie, so wird doch der Einsichtige eben hier den Herzschlag des christologischen

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

Interesses Schleiermachers erkennen und zugeben, daß diese Christo­ logie ihre Kraft zieht auS einer ungewöhnlichen Lebensnahe deS Denkens. Es ist nur natürlich, daß in den von gelehrten Rücksichten wesentlich unbeschwerteren Predigten sich diese Lebensnahe viel kräftiger offen­ bart als in der Glaubenslehre, wenn schon der gemeinsame theoretische Mutterboden deutlich ist. Jedenfalls haben wir hier für die folgenden christologischen Predigten Schleiermacherö einen sehr aufschlußreichen Hintergrund gewonnen. Dieser Hintergrund gilt natürlich ebenso für das Spätere, besonders wegen der stofflichen Nähe für die Predigten über das menschliche Leben. Indessen schien die christologische Wurzel des Gedankenkreises seine Besprechung schon an dieser Stelle zu be­ fürworten. Bei Behandlung der einzelnen christologischen Predigt­ gruppen folgen wir nunmehr der Ordnung des Kirchenjahres.

1. Adventspredigten — Kirchliches und bürgerliches Neujahr Nicht nur die Reihenfolge deS Kirchenjahres rechtfertigt es, mit Schleiermachers Adventspredigten zu beginnen. Liegt doch in ihnen die Grundanschauung über die Person des Erlösers vor. Es sind Predigten über die Einzigartigkeit Jesu. Der eigenartige Zusammenhang dieser Tatsache mit dem Adventsfest mag uns Anlaß sein, den Sinn der kirchlichen Adventöpredigt überhaupt am Anfang zu besprechen. Dieser übliche Sinn ist entweder heilsgeschichtlich oder innerlich-ethisch oder eSchatologisch. Advent ist die Vorbereitungszeit auf Christi Ankunft. Denkt man an die an Weihnachten tatsächlich vollzogene Ankunft Jesu in der Welt, so vermittelt auch die AdventSzeit einen Rückblick auf die (da­ malige) Zeit der Vorbereitung für Christi Kommen. Es stellt die Brücke dar zwischen Weihnachten und dem Alten Bund. In diesem Sinne werden die Adventsweissagungen in der Kirche lebendig, welche dazu dienen, die Hoffnung der Kirche auf den Erscheinenden ohne Schranken der Zeit in uns zu erwecken. Die heilsgeschichtliche Auf­ fassung von Advent macht uns „gleichzeitig" mit dem Alten Bund und läßt uns daö Weihnachtsgeschehen von diesem Standpunkte aus als die Erfüllung menschlicher, durch Gottes Weissagung geweckter Sehn­ sucht erkennen. Neben diesem heilsgeschichtlichen steht das innerlich-ethische Ver­ ständnis der Advmtszeit in der Kirche. Hierbei wird vom einzelnen auS an das Kommen Christi zu mir gedacht. Unsere Unwürdigkeit

i. Adventöpredigten — Kirchliches und bürgerliches Neujahr

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und Bedürftigkeit wird durch das bevorstehende Kommen des Messias beschämt. „Komm o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist." Daß es sich hierbei um eine genuin kirchliche Auffassung handelt, bestätigt der Bußcharakter der Adventszeit, die altkirchlichen Bußperikopen sowie der Hinweis auf Johannes den Täufer. Der eschatologische Sinn der Adventszeit ergibt sich aus der Lage der Kirche, welche nicht nur auf die weihnachtliche Ankunft Christi zu­ rückblickt, sondern zugleich auf seine Zukunft wartet. Durch Advent wird die irdische Kirche daran erinnert, daß ihr Sein in dieser Zeit be­ grenzt ist durch Jesu erste und zweite Ankunft \ Es ist ein guter Zufall, daß die erste uns von Schleiermacher er­ haltene Predigt eine Adventöpredigt ist (7,3)1 2. Die Adventszeit wird hier eingangs als ein willkommener Anlaß betrachtet, sich „lebhaft an alle die Wohltaten zu erinnern, die wir Christo zu danken haben". Dies geschieht durch die an die Zweifelsfrage des Täufers, Matth. 11,3 angeschlossene Betrachtung „daß Christus allein unser Seligmacher ist und wir keines andern zu warten haben". Die hierfür aus Jesu Antwort entnommenen Gründe sind nach Schleiermacher solche aus seinem Leben und Gründe aus Christi Lehre. Wir erwarten nämlich, so heißt es in dieser Predigt, von einem Gesandten Gottes „eine feste Anleitung zur Tugend". Diese gibt uns Christus durch sein sicheres Vorbild. Denn dieses vollkommene Beispiel Christi erregt nicht nur unser Empfinden — denn unser Herz brennt, wenn wir die Denkmale seines Lebens lesen —, das Beispiel Christi befriedigt auch vollkommen unseren Verstand, denn seine Tugend entspringt weder der Heuchelei noch dem Temperament, sondern aus unerschütterlich festen Grund­ sätzen. Aber dazu tritt das andere, zum göttlichen Beispiel tritt die Erkenntnis der Wahrheit. „Den Armen wird eine tröstliche Lehre ver­ kündigt", so deutet Schleiermacher Jesu Bescheid an die Johannes­ jünger. Die Betonung des Moralischen, welches nicht nur unser Gefühl affiziert, sondern vernünftigen festen Grundsätzen entspringt, sowie „das zweite große Bedürfnis des Geistes, dessen Befriedigung der

1 Jur Deutung der Adventszeit vgl. die altkirchlichen Perikopen. Jum Vorbereitungscharakter: Matth. 21,1—9 (1. Adv.); Matth. 11,2—(3. Adv.); Joh. 1,19—28 (4. Adv.); Röm. 15,4—13 (2. Adv.). Jur innerlich-ethischen Bedeutung: Evang. v. 3. u. 4. Adv. (f.0.); Röm. 13, ii—14 (1. Adv.); Zum eschatologischen Charakter: Luk. 21,25 —36 (2. Adv.); I, Kor. 4,1—5 (3. Adv.); Phil. 4/4—7 (4. Adv.). 2 Nach Angabe vor dem Text 1789, nach Br. III 36 am 3. Adv. 1790 gehalten.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 3. Die Gestalt des Erlösers

Mensch von einem Gesandten Gottes erwartet", nämlich daö einer „tröstlichen Lehre" — beides deutet in die Anfangszeit Schleiermachers. Aber gemeinsam ist hier mit den späteren Zügen seiner Adventöpredigten die Entfernung des Gedankenganges vom eigentlichen Advents­ anlaß, seine Beschäftigung mit der Bedeutung Christi unter Heraus­ hebung seiner Einzigartigkeit. Keine Adventöpredigt hat die Einzigartigkeit Christi später so großartig betont, als die vielleicht 35 Jahre später verfaßte 1. Fest­ predigt „Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn" (2,5; über Matth. 21,9). Die Predigt benützt das heilsgeschichtliche Schema. Christus bringt alttestamentliche Typen zu ihrer Erfüllung. Jeder, der Feste des Herrn begehen wollte, kam auch in dem Namen des Herrn, aber er allein verdient diesen Zuruf; denn er allein hat das hochzeitliche Kleid wirklich an, indem er allein ursprünglich vom Vater zeugen und ihn verklären kann: wer ihn siehet, siehet den Vater. Alle Propheten des Alten Bundes kamen im Namen des Herrn, Christus allein kann in der Synagoge zu Kapernaum von sich sagen, daß die Prophetie des Alten Bundes in ihm erfüllt sei. Moses, der Gesetzgeber, kam im Namen des Herrn. Aber was ist alle Gesetzgebung gegen Christus: „Mit der schöpferischen Macht, welche in ihm liegt, eine geistige Welt hervorzurufen und zu gestalten, pflanzt er der mensch­ lichen Seele selbst sein Gesetz ein, ... als einen Absenker gleichsam seines eigenen alles überwindenden Lebens" (2,17). Diese so festge­ stellte Einzigartigkeit ist endgültig, er ist der letzte, der gekommen ist im Namen des Herm. „Keine neue Offenbarung von oben dürfen wir mehr erwarten" (2,19). War der Alte Bund „nur eine Vorbereitung auf den, der da kommen sollte: so ist nun alles, worin sich die Gnade und Barmherzigkeit GotteS kräftig erweiset, nur ein Ausfluß von ihm und eine Folge seiner alles erneuernden Erscheinung". Dadurch wird diese Adventspredigt wohl zum stärksten Zeugnis Schleiermacherö für die abschließende Offenbarung Gottes in Christo. Jnsoferne wäre nichts Kritisches zu sagen, wenn Schleiermacher nun nicht eine völlig undialektische Konsequenz aus dieser Einsicht zöge. Er schließt nämlich mit ihr den eSchatologischen Sinn der Adventszeit aus. „Der neue Himmel und die neue Erde, sie dürfen nicht erst kommen, sie sind schon da, seitdem der Eine gekommen ist im Namen des Herrn" (2,19). Es läßt sich keine eSchatologische Adventspredigt Schleiermachers, wie überhaupt keine eSchatologische Predigt nachweisen, die etwa von dem Adventscharakter dieser Weltzeit spräche. Jnsoferne ist das heilSgeschichtliche Schema der besprochenen Predigt kein reineS, weil es nur

i. Adventöpredigten — Kirchliches und bürgerliches Neujahr

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dem Vergleich dienen soll und nicht bis zur eSchatologischen Analogie durchgeführt ist, daß auch wir nicht nur Besitzende, sondern Wartende und Fremdlinge seien wie die Frommen deö Alten Bundes. Nun haben wir freilich eine Adventspredigt, welche besonders den eSchatologischen Gedanken an die zweite Ankunft Christi zum Gegen­ stand hat. ES ist die zweite Adventspredigt der 2. Festpredigtsammlung über den Text Joh. 1,19—28„Johanniö Zeugnis von Christo ein Vor­ bild des unsrigen" (2,284). Sie erweist sich im Grunde als eine Predigt über I. Joh. 3,2. Die Ähnlichkeit des johanneischen mit dem uns ge­ botenen Zeugnis von Christo findet Schleiermacher zunächst darin, daß, der eö ablegt, wenig von sich selbst hält. Wichtig ist das Zweite: Unser Zeugnis von Christo muß vorzüglich dasjenige angeben, was noch durch ihn geschehen soll. Johannes lenkt die Aufmerksamkeit der Menschen auf das Zukünftige, auf den, der ein Reich Gottes stiften werde, zu welchem er, Johannes, durch seine Predigt der Buße ein­ lädt. Auch die Apostel haben sich so nicht auf das Geschehene berufen, sondern auf das, was noch geschehen soll. Schleiermacher gebraucht zur Veranschaulichung seiner Meinung ein kühnes Bild: „Die Ver­ söhnung ist in dem Willen und der Liebe deö göttlichen Wesens schon von Ewigkeit her geschehen; nur in Beziehung auf sie konnte Gott der Herr von dieser menschlichen Welt sagen, daß alles gut sei" (2,292). Diese platonische Voraussetzung für das Lob, welches Gott seiner Schöpfung zollt, nimmt nun auch Schleiermacher für unser Zeugnis von Christo in Anspruch. Was gewiß und als Glaube in unserem Inneren lebt, kann insoferne bezeugt werden, als es später als Tat­ sache heraustritt. Dies ist aber der Fall bei der bevorstehenden Herr­ lichkeit der Kinder Gotteö. „Innerlich haben auch wir wahrhaft Herr­ liches und Göttliches erfahren" (2,295). „Unbefangen und ohne daö Lächerliche zu fürchten laßt uns den Menschen sagen, waö sie jetzt er­ blicken von dem Werke des Herrn, sei zwar noch unvollkommen und gering, aber in ihm, ohne den auch dies nicht würde erschienen sein, liege die Kraft, daö noch viel Herrlichere hervorzubringen, waö wir erwarten, wenn er kommt." Die „Zweite Zukunft des Herrn" ist also somit nicht mehr und nicht weniger als daö Hervortreten „der schöpfe­ rischen und bildenden Kraft des Erlösers", und zwar an unö selbst. Wir möchten diesen Gedankengang an sich hier gar nicht kriti­ sieren, glauben jedoch, daß daö speziell ESchatologische schon im Neuen Testament — man denke an die synoptischen Apokalypsen — in ge­ schichtlichen Kategorien dargestellt ist und auch die Eschatologie Pauli (vgl. I. Kor. 15) ist eingebettet in ein Schema von Zeiträumen. Schleier-

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L Hauptteil: Predigt und Lehre, 3. Die Gestalt des Erlösers

macher aber verkehrt das grundsätzlich geschichtliche Schema der Es­ chatologie in ein naturalistisches, in ein Äußerlichwerden des Inner­

lichen. Dieö hat sein Recht im Rahmen einer Veränderung dieses Äons, aber nicht als eine Entwicklung im Rahmen dieses Äonö selbst,

denn „in" demselben gibt eS keine Eschatologie. — War hier Johannes der Täufer gleichsam Sprungbrett für SchleiermacherS Gedanken, so hat er doch diese eigentliche Adventöfigur öfters auch ausführlich zum Thema seiner Predigt genommen. In der Ad­ ventspredigt über Matth. 11,7—8 (2,36) bespricht Schleiermacher den Täufer als das seelische Vorstadium vor dem Einzug Jesu. „Es gibt Zustände des menschlichen Gemüts, welche zu dem eigentlichen Leben aus Gott . . . noch nicht gehören, sie gehören eigentlich wie Johannes einem früheren Entwicklungszustand der menschlichen Seele an" (2,37). Hieraus folgt eine zunächst negative Beurteilung Johannis des Täufers. Daß er „das geistige Verkehr mit den Menschen" für gefährlich hält und sich darum in die Wüste zurückzieht, daß ein Geist wie des alten Gesetzes aus seinen Reden spricht, daß er „zuviel gewalt­ same Anstrengungen hat", daß er wohl das Bad der Buße, nicht aber das Bad der Wiedergeburt zu spenden weiß, daö alles ist für Schleier­ macher als seelischer Typus interessant. Freilich wird Johannes darum nicht nur getadelt, denn er verweist ja auf Christum als auf den Bringer des Vollkommenen. Aber er selbst ist doch ein Beispiel derer, die aus Furcht vor Eitelkeit und Mißbrauch der irdischen Güter ins Extrem stürzen. Hiermit steht der Täufer in Schleiermachers Betrachtung noch außerhalb des Reiches Gottes: „Immer ist eine solche Enthaltung von allem was diesen irdischen Aufenthalt verschönert, und dem Not­ wendigen auch das Anmutige und Erfreuliche verbindet, nicht die Weise deö Erlösers" (2,50). Dieser asketische Zustand ist wohl „nicht fern vom Reiche Gottes", aber gehört ihm nicht an, es ist „absondernde Lebensweise". Christus selbst hingegen ging überall hin, wo er geladen war, auch wenn ihm „eine Abweichung von der rechten Linie der Schön­ heit und Würde" vor Augen kommen konnte (2,46). Der johanneische Zustand ist nur „Vorübung" für die „Freiheit der Kinder Gottes", die in der Teilnahme an der menschlichen Geselligkeit besteht. Auch Jesuö verschmähte keine festliche Gelegenheit, „aber überall war er das heilige Vorbild derer, die durch ihn dem Reich Gottes gewonnen, den Keim des ewigen Lebens in sich ausgenommen hatten" (2,51). — Ohne diese „Freiheit", die wir an Christus lernen, ist „der Christus in uns noch nicht zur vollen Erscheinung gekommen" (2,52). Natürlich sind die anläßlich der Betrachtung des Täufers geschilderten Zustände

i. AdventSprebigten — Kirchliches und bürgerliches Neujahr

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notwendige Übergänge vor „dem gänzlichen Sieg und Triumph des Erlösers in unserer Seele" (2,53), sie gehören gleichsam zur Diätetik deö Christwerdens. „Aber in der Jucht und Zurückgezogenheit blei­ ben wollen, das hieße sich selbst auöschließen vom Reiche Gotteö und, die Herrlichkeit desselben von ferne erblickend, die günstige Zeit vorübergehen lassen, um in dasselbe einzudringen" (2,54). Damit ist deutlich gesagt, daß in der Kultur sich das Reich Gotteö vollendet. Bei solchem Maßstab kann natürlich Johannes der Täufer nur als unzulängliches Vorstadium verstanden werden, nur als diätetisches Vorbild, nur als Vorhof zur „Vollkommenheit des männlichen Alters Christi" in Betracht kommen. Diese Gedanken bieten die Grundzüge der Schleiermacherschen Adventspredigt. Die Predigt von 1833 über Joh. 1,23—27 (3,748) er­ scheint neben der besprochenen fast als Abschwächung, und die Predigt über den Täufer von 1821 (4,150) vergegenwärtigt nur den Sinn der Bußpredigt Johannis. Abgesehen von der Gestalt des Täufers spricht schon die Adventspredigt von 1810 über Luk. 1,44 (7,557) davon, daß das Reich Christi nicht von dieser Welt, aber daß es für diese Welt ge­ stiftet ist. Die Erwartung einer herrlichen Verklärung deS Herrn ist hier schon, wenn auch schon in etwas äußerlicher Weise, so beschrieben, daß ein neues Leben in unseren Herzen beginnt und sein Reich wachse und zunehme. Waö hier gleichsam qualitativ beschrieben wird, be­ schreibt die Predigt von 1833 über Röm. 15,8—9 in extensiver Hinsicht: gegenüber der Beschränkung der Wirksamkeit unseres Erlösers selbst stehen wir vor einer größeren Freiheit und Ausdehnung seiner Jünger. Christus ist ein Diener gewesen der Beschneidung. Seine Jünger aber sind — sein Werk fortsetzend und ausbreitend — Diener der Barm­ herzigkeit, sie schaffen, daß die Heiden Gott loben, daß die Wahrheit des Evangeliums im wörtlichsten Sinne immer mehr „Raum" ge­ winnt. Hieran ist zweierlei bedeutsam: Die Missionspredigt — denn eine solche liegt ja ausgesprochenermaßen vor — wird nicht wie etwa bei Chr. G. Barth, Blumhardt d. Ä. oder Hofmann cndgeschichtlich begründet, in dem Sinne, daß erst die Heiden wiedergebracht sein müßten, ehe die Zeit reif sei für Christi Wiederkunft. Diese Begründung der Missionspflicht verrät sich immer durch ihre Betonung der Juden­ mission, deren Erfolg den Abschluß des voreschatologischen MissionöwerkeS bedeute*. Schleiermachers Missionsgedanke ist die extensive 1 Vgl. hierüber Gottl. Schrenk, GotteSreich und Bund, Gütersloh 1923, S. 278 ff. und die These Hofmanns von der Wiederherstellung Israels bei Paul Wapler, I. v. Hofmann, Leipzig 1914, S. 57.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

Seite an dem christlichen Prozeß, der ihm am Herzen liegt; er besteht in dem fortschreitenden Einbau des Christentums in die Kultur. DaS andere Bedeutsame liegt darin, daß Schleiermacher auf solche Gedanken an Advent kommt. In verschiedener Richtung vollzieht sich die Adventsverkündigung der Kirche seit alter Zeit. Wir haben unS das zu Beginn deö Abschnittes vor Augen geführt. Man kann sagen, die Adventspredigt SchleiermacherS nimmt jede der bezeichneten Richtungen auf, aber er modi­ fiziert sie in seiner Weise. Das heilsgeschichtliche Schema tritt bei einigen seiner Predigten stark hervor. Wir haben eS bei der großen Predigt „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn" (2,5) ausführlich gezeigt. Und wir könnten es an anderen Predigten ebenso darstellen, so etwa an derjenigen über Christum als den Befreier von der Sünde und von dem Gesetz (2,21) ode" bei der Predigt über den Unterschied der Stifter des Alten und Neuen Bundes (2,299). Die Spitze dieser Predigten liegt durchaus in dem Nachweis der Einzigartigkeit Jesu. In diesem Nachweis auf dem Wege des Vergleichs ist das ganze „heilsgeschichtliche" Anliegen Schleiermachers erschöpft. Der eigentliche Bußcharakter der Adventszeit ist für die Kirche in der Gestalt Johannis deö Täufers verkörpert. Indem Schleiermacher, kirchlicher Gepflogenheit folgend, über diese Gestalt in der Advents­ zeit predigt, kommt er doch sehr bald auf allgemeine Gegenstände wie z. B. auf unsere Zeugnispflicht (2,284; 3,748) oder auf die seligen Folgen der Aufnahme Christi (4,270) zu sprechen, und zwar in ver­ hältnismäßig zeitloser Form, so jedenfalls, daß der besondere AdventScharakter bald nach der Einleitung in Vergessenheit gerät. Eine Adventspredigt aus dem Jahre 1821 freilich will ausdrücklich eine Bußpredigt sein, sie handelt an Hand von Luk. 3,;—6 über die Buß­ predigt deS Johannes und ihre Anwendung auf uns (4,150). Aber eS bleibt bei einer Ausdeutung dessen, was es in jetzigen christlichen Verhältnissen heiße, daS Hohe niedrig machen, das Tal ausfüllen, das Krumme gerade richten. Und weil diese Predigt so ausgesprochener­ maßen Betrachtung ist, ist sie nicht Bußpredigt. Daß Schleiermacher statt dessen die asketische Haltung deS Täufers kritisiert, wie wir oben gezeigt haben, erklärt hinreichend die Unmöglichkeit, daS entscheidend Büßerische dieses Vorläufers anders denn als Diätetik der Seele zu verstehen. Den eöchatologischen Sinn der Adventözeit versteht Schleier­ macher von seiner Voraussetzung deS christlichen Prozesses auS. An

i. Adventspredigten — Kirchliches und bürgerliches Neujahr

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Stelle der Endgeschichte steht die Ausbreitung, die intensive Aufnahme Christi in uns, und die extensive Hineinbreitung deö Christentums in die Kultur. Man wird also nicht sagen können, daß der kirchliche Sinn der Adventspredigt von Schleiermacher nicht begriffen sei; er hat ihn nur in seiner Weise ausgenommen. Aber diese Weise tritt doch hier schon deutlich heraus. Sie wird so bezeichnet werden müssen, daß wir sagen: Die „Heilstatsachen" stehen nur wie Schatten „hinter" der Predigt. Die Adventö-„tatsache", Christi Einzug in Welt und Herz, die ge­ schichtliche und ethische Vorbereitung aus seine Ankunft, der Ausblick auf Christi Wiederkunft am Ende der Tage, das alles ist nur gleichsam aus der Ferne Anlaß zu diesen Predigten, die, leicht lösbar von ihrem Anlaß, zu jeder beliebigen anderen Zeit gehalten werden konnten. Indessen, ein Anlaß ist von den Predigten zum ersten Advent fast ausnahmslos kräftig betont, eS ist der Anfang deö Kirchenjahres. Hier ragt — so weit das bei Schleiermacher überhaupt möglich ist — das „Heute" in die Welt der Predigt herein, sodaß fast in jeder AdventSpredigt der Beginn des Kirchenjahres notiert ift1. Der Grund­ gedanke bei diesem Anlaß ist einesteils die Erinnerung an den Segen des Gottesdienstes, so etwa in der Predigt vom i. Advent 1810 „Geist und Zweck unserer christlichen Zusammenkünfte und Belehrungen" (7,548), und darüber hinaus, so 1832, „das Verhältnis, welches ob­ waltet zwischen ihm und uns" (3,441). Anderenteils verfließen die Themata völlig mit Neujahrsgedanken, so in der Predigt über Abrahams Blick auf den Tag Jesu Joh. 8,56, der als Zukunftsvision auSgelegt wird (2,271). Freilich sind auch die Neujahröpredigten an den Jahreswechsel angeknüpfte Reflexionen über den Fluß der Zeit, über unsere ZukunftSerwartungen; man könnte sagen, die Zeit wird „zeitlos", nämlich all­ gemein behandelt. Besonders die aus den ersten Jahren erhaltenen Neujahrspredigten handeln ganz allgemein vom Gottvertrauen oder von der wahren Schätzung des Lebens und selbst die Neujahrspredigten um 1800 und später sind stoische Tröstungen. „Die Stimmung, welche nichts Neues unter der Sonne findet," ist „ganz im Geiste der Reli­ gion" (1,13). „Anstatt Gott eine lange Reihe törichter Wünsche vor­ zutragen" soll man sich bei dieser Überzeugung beruhigen. „Möge Gott euch zu besonnener und weiser Mäßigung führen im Genuß und in der Benutzung der mancherlei Freuden und Vergünstigungen, die Gott euch allen nach seiner Güte auch in diesem Jahre verleihen wolle" 1 I. B. 7,548; 4,130; 2,5; 2,-71; 3,441; 8,45z; Ausnahme: 8,155.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

(1,22 s.). Wenn auch die beiden Predigten, die in der zweiten Samm­ lung von der Jahreswende 1806/7 erhalten sind (1,262 und 277), auf die Zeitereignisse verhältnismäßig stark Bezug nehmen, so gehen doch auch sie, besonders die erste „daß die letzten Zeiten nicht schlechter sind als die vorigen", über geniale Reflexionen über das Thema nicht hinaus. Am Leben in Familie, Staat und Kirche wird jeweils für Vergangen­ heit und Gegenwart Vorzug und Nachteil gegeneinander aufgewogen, mit der Absicht, die Distanz einer weisen Einsicht „in die göttliche Ord­ nung der Dinge" zu gewinnen, „mutig die Grundgesetze der Welt­ regierung zu ahnden" (1,273 s.). Dieselbe gelassene Haltung sucht auch die andere Predigt hervorzurufen „WaS wir fürchten sollen und was nicht" (1,277), in der Christus, als der Sprecher des Textes (Matth. 10,28), als Lehrer einer Wahrheit auftritt, in welche die Predigt uns selbständige Einsicht verschaffen will. Während wir uns vor dem leiblichen Tod nicht fürchten sollen, sollen wir unS fürchten vor „dem Herrn". Diese „Furcht" besteht aber lediglich in „jener zärtlichen Be­ sorgnis, wir möchten etwa durch andere Verhältnisse unmerklich ent­ fernt werden von dem geliebten Gegenstände" (1,287). Diese Furcht ist also eins mit der Liebe. „Der Herr" aber, dem sie gilt, tritt uns entgegen im Gewissen, in der „ewigen Gestalt deö Wahren und Guten" (1,288). „So führen unS Furcht vor dem Herrn und Furchtlosigkeit vor allem anderen vereint zu jener den Kindern der Welt unbegreif­ lichen Schönheit des Lebens, daß der heiligste Ernst und die gewissen­ hafteste Treue... sich verbinden mit dem ruhigen Frohsinn und der heiteren Leichtigkeit, welche dem Spiele des irdischen Wechsels gelassen zusieht, und ohne Seufzer und Tränen fahren läßt, was vergänglich ist" (1,289). Noch auf die Neujahröpredigt von 1824 über Hiob 38,11 (2,85) ist dasselbe Urteil anzuwenden: Maß und Ordnung in Gottes Weltregierung bietet für die Zukunft einen Trost, der auf weiser Ein­ sicht in den Gang der Dinge gegründet ist. Maß und Ordnung zu halten soll auch die Regel unseres Lebens sein. Noch die (undatierbare) Predigt überHebr. 10,24 „Anweisung daS Gute ... zu gestalten" (2,357) geht über moralische Reflexionen wenig hinaus. Erst die folgende über Off. Joh. 22,12 „Der Lohn des Herrn" (2,371) bringt wirklich christliche Gedanken: Der Lohn des Herrn darf schon für dieses Leben erwartet werden, dieser Lohn aber ist er selbst. Die letzten drei Neujahröpredig:en SchleiermacherS (von 1832: 3,148; von 1833: 3,450; von 1834:3,777) erweisen sich insoferne als bewußt christliche Predigten, als hier daS allgemein Menschliche, aus der bloßen Reflexion der Erfahrung Abfolgende, nicht mehr, wie noch bis in die zwanziger Jahre, mit drm

i. Adventspredigten — Kirchliches und bürgerliches Neujahr

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Christlichen zusammenfällt. Die erste betont auf Grund von Röm. i4,7—8 unsere Zugehörigkeit zu Christo in unserem ganzen Leben. Die zweite Predigt, welche an der Hand von Röm. 15,1—3 vor Selbst­ gefälligkeit warnt und mahnt, dem Nächsten zum Guten, zur Besserung zu gefallen, wäre als allgemein-menschliche Reflexion anzusprechen, wäre sie nicht blind ohne daö Vorbild Christi. Die letzte, wenige Wochen vor seinem Tod gehaltene Neujahröpredigt Schleiermachers über den FriedenSgruß Jesu(Joh. 2,19) betont, daß der an sich alltägliche Gruß qualifiziert ist durch den Erlöser, von dem er stammt. Die Einzig­ artigkeit dieses Friedenswunsches wird, wenn schon ohne Überschreitung der Grenze dieser Welt, fast bis an die Grenze irdischer Möglichkeit hin auSgedeutet. „Wenn wir uns denken, daß dieser Weg betreten würde, daß allmählich immer mehr jene großen und weitverzweigten Anstalten des Staates, um das Recht zu erkennen, überflüssig (!) würden: dann . . . würden wir bald auf bedeutende vergangene Zeiträume mit Ver­ wunderung zurücksehen..." (3,787). Schleiermacher hat die Ähnlichkeit des kirchlichen und bürgerlichen

Neujahrsbeginnes öfters angedeutet (z. B. 2,357 u. 371; 7,548). Die Predigt von Sylvester 1794 (1,167) hat fast daö gleiche Thema wie die Predigt vom 1. Advent 1810 (7,548): Der Wert deö Gottesdienstes. Beide Reihen, die der Advents- und Neujahrspredigten, scheinen weit­ hin geradezu gegeneinander ausgetauscht werden zu können. Beide Reihen berühren sich im Gedanken der Zeit, der ja im heilsgeschicht­ lichen Sinne daö Thema der Adventspredigten, im gewöhnlichen Sinne Gegenstand der Neujahrspredigten ist. Die Geschichte seiner Zeit tritt in ihnen, mit Ausnahme der Predigten zum Jahreswechsel 1806/7, ganz in den Hintergrund. Dafür steht das zeitlose „Heute" deö christ­ lichen Bewußtseins im Zentrum dieser Zeitbetrachtung. Schleiermacher ist sich nicht gleichgeblieben in diesem Punkte. Hatte er anfangs mehr die Einsicht ausgesprochen, daß nichts Neues unter der Sonne zu er­ warten sei, sodaß Gottvertrauen eben Festhalten an dieser Einsicht be­ deutete, so hat er nachmals den christlichen Prozeß stärker betont. Allgemein-menschliches und -christliches liegen nicht mehr auf der gleichen Ebene, aber auf der gleichen Linie. Der Prozeß auf dieser Linie ist vorgezeichnet in der unüberbietbaren Gestalt deö Erlösers. Buße und Bereitung für den Empfang Jesu, Mission und Friedenöwunsch Christi — alles empfängt von dem christlichen Prozeß aus seinen Sinn; in ihn eingegliedert sein, das ist das Leben in der „Zeit", die der Prediger Schleiermacher im Auge hat.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

2. Die Wcihnachtspredigtcn* Von der „Weihnachtsfeier" aus, welche als erste Schrift Schleiermacherö christologifche Gedanken erörtert, läßt sich die Erwartung ver­ stehen, daß feine Weihnachtspredigten dem Herzpunkt feines christologifchen Denkens besonders naheständen. Und in der Betonung be­ stimmter Gedanken finden wir diese Erwartung auch bestätigt. Es ist einmal der Gedanke, daß das Kind schon der Erlöser ist, und der andere damit zusammenhängende, daß Gott und Mensch in Christo vereinigt sind. Freilich finden wir diese Hauptlinien in den auS SchleiermacherS Frühzeit erhaltenen Predigten noch mit moralischen Erwä­ gungen überdeckt. Christus, der ersehnte Maßstab unserer Kräfte, der auS unserer Gattung erstanden ist (7,63), bringt unö den verlorenen Zusammenhang mit Gott wieder und damit einen neuen sittlichen An­ trieb. Gelangt hier Schleiermacher nur zu einem moralischen End­ ergebnis, so macht die Predigt von 1792 von Schlobitten „Von der Teilnahme der guten Menschen an dem wahren Wohle der Mensch­ heit" auf der ganzen Linie Christum zum Vorbild der Menschenliebe, Weihnachten zum Feste der Menschenliebe und Simeon zum Typus dieser auS Christo geschöpften Gesinnung. Im einzelnen hat diese Ge­ sinnung mindestens mit Weihnachten dann gar nichts zu tun: sie setzt voraus ein wohlwollendes Herz, ein richtiges Urteil, waS den Menschen allgemein gut sei, und wirkt Gelassenheit, Pflichtbewußtsein, Dankbar­ keit, Ergebung in Gott usw. Auch der Entwurf von 1795 geht über daS Moralische nicht hinaus. Das Thema „Betrachtung über den Stand, in welchem Christus von Anfang an gelebt hat" wird behandelt „zu unserer Beruhigung bei einem ähnlichen Schicksal" und „zu unserer Ermunterung im Guten". Hier ist Christus nicht Urbild sondern Vor­ bild, und allen drei Predigten eignet die Allgemeinheit, welchen den besonderen Anlaß deS Festes in den Hintergrund treten läßt. Wir wissen jedoch, daß dies kein Spezifikum der Frühzeit Schleiermachers ist, sondern eine späterhin auch theologisch begründete Eigenart des Predigers darstellt. Wir haben zwar eingangs erwähnt, daß in den Weihnachtöpredigten nicht ohne Zufall deutlichere christologifche Ideen auftreten als in anderen Festpredigten. Die Weihnachtspredigt von 1810 über Phil. 2,6—7 (7,566) über das Kind in der Krippe will die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in dem Erlöser zur An-

1 Die gedruckten Weihnachtspredigten Schleiermachers sind bei I. Bauer U. P. S. 74—87, um eine Predigt und 5 Entwürfe vermehrt und in zeitlicher Folge nachgewiesen.

2. Die WeihnachtSprebigten

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schauung bringen. Darüber hinaus ist die erste Weihnachtspredigt der Festpredigten „Daß der Erlöser als der Sohn Gottes geboren ist" (2,55) geradezu eine theologische Abhandlung. Jesus hat sich nicht zum Erlöser entwickelt, sondern ist eS von Anfang an. Nur wenn er von Anfang an göttlichen Wesens ist, läßt sich seine Unsündlichkeit behaupten. Hingegen würde seine nachträgliche Einsetzung zum Sohne Gottes ebenso seine spätere wahre Menschennatur in Frage stellen, wie sie eine vorausgehende sündliche Menschheit voraussetzen würde. Die Tat­ sache, „daß der Erlöser als der Sohn Gotteö geboren ist" wird ferner durch Christi Selbstzeugniö erwiesen. Eine zweite Beweiskette wird vom Liebesgedanken aus entwickelt. Bei Menschen kann nie reine Liebe aufkommen, weil das sittliche Urteil über den anderen unserer Liebe Abbruch tut. Nur zu Jesu ist reine Liebe möglich, denn er ist selbst rein. Seine Liebesreinheit erst ermöglicht auch in der Gemeinde reine Liebe, ja sie geht auf die Gemeinde über. Aber eben sie setzt ein göttliches Leben von Anfang an voraus. Diese Liebe ist dann als gött­ liche Liebe nicht mehr begrenzt, sondern sie ist entschränkt und durch­ waltet das Reich Gottes. Auf Schritt und Tritt begegnen derartige Gedanken wieder; noch in der Weihnachtspredigt von 1833 (3,763) wird im ersten Teile die Einzigartigkeit des Geburtstages Christi vor anderen Geburtstagen darin gefunden, daß er, was er uns als Erlöser ist, nicht erst werden mußte, sondern von Anfang an war. Nur als Sohn Gotteö von Geburt an trägt er die Welt, daß sie Gegenstand seines göttlichen Wohlgefallens bleibt. Es ist klar, warum Schleier­ macher just an Weihnachten auf diese Gedanken kommt: daö Kind in der Krippe wird gefeiert, ohne daß eö Taten, ohne daß eö auch nur eine Entwicklung vorzuweisen hat. Mehrmals spricht Schleiermacher diese Tatsache auch aus. „In Christo Jesu seid ihr alle eins. Und dies wird in den Worten des Apostels nicht bezogen auf irgend etwas ein­ zelnes oder besonderes, was der Erlöser dazu getan hätte, sondern nur auf das, was er gewesen ist . . ." (2,344). „Er hat nicht die Welt überwunden durch das, was er getan hat, sondern er überwindet sie durch das, was er ist!" (3,773.) Im Hintergrund dieser zeitlosen Weihnachtsbetrachtung steht deut­ lich die Urbild-Christologie der „Glaubenslehre". Die sonst übliche Betonung deS „Heute" in der Engelsverkündigung „Euch ist heute der Heiland geboren" mit aller Spannung auf den Christabend hin, die auch zur Folge hat, daß kein kirchliches Fest so wenig über seinen Termin hinauSdauert als das zwischen Advent und Epiphanias eingegrenzte Weihnachtöfest, diese ganze kirchliche Sitte und Stimmung ist em 4«

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

Reflex der Aktualität des Weihnachtsereignisses. Die Geburt Christi ist eine geschichtlich begrenzte Tat Gottes. Schleiermacher sucht nicht die Aktualität deS Ereignisses, sondern seine zeitlose Gültigkeit zu er­ weisen. Wie man zu Ostern nicht nur über die Auferstehung „damals", sondern von der Gegenwärtigkeit deS Auferstandenen predigen kann, so sucht Schleiermacher an Weihnachten nicht von der Geburt „damals", sondern von dem seitdem „Erschienenen" zu predigen. Bezeichnend ist auch hier wie so oft seine Terminologie. Er bevorzugt eö statt von der „Geburt" von der „Erscheinung" deS Erlösers zu sprechen. Allein in vier Titeln findet sich das Wort „Erscheinung" (2,69,314,343; 3,137). Sehen wir von dm schon erwähnten „dogmatischen" Predigten ab, so finden wir auch in zwei sich an den Geschichtsbericht anschließenden Predigten die Wendung zum Zeitlosen und Allgemeinen. DaS eine ist die Predigt „Die verschiedene Art, wie die Kunde von dem Erlöser ausgenommen wird" (2,329). Ihr Kerngedanke ist eS, die auftretenden Individualitäten in der Art, wie sie die Engelöbotschaft aufnahmen, als typisch zu verstehen*. Die Bewunderer finden sich im Weltlichen wie im Religiösen. Sie sind die „große Unterlage", also die unterste Stufe: „DaS Beste und Vortrefflichste bedarf hier einer großen Unter­ lage ; gar Viele müssen vorhanden sein, damit nur einige Wenige (!) sich bis auf einen gewissen Gipfel über die andem erheben, um von da auS nun den Reichtum der Güter, welche ihnen zu Teil geworden sind, wieder über die Gesamtheit zu ergießen" (2,332). Aber diese Be­ wunderer breiten wenigstmS das Wort aus. Sie „sind doch immer Träger des Wortes, und also wenn auch nur auf mittelbare Weise Werkzeuge deS göttlichen Geistes" (2,334). — DaS abwertende Urteil wird damit aufgehobm, doch werden die lobenden und preismden Hitten alsbald auf eine höhere Stufe gestellt: sie „sind weiter gediehen". Sie forschen nach, sie erhebm sich über das unmittelbar Nächste und nehmen Anteil an den allgemeinm Angelegmheiten. DaS „ist schon eine schöne und edle Stufe" (2,336), auch wenn eS dm Hirten nicht gelingt, die Geschichte weiter zu verfolgen. 3m zweiten Teil der Predigt werden dann die „Stufen" — abgesehen vom Anlaß der Geschichte — dialektisch bewertet. Die Bewunderer fassen nur die Außenseite, und daS ist wenig, aber andererseits ttägt eben die Verwunderung schon

1 Diese „typische" Ausbeutung findet sich schon genau so in dem von I. Bauer mitgeteilten Prebigtentwurf vom i. Weihn.-Friertag 1802, Anklänge davon sogar schon im Entwurf zum 2. Weihn.-Feiertag 1794 U. P. 86 u. 83. ES handelt sich also wohl um einen Gedanken, der Schlriermacher immer wieder beschäftigt hat.

2. Die Weihnachtöpredigten

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die Erregung in sich, die den Menschen zum wahren Heil führen kann, und so ist eö doch schließlich „nur ein weniges, um welches diese noch entfernt sind von dem wahren vollen Genuß des Reiches Gottes" (2,337). Die Forscher—Schleiermacher verwandelt hierbei die Hirten in den Typus des Gelehrten — sind wohl oft ohne Bewegung des Herzens, aber sie dienen durch ihre Treue und redliche Nachforschung über den eigentlichen Tatbestand der Geschichte des Christentums der Wieder­ herstellung der christlichen Wahrheit. In der durch den Erlöser ent­ wickelten Geschichte verehren solche doch den Erlöser selbst, wenn schon oft nur in unpersönlicher idealer Weise. „Und so erscheint uns doch, und wir müssen uns darüber freuen, die Ungleichheit unter den Bekennern Christi geringer, alö wir sie unö anfänglich vorstellten" (2,339). DaS gilt schließlich auch von Maria, denn ihr „Bewegen im Herzen" war noch kein rechter seligmachender Glaube, wohl aber „der Keim eines solchen persönlichen ftuchtbaren Verhältnisses zum Erlöser". Auch sie ist auf daS allmähliche Wachsen des Glaubens angewiesen. — Diese Predigt ist vorzüglich geeignet, uns den Begriff der „Erscheinung" anstelle der Geburt des Erlösers vor Augen zu führen. „Dasselbe Verhältnis, wie wir es hier finden, hat sich fast überall und zu allen Zeiten in der Welt, wohin nur die Verkündigung von Christo gekommen ist, auch ebenso fortgesetzt" (2,330). Die universale Wirkung des Er­ lösers ist zugleich eine über die Zeit erhabene. Und eS ist bezeichnend, daß die nicht genau datierbare, aber doch wohl etwa 20 Jahre nach der „Weihnachtsfeier" gehaltene Predigt nicht mehr die Individuali­ täten in Gegensatz setzt, der immerhin besteht, auch wenn musizierende und unreflektierte Verehrung die Gegensätze übergreifend zusammen­ schließt, sondern die „Stufen" der Wirkung des Erlösers werden auf einen gemeinsamen Punft reduziert. „ES ist eine mißliche Sache, wenn wir den Anteil, den der einzelne daran hat, messen ... der einzelne Mensch steht nie und nirgend allein." Diese universale Betrachtung verhindert uns dann auch an der Kritik, die immer nur dem einzelnen gilt „ob er das Höchste schon errungen hat". „Laßt uns an den un­ verkennbaren Wirkungen des Evangeliums im großen uns freuen . ., und von unserem eigenen Anteil.... fteudigen Gebrauch machen" (2,341 f.). In ähnlicher Weise ist für die zeitlose, geschichtsflüchtige Weihnachtöbetrachtung SchleiermacherS die Weihnachtspredigt von 1831 über Luk. 2,10—u (3,137) bezeichnend. Die Engelsverkündigung ist IukunftSverheißung, die sich freilich auf etwas Geschehenes stützt. Aber auf der Gegenwärtigkeit lag nicht der Nachdruck; wir bestreben

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre,

z. Die Gestalt des Erlösers

uns vergeblich in dem Neugeborenen schon das Heil der Welt zu er­ blicken. Die Geburt deö Herrn bietet wenig Gegenwärtiges dar. Alle historischen Nachrichten über des Erlösers Geburt sind verloren ge­ gangen. Nun ist eö SchleiermacherS Meinung freilich keineswegs, als könnten wir auf die Erfüllung der Engelsverheißung zurückblicken. Auch wir dürfen nicht bei Gegenwärtigem stehen bleiben, sondern müssen unseren Blick in die Zukunft richten. Jnsoferne gilt dann die Engelöweiösagung auch unS: Diese Freude an der Erscheinung deö Erlösers ist das Urbild aller Freude, welche wir an der Zukunft haben können. Schon an dieser Formulierung fällt auf, daß die Freude an der Zukunft nicht ohne weiteres mit der Freude an der Erscheinung des Erlösers in ursächlichem Zusammenhang steht, sondem beide werden in selbstverständlicher Parallelität angenommen. Aber Schleiermacher nimmt eben an, daß schon unsere menschlichen Hoffnungen, Wünsche und Bedürfnisse unter dem Einfluß des Geistes gewachsen und darum christlich sind. So war selbst bei Christus „jedes Wort des Trostes, jede Einladung . . . nur eine Ahnung von der weiteren Entwicklung, welche der Zukunft vorbehalten blieb" (3,143). Daö bedeutet, daß die „Zeitlosigkeit", welche wir an Stelle der Geschichtlichkeit heraus­ gehoben haben, doch nicht eins ist mit starrer Idealität. Denn was hier, nach Aussage der Engel, begonnen hat, ist ja kein — wenn auch erst später — sich vollendender Zustand, sondern ein Prozeß. „Wie viele Menschenkinder noch den Schauplatz dieses Lebens verlassen werden, ehe solche aufwachsen, von denen man sagen kann, daß das himmlische Licht ihre Finsternis ganz durchdrungen habe, ja auch nur eines, wovon man sagen kann, daß eö nun ganz Licht ist, weil sein Auge ganz Licht geworden: demohnerachtet wollen wir frohen Blickes in die Zukunft sehen, denn das Werk deö Erlösers kann weder untergehen noch auch stocken, sondern bleibt in ununterbrochener Entwicklung" (3,147). Dieser Entwicklungögedanke hat natürlich mit Geschichte im strengen Sinne nichts zu tun. Denn er errichtet über dem Einzelnen das Gebäude des Allgemeinen, und er flüchtet sich vom Vergangenen, wo nun einmal in aller Welt der historische Stoff zu suchen ist, in die Zukunstöperspettive. Es ist kein geschichtöphilosophischer Begriff, der auch im Zusammenhang der Weihnachtspredigten das letzte Wort hat, sondem es ist der Kemgedanke von SchleiermacherS Ethik. Dieser Gedanke beseelt auch in der Tat eine ganze Reihe von WeihnachtSpredigtm. Wir nennen vor allem die nicht datierbare über Matth. 10,34 „Die Freude an der Erscheinung Christi erhöht durch die Betrachtung, daß er gekommen ist, daö Schwert zu bringen" (2,69). Der Gegensatz

2. Die WeihnachtSprebigten

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von Weihnachtsfest und Stephanuötag, von Friedensbotschaft und Schwertverkündigung bildet den Ausgangspunkt zu der Betrachtung, daß der Mensch Jesus durch einen Widerstand hindurch muß, dessen Vorhandensein daö Bedürfnis nach seiner Sendung gleichsam objektiv erweist. Das Schwert ist Durchgangöpunkt zu Frieden und Einigkeit. Ja, die Voraussicht des Friedens trotz der drohenden Verfolgungszeit ist ein Zeichen von Christi göttlichem Selbstbewußtsein. Die schwachen Werkzeuge Christi hingegen werden in der Schule deö Leidens gestählt und mit Christo verbunden. Wie in den Passionöprcdigten ist auch hier schon für die Christen ihr Leiden ein Glanz der Herrlichkeit, weil der kommende Friede schon in ihnen wohnt und sie stärkt. — Ganz deutlich beherrscht der Entwicklungsgedanke die Predigt über Apostelg. 17,30 u. 31. „Die Veränderung, welche seit der Erscheinung Jesu auf der Erde begonnen hat". Auf die Zeit der Unwissenheit folgt die Zeit der Reife, und das ist Grund zur Freude. Auch daö Gericht, welches als Offenbarwerden der Gesinnung durch Erkenntnis Gottes gedeutet wird, ist, so verstanden, ebenfalls Grund zur Freude. — Am auf­ schlußreichsten ist für diese Spitze der Schleiermacherschen Weihnachts­ predigt jedenfalls seine letzte, wenige Wochen vor seinem Tode gehaltene (3/763): Die Weltüberwindung ist ein fortgesetzter Prozeß. Weil Christus dessen Quelle ist, freuen wir uns an seiner Geburt. Waö Joh. 16,33 als sein Werk dargestellt wird, ist nach dem Text I. Joh. 5,5 unser Werk; „beides aber ist doch nur eins und dasselbe" (3,772). — In dieser Verkündigung kommt die Weihnachtöpredigt Schleiermacherö zum Ziel. Daö Gewährenlassen und gegenseitige Auöspielen individueller Betrachtung, wie wir es in der Weihnachtsfeier fanden, ist gewichen zugunsten der strengen Beugung deö Komplexes unter eine leitende Idee: Der Erlöser, von Geburt an Gottes Sohn, ist das Vorbild unserer Zukunftsfreude. Aber in ihm ist kein Fremder in unser Leben getreten. Schleiermacher läßt unö vergessen, welche Paradoxie die Geburt dessen anfänglich bedeutete, dessen „Erscheinung" unö so tief erfreut, und dessen „Werk" zum Schlüsse mit dem Werk mensch­ lich-christlicher Weltüberwindung allmählich und fast unmerklich in eins verfließt.

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L Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

3. Paffions- und Karfreitagspredigten Schleiermachers erste noch erhaltene PassionSpredigt, die zugleich seine Ordinationöpredigt war (7,193), handelt von der heilsamen Unter­ weisung, die wir der Sendung Jesu zu verdanken haben und enthält keine Passionsgedanken. Erst die Karfreitagspredigt des Jahres 1795 (7,205; in Landsberg gehalten), befaßt sich ausgesprochenermaßen mit dem Tod Jesu. Christus ist der sterbende Freund und Lehrer, sein Tod ist das sicherste Zeichen von der Vollendung seiner Lehrtätigkeit; nun geht dieses Zeugenamt als der beste Ausdruck unserer Dankbarkeit für Jesu Lehre auf uns über, wir sollen seine Wohltat verkündigen. Eine ganz klare Beziehung des gekreuzigten Christus zu seinen Gläubigen stellen die sieben von Zimmer unS aus dem Jahre 1800 überlieferten Entwürfe zu Passionspredigten, sowie die Karfreitagspredigt der 1. Sammlung (1799; 1,37) heraus: Der Tod Jesu hat hier paradig­ matischen Wert. Jesu Worte, Jesu vorbildliches Verhalten am Kreuz enthalten Lehren für unser Leben und unsere Vorbereitung auf den Tod: Auch unS soll der Gedanke an den eigenen Tod nicht stören, sondern zur Tätigkeit ermuntern auf Grund von Matth. 26,29. — Anläßlich des Gebets in Gethsemane wird uns klar gemacht, daß die Kraft des Ge­ bets in der Stärkung und Beruhigung des Gemüts besteht. Die Ver­ spottung Christi am Kreuz soll uns zu der Einsicht veranlassen, daß wir nicht von unserem Ergehen auf Gottes Gesinnung schließen dürfen. Diese Proben geben einigermaßen die Richtung der früheren Predigten Schleiermachers über Leiden und Sterben Jesu an. Das Bild, welches sie bieten, läßt das rationalistische Predigtideal erkennen. Der praktisch­ vernünftige Zug, der auf die in diesem Leben herzustellende Glückselig­ keit abzielt, ist unverkennbar. Der leidende und sterbende Christus kann unter solchen Umständen nur optimistisch betrachtet werden. Allein die Einteilung der Karfreitagspredigt der 1. Sammlung über Mk. 15,34—41 „Einige Empfindungen des sterbenden Jesus" ist hierfür bezeichnend: Jesus stirbt vorbildlich im Schmerz über unvoll­ endete Taten, in der Ruhe bei allen unbilligen und unvernünftigen (!) Urteilen und umgeben von liebenden und leidenden Freunden. Noch in der Karfreitagöpredigt von 1811 (4,65) erscheint Christus als Vor­ bild vollendeter innerer Freiheit. Die späteren Predigten zeigen dieser Betrachtungsweise gegen­ über eine viel eindringendere Auseinandersetzung mit Jesu Leiden und Tod. Christus ist nicht mehr als der seine Überzeugung mit dem Tode bestätigende, vorbildlich sterbende Stoiker geschildert. Man kann die

z. PassionS- und KarfteitagSprebigten

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Wendung ganz allgemein am besten so kennzeichnen, daß die Iso­ lierung deS „Vorbilds" aufgehoben und eine unmittelbare Beziehung zwischen dem leidenden Christus und uns hergestellt ist. 3m Eingang der Passionspredigt „der Anfang des Leidens Christi sein steigender Sieg über die Sünde" heißt es (2,105): „Laßt uns . . . das Leiden des Erlösers als ein solches betrachten, welches sich in den Seinigen, wenn gleich in einem verringerten Maßstabe, noch immer von Zeit zu Zeit erneuert". Nachdem dann geschildert wurde, wie Christi Leiden den Sünden, dem Unverstand usw. der Menge wie der einzelnen Führer des Volkes entsprungen ist, lesen wir: „Die Leiden nun, die den treuen Dienern des Herrn auf irgend einem Gebiete aus diesem Zustande ent­ stehen, die sind wirklich in der Ähnlichkeit der Leiden Christi". Der Ge­ danke des Vorbildes Christi, der mit Wort und Tat unser Lehrer ist, dessen Schüler wir sind, den der frühe Prediger Schleiermacher in seinen Passionspredigten gepflegt hat, wird in der zweiten „kirchlichen" Hälfte seiner Wirksamkeit zu dem der Nachfolge Jesu intensiviert. Sn verschiedenen Predigten taucht dieser Gedanke in mannigfacher Weise auf. Wir sollen, wenn wir zu leiden haben, nach der Gemeinschaft der Leiden Christi streben auch darin, daß er in Nachempfindung des 22. Psalms sich der allgemeinen göttlichen Erbarmung über das ganze Geschlecht freute, welche durch seine damalige Gottverlassenheit be­ siegelt wurde, und daß er freiwillig mit einem Herzen voll Liebe litt für eben diejenigen, durch die er litt (2,411). Schleiermacher vermag im Zusammenhänge solcher Gedanken bis zu gleichsam mystischen Tönen vorzudringen: „Und so wird also der alte Mensch, alles was die Gewalt der Sünde in uns bekundet, mit Christo gekreuziget" (2,168)*. Doch hat freilich diese scheinbare Mystik weder einen metaphysischen, noch streng theologischen Sinn, sondern eigentlich einen psychologischen; denn wir lesen als Erklärung des „mit Christo gekreuzigt und mit ihm auferstandensein zu einem neuen Leben" folgendes: „Denn. . . wer der Sünde und dem Gesetz gestorben ist, der hat auch eben deswegen das Bewußtsein der Sünde insoferne verloren, als sich sein Wille von ihrer Gewalt und von allem Anteil an derselben losgesagt hat. Und wer mit Christo auferstanden ist zu einem neuen Leben, so daß nur Christus in ihm lebt... der hat das Bewußtsein der Sünde insoferne verloren, als er ein anderes Bewußtsein bekommen hat, nämlich daö von dieser Lebensgemeinschaft mit Christo" (2,170). Wir stehen aber 1 Vgl. 3,557: „Alle, die auf Christum getauft sind, die sind in seinen Tod getauft, die sind mit ihm gepflanzt zu gleichem Tode".

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

mit diesen Sätzen an der Grenze der spezifischen Passionsgedanken. „Wer mit Christo der Sünde und dem Gesetz gestorben ist und erstanden zu einem neuen Leben, der lebt zwar noch immer im Fleische . . . aber fleischgesinnt ist er nicht mehr" (2,172). M. a. W. daö Leiden Christi ist nicht mehr isoliert, sondern eö ist in Beziehung zu unö gesetzt durch den Gedanken der Leidensgemeinschaft, eö ist als ein wichtiges Glied eingeordnet dem christlichen Prozeß. Dies hat darin seinen Grund, daß Schleiermachers Erklärung des Leidens Christi, dem unser Leiden ähnlich werden soll, auf den Kampf deö Fleisches wider den Geist hinauöläuft. Dies geht aus der Predigt „Die an alle gerichtete Aufforderung, dem Leiden Christi ähnlich zu werden" (4,233) klar hervor. Hier heißt eö gegen Ende: „Wenn wir im Widerstreben gegen die Sünde und im Bestreben sie aufzuheben, durch die Sünde der Welt leiden, so offenbaren wir in unö selbst die Werke Gotteö ... Je weiter sich sein Reich verbreitet. . . destomehr muß sich die Widerwärtigkeit und Feindschaft der Menschen gegen das Gute, welches auö seinem Leiden hervorgegangen ist, verlieren" (4,243^.). Daö Leiden nimmt also quantitativ ab mit der zunehmenden Christlich­ keit der Welt, wenn auch hinzugefügt wird, „so lange wir hier leben, ist die Sünde in unö". So vermag Schleiermacher durchaus auch in seinem Sinne Christus als daö Lamm Gottes, daö der Welt Sünde trägt, zu bezeichnen (z. B. 2,171). „Jeder also, den sein Herz mahnt an daö Verderben in der eigenen Brust zu denken ... der werfe sich nieder vor dem Kreuz Christi, und flehe da und in dessen Namen, der daö Opfer für die Sünde geworden ist, den Vater an, daß er ihn be­ wahre davor, nicht auch wieder den Herrn der Herrlichkeit und den Fürsten deö Lebenö zu kreuzigen mit seiner Augenlust und Fleischeslust oder seinem hoffärtigen Leben" (2,167)*. Gemeinschaft der Leiden Christi heißt für Schleiermacher, daß die Anschauung des leidenden Christus oder noch vielmehr die Fortsetzung seines Kampfes unö zur Hilfe wird gegen die Sünde oder, waö im Sinne unseres Predigers dasselbe ist, zur Bewahrung vor Konkupiszenz. Leiden und Tod deö Erlösers hat also für den Christen zuerst und zuletzt praktisch-sittlichen Wert, weil eö unö zur Heiligung hilft. „Die Gläubigen hätten den Erlöser nicht können töten wollen; also muß mit dem Glauben — oder er ist keiner — der Mensch alle dem absagen, waS den Erlöser zum Tode gebracht hat" (2,168). Aber für Christus ist 1 Das Leiden Christi hat seinen Grund „in der unmittelbaren Beziehung zwischen den Leiden des Herrn und der Sünde der Welt" (3,518).

3- Passionö- und Karfreitagöpredigten

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Leiden und Tod ja nicht wie für uns Mittel oder Zeichen der Heiligung, sondern Abschluß, Erfüllung, Vollendung seines LebenSwerkeS, Sieg. Damit eröffnet der Tod Christi eine doppelte ungewohnte Gedanken­ reihe in Schleiermachers Passionspredigten. Eö ist nämlich für Schleiermacher fraglos, daß der Tod Jesu Ausdruck seiner Herrlichkeit ist. Die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater war in Christi Leben wirksam. „Und eben das fand auch er vollbracht, als nun noch am Kreuz auf eine ganz wundervolle Weise diese Herrlichkeit in ihrem vollen Glanze erschien" (2,148). Nirgends klingt in diesen Predigten der Kontrast wieder, der von An­ fang an in der Christenheit zwischen dem Tod deö Erlösers und seiner Würde empfunden wurde. Darum fehlt auch jeder Hinweis auf Ostern, sondern Schleiermacher sieht den Sieg des Erlösers schon in seinem Tod mitenthalten. Der Ausruf Jesu „Es ist vollbracht" bezieht für ihn Ostern und Pfingsten ein. „Wie unsere Erlösung von der Sünde und unsere Rechtfertigung vor Gott Zusammenhängen: so auch dieses, daß der da sterben mußte um unserer Sünde willen, auch mußte auf­ erweckt werden um unserer Gerechtigkeit willen" (2,139). Um dieser Identität willen predigt Schleiermacher an Jnvocavit 1832 über den Ostertext Luk. 24,25 und 28. Leiden und Tod Christi sind keine Emiedrigung, die zu einer nachfolgenden Herrlichkeit im Gegensatz stünde. „Ein kurzer Nachtrag zu seinem vorigen Leben, ein wiederholter Ab­ schied von ihnen? daö kann seine Herrlichkeit nicht gewesen sein!" (3,216.) Statt dessen also offenbart sich die Herrlichkeit Christi schon im Leiden. „Gibt es eine andere und größere Herrlichkeit als die einer solchen unmittelbaren Verbindung mit Gott, von welcher er ja, so lange wir ihn in seinem irdischen Leben begleiten können, daö Bewußt­ sein nie einen einzigen Augenblick verloren hat?" (3,218.) Man kann fast sagen, daß für Schleiermacher diese Herrlichkeit Christi mit dessen subjektivem Leiden identisch sei. Denn Christi Leiden war, wie wir sahen, Leiden unter der Sünde der Menschen, nicht körperliches, sondern geistiges Leiden, etwa durch die Einwirkung der weltlichen Macht in daö geistige Reich (3,519, 527). Aber dieses Leiden an der Sünde der Welt war doch zugleich Christi Sieg. „Daö Leiden selbst, weil eö nichts anderes sein konnte, als daö Mitgefühl von der Sünde der Menschen, war eben dadurch auch seine Verherrlichung, weil eö das sicherste Zeugnis war von der göttlichen Kraft der Liebe, die ihn beseelte" (3,540 f.). Denn sein Tod selbst war ja nur durch seine menschliche Natur bedingt (3,224). Aber die Art seines Todes „setzt uns in Erstaunen". Denn „dieser Tod war der volle Ausdruck seines Lebens" (3,227) und das

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre,

3. Die Gestalt des Erlösers

„zuversichtlich siegreiche Hervortreten des Erlösers, welches fast die Herrlichkeit seiner Auferstehung vorwegzunehmen scheint, entzieht uns fast ganz die Wahrnehmung seines Leidens in diesem Augenblick" (3,522), Den Hintergrund zu dieser Gleichsetzung von Leiden und Herr­ lichkeit bildet eine völlig optimistische Todesanschauung. Dieser ist zunächst ein Vorzug zuzuerkennen. Schleiermacher hält sich nicht bei der äußeren Schilderung besonders der körperlichen Leiden Jesu auf. Er ist vor der großen Gefahr der sentimentalen Passionspredigt ge­ schützt. Durch diese Trennung kann Schlciermacher das äußere Bild des sterbenden Erlösers als des gleichsam stoischen Dulders festhalten, während er die noch viel stärkeren geistigen Leiden seiner ganzen Grund­ anschauung gemäß in wohlbedachten Kontrast hierzu stellen kann. Alles sinnlich-persönliche Leiden deS Erlösers erscheint hier in optimistischem Licht: Christus ist Vorbild der Standhaftigkeit und des Gleichmutes. An der Besprechung der verschiedenen Worte Jesu am Kreuze kommt diese Auffassung vom leidenden Erlöser deutlich zum Vorschein. In der Predigt „Der letzte Blick auf das Leben" (2,138) wird das Wort Jesu „ES ist vollbracht" gedeutet als der Hinweis darauf, waS an ihm und durch ihn geschehen ist (2,143). Der Erlöser sieht hier, was noch bevorfteht (eS ist an Ostern, Pfingsten und das Wachstum der Kirche gedacht) an, als in dem bereits Erfolgten mitenthalten. Es ist gleich­ sam der zufriedene Rückblick auf das vollendete Kunstwerk unseres Lebens, daö nicht nur durch unser Tun, sondern auch durch das, was an unS geschieht („Leiden"!) sich vollendet. Hier ist nun der Punkt, wo die optimistische Todesbetrachtung Schleiermachers eine „Ähnlich­

keit" des Todes Jesu mit dem unsrigen sehen möchte. „Wenn wir nur wie Christus am Ende unseres Lebens es weniger darauf ansehen, was wir selbst getan haben, als vielmehr darauf, waS an uns und durch uns nach Gotteö gnädigem Ratschluß und Vorhersehung geschehen ist: so werden wir ihm auch darin ähnlich sein, daß doch alleö am Ende unseres Lebens zusammenstimmen wird zu einem freudigen (!) ,ES ist vollbracht'" (2,149). Das Sterben des Erlösers wird geradezu mit dem Scheine antiker Heiterkeit umkleidet: Das letzte Wort Jesu „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände" wird zu einem Worte „heiterer Zuversicht" (2,154), denn eben der Gebrauch deS Vaternamens deutet auf „jene ungetrübte Heiterkeit der Gemütsstimmung, die das unver­ kennbare Zeichen der Göttlichkeit seines Wesens ist" (ebda.). Natürlich kann der Ruf Jesu „Mein Gott, warum hast du mich verlassen" unter solchm Voraussetzungen nicht als Gottverlassenheit gedeutet werden.

z. PassionS- und Karfreitagspredigten

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Vielmehr bewerkstelligt eS Schleiermacher durch einen exegetischen Kniff, den Kontext deö Psalmes 22 als Beweis gegen dieses Verständnis ins Feld zu führen. Denn hier ist der Leidende „durch die Hoffnung einer Wiederherstellung in das Leben und das Wohlsein des Lebens mächtig aufgerührt worden" (2,402). Daran aber habe Jesus bei seinem Ausruf gedacht, welcher somit beweist: „wie wenig der Tod, den er jetzt zu leiden im Begriffe stand, eigentlich für ihn bedeutete" (2,401) und daß er „über seinen Tod eben so hell und heiter gedacht und empfunden hat, wie wir es überall finden in seinen letzten Reden" (2,403). Genug! Dieser Stoizismus Jesu gilt jedoch nur nach außen, denn nach innen, auf geistigem Gebiet, hat er wahrhaft gelitten unter der Sünde, unter dem Unverstand und der Bewußtlosigkeit der Menschen. „Die eigentliche Sünde aber war die, daß sie unter einem leeren Vor­ wand und gegen besseres Wissen Geistiges . . . nicht mit geistigen

Waffen bekämpften, sondern mit fleischlichen, nur weil sie nicht wollten ans Licht kommen" (2,114). Aber auch hier bleibt Christus nicht im blinden Leiden stecken, sondern er bricht durch zum Bewußtsein der Klarheit, zur Herrlichkeit. „Alle Verkehrtheiten in der Welt, welche ein Verehrer des Herrn wohl Ursache hat zu beweinen . . . das alles darf uns nur erscheinen wie der durch die fortwährende Entwicklung der göttlichen Gnade immer mehr aus der menschlichen Seele ver­ schwindende Wahn, wie die leider in vielen unserer Brüder noch übrige Bewußtlosigkeit" (2,157). Diese Deutung der Sünde entspricht völlig den Aussagen der „Christlichen Sitte", und wenn sie schon im Rahmen der Predigten nur vereinzelt, anläßlich der Fürbitte deö Gekreuzigten für seine Peiniger auftritt, so zeigt sie doch, wie im Grunde auch das geistige Leiden deö Erlösers nur relativ zu verstehen ist, wie im Grunde der Passionsgedanken Schleiermacherö überall eine theologia gloriae im eigentlichsten Sinne sichtbar wird. Eine andere Gedankenreihe, welche sich durch alle Passions­ predigten Schleiermacherö hinzieht, bestätigt in ihrer Weise diese Wahr­ nehmung. Es ist der Gedanke des christlichen Prozesses, ja selbst der Mission, welchen Schleiermacher auf eigenartige Weise mit Leiden und Tod Christi verbindet. „Nur einige wenige . . . stellte er (Christus) als die Frucht seines Lebens dem Vater dar." „Dadurch bekannte er, daß, wenn er auch in einem anderen und höheren Sinne alles getan hatte, doch der unmittelbare Erfolg nur erst soeben begonnen hatte, und der Vater erst vollbringen müsse, was der Sohn nur einleiten konnte" (2,145). In derselben Predigt ist kurz damach angedeutet.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 3. Die Gestalt des Erlösers

daß auch an unö die „Schrift" des Neuen Bundes erfüllt werden soll, wie an Christus die „Schrift" des Alten Bundes in Erfüllung ging, sodaß er rufen konnte „Es ist vollbracht". AuS beiden Bemerkungen erkennen wir, daß der leidende und sterbende Erlöser als Anfang, als Keim beurteilt wird, während wir jetzt der Fortsetzung dieses Anfanges zugehören. Christus selbst ist sich dessen bewußt gewesen: Sein „Eö ist vollbracht" war ein vorausgreifendes Wort, wie auch sein Leiden im Blick auf die Zukunft allgemeine Bedeutung erhielt. „ES war nicht die unmittelbare Gegenwart allein, um die der Erlöser litt! In dem, waö damals geschah, erblickte er wie im Spiegel einen großen Teil der Geschichte seiner Gemeine" (3,523, vgl. ;iy und 527). Was die Gemeinde zu Fortsetzern des Werkes Christi macht, ist zunächst die Teilnahme an seinem Leiden. „Wie vielfältig finden wir dasselbe sich wiederholen!" (3,516.) öfters wird uns Christus als der erste von vielen Märtyrern geschildert (7,383; 3,256; 3,538 ff.). Gern benützt Schleiermacher das Wort Kol. 1,24 zur Beschreibung der LeidenSnachfolge. „Ein Teil davon war das Werk deS Gehorsams Christi in den Seelen seiner Gläubigen, eö war die Wirkung seines Lebens in ihnen und eben deswegen mitgehörig zu seinem Tode, wie der Apostel Paulus sagt, daß er durch sein Leiden ergänze, was gleichsam noch fehle an den Leiden Christi" (3,256 s.; vgl. 549). „Es geht dem Jünger nicht besser als dem Meister" (3,538), auch er hat die Schmach des Kreuzes und die Hitze der Verfolgung mitzutragen (3,539 s.). „Wir haben seinen Frieden nicht ganz, wenn wir nicht wissen, daß in uns allen gemeinsam die Kraft wohnt für ihn zu leben und zu wirken, zu leiden und zu sterben" (3,248). Aber diese positive Bewertung der Leidensnachfolge ist nun für den Prediger Schleiermacher eigenartig gebrochen. Die eben angeführte Stelle über die Ergänzung der Leiden Christi hat nämlich folgende Fortsetzung: „Aber wie vieles war doch auch wiederum menschliche Verblendung und Schwäche! wie viel mutwilliges Drängen nach einer solchen Aufopferung ohne Not! von wievielen Vorurteilen und un­ richtigen Vorstellungen war die Hingebung so vieler sonst edlen Ge­ müter in den Tod begleitet, aber dann auch gewiß nicht der reine Ge­ horsam des Erlösers." In der Predigt von Judika 1832 betont Schleier­ macher ähnlich: „Denken wir uns nun, daß wir die Fülle dieses Friedens in Christo haben . . ., so beruht freilich diese Möglichkeit noch Angst und Not in der Welt zu haben, nicht auf unserer Ähnlichkeit mit dem Erlöser, sondern auf unserem Unterschiede von ihm" (3,242). Es wird klar, daß der Leidensnachfolge der Christen eben doch nicht das ganze

3. PassionS- und Karfreitagspredigten

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Pathos unseres Predigers gehört, sondern daß ihm eine Entwicklung der christlichen Dinge vorschwcbt, an deren Endpunkt Kreuz und Leiden keinen Ort mehr haben. Dieö ist der Grund für daS Auftauchen deS Missionögedankenö, der nahezu alle vier Passionöpredigten des JahreS 1832 regiert. Freilich waren Leiden und Tod Christi nötig, diese Ent­ wicklung anheben zu lassen. „Daß in seinem Namen solle gepredigt werden Buße und Vergebung der Sünden allen Völkern anhebend zu Jerusalem, daS ist die Herrlichkeit, in welche er einging, und in welche er nur durch Leiden und Tod eingehen konnte" (3,219). Der Tod Christi erscheint bereits als Aufhebung seiner Vereinzelung. „DaS ist seine Herrlichkeit, daß er also nicht mehr allein ein einzelner Mensch auf Erden, sondern in aller Menschen innerstem Geist und Leben lebt" (3,220). Mit seinem Tod konnte „die Kirche, sein geistiger Leib" zum Leben geboren werden (3,226), mit Christi Vereinzelung ist auch unsere Vereinsamung aufgehoben, „jetzt können wir nicht mehr vereinzelt dastehen... er ist unter uns" (3,233) und immer weiter verbreitet sich von nun an sein Licht. Die Jünger sollen seine Zeugen sein und sie dürfen vertrauen, daß ihr Wort nicht leer zurückkommt (3,244). „Predigt nur immer von mir, von meinem Leiden und Tode, weiset die Welt hin auf daö Kreuz,... so wird sie meine Liebe, meinen Gehorsam, daö ihr bisher verborgene Geheimnis erkennen" (3,248). Überraschend ist diese Wendung der PassionSgedanken. Ium Optimismus der Todesbetrachtung gesellt sich ein gleicher Optimismus in Ansehung der durch Christus begonnenen Entwicklung. ES ist eine Grundvoraussetzung, was Schleiermacher in der Predigt über die Ähn­

lichkeit mit dem Leiden Christi von 1829 gleich einleitend feststellt: „Wir müßten von der Herrlichkeit Christi viel übersehen, wenn wir sagen wollten, daß es noch so sei wie ehedem" (4,234). Und wie die direkte Fortsetzung dieses Gedankens erscheint die Predigt von Okuli 1833: „Seitdem schon ist eö eingeleitet, alle feindseligen Gewalten erblicken immer mehr seine steigende Macht, indem sich seine Herrschaft immer weiter verbreitet" (3,524). Dieser Optimismus wendet sich nun in doppelter Richtung, er zieht Folgen für die Auffassung deö gesamten Geschichtsverlaufeö wie deö persönlichen LebenS nach sich, er zeigt sich im Allgemeinen wie im Individuellen. 3m Allgemeinen, denn „der eigentlichste Gegenstand seiner Liebe war daö ganze Geschlecht der Menschen" (3,538). Durch den Tod deS Erlösers ist, wie wir schon sahen, die Mission in Gang gekommen, die Zeit des Leidens und der Verfolgung nimmt immer mehr ab. „Itzt liegen die Zeiten der Ver­ folgung um deö Evangelii willen hinter unö" (3,540). „Daß wir nur

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

nicht . . . glauben, es müsse auch noch wahr sein, daß eS eine Feind­ schaft gäbe gegen den Erlöser" (3,349). Für die optimistische Ge­ schichtsbetrachtung Schleiermachers ist wohl am bezeichnendsten die Karfreitagspredigt „Betrachtung der Umstände, welche die letzten Augenblicke des Erlösers begleiteten" (2,442). „Es bemächtigt sich unser eine Ahnung von einem großen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche des Geistes und der Gnade" (2,443). Gemäß dieser Voraussetzung deutet eS auf „eine außerordentliche Verfinsterung menschlicher Geister. . ., daß die Sonne auf eine ungewöhnliche Weise ihren Schein verlor. Aber daß sie wieder hervorbrach: 0 daS sei uns nun ein Zeichen, ein herrlicheres als der Bogen des Friedens, den Noah in den Wolken erblickte" (2,444). „DaS Aufhören dieser Finsternis war der große Wendepunkt in der Geschichte der Menschen und in der Entwicklung ihres Geistes." „Der Sieg des Lichts über die Finsternis wurde erst in dem Tode des Herrn entschieden, das Reich des Lichtes gegründet und so daS Werk des Herrn vollbracht" (2,445). Der Karfreitag wird somit in Vorwegnahme der Osterereignisse als der Beginn einer neuen Welt bezeichnet, die prin­ zipiell ins Dasein getreten ist und nur noch extensiver Entfaltung bedarf. Diese extensive Entfaltung ist die Mission. Ihr entspricht nach der intensiven Seite die Heiligung deS individuellen Lebens, wie sie eben­ falls an den Karfreitag anknüpft. Schleiermacher beschreibt auch diese Entwicklung in starken, rückhaltlosen Worten. „Sünder waren! sind wir eS nicht mehr? bleiben wir es nicht immerdar? nein, sagt er, durch Eines Gehorsam werden viele gerecht." Nun besteht freilich diese Gerechtigkeit eben in einem Heiligungsprozeß. „WaS heißt aber nun gerecht sein? Daß unS etwas vorsteht was wir erreichen, wonach wir streben sollen, was wir also nicht sind und nicht haben" (3,259 f.). Wir werden durch Jesu Tod am Kreuz gerecht, wenn wir seinen Ge­ horsam „in unser Inneres aufnehmen als daö Maß, wonach wir uns richten" (3,261). Dahin führt uns also Schleiermacher in seinen Passionöpredigten. Sie bieten ein reiches Bild, zu welchem sich die knappen Angaben der Glaubenslehre über Leiden und Tod des Erlösers (§ 98,1; § 104,4) nur wie ein Rahmenwerk verhalten. Auch hier ist der Gedanke der oboedientia passiva vertreten und das stellvertretende Opfer theologisch begründet. Auch hier erscheinen die Zentralgedanken der PassionSpredigten, freilich gleichsam mehr am Rande, nämlich daß im Leiden Christi mitgesühlt werde, „wie unerschütterlich Christi Seligkeit war". Auch hier lesen wir gelegentlich, daß der Tod für Christus keine Folge

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z. Passionö- und KarfreitagSprcbigten

seiner Sünde, folglich für ihn kein Übel war. Aber man kann sich dem

Eindruck nicht verschließen, daß der Dogmatiker Schleiermacher in der Glaubenslehre durch die Auseinandersetzung mit der traditionellen Christologie gebunden war, während der Prediger Schleiermacher sein eigentlich christliches Anliegen frei aussprach. Von ihm ist uns nun das homiletische Problem der Passionöpredigt geradezu vor die Füße gelegt. DaS Leiden und der Tod Christi ent­ sprang, um alles zusammenzufassen, dem Gegensatz zwischen seiner geistigen, göttlichen Höhe und der Sünde und Bewußtlosigkeit der Umwelt. Seitdem aber in Leiden und Tod Christi diese Sündenmacht prinzipiell gebrochen ist, hat der christliche Prozeß, intensiv in der Heiligung und extensiv in der Mission, begonnen. Die geistige und gött­ liche Höhe des Erlösers, sein Gehorsam, ist das „Maß" (3,261) unseres religiösen Werdens. Der leidende Christus ist nicht in Ansehung der Leidenstatsache, sondern in Ansehung der Leidensursache geradezu die Asymptote der menschlichen religiösen Entwicklung. Damit sind zwei Folgerungen für die PassionSpredigt Schleiermachers in homiletischer Beziehung gesetzt: Die Predigt ist dem mit dem Tode des Erlösers an­ hebenden christlichen Prozeß als lebendiges Glied eingeordnet. Sie trägt bei zur Klärung deS christlichen Bewußtseins, zur Stärkung der Macht des Geistes wider das Fleisch. Die andere Folgerung betrifft die Stellung des Hörers. Er wird auf Christi Seite und der sündigen Macht gegenübergestellt, oder er soll doch zum mindesten auf die Seite deS Erlösers hinüber gezogen werden; denn der leidende Erlöser ist ja in seinem Gehorsam, wie wir sahen, das „Maß, wonach wir uns richten". Auch das Leiden, daö wir als Christen zu erdulden haben, erdulden wir an der Seite Jesu von der Welt her. Es dient uns zur Heiligung, in welcher sich für uns der Ertrag des Leidens Christi vollendet. Gerade an der Beurteilung des Predigthörers kommt der Gegensatz zu dieser Anschauung Schleiermachers deutlich zum Ausdruck, indem gleichzeitig sichtbar wird, bis zu welchen theologischen Voraussetzungen eine derartige homiletische Beurteilung des Hörers hinunterreicht. Wir denken an die völlig anders geartete Haltung, wie sie etwa in den Passionspredigten Luthers, aber nicht nur bei ihm, zu finden ist. Hier stehen wir Menschen, in grundsätzlicher Unterschiedenheit von Christo, dem Kreuz alö Sünder gegenüber. Hier dürfen Prediger wie Hörer als Menschen nicht auf Jesu Seite treten. Eine solche Parteinahme für den Erlöser gegen die Macht der Sünde kraft eigener Heiligung ist uns durch die Sündenschuld verwehrt. Hier wird unerbittlich verkündigt, W. Trillhaa 8: Schleiermachers Predigt

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 3. Die Gestalt des Erlösers

daß unsere Sünde Jesum ans Kreuz gebracht hat, sodaß wir grund­ sätzlich auf die Seite der Welt gehören, und von Hauö aus den Feinden Jesu zuzurechnen sind. Eö ist besonders die Karfreitagspredigt Luthers vom 26. März 1529 zu nennen1, wo der Gedanke aufö stärkste betont wird: „Man predigte viel von Christi Leiden und erhob das eigene Leiden." Wenn man bedenkt, daß sich auch Schleiermacher gleich vielen mittelalterlichen Passionspredigern bemüht, dem Leiden des Erlösers fürs eigene Leiden einen Sinn abzugewinnen, so steht der Satz Luthers hierzu in schärfstem Gegensatz: „An unser Leiden hängt sich kein Glaube, tut erS aber, so istS Abgötterei. Christi Leiden allein mußt du im Glauben ergreifen. Summa Summarum: Menge nicht dein Leiden in Christi Leiden, sondem scheide es voneinander wie Himmel und Hölle, wie Gold und Kot" (Buchwald 1,330). Liest man die Passions­ predigten Luthers durch, so wird deutlich, daß seine Ablehnung einen ganz bestimmten theologischen Grund hat. In keiner Weise, auch nicht auf dem versteckten Wege deS MitleidenS, soll die Passion uns eine Türe zu neuer Werkgerechtigkeit sein. „Ich will wohl gem leiden, aber damit werde ich keine Sünden tilgen." Christi Tod ist die Strafe unserer Sünde, an seinem Kreuz erkennt der Glaube die Tiefe der eigenen Sünde und die Vergebung, die eben darin besteht, daß wir mit nichts den Erttag des Leidens Christi verdient haben. Luthers Passions­ predigt ist Glaubenspredigt. Schleiermachers letztes homiletisches Anliegen, den Hörer auf Christi Seite und der sündigen Macht gegenüberzustellen wird hieran deutlich. Nicht der Glaube, sondem die Erfahrung soll durch die Predigt der Passion deS Erlösers geweckt werden. Wir nehmen an SchleiermacherS Passionspredigten bei aller Betonung unseres Leidens und seines tiefen Sinnes als eigenartigsten Zug wahr das Interesse an diesem irdischen Lebm. Eö liegt das begreifliche und berechtigte Streben deö Predigers zugrunde, den Hörer sozusagen in seiner Existenz aufzu­ suchen. Man denke daran, daß das Wort Jesu „Es ist vollbracht" ihm zum Anlaß wird über die Vollendung auch unseres irdischen Lebens zu predigen. Man erinnere sich noch einmal der eigenartigen Wendung seiner Passionsgedanken zur Mission und zur Heiligung, so ist klar, daß auf diesem Wege Schleiermachers Predigten Leidensdeutung und Lebenshilfe werden, daß diese Predigt nicht im lutherischen Sinne auf Glauben wartet, weil es ihr „Vorzug" ist, durch die Erfahrung deö menschlichen Lebens bestätigt zu werden. Hat nun Luther nicht wenigstens

1 W. A. 29,226 = Buchwald, Pred. Luthers I, Nr. 46.

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4- Die Osterpredigten

dieses homiletische Anliegen gekannt und anerkannt, daß der Hörer in seiner eigenen Existenz besucht wird? Er hat es getan. „Dein Leiden dient zur Besserung auf Erden, und daß das Evangelium mehr und mehr zunehme, aber dann nimm dieses Leiden Christi an und lege alle deine Sünden auf ihn" (a. a. £>.). Auch für ihn hat das eigene Leiden den Sinn treuer Nachfolge, der Besserung und des Beispiels. Luther verleugnet nicht den Mönch, der er war. Aber Luther weiß von keiner Kontinuität unseres Leidens mit dem deö Erlösers, er baut nicht auf den Wert unseres Leidens, sondern auf den Glauben allein. Das eigene Leiden wird relativ, eö wird aufgehoben, nicht gedeutet, eS wird nicht gepflegt, sondern getröstet.

4. Die Osterpredigten Der äußere Umstand, daß wir nur noch 9 Osterpredigten Schleier­ machers, davon 2 im Entwurf, besitzen, möchte fast gleichnishaft er­ scheinen für die Tatsache, daß Schleiermacher der allgemeinen Be­ trachtung des Erlösers vor der speziellen den Vorzug gab. Einzel­ ereignisse, sogenannte Heilstatsachen treten zurück und verfließen in ihren Umrissen mit dem Gesamtbild Christi. Wir bemerken einen Hang zur Abstraktion vom Geschichtlichen, der im Laufe der Entwick­ lung unseres Predigers zunehmend hervortritt. Am 4. S. n. Ostern 1832 predigt Schleiermacher im Anschluß an die Philippuöfrage (Joh. 14,9) über unsern Gewinn von der rechten Betrachtung des Erlösers (3,276). Der Ertrag dieser Predigt ist der: Die Betrachtung der Einzel­ heiten des Lebens Jesu soll in der allgemeinen Gesamtanschauung münden, diese aber soll dahin führen, daß der Erlöser in unö selbst Wohnung nimmt. Dieser Gesichtspunkt tritt auch an den Osterpredigten zunehmend ans Licht. In den ersten Predigerjahren faßt Schleiermacher das Osterereigniö selbst noch stark ins Auge. Seine erste, äußerlich als supra­ naturalistisch zu bezeichnende Osterpredigt über I. Kor. 15,26 von 1791 (7,77) möchte uns fast als seine beste überhaupt erscheinen. In der Einleitung wird ein scharfsinniger AuferstehungöbeweiS geführt, auf den der erste Teil der Predigt eine überaus eindringliche Beschreibung der menschlichen Todvcrfallenheit, der Todesangst und ihrer berechtigten Gründe bringt. Auf diesem Hintergrund kann dann die Auferstehung Christi wirklich als Bresche in die Mauer deö Todes geschildert werden. Der Auferstandene ist sozusagen der einzige Gestorbene, dessen Leben

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

nach dem Tode für Menschen auf Erden sichtbar war. Aber Schleier­ macher bleibt nicht bei der dadurch genährten Wiedersehenshoffnung stehen, er erhofft kraft der Auferstehung bessere Gotteöerkenntnis. Christus, ohne Körper (!), hat größeren Wirkungskreis, und so lernen wir nicht nur angesichts des verklärten Christus über unsere leiblichen Bedürfnisse triumphieren, auch wir dürfen hoffen, daß eS uns nach dem Tode nicht an einem Werkzeuge, das der besseren Schöpfung wert ist, fehlen wird. — Vermutlich aus dem Jahre 1794 haben wir eine Osterpredigt über Mark. 16,10—14 (7,218), in welcher der „heilsame Unglaube" des gesunden Menschenverstandes von dem „verderblichen Unglauben" in Absicht auf Dinge der anderen Welt unterschieden wird, welcher einer „unglücklichen Zerrüttung der Gemütskräfte ent­ springt". — Zwei Jahre nach diesem rationalistischen Gedankengange finden wir wieder einen vortrefflichen Entwurf, der sich zunächst mit der historischen Bezeugung von Ostern befaßt (ZpTb. 4,372). Hier taucht schon zum ersten Mal der Gedanke auf, daß Ostern nicht als Beweis der göttlichen Sendung Jesu verwendet werden darf, ein Ge­ danke, der ja in der Glaubenslehre zu grundsätzlicher Bedeutung ver­ tieft wurde. Der Entwurf der Osterpredigt von 1800 (Zimmer Nr. 30) entspricht dem bisherigen, hier wird bereits die Stärkung unserer Ge­ sinnung durch Jesu Auferstehung betont: Wir dürfen auf ein ewiges Leben in Jesu Gemeinschaft hoffen. Die nächsten Osterpredigten, welche wir besitzen, sind viele Jahre später entstanden. Sie alle ziehen die Verbindungslinie von dem „neuen Leben" des Auferstandencn zu unserem „neuen Leben" als Christen. Ostern ist der erste Anfang unseres neuen Lebens, ja oft geradezu Symbol desselben, wenn auch dieses Wort nicht gebraucht wird. Auch bei den Passionspredigten hatten wir diese Entwicklung vom historischen zum allgemein-religiösen beobachtet. Die Entwick­ lung dort schien uns eine Vertiefung, wenn schon nicht unbedingt eine Verchristlichung zu bedeuten. Denn es war ein Übergang von der praktisch-vernünftigen zur religiösen Betrachtung. Hier aber liegt der Akzent anders. Die christlichen Elemente des Supranaturalismus, nämlich das Festhalten an der Auferstehungstatsache und ihre Be­ deutung für unsere Überwindung des Todes, sind mit dem Supra­ naturalismus und Rationalismus Schleiermachers selbst über Bord gegangen. — Nicht als ob die Auferstehung Christi von den Toten nicht fest­ gehalten würde. Durchaus! Aber es liegt darauf kein Gewicht mehr. In der Ostermontagöpredigt 1832 (3,264) wird die Frage erhoben,

4- Die Osterprcdigtcn

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„ob es mit der Auferstehung unseres Erlösers als dem höchsten, be­ deutendsten unter allem, was wir Wunder nennen, ob eS damit natürlich zugegangen sei oder übernatürlich". Schleiermacher lehnt diesen Streit ab, denn es ist und bleibt die Herrlichkeit des Vaters, geheimnisvoll und unersorschlich, durch welche Christus auferweckt worden ist. Es ist nun bezeichnend, wie „unser neues geistiges Leben" damit in Ver­ gleich gesetzt wird. Sein erster, allgemeiner Anfang war die Erscheinung des Herrn, das Fleischgewordensein des Wortes. Christus als ein­ geborener Sohn Gottes war gewiß nicht wie jedes andere Menschen­ kind. Aber seine Erscheinung war gleichzeitig von Ewigkeit her von Gott geordnet und bestimmt. „Müssen wir ihn also nicht zugleich doch ansehen als ein Glied in der allgemeinen Kette der Entwicklung aller menschlichen Dinge?" (3,269.) Ebenso wird anschließend an dem Beginn des individuellen neuen Lebens die Natürlichkeit dieses Anfanges hervorgehoben. „Wie kommt der Geist? . - - durch die Predigt; . . . Der Glaube kommt aus der Predigt, die Predigt ist die natürliche Bewegung dessen, dessen Herz voll ist, und dessen Mund deswegen übergehen muß von der göttlichen Gnade in Christo. Ist das nicht alles der Gang der menschlichen Natur?" (cbd.) Man be­ achte an diesem in einer Osterpredigt immerhin ungewöhnlichen Ge­ danken den Zweck. Die Wunderbarkeit des OsterereignisseS soll als Prototyp des neuen christlichen Lebens aus ihrer Einmaligkeit heraus­ gelöst und in einen größeren Sinnzusammenhang hineingestellt werden. Auf diese Weise aber tritt es gleichzeitig in das Zwielicht zwischen Natür­ lichkeit und Übernatürlichkeit, daS für die zweideutige Betrachtung der

Wunder bei Schleiermacher so überaus bezeichnend ist. Schon in der Osterpredigt über Röm. 6,4—8 in der 1.'Sammlung der Festpredigten (2,176) ist der Vergleich durchgeführt: „Christi Auf­ erstehung ein Bild des neuen Lebens". Wie wenig die bildliche Be­ trachtung geeignet ist, Christi Auferstehung noch alö wirklichen Sieg des Lebens über den Tod, als „Tod des Todes" und Christum infolge­ dessen als „Gift der Hölle" anzusehen, macht diese Predigt klar. Die Ähnlichkeit zwischen Christi Auferstehung und unserem neuen Leben betrifft nämlich hier zunächst die Entstehung desselben und besteht darin, daß auch bei uns der Tod des alten Lebens vorausgehen muß. Aus verschiedenen Umständen möchte dann Schleiermacher schließen, daß der Auferstandene erst allmählich über das zarte Stadium der Unberührbarkeit in sein neues Leben hineinwuchs, was auch für unser neues Leben auf verborgenes Wachstum deute. — Genug. Wir halten alö ein Anliegen der Osterpredigten deö älteren Schleiermacher

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

fest, daß er die Auferstehung als den Typus unseres neuen Lebens angesehen wissen möchte. Hierzu tritt als zweites Anliegen die bleibende Unmittelbarkeit zwischen Christus und unö. Die Predigt über Luk. 24,30—32 der ersten Festpredigtsammlung (2,187) führt diesen Gedanken durch im Vergleich zu den indirekten göttlichen Wirkungen der Heiligen Schrift. „Auch jetzt noch" ist Christus bei uns. Die Suffizienz der Schrift wird ab­ gelehnt, dagegen alö „Beispiele" der geistigen Nähe und unmittelbaren Einwirkungen des Herrn Abendmahl und Friede des Herzens genannt. Beide „Erfahrungen" führen uns „darauf, daß eö außer den un­ mittelbaren Wirkungen des Wortes noch eigentümliche Wirkungen des Erlösers gibt, die gleichsam von seinem ganzen ungeteilten Wesen auSgehen. Dies ist in seiner Wirksamkeit nicht an die leibliche Erschei­ nung gebunden" (2,19;). Fast möchte man hinter dem Prediger dieser Gedanken einen Schwärmer vermuten, aber durch eine andere Osterpredigt werden wir eines Besseren belehrt. Die „eigentümlichen Wirkungen deö Erlösers" sind nämlich des­ halb nicht speziell „schwärmerisch" gedacht, weil eS sich um keinen innerseelischen Verkehr mit der Person Jesu, um kein inneres Licht, kein unmittelbares Wort handelt, sondern Schleiermachers Anliegen geht (drittens) des weiteren auf Vergeistigung. Christus ist — so predigt er im Anschluß an Luk. 24,57 (2,452) — „nicht hier", sondern auferstanden, d. h. nicht im toten Buchstaben, in der toten Sitte, sondern er begegnet uns in der unttüglichen Erfahrung selbst. Durch seinen Tod — eö ist eine Osterpredigt! — ist die sinnliche Auffassung deö Reiches Gottes zu einer geistigen gereinigt. Unverhüllt kommt das spiritualisierende Interesse Schleiermachers mit seinen ja nicht zu überhörenden Negationen am Ende der Predigt zu folgender Aus­ sprache: „Es ist das herrschende Gefühl. . . daß seine Auferstehung unter der Gemeinde seiner Gläubigen nicht nur seine frohe Ahnung der Unvergänglichkeit gewirkt hat, sondern daö unmittelbare Gefühl derselben und die feste Zuversicht, daß wir den Erlöser nicht nur (!) schauen werden nach unserer Auferstehung, sondern daß wir, wie er von der Erde erhöht ist, schon jetzt mit ihm aufstehen zu dem neuen Leben des Geistes, kraft dessen jeder Tod verschlungen ist in den Sieg deö Glaubens" (2,464). Die Meinung, Wunder dadurch in ihrer Bedeutung steigern zu können, daß man ihre „allgemeine", nämlich „religiöse Geltung" schon in diesem Leben nachweist, ist der Ausdruck für Schleiermacherö Spiritualismus. Als viertes und letztes ist schließlich auö Schleiermachers Oster-

5- Die HimmelfahrtSpredigten

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predigten hervorzuheben, daß sein Spiritualismus sogar kritisch ge­ wendet wird. Schon auö dem Jahre 1796 haben wir einen Predigt­ entwurf, der die Auferstehung Jesu als Beweis seiner göttlichen Sen­ dung ablehnt. Dieser, auch für die Glaubenslehre wesentliche Gedanke, wird in der Osterpredigt über Apostelg. 3,13—15 (2,466) gegen die Jünger gerichtet, wenn sie sich Zeugen der Auferstehung nennen. Schleier­ macher deutet dies nämlich als Zeichen der Schwäche, weil sie nicht merken, daß sie dieses Beweises gar nicht bedürfen. Aber die Apostel wollen offenbar mit dieser Selbstbezeichnung den Eindruck des Todes Jesu verwischen und der Wirkung des göttlichen Wortes, dessen Kraft sie nicht trauen, nachhelfen. — Auch der Erlöser bedurfte der Auf­ erstehung nicht zu seiner Verherrlichung. Doch beweist sie Christi Würde insofern, als sie ein Urteil über seine Mörder bedeutet, und seine Los­ lösung von der sinnlichen Welt vollendet. Und so kommt freilich der Herr der Schwachheit der Apostel durch seine Auferstehung zu Hilfe. So wird Ostern, das Wunder des Sieges Jesu über den Tod, nicht historischer Kritik unterworfen, sondern eö wird als göttliches Ereignis spiritualisiert und zuletzt für unerheblich erklärt. Die Be­ deutung von Ostern liegt nicht dort in der Vergangenheit, sondem im Jetzt und Hier unseres neuen Lebens. Das ist SchleiermacherS An­ liegen, wie es deutlicher denn aus seinen theologischen Schriften in seinen Predigten hervortritt. Freilich ist — von aller Beurteilung der Ostertatsache selbst abgesehen — gerade in dieser Deutung unseres Lebens gegenüber der supranaturalistischen Predigt von einst die radi­ kale Erkenntnis unserer Todverfallenheit verloren gegangen.

5. Die Himmelfahrtspredigten* Die aus der Zeit vor 1800 erhaltenen drei Predigtentwürfe Schleier­ macherS zu Himmelfahrt zeigen deutlich die Spuren des Rationalis­ mus. Der Entwurf auö dem Jahre 1795 über Joh. 16,5—7 spricht von der Notwendigkeit des Hinganges zum Vater. Er ist notwendig für die Ausbreitung der Religion Jesu. Denn die Jünger sind nach dem Hingang Jesu nicht mehr an seine Person gekettet und die Juden haben keinen Vorwand mehr für ihren Vorwurf, Jesus hege ehrgeizige Ab­ sichten. Der Hingang ist aber auch notwendig für die Erhaltung deö 1 Chronologische Übersicht über die erhaltenen HimmelfahrtSpredigten und Predigtentwürfe bei I. Bauer U. P. 30.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 3. Die Gestalt des Erlösers

Geistes der Religion. Denn jetzt erst wird sie von nationalen, ja von weltlicher Bindung überhaupt frei. Und ihre weitere Ausbildung er­ folgt weder durch Autoritätsglaube noch persönliche Überzeugung,

sondern hat nur noch ihren Grund in dem unbedingten Gehorsam gegen die Gesetze Gottes und der Vernunft. Gott erreicht also seine Absichten gerade durch das, was ihnen hinderlich zu sein scheint. Wir werden getröstet durch die Erfüllung des Versprechens, daß er bei unS bleiben will, und durch die Hoffnung auf ewige Vereiniguitg mit ihm. 1796 predigt Schleiermacher über den Matthäuöschluß und fragt nach dem Trost beim Abschied Jesu. Er findet diesen in dem Doppelten, daß er bei unS bleibe als Freund und als Lehrer. 1797 spricht er auf Grund von Joh. 20,17 über die Beruhigung desjenigen, der seinen Hingang so ansieht wie Christus. Während nämlich der erste Aus­ gang Christi auS der Welt, der Tod, gewöhnlich unter dem Gesichts­ punkt deS Verdienstes angesehen wird, ist der andere die Himmel­ fahrt, „zwar glorreicher als der unsrige, er ist aber doch auch hier Vorbild". Die Beruhigung besteht im folgenden: Er (Christus in der Himmelfahrt und der Christ im Tode) bleibt unter der Regierung Gottes, unter der Zucht seines Vaters. Er fährt auf zu Gott, zu dem Gott und Vater seiner Brüder. — Zweierlei kennzeichnet die skizzierten Predigtentwürfe als rationalistisch. Es ist einmal die unverhohlene Resignation gegenüber der Geschichte und sodann die direkte Anwendung dessen, was noch übrig bleibt an Trost und Unter­ weisung, auf unS. Schleiermacher setzt sich hier wirklich mit der HimmelfahrtSgeschichte auseinander, freilich weniger mit ihrem Hergang — er bringt in keiner Himmelfahrtspredigt Bibelkritik — als mit ihren geschichtlichen Wirkungen. Während nun in den späteren HimmelfahrtSpredigten jede Erinnerung an den Missionsbefehl, der doch auf Christi Himmelfahrt zurückgcht, vollkommen fehlt, erinnert er sich dessen im Entwurf von 1795, wenn auch unter rein negativen Vor­ zeichen: Dadurch, daß die nationale Bindung deS Werkes Jesu und die persönliche Bindung der Jünger wegfällt, breitet sich daö Reich GotteS aus. Aber alsbald verliert Schleiermacher daö Interesse an der „Ausbreitung" und denkt nur noch an den Trost Jesu in seiner verheißenen Gegenwart. Dieser Trost wird freilich um so stärker empfunden als der Abschiedsschmerz (1796) und der Ausgang auS der Welt (1797) nach dem Trost fragen lassen, der auS der Himmelfahrt „noch" bleibt. Die späteren Himmelfahrtöpredigten haben mit den bezeichneten drei Entwürfen gemeinsam, daß die Geschichte, also der Abschied von

5. Die Himmelfahrtspredigten

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dem Erlöser, als Motiv des Gegensatzes beibehalten wird, aber so, daß der Ertrag dieser Geschichte in unserer gegenwärtigen lebendigen Beziehung zu dem Erlöser gesucht wird. Die Resignation gegen die Geschichte, welche den Rationalisten kennzeichnet, wandelt sich in eine Abwendung vom geschichtlichen Vorgang. So beginnt der Prediger jetzt häufig damit, das sinnliche Verständnis der Geschichte auözuschalten und ausschließlich daö geistige Verständnis zuzulassen*. Wir machen uns nun kurz in folgendem die Gedankenkreise klar, welche das „geistige" Verständnis der Himmelfahrtsgeschichte umfaßt. Die Himmelfahrt bedeutet zunächst eine Veränderung des Zustandes des Erlösers. Sie vermittelt ihm Herrlichkeit. DaS ist der Gegenstand einer Predigt von 1810 über Mark. 16,19 und Apostelg. 1 ,iof. (7,402ff.). Seine Herrlichkeit besteht darin, daß die menschliche Natur ganz durchdrungen ist von der göttlichen Natur und ganz um­ gebildet zu einem Werkzeug des heiligen Geistes. Dies trifft aber nur auf Christum, nicht auf uns zu, und darum sieht Gott die mensch­ liche Natur in ihm an, d. h. Christus steht vor Gott an unserer Statt und vertritt uns. In einer Predigt über Hebr. 8,1—2 beschäftigt sich Schleiermacher genauer mit dem Hohepriestcrtum Jesu. Er ist ein Pfleger der heiligen Güter. Durch ihn ist kein Bewußtsein und keine Gewalt der Sünde mehr. In ihm sind wir ein auserwähltes Geschlecht und Gottes Hausgenossen. Sein Wille und Gesetz ist uns in Herz und Sinn geschrieben. Und wenn angesichts der irdischen Erscheinung uns der Eindruck beherrscht: So ist die Hütte aufgebaut, die rein deö Höchsten Ebenbild uns zeigt, so scheint wohl seit Christi Abscheiden von der Erde diese Hütte zerbrochen zu sein. Tatsächlich aber lebt und wirkt Christus seitdem in unö allen und ist darum ein Pfleger der wahrhaftigen Hütte. Und daß dies Christus auf eine ewige Weise ist, das macht seine Herrlichkeit aus. — Die Herrlichkeit Christi besteht also nicht in einem besondern Stadium der Person Christi, besteht nicht an sich, sondern nur in uns. Das „nur" ist freilich in Schleier­ machers Sinne töricht, denn das macht ja die Herrlichkeit Christi aus, daß er in geistig-ewiger Weise unser Priester ist, der Vermittler unseres christlichen Lebens. S 0 führt dieses Verständnis der Herrlichkeit Christi uns hin zu einem zweiten Gedanken: Christi Herrlichkeit besteht in seiner ewigen Gegenwart bei uns. Dieser Gedanke ist beschlossen in der Verheißung des zum Himmel fahrenden Herrn: „Siehe ich bin bei euch alle Tage bis an 1 So 2,503 ff., 7,402 ff., U. P. 20 ff.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 3. Die Gestalt des Erlösers

der Welt Ende." Wir stellten schon vorhin fest, daß dieser genuine Himmelfahrtsgedanke den andern völlig in sich verschlungen hat, daß Jesus auch die Taufe und Mission bei seiner Himmelfahrt be­ fohlen hat. Diese „äußerlichen" Forderungen widerstreben offenbar jenem Grundverständniö SchleiermacherS von der Himmelfahrt, daß es sich um das ewige Verhältnis dcS Christen zu seinem erhöhten Er­ löser handelt. Wie hat nun Schleiermacher dieses Verhältnis bezw. die Gegenwart Christi seit seiner Auffahrt verstanden? Er hat sich hierüber in der Himmelfahrtöpredigt von 1823 über Matth. 28,20 in wundervoller Klarheit geäußert: „Wie der Herr unter uns gegen­ wärtig sei mit seinem Wort". Der Prediger deutet dies auf Grund von Joh. 6: Das Wort Christi ist Geist und Leben, d. h. es wird uns zu einem inbrünstigen Gebet. Denn das Wort des Erlösers weckt daö Gebet, und die Sehnsucht des Erlösers ist in dem Gebet wirksam. Sind aber so die Züge des Erlösers in seinem Leibe, der Gemeinde, lebendig, so wird uns sein Wort zu einem lebendigen Gesetz. Dies kann nach Joh. 14 nicht anders denn als die Liebe verstanden werden, mit der der Vater uns den Sohn gesendet und mit welcher der Sohn uns er­ wählt hat. Das Wort wird uns aber zu einer freien Erkenntnis, d. h. zu einem lebendigen Glauben. In dieser Freiheit (Bezugnahme auf Joh. 8) vereinigen sich die Christen zum heiligen Tempel, zur Gemeinde. Keine zeitlich-beschränkte Gegenwart kann sich mit dieser unbeschränkten ewigen Gegenwart des Erlösers vergleichen. Auch die sakramentale Gegenwart Christi geht nicht über die Gegenwart im Worte hinaus. — Nur etwas anderes deutet Schleiermacher in einer späteren Predigt über Apostelg. 1,6—n (2,518 ff., 1833 veröffentlicht) denselben Sach­ verhalt. Christus ist gegenwärtig in der Schrift, aus der das Bild des Erlösers immer deutlicher hervorleuchtet, in den heiligsten und er­ hebendsten Aufregungen des Gemüts — gemeint ist einfach die christ­ liche Erfahrung — und in der Gestalt derer, die sein Ebenbild tragen. Er ist das Urbild, wir aber tragen einzelne Züge desselben. — Diese Gegenwart ist somit wesentlich intensiver als die, welche Schleier­ macher einst als die des Freundes und Lehrers (1796) gedeutet hatte. Eines war Schleiermacher mit Recht immer bedeutsam an der Himmel­ fahrt, der Vergleich unserer Lage mit derjenigen der Jünger. In der rationalistischen Zeit fiel ein solcher Vergleich unbedingt zugunsten der Apostel aus. Schleiermacher weiß, daß Christus die Jünger vor der Auffahrt auf einen Zustand vorbereitet, den wir mit ihnen gemeinsam haben (2,518ff.). Während sich aber die Jünger mit dem Vorüber­ gehenden der Trennung trösten mochten, im Hinblick auf Christi Wieder-

5. Die Himmelfahrtspredigten

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kehr, trösten wir unS mit seiner ewigen Gegenwart (1823). Indessen konnte natürlich dem Prediger nicht verborgen bleiben, daß damit nicht der ganze Unterschied des Damals und Jetzt bezeichnet ist. Mit der Ausbreitung der Erlösung kehrt Wort und Zeichen in den Gang der Natur zurück. M. a. W.: die Wunder hören auf (2,217). Dies aber ist für Schleiermacher nicht ein Mangel, sondern Gewinn. Denn durch das Eingehen der Erlösung in die Natur wird nicht die Gabe Gotteö entheiligt, sondern die Natur geheiligt und ewig gesegnet. Wir glauben uns nicht zu täuschen, wenn wir hier die Herztöne des Theologen und Predigers zu hören glauben. Von einer anderen Seite bestätigt sich uns diese Wahrnehmung. Mit dem Gedächtnis der Himmelfahrt Christi hängt unzertrennlich auch der Ausblick auf die verheißene Wiederkehr zusammen. Schleiermacher mußte sich an Himmelfahrt damit auöeinandersetzen und hat e6 auch getan. So in der Predigt von Himmelfahrt 1810. Christus, den ja die Glaubenslehre als das Urbild bezeichnet, ist in der genannten Predigt der Maßstab zur Beurteilung des Menschen. Die Vorstellung von einer Wiederkehr Christi zum Gericht wird aus­ drücklich der sinnlichen Bilder entkleidet. „So oft(!) des Menschen Sohn wiederkommt, so oft er gleichsam herabgezogen wird von jener unzeitlichen Herrlichkeit und wieder annimmt eine sinnliche Gestalt vor unseren Augen: so oft ist er auch da zu richten die Lebendigen und die Toten" (7,407). Und wo die Menschen „anbeten einen falschen Glanz, geringschätzen die höhere Würde. . - oder verleitet durch irdischen Glanz einstimmen in Lobpreisung dessen, was Verachtung und Abscheu verdient, — früher oder später gehen ihnen die Augen auf und es kommt die Zeit, wo in einzelnen oder ganzen Geschlechtern sich die ewige Wahrheit und das ewige Recht offenbart und rächt, und dann ist eS immer Christus, der dieses tut. Sein Gesetz ist der einzige Maßstab für christliche Tugenden" (7,409). — Etwas anders ist die Wiederkehr Christi zum Gericht in einer späteren Predigt (2,518 ff.) über Apostclg. 1,6—n geschildert. Doch auch hier heißt es, daß diese Verheißung schon in der Erfüllung begriffen ist. Gute und Böse — durch diese Bezeichnung wird das Gericht Christi offenbar als Moral­ gericht bezeichnet — werden zunächst kenntlich gemacht und sodann ge­ schieden. Die Guten vereinen sich, das Böse jedoch kann nicht auf die Guten wirken und ist schon von ihnen geschieden. Schließlich gehen beide hin, jeder an seinen Ort. Die Frommen tragen den Frieden Gottes in sich. Die Gottlosen werden ausgestoßen aus dem Reiche der geistigen Freiheit in die Botmäßigkeit der Naturgewalt. — Wenn behauptet

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L Hauptteil: Predigt und Lehre.

3. Die Gestalt des Erlösers

worden ist, Schleiermacher habe nie über eschatologische Texte gepredigt, so mögen diese Himmelfahrtspredigten uns zeigen, wie er tatsächlich über die „letzten Dinge" gepredigt hat. Das Weltgerichts zu welchem der Herr seine Rückkehr verheiße vollzieht sich aus sich selbst, ohne besonderes Eingreifen Christi. Es ist ein Prozeß, für dessen Entfaltung wohl der seiner Gemeinde einwohnende, gegenwärtige Herr verant­ wortlich gemacht werden kann, der sich aber doch ohne jene gewaltsame, von außen als Ende der Geschichte hereinbrechende Entscheidung und Scheidung ereignet. — Vergleicht man den Gehalt der Himmelfahrtspredigten mit den hierauf bezüglichen Aussagen der Glaubenslehre (§ 99), so wird man zugeben, daß der Predigtinhalt unendlich reicher ist. Was ist hier an die Stelle der „zufälligen Form, um das Sitzen zur Rechten Gottes zu bewirken", getreten! Während nach der Glaubenslehre „es sich nicht absehen läßt, in welchem Zusammenhänge beide (sc. Auferstehung und Himmelfahrt) mit der erlösenden Wirksamkeit Christi ständen", läßt sich das nach der Lektüre der Predigten durchaus absehen. Alles ist in den Predigten bezogen auf die überräumliche und überzeitliche Vereinigung des Erlösers mit den Seinen. Gewiß, auch die Glaubens­ lehre weiß davon an ihrem Orte und ihre Vernachlässigung der Himmel­ fahrt mag methodische Ursachen haben. In den Predigten hat Schleier­ macher, von keinen methodischen Bedenken beschwert, den Kern der Sache erfaßt, indem nicht der Vorgang, wie offenbar in der Glaubens­ lehre, sondern der Ertrag der Himmelfahrt ins Auge gefaßt ist. Das Verständnis des Ertrags, die immanent gedachte ewige Gegenwart Christi in seinem lebendigen Wort, in seinem Liebesgesetz, in seiner Erkenntnis verbauen es ihm aber, zwei wesentliche Seiten der christ­ lichen Himmelfahrtsverkündigung zu erfassen: den Missionsbefehl1 und die Jukunftsverheißung der Wiederkehr. Hieran bricht der Schaden des Schleiermacherschen Christusverständnisses noch einmal auf: das

1 Das heißt nicht, daß der Missions ged a n ke bei Schleiermacher außer Acht gelassen ist, wie ja schon in den vorigen Abschnitten klar geworden ist. Es ist aber zu beachten, daß Schleiermacher den Anlaß des Himmelfahrtsfestes, den Missionsgedanken auf ein Wort Jesu zu stützen, nicht benützt hat. Statt dessen begründet er die Mission mit der natürlichen Entfaltung und Vergeistigung der Kirche. In diesem Sinne kann man ihn aber geradezu als großen Missions­ theoretiker bezeichnen. Vgl. hierzu Ernst zur Rieden, Der Missionsgedanke in der system. Theol. seit Schl. (= Beitr. zur Förderung chr. Theol. 31. Bd.), Gütersloh 1927, und Otto Kübler, Mission und Theol. (= Missionswiss. Forschg. Heft 7) Leipzig 1929.

Zusammenfassung: Christus, das neue Leben und die Predigt

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autoritative Wort und die Begrenzung der Geschichte durch daS Ge­ richt haben in seiner Theologie keine Stätte.

Zusammenfassung: Christus, das neue Leben und die Predigr Wir hatten uns für die Untersuchung dieses Kapitels die Aufgabe gestellt, die innere Beziehung Christi zum Worte der Predigt nach Schleiermacher zu finden. Zu diesem Zweck mußten wir zunächst den dogmatischen Gehalt der christologischen Predigten herausheben. Überblicken wir den Ertrag unserer Arbeit, so ergibt sich uns ein über­ raschend eindeutiges Bild. Negativ ist zunächst zu sagen, daß die Predigt von Schleiermacher nicht als Weitergabe des Wortes oder der Worte Jesu verstanden wird. Und damit ist er auch völlig im Recht. Denn dies wäre eine sehr äußer­ liche Beziehung Christi zur Predigt. Aber ebenso äußerlich wäre e$, käme es Schleiermacher in der Predigt nur auf Berichte von über­ natürlichen Ereignissen an, oder darauf, das Vorbild Jesu in der Predigt seinen Hörern vor Augen zu stellen. Wo Schleiermacher in der ersten Zeit seines Wirkens an derartiges gedacht hat, wo er in den Bahnen zeitgenössischer Theologie gewandelt ist, da hat er das im Laufe seiner Tätigkeit gründlich abgestreift. Es ist als erster großer Ertrag seines Wirkens zu buchen, daß er eine innere Beziehung des Erlösers zur Predigt herzustellen vermochte.

Schleiermacher drängt in allen christologischen Lehrstücken und Predigten auf eine zentrale Mitte hin, die sich in vielfacher Form be­ schreiben läßt. Es ist die Herrschaft des Geistes über das Fleisch, es ist das Natürlichwerden des Übernatürlichen, das Eingehen des Er­ lösers und seines Geistes in unser menschliches irdisches Leben. Ur­ bildlich hat in der Geschichte des Erlösers, und zwar in allen ihren Stücken von Weihnachten bis Himmelfahrt, sich etwas ereignet, was zum Gesetz unseres eigenen Lebens geworden ist. Ein Licht ist in Christo angebrochen, welches seinen Glanz zunehmend noch heute über die Erde verbreitet. Eine Entwicklung hat angehoben, welche nach außen die Lebensformen der Menschheit wandelt und vergeistigt, aber dies nur insofern, als sie gleichzeitig im Innern die Menschen zum höheren Selbstbewußtsein hebt. Christus ist der Anbruch des neuen Lebens. Aber dieses neue Leben geht seinen Weg durch das Bewußtsein, freilich nicht durch das isolierte Bewußtsein des einzelnen, der sich dann mit anderen einzelnen zur Gemeinde zusammenschlösse. Sondern das

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre,

z. Die Gestalt des Erlösers

neue Leben ist eine Erneuerung des Bewußtseins überhaupt, deö Be­ wußtseins der „Menschheit", welche der Erlöser in seiner Erscheinung angenommen hat, und an welcher der begnadete einzelne Anteil haben darf. In diesem Geschehen aber spielt die Predigt eine führende Rolle. Gewiß ist sie nicht der einzige Weg dieser Erneuerung, dieses Fort­ schritts, da ja das Leben selbst Leben zu zeugen vermag. Aber ebenso gewiß ist die Predigt, als Wirkung von Bewußtsein zu Bewußtsein, der geistigste Weg. Das neue Leben, die Herrschaft des Geistes, zu er­ zeugen war der Sinn der Erlösung. Dieses neue Leben aber hebt an im christlichen Bewußtsein, aus dem die Predigt entspringt, welches sie darstellt und daö sie zu erzeugen und fortgesetzt zu reinigen hat. Fürwahr, diese enge Beziehung der Predigt zu Christus ist von einzigartiger Geschlossenheit. Hier ist Christus nicht nur „Inhalt" der Predigt, sondern ihr Grund und Ursprung, hier ist wirklich eine klare Antwort auf die eingangs gestellte Frage der Homiletik nach dem „transzendentalen" Verhältnis von Christus und Predigt gegeben. — Läßt man diese grandiose Lösung unseres ersten homiletischen Problems unvoreingenommen auf sich wirken, so wird man freilich um einige Fragen und Einwendungen nicht herumkommen. Zunächst muß man zugeben, daß das Bild den Eindruck eines überaus starken Optimismus erweckt: Das Werk der Erzeugung neuen Lebens in unaufhaltsamer Entwicklung begriffen! Wenn diese Ent­ wicklung noch nicht am Ziel ist und Unterbrechungen leidet, so ist eS die Macht des Fleisches und der Sinnlichkeit, welche sich der Herrschaft des Geistes nicht beugen will. Da aber die Sinnlichkeit nicht an sich, sondern nur in ihrer Herrschaft über den Geist für Schleiermacher böse ist, so handelt es sich im Grunde um ein Gleichgewicht zwischen Fleisch und Geist zugunsten des Geistes, um eine Ausgewogenheit des Menschen in allen seinen Kräften. Auf sie ging die Erlösung aus, sie soll durch die Predigt mitbewirkt werden. Aber entspricht dieser Optimismus der Wirklichkeit, läßt sich christliche Predigt so überhaupt erklären? Was bringt dann eigentlich die Predigt noch hinzu, wenn sie Kräfte verstärkt, die schon im Menschen ruhen? Sodann ein Zweites. Das Bild einer Entwicklung hat sich er­ geben, ein Prozeß ist durch den Erlöser bewirkt worden, und zwar durch die Geschichte Jesu auf Erden. Aber ist diese Entwicklung selber Geschichte? Entwicklung vollzieht sich an einer Einheit. Und auch Schleiermachers Entwicklungögedanke wird nicht verstanden ohne die Menschheit, das Bewußtsein, welche ihr zu Grunde liegen. In der Geschichte aber steht die Einheit in Frage. Kampf und Trennung und

Zusammenfassung: Christus, das neue Leben und die Predigt

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Drängen auf Zusammenfassung sind in der wirklichen Geschichte nicht nur freundliche Kräfte, welche dem Fortgänge der Entwicklung dienen, sondern sie sind umwittert von Vereinsamung und Tod. Darum, weil in der Geschichte die Einheit stets in Gefahr steht, verloren zu gehen, beruht alle Geschichte auf Kunde und Nachricht, beruht sie auf dem Worte, das Brücke schlägt, Verbindung sucht, gleichsam um Verstehen bittet, wenn das Grab geschlossen ist über denen, die da waren. Schleiermachers Ansicht über das Verhältnis von Christus und Predigt geht 'dahin, daß das Urbild dem Christen eingebildet, die Menschheit verchristlicht, die Kraft des Geistes gestärkt und der Geist deS Menschen selbst geheiligt und veredelt wird. Schleiermacher kennt im Grunde keinen iso­ lierten Menschen. Für die Reformatoren hingegen war die Isolierung deö Menschen durch die Sünde von Gott und durch den Sold der Sünde, den Tod, aus der Gemeinschaft deö Lebens und der Lebendigen eine Urtatsache. Nur von dieser Urtatsache aus wird für sie der Mensch der Predigt bedürftig. Freilich schafft die Predigt nie und nimmer die Verchristlichung, sie hilft wohl in ihrer Art zu einem „neuen Leben", aber sie zieht nicht, wie dies Schleiermacher annahm, restlos in ein neues Leben hinein, welches gar keine weiteren Wünsche zurückläßt. Letzten Endes geht Schleiermachers Auffassung von Christus und Predigt auf eine Jneins-setzung des erhöhten Erlösers mit der sich vollendenden Menschheit hinausl. Der isolierte Mensch aber, dessen Isolierung Ausdruck seiner Schuld ist, schreit nach der Gemeinschaft Gottes. Diese wird ihm gegeben durch den heiligen Geist vermittels des Wortes. Es ist daS Wort der Vergebung für den Menschen, der sich schuldig von Gott getrennt hat. Es ist das Wort deö Lebens für den Todgeweihten. Das Wort Gottes begründet durch den Heiligen Geist eine neue Ordnung, die Ordnung des neuen Lebens, die Ordnung der Kirche. Dieses Wort verkündigt die Predigt. Aber nun hat Schleiermacher doch auch vom Heiligen Geist und der Kirche gepredigt. Wir suchen im folgenden Kapitel zu erkennen, wie sich hierin seine Anschauungen fortsetzen. 1 Vgl. zum Verhältnis ChristuS-Geist-Wort: G. Thomasiuö, Christi Person und Werk, Erlangen 1859, 25b. 3,1, DaS Wort Gottes und daö kirchliche Leben

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Christen die Gefahr, sich dem Neid und Streit hinzugeben, selber „Hitze zu erregen". Es ist die Gefahr des konfessionellen Kampfes, der löb­ lich ist als Eifer für die Wahrheit, als reiner Eifer, der aber leicht zum Mißbrauch der Macht, zu Spaltungen oder dazu führt, mit irdischen Waffen um dasjenige zu kämpfen, was doch nur geistlich geschlichtet sein will. Schleiermacher betont, daß die Kirchenspaltung von den Vätern auf die Nachkommen vererbt ist. Er sagt von den Anders­ denkenden: „Wir erkennen sie für unsere Brüder in Christo; aber unsere gottesdienstlichen und sonst kirchlichen Gemeinschaften sind ge­ trennt; jeder Teil eifert für seine Art, wie sich eben die Gemeinschaft der Christen auf seiner Seite gestaltet hat, für die Art, wie hier das göttliche Wort aufgefaßt wird und gelehrt" (4,728). Hier spricht sich deutlich die Zurückhaltung deS Mannes aus, der bei protestantischer Haltung doch selber den übergreifenden Gesichtspunkt festhalten will, und für den, nachdem der „Streit" der Kirchen der Vergangenheit angehört, nicht nur die Aufgabe des modus vivendi, sondern die christ­ liche Aufgabe überkonfessioneller Liebe vor der Seele steht. Aber man muß hier die verschiedenen Strebungen in Schleiermacherö Denken klar erkennen. Neben der protestantischen Haltung — man beachte, wie er die Konfessionen auf verschiedene Auffassungen des „göttlichen Wortes" (s. 0.) zurückführt — steht die irenische Gesinnung, die für Schleiermacher keine Sache der Theorie sondern des Herzens war. Aber daneben, oder besser darüber steht die Anschauung der Konfessionen alö der Individualisierungen der allgemeinen Kirche \ Wir verweisen auf das schöne Bild von der Sonne, deren Licht aus den Dingen in ver­ schiedenen Farben hervorbricht. Daö Wort Gottes hat „rein in seinem himmlischen Glanze durch den Sohn Gottes auf der Erde geleuchtet, aber in jedem wird eö sein eigenes Licht und bricht in eigener Färbung hervor. Die Schönheit der Kirche Christi besteht darin, daß in der Gemeinschaft der Gläubigen alle diese Farben friedlich vereint sind, alle verschiedenen menschlichen Ansichten und Darstellungen des Heils sanft ineinanderfließen" (4,323). Dies ist daö „Wort Gottes"! D. h., alle Wirkungen Gottes und seines Geistes in der Gemeinde sind „Wort" im weitesten Sinne und alles christliche Leben im weitesten Sinne ist die Frucht des Samens, die hervorgebracht werden soll. Eö ist ein fröhlicher heiterer Garten,

1 Die Haltung Schlciermacherö zur Frage der Konfessionen ist dargestellt bei K. Fror, Evangelisches Denken und Katholizismus seit Schleiermacher, München 1932. 7*

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre.

4. Kirche und Predigt

dieses kirchliche Leben, daö vom Samen des Wortes gepflanzt, vo>n Geiste gewirkt ist.

Zusammenfassung: Die Kirchlichkeit der Predigt Überblickt man diesen ganzen Gedankenkreis der Predigten, wie er durch Kirche, Geist und Wort bezeichnet wird, so treten verschiedene Bestrebungen Schleiermachers in den Vordergrund. Die erste und hauptsächlichste scheint uns die Aufgeschlossenheit der Kirche gegen die Welt zu sein. Auch aus den Predigten bestätigt sich das Urteil HirschS (a. a. O. 24): „Er faßt doch das Verhältnis zu Christus als die endgiltige Sicherstellung der Herrschaft des Geistes in uns, und daS Reich Gottes, in dessen Dienst wir gestellt werden durch daö Verhältnis zu Christus, ist ihm eins mit dem Reich vollendeter Kultur". Die Kirche ist ihm ein Teil der christlichen Gesellschaft, eine Funktion in derselben, ihre innere Vollendung. Man sollte, bei aller auch von uns erhobenen Kritik hieran, den positiven Wert, ja den Ernst dieser Gedanken zugeben. Die Dinge dieser Welt, die Angelegenheit deö öffentlichen und gesell­ schaftlichen Lebens haben nicht von vorne herein, wie so oft in der kirchlichen und vor allem pietistischen Predigt, eine geringschätzende ab­ wertende Note, die dann folgerichtig bei den Hörern in Ablehnung der Kirche umschlägt. Schleiermacher erhebt die Kulturangelegen­ heiten zu „kirchlichen", er rückt sie also nicht nur in kirchliche „Be­ leuchtung". Ähnlich wie in der Reformation — man darf gewiß nicht diesen Vergleich pressen — wird auch hier die Kirche an die „Welt" preiögegeben, um dafür dem christlichen Gewissen in der Welt, dem christlichen Volke selbst die Verantwortung zuzuschieben. Als eine zweite Eigenart der Schleiermacherschen Kirchenpredigt erscheint uns die mangelnde Abgrenzung der Kirche nicht nur gegen die Welt, sondern auch der Kirchen unter sich. Darum sein Pathos für die Union, darum sein Ruf zur Achtung der Andersdenkenden, darum seine Freude an der schönen Harmonie aller christlichen Individuali­ täten. Wir wollen auch hierin nicht nur an die philosophischen Hinter­ gründe denken, sondern an die seelsorgerliche Wahrheit. Das Kon­ fessionsbewußtsein ist — abgesehen von dem Häuflein der Kirchen­ christen — in der modernen Welt in erschreckendem Maße im Schwinden begriffen. Mit dem Jndifferentismus aber steht auch die absolute Un­ christlichkeit vor der Tür. Schleiermacher hat den großangelegten Ver­ such unternommen, selbst auf der Kanzel die Christlichkeit der Kultur

Zusammenfassung: Die Kirchlichkeit der Predigt

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zu retten, ohne die Kirche zu stürzen, aber auch ohne die Kirche als Institution zu wahren. Tröltsch hat diesen Gesichtspunkt hervorge­ hoben :x Die Kirche alö Heilsanstalt habe ihre Zeit gehabt. Schleier­ macher habe zur rechten Zeit der Kirche einen neuen Sinn gegeben, indem er die Kirche als die freie Gemeinschaft innerlich erregter Menschen bezeichnet hätte. Seine staatsfreie Kirche unterscheidet sich daher nicht mehr wesentlich von der Sekte. — Schließlich das dritte: Das „Wort", welches in dieser Kirche gilt, ist Same, ist Wirkung im weitesten Sinne. Die Tätigkeit der Kirche ist also nicht auf das gesprochene „Wort" beschränkt, sondern alles, waö Leben zeugt, höheres geistiges Leben hat in ihr Recht und Wert. Damit ist der Intellektualismus der Predigt jedenfalls ausgeschlossen. Aber es ist eben so wenig an den Aktivismuö gedacht, der dem Worte nicht traut und sich in die Vielgeschäftigkeit flüchtet. Schleiermacher denkt an die stille Wirkung von Mensch zu Mensch, er denkt neben der Rede an das Leben, das sich an dem Leben deö Nächsten entzündet. Hat er nicht damit den „Wandel" der Christen besser beschrieben in seiner Fruchtbarkeit, als es je eine moralische Abhandlung oder Rede vermochte? Wir glauben damit nicht nur zur rechten Würdigung Schleier­ machers, sondern auch zur klaren Beurteilung der Predigtaufgabe überhaupt einige Hinweise zu geben. Eö ist nicht genug, über Schleier­ macher den Stab zu brechen, seine Theologumena abzulehnen. Man muß die drückende Aktualität seiner Haltung erkennen, die Aufgaben sehen, die er lösen wollte. Erst dann wird man das Ausmaß seines Kampfes aus der Schwere dieser Aufgabe ermessen, und in ihm nicht nur den Abyssus der theologischen Probleme eines Jahrhunderts, sondern auch den Streiter der Kirche im Anbruch der Moderne ver­ ehren lernen. — Freilich — war Schleiermachcr in diesem Kampfe auch Sieger? Wenn man ihm folgt, so möchte es einem dünken, als verlöre man da und dort die Kirche überhaupt aus dem Gesicht, als verfließe sie ins Grenzenlose. Gewiß, das war seine Absicht. Aber auch die ein­ zelne Kirche, — ihre Lehre versinkt in ihrem eigenen Leben und gebiert sich wieder daraus. Das Wort verfließt in die geistige, lebenzeugende Wirkung überhaupt. Waö bleibt von der Kirche, der Schleiermacher dienen wollte? Ist sie nicht versunken im Leben der Gemeinde, im menschlichen Leben? Wir wollen im folgenden Kapitel Schleiermacher dorthin folgen. 1 Vgl. Schleiermacher, der Philosoph des Glaubens, Berlin iyio.

5. Kapitel

Predigten über das menschliche Leben SchleiermacherS ethische Gedanken der philosophischen wie der christlichen Sittenlehre endigten bei den vier „relativen Sphären", bei Staat und Geselligkeit, bei Wissenschaft und Kirche*. Nicht in der Kirche allein, sondern in diesen vier Sphären sah er daS Reich der Vernunft, daS Reich Gotteö verkörpert. In diesen vier Bezirken war Schleiermacher daheim, hier verkehrte, hierin meditierte er gerne. Was Wunder, daß er auch in den Predigten gerne zu diesen Lebensbezirken zurückkehrte und darüber sprach. Freilich mit einer Ausnahme. Die Wissenschaft hat keine Stätte erhalten als die unpopuläre Schwester in dem populären Sprachgebiete der Predigt. Wir haben uns trotzdem nicht an diese Sphären in der Aufteilung des folgenden Kapitels halten können. Die Predigten über die Ge­ selligkeit wurden schon bei Gelegenheit der christologischen Predigten betrachtet. Die Kirche zu behandeln fiel dem letzten Kapitel zu. So bleibt uns nur die Urform der ethischen Sphären, die Familie, welcher die beiden ersten Abschnitte, und die Sphäre des Staates, welcher der dritte Abschnitt gewidmet ist. Der vierte Abschnitt behandelt die Predigten über den Tod, in denen SchleiermacherS Anschauung von: Individuum selbst zu abschließender Aussprache gelangt. Wenn man will, so rundet sich mit diesem Kapitel unsere Beobach­ tung deö Predigers Schleiermacher vom Standpunkt der Lehre aus zu trinitarischer Gliederung: Christus, Geist und Leben. Daß die rela­ tiven Sphären sich hindurchziehen durch dieses System, veranschaulicht die Ubiquität seines Mittelpunktes: er tritt allenthalben zutage. Wir wollen ihn auch bei diesem dritten analysierenden Kapitel aufsuchen und dadurch zu seinem Verständnis deö Menschen vordringen.

1. Die Aufnahme in die Gemeinschaft Jesu: Taufe und Erziehung Man kann es in SchleiermacherS Predigten immer wieder finden, daß die Welt der Erziehung ihn beschäftigt hat. Eö ist daS begreifliche Interesse, daS Leben des Menschen in seiner ersten Entfaltung zg be1 Vgl. i. Anhang, Fig. i b.

i. Die Aufnahme in die Gemeinschaft Jesu: Taufe und Erziehung 103

lauschen, und der Reiz, die Anwendung eines christlichen Satzes auf das jugendliche Bewußtsein zu prüfen und daran zu bewähren, was ihn dazu veranlaßt hat. Aber hier soll uns nicht dieses Nebeninteresse beschäftigen, sondern die Verkündigung aus Anlaß von Taufen und die Predigten über Erziehung. Denn Taufe und Erziehung sind darum wichtig, weil in beiden Anfänge des christlichen Glaubens und Lebens bezeichnet find. Dieses „Anfängen" ist nun bei der Taufe weit proble­ matischer als bei der Erziehung. Schleiermachers Auffassung der Taufe in der Glaubenslehre (§§ 136—138) ist zunächst bezeichnet durch enge Verbindung von Taufe und Wiedergeburt. In dem faktischen Auseinandertreten beider sieht Schleiermacher nicht nur daS Problem der Taufe, sondern auch ihre Unvollkommenheit begründet. War bestenfalls in der apostolischen Zeit die Identität beider gegeben, so treten hernach zwei Möglichkeiten ein, die nun die dialektischen Grenzen für den wahren Sinn der Taufe bedeuten. Entweder bezeichnet die Taufe die Bestätigung der voll­ zogenen Wiedergeburt, dann ist freilich klar, daß die Taufe als Akt zurücktritt hinter die Wiedergeburt, ohne die sie nur leere Form ist. Oder aber die Taufe geht — gewissermaßen als deren Voraussetzung — der Wiedergeburt voraus, sodaß die Bedeutung des Taufaktes in der Aufnahme in die Kirche liegt, durch deren Wirksamkeit alsdann das neue Leben entsteht. Magisch wirkt die Taufe auch dann nicht, denn sonst wäre ja Gottes Gnade förmlich an die Willkür deö Taufenden gebunden. Diese beiden Grenzen bieten nun für Schleiermacher den „nötigen freien Spielraum" für die kirchliche Lehre. Aber beide Grenzen sind so gezogen, daß die Wirksamkeit der Taufe sich an der Subjektivität deö Getauften entscheidet. Und damit stehen wir bereits nahe der dialektischen Mitte, wo die beiden Gegensätze in einem umkehrbaren Satze zusammcnfallen. Denn indem die Taufhandlung auch in der Ketzertaufe die Aufnahme deö Täuflings in die wahre Kirche zur Ab­ sicht hat, ist sie gültig, und indem die Wiedertäufer betonen, daß ohne die vom Heiligen Geiste gewirkte Wiedergeburt die bloße Handlung nichts sei, kann Schleiermacher mit besonders freundlichen Worten gerade für sie seine Ausführungen über die Taufe beschließen. — In­ dessen liegt die uns besonders angehende Schwierigkeit bei der Kinder­ taufe. Sie ist in der Glaubenslehre als Sonderfall behandelt (§ 138). Da sie nur mit dem in der „Firmelung" nachzuholenden Glaubens­ bekenntnis zusammen gültig ist, ist sie an sich betrachtet eine unvoll­ kommene Taufe. Da sie nun nicht magisch wirkt, begründet sie keinen Unterschied zwischen getauften und ungetauften Kindern. Eö wäre

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. ;. Predigten über das menschliche Leben

auch ganz gut möglich gewesen, die Kindertaufe in der Reformationszeit, ja selbst jetzt noch aufzugeben, und zur alten Übung zurückzukehren. Waö hat bei einer solchen Sachlage die Kindertaufe noch für einen Sinn? Es wird durch sie der natürliche Zusammenhang betont, den die Kinder durch ihre christlichen Eltern mit der Kirche haben. Sie werden in die Kirche gebracht, wobei das eigene Glaubensbekenntnis der Kinder als Ziel vorgestellt wird. Es wird durch die allerorts in der Christenheit übliche Kindertaufe angedeutet, „daß die Neugeborenen nicht ihren Eltern ausschließend angehören, sondern gemeinschaftlich der ganzen Gesellschaft". Zweifellos bedeutet dieses Verständnis der Taufe eine Verkürzung der alten Tauflehre. Der Charakter der Taufe als einer Gabe Gottes, ihre notwendige Verbindung mit dem Worte Gottes, die sichtbare Verheißung der Gnade Gottes, deren wir uns im Rückblick auf die Taufe getrösten können, ihre Eigenschaft alö Bund Gottes mit dem Menschen, ihr biblischer Zusammenhang mit der Mission, — nichts von alledem ist bei Schleiermacher berührt. Die vier Taufreden, die uns überliefert find (4,818—828) erwecken einen reicheren Eindruck. Hier scheint manches hinzugefügt zu dem Verständnis der Taufe, wie es in der Glaubenslehre ausgesprochen ist. Vor allem erscheint hier die Taufe wesentlich alö Kindertaufe1. In der bei der Taufe der eigenen erstgeborenen Tochter gehaltenen Rede wird Bezug genommen auf den Kampf zwischen Fleisch und Geist, den die Kinder als Erbteil empfangen haben. Wegen dieses Kampfes müssen die Kinder „in die erlösende Kraft Christi eingetaucht" werden. In verschiedener Weise taucht der Gedanke auf, daß die Taufe etwas vermittelt, was möglichst zum LebenSanfang schon vermittelt wird. Zwar werden sie nicht in die christliche Kirche wie in den Staat hinein­ geboren, aber weil wir an die allgemeine Empfänglichkeit der mensch­ lichen Natur für die Offenbarung Gottes in seinem Sohne glauben, darum bringen wir die Kinder zur Taufe, also um sie von Anfang ihres Lebens an in der christlichen Gemeinde der Wirksamkeit der gött1 Schon in der „Weihnachtsfeier" ist in der Erzählung der Agnes die Zusammenstellung von Weihnachten, Lebensanfang und Taufe gegeben. Hier bürgt das religiöse Gefühl der Verwandten für die Einwohnung des Hl. Geistes und entgegen der ausstrahlenden Glorie des Christkindes sieht Leonhard in dieser Begebenheit ein Hineinstrahlen ewigen Glanzes in das Kind, also die „Weihe des LebenSanfangeS" als Sinn der Taufe. Diese Verbindung von Geburt und Taufe hat im Berneuchener Buch, Hamburg 1926, S. 119, eine Neubelebung erfahren, wo die Taufe als „die wesensnotwendige Verkündigung über die Ge­ burt in das Erdenleben hinein" bezeichnet wird.

i. Die Aufnahme in die Gemeinschaft Jesu: Taufe und Erziehung 105 lichen Gnade auszusetzen (4,821s.). Bis zu welcher Bedeutung sich dieser Gesichtspunkt steigert, zeigt die Anknüpfung der vierten Tauf­ rede bei der Auferweckung des Töchterleins Jairi. Dort bei dem Mäd­ chen, das wirklich „nur" geschlafen hat, weckt Jesus die schlafenden Kräfte des Leibes. Hier bei der Taufe aber wird er gerufen, um die geistigen Kräfte deS Menschen zu wecken. Die Taufe ist also wirklich nur eine Einführung in die „innere Sphäre" der Kirche, nachdem sie schon durch Geburt in der „äußeren Sphäre" Bürger des Staates ge­ worden sind. Zugunsten dieser höheren Beziehung entäußern sich also die Eltern ihrer persönlichen Beziehung zu dem Kinde und empfangen es von der Kirche zurück als deren natürliche Bevollmächtigte. Somit ist der Täufling nicht nur Glied der Familie, sondern auch Glied des Staates und der Kirche. Man ist versucht, diese Beziehungen sämtlich als die natürlichen Beziehungen des Menschen anzusehen, wenn schon die Taufe eine Beziehung zur christlichen Gemeinschaft herstellt, die im Sinne der anderen „natürlich" ist. Nun ist freilich die Taufe der Kinder erst im Hinblick auf die folgende Einwirkung des christlichen Geistes vollkommen. Dieö spricht sich darinnen aus, daß am Schlüsse sämtlicher vier Taufreden davon die Rede ist, daß die Eltern wie auch die Freundschaft der Familie Mitarbeiter, „Werkzeuge der göttlichen Gnade" seien (4,822), durch deren Arbeit erst die Gnade der Taufe, die Aufnahme in die Kirche, zur vollen Wirksamkeit gelange. Inhaltlich sind wir damit bei der synergisti­ schen Tauflehre der Schleiermacherschen Dogmatik angelangt, und es bedarf keiner weiteren Begründung, wenn wir unmittelbar von hier aus die Fortsetzung und Vervollständigung der Sache in den Erziehungs­ predigten suchen. Die Erziehung hat Schleiermacher ain vollständigsten in den drei Erziehungspredigten (1,579—620) behandelt, welche 1818 im Rahmen der Hauöstandspredigten gehalten wurden. Als Text dazu dienten Kol. z,21, Eph. 6,4 und 6,1—3. Der Gedanke zu Eingang der zweiten Predigt, daß die Erzieher Werkzeuge des göttlichen Geistes seien, macht die Erziehung für Schleiermacher zu einem Gegenstand der christlichen Predigt. Aber wir wissen aus anderem Zusammenhänge, daß der „Geist" bei ihm als Gemeingeist gedacht ist, und daß darum eben die Gemeinde mit der Erziehungsaufgabe befaßt wird, weil in ihrem Geiste die Er­ ziehung geschehen soll. Die Erziehung ist ein übersubjektives Werk — dieser Gedanke steht hier im Anfang. „Das gesamte junge Geschlecht unter uns wird erzogen von dem gesamten älteren" (1,579). Wendet sich doch schon, wie die zweite Taufrede ausführt, die Taufe an die „all-

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschlich? Leben

gemeine Empfänglichkeit der menschlichen Natur für die Offenbarung Gottes in seinem Sohne" (4,821 f.)1, was zu Beginn der zweiten Er­ ziehungspredigt ähnlich ausgesprochen ist: Die Jugend ist — gewisser­ maßen von Hause aus — ohne unsere besondere Bestimmung — ein Gegenstand der Wirksamkeit des göttlichen Geistes. Diese Tatsache liegt unserem Erziehungswerk voraus. Wir nehmen also nur bewußt an einem Vorgang teil und fördern ihn nach Kräften, der sich auch ohne unser Zutun abspielt. Das Überindividuelle wird so stark empfun­

den, daß geradezu die Frage sich aufdrängt, ob wir überhaupt etwas beitragen können (1,601). Was wir beitragen können, richtet sich nun zunächst nach dem Ge­ sichtspunkt, daß unsere Erziehung eine Bemühung um „die richtige und gottgefällige Entwicklung der geistigen Kräfte" ist. Die erste Predigt entwickelt die negative, die zweite die positive Seite der Auf­ gabe. Der Prediger warnt davor, die Kinder zu erbittern. Denn Er­ bitterung weckt die Sünden der Eltern in den Kindern wieder auf, zerstört die natürliche Verbundenheit der Familie durch die geistige Macht der Liebe und verdirbt die Grundlage für allen weiteren Fort­ schritt. Umgekehrt fordert die zweite Predigt Zucht, nicht Furcht vor Strafe, sondern Stärkung deö Herzens zum Guten, und vor allem Ermahnung zum Herrn. Nicht früh genug kann der fromme Sinn geweckt, Gottes- und Christuserkenntnis gepflegt werden. Denn von allen Seiten ist auch die Jugend schon von ungöttlichem Wesen um­ geben, und der Feind ist wachsani, Unkraut unter den Weizen zu säen, während wir schlafen. Darum muß der Jugend rechtzeitig die „Sehn­ sucht nach dem seligeren Zustande deö Menschen" erregt, das „Bedürfnis eines höheren Beistandes fühlbar gemacht" werden. Wir müssen der Jugend Gott nahe bringen, es ziemt uns „sowohl die Liebe zu dem Erlöser, der die Quelle deö Lebens und der Seligkeit ist, als auch die Liebe zu Gott, der unö seinen Sohn geschenkt hat, in ihr aufzuregen" (1,602 f.). Eö wäre nicht recht, diese christliche Erziehung zu unter­ lassen aus Angst, es könnten sich unzureichende Vorstellungen von Gott bilden. Auch wir sind ja nur Kinder vor Gott, welche ihn nicht umspannen und begreifen können. Hingegen ist es eine Art Rechen­ schaft über sich selbst, welche die Eltern in solcher Erziehung den Kindern ablegen. „Ja schon sobald sie aufmerksam werden auf unö und unser 1 Die hier sowie z. B. auch 1,587 wiederkehrende Anspielung auf die Mission beruht nicht auf dem biblischen Zusammenhang von Tauf- und Missionöbefehl, sondern auf der „allgemeinen Empfänglichkeit der menschlichen Natur für die Offenbarung Gotteö," welche in der Kindertaufe von unö bezeugt wird.

i. Die Aufnahme in die Gemeinschaft Jesu: Taufe und Erziehung 107 ganzes Leben, und anfangen das Innere und Geistige desselben zu bemerken und zu fragen, Woher ist daö? könnten wir da unseren Kindern den verleugnen, dessen Leben in uns alles das ist, was sie an uns ehren und lieben?" (1,606.) ES wäre indessen eine völlig unzureichende Vorstellung von den Gedanken der Schleiermacherschen Erziehungspredigten, wollte man meinen, hier sei daS Erziehungögeschehen als ein eindeutiges Handeln der Eltern an den Kindern gedacht. Vielmehr ist die Erziehung ein Kreislauf, eine Rückkehr deö Erziehers zu sich selbst. Diese Entsprechung zeigt sich schon darin, daß die dritte Erziehungpredigt von den Pflichten der Kinder handelt, also innerhalb deö ErziehungSgedankenS die Um­ kehrung bedeutet. Wenn im zweiten Teil der ersten Erziehungspredigt davon die Rede ist, waS die Jugend für die Eltern sein soll, so wird unS damit der Segen der Erziehung für uns selbst geschildert: „Da soll uns die ursprüngliche ruhige Gestalt des Lebens wieder entgegen­ treten,. . . da soll unS wieder lebendig werden, daß Gott den Menschen einfältig geschaffen hat" (1,588). Es ist mehr als bloßes AuSruhen, es ist kräftigende Anschauung des Ursprunges, welche den Eltern durch die Erziehung vermittelt ist. Sie helfen nicht nur den Kindern, sondern sich selbst damit empor: „Denn wie wir selbst bilden und heiligen, werden auch wir geheiliget und gebildet werden; und so wird ein gott­ gefälliger Bau emporsteigen auf dem Grunde, den der Herr selbst gelegt hat und den keiner ungestraft verrücken darf" (1,608). Es handelt sich also bei diesem Kreislauf nicht um eine in sich verbleibende Be­ wegung des Lebens, sondern um Fortbewegung, um „Heiligung". Der Gedanke an die Zukunft ist ja im Zusammenhänge mit der Er­ ziehung natürlich. Wiewohl wir nur im Glauben und nicht im Schauen leben, können wir uns doch „keinen Glauben vorstellen, in welchem nicht schon irgendwie ein wenn gleich dunkles und schwankendes Schauen enthalten wäre" (1,589). Zukunft schauen können wir aber an unsere» Kindern. Schon der Erlöser weist uns auf diesen Trost, indem er sagte, den Kindern gehöre daö Himmelreich, in das die Erwachsenen damals nicht eingehen wollten. Darum erhebt sich Schleiermacher auch auf der Linie solcher Gedanken zu großem Pathos: Die Kinder sollen besser werden als die Eltern waren, das ist insofernc ein christliches Erziehungs­ ziel, als nur in solchem Fortschritt jedes Heranwachsenden Geschlechtes über sein erziehendes hinaus das Reich Gottes gebaut wird. Daö ist für Schleiermacher der letzte Sinn der Lebensbewegung, welche wir Erziehung nennen. Vielleicht könnte das Thema der letzten Predigt über Kinderzucht den Eindruck erwecken, als ob hier doch noch

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

ein fremdes Element in dem Bilde dieser sich gleichsam von selbst entfaltenden Erziehung stehen geblieben wäre. In dieser Predigt ist vom Gehorsam die Rede. Aber dieser Gehorsam, der uns hier alö Maßstab für die Richtigkeit der Erziehung geschildert wird, hat mit knechtischer Furcht, mit Gewaltsamkeit nichts zu tun. Er hat „Ver­ heißung", aber nicht im Sinne des Lohngcdankens, sondern weil der Gehorsam das Fundament der Ordnung, vorab des Staates ist. In diesem durchaus natürlich-vernünftigen Sinne spielt also Schleier­ macher an auf die „Verheißung" im Text (Eph. 6,1—3) „auf daß du lange lebest auf Erden" — nämlich im Staate! Der „billige" Gehorsam ist, waö das persönliche Leben anbelangt, eine heilsame Vorschule wahrer Freiheit, nämlich eine Schule der Ehrfurcht und des Gefühls noch mangelnder Reife — kurz, auch hier erfolgt eine völlige Naturali­ sierung der christlichen Erziehungsaufgabe. Besinnen wir uns an diesem Punkte noch einmal darauf zurück, welche Bedeutung diesem harmonischen Fortschritt über Geben und Nehmen zukommt, der hier als Kinderzucht beschrieben ist: Es ist die Aufnahme in die Gemeinschaft Christi! Es hat bei der Taufe begonnen und in einer Beschreibung natürlicher menschlicher Dinge geendet. Das festzustellen ist im Sinne Schleiermachers kein Tadel, sondern höchstes Lob. Wir verstehen, daß ein solches Predigen wirklich sich getrost und richtig als Darstellen bezeichnen kann. Aller Rat, aller Tadel, alle Belehrung wollen in solchen Predigten nichts anderes sein als Mäeutik, ein öffnen der Augen der Gemeinde für ihre eigenen Lebensgesetze und Sachverhalte. Dieö tritt im höchsten Maße zutage, wenn wir nun im folgenden Abschnitt über das christliche Hauswesen bandeln.

2. Das christliche Hauswesen in den Predigten Vergleicht man in der „Christlichen Sitte", was Schleiermacher über die Kirche und den Staat sagt, so ergibt sich folgendes Bild: Beide, Kirche und Staat, erscheinen als Zwischenglieder jeweils zwischen zwei Endpunkten. In der Ordnung, welcher die Kirche zugehört, steht am Anfang die Person Christi. Als Ziel wird angegeben die in Christo vollendete Menschheit. Dieses Ziel aber wird durch einen Prozeß von Gesinnungsbildung angestrebt, deren Ort die Kirche ist. Nun ist natürlich auch für diese Gesinnungöbildung ein konkreter Träger er­ forderlich, und als diesen nennt uns Schleiermacher die Geschlechtsgemein-

2. Daö christliche Hauöwcsen in den Predigten

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schäft, im weiteren Sinne das Hauswesen. Nur eine aus Hauöwesen bestehende Kirche ist vollständig. — In der Ordnung, welcher der Staat zugehört, steht am Anfänge die Einzelpersönlichkeit. Angesichts der Verbreitung der menschlichen Gattung über die Erde ist nun der ideale Zielpunkt die „absolute Gemeinschaftlichkeit", also bewußtes sittliches Zusammenleben der Menschen in ihren natürlichen Bedingungen. Dieses Ziel wird angestrebt durch Talent- und Naturbildung im wei­ testen Sinne, die jedoch an der „nationellen Differenz" der Menschen ihre unübersteigliche Schranke hat. So kommt es zur Staatenbildung der Völker, welche sich selbst wiederum differenzieren in ihrer Talent­ bildung (Wissenschaft), Naturbildung (Mechanik des äußeren Lebens) und in der Kunst. Überblickt man dieses kurz wiedergegebene Schema, so hat man zweierlei Ordnungen vor sich, die wir ungefähr Erlösungs- und Schöpfungsordung nennen könnten. Wir beobachten hierbei, daß die Familie nur in der Heilöordnung, nicht aber in der Schöpfungöordnung be­ gegnet. Auch ist in Schleiermachers „Lehre vom Staat"*, soviel wir sehen, der Familie keine besondere Bedeutung zugemessen. Umgekehrt erscheint dieselbe Familie hier wie in den Predigten als Keimzelle der Kirche, als Heiligtum, als Tempel Gottes. Eö ist sicher kein Zufall, daß die Texte der Hauöstandpredigten über die Ehe, sowie die Ge­ danken der Trauredcn die „Stiftung des heiligen Ehestandes" durch Gott in der Schöpfung ganz beiseite lassen, hingegen sich des öfteren versenken in das Mysterium der Einheit Christi mit der Gemeinde, deren Abbild nach Eph. 5,22—31 die Ehe ist. Wird an der bezeichneten Schriftstelle1 2 die Innigkeit eineö irdischen Verhältnisses als Gleichnis für die Innigkeit des himmlischen Verhältnisses Christi zu seiner Ge­ meinde herangezogen, so deutet die auch von Schleiermacher geteilte römisch-katholische Auffassung das Verhältnis um: die mystische Ver­ bindung Christi und der Gemeinde muß dazu dienen, die, irdische Ehe als Schule der Liebe und des Kreuzes im Sinne mystischer Verklärung umzudeuten. Da nun aber Schleiermacher von der Geschlechtsgemein1 Hrsg. v. Brandts, Berlin 1845. 2 Ich verstehe sie (mit Hofmann)'alS Bekräftigung der Schöpfungs­ ordnung durch Christus, nicht als Einbeziehung der Ehe in eine Hierarchie, deren Spitze Christus ist (so Harleß zu V. 22 f.: Der Mann sei für das Weib „Repräsentant des Erlösers"). Vieldeutig ist die röm.-kath. Auffassung der Ehe, bald „von Christus eingesetztes Sakrament des Neuen Bundes", bald „Symbol der Einheit Christi und seiner Kirche" unter Berufung auf unsere Stelle. Vgl. B. Bartmann, Grundriß der Dogmatik, Freiburg 1923, § 166.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

schäft zum Hauswesen, von der Ehe zur Familie übergeht, indem er auch Kinder, Gesinde und Gäste teilnehmen läßt an dem geistigen Leben des Hauseö, müssen wir in diesem weiteren Umfange das Myste­ rium des Hauses zu verstehen suchen. Den Kern des christlichen Hauses stellt die Ehe dar, welcher 2 Hausstandspredigten gewidmet sind und wozu noch 4 Traureden vor­ liegen. Nicht im Natürlichen, darin, daß Mann und Frau ein Fleisch sind, liegt daS Kennzeichen einer rechten Ehe, sondern, hat „diese irdische Vollkommenheit nicht ihren Grund in einer höheren, so fehlt ihr immer noch die rechte Haltung". DaS höhere Ziel des Christlichen ist dieses, daß einer den andern heilige und sich von ihm heiligen lasse. Darum steht Schleiermacher nicht an, die Ehe als ein „von Gott verordnetes Gnadenmittel" (1,559) zu bezeichnen, für das sich keiner zu gut sein soll, dessen vielmehr jeder bedarf. Die Ehe dient der Vollendung des Menschen und ist vollendet, wenn jeder Herd sich richtig einordnet in die größere Haushaltung einer bürgerlichen Gesellschaft. Materiell ist die Ehe, im weiteren Sinne die Familie, natürlich ebenso für den Staat wie für die Kirche Keimzelle, aber das, waS die Familie zur christ­ lichen macht, setzt sie in besondere Beziehung zur Kirche: Irdisches und Himmlisches sind in ihr eins. Die natürliche Ungleichheit zwischen den Ehegatten löst sich auf in der vollkommenen Gleichheit, wenn Christus das Urbild der Hingabe ist. Wohl bemächtigt sich das Weib des Mannes in der Liebe, wohl ist der Mann als Vorstand des Hauses des Weibes Haupt, aber beide sind sich dessen bewußt, daß wir zur Freiheit erlöst sind. Nun ist das Weib untertan und doch befreit, der Mann das Haupt deS Weibeö und doch ihm in Liebe anhangend. So ist die Ehe nicht ein „Stand", darein uns Gott „gesetzt" hat, eine Schule der Liebe und des Kreuzes, sondern ein Kreislauf, durch welchen wir geheiligt werden, indem wir anderen zur Heiligung verhelfen, nämlich zur inneren Be­ reicherung, zur Zusammenfassung der überkommenen Eigenarten (4,845ff.), zur Freiheit. An diesem Wechselstrom des Gebens und Nehmens soll nun alles Anteil haben, was im Hause lebt, vor allem die Kinder, von denen im vorigen Abschnitt die Rede war, aber ebenso daS Hausgesinde und der Gast. Was das Verhältnis der Gebietenden zu den Dienenden an­ belangt, so beurteilt es Schleiermacher zunächst als ein notwendiges Übel für beide Teile. Für die Gebieter, weil sie genötigt sind, fremde Menschen im Heiligtum ihres Hauses zu haben, für die Dienenden, weil auch ihnen in ihrer zurückgesetzten Lage das begreifliche Freiheits­ verlangen innewohnt. Aber alsbald betont Schleiermacher, daß hier

2. DaS christliche Hauswesen in den Predigten

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eine Ungleichheit vorliegt, welche ausgeglichen werden soll. Ist doch auch der Herr ein Knecht Christi, und der Diener ein Freigelassener Christi. In diesem Bewußtsein müssen beide Teile verbunden sein. Denn die Christen sollen das HauSwesen „in allen seinen Gestaltungen vornehmlich alö einen Teil der Gemeine Christi" betrachten (1,631). DaS hat als praktische Folge: „Man soll im häuslichen Leben ja auch sonst (also schon natürlicherweise!) die bürgerlichen Verhältnisse zum großen Teil vergessen". Nun aber erst im christlichen Leben! „Wir verlangen, daß das Göttliche und Natürliche. . alles andere verdunkeln soll" (1,630). Dies ist Schleiermachers Formel: „Wo findet alles Bessere im Menschen mehr Haltung und Ruhe als im häuslichen Leben, wenn eS nur irgend christlich und natürlich geordnet ist?" (1,627.) Diese Affinität des Menschlichen und Natür­ lichen ist gewiß nicht zufällig. Wenn Gebieter und Diener sich als Menschen natürlich begegnen, so hat eS schließlich dieselbe Wirkung, wie wenn sie sich begegnen als Glieder der gleichen Gemeinde. Selbst­ verständlich ist daS „Christliche" oder daS „Göttliche" „daS Höhere", aber eS tritt mit dem Natürlichen nicht in Widerspruch, sondern be­ stätigt und vollendet eS. Gratia non tollit naturam sed perficit! Schleiermachers Bemühen geht also in seinen HauöstandSpredigten nicht dahin, die Dienstherren wie die Dienenden über die Pflichten ihres Standes einfach und direkt zu belehren, ihnen den Segen und das Kreuz' dieser göttlichen Ordnung eindrücklich zu machen, sondern er deutet auf einen tieferen Sinn ihres Standes, gewissermaßen auf eine Ordnung hinter der sichtbaren äußeren Ordnung. Für die Er­ füllung der Standespflicht im lutherischen Sinne ist eS unwichtig „von jedem einzelnen Verhältnis fühlen, wie unentbehrlich eS im Ganzen ist" (1,632). Dies ist aber für Schleiermacher die religiöse Aufgabe. Er will den Sinn dafür erwecken, wie jeder an der großen Harmonie an seinem Orte und in seiner Weise teilnimmt. „Wenn wir eingesehen haben, wie auf der einen Seite zwar mancherlei jedoch unvermeidliche und notwendige Übel mit diesem Verhältnis verbunden sind, wie aber 1 Jeder irdische Stand hat sein „Kreuz", weil er nicht allenthalben in un­ mittelbarer Kontinuität zum Reiche Gottes steht. Bei der Standespredigt kann der Vorbehalt „Eö ist noch nicht erschienen, was wir sein werden" nie aus dem Auge verloren werden. Bei Schleiermacher stehen Erdenberuf und Beruf im Reiche Gottes in einer Kontinuität, welche die Standespredigt aufzeigen soll. Die Schwierigkeit der lutherischen Standespredigt rührt daher, daß der irdische Beruf nur eine indirekte Beziehung zum Reiche Gottes hat. Der irdische Beruf dient der Schöpfungsordnung, d. h. aber der Welt der Sünde; seine Verheißung ist es darum: „tectum cruce“.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

auf der anderen Seite der große göttliche HatlSstand auf Erden, dessen Glieder wir alle sind, auch dadurch gefördert werden kann: so muß ja doch daö Unbedeutende uns wichtig geworden sein, das Ungleiche sich geebnet haben und die Lust an dem Willen Gottes in diesem Verhältnis alles andere daran überwiegen" (ebb.). Diese Lust erwächst nicht aus Einsicht, da dem Verstände das Universum nicht zugänglich ist, sondern sie beruht auf dem Gefühl für daö über unseren Wahrnehmungökreiö Hinauöliegende. Für solches Gefühl will Schleiermacher den Sinn er­ wecken. Bedenkt man jedoch, daß dieses Gefühl im Sinne Schleiermacherö auch nichts anderes ist als eine sogar sehr unmittelbare Weise von Gegebenheit, so wird klar, daß ohne die Einsicht in solche Ge­ gebenheit niemandem eine Erfüllung seiner Standespflicht religiös kann zugemutet werden. Diese Einsicht, welche Schleiermacher erwecken will, bringt es mit sich, daß „jeder seinem Beruf die edle und erfreuliche Seite ab­ gewinnt" (1,635). Die äußerliche Ordnung ist der mehr oder weniger unabänderliche „Stand", unter dessen Pflichten, unter dessen Kreuz wir leiden. Alö die tiefere Ordnung jedoch erscheint bei genauem Zu­ sehen ein Kreislauf, ein Wechsel von Geben und Nehmen. Der Zu­ stand der Dienenden im Hause wird zum Sinnbild von unser aller Verhältnis zu Gott: auch wir sind nur Gottes Knechte. Aber indem Gott mit unö sein „Reich der freien Kinder Gottes auf Erden" bauen will, fällt der Glanz jener Freiheit auch auf daö Verhältnis der Dienen­ den. Die äußere Ungleichheit wird hier — formal genau so wie bei der Ehe — aufgehoben von der höheren Gleichheit, deren Erkenntnis zur Förderung aller dient. Was noch über die Gastfreundschaft und die Wohltätigkeit zu sagen ist, bringt theologisch nichts anderes mehr hinzu. Der Text über die Gastfreundschaft Hebr. 13,2 hält einer menschlichen Gewohnheit und Übung, die überall einen leiblichen Anfang hat, ein geistiges Ziel vor. „Und daö ist ja daö Wesen deS Christentums, alles Leibliche zu vergeistigen" (1,647). Die Zeiten, wo Engel den Abraham und Lot besuchten, sind zwar vorbei. Aber noch immer kommen durch Gäste Hoffnung und Warnung unter unser Dach, noch immer verscheucht rechte Gastfreundschaft die Sorgen. Ist doch auch der Erlöser gerne in Häusern eingekehrt. „Und immer entspann sich eine Fülle der Lehre und des geistigen Genusses aus der leiblichen Bewirtung" (1,648). Eben wegen jener geistigen Aufgabe ragt die christliche Gastfreundschaft weit hinaus über die bloß auf den leiblichen Notstand gerichtete Wohl­ tätigkeit. So falsch es wäre, nur um der eigenen geistigen Bereicherung

2. Das christliche Hauswesen in den Predigten

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deö Hauses willen Gäste zu laden, so sicher steht doch dem gastlichen Hause ein Gewinn in Aussicht bei dem Wechsel geistigen Gebens und Nehmens. Und zwar wird dieser Gewinn an Sorglosigkeit, an neuer Hoffnung oft am natürlichsten und ungezwungensten erreicht im heiteren geselligen Gespräch, wenn es nur wirklicher geistiger Verkehr bleibt. Ja hierin besonders, „in dieser natürlichen Ordnung der Dinge sollen wir einer dem anderen Engel GotteS sein" (1,655s.). Die „leich­ teren Augenblicke geselliger Ruhe und Freude" (ebd.) sind geradezu der Endpunkt der wünschenswerten Entwicklung der Gastfreundschaft, der Prüfstein, wie weit sie wirklich, auch im Natürlichen, die geistige Aufgabe im Auge behält. An diesem Prüfstein aber hat sich unser Verkehr zu regeln, hier bat unsere Gastfreundschaft ihre Grenzen. Denn „wenn wir unS ohne Bedacht allerlei Menschen hingeben, ziehen sich mancherlei Gefahren um unS zusammen und können unS unversehens umstricken". Darum „wird eS unser fester Wille sein, unseren ge­ selligen KreiS reinzuhalten, weil die Engel GotteS gewiß nicht eingehen, wo die Sünde gehegt wird, sondern nur zu den reinen Lieblingen GotteS" (1,655). — Damit aber ist natürlich die apostolische Forderung des Textes beschränkt worden, und das Wort von den Engeln, das dort Verheißung ist, zu einem Regulativ unseres Verkehrs umgedeutet. Aber worauf eS Schleiermacher mit alledem ankommt, ist deutlich geworden. Hinter der äußeren Ordnung unseres Umganges gibt es eine geistige, einen Kreislauf deö Gebens und Nehmens, an dem wir teilhaben sollen. Ebenso will die letzte Hausstandspredigt über die christliche Wohl­ tätigkeit hinter die äußere Notwendigkeit zurückführen zum rechten Grund und zur rechten Art der Wohltätigkeit. Der Gegensatz von Reich und Arm ist in GotteS Ordnung beschlossen. Aber an ihm soll sich der Wechselstrom der Liebe entzünden. Dieser Wechselstrom zeigt dem Geber das Maß seines Abstandes von der Dürftigkeit, macht ihn dank­ bar für seinen Besitz und fließt damit auf ihn zurück. Freilich, wenn das Geben und Empfangen zwischen Einzelnen geübt wird, sind Bitter­ keit dort und Werkgerechtigkeit hier naheliegende Gefahren. Aber nicht nur aus solchem psychologischen Grunde, sondern auS dem dialektischen Begriff der Liebe heraus ist zu fordern, daß die Wohltätigkeit der Ge­ meinde übertragen werde. Nicht dem Geschäftsbetrieb des Staates, sondern der christlichen Gemeinde. Hier ist ein Weg, durch den daS Hauswesen einmündet in den großen Strom der christlichen Gemeinde. Aber dazu muß man durch die äußerliche Ordnung hindurchschauen auf die geistige Ordnung, für welche die Hausstandspredigten den Blick öffnen wollen. W. Trillhaas: Schlctermachcrs Dredlgt 8

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

Erst von dieser geistigen Ordnung aus erschließt sich der christ­ liche Sinn deö Familienlebens für Schleiermacher. Nicht das bloße Stehen in seinem Stande, sondern der Wechselstrom der Liebe, der Kreislauf von Geben und Empfangen ist es, der Eltem und Kinder, Mann und Weib, Herrschaft und Dienende, Hauscltern und Gäste, Arm und Reich umschließt. Wo solches Leben von Christus entzündet ist, da ist das Hauswesen für Schleiermacher — wie er eS gerne nennt — ein „Heiligtum".

3. Die politische Predigt SchleiermacherS Wirksamkeit als nationaler Prediger gehört in die Epoche der Freiheitskriege hinein und hat wie nichts sonst seinen Namen volkstümlich gemacht^. Später hat er in ruhigen Zeiten auch bei staatlichen Festtagen zu predigen gehabt. Handelt eö sich hierbei auch nur um einen kleinen Bruchteil seiner Predigertätigkeit, so hat er doch durch sie jedenfalls unter den politischen Predigern einen ersten Platz erhalten. Von keinem irdischen Lebensverhältnis her droht der christlichen Predigt so viel Gefahr als durch den Staat und die Politik. Ist doch die Predigt irgendwie ein Wirken auf Menschen, eine Beeinflussung deö Volkes, und keine geordnete Gemeinschaftsform hat ähnlich viel Interesse an solcher Einflußnahme, als der Staat. Kirche und Staat haben ähnliche Struktur; sie sind beide öffentliche Organisationen, in die man hineingeboren wird. Aber der Staat hat den Willen zur Macht wie die Macht selbst, und die Kirche ist ebenso verloren, wenn sie dem Staat als Organ anheimfällt, als wenn sie ihrerseits Machtansprüche an den Staat stellt. Schleiermacher hat diese Gefahr gekannt und hinsichtlich der Predigt in der praktischen Theologie (209—212) be­ sprochen. Sein Standpunkt ist klar: alles kann in der Predigt behandelt werden, wenn es religiös behandelt wird. „Verbieten kann der Staat dies nicht (nämlich sich in Politik zu mischen), denn der Geistliche stellt ja nichts Politisches auf, sondem faßt nur die Politik religiös auf" 1 Eine umfassende Darstellung dieser Tätigkeit hat I. Bauer, Schleier­ macher als patt. Prediger, Gießen 1908 gegeben. Die ganze Predigtarbeit Schleiermachers in den Jahren 1804—1818 ist hier historisch ausgebreitet. Bei jeder Predigt ist die Datierbarkeit geprüft worden, die nationalen Predigten dieser Zeit sind zudem geistesgeschichtlich, national und rednerisch gewürdigt. Unsere Absicht ist nur auf die theologisch-homiletische Beleuchtung begrenzt.

z. Die politische Predigt

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(211). Dieser Grundsatz ist auf die Sache gesehen richtig, um so mehr, als er nur bei unmittelbar sittlicher Wirkung deö Religiösen sinnvoll ist. ES ist ja auch nicht einzusehen, inwiefern Staat, Volk und Vater­ land etwa hinter die Familie an christlichem Rang zurücktreten sollen. Wirken doch die nationalen und staatlichen Lebensfragen auf allen Gebieten tiefer ins Schicksal des einzelnen hinein als es oft Familie, Schule und Kirche tun, und lag doch bei der Nation mitunter die Sache des Rechtes sogar gegen die verfaßte Kirche. Nur in diesem Sinne darf, aber so muß es auch politische Predigt in der Kirche geben, daß daS Volk als Gemeinde Jesu angesprochen wird und die Gemeinde sich als Volk unter Gottes Hand beugt. Natürlich hat die politische Predigt keinen anderen Auftrag als alle Predigt, dem Volk Gottes gnädigen und heiligen Willen zu verkündigen, eS zu trösten und zu mahnen, die lässigen Knie wieder aufzurichten. Doch steht die poli­ tische Predigt unter dem Vorbehalt, daß sie an die Stunde der Ge­ schichte gebunden ist, daß daS Vaterland wohl der Ort unserer Pilgrim­ schaft, der unausweichliche Rahmen unseres Erdenberufes, unserer Existenz ist, aber daß wir hier keine bleibende Statt haben, sondem die zukünftige suchen. Schleiermacher ist darum politischer Prediger gewesen, weil er für eine bestimmte Stunde der Geschichte gepredigt hat. Dieses Be­ wußtsein hat ihn dem Pilgerschaftsgedanken unbewußt vielleicht näher gebracht, als alle bewußte Beschäftigung mit Eschatologie. Freilich klingen die Predigten für unser Gefühl im allgemeinen überraschend zeitlos. Der Donner der vaterländischen Schicksale klingt nur von ferne herein, die Predigten gleichen einem Vorhänge, hinter welchem sich die Gestalten der Geschichte bewegen, ohne daß ihre Namen ge­ nannt würden. Diesen Ieitpredigten eignet für unsere Begriffe etwas Zeitloses, aber es wird wohl so sein: eben darum haben sie ihre Zeit überlebt. Schleiermacher predigt über daS, waö allen daö Herz bewegt. Doch ist es seine Größe, daß er die Not des Tageö in die Höhe der Sitt­ lichkeit hebt. Nicht Lebensfragen, sondern sittliche Fragen ruft die Not deö Vaterlandes damals wach. Die hinreißende Überzeugungskraft

der Predigten ruht darin, daß keine „christlichen Forderungen", daß nicht „ein Wort zur Lage" oder derartiges laut wird, was eine parti­ kulare Existenz neben der Not des Tages und neben dem Gebot dee Staates führen würde, sondem die Einheit des Sittlichen wird in schlichter Klarheit gezeigt. Ohne Zweifel stößt sich daS exegetische Ge­ wissen gelegentlich an der Textauslegung. In der ersten nationalen 8*

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

Predigt „Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört" vom 24. Aug. 1806 (1,218) wird allein das Bild des Textes Eph. 2,19 besprochen, die Fremdling- nud Hauögenossenschaft wird also auf die bürgerlich-staatlichen anstatt auf die christlichen Verhältnisse an­ gewendet. Dasselbe sehen wir in der Gedächtnispredigt auf Friedrich den Großen vom 24. Jan. 1808 (1,353), in der die Weissagung Jesu vom Untergang des Tempels Matth. 24,1—2 auch zu bürgerlich-vater­ ländischen anstatt zu christlichen Überlegungen Anlaß gibt. In dieser kleinen Beobachtung kommt eine Voraussetzung Schleiermachers zum Ausdruck: Geistliches und Weltliches sind nicht geschieden. Wie das Neue Testament weltliche Bilder auf daS Reich Gottes anwendet, so glaubt Schleiermacher auch Wahrheiten aus dem Reich Gotteö auf weltliche Verhältnisse übertragen zu können. Denn die ganze Welt ist ja der Ort, wo Gott waltet, und überall dort regieren GotteS Ge­ setze, überall dort muß Friede sein (1,234). Direkte Anspielungen auf politische Einzeldinge finden sich sehr wenig. Die berühmte Predigt über Friedrich den Großen „über die rechte Verehrung gegen das einheimische Große auS einer früheren Zeit" (1,353) enthält eine ausgedehnte Rechtfertigung der Steinfchen Reform. In der Predigt von der „Beharrlichkeit gegen das uns be­ drängende Böse" (Juli 1807 — 1,337) wird eine Anspielung auf das Verhalten einiger Berliner Bürger nach der Schlacht bei Friedland vermutet (1,342)^ Daß die Predigt vom 28. März 1813 (4,69), in welcher der Aufruf „An mein Volk" und der Aufruf zur Landwehr vorzulesen waren, genauere Hinweise auf den politischen Umschwung enthält, sogar eine Anspielung auf Porks Verhalten, versteht sich ja wohl von selbst. Daß die Schlacht bei Leipzig mit Namen genannt ist (4,84), fällt bei einem Prediger auf, der nie historische Namen in Pre­ digten nennt. Einmal (4,90 s.) findet sich auch eine Auseinandersetzung mit den reaktionären Verdächtigungen — es ist das Jahr 1815. Aber sonst werden derartige Einzeltatsachen aufgesogen von der ethischen Gesamtbetrachtung. Die erste Vaterlandspredigt in Halle vom 24. Aug. 1806 (1,218) zeigt die Erhöhung der Menschenwürde durch bürger­ lichen Sinn und Gemeingeist, die nächste Predigt dieser Sammlung (1,234), wohl vom Oktober 1806, ringt mit dem Kriegögedanken. Die ganze Welt, Natur und Geschichte, ist ein großer Kriegsschauplatz. Aus dem Kampf ringen sich Wahrheit, Recht und Frieden hervor. „Nur

1 Vgl. 3. Bauer, P. P. 52.

z. Die politische Predigt

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eine Gegend des menschlichen Lebens" ist ausgenommen, nämlich „das stille Heiligtum der Familie". „WaS schon wirklich ist und Bestand hat in dem Reiche GotteS, darin ist auch Ordnung und Friede" (1,240). „ES ist nur Schein, daß Streit, wohlgeführter Streit für die Sache der Wahrheit, des Rechts, des Guten auf dem Felde, auf welchem unsere Wirksamkeit gefordert wird, etwas Ungöttliches sein könnte",'(1,242). Der Krieg steht für Schleiermacher unter der Herrschaft der sittlichen Idee. Mit dem Krieg, und wie der Prediger späterhin besonders betont, mit der Niederlage, hat Gott das Volk aus der toten Ruhe aufge­ schreckt. Der Kampf gilt der eigenen Trägheit, er ist immer auch „Streit mit unö selbst". Aber selbst im politischen Krieg gilt der sittliche Maß­ stab. „Es ist nicht ein wilder Krieg, . . . sondern ein besonnener Widerstand ... der sich auf nichts Fremdes ausdehnt und kein anderes Verhältnis verletzt" (1,243). Beim bußfertigen Rückblick auf die Ur­ sachen der Niederlage kann aus diesem Grunde Schleiermacher auch auf das „Unrecht" der Teilung Polens anspielen: „Unredlicher Gewinn vergrößerte unser Gebiet. . . denn wir gewannen nur wenig wahre Brüder, die gern denselben Gesetzen folgten" (4,72). Gott ist das Sittliche, daran muß auch im Unglück geglaubt werden, und nur strenge Hingabe an diesen Gott des Rechtes und der Sittlichkeit kann die Menschen ertüchtigen, Herr über die Not des Vaterlandes zu werden. So wird der nationale Prediger Schlciermacher zum Prediger aller Tugenden: Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, innere Freiheit, die unabhängig ist vom äußeren Druck, das will uns die Züchtigung GotteS lehren und uns so die Überzeugung einprägen, „daß Gott noch

liebt das Volk der Deutschen" (1,258). Hinreißend ist es zu lesen, wie Schleiermacher anleitet, den Segen der eingebrochenen Not zu er­ kennen, so in dem grandiosen Vergleich des Einst und Jetzt in der letzten Sonntagöpredigt von 1806 „daß die letzten Zeiten nicht schlechter sind als die vorigen" (1,262). Welche Kraft und Selbstgewißheit spricht doch aus der Predigt nach dem Tilsiter Frieden „Der heilsame Rat zu haben als hätten wir nicht" (Juli 1807 zu Berlin — 1,320). „WaS verloren ist, kann nur wiedergewonnen werden durch diesen Sinn; was noch übrig ist und in Gefahr schwebt, kann nur erhalten werden durch ihn" (1,336). Erhebung über die zeitlichen Güter und die Hingabe an das Ewige, Ertötung aller Furcht vor dem Tod und vor nachteiligen Folgen, dagegen Gottesfurcht, das heißt Liebe des Herrn, Vertrauen zu seiner Weltregierung und Achthaben auf seine Stimme im Gewissen, das ist eS, womit diese politische Predigt in Zeiten der nationalen Niederlage das Volk ausrüsten möchte. Da er-

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

hebt sich der Prediger, dessen theologische Stellung zum Alten Testa­ ment so gebrochen war, zu wahrhaft alttestamentlichen Klängen. Er „feiert" den Beginn des „Kriegsstandes" und hofft, es „werde nun Gott reuen des Unglücks, das er unö gedachte zu tun" (4,74). Am besten läßt sich das Pathos ermessen auS dem von Eylert überlieferten Bericht* von einer Predigt beim Ausmarsch von Freiwilligen, die uns leider sonst nicht erhalten ist: „Und als er zuletzt noch mit dem Feuer der Begeisterung die zum Kampfe gerüsteten edlen Jünglinge an­ redete, dann an deren großenteils anwesende Mütter sich wandte, und mit den Worten schloß: .Selig euer Leib, der einen solchen Sohn getragen, selig eure Brust, die ein solches Kind getränket hat', — da durchzuckte es die ganze Versammlung, und in das laute Weinen und Schluchzen derselben rief Schleiermacher sein versiegelndes Amen". — Wenige politische Predigten aus der Zeit nach den Freiheitskriegen sind noch erhalten. Es sind Predigten uneingeschränkter Fürstentreue, Warnung vor reaktionärem Mißtrauen und vor allem Betonung der Tugenden, auf die der Staat gebaut ist, des frommen Sinnes, dessen Pflege auch den Fürsten seit vierhundert Jahren am Herzen liegt. — Wie ein erratischer Block liegen diese verhältnismäßig wenigen Zeitpredigten inmitten der anderen, in die das Rauschen der Geschichte nur von ferne herüberklingt, oder in welchen eS meist überhaupt nicht vernehmbar wird. Um so unerwarteter mag dieses energische Ringen um den Sinn der Stunde, um den Willen Gotteö in der Geschichte er­ scheinen. Die hier vertretene Anschauung vom ursächlichen Zusammen­ hang sittlicher Haltung mit dem Schicksal ist idealistisches Gut. Die Frage nach dem Sinn der Führung Gottes ist biblisches Erbe. In ihr lebt ein Stück von dem Glauben Hiobs und der Psalmen fort. Die Antwort lautet: Gott ist der absolut Sittliche. Die Bahn der Tugend verlassen zu haben ist die Bußerkenntnis im Unglück. Aber der Führung des gerechten Gottes dürfen wir uns anvertrauen, wenn wir seine Wege wandeln — das ist die Wegweisung für die Zukunft. Über dem Ganzen aber liegt der frohe Glanz unbedingter Zuversicht. Der Toten des Krieges wird hernach kaum gedacht, abgesehen vom Totenfest, dessen Einführung in Preußen seit 1817 ursprünglich dem Gedächtnis der Gefallenen galt. Eö ist im Grunde heitere Ruhe, die sich über diese Geschichtsauffassung breitet. Sie gewährt inneren Frieden im äußeren Streit. Etwas anderes mag sich dem Betrachter nach 120 Jahren auf-

1 Abgedruckt bei I. Bauer, P. P. 97 ff.

4. Predigten über den Tod

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drängen. Wie einfach lagen doch damals die politischen Fronten! Wie eindeutig fällt die Entscheidung! Wie unmittelbar kann sittliche Weisung gegeben werden! Wie steht das politische Urteil hier unter ausschließlich sittlichen Grundsätzen! Das Leben des Vaterlandes ist zu schützen, aber nicht unbesehens, sondern weil ihm Unrecht geschehen ist. Sein Krieg ist nicht ohne weiteres, sondern sofern er ein recht­ schaffener Kampf ist, gutzuheißen. Preußen, so wird nachmals be­ tont, hat viel getan „zur Befreiung Deutschlands, zur Sicherung Europas" (4,85). Es ist die Zeit der heiligen Allianz, für welche Napo­ leon das böse Prinzip, die Ausgeburt der Revolution war. Gegen ihn ist der Krieg ein sittlicher Krieg. Schleiermacher blieb in nachmaliger Zeit unter den reaktionären Verdächtigungen selber nicht unangefochten. Wie selten kehren solche Stunden wieder, wo die Predigt zu allen sprechen kann von gemeinsamem Schicksal! Es ist — an der ungewöhnlichen Eigenschaft Schleiermachers und an der unbeschwerten Freiheit seiner Textauölegung wird daö sichtbar — die politische Predigt der über die Predigt verhängte Ausnahmezustand. Die politische Predigt hat ihre Zeit. Aber sie ist ein Gleichnis dafür, daß auch die Völker Gotteö Stimme hören sollen. Diese Aufgabe der Kirche hat Schleiermacher erkannt. Auch wenn uns Heutigen keine gleiche Eindeutigkeit der Lage beschert ist, so wird die Kirche nicht wieder hinter die breite Linie Schleier­ machers zurückweichen dürfen, um sittliche lind soziale Rezepte zu geben, die ihr niemand abnimmt.

4. Predigten über den Tod Für das Bild des Menschen wie für die Stärke und Begründung des evangelischen Trostes ist cs bei einem Prediger schlechterdings ent­ scheidend, waö er über den Tod zu sagen hat. Denn im Tod werden die Grenzen der menschlichen Existenz und ihre Hinfälligkeit sichtbar, gleich wie in der Predigt über den Tod der Grund der christlichen Hoff­ nung überhaupt entscheidend zur Geltung kommen muß. So wird sich hier bei Schleiermacher zum Abschluß noch mancher Einblick in seine Auffassung vom Menschen und vom Evangelium ergeben. Man könnte freilich die Hochspannung solcher Erwartung unter Berufung auf die theologische Theorie des Predigers bestreiten. Schon in den „Reden" über die Religion, gegen Ende der zweiten Rede, sehen wir den Unsterblichkeitögedanken kurz und radikal abgelehnt, sofern er — was ja doch sein Begriff ist — die persönliche Fortdauer deö einzel­ nen über den Tod hinaus besagen soll. „Ihre Sehnsucht darnach ist

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

ganz irreligiös, dem Geiste der Religion gerade zuwider ... sie sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein alö sie selbst und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität" (95). „Das Leben, das sie erhalten wollen, ist ein erbärmliches, denn wenn es ihnen um die Ewigkeit ihrer Person zu tun ist, warum kümmern sie sich nicht ebenso ängstlich um das, waS sie gewesen sind, als um das, waS sie sein werden, und was hilft ihnen das vorwärts, wenn sie doch nicht rückwärts können?" (96.) Die Tendenz dieser Sätze ist klar. Der persönliche Unsterblichkeitsglaube übersteigert den Jndividualitätsgedanken in einer philosophisch wie religiös untragbaren Weise. Er ist eine metaphysische Idee, welche logisch nicht schlüssig ist, da sie auch die persönliche Präeristenz forderte. Er hat aber auch als metaphysische Idee mit Religion gar nichts zu tun. — Was die Glaubenslehre über den Tod bezw. über den Zustand nach dem Tode zu sagen hat (§ i;8), ist wohl dem Wortlaut nach von der Auffassung der „Reden" verschieden. Die Verschiedenheit besteht vor allem in drei Umständen: einmal, die persönliche Fortdauer der menschlichen Persönlichkeit wird gelehrt, aber sie wird gleichzeitig nur auf die Ver­ einigung deS göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christo gegründet und diese Fortdauer wird schließlich dem ganzen mensch­ lichen Geschlechte zuerkannt. „So bleibt allerdings der Erlöser der Vermittler der Unsterblichkeit, nur nicht für diejenigen allein, die schon hier an ihn gläubig werden, sondern für alle ohne Ausnahme" (§ 158,2). Dies letzte freilich ist richtig zu verstehen. Schleiermacher sagt im selben Zusammenhang: „Der menschlichen Natur" kommt „die persönliche Unsterblichkeit" zu. Die Tragweite dessen ermessen wir auö einem Satz deS §118,3, wo im Zusammenhang der Erwählungslehre die Frage der Unsterblichkeit berührt wird. Hier heißt eS im Hinblick darauf, daß die Ausgeschlossenen nach dem Tode einem unseligen Schicksale verfallen sollen, folgendes: „Läge auch hier eine Spaltung der mensch­ lichen Natur in zwei ganz ungleiche Teile zugrunde: so bleibt doch das partikularistische in der Erlösung stehen, welche nur einigen nicht allen Seligkeit und Unsterblichkeit miteinander gewähren kann." Das also ist Schleiermachers Interesse: Die Einheit der menschlichen Natur darf nicht verloren gehen. Daö Individuum aber ist ja nur ein Modus dieser Natur, keinesfalls eine Störung ihrer Einheit. Wenn der „Per­ sönlichkeit" auch Fortdauer zuerkannt werden mag, so gilt sie doch nur im Zusammenhang jener „Einheit", und rührt ganz gewiß nicht her „aus dem Interesse des himmlischen Selbstbewußtseins an der Fort­ dauer der Persönlichkeit". Denn solche Versuche sind „wenn auch edler

4. Predigten über den Tod

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als die jüdischen und mohammedanischen, doch immer sinnlich" (§ 158,3). Die Verschiedenheit des Wortlautes zwischen „Reden" und „Glaubenslehre" erweist sich bei genauem Zusehen hierin somit als Schein. — Schleiermacher hat uns überaus zahlreiche Predigten über den Tod hinterlassen. Daß sie vorwiegend seinen letzten Jahren angehören, mag mit der Einführung des Totenfestes zum Jahre 1817 zusammen­ hängen, doch mag man umgekehrt auch auf die verhältnismäßig wenigen Todespredigten auS früheren Jahren nachdenklich den Finger legen1. — Die Predigten haben neben der Frage nach dem Zustand nach dem Tode vor allem den Blick auf das eigene und fremde Sterben gerichtet. Darum unterscheiden sie sich begreiflicherweise von der Glaubenslehre, die sachgemäß nur das erste im Auge haben kann, dadurch versprechen sie aber auch für unsere Kenntnis Schleiermacherö einen Ertrag über die Glaubenslehre hinaus. Wir beschäftigen uns zunächst mit dem ersten, mit der Hoff­ nung eineö Fortlebenö nach dem Tode. Daß Schleiermacher auch von der Kanzel aus davor warnt, sich unhaltbaren und unbeweis­ baren sinnlichen Vorstellungen hinzugeben, wird uns nicht besonders überraschen (z. B. Bauer, U. P. 11). „Nicht rede ich hier . . . von der Wiedervereinigung mit unseren entschlafenen Geliebten in einem Zustande, den wir so wenig kennen, weil er über alles so hinausliegt, was in das Gebiet unserer Anschauung und Erfahrung fällt" (10,669). Vor allem gehört die Predigt „Über daS Verlangen nach Kenntnis

von jener Welt und nach Gemeinschaft mit derselben" (4,371) hierher, deren erster Teil eine ausführliche Begründung ihrer Unerkennbarkeit bietet, deren zweiter Teil auf Grund des Textes (Luk. 16,19—31) das Wort Gottes als einzigen Weg zur Seligkeit zeigt. — Wichtiger als die negative Predigt, die da und dort laut wird, daß wir über den Zu­ stand nach dem Tod nichts wissen können, ist natürlich dies zweite, daß wir in Christo Zugang zur Hoffnung haben. „Und in diesem Wogen zwischen Hoffnung und Furcht bewegten sich die Geschlechter der Menschen und hätten sich immer bewegen müssen, wenn nicht Jesus gestorben wäre und auferstanden von den Toten" (Bauer, U. P. 12). 1 Die ii noch vorhandenen Totcnfcstpredigten hat I. Bauer U. P. 16 ff. mit zuverlässigen Datierungen nachgewiesen. Mit Ausnahme etwa der Predigt über „DaS Leben und Ende der Trägen" (1794—1,109) beschäftigen sich erst seit 1810 (Tod der Königin Luise — 4,42 u. 4, 52) ganze Predigten mit dem Tode. Besonders ist auch auf die 6 erhaltenen Grabreden (4, 858 ff.) hinzu­ weisen.

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

Wer von Christo ergriffen ist, kann beruhigt sein über die Trennung des Todes, führt der dritte Teil der Totenfestpredigt von 1823 (4,403) aus. So kann Schleiermacher geradezu die Predigt über Joh. 11,16 „Vorschriften für den Schmerz bei dem Verlust unserer Brüder" (2,597) nur auf das Hinscheiden derjenigen beschränken, „welche schon unsere Mitarbeiter geworden sind an dem Werke des Herrn", also auf den Tod der Christen. Indessen, das ist keine grundsätzliche Ein­ schränkung. Im Gegenteil sahen wir soeben, welchen Nachdruck die Glaubenslehre auf die Einheit deö Menschengeschlechtes legt. Zwischen Gläubigen und Ungläubigen ist bei Schleiermacher stets nur ein Grad­ unterschied, und was Christus als Erlöser gewirkt hat, hat er für die Menschheit gewirkt, auch wenn es jetzt noch nicht deutlich in Erscheinung tritt. Diese Grundanschauung gibt nun auch den Predigten über die Hoffnung auf Leben nach dem Tode gelegentlich eine eigenartige und seltsame Wendung. In der Totenfestpredigt von 1823 „Trost und Freude in Bezug auf unsere Entschlafenen" über Joh. 6,39s. (4,403) kommt der Prediger einleitend auf die Doppelsinnigkeit des Wortes „Auferstehung" zu sprechen, das im Sinne leiblicher Auferstehung, aber auch als „Erwachen aus dem geistigen Tod zu dem neuen Leben" verstanden werden kann. Beides hält Schleiermacher für zutreffend und im Text ausgesprochen. Das Wort Jesu „daß ich eö auferwecke am jüngsten Tage" gilt allen unseren Entschlafenen ohne Unterschied. ES gibt Anlaß zu einer allgemeinen Freude über die Seelen, die der Vater dem Erlöser gegeben hat. Das andere aber „Wer den Sohn siehet und glaubet an ihn, habe daö ewige Leben" gilt denen, welche sich selbst dem Erlöser gegeben haben, und bedeutet eine besondere Freude. Schleier­ macher verkündet damit nicht mehr und nicht weniger als eine doppelte Auferstehungöhoffnung, waS um so seltsamer ist, als bei genauem Zusehen beide zusammenlaufen. Die „allgemeine" AuferstehungSfreude umfaßt nämlich für ihn vor allem die unentwickelten Kinder, die doch der Vater dem Erlöser gegeben hat. „Ehe das Auge des Geistes ihnen so weit eröffnet worden ist. . . schließen sie das leibliche Auge .... Der Herr aber gibt uns die Verheißung, das geistige Auge, welches bestimmt ist, ihn zu erblicken, bleibe nicht auf immer geschlossen" (4,406). Ebenso gelten ihm ungläubige Erwachsene als „Kinder in der höheren Selbsterkenntnis", „und als solche Kinder verlassen sie nun das irdische Leben. Darum, auch sie wird der Herr nicht verlieren, denn der Vater hat sie ihm gegeben" (4,409). Wenn also auch diese zum Leben eingehen, so möchte man fragen, was ist dann der Vorzug, oder doch wenigstens der Unterschied der Gläubigen? Die Auskunft ist

4- Predigten über den Tob

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typisch für Schleiermacher: ihnen wird das ewige Leben „schon jetzt" zuteil. Denn das Jeitlich-werden des Ewigen ist für ihn ja das Wunder schlechthin. Diese kann der Herr dem Vater darstellen wie sie sind, die andern hingegen geheiligt, gebessert. — Der Gedankengang — anders begründet — begegnet unö in der überaus eigenartigen Toten­ festpredigt von 1829 (Grosser, Bd. 2,478) über I. Petr. 1,24s. wieder. „DaS Wort bleibet ewiglich", und zwar das Wort, daö nicht von dieser Welt ist, zunächst „Lasset unS Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei". „Und dieses Wort Gott, das unter uns verkündiget ist, bleibt ewiglich, aber es bleibt auch überall ewiglich, wo es ist, und eS zieht mit sich empor aus der Vergänglichkeit den Geist, in welchen: es seinen Sitz bekommt" (483). Aber das Ebenbild Gottes war ge­ sunken, die Liebe GotteS erstickt. Obne das fleischgewordene Wort wäre das Bewußtsein Gottes in der menschlichen Seele nicht auf­ gegangen. „Eines ist der Anfang, eines die Vollendung, aber er ist das A und daö O, der Anfang und die Vollendung. Er spricht: Wo ich bin, da sollen auch die sein, die du mir gegeben hast. Er ist es, der alle der Vergänglichkeit entreißt und mit sich in die Ewigkeit zieht." Wir haben also auch hier diese eigenartige Doppelung der AuferstehungsKoffnung. Wie fest diese Anschauung bei Schleiermacher saß, sehen wir aus dem Zeugnis der Totenfestpredigt von 1825 über Joh. 11,15—27 (9,251). Da heißt es von der Antwort Marthas „Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tage" folgendes: „Das ist denn auch der allgemeine Trost der Schwachen. . . Aber ein anderer ist er doch so, wie ihn andere Menschen auch fassen und haben, wie denn die Ahndung davon mehr oder minder deutlich durch alle Geschlechter der Menschen hindurchgeht, und ein anderer ist er in den Jüngern des Herrn. Eben diesen Unterschied hebt dann Jesus bervor mit seinen Worten „Ich bin die Auferstehung (9,261). Diese ungewöhnliche, optimistische Todeöpredigt wird Fragen wachrufen; wir fragen zunächst nach der Vollendung derer, die in leiblicher oder geistiger Unvollkommenheit, als Kinder und Ungläubige, sterben. Schon in der Totenfestpredigt von 1820 (Bauer, U. P. 15) wird der Vorgang der Vollendung beschrieben. Wie nämlich der Tod gewöhnlich die Züge der sterblichen Hülle verklärt, „so verklärt er auch in den Seelen das Bild der Hingeschiedenen, und was wir zurück­ behalten, das ist das Gefühl von der Kraft des Geistes, die sich noch herrlicher würde bewährt haben in dem Sieg über alle menschliche Schwachheiten, wenn ihr noch mehr Raum wäre vergönnt gewesen in dem irdischen Leben". Man wird sich wundern, daß hier die Kraft

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

der Erinnerung gleichbedeutend gesetzt ist mit der heiligenden Kraft des Geistes. Aber zwei Jahre später spricht Schleiermacher denselben Gedanken noch umfassender aus in der Totenfestpredigt von 1822 über Phil. 3,12—14 (10,657). Hier wird ganz deutlich der Unterschied unter den Ungläubigen und Gläubigen hingestellt als Unterschied deS Entwicklungstempos und der Entwicklungsdauer. Wenn der Sieg über das Fleisch nicht zum Ziele kam, so vollendet eben die Erinnerung gleichsam hpyothetisch das vorzeitig abgebrochene Werk des Geistes. Ohne dieses Bild führt die schon besprochene Totenfestpredigt des folgenden Jahres eindringlich vor Augen, daß der Anfänger und Voll­ ender unseres Glaubens gemäß göttlicher Verheißung nichts verliert, was der Vater ihm einmal gegeben hat (4,408 ff.). Und noch 1828 bestätigt die Predigt desselben Tages energisch die gleichen Trost­ gedanken: 4,266 ff. Im einzelnen mag die hier wiedergegebene Begründung der Schleiermacherschen Predigt nicht stichhaltig erscheinen, man würde sie jedenfalls unterschätzen, würde man den Trost bezüglich Voll­ endung der unvollkommenen Verstorbenen für Kanzelrhetorik halten. Steht doch ein ernstes theologisches, nach des Predigers Anschauung christliches Anliegen im Hintergrund. Es ist die schon erwähnte Ein­ heit des Menschengeschlechts, oder wie es hier meistens heißt, die „Menschheit" oder „menschliche Natur". Schleiermacher kommt hier­ auf wiederholt dann zu sprechen, wenn er unsere Hoffnung darauf gründet, daß auch der Erlöser, der Auferstandene unsere Menschheit angenommen hat. So 1820: „Er (der Mensch) hat Ansprüche über die Vergänglichkeit dieses Lebens hinaus, nachdem das Wort Fleisch geworden ist. . - Nun fühlen wir es und wissen, welcher Einigung mit dem höchsten Wesen die menschliche Natur fähig ist . . •" (U. P. 12). „Auf ihm ruht unser Vertrauen und die Ewigkeit des Lebens haben wir in ihm und durch ihn. Durch ihn und um seinetwillen war die menschliche Natur dazu erkoren und erwählt..." (Grosser, 2,483). ES ist klar, daß hierbei unsere Individualität völlig in den Hinter­ grund tritt. Unsere Hoffnung ist für Schleiermacher wirklich darauf gegründet, daß der Erlöser die „Menschheit" angenommen hat und wir an dieser Vereinigung teilhaben. Darum erklärt er die Stelle „welcher unseren nichtigen Leib verklären wird" also: „Das ist aber nicht ein Leib den wir haben, denn wir haben nicht zusammen Einen; sondern es ist der Leib, der wir zusammengenommen sind; eS ist, wie derselbe Apostel uns so oft und schön darüber belehrt, der Leib Christi deS Herrn, sein geistiger Leib, die Kirche, an welcher wir Glieder sind"

4. Predigten über den Tod

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(2/593). Diese und andere Stellen machen uns klar, daß Schleier­ macher den Tod und die Todeshoffnung auf den unzerreißlichen Zu­ sammenhang der ganzen von dem Erlöser angenommenen Menschheit gründet. Wären die Unvollkommenen, die sich langsamer Entwickelnden und vor dem Ziele Sterbenden von der Seligkeit ausgeschlossen, so wäre eben die Einheit zerrissen. Eö macht, weil der Erlöser die Mensch­ heit angenommen, keinen Unterschied aus, ob wir sagen — wie eö ja z. B. auch im ersten Teil der Totenfestpredigt von 1824 (2,585) deutlich wird — nur in Christo, oder nur in der Gemeinde sei unsere Vereinigung mit bc« Verstorbenen, unsre Hoffnung auf Auferstehung gesichert. Diese scheinbare Ausschließlichkeit der christlichen Hoffnung sprengt aber keineswegs den Zusammenhang der von Christo ange­ nommenen menschlichen Natur: Nur durch eine verschiedene Ent­ wicklungsstufe, nicht grundsätzlich und inhaltlich, ist, wie wir sahen, die „geahnte" Hoffnung der übrigen Menschen von der deutlichen bestimmten Hoffnung der Christen unterschieden. Wir halten diesen Schleiermacherschen Gedanken für die folgenden Ausführungen fest: Hoffnung für das Leben nach dem Tode hat der einzelne nur kraft des überindividuellen Zusammenhanges, hat das Individuum nur kraft des Allgemeinen. Alle biblischen Formulie­ rungen täuschen uns nicht darüber hinweg, daß es sich letzten Endes um einen philosophischen Gedanken handelt. Denn alle biblische Be­ tonung der Gemeinde und unserer Verbundenheit mit Christo läßt doch das Sterben des einzelnen in seiner ganzen Schwere und Un­ ausweichlichkeit unangetastet. Schleiermacher aber zieht das Sterben des einzelnen — weil der ganze Ton ja auf dem Allgemeinen liegt — ins Harmlose.

Damit kommen wir zum zweiten: Wie ist in Schleiermachers Todespredigten der Blick auf das eigene und fremde Sterben gerichtet? Schon in den anderen Predigten konnte man den Zug inö Harmlose beobachten. So hören wir gelegentlich in einer Osterpredigt über Luk. 24,5—6: „Wenn aber ein solcher aus den nächsten Kreisen unseres Lebens das Los aller Irdischen erfährt und seine zeitliche Er­ scheinung auö der Mitte seiner Lieben zurücktritt" — so ist eö nicht ganz derselbe Schmerz, wie derjenige der heiligen Frauen am Grabe, aber: „Ja das ist wahr und gewiß, zu einer geistigen Wirksamkeit in unserer Seele und auf unser Leben, die von allen leiblichen Schranken und Zu­ fälligkeiten befreit ist, ersteht ein jeder von unseren dahingegangenen Freunden uns auch gleich unmittelbar nach seinem Tode wieder"

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

(2,461s.). In einer Weihnachtspredigt (1832) wird der Tod, der der Sünde Sold ist, hingestellt als „Tod des Friedens" und „Tod der Liebe" (2,343), somit völlig spiritualisiert, während genau dasselbe Schristwort ein andermal (4,336 ff.) aus zeitgenössische politische Ver­ hältnisse, offenbar in Griechenland, angewandt wird, wo der Tod so vieler Menschen eine Folge besonderer „Sünde" gewesen sein soll! Alles das rührt aber nicht an die Tiefe des TodeSgedankenS. In der Predigt über „das Leben und Ende der Trägen" (1,109) von 1894 ver­ mochte Schleiermacher sogar rückhaltlos den Augenblick als „wohl­ tätig "zu bezeichnen, „der die Erde von einer unnützen Last befreit" (1,122). In den beiden Predigten von 1810, welche unter dem Ein­ druck deS Hinscheidenö der Königin Luise gehalten wurden (4,42 und 52) wird der Todesgcdanke selbst kaum berührt. Die Predigt über den Tod deS HerodeS von 1832 (3,414) bestreitet energisch jeden Gedanken daran, daß hier ein strafendes Eingreifen Gottes vorliegt, und will als Sinn der Geschichte nur das anerkennen, daß hier Gott das Ge­ webe von Schmeichelei und Lüge zwischen Volk und Herrscher gewalt­ sam zerreißt, eine Veranschaulichung der gar nützlichen Sentenz „Leget die Lüge ab und redet die Wahrheit ..." So haben wir bald den Trost durch Resignation vor uns, bald einen Optimismus, der uns schon an den Passions- und Karfreitags­ predigten ausgefallen ist. In der Predigt über das Wort des Thomas Joh. 11,16 „Lasset uns mit ihm ziehen, daß wir mit ihm sterben" (2,597) wird daö „mir ihm sterben" auf Lazarus bezogen. Sofern sich darin Ergebung in das eigene Todesschicksal ausspricht, so meint Schleier­ macher „dieses ist gewiß ein sehr richtiges Gefühl eben deswegen, weil es der Ausdruck ist von der göttlichen Ordnung in diesem mensch­ lichen Leben". Und „eine jede Empfindung, die wahr ist und überein­ stimmend mit der göttlichen Ordnung, muß auch eben deswegen die Ruhe des Gemüts, den Frieden deö Herzens erhöhen und nicht stören" (2,600). Der weitere Gang dieser Predigt, in der zunächst der Tod gleichsam als ein Glied des Lebens nachgewiesen wird, bringt dann als zweiten Trost die Ersetzbarkeit des Individuums. Sogar Christus wurde durch den Geist der Wahrheit ersetzt (2,603)! Er war „der, durch welchen daö in Erfüllung gehen soll, daß alle Täler müssen gefüllt und alle Höhen geebnet werden". Dies heißt aber nichts anderes als: „Je mehr die Gemeinschaft der Menschen sich entwickelt. . . desto mehr verringert sich der Einfluß der einzelnen Menschen" (2,604). Darauf zu trauen, bedeutet Trost und macht weise, sich in Gottes Willen zu ergeben. — Es ist auch hier nochmals deutlich, wie der all-

4. Predigten über den Tod

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gemeine Zusammenhang das Sterben deö einzelnen entwertet. Den Höhepunkt deS Optimismus erklimmt in gewissem Sinne die Predigt am Dankfest nach der Befreiung von der Cholera am Sonntag Septuagesimae 1832 über Hebr. 12,11—12. Von der „Traurigkeit" der Züchtigung ist nur im abwehrenden Sinne die Rede. „Aber daß wir nicht ohne Züchtigung bleiben dürfen. . . daS ist die Überzeugung, welche unsere Gemüter zum Dank gegen Gott stimmen soll" (4,285). Und so wird denn das ganze Choleraunglück zuerst moralisch und dann biologisch neutralisiert, moralisch, indem die ganze Fülle von Tugend und Gerechtigkeit gezeigt wird, welche das große Sterben wachgerufen hat. Sehr bezeichnend für die grundsätzliche Bewertung des TodesschmerzeS durch Schleiermacher heißt eS hier: „Freude und Traurig­ keit, der Wechsel dieser entgegengesetzten Zustände, hängt mit unserer sinnlichen Natur auf das genaueste zusammen. Wo die Freude sich so stark und lebhaft äußert, daß sie ein gewisses Maß, das uns vorschwebt, fast überschreitet, und eben so, wo wir den Menschen einhergehn sehn gedrückt und niedergebeugt vor Traurigkeit, da ahndet uns, daß es für den Augenblick wenigstens übel, ja fast gefährlich (sic!) stehe um die Gewalt deö Geistes über das Fleisch". Erst wenn unser eigent­ liches Selbstgefühl die Kraft unseres Lebens geworden ist „dann werden diese wechselnden Bewegungen des Gemüts immer mehr zurücktreten und daS sich gleichbleibende höhere Leben wird vorwalten" (4,290). Neu­ tralität des Gefühls, Gleichmaß der Innerlichkeit ist höchste Sittlich­ keit. Aber das große Sterben wird auch gleichzeitig biologisch neutrali­ siert. „Sterben doch die Menschenkinder immer und werden aus der Mitte der Ihrigen herausgerissen! Ja, daS gewöhnliche Maß deS Todes wird, schon wenn wir auf einen Umfang wie der unseres Landes ist, sehen, durch diese Seuche nur um ein Geringes erhöht worden sein . . . Laßt uns also diesen Unterschied als minder bedeutend bei­ seite stellen und dafür einen anderen ans Licht ziehen" (4,295). Und nun erinnert Schleiermacher daran, wie die Cholera alle an die Nähe des Todes gewöhnt und eine Unverzagtheit gezeitigt hat „weil das Bewußtsein in uns die Oberhand hatte, daß wir Bürger einer höheren Welt sind, welche an der Unsicherheit und Vergänglichkeit keinen Teil hat, und weil daö ewige Leben, welches wir dem verdanken, der mit demselben die wahre Unsterblichkeit ans Licht gebracht hat, auch in allen widrigen Zufällen (sic!) weit überwindet" (4,297). Dieser Stoizis­ mus kann sich dann zu dem Ausruf versteigen: „Wohlan denn meine Freunde, so sei sie uns denn willkommen, die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens: ein Geschlecht muß dem andern Platz machen auf

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I. Haupttcil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

der Erde ..." (Grosser 2,484). 3n der Tat, hier hat man den Ein­ druck, alö spräche kein Sterblicher mehr. Indessen, doch nicht immer vernehmen wir nur solche Ausforderung zur Resignation, nicht immer fordert er die Leidtragenden auf zum Lob Gottes und zum Dank für daö, was der Herr gegeben und ge­ nommen hat (4,859; 879). In der wundervollen Grabrede auf den Tod seines Söhnleins Nathanael hören wir andere Klänge. „So stehe ich denn hier mit meinem Troste und meiner Hoffnung allein auf dem bescheidenen aber doch so reichen Wort der Schrift: Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wenn eö aber erscheinen wird, werden wir ihn sehen, wie er ist! Und auf dem kräftigen Gebete des Herrn: Vater ich will, daß wo ich bin, auch die seien, die du mir gegeben hast. Auf diesen starken Glauben gestützt und von kindlicher Ergebung ge­ tragen, spreche ich denn von Herzen: Der Herr hat ihn gegeben ..." (4,883). Es ist das Trauen aufs Wort allein, was wir hier finden, und zwar nicht nur hier. Hat doch der sterbende Schleiermacher nach der Selbstkommunion im Blick auf die Einsetzungöworte gesagt: „Auf diesen Worten der Schrift beharre ich, sie sind das Fundament meines Glaubens" (Br. 11,485). Aber auch in den Predigten über den Tod wird gelegentlich die Grundlage des Glaubens im Wort auf das Stärkste betont. In der Totenfestpredigt von 1823 wird im Blick auf den Text Joh. 6,39s. — es handelt sich hierbei um die Auf­ erstehungsverheißung gerade für die Kinder und Unerweckten — be­ tont: „Darum wollen wir uns mit diesem Worte trösten" (4,409) und späterhin in deutlicher Wiederholung: „Wenn uns nun aber das Wort deS Herrn beruhigt, so wollen wir uns daran genügen lassen und nicht weiter forschen nach dem, was uns nicht nötig ist zu wissen zu unserem Trost und unserer Beruhigung". Freilich dürfte auch die negative Fortsetzung der Stelle für uns von Bedeutung sein: „Wenn die Jünger des Herrn neugierige Fragen an ihn richteten, neugierig eben deshalb, weil sie außer dem Bezirk ihres Berufes und ihrer Tätigkeit lagen: so pflegte er nur, wie wir wissen, zu ihnen zu sagen: das gebühret euch nicht zu wissen, daö hat der Vater seiner Macht vorbehalten. Das mögen wir auch auf uns anwenden und uns gesagt sein lassen" (4,410). Nicht minder gründet die Totenfestpredigt von 1829, wie wir sahen, ihren ganzen Inhalt auf das Wort: von Anbeginn an auf das Schöpfungöwort Gottes, welches den Geist aus der Vergänglichkeit zu sich emporzieht, aber vor allem auf das Wort, das unter uns verkündigt ist, welches gesagt hat: „Wo ich bin, da sollen auch die sein, welche du mir gegeben hast". Nun hat man wohl bemerkt, daß auch in der Glau-

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4. Predigten über den Tod

benSlehre (§ 158,2) der Glaube an das Fortbestehen der menschlichen Natur auf ein Wort Christi gegründet ist1.2 Mit Recht hat man auf die methodische Inkonsequenz und auf daS darin zum Ausdruck kom­ mende lebendige Verhältnis zu Jesus hingewiesen. Mit Recht hat man auch die hier ansetzenden Verdächtigungen E. Brunners? zurück­ gewiesen. Indessen ist damit noch nicht ohne weiteres der Wert dieser Schleiermacherschen Schriftverwendung inS Klare gebracht. Was zunächst die Glaubenslehre anbetrifft, so steht ja bekanntlich der Hinweis auf das „Wort" bei der Begründung der persönlichen Fort­ dauer nicht allein. Wir erinnern daran, daß auch die Auferstehung und Himmelfahrt Christi nur um deö apostolischen Wortes willen ge­ lehrt werden: „Vielmehr werden sie nur angenommen, weil sie ge­ schrieben stehen" (§ 99,2). Desgleichen sind die drei prophetischen Lehrstücke (§§ 160—162) schon nach dem Wortlaut der Leitsätze auf ausdrückliche Verheißungen Christi gegründet. Bei allen diesen Lehr­ stücken handelt eS sich aber bekanntlich um solche untergeordneten Charakters, so daß es immerhin ein noch nicht ins Auge gefaßtes Problem darstellt, ob dergleichen Berufung auf das „Wort" nicht ein Hinweis auf diese untergeordnete Bedeutung sein will. — Schwieriger stellt sich die Entscheidung hierüber für die Predigten. Wir haben auf die Einschränkung, daß die Neugierde am Wort ihre Grenze habe, hingewiesen. Hier kann natürlich daS Wort höchstes Pathos des Glaubens bedeuten, wie in der Rede am Grabe Nathanaels. Aber ob dies Wort wirklich als aller Erfahrung, allem einzelnen Glauben als dessen Halt entgegenkommendes Wort gedacht ist, läßt sich schwer entscheiden. Spricht doch Schleiermacher just in der Totenfestpredigt von 1824 von der „beständigen Wirkung deö göttlichen Geistes, von dem immer wieder erneuten Tönen seiner ersten Ausbrüche in dem geschriebenen Wort deö Herrn" (2,594). — Doch diese Frage deö Wortes hat unö schon wieder in Versuchung geführt, zu den theologischen Ur­ sprüngen Schleiermachers zurückzukehren. Wir brechen ab. Bei allem Ungenügen haben uns die Predigten über den Tod und die Hoffnung im Tode doch den starken Eindruck vermittelt, bis zu welcher Konsequenz die Schleiermachersche Anthropologie führt. Wie die Vernunft der einzelnen ein Widerspiel der Vernunft überhaupt ist, so ist der einzelne, das Individuum nur relativ zum Allgemeinen, zur menschlichen Natur. Diese aber, als von Christo angenommen,

1 Vgl. E. Hirsch, Die idealistische Philosophie und das Christentum, Güters­ loh, 1926, S. uof. Dazu W. Riesel, Iw. d. 3. 1930, S. 525. 2 Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, S. 280 f. W. Trillha aS: Schleiermachers Predigt

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I. Hauptteil: Predigt und Lehre. 5. Predigten über das menschliche Leben

wird vom Tode nicht berührt. Darum kann eö in den Predigten für Schleiermacher keine wahrhafte Begegnung mit dem Tode geben, weil der einzelne nicht allein getroffen wird, sondern zwischen ihm und dem Tod das Allgemeine fteht. Streng genommen ist gar nicht Christus sein Retter, sondern daS Allgemeine, die menschliche Natur, welche der Erlöser angenommen hat. Aber eS kommt ja bei der von Schleier­ macher gelehrten Sachlage überhaupt gar nicht bis zum Tode des einzelnen — und was heißt sonst Tod, wenn nicht individueller Tod? — weil eS — überspitzt ausgedrückt — keinen „einzelnen" gibt. In­ folgedessen lehnt auch Schleiermacher allen Separatismus, und alles Versinken in allein getragene Trauer ab (9,257), um den Zusammen­ schluß mit dem Allgemeinen nicht zu verlieren; denn in ihm liegt der Trost. Bis hierher steht also SchleiermacherS Predigt im Banne ihrer philosophischen Voraussetzungen.

Zusammenfassung: Das Bild des Menschen Wir versuchen aus den verschiedenen Gebieten des menschlichen Lebens das Bild des Menschen selber zusammenzuschauen. Eine Wahr­ nehmung wird in vorderster Linie stehen: Nirgends begegnet unS der einzelne Mensch allein. Die relativen Sphären bestimmen nicht nur die Lage deö einzelnen, sondern sie sind jeweils das Allgemeine, zu dem daS Individuelle sich als Ausdruck, als Widerspiel, als Gegen­ begriff verhält. Es ist die Dialektik der Vernunft, welche in das All­ gemeine und Individuelle auseinander tritt und niemals daS Indi­ viduelle zu gesondertem Dasein aus dem allgemeinen Zusammenhänge entläßt. Wenn auch nicht der Terminologie, so doch der Sache nach ist diese Anschauung auch in den Predigten zu finden. An keinem Punkte kann daS Allgemeine, die ethische „Sphäre", vom Individuum hin­ weggedacht werden. Die Kirche ist in ihrer Vollendung die Innenseite vollkommener Kultur, die Familie der notwendige Kreislauf des Gebens und Nehmens. In ihr bleibt keine Wirkung ohne Rückwirkung und kein vollkommener Mensch ist ohne dieses „Heiligtum" für Schleier­ macher denkbar. Auch der Staat gehört zum Menschen selber. Es ist in SchleiermacherS politischen Predigten indessen bezeichnend, wie die Sache des Vaterlandes in der sittlichen Erhebung des Individuums begriffen wird. Denn der einzelne hat ja als Vernunftwesen unmittel­ baren Zugang zur Vernunft und ihren ethischen Sphären. Zum freiesten

Zusammenfassung: Das Bild des Menschen

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Spiele individuellen Lebens ist der Mensch in der Geselligkeit berufen. Selbst im Tod beharrt daS Allgemeine, die Menschheit, und nur die Individuen selbst werden im Gange deö Naturlaufes ausgetauscht.

Heitere Ruhe wohnt dieser geistigen Betrachtung inne. Und wo Leidenschaft und sinnliche Begierde walten, und daö ist allenthalben so unter der Herrschaft deS sündigen Gesamtlebens, da sind die Züge dieses BildeS verzerrt. Erst unter dem neuen, von Christus gewirkten Gesamtleben, tritt diese geistige Betrachtung hervor. Daö ist die Wen­ dung, welche unter dem Wehen des Heiligen Geistes nach Schleier­ macher bewirkt wird. Und im Zuge dieser Wendung, oder wie wir besser sagen werden, dieser Entwicklung, steht die Predigt als wichtigstes Glied. Geistige Wirkung will sie üben, Mäeutik — wenn dies Wort nicht intellektualistischem Mißverständnis ausgesetzt wäre. — Wir erinnern uns aus den Predigten über den Tod, wie hier ein­ mal davon die Rede war, daß daö Werk des Geistes an den Menschen, ihre Vollendung, in Beziehung gesetzt war zur Verklärung ihres BildeS in der Erinnerung. Und dieses verklärte Bild — so hieß es dort — wird fortan immer mehr auf uns wirken. Dies scheint uns für die Betrachtung deö Menschen bei Schleiermacher, und besonders für seine Predigten, typisch zu sein. Der Mensch wird um seines verklärten Bildes willen geliebt. Um dieses BildeS willen geht der Erlöser zu den Menschen ein. Um dieses Bild herauszuarbeiten aus der Ver­ zerrung durch sinnliche Leidenschaft, dazu soll das neue Gesamtleben mächtig werden. — Einsamer Todesschmerz, Angst um das Heil der Seele, alles waS den Menschen tief beschwert, das ist für Schleier­ macher sündliche Blindheit, welche durch die Predigt behoben werden soll. Die Predigt ist gleichsam eine Durchhilfe durch die Verworren­ heit zur Klarheit, durch die Bewußtlosigkeit zur Bewußtheit, ein Hin­ wegheben des verhüllenden Schleiers von dem Bilde deö Menschen, dessen Urbild der Erlöser ist.

Aber wie, wenn es nicht so wäre? Wenn die ganze Einsamkeit und Zerrissenheit deö Menschen, die Versunkenheit des Menschen in Sünde, wenn seine Todeönähe und Todesangst nicht nur Trug und Schein wäre, hinter dem die Wahrheit sich in beglückendem Lichte birgt? Wie, wenn daS alles unsere wahre Lage vor Gott wäre, was für einen Sinn hätte dann die Predigt? Was hätte dann ihr Inhalt uns zu sagen? Was wäre dann ihr Wort, und warum müßten wir dann nach diesem Worte der Predigt noch Verlangen tragen?

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II. Haupttcil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

Noch ein Punkt wäre zu nennen, wo daö System dieser Ver­ kündigung offen steht. Schleiermachers Lösung ist von überragender Geschlossenheit, trotz unserer vorläufig offen gelassenen Frage. An einem Punkte aber mußte er sich mit einer von außen hinzukommenden fremden Gewalt beschäftigen. Wir meinen das Wort deö Textes vor der Predigt. Wie ist Schleiermacher mit dem Worte der Bibel fertig geworden? Diese Frage wirft unö förmlich an den Ausgangs­ punkt unserer Untersuchung zurück. Mit den damit auftauchenden hermeneutischen, exegetischen und methodischen Fragen wollen wir unö nun im 2. Hauptteile befassen.

II. Hauptteil.

Predigt und Text

6. Kapitel Die Behandlung des Textes Wie ist Schleiermacher mit dem Worte der Bibel fertig geworden? Diese Frage stand am Schluß des i. Hauptteiles „Predigt und Lehre" noch offen. Sie ist das Problem der folgenden Kapitel. Ohne daö kirchliche Amt, ohne die Predigtverpflichtung Schleiermachers hätte sich kaum von hier aus für ihn eine Schwierigkeit ergeben. So aber liegt hier eine eigenartige Welt vor, die schon vor dem System, auch schon vor der geschlossenen Anschauung vom Christentum da war, und die durch die Predigt wie über eine Brücke mit uns, unserem Denken und unserer Christlichkeit in Beziehung zu treten sucht. Wie ist Schleier­ macher über die Predigt mit der Bibel übereingekommen? Wie hat er die Bibel „verstanden" und wie hat er von der Bibel aus unser Christentum, unser Leben angesehen?

1. Die Einheit der Predigt Schleiermacherö Ausführung seiner homiletischen Gedanken in der „Praktischen Theologie" (222 ff.) setzt ein mit der Frage nach der Einheit der Predigt oder, wie er zu sagen pflegt, der religiösen Rede. Diese Einheit ist eine doppelte, eine objektive und eine subjektive. Die objektive, nach außen hin sich darstellende Einheit ist die Bedingtheit des Ganzen durch daö Mannigfaltige. Man könnte, da ja diese Ein-

i. Die Einheit der Predigt

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heil einer Rede wohl auf gedanklichem Gebiet gefunden werden muß, wohl meinen, im Begriff sei diese Einheit zu finden. Indessen ent­ spricht der Begriff dem Wesen der Belehrung, er wäre etwa in einem Lehrgang der rechte Einheitspunkt. Anders in der religiösen Rede, welche nach SchleiermacherS bekannter Auffassung der Befriedigung deS religiösen Bewußtseins der Gemeinde dient, waö durch „Dar­ stellung" geschieht, wie wir sahen. Der Begriff ist niemals Darstellungömittel, wohl aber vermag dies bei der Rede eine Gedanken­ reihe zu sein, praktisch gesprochen also etwa ein Urteil oder eine indirekte Frage. ES ist die Einheit im Thema. Die subjektive Einheit liegt hinter der objektiv-thematischen. Wie Schleiermacher in der Hermeneutik die psychologische Auslegung neben oder hinter der grammatischen betont, so hier hinter der ob­ jektiven Einheit deS Themas die subjektive Einheit deö Bewußtseins: sie ist der „innerste Keim der selbsttätigen Produktivität", die Einheit deS Zustandes, aus welchem die Rede erwachsen ist. Es ist klar, daß eS sich bei dieser Frage der Einheit nur um zwei Seiten der selben Sache handelt, zwischen denen wohl einmal eine Verschiebung entstehen kann, die aber doch im Idealfall zusammenfallen. Von hier aus gewinnt jedoch die Predigttheorie, mindestens im Technischen zunächst, eine objektive und subjektive Seite, woraus sich für Schleiermacher insoferne ein gewisses Problem ergibt, als die ob­ jektive Einheit bei einer Reihe von Predigten fehlt. Es handelt sich um die altkirchlich-patristische Predigtform der Homilie. DaS Thema repräsentiert die Einheit, aber erst die Einheit von Text und Thema ist die vollkommene Einheit. Auch die Textwahl ist eine Frage, welche auf die objektive Seite der Theorie gehört. Schleiermacherö Meinung hierüber ist kurz die, daß der Gebrauch der Apo­ kryphen unnatürlich sei, denn wenn diese ins Zentrum rücken, wird die eigentliche Bibel verdrängt. Die Apokalypse wäre deshalb ein un­ glücklich gewählter Stoff, weil die hier überwiegenden sinnlichen Vor­ stellungen deö religiöse Gefühl verwirren. Daß daö Alte Testament überhaupt für unsren Prediger als vorchristlich und jüdisch-gesetzlich ausscheidet, ist bekannt. Wohl hat Schleiermacher über die Einteilung der Predigten in unterrichtend-überzeugende und in belehrende, oder dogmatische und moralische sich in seiner Praktischen Theologie verbreitet (245), ebenso über die verschiedenen Dispositionsregeln*, aber diese Betrachtungen 1 Schl. f)at die logischen Dispositionsregeln nicht nur kritisiert (253 ff.), sondern in der Regel selbst nicht befolgt.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

sind doch bei allen Feinheiten im einzelnen nur soweit interessant, alö sie zeigen, wie wenig Schleiermacher hier selbst interessiert war. Wir werden statt dessen gut tun auf seine Bewertung des Textes und seine Anschauung über die Textgewinnung Acht zu haben. Wir sahen schon zu Anfang unsrer Untersuchung, daß sich Schleiermacher für die Text­ gebundenheit der Predigt einsetzt. „Der Text darf nicht verschwinden, weil er die äußere Gewährleistung für die Kirchlichkeit der Rede liefert" (P. Th. 233). Dieser gewichtige Satz bedarf der Begründung. Sie erfolgt alsbald durch eine seltsame Abschwächung: „Anders ist es bei religiösen Reden, die Familiensachen sind; da existiert kein be­ stimmter Zusammenhang mit dem Kultus und gibt es für die Kirch­ lichkeit der Handlung andere Gewährleistung im Symbolischen dabei" (233), oder wie es bei Erörterung der Kasualien einfach heißt: „Der Text ist in der Handlung, und da diese einen schriftmäßigen Grund hat, so bedarf es nicht eines besonderen Textes" (325). Noch eine zweite Einschränkung in andrer Art finden wir hinzu­ gefügt. Nämlich die Heilige Schrift ist, abgesehen von der vorgedachten Einschränkung des Textgebietes, in voller Freiheit zu brauchen. „Auch die älteste Kirche hat zugegeben, daß man von Schriftstellen Gebrauch machen könne ganz außerhalb eines gewissen Zusammenhanges; selbst im Neuen Testament in der Gebrauchsweise der alttestamentlichen Stellen fanden wir dies. Dies Recht darf sich auch der christliche Prediger nicht nehmen lassen" (236). Man wird sich diese kurze, aber bedeut­ same Stelle merken müssen. Aber eben diese Einschränkungen lassen nun mit aller Energie nach dem wahren Sinn des Textes fragen. „Im Gebrauch des Textes liegt eine Assimilation zwischen der heiligen Schriftftelle und dem Redenden, und sowohl der Ton als die Stärke des religiösen Bewußtseins im Redenden ist eine Nachkonstruktion von beidem im Urheber des Textes" (235). Es hat also einen heimlichen Sinn, daß der Text nach Schleiermacher „die subjektive Seite der Ein­ heit der Rede repräsentiert" (ebd.). Er ist nicht diese subjektive Ein­ heit, denn die ist im Zustand des Redenden, ist der innerste Keim seiner selbsttätigen Produktivität. Aber der Text „repräsentiert" diese Ein­ heit, ist ihr Platzhalter und ihre Erscheinungsform. Dies ist nur mög­ lich bei einer ganz eigenartigen Affinität zwischen dem Gehalt des Textes und dem Zustand des Redenden. Und so lesen wir denn auch: „Wenn eö wahr ist,. . . daß bei einem richtigen Gebrauch deS Textes der Gemütszustand des Redenden verwandt sein muß mit dem Zu­ stand, aus dem der Text hervorgegangen ist: so wird der richtigste Ge­ brauch deS Textes nur der sein, wobei diese Verwandtschaft ist" (235).

i. Die Einheit der Predigt

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Der Text ist somit nicht das Erste, das Gegebene bei der Entstehung der Predigt. Bei der von Schleiermacher vorausgesetzten „Verwandt­ schaft mit der Schrift" (241) kann der Text sich dem Geistlichen so darstellen, „daß er eine Folge war von dem Bewußtsein, welches er hatte" — seine Gedankenreihe kann aber ebenso aus dem Text sich erst ergeben. Man kann Schleiermacher so interpretieren, daß man sagt: Das religiöse Bewußtsein sei ein Continuum, die Predigt eine Be­ wußtseinssteigerung darinnen. Ein „absoluter Anfang" darf also nicht vorkommen (244). Von da aus gesehen ist dann natürlich die ganze Bibel sowohl in ihren historischen als auch didaktischen Teilen nicht historisch oder didaktisch, sondern eben religiös aufzufassen. Sofern Schleiermacher im Historischen daö speziell Praktische, im Di­ daktischen jedoch daS Allgemeine findet, kann er auch so sagen: „Das Historische kann nur seinen Nutzen haben, indem eS didaktisch genommen wird, und das Didaktische nur, indem es in daS Leben und das Ge­ schichtliche geführt wird" (247). DaS Allgemeine soll überhaupt in der religiösen Rede durch daö Individuelle gebrochen werden, aber die Vollkommenheit der Aus­ führung wird sich gerade in der unendlichen Mannigfaltigkeit be­ währen. — Daö Thema ist umso besser, je mehr es mit dem Text eine Einheit bildet. Aber zu manchem Thema gibt eö viele Texte und um­ gekehrt. Schleiermacher macht keinen Hehl daraus, daß er daö aus­ gesprochene Thema und die Disposition dann für unnötig hält, wenn vorhandener Kunstsinn und Interesse am Gegenstand die Rede über­ schauen. Was ist an dieser aufs Wesentliche zurückgeführten Homiletik das theologisch Bedeutsame? ES ist die subjektivistische Theorie deö Textes, oder deutlicher gesagt: eS ist die Lehre von der Analogie von Text und Bewußtsein. Diese Theorie gibt unö nach den verschiedenen Richtungen Probleme auf: Welches System der Textdeutung muß bei dieser Auffassung gelten? Was heißt Analogie? Und wre ist vor allem die Theorie deö „christlichen" Bewußtseins bei Schleiermacher geartet? —

Beispiele Wir bemerken bei Schleiermacher — von seinen Homilien ab­ gesehen— eine Neigung zu kurzen Texten von 1—2, höchstens 3 Versen. Daö Maß der längeren — in der Regel historischen — Texte, wie sic fast ausnahmslos den Predigten der dritten Sammlung (1814) zu­ grunde liegen, erklärt sich meist aus dem größeren Umfang der Ge-

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

schichte. Wir finden dann meistens derartige Texte typisch, moralisch oder psychologisch gedeutet. Das Thema zu Luk. 23,44—49 (2,442) lautet etwa: „Betrachtung der Umstände, welche die letzten Augen­ blicke dcS Erlösers begleiteten". Die Weihnachtöpredigt über Luk. 2,15—20 (2,329) behandelt „die verschiedene Art, wie die Kunde von dem Erlöser ausgenommen wird". Eö versteht sich, daß diese be­ trachtende Form der Textbehandlung um daS Schema der Auslegung und Anwendung nicht herum kommt, auch dann, wenn beide Seiten des Schemas nicht ohne weiteres sichtbar als Teile auseinandertreten. Letzteres kommt bei Schleiermacher jedoch gar nicht selten vor, so wenn eine Predigt über das Gespräch Jesu mit der Samariterin am Brunnen (3,175) eingeteilt ist in die Geschichte und die Belehrung daraus. Die Einsetzung der Almosenpfleger Apostelg. 6,1—5 wird typisch genommen für die Art und Weise, wie in der christlichen Kirche Verbesserungen in menschlichen Dingen zustande kommen (3,316, ebenso 10,37). Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Sie alle führen uns aber wieder auf das hin, was wir als Grundfrage der Schleiermacherschen Schriftauslegung inö Auge faßten. Es ist die Ähnlichkeit des Zu­ standes, auö dem die Schrift entstanden ist, mit dem unseren. Das damalige „Leben" kann mit dem christlichen Leben heute verglichen, Betrachtungen über jenes können auf dieses angewandt werden. Die Haltung dem Text gegenüber ist bei Schleiermacher grund­ sätzlich die größter Treue. Dieö läßt sich einfach durch den großen Homiliennachlaß und durch die zahllosen biblischen Belege und Rede­ wendungen erhärten, die jedem in die Augen springen, der eine Schleiermachersche Predigt aufschlägt. Man muß aber weiter beobachten, wie Schleiermachers Themata oft nur Scheinthemata sind, die sich bei näherem Zusehen als bloße Thematisierung und Ordnung des Textes erweisen. DaS sind keine „Themata" mehr, wenn es heißt „Die eigentümliche Beschaffenheit der Vorschrift deS Herrn, Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen" (3,84), oder „Wie genau unsere festliche Weihnachtsfreude damit zusammen­ hängt, daß der Glaube, daß Jesuö Gotteö Sohn ist, der Sieg ist, der die Welt überwindet" (3,763)T. Der ganze 3. Band ist ein einziger Be­ leg solcher „Themata", sämtliche Predigten sind tatsächlich ohne Über­ schriften. Eö bestätigt sich also, daß Schleiermacher der Frage des Themas auch praktisch nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen hat. 1 Es ist daher abwegig, wenn das „System d. prakt. Theologie" von 5. Steinbeck (Bd. II, Leipzig 1932, S. 49), diese „Themata" ernst nimmt.

i. Die Einheit der Predigt

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ja, daß seine Predigttätigkeit geradezu biblizistische Züge aufweist. Wir kommen hierauf später zurück. Freilich wollte Schleiermacher kein Sklave des Bibelwortes sein. Schon seine homiletische Theorie gibt die Freiheit, zum Thema nach­ träglich den Text zu wählen, und vor allem den Text außerhalb des Zusammenhanges, gleichsam als Motto, zu gebrauchen. Schleiermacher sieht das nicht als Widerspruch zur biblischen Haltung — wie wir sagen würden — an, sondern als eine erlaubte Freiheit auf der Grundlage lebendigen Schriftverkehrs überhaupt. Trotzdem wird zu urteilen sein, daß im Schleiermacherschen Predigt­ aufbau zwei entgegengesetzte Wege vorliegen. Der Biblizist Schleier­ macher baut das christliche Leben von der Bibel her auf, der Ethiker — wenn wir einmal so sagen dürfen — richtet das christliche Leben nach der Heiligen Schrift auö, er sucht von hier aus nach biblischen Richt­ punkten. In der Unterscheidung von Predigt und Homilie ist der Gegen­ satz im Prinzip angedeutet, wenn schon inhaltlich der Gegensatz der Richtung den der formalen Gattungen durchkreuzt. Jedenfalls stellen die Hausstand- und Augustanapredigtcn den Typus dar für jene Predigten, denen der Text nachträglich beigefügt ist. Hierzu zählen ferner die meiste» Predigten über alttestamentliche Stellen aus früherer Zeit, bekanntlich nicht wenige. Es sind jene „an­ tiken" Reflexionen, wie sie sich auch in der i. Sammlung von 1801 (z. B. i,n) finden, und wie sie den patriotischen Prediger kennzeichnen. Hier sind den Predigten über Tugenden Schriftworte nur hinzuge­ fügt. Z. B. über Gemcinsinn Eph. 2,19 (1,218), über Furchtlosigkeit Mt. 10,28(1,277), über vaterländische Pietät Mt. 24,1—2 (1,353)1 2. Späterhin begegnen Texte, die eigentlich nur die Bedeutung eines Mottos haben, so zur Neujahrspredigt „Gott, der allen Dingen ihr Maß bestimmt" Hiob 38,11 (2,85) oder das Thomaswort Joh. 11,16 als Text einer Totenfestpredigt (2,597). Desgleichen mag es als be­ zeichnender Grenzfall betrachtet werden, daß der Beginn der Ostergeschichte Luk. 24,1—3 einfach als Stichwort für das Geheimnisvolle und Unerforschliche in Anfang und Fortgang des neuen Lebens (3,264) zum Text einer Osterpredigt dient. Diese wenigen Beispiele, die noch gar nichts über die Einzelexegese 1 Es ist schon des öfteren ausgefallen, wie ähnlich manche Akademiefesireben in Thema und Durchführung den Predigten, des. den sog. „patriotischen" sind, z. B. „Wie würde Friedrich d. Gr. heute regieren" (III, 3,28) vgl. die Predigt „Über die rechte Verehrung gegen daö einheimische Große auö einer früheren Seit" (1,353) usw.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

vorwegnehmen wollen, können immerhin die großen Schwankungen in Schleiermachers Textbehandlung veranschaulichen. Er ist der große Kronzeuge für die Textgebundenheit der Predigt, und hat doch gleich­ zeitig den Text bis zum Motto entleeren können. Er hat zum Eingang der Predigt mitunter willkürlich veränderte oder gar selbstgemachte Doxologien gebraucht^ und ist doch in seinen Homilien das Vorbild exegetischer Gewissenhaftigkeit. Gibt es ein theologisches Einheitsband für solche Widersprüche?

2. Das hermeneutische System und die Predigten Die Frage nach der Methode der Auslegung ist der Homiletik durch die Tatsache gestellt, daß der Predigt ein Text zugrunde liegt. Ihrem Begriffe nach ist die Hermeneutik? nur eine Lehre vom Ver­ stehen. Die Predigt aber hat nicht nur ihren Text zu verstehen, sondern auch zu deuten oder auszulegen und schließlich anzuwenden. Diese Dreiheit der Textbetrachtung liegt von Anfang an ineinander, und aus diesem Grunde darf die Erwartung auf die hermeneutische Theorie nicht zu hoch gespannt werden, da es dieser nur um das Verstehen an sich geht. Die Forderung einer theologischen Hermeneutik ergibt sich eigentlich erst im Blick aus die Erfordernisse der Auslegung und An­ wendung in der Predigt und kann darum von keiner allgemein philologischen Hermeneutik befriedigt werden. In dem hermeneutischen System Schleiermachers spielt die Herme­ neutik des Neuen Testamentes nur die Rolle einer speziellen, d. h. im Grunde schon angewandten Hermeneutik. Es ist das unbestrittene Verdienst Schleiermachers, die Beschränkung der Auölegungskunde auf die antike Literatur, ja auf Geschriebenes überhaupt aufgehoben zu haben. Mehrmals ist für ihn das Verstehen des Gesprächs der Typus des Verstehens überhaupt. Ebenso hat Schleiermacher jedoch die Herrschaft spezieller Auslegungsformen durch allgemeine ersetzt 1 Z. B. 2,i51; 2,176; 2,314 vgl. 343; 2,442; 4,98.

2 Schleiermacherö Hermeneutik ist enthalten in 2 Akademieabhandlungen, Werke III. Abt. Jur Philos. Bd. 3,344 ff. und in den von Lücke posthum herauSgegebenen Vorlesungen „Hermeneutik und Kritik mit bes. Beziehung aus daü Neue Testament", I. Abt. Jur Theol. Bd. 7, 1838. Schl.6 Hermeneutik be­ sprochen in I. Wach, Da6 Verstehen, Bd. I, Tübingen 1926, S. 83 ff. Wobbermin beschäftigt sich in feiner Abhandlung „Schl.s Hermeneutik in ihrer Bedeutung für die syst. Theologie" Nachr. d. Ges. d. Wiss. z. Göttingen, phil.hist. Klasse 1930 nur mit der Anwendung der herm. Grundsätze Schl.6 auf die Schl.-Auölegung.

2. Das hermeneutische System und die Predigten

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wissen wollen. Es gibt daher keine spezifisch religiöse Auslegung, und wo die biblischen Autoren besondere Denkformen aufweisen, etwa Allegorie, ist eben diese Denkform aus der Meinung des Autors zu interpretieren, was den allgemeinen Auslegungsregeln entspricht1. 2 Schleiermacher hat die Hermeneutik erstmals als System dar­ geboten. Sie ist die Wissenschaft vom Verstehen, ist teils spekulativ, teils empirisch, insofern sie an Logik und Rhetorik wie Grammatik Anteil hat; sie ist der Wissenschaft von der Einheit des Wissens, der Dialektik, untertan. Die Hermeneutik hat als Theorie vom Verstehen dem Kunstcharakter des Verstehens Rechnung zu tragen. Dieser Kunst­ charakter erklärt sich daraus, daß das Verstehen eines Endlichen aus dem Unendlichen auf die Anschauung eines Individuellen gründet und sich somit der letzten Regelhaftigkeit und rationalen Berechenbarkeit entzieht 2. In zwei Seiten entfaltet sich das hermeneutische System Schleier­ machers^, in der grammatischen und psychologischen Auslegung. Jene erfordert Sprachtalents diese Menschenkenntnis. Grammatische Aus­ legung hat es mit dem formalen Element der Sprache selbst zu tun, wie es vom Minimum des gewöhnlichen Gespräches bis zum Maximum der klassischen Sprache in zahllosen Abtönungen vorliegt. Die psycho­ logische Auslegung fragt nach dem inneren Zustande, nach dem Be­ wußtsein, aus welchem ein Gedanke, Satz oder Buch hervorgegangen ist. Diese Zustände sind verschieden, je nachdem sie dem Gemeinen oder Originellen naheliegen. Wo auf grammatischer und psychologischer Seite sich die höchste Vollkommenheit im Auslegungsstoff darbietet, da sieht Schleiermacher das Genialische oder Urbildliche gegeben. Was ist nun Ziel der Hermeneutik auf beiden Seiten? „Miß­ verstand soll vermieden werden." In der grammatischen Auslegung droht nämlich das „quantitative" Mißverständnis über den Ort und 1 Vgl. „Herm. u. Krit." S. 20 ff. — Hier zeigt sich bereits, daß die Frage erwa nach allegorischer Auslegung des Textes für eine aus den Verstehensvorgang ohne Auslegung und Anwendung begrenzte Hermeneutik nicht mehr existieren darf. Die theol. Hermeneutik geht aber wesensmäßig darüber hinaus. 2 Der Wissenschaftscharakter der Hermeneutik selbst wird dadurch nicht berührt. Denn nur daS Verstehen, also die Tätigkeit ist Kunst, nicht aber die Theorie von dieser Tätigkeit. Ebenso ist eine gute Ästhetik noch nicht Kunst, so sehr sie von Kunst handelt. Die Genialität deS wissenschaftlichen Sehens und Ordnens, die oftmals die gelehrten Leistungen unter sich differenziert, ist nur als Fähigkeit, nicht nach ihrem theoretischen Gehalt Kunst und überragt in­ sofern allerdings zuweilen an Reichtum des Geschauten die künstlerische Leistung. Vgl. Wach, a. a. O. 1,114 Anm. 2.

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H. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

daS Gewicht eines Gedankens im Satze, und das „qualitative" Miß­ verständnis über den wörtlichen Sinn eines Satzes. Hinwiederum ist in der psychologischen Auslegung das Technische und Psycholo­ gische richtig zu beurteilen, d. h. also Entstehungsweise und Literatur­ gattung eines Gedankens ebenso wie der subjektive Zustand, aus dem er entsprungen ist. Wie kann dies Mißverständnis vermieden werden? Dadurch, so lehrt Schleiermacher, „daß man sich aus der objektiven und subjektiven Seite dem Urheber gleichstellt" (32), sich also sprachlich und psychologisch — auch biographisch — in ihn hineinversetzt. Dies ist der Übergang zur positiven Formulierung des zuerst negativ ausgesprochenen Zieles: es handelt sich um Nachkonstruieren der gegebenen Rede in den verschiedenen Richtungen deS Schemas. Die Rede ist objektiv geschichtlich zu verstehen, d. h. als Erzeugnis der Sprache, subjektiv geschichtlich in ihrer Bedeutung für die Sprache. Beides stellt die hermeneutische Leistung nach der grammatischen Seite hin dar. Nach der psychologischen Seite ist die Rede subjektiv geschicht­ lich, d. h. wie die Rede als Tatsache im Gemüt gegeben ist, und sub­ jektiv divinatorisch aufzusassen, d. h. es ist zu „ahnden, wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter in dem Redenden und auf ihn fort­ wirken werden" (31 ff.). Die Rede ist somit „zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber". Was bedeutet dies für die Auslegung des Neuen Testamentes? Die in ihm vorliegende Mischung von hebräischem und griechischem Sprachgut und Sprachgeist muß in ihren Ursachen und Folgen über­ blickt werden. Zum anderen war der christliche Geist, „wie jedes neue geistige Prinzip", sprachbildend (27), die neuen Begriffe gingen aus der eigentümlichen Gemütserregung hervor (21). Und hier setzt dann die doppelseitige Aufgabe ein, Mißverstand zu vermeiden und nach­ zukonstruieren. Jedenfalls taucht wieder im Hintergrund daö Problem auf, dessen wir schon im vorigen Absatz ansichtig wurden. Wenn der Ausleger sich in jeder Hinsicht an die Stelle des Autors zu versetzen vermag, so hat er seine Aufgabe erreicht. Ja er hat mehr zu leisten, als sich zum Autor nur in Analogie zu setzen; er muß sich geradezu verstehend mit ihm vertauschen. Aber doch auch nur verstehend, nur intellektuell, mit den Mitteln grammatischer und psychologischer Kennt­ nisse und Fähigkeiten. Darin mögen wir einen gewissen Unterschied zum Verhältnis der Ähnlichkeit zum Text sehen, das die Praktische Theologie für den Zustand des Predigers fordert. — Das eigentliche hermeneutische System ist in der Einleitung ent­ halten. Wir haben seine Grundzüge aufgewiesen. Die darauf folgende

2. Daö hermeneutische System und die Predigten

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Ausfüllung des Grundrisses kann uns nur soweit interessieren, als sie die Auslegung des Neuen Testamentes betrifft. Die 2 wichtigsten Kanones über die grammatische Auslegung fordern Beachtung deö ursprünglichen Sprachgebiets und Beachtung des Kontextes. Im weiteren Verlauf beschäftigt sich dann Schleiermacher mit der Frage der Individualisierung des Sprachgebiets und mit der Möglichkeit individueller Gedanken innerhalb deS neutestamentlichen Gesamt­ schrifttums. Im Wesentlichen, d. h. in Absicht des religiösen Inhaltes, tritt die „Identität der Schule" und in Absicht der Nebengedanken die Identität deS Sprachgebiets ein. Die Identität der Schule (80 ff.), welche für Schleiermacher in der Abhängigkeit von Christo besieht*, wird von der philologischen Ansicht zugunsten deö Sprachgebiets und vor allem zugunsten der Isolierung des einzelnen Schriftstellers ver­ worfen. Die dogmatische Ansicht will hingegen neben dem gemeinsam Christlichen, neben der „Abhängigkeit", keine individuelle Bildung der Schriftsteller anerkennen. Schleiermacher entscheidet sich zwischen diesen äußersten Gegensätzen philologischer Zerteilung des Neuen Testamentes und dem Dogma streng gleichmäßiger Inspiration in: oben angezeigten Sinne, daß die Einheit, die von Christus ausging, vor der schriftstellerischen Individualität daö Übergewicht hat. Aus

derselben dogmatischen Ansicht ergibt sich daö Mißverständnis, alö seien alle Stellen des Textes gleich wichtig — nötigenfalls also anders alö wörtlich zu verstehen —, alö sei nichts überflüssig („abundierend") und alles im Vollsinne („emphatisch") gebraucht. Tatsächlich liegt hier die Grenze des Grundsatzes: scriptura sacra sui ipsius interpres. Denn das rein Sprachliche der Auslegung greift doch über den biblischen Kanon weit hinaus. Zwei Maximen gelten: Im Neuen Testament ist niemals ein uneigentlicher Gebrauch zuzulassen, solange es irgend möglich ist, den eigentlichen geltend zu machen. — Auch im Neuen Testament gibt eS überflüssige und vollsinnig gebrauchte Satzteile, Tautologien und Emphasen. Hinsichtlich der psychologischen Auslegung hat Schleiermacher eine überaus gründliche und feinsinnige Analyse des „Keimentschlusses" geboten, welche eine Scheidung von Hauptabsicht und Nebenzweck in einem Schriftwerke ermöglicht. Dies gewinnt Bedeutung für die Aus­ legung der didaktischen Schriften des Neuen Testamentes, in welchen häufig die zerstreuenden Vorstellungen, welche in momentaner Mit1 Bezeichnenderweise wird sie von Schleiermacher mit der Abhängigkeit der Sokratiker von Sokrates veranschaulicht, der auch selber nichts geschrieben hat (82).

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Texte«

teilung überwiegen, den geschlossenen Gedankengang unterbrechen und aufheben. In solchen Fällen tritt dann an die Stelle der objektiven Einheit des Gedankens1 die subjektive Einheit, welche sich nach dem Zustand oder auch nach der Stimmung des Verfassers oder der Adressaten richtet. Die Evangelien sind demgegenüber Schriften anderer Art. Aller­ dings erfüllt nur das Johanneöevangelium den Begriff einer Bio­ graphie, wenn schon nicht im chronologischen, sondern in dem Sinne, daß die biographische Idee nicht auö dem Auge verloren wird. Johannes allein ist für Schleiermacher zudem Augenzeuge gewesen. — Indessen wollen wir unö hier nicht zu sehr in die Einzelauffassungen unseres Autors über die Schriften der Bibel verlieren, da unö dieö noch be­ schäftigen soll. Zudem geht ja die Anwendung der hermeneutischen Theorie auf das Neue Testament viel zu sehr in neutestamentliche Ein­ leitung über, auf deren Gestaltung auch fremde Gesichtspunkte Ein­ fluß genommen haben. Was Schleiermacher über die psychologische und technische Auslegung des Neuen Testamentes sagt, ist nicht mehr ausschließlich auö den hermeneutischen Grundsätzen gewonnen. Wir können deshalb gleich zu den aufschlußreichen Schlußgedanken der Hermeneutik (255 ff.) übergehen. Schleiermacher erwähnt zuletzt einen „obersten Kanon", dessen Wortlaut so recht beweist, wie weit Schleiermacher Schematismen getraut hat. Es handelt sich um den Grundsatz, der ja auch in SchleiermacherS Ethik eine Rolle spielt: „Man muß immer die entgegengesetzten Richtungen miteinander ver­ binden" (256). Schleiermacher führt drei Fälle an, wo daö Richtige einfach durch die Abkehr von den Extremen getroffen wird. Der erste Fall ist die Sprache. Hier ist damit zu rechnen, daß sie wohl nicht klassisches Griechisch ist — waren doch die neutestamentlichen Schrift­ steller Juden von Hause aus, — daß aber doch absolute Dunkelheit deö Sinnes nur dort zu erwarten steht, wo uns unbekannte Verhältnisse von Schreiber und Adressat besprochen sind. Ferner ist zu verbinden die Richtung, die von der allgemeinen Anschauung deö Ganzen inö Einzelne fortschreitet, mit der anderen, die über das allgemeine Ver­ ständnis noch hinausgeht in daö Gebiet der historischen Kritik. Man wird hierbei also etwa an die Verbindung von Exegese und Einleitungs­ wissenschaft zu denken haben. Der dritte Fall betrifft die gleichzeitige Berücksichtigung der individuellen Art des neutestamentlichen Schrift1 E« gibt Briefe mit didaktischer Einheit. „In diesen liegt daö Fundament für die weitere hermeneutische Operation. Dahin gehören die Briefe an die Römer, Galater, Hebräer" (188).

2. DaS hermeneutische System und die Predigten

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stellers und des christlichen Zustandes als Einheit. — Auffallend und bezeichnend ist der reine Formalismus dieses obersten Kanonö, dessen Anwendung jedem Zufalle unterworfen scheint. Mit nichts ist aus der Sache begründet, warum Schleiermacher lehrt, er sei „immer an­ zuwenden, und wenn vielleicht weniger bei den profanen Schriften, so doch vorzugsweise durchaus und überall bei dem Neuen Testa­ mente" (260). Eö ist mindestens eine sehr gute Selbstkennzeichnung, wenn wir in der Schlußbetrachtung auö dem Winter 1826/27 lesen (260—262), daß in der Hermeneutik ein mächtiges Motiv liege für die Verbindung des Spekulativen mit dem Empirischen und Geschichtlichen. Hierzu ist freilich Voraussetzung ein wahres Interesse an dem, waS durch Rede und Schrift dargestellt ist. Dieses Interesse ist für Schleiermacher dreifach denkbar. Daö bloße Gcschichtsinteresse fordert nur eine auf Tatsachen gerichtete Auslegung. Das künstlerische oder Geschmacks­ interesse liegt der eigentlich hermeneutischen Frage näher, ist aber auf die Gebildeten beschränkt. Erst das spekulative, d. h. rein wissenschaft­ liche Interesse faßt die Sache in der tiefsten Wurzel, denn wir können nicht denken ohne die Sprache. „Eö ist von dem höchsten wissenschaft­ lichen Interesse, zu erkennen, wie der Mensch in der Bildung und im Gebrauch der Sprache zu Werke geht." Aber dieses spekulative Inter­ esse an der hermeneutischen Aufgabe ist schließlich noch begrenzter als das Geschmacksinteresse. „Das aber gleicht das Religiöse wieder aus, da dieö auch ein Allgemeines ist." Schleiermacher setzt hier daS Reli­ giöse dem Spekulativen nicht nur an Wert, sondern auch an Bedeutung für die Vollendung der menschlichen Natur gleich. „Es wird aber von allen als ein Allgemeines besessen und empfunden." DaS Religiöse hat vor dem Spekulativen also vor allem die größere Allgemeinheit voraus. Aber es ist doch letzten Endes um des Spekulativen willen gesagt, daß mit dem religiösen Interesse auch das hermeneutische ver­ loren gehen würde. Die hermeneutische Richtung Schleiermacherö hat auch als theologische Hermeneutik ein geisteswissenschaftliches, nicht theologisches Ziel. Die geisteswissenschaftliche Hermeneutik hat zum Ziel, auf dem Wege völligen Sicheinlebens in Bewußtsein, Sprache, Leben und Umwelt deö Autors eine Rede zu verstehen. Dem Gelingen dieser Aufgabe setzt sich freilich immer ein inkommensurabler Rest ent­ gegen, indem der fremde Autor eben eine eigene Individualität, indem seine Sprache nicht die unsere, seine Zeit eine vergangene ist. Aber diesen inkommensurablen Rest hat die geisteswissenschaftliche Herme­ neutik immerhin auf ein möglichst geringes Maß herabzusetzen. Grund-

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

faßlich sucht sie völliges Verstehen zu erreichen. Die theologische Her­ meneutik, d. h. diejenige der Bibel, — denn für das Verstehen theo­ logischer Produktion gelten geisteswissenschaftliche Sätze, — die biblische Hermeneutik muß hingegen mit einem inkommensurablen Rest rechnen. Hinsichtlich der Wunder, hinsichtlich etwaiger Visionen und Auditionen (z. B. Mt. 17,1—8; II. Kor. 12,1—10) oder im Blick auf eschatologische Gedanken und Paulinische Sakramentstheologie kann eine An­ wendung der Schleiermacherschen Regel, „daß man sich auf der ob­ jektiven und subjektiven Seite dem Urheber gleichstellt", nur sehr be­ dingte Gültigkeit haben. Denn von einem „Gleichstellen" deö Aus­ legers, der gewöhnliche Erlebnisse zum Maßstab hat, mit dem Apostel, dessen apostolisches Amt schon außer Vergleich steht, kann keine Rede sein. Das Inkommensurable zwischen Text und natürlichen Auölegungsmaßstäben ist nicht aufhebbar; es ist zwar keineswegs damit der Unverständlichkeit preisgegeben, aber es sollte erkannt werden, daß jener inkommensurable Rest eine theologische Theorie der Aus­ legung fordert. Damit wird nicht gefordert, daß etwa der Wortsinn unerkennbar sei, oder als unzulänglich übersprungen werden müßte. Aber es soll betont werden, daß auf der Basis psychologischer Analogie eine theologische Auslegung nicht möglich ist. Schleiermacher hat eben auf diese Grundlage die Hermeneutik des Neuen Testamentes zu stellen versucht. Wir werden zu zeigen ver­ suchen, in welchem Sinne sein Programm zu verstehen ist und waS eS für Folgen hat. Das Programm ist kurz im letzten Satz seiner her­ meneutischen Vorlesungen so ausgesprochen: „Wenn wir eS auch nie zum völligen Verstehen jeder persönlichen Eigentümlichkeit der neutestamentlichen Schriftsteller bringen können, so ist doch das Höchste der Aufgabe möglich, nämlich das gemeinsame Leben in ihnen, daS Sein und den Geist Christi, immer vollkommener zu erfassen" (262). — Wir hoffen nicht den Eindruck zu erwecken, mit unserer Besprechung den Rang der Hermeneutik Schleiermachers herabzusetzen. Jede Ver­ stehenslehre wird vielmehr an seine unerreicht scharfsinnige Phäno­ menologie des Verstehensvorganges anknüpfen müssen, die die Fähig­ keit SchleiermacherS zu subtiler Beobachtung der Wirklichkeit beweist. Auch die theologische Verstehenölehre wird hier anknüpfen müssen, wie ja die Theologie nie die geisteswissenschaftlichen Ergebnisse außer Acht lassen kann. Uns lag aber daran zu zeigen, daß im Rahmen der Schleiermacherschen Verstehenslehre die Aufgabe biblischer Herme­ neutik nicht klar herauskommt. Gewiß, nicht der Verstehensvorgang selbst darf hier und dort ein anderer sein. DaS hat Schleiermacher

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2. Das hermeneutische System und die Predigten

unverlierbar gelehrt. Aber es genügt nicht zur theologischen Herme­ neutik^ die Sätze der allgemeinen Hermeneutik einfach auf die Heilige Schrift anzuwenden. Das hat schon Hofmann richtig erkannt*. Nach der Auffassung des letzteren hat die biblische Hermeneutik darüber Aufschluß zu geben, „was zu den allgemeinen Gesetzen der Auslegung noch hinzukommen müsse, damit man sie so anwende, wie es die Eigen­ art des Gegenstandes erfordere" (5). Hofmann beginnt aus diesem Grunde seine biblische Hermeneutik mit einer ausführlichen Lehre von der Heiligen Schrift. Schleiermacher, der die allgemeinen Auslegungs­ regeln nur auf die Heilige Schrift anwenden will, ohne eine eigentliche Schriftlehre zu entwickeln, breitet gleichsam ein Netz aus, das zu weit­ maschig ist/ um die speziellen Fälle biblischer Textauslegung darin zu fangend Was Schleiermacher hier an theologischer Grundlegung mangelt/ daö sucht er gleichsam wettzumachen durch die spekulativ-anthropolo­ gische Ausdeutung des Verstehensvorganges. Der Ausleger nimmt den Zustand des Autors nach Schleiermachers Lehre ins eigene Be­ wußtsein auf/ er erweitert damit sozusagen seine inneren Möglichkeiten/ er nimmt Teil an dem allgemeinen Vernunftleben/ soweit es in der Sprache enthalten ist. Das Verstehen stellt das Verhältnis der Ana1 Zn der Einleitung zu seiner „Biblischen Hermeneutik"/ Hrsg. v. W. Volk, Nördlingen 1880, gegen Schleiermacher. 2 Durch die vorausgehende Lehre von der Offenbarung und der Hl. Schrift ist auch die theologische Hermeneutik Richard Rothes derjenigen Schl's weit überlegen. Rothe sagt, was ihm die Bibel ist und was er dementsprechend von ihr erwartet. Die Offenbarung ist ihm eine objektive Manifestation Gottes in der Geschichte und ein bleibendes Datum innerhalb des Horizontes der Mensch­ heit. Ihre Übernatürlichkeit ist nicht irrelevant gegenüber den natürlichen Wir­ kungen, wie bei Schleiermacher, vielmehr wächst daö Verständnis ihrer Eigenart durch die geschichtlichen Wirkungen, die von ihr ausgehen. Sie völlig zu ver­ stehen, ist Inspiration. Christus war der schlechthin Inspirierte. Außer ihm gibt es im Bereich neutestamentlicher Offenbarung keine Inspiration, welche die Manifestation Gottes in Christo in authentischer Weise zu interpretieren ver­ möchte. Die Apostel vermögen dies nur durch treue Weitergabe des Selbstzeug­ nisses Christi. (Vgl. Zur Dogmatik, S. 55—120, Ethik, §§ 535 ff.). Man kann also sagen, daß für Rothe die Bibel gleichsam die Hieroglyphen Gottes in der Geschichte enthält. „Der Mikrokosmos der Bibel ist das Grundbuch der spekulativen Erkenntnis" (Heckel, Exegese und Metaphysik S. 145). Die in Christo beschlossene Fülle von Erkenntnis und Sittlichkeit gilt es im Laufe der Geschichte zu entfalten und auszulegen. Diese Lehre Rothes ist problematischer, aber wohl auch tiefer als Schl's Forderung eines Verstehens nach der Ana­ logie unser selbst. Denn auf diesem Wege gelangt Schl, über eine Klärung unseres Selbstbewußtseins mittels der Hl. Schrift nicht hinaus. W. Trtllhaas: Schletermcichers Predigt

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Di« Behandlung des Textes

logie her zwischen Autor und Ausleger, statthabend im Bewußtsein, vermittelt durch die Sprache. Unser Einwand setzt ein bei dem in­ kommensurablen Rest, wie wir es nennen möchten, der für eine der­ artige Verstehenslehre weniger das intellektuell Unverstandene ist als vielmehr das, was im Bewußtsein des Auslegers nicht nachvollzogen werden kann. Die biblische Auslegung hat aber mit solchen Fällen wesentlich zu rechnen. Das heißt dann aber nicht etwa, daß sie auf das Verständnis solcher Stellen verzichten muß. Es wird für sie dann vielmehr ein erhöhtes Festhalten arn Wortsinn nötig sein, auch wenn daS „Gemeinte" nicht zuständlich „gegeben" und auch nicht „nach­ vollziehbar" ist. Während also gerade hier dann für Schleiermacher, daß wir so sagen, der weiße Fleck auf der Landkarte des Auslegens ent­ steht, erwächst hier von Seiten der theologischen Auslegung her die Aufgabe, die Verstehenstheorie auch für solche Fälle zu differenzieren, in denen keine psychische Analogie zur Verfügung steht.

Beispiele AuS der Forderung eines Verständnisses nach der Analogie unseres Bewußtseins erklärt sich Schleiermachers Bestreben, den Text unserem Verständnis anzugleichen. Ursprünglich ist der Text ja etwas Fremdes. Schleiermacher pflegt nun häufig den Worten des Textes unsere natür­ liche Meinung entgegenzuhalten, um dann durch Aufklärung des Wider­ spruches ein „mittleres" oder geistiges Verständnis, in seinem Sinne daS Verständnis schlechthin zu erzielen. Wir machen dies an einem Beispiele deutlich, an einer Homilie über Jesu Gespräch mit der Sama­ riterin (Joh. 4,11—iy; 8,249). Das Gespräch ist an sich dialektisch aufgebaut: Das Wort Jesu vom lebendigen Wasser wird mißver­ standen: „Bist du mehr denn unser Vater Jakob?" Jesuö reizt darauf das Weib zur herausfordernden Bitte „gib mir dasselbe Wasser", worauf sie Jesus ihres unreinen Wandels überführt und durch die Offenbarung seiner prophetischen Natur nach weiterer Erkenntnis durstig macht. Schleiermacher aber folgt nicht einfach dem wörtlichen Bericht, indem er dem Gespräch im angedeuteten Sinne nachgeht. Er erhebt vielmehr gegen den Text den Einwand: Ganz kann die Frau doch nicht mißverstanden haben, denn sie hatte doch „ein auf das Höhere gerichtetes Gemüt". Sie wundert sich infolgedessen nur dar­ über, auf welch leichte Weise Jesus das Wasser beschaffen will, da schon in leiblichen Dingen solche Mühe erforderlich ist. Tatsächlich aber will Jesuö die geistige Wohltat auf so leichte Weise spenden. Der 2. Einwand SchleiermacherS gegen den Text besteht darin, daß doch

2. Das hermeneutische System und die Predigten

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jeder auch nach dem Worte Gottes immer wieder dürstet, der Durst also keineswegs für immer gestillt ist. Antwort: Nur der quälende Durst im Sinne des Orients hört auf, der leichte Durst bleibt, der unö zum seligen Genuß des Heiles führt, „ohne daß ihm zugrunde läge eine solche tiefe Qual". Da nun Schleiermacher die Samariterin für eine geistig so aufgeschlossene Frau hält, kann natürlich von Hurerei keine Rede bei ihr sein. Woher Jesus zwar ihre Familienverhältnisse kannte, wissen wir nicht (!), soviel ist unserem Prediger sicher, daß sie ihn als Propheten erkennen sollte. — In vielen Predigten wendet Schleiermacher dieses Motiv an, daß er unser Gemeinverständniö mit den Bibelworten in Widerspruch setzt. Wir können hier natürlich nur Beispiele geben. So kontrastiert er in einer Passionöpredigt über Joh. 19,28—29 (4,342) Jesu Wort „mich dürstet" mit seiner Einladung „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke". Der Widerspruch löst sich dann dahin auf, daß bei geistiger Fülle Jesus sein leibliches Bedürfnis offen und unbefangen eingesteht, daß er aber dieses Leiden niemals sich zum Verdienst anrechnet und in keiner Weise daö Leiden sucht. Mehr noch, Jesus ist auch frei vom Groll, denn er denkt noch an die Möglichkeit der Hilfe, ja er rechnet damit, daß die boshafte Lust, die sich so ausgelassen gegen ihn gezeigt hatte, nun werde gesättigt sein. Schleiermachcr konstruiert also förmlich eine ganze psychologische Szenerie aus wenigen Worten. — Es ist der typische Weg, auf welchem Schleiermacher Schristworte zu aktualisieren pflegt. So erhebt er in der Totenfestpredigt von 1833 (3,723) angesichts des Textes Jak. 5,11 „Siehe wir preisen selig, die erduldet haben" die Frage, wer denn selig zu preisen sei, wenn nur der Dulder dies verdiene. Er kommt zu der Auskunft, in den verschiedensten Formen des LebenS ein Dulden nachzuweisen, Anfechtung, Streit der Gedanken, aber andrerseits die sog. kindliche Unschuld und das schlichte, kampflose „bürgerliche" Leben davon auszunehmen. Wie ist doch damit gerade die Ansicht des „gei­ stigen" Menschen bestätigt! Im Schleiermacherschen „Sinn unsres Textes" ist also noch nicht jedes Leiden auch schon ein Erdulden, um deswillen man selig gepriesen werden dürfte. „Erst wenn wir richtig ins Auge fassen, was von uns verlangt werden kann, 0 dann pflegt eS uns nicht zu fehlen an heilsamen Versuchungen und Anfechtungen, welche wir zu bestehen haben" (3,734). — Indem also der Prediger seine Texte so unS gemäß macht, gewinnt er auS ihnen eine Fülle von Gedanken, ganze Serien psychologischer Kulissen und bringt die ur­ sprünglich fremden Schriftstellen unserem Verständnis nahe. DaS geschilderte Verfahren Schleiermachers unterliegt als bloße 10*

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

Methode zur Belebung deS Verständnisses keinerlei Bedenken, soferne der Sinn des Textes gewahrt bleibt. Jeder Prediger wird häufig an den Gegensatz deS Textes zu unserer gewöhnlichen Anschauung seine Predigt anschließen. Aber Schleiermacher erstrebt Einigung auf einer mittleren Linie. Häufig wird vom Gemeinverständnis, der Vernunft, der äußerlich-wörtliche Sinn des Textes geläutert und auf daö wahre „geistige" oder innerliche Verständnis zurückgeführt. Dieses Vor­ gehen kann sich aber auswachsen bis zu einer Beugung des WortverftandeS. Aus der früheren Predigerzeit Schleiermachers haben wir davon krasse Beispiele. In der i. Sammlung von iSoi ist uns eine Predigt über I. Kor. 13,7 aufbewahrt („Die Liebe verträgt alles . . ."), betitelt „Die Grenzen der Nachsicht" (1,137). „Laßt uns aus den näm­ lichen Worten, welche den Umfang dieser Nachsicht so ausdrucksvoll bestimmen, auch ihre Grenzen unS anschaulich machen, und unS so überzeugen, daß jene zum Besten der Gesellschaft notwendige Ge­ rechtigkeit und diese Forderung der Liebe keineswegs miteinander im Streit sind." Wie kommt Schleiermacher zu dieser Gewaltsamkeit? Sehr einfach: „Könnt ihr glauben, daß ein böser Mensch wohl auch gut handeln könne?" Der intelligible Charakter des Menschen ist unver­ änderlich. Aber der Apostel hat ja auch gar nicht so weit gedacht: Denn er hatte ja nur die Verhältnisse unter Christen im Auge! — Und am i2. Januar 1800 predigt Schleiermacher laut nachgelassenem Entwurf (Zimmer S. 5) anläßlich Ps. 6,7 („Ich bin so müde vom Seufzen, ich schwemme mein Bette die ganze Nacht") wahrhaftig über die „Unanständigkeit eines übermäßigen Schmerzes"! Man entschuldige daS nicht mit einer rationalistischen Epoche! Denn hier predigt ja der Verfasser der Monologen! Nur in andrer Weise unternimmt es der Prediger auch in späteren Jahren, den Text aus der historischen und gedanklichen Fremdheit in die Nähe deS Hörers zu zwingen und diesem gemäß zu machen. Wir sahen schon anläßlich der patriotischen Predigten, wie das Wort von der geistlichen Haus­ genossenschaft (Eph. 2,19) zum dictum probans für die staatsbürger­ lichen Pflichten wird (1,218) oder wie die Weissagung Jesu von der Zerstörung des Tempels (Mt. 24,1—2) zur Rechtfertigung der Steinschen Reform dient (1,353). Hier wird die erwähnte Forderung Schleiermachers nach freier Bibelauslegung aktuell, die es ihm allent­ halben verstattet, das uns Gemäße am Text in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, ohne die Befürchtung, damit unbiblisch zu werden. Sonst ist es nicht erklärlich, wie ein Text wie der von der Einladung zur königlichen Hochzeit (Lk. 14,18 ff.) zu einer Betrach-

2. DaS hermeneutische System und die Predigten

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tung über „die Fehler der Einladenden" weitergesponnen werden kann (3/96). Von diesen Grenzfällen abgesehen, welche für SchleiermacherS Textbehandlung das Feld der Möglichkeiten abstecken, ist als all­ gemeine Tendenz die festzustellen, daß das Niedere zum Höheren ge­ führt, das Äußerliche auf Innerliches und Geistiges zurückgeführt wird. Gleichzeitig beobachten wir auch immer wieder eine eigenartige Scheu, Jenseitig-Überweltliches am Text zu betonen. Auffällig genug ist das Thema zu I. Tim. 4,8 „Welches sind die Verheißungen, welche die Gottseligkeit hat für dieses Leben" (3,71). Und es klingt jeden­ falls seltsam, wenn am Schlüsse der Predigt über die Verheißung Jesu an den Schächer betont wird, „daß das Ende dieses Getrösteten nicht augenblicklich auf das tröstende Wort deS Erlösers folgte. Wie spät auch ein Mensch sich zu ihm wende, so spät wohl kann es nicht geschehen, daß es nicht noch einige, wenn auch nur wenige Stunden des irdischen Lebens in der seligen Gemeinschaft mit ihm für jeden geben sollte" (2,136). Wie hier wird häufig gerade das irdische Leben, der Ort gegen­ wärtiger Erfahrung, als Schauplatz der seligen Gemeinschaft mit Christus hervorgehoben. In diesem Rahmen aber ist der innerliche, geistige Charakter des Christentums der entscheidende, und damit ist präzis angegeben, wo die Analogie zwischen „uns" und dem Inhalt der christlichen Botschaft stattfindet. Stets finden wir das Bemühen, in dieser Richtung das Verständnis des Textes und letztlich das Selbst­ verständnis zu läutern. Hierin gipfelt die Frage der Textbehandlung für Schleiermacher: Sie ist eine Frage des Verstehens nach beiden Seiten, Verständnis der Bibel — dies vor allem in den Homilien — und Verständnis unser selbst, unseres Lebens. Dies zu erzielen, will die Predigt „darstellen". Die darstellende Predigt will eine betrach­ tende Gemeinde zum rechten geistigen Verständnis führen. Das Ver­ stehen der Gemeinde wird am Text geläutert, dem Text entgegen­ geführt. Aber auch der Text wird der betrachtenden Gemeinde gemäß gemacht, entgegengebracht. In der Mitte vollzieht sich die Begegnung, das Verständnis. Das geistige Verstehen des Textes vollzieht sich in der idealen Mitte zwischen Bibel und Gemeinde, hier liegt der Ana­ logiepunkt. Nochmals sei eS betont: Jede Predigt muß Verständnis der Bibel voraussetzen, oder sie muß eS schaffen. Ohne diese „fleischliche", d. h. rein intellektuelle Voraussetzung wäre sie in den Wind gesprochen. Jnsoferne, als methodisches Anliegen in den Grenzen des Methodischen, hat Schleiermacher Recht. Und doch sahen wir, wie er das Wort der

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

Bibel mitunter zu beugen vermag. Aber dieser Schaden ist nicht me­ thodischen Ursprungs, sondern fließt aus seiner Auffassung vom Wesen der Predigt. Für ihn liegt daS Problem der Predigt zwischen Dar­ stellung und Verständnis im Raume des Bewußtseins. — Die Trag­ weite dieses Satzes kann erst das folgende Kapitel klar machen. Für jetzt mag eö genügen, auf einen Zeitgenossen SchleiermacherS zum Vergleiche zu verweisen, der zuerst und zuletzt Prediger war, und dessen 30 Lebensjahre hinreichten, ihn in der Geschichte der Predigt unvergessen zu machen: Ludwig Hofacker (1798—1828). Wie wenig Raum nimmt in seinen Predigten daö Verstehen ein! Alles aber setzt er daran, den Hörer anzugreifen, ihn hereinzuziehen in die Liebe Jesu, ihn zu zwingen. Überwiegend verlaufen seine andringenden Predigten, darin den Württemberger Pietisten verratend, in der Form deS „Du" und „Ihr". Schleiermacher aber faßt seine objektiven Betrachtungen zusammen in Aussagen über „die Menschen" oder in die Form deö „wir". Nirgends gibt er als Prediger dem Text Recht gegen das „Ver­ ständnis" der Gemeinde, nirgends richtet er einen Anspruch des gött­ lichen Wortes an den Hörer auö, wie wir es bei Hofacker so gewaltig finden. DaS ist der äußerliche, aber auf Schritt und Tritt sichtbare Mangel der Predigten, die in Wahrheit nicht „predigten", sondern „Darstellungen" sind, und die nicht eigentlich „geglaubt" oder „be­ folgt" werden, sondern Verständnis schaffen wollen.

3. Die Analogie in der Predigt DaS Problem der Analogie ist der Homiletik dadurch gestellt, daß die Predigt auslegen, verdeutlichen, veranschaulichen muß. Sie unterliegt dabei der Forderung, daß ihre Begriffe und VorstellungSkreise im Hinblick auf daS Wort Gottes sachgemäß seien. ES lassen sich zwei extreme Anschauungen denken: die eine, daß die Botschaft der Predigt außerhalb jeder Analogie stünde, die andere, daß die Ge­ schehnisse dieser Welt selbst nicht nur Gleichnis, sondern letzter und un­ verhüllter göttlicher Wille seien. Aber einesteils bewegt sich ja die christliche Verkündigung schon von der Bibel her in menschlichen Be­ griffen und Bildern, anderenteils ist aber weder die Schöpfung noch unsere Vernunft nach dem Sündenfall einer unmittelbaren Anschau­ ung Gotteö und seines Willens fähig, sonst müßte ja die Evidenz Gottes im Grunde für alle vernünftigen Wesen bestehen. So bleibt für die Predigt daS Problem analogen Redens, deö Deutens auf Grund

z. Die Analogie in der Predigt

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von Analogie bestehen. In jeder Analogie ist ein Verhältnis gesetzt, in jeder Analogie Angemessenes und Unangemessenes beisammen, hier besonders, weil etwas von Gott Herkommendeö in menschlicher Rede ausgedrückt werden soll. Was bedeutet das Analogieproblem in Schleiermachers Homiletik? Jedenfalls handelt es sich nicht um die Auslegung nach der Ana­ logie des Glaubens. Bei dieser geht es um den speziellen Fall, „daß die Schrift aus dogmatischem Bewußtsein erklärt wird" (Herm. 8i f.). Weniger die Macht des dogmatischen Maßstabes als die Deutung des Besonderen aus dem Gemeinsamen, also die Vernachlässigung des Eigentümlichen, bildet die Veranlassung, daß Schleiermacher die Glau­ bensanalogie ablehnt. Er billigt sie nur in der Form des negativen Grundsatzes: „Es ist irgendwo falsch erklärt, wenn aus allen zusammen­ gehörigen Stellen nichts Gemeinsames übereinstimmend hervorgeht. Man kann also nur sagen, die Wahrscheinlichkeit der unrichtigen Er­ klärung liege dann auf derjenigen Stelle, welche allein der Ausmittlung eines solchen Gemeinsamen sich widersetzt" (82). Wir führen das nur an, um zu zeigen, daß das Analogieproblem der Schleiermacherschen Homiletik nicht in dieser Richtung liegt. Denn bei ihm handelt es sich nicht um das Verhältnis zwischen einer einzelnen Textstelle und einem Dogma, sondern um die Ähnlichkeit des Bibel­ wortes mit dem Bewußtsein des Auslegers und Predigers. Wenn man freilich weiß — wozu wir im folgenden Kapitel hinleiten wollen — was für Tiefen bei Schleiermacher das „Bewußtsein" hat, wie es jedenfalls bis in die konkreten Gestalten des sozialen Lebens hinein­ reicht, so handelt es sich gleichzeitig um eine Analogie von Heiliger Schrift und menschlich-natürlichem Leben überhaupt. Es mag die Ver­ mutung auftauchen, daß es sich hier um die vielberufene analogia entis der Scholastik handeln könnte. Die Gleichnishaftigkeit des Natürlichen, das ja bei Schleiermacher ins Bewußtsein eingefangen ist, wäre der gewichtigste Grund jener Vermutung. Und doch ist der angezeigte Grund hierfür nicht hinreichend. Denn die analogia entis gehört im scholastischen Denken in den Zusammenhang der GotteSerkenntnis hinein. Ihr Wesenspunkt ist nach „die Erkenntnis 1 „Religionsbegründung", Freiburg 1923, S. 23. Die Theorie von der analogia entis nimmt an ihrer klassischen Stelle bei Thomas von Aquin 8. Theol. I qu. XIII a 5 ss. ihren AuSgang von den Gottesnamen. Das Problem geht schon auf Dionysius Areopagita zurück. Die Frage des adäquaten bezw. bildlichen RedenS von Gott kann in der Homiletik nicht ohne Auseinandersetzung mit der thomistischen Theorie geklärt werden.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 6. Die Behandlung des Textes

des Geschöpflichen als erstes und die Erkenntnis Gottes im Gleichnis des Geschöpflichen als zweites". In dieser Fassung liegt der Gedanke bei Schleiermacher nicht vor. Die vorausgesetzte Wesensdisianz Gottes gegenüber der Geschöpflichkeit fehlt bei totn, auch kennt er wohl ein Hindurchdringen durch die irdischen Ordnungen zu einem tieferen Sinn*, aber nicht durch die geschöpfliche Welt und ihre Gleichnissormen zum Du des Schöpfers Die Analogie bei Schleiermacher ist und bleibt das Verhältnis der Ähnlichkeit — grob gesprochen — zwischen „uns" und dem Inhalt der Heiligen Schrift. Schwebend ist dies Verhältnis der Analogie besonders darum zu nennen, weil die Priorität nicht schlechterdings feststellbar ist. Gewiß vermag Schleiermacher von der Urbildlichkeit der Schrift für unser christliches Bewußtsein mit starker Betonung zu reden. Seine Auffassung von der Unentbehrlichkeit des Textes, sein oben erwähnter „Biblizismus" — beides hat hier seine Wurzel. Und doch findet diese hohe Einschätzung des Bibelwortes auffallende Ab­ schwächungen. So betont Schleiermacher in der Hermeneutik, daß das Neue Testament ein früheres Stadium des Christentums darstelle und eine falsche Ansicht entsteht, wenn wir annehmen, daß die uns gegebene „fernere Entwicklung des Christentums" schon in den apostolischen Schriften enthalten sei (Herm. 182 f.). Aber die Textgewinnung selbst erfolgt ja, wie wir sahen, gelegentlich vom Thema aus und die Text­ verwendung erfolgt, wie Theorie und Praxis ausweisen, sehr frei, d. h. nicht nach den Erfordernissen des geschichtlichen und textlichen Zu­ sammenhanges, sondern nach dem gegenwärtigen christlichen Bedürfnis, 1 Vgl. Kap. 5,2 über die HauSstandöpredigten. 2 Wir verweisen auf die Bedeutung dieser Gedanken für die Predigt. Noch immer ist die rationalistische Auffassung lebendig, als seien es „anthropomorphe" Vorstellungen von Gott, ihn als zornig, liebend, schweigend, redend vorzustellen. Äm Hintergrund steht der Gedanke völliger Unerkennbarkeit Gottes, der „ganz anders" ist als sein Werk, der Mensch. Indem aber Jesus Christus von Gott als dem redet, der gebeten sein will (Lk. 11,5—13; 18,1—«), der in seiner Königswürde beleidigt werden kann (Mt.22,11 ff.) u. bergt., zeigt er die Gleichnisfähigkeit irdischer Verhältnisse auf Grund der Gottebenbildlichkeit deutlich auf. Die scholastische Lehre von der analogia entis hat das tiefere biblische Recht als die rationalistisch-moderne Anschauung von Gott, die glaubt, abge­ sehen von seiner Kondeszendenz in Christo von ihm als dem Unerkennbaren reden zu können. Die evangelische Grenze gegen den scholastischen Gedanken ist dort zu ziehen, wo die Scholastik glaubt, eine natürliche Erkenntnis Gottes neben der Offenbarung auf die analogia entis aufbauen zu können. Nur auf Grund der Offenbarung in Christo, nur auf Grund der Heiligen Schrift ist wirklich die „natürliche Theologie" die Urfrage der Homiletik.

7. Schlciennachcrs spekulatives System

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ja selbst nur als Motto. Die Analogie wird festgehalten, aber die Geschichte wird als die Variable eingefügt ins Verhältnis des da­ maligen und heutigen Bewußtseins, und die Priorität des Bibeltextes ist nicht eindeutig. Die Analogie ist also eine gleichschwebende. Aber hier wurzelt das hermeneutische Problem. Wäre es so, daß Schleiermachers Predigten eine Insel unbeeinflußter christlicher oder kirchlicher Sprache wären, so bestünde unser Problem überhaupt nicht. Nun aber sahen wir sehr ausgeprägte Auslegungögrundsätze bei Schleier­ macher am Werke, deren wesentlichster die Auslegung nach psychischen Analogien fordert. Diese Forderung wäre eine Harmlosigkeit, wäre Schleiermacher ein Psychologe im Sinne des modernen Hausgebrauches gewesen. Statt dessen aber war er ein jüngerer Zeitgenosse Kants und ein Glied der idealistischen Schule. Diese Tatsache gibt unserer theo­ logischen Analogiefragc ihr Gewicht. Denn es gilt nun, den ganzen theoretischen Umkreis des „Bewußtseins" sowie die Schriftlehre Schleier­ machers klarzulegen, um zu zeigen, was „predigen" bei Schleier­ macher heißt, wie bei ihm und bei uns am Sinn der Predigt sich Wert und Charakter einer Theologie enthüllen.

7. Kapitel Schleiermachers spekulatives System Ein weiter Weg führt von den Predigten Schleiermachers zu seinem philosophischen System. Und doch wird man der Tendenz seiner Pre­ digten kaum gerecht, wenn man nicht die ganze Weite der in Schleier­ macher vorhandenen Spannung ins Auge faßt. Er selbst hat ja in dem berühmten Gespräch mit Jakobi (Br. II. ©. 350 f.) davon ge­ redet, daß er „mit dem Verstände ein Philosoph, mit dem Gefühl ein ganz Frommer" sei, und daß es sich bei ihm um eine Art von „Gleich­ gewicht auf beiden Wassern" handle. Hier findet sich auch das be­ kannte Wort von den beiden Brennpunkten der eigenen Ellipse, an welches man ja immer die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher angeknüpft hat. Aber vielleicht ist, von der Philosophie her aufs Christliche gesehen, doch die Theologie bezw. die Glaubenslehre nur Brücke unb Vermittlung zum Christ­ lichen, welches Schleiermacher, so wie er es verstand, am eigentlichsten in den Predigten verkündigt hat. Es ist also, — sofern ja auch die

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II. Haupttcil: Predigt und Text. 7. Schleiermachers spekulatives System

Glaubenslehre wissenschaftlich legitimiert werden sollte — nicht die innerwissenschaftliche Spannung zwischen Theologie und Philosophie, sondern vielmehr die noch weitere ins Auge zu fassen zwischen jener obersten Wissenschaftsidee bis hin zur unmittelbaren christlichen Ver­ kündigung in den Predigten. Haben diese beiden Pole überhaupt etwas miteinander zu tun? Treten die spekulative und praktisch-christliche Richtung zufällig beim selben Mann hervor, ohne vereinbar zu sein? Handelt es sich um Brennpunkte einer Ellipse, oder gar um heimliche Identität? Es kann hier nicht darum gehen, die ganze Masse aller Einzel­ heiten des spekulativen Systems auszubreiten. Wir verfolgen einen bestimmten Zweck. Wir suchen Aufschluß über den Sinn des „Be­ wußtseins"^ zu dem das Analogieproblem der Predigten hinführt. Dazu muß uns freilich der ganze Rahmen des Systems klar sein. Schleiermachers Bedeutung liegt nicht in seiner philosophischen Leistung. Hierin stand er im Schatten größerer Zeitgenossen. Aber doch hat sein System überragende Bedeutung als erster großer Versuchs die Sache des Christentums vor-dem Urteil der autonomen Wissenschaft zu legitimieren. Wie nahe Wissenschaft und Christentum für ihn bei­ sammen wohnen, wird eben das Analogieverhältnis zwischen „bib­ lischem" Christentum und vernunftgeklärtem Bewußtsein erweisen.

1. Das psychologische Schema SchleiermacherS Philosophie ist dadurch gekennzeichnet, daß er den idealistischen Einsatz bei der Vernunft alsbald ins Konkrete wendet. Dies läßt sich an der philosophischen Ethik deutlich zeigen, wo er von dem absoluten Wissen, das in widerspruchsloser Identität mit dem ab­ soluten Sein gleich ist, auf die Gegensätze der Vernunft an sich zu sprechen kommt, welche aber erst in der Persönlichkeit real werden. Denn wir haben es ja nicht mit dem vollendeten absoluten Sein — Wissen, sondern mit dem unvollendeten endlichen Bewußtsein zu tun, welches eben in der Form der Persönlichkeit ausschließlich gegeben ist. Man kann daher im Sinne SchleiermacherS nie von „Vermögen" der Vernunft an sich sprechen, sondern stets nur von Funktionen der Vernunft in der Persönlichkeit. WaS aus der Vernunft deduziert wird, muß in der Wirklichkeit deS Menschen auffindbar sein, aber auch umgekehrt ist zu sagen: das vernünftige Leben der Persönlichkeit ist transzendental begründet.

i» Daö psychologische Schema

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Diese Doppelsinnigkeit der philosophischen Aussagen Schleiermachers/ nämlich/ daß alles Transzendentale einen Niederschlag im Bewußtseinsleben der Persönlichkeit hat und doch wiederum alles Psychologische nur in transzendentaler Verankerung verstanden werden darf/ macht sich gleich zu Beginn der Glaubenslehre bemerkbar. Es handelt sich darum/ das „Gefühl" als höchste Bewußtseinsstufe/ nämlich als unmittelbares Selbstbewußtsein zu erweiseil. Ein Stück empirischer Psychologie erfährt seine transzendentale Deutung. Wir verfolgen zunächst dell empirisch-psychologischen Gedanken­ gang. Gefühl ist lveder Bewußtlosigkeit lloch auch gegenständliches Bewußtsein/ sondern es ist/ im Unterschied von Denken und Wollen/ ein Innesein seiner selbst/ welches ganz außerbalb alles gegenständlichen Bewußtseins liegt/ wie wir es z. B. lloch in der Selbstbilligung haben. In der von Schleiermacher geschilderten Bewegung des Lebens wechselt miteinander ab das Jnsichbleiben und AussichheraustreteN/ jenes durch Gefühl und Wissen/ dieses durch das Tun bezeichnet. Weil aber das Wissen in der Form des Erkennens auch zum spontanen Akt wird und damit zum Tun hinileigt/ kommt als reines Jnsichbleiben doch nur das Gefühl m Betracht. Es ist gegenüber der Spontaneität der Persönlichkeit der Bezirk ihrer reinen Rezeptivität (Gl. L. § 3). Wird sich nun das Selbstbewußtsein über die beiden Richtungen seiner selbst klar/ so erscheint es in seiner Spontaneität soseielld/ stets gleich/ als Subjekt für sich. In der rezeptiven Sphäre hingegell erkennt es sich als geworden und insofern als veränderlich/ als Subjekt/ das nie für sich allein da ist. Dort herrscht auf Grund der Selbsttätigkeit das Be­ wußtsein der Freiheit/ hier aber auf Grund der erfahrenen Empfäng­ lichkeit und Gewordenheit das Bewußtsein der Abhängigkeit. Nach beiden Richturlgen besteht ein Wechselverhältnis: die Freiheit findet an dem/ was außer uns ist/ an der „Welt" ihre Grenze/ die Abhängigkeit hinwiederum schließt doch eine gewisse Gegenwirkung gegen die Welt nicht aus. Insofern sind Freiheits- und Abhängigkeitsbewußtsein „geteilt" oder relativ. Reichen sie aber auch in die absolute Sphäre? Schleiermacher verneint dies für das Freiheitsbewußtsein/ denn aller Spontaneität ist an der Welt eine Grenze gesetzt. Aber er bejaht es für das AbhängigkeitsbewußtseiN/ denn das Beisichselbstsein des Be­ wußtseins besteht auch ohne Hinblick auf die Welt. DaS Bewußtsein des Gewordenseins — modern gesprochen: die „Geworfenheit" — hat nicht nur ein endliches Gegenüber/ es kann absolut in sich ruhen/ es ist fähig/ schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl zu werden (§4). Somit halten wir fest als spekulatives Ergebnis dieser empi-

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II. Haupttcil: Predigt und Text. 7. Schleiermacherö spekulatives System

rischen Gedankenreihe: Die Person reicht nur mit dem Gefühl in die Sphäre deö Absoluten. Diese Auffassung liegt der Lehre Schleiermachers von den drei Stufen des Selbstbewußtseins zugrunde*. Die erste „dunkle" Stufe des Selbstbewußtseins entspricht etwa dem vorsprachlichen Zustande des KindeS, der tierischen Verworrenheit der Sinne. Auf der zweiten Entwicklungsstufe klärt sich das Bewußtsein, eö ordnet sieb, jedoch bleibt das Gefühl noch ganz dem Sinnlichen zugewendet. Es ist daö sinnliche Selbstbewußtsein, daö auch bei der Herrschaft deö Geistes in der Funktion der Wahrnehmung mitwirkt und von dem sich der Mensch nicht dispensieren kann, weil es seinem Dasein in der Welt entspricht. Indessen vermag die Persönlichkeit gleichzeitig dem Selbstbewußtsein eine höhere Richtung zu geben, indem eö sich zum schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl in dem be­ zeichneten Sinne erhebt. Dann erst nimmt eö am Absoluten teil. Frei­ lich ist dieses schlechtbinige Abhängigkeitsgefühl feine für sich bestehende dritte Stufe, sondern vielmehr die zweite Stufe ist auf daö dritte Sta­ dium deö Bewußtseins in der Einheit deö Momentes bezogen. Die dritte Stufe ist nur eine böhere Richtung der zweiten, die zweite ist in der dritten beschlossen, und daö ist eS, waö Schleiermacher mit Fröm­ migkeit bezeichnet. Gleichzeitig ist aber das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl nicht nur das Wesen der Frömmigkeit, sondern auch daö höchste Selbst­ bewußtsein, sein Vollendungspunkt. Man kann hiervon in den verschiedensten Zusammenhängen sprechen; das höchste Selbstbewußt­ sein hat als Ort der Religion Bedeutung für die Dogmatik, als sozio­ logische Voraussetzung Bedeutung für die Ethik, als Jndifferenzpunkt zwischen Wissen und Wollen, zwischen Denken und Sein eine Zentral­ stellung in der Dialektik. Eö ist daher eine besonders für die Predigten Schleiermachers überaus folgenschwere Gleichung, wenn er sagt: Das fromme Selbstbewußtsein sei „ein wesentliches Ele­ ment der menschlichen 9tatur"1 2 (Gl. L. § 6). Es ist in diesem Zusammenhang nicht unsere Aufgabe, den Unter­ schied von dem Religionsbegriff der „Reden" zu behandeln. Dort hatte die Religion, sofern sie „Anschauung" des Universums war, 1 Gl. L. § 5, — vgl. Dialektik (1814) § n. — Schon in den „Reden" wird eine dreifache Auffassung des Universums erwähnt: Chaos — Vielheit ohne Einheit — Einheit in der Vielheit. Damit sind jedoch drei Religionsstufen ge­ meint, die aber den drei Stufen des Selbstbewußtseins entsprechen. Die drei Stufen auch in „Christi. Sitte" S. 42. 2 Vergl. die Figuren 2 des 1. Anhanges.

i. DaS psychologische Schema

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eine gewisse kognitive Funktion tnnez aber entgegen der sinnlichen Wahr­ nehmung der Dinge auf das Universum gerichtet. Diese Seite des Ab­ hängigkeitsgefühls ist jetzt zugunsten seiner transzendentalen Begrün­ dung aufgegeben. Es obliegt uns hier ferner auch nichts auf die Vor­ züge dieses Religionsbegriffes zu verweisen/ auf die Unabhängigkeit vom Wissen und von der Moral/ ebensowenig als uns hier die nahe­ liegende Kritik dieses rein immanenten^ anthropologischen Religions­ begriffes beschäftigen soll. Das alles ist schon anderwärts geschehen. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang etwas anderes. Man bat im Hinblick auf Schleiermachers Sendschreiben an Lücke oft darauf verwiesen/ daß eine philosophische Religionsbegründung von Schleiermacher gar nicht beabsichtigt fetz daß er als Theologe/ ganz zu schweigen als Prediger/ keine Philosophie bieten wolle. Das istz so formuliert/ auch durchaus richtige denn Philosophie liegt für ihn im Gebiet der Erkenntniss die Frömmigkeit aber ruht auf dem Gefühl. Es wäre jedoch völlig abwegig dabei die philosophische Deutung des Ge­ fühls vor allem in der Dialektik und Ethik außer Acht lassen zu wollen. Denn das Gefühl und das hierauf gegründete religiöse Leben hat üi den theologischen Schriften und in den Predigten genau den Sinnz welcher in der Philosophie Schleiermachers festgestellt wird. In dieser ist vor allem von einer Isolierung des Gefühls oder von einem Mangel an begrifflicher Prägnanz nichts zu bemerken. Damit kommen wir auf die spekulative Lehre vom Gefühls die das Gegenstück zu seiner empi­ rischen Lehre vom schlechtbinigen Abhängigkeitsgefühl bildet. (Vergl. zum Folgenden die figürl. Darstellungen im i. Anhang.) Die philosophische Ethik lebrtz daß die Vernunft/ die wesent­ lich Erkennen istz sich in zwei Funktionen äußert/ in dem spontanen und rezeptiven Erkennen/ oder wie Schleiermacher 1812/13 sagt/ in der organisierenden und erkennenden Funktion. Beide erscheinen sowohl unter dem Charakter der Identität/ d. h. unter einem Schematismus/ der die Vereinsamung des Individuums durchbricht/ als auch unter dem Charakter der Eigentümlichkeit/ in dem sich die spezielle Vernunftbezogenheit des einzelnen ausspricht. Doch handelt es sich bei dieser Teilung nicht um Extrem^ sondern um potentielle Entgegensetzung: In jedem Glied ist ein Gegensatz mitgedacht. Dieses System der Ver­ nunftfunktionen schließt nun das Gefühl in ganz bestimmtem Sinne in sich: Es gehört nämlich zur erkennenden Funktion und zwarz sofern eö nicht allgemeine Sätzez sondern reflexiv das Subjekt selbst zum Gegenstand hatZ unter dem Charakter der Eigentümlichkeit. Aber es ist damit/ wie schon gesagt/ nur in einer potentiellen Einseitigkeit be-

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II. Haupttcil: Predigt und Text. 7. Schlciermachcrö spekulatives System

schrieben. Tatsächlich nämlich ist kein eigentümliches Erkennen (— Ge­ fühl) so subjektiv, eS wohne ihm nicht eine relative Fähigkeit ein, sich nach der Art des identischen Erkennens zu vermitteln. Es ist auf dem Wege der Kunst und besonders der Rede ähnlich wie das Wissen in der Wissenschaft einer „Darstellung" fähig. Um dieser Darstellung willen nennt Schleiermacher die spezifisch erkennende Funktion der Vernunft in dem ethischen Entwurf von 1816 die symbolisierende. — Kein echtes Gefühl ist aber auch gleichzeitig so sehr insichbleibend, es hätte nicht auch einen organisierenden Trieb, durch den alle echte Religion wesens­ mäßig notwendig zur Kirche führt. — In der Dialektik wird das Gefühl in anderer Weise von Schleier­ macher diskutiert. Hier liegen der ganzen Auffassung die zwei Ver­ nunftsphären von Denken und Sein zugrunde. Beide Sphären sind in sich dialektisch geschieden. Das Denken tritt auseinander in das Wissen und das Wollen, in der Seinssphäre der Vernunft entspricht dieser Unterscheidung das Natursein, der Gegenstand der Physik, und die Sittenform, der Gegenstand der Ethik. Sofern das Denken auf das Sein bezogen ist, geht dem Wissen das Natursein voraus, während die Sittenform dem Wollen folgt. Aber alles ist für Schleiermacher nur systematische Form der Vernunft. Die Einheit von Wissen und Wollen ist im transzendentalen Sein garantiert und eben diese Einheit spricht sich für Schleiermacher auö in der relativen Identität von Wissen und Wollen im Gefühl. Übersieht man den § 215 tn der Fassung von 1818, so findet man diese Identität als psychologische beschrieben. Sie ist aber gleichzeitig und vor allem transzendental gemeint: Das Gefühl als der Jdentitätspunkt von Denken und Wollen garantiert den tran­ szendentalen Grund beider, ja in ihm spricht sich die Einheit von Denken und Sein selber aus*. Das ist die philosophische Schlüsselstellung des Gefühls. So sehr es das Eingangstor in den durchaus eigenberechtigten Bezirk der Re­ ligion darstellt, so ist es doch von Schleiermacher als eine Funktion der Vernunft legitimiert. Unauflöslich gehen von hier aus Vernunft und Religion Hand in Hand. Wie tief diese Verflochtenheit geht, zeigt sich an dem Erlösungs­ begriff der Glaubenslehre, der durchaus in dem psychologischen Schema beschrieben ist (§11). Der Erlösung geht eine Gebundenheit voraus, die darin besteht, „daß die Lebendigkeit des höheren Selbstbewußtseins 1 Ähnlich ist in der „Psychologie" das Gefühl als Einheitsfunktion des Bewußtseins beschrieben, vgl. Anhang 1, Figur 2 d.

2. DaS Bewußtsein

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gehemmt oder ausgehoben ist, sodaß Einigung desselben mit den ver­ schiedenen Bestimmtheiten des sinnlichen Selbstbewußtseins und also fromme Lebensmomente wenig oder gar nicht zustande kommen. Die Disposition zu dieser Gebundenheit ist sehr groß, denn das höhere Selbst­ bewußtsein kann nicht ohne das sinnliche, dieses aber sehr wohl für sich sein. Diese Gebundenheit stimmt also genau zusammen mit dem Gelüsten des Fleisches wider den Geist, womit in den Predigten so unzählige Male die Sünde bezeichnet ist, eine biblische Bezeichnung also für eine Sache, die man auch philosophisch beschreiben kann. Des­ gleichen ist die überwiegende Bezeichnung für Christus, nämlich Er­ löser, eben sinnvoll von dem psychologischen Schema aus: Er befreit uns von der Gebundenheit deö höheren durch das sinnliche Selbst­ bewußtsein. Das höchste Selbstbewußtsein, zu dem wir durch die Aus­ nahme in die Kräftigkeit seines Gotteöbewußtseins gelangen, — ist es etwas anderes als die psychische Vollendung des Menschen? Aber wie kommt Schleiermacher zu dieser Projektion transzenden­ taler Sachverhalte aufs Bewußtsein, waS hat eS zu bedeuten, daß er die Erlösung im Bewußtsein anheben und sich erfüllen läßt? Diese für die Predigten so folgenschwere Frage soll unS nunmehr beschäftigen.

2. Das Bewußtsein Am Anfang des 2. Teiles der „Christl. Sitte" weist Schleiermacher auf seine Absicht hin, „das Handeln in seinen verschiedenen Formen abzuleiten aus den am meisten innerlichen Veränderungen des Selbst­ bewußtseins" (S. 502). Somit handelt es sich in der christlichen Ethik für ihn zunächst um Vorgänge innerhalb des Bewußtseins. Dies darf nicht mißverstanden werden. Er denkt hierbei vor allem nicht an daö empirische Bewußtsein des einzelnen, sondern an das Bewußt­ sein überhaupt in jenem schon gekennzeichneten transzendentalen Sinne. Wir sahen schon im vorigen Abschnitt, daß daö transzendentale Sein der Vernunft sich in 2 Sphären entfaltet, in Vernunft und Natur, wie er in der Twestenschen Ethik sagt, oder in Denken und Sein, wie es in der Dialektik heißt. An der hohen transzendentalen Würde der Vernunft hat daö Bewußtsein im Schleiermacherschen Sinne Anteil, denn eö ist ihre reale Darstellung im Endlichen. Daraus versteht sich, daß dem Bewußtsein hier eine weit über das Psychologische hinaus­ greifende Bedeutung zukommt. Daran ist zu denken, wenn in den Prinzipien der Glaubenslehre

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 7. Schleiermachers spekulatives System

vom Bewußtsein die Rede ist. Denn als das Ziel der Erlösung erscheint hier die Herstellung, bezw. die Befreiung des höchsten Selbstbewußt­ seins, „eine Befriedigung der Richtung auf das Gottesbewußtsein" (§ 11,2). Hinsichtlich der Gebundenheit des frommen Selbstbewußt­ seins ist das Ziel bezeichnenderweise so ausgedrückt: „Das Bewußtsein dieses Zustandes oder unmittelbar ihn selbst aufzuheben" (§ 11,3). „Jesus ist nur auf die Weise Stifter einer frommen Gemeinschaft, als die Glieder derselben sich der Erlösung durch ihn bewußt werden" (ebd.). Christus als der Erlöser ist „der Anfang der höchsten Entwick­ lung der menschlichen Natur auf dem Gebiete des Selbstbewußtseins" (§ 14, Zusatz). Wir werden jedoch sagen dürfen, daß die Glaubens­ lehre in ihrem weiteren Verlauf mehr eine inhaltliche Beschreibung deS christlichen Selbstbewußtseins als eine grundlegende Erörterung der Bewußtseinsfrage bieten will. Es mag daher für unsere Zwecke den kürzeren Weg bedeuten, wenn wir anderöwo, nämlich in der Christl. Sitte Aufklärung zu erlangen suchen. Die aufschlußreiche Behandlung der BewußtscinSfrage findet sich zu Beginn des 2. Teiles der Christl. Sitte (S. 502 ff.). Als Ziel des christlichen Handelns wird hier genannt daö Bewußtsein der Seligkeit, in welcher der Unterschied von Lust und Unlust ausgehoben ist, die voll­ kommene Herrschaft des Geistes über daö Fleisch. Schwierig ist hier­ bei jedoch die Feststellung des Ausgangspunktes für dieses Handeln. Welche Bestimmtheit des Selbstbewußtseins geht dem sittlichen Handeln deö Christen voraus, setzt es sozusagen in Bewegung? Schleiermacher unterscheidet zweierlei wirksames Handeln zur Erreichung des geschil­ derten Zieles: in intensiver Form das „wiederherstellende", in exten­ siver Hinsicht das „erweiternde" Handeln. Und nun argumentiert er so: Soll der gleichsam „ursprüngliche" Zustand der Herrschaft des Geistes über daü Fleisch „wiederhergestellt" werden, so muß er schon dagewesen sein, ähnlich wie ja auch in der philosophischen Ethik die Natur schon vor dem sittlichen Prozeß als vernünftig angenommen wird. DaS angestrebte Bewußtsein der Seligkeit geht also dem wiedcrherstellenden Handeln irgendwie schon voraus. Ähnlich bei dem er­ weiternden Handeln. Soll die Herrschaft des Geistes ausgedehnt werden, so muß irgendwo schon diese Herrschaft ansatzwcise vorhanden sein. Schleiermacher denkt dabei, wie in der philosophischen Ethik, an den Menschen. Es ist also in jedem Falle so, daß dem sittlichen Handeln, dem „sittlichen Prozeß" nach der Terminologie der Philosophischen Ethik, die Seligkeit irgendwie nicht nur als Ergebnis folgt, sondern schon vorauSgeht. Noch ein anderer Grund zwingt zu dieser Annahme.

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2. Das Bewußtsein

Dem wirksamen Handeln steht in der Christi. Sitte bekanntlich das darstellende Handeln gegenüber. DaS darstellende Handeln, welches der relativen, inneren Seligkeit des Menschen entspringt, könnte aber gar nicht in Erscheinung treten, wenn die ideale Annäherung deS sitt­ lichen Prozesses an die vollkommene Seligkeit vorausgesetzt werden müßte. Ja, jedes wirksame Handeln ist in einer Hinsicht auch dar­ stellendes und setzt somit mindestens ein Analogon von Seligkeit vor­ aus, relative Seligkeit zwar, aber doch echte, die keine Form von Lust oder Unlust in sich birgt. Denn dies wäre das Kennzeichen eines un­ vollendeten Zustandes. Worin besteht nun der Unterschied zwischen jener anfänglichen Seligkeit und jener idealen am Ende der sittlichen Entwicklung? Wäre völlige Gleichheit der Seligkeit ain Anfang und Ende vorhanden, dann wäre der dazwischen liegende Prozeß nur Schein. Würde aber in dem Prozeß von außen etwas zu der anfänglichen Seligkeit hinzu­ kommen, um den schließlichen Zustand durch solche Ergänzung her­ zustellen, so wäre offenbar die vorausgehende Seligkeit keine rechte. Der Prozeß kann sonach nur in einer Steigerung bestehen. Diese Steigerung aber bezicht sich eben auf den „Ort" der Seligkeit, nämlich das Selbstbewußtsein. Es gilt eine „intensive Steigerung", ein „Jncrement im Bewußtsein" (Chr. S. 504), einen Weg auS der unbewußten in die bewußte Seligkeit*. Was veranlaßt jedoch diese Steigerung des Bewußtseins, bezw. das Verschwinden der Bewußtlosigkeit? Es sind Lust und Unlust, die zu „Bewußtsein" kommen (Chr. S. 39—45). Beide faßt Schleier­ macher als reziproke Begriffe auf: Da in der Seligkeit keine Unlust mehr walten darf, kann auch von Lust keine Rede sein. Beides sind vielmehr Erscheinungen, welche den Kampf des Geistes mit der Sinn1 Man kann sich die Absicht Schleiermachers bei diesen Gedanken klar machen, indem man die philosophische Ethik als Kommentar zu Rate zieht. Hier handelt es sich um einen sittlichen Prozeß, an dessen Ausgangspunkt ein Mini­ mum von Einigung der Vernunft mit der Natur steht. Die ideale Abgeschlossen­ heit des Prozesses würde darin bestehen, daß die ganze Natur durch Vernunft ein Organ der Vernunft geworden ist. Die Lage ist also hier derjenigen der „Christl. Sitte" gleich. Als anfängliche, der schließlichen aber gleichwertige Einigung von Vernunft und Natur bezeichnet Schleiermacher in der Philosophischen Ethik für die organisierende Funktion den Leib, für die erkennende Funktion das Be­ wußtsein. Die von hier aus mögliche Steigerung ist also ein „Jncrement" von Vernünftigkeit. Anstatt des hier waltenden, gleichsam objektiven Gesichtspunktes der Vernunft folgt die Christl. Sitte dem subjektiven Gesichtspunkt des Be­ wußtseins. W. Trtllhaas: Schleiermachers Predigt

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 7. Schleiermachers spekulatives System

lichkeit bezeichnen. Denn Luft und Unlust bestehen hinsichtlich des Abstandes vom Ziel. Sofern die Seligkeit oder die Gemeinschaft mit Gott in jedem Momente wirksam ist, herrscht Lust, sofern der Abstand von der vollkommenen Seligkeit zutage tritt, ist das Bewußtsein der Unlust mächtig. Diese Unlust ist kein Zeichen der Sündigkeit, vielmehr daS Jnnesein der sündig-sinnlichen Mächte, das Bewußtsein von der Herrschaft der „niederen Lebenöpotcnz". Diese gilt es im „reinigenden Handeln" zu überwinden. Es geht aus von der „Bewußtlosigkeit" über den Keim von Unlust und zielt auf eine Seligkeit, welche Bewußt­ sein der aufgehobenen Unlust ist. Das „erweiternde Handeln" setzt ein bei der Bewußtlosigkeit der latierenden Lust und sucht die Selig­ keit im Bewußtsein der erweiterten Lust*. Dem Verdachte des Hedonismus ist Schleiermacher dadurch ent­ nommen, daß ja Lust und Unlust nicht als Ziel des ethischen Prozesses, sondern nur als dessen bewußtseinsmäßige Begleiterscheinungen be­ zeichnet sind. Wichtiger ist aber etwas anderes. Diese christliche Sitten­ lehre ist wie ihre philosophische Schwcsterdisziplin eigentlich streng genommen eine Lehre von der Lebenösteigerung, in der Philosophischen Ethik Lehre von der Steigerung des Vernunftgehaltes des Lebens, in der Christlichen Ethik von der Steigerung des Seligkeitöbewußtseins. Nun ist daS natürlich eine vorwiegend psychologische Sache, aber würde man darin nur Psychologismus sehen, hätte man die transzendentale Bedeutung dieser Psychologie übersehen. Denn wie Vernunft und Natur in der Philosophischen Ethik, Denken und Sein in der Dialektik, so sind Bewußtsein und Leben durch den gleichen transzendentalen Grund verklammert, von dem das Gefühl Zeugnis gibt. Der Mensch wird neu und anders, indem sich sein Bewußtsein erneuert und ver­ ändert. Daraus erklärt sich, daß eine so praktische Sache wie das „wirksame Handeln" eben in Form einer Bewußtseinömetamorphose beschrieben werden kann. Welche Möglichkeiten eröffnen sich unter solchen Voraussetzungen für die Predigt, die ja doch auf daS Bewußtsein wirken soll? Frei­ lich nach der Theorie der Christl. Sitte hat sie zunächst nur daS christliche Bewußtsein darzustellen, ist sie nur ein Äußerlichwerden des Inner­ lichen, scheinbar ohne jede Wirksamkeit. Aber schon in diesem Rahmen zeigt die Schleiermachersche Beschreibung des darstellenden Handelns, daß demselben höchste Wirksamkeit zukommt. Indem nämlich der Darstellende sein Inneres für andere mitteilt, ergibt sich Gemeinschaft, denn der in allen gleiche, identische Geist ermöglicht das Verstehen

1 Vgl. 1. Anhang, Figur 3.

2. DaS Bewußtsein

163

zwischen den einzelnen; das darstellende Handeln löst den einzelnen aus seiner Isolierung heraus, es ist in der Idee der Gemeinschaft be­ gründet, und begründet seinerseits die Wirklichkeit der Gemeinschaft. In zwei wichtigen und bezeichnenden Sätzen Schleiermachers findet sich der beschriebene Sachverhalt ausgesprochen: Das darstellende Handeln hat „keinen anderen Zweck... als das eigene Dasein für andere aufnehmbar zu machen" (Chr. S. 50). Diese Begründung der Gemeinschaft durch das darstellende Handeln, zusammengesehen mit der Auffassung, daß alles Darstellen eine gewisse qualitative Voll­ endung des Darzustellenden voraussetzt, macht nun den anderen Satz begreiflich: „Alles Darstellen ist nichts anderes, als die beständige Realisation des menschlichen Wesens selbst" (Chr. S. 517). Damit ist in der Tat eine hohe Würde des darstellenden Handelns ausgesprochen, welche insoferne unmittelbar auf die Predigt übergeht als ja diese, wie gezeigt wurde, geradezu die Darstellung des Christlichen schlechthin für Schleiermacher bedeutet. Das Bewußtseinsproblem hat somit an dem darstellenden Handeln eine offene Stelle, wo es in soziologische Fragen ausmündet, die nun für die Predigt von Bedeutung werden. Es ist der Gegensatz des Spon­ tanen und Rezeptiven, des Darstellens und Aufnehmens des Inner­ lichen. Indem der Prediger sein Inneres darstellt, verhilft er gleichsam dem anderen zur eigenen Entfaltung seines Bewußtseins, übt er gleich­ sam Mäeutik. Darüber hinaus schließen sich durch sein darstellendes Handeln die einzelnen zur religiösen Gemeinschaftsform der Kirche zusammen. Durch die Tätigkeit deS Predigers kommt also eine rela­ tive Sphäre des Vernunftlebens zustande, die im Plan der Vernunft vorgesehen ist. ES macht nun allerdings den Eindruck, als ob an einer Stelle dieses ganzen Zusammenhanges der Rahmen der Bewußtseinöimmanenz gesprengt würde, nämlich darin: „Alle Steigerung der Herr­ schaft des Geistes im Gebiete der menschlichen Natur geht aus von der ursprünglichen Wirksamkeit Christi" (Chr. S. 529). Denn in „Christo ... ist keine Möglichkeit der Steigerung, sondern da ist der ganze Prozeß nur ein extensiver. Es ist seine ewig festgestellte Herrschaft über das menschliche Geschlecht, welche sich weiter und weiter verbreitet" (ebda.). Aber diese Einzigartigkeit Christi hat doch nur die Bedeutung einer prima causa für den ganzen Prozeß der Steigerung des Seligkcitöbewußtseins, und es läßt sich — genau besehen — an keiner Stelle nachweisen, daß für Schleiermachcr die Einzigartigkeit deS Erlösers auch eine Einzigartigkeit das zu erreichenden Seligkeitsbewußtseins zur 11*

164

II. Hauptteil: Predigt und Text. 7. Schleiermacherö spekulatives System

Folge hätte. In der Tat bleibt daS psychologische Schema genau so wie die Entfaltung des Seligkeitsbewußtseins von dem hinzutretenden Gedanken an den Erlöser Jesuö Christus völlig unberührt. Damit aber erreicht gerade das Bewußtseinsproblem für die Ein­ sicht in Schleiermacherö geheime Absichten seinen kritischen Wert. Denn wenn eS so ist, daß sowohl das psychologische Schema, wie auch das Bewußtsein deö Menschen mit allen seinen „religiösen" Inhalten auf eigenen Füßen stehen, dann scheint es auch in den Predigten um nichts anderes zu gehen, als um die Bewußtmachung des im Menschen (überhaupt) latierenden Christentums. Hierauf scheint auch die Be­ merkung in der Glaubenslehre (§ 30,2) hinzuweisen, nach welcher die Beschreibung menschlicher Zustände die dogmatische Grundform sei. Man kann von hier auö gesehen nicht umhin, die starke christozentrische Orientierung für ein bewußtes Einkleiden andersgemeinter, bestenfalls „auch so ausdrückbarer" Sachverhalte anzusehen. Wenn wir uns zu diesem Urteil nicht schlechterdings entschließen, dann deshalb, weil der originale Zeugniöwert der Predigten nicht einfach von außen her in Frage gezogen werden darf, weil ferner die Geistfrage bei Schleier­ macher in einer Weise behandelt ist, welche den Heiligen Geist und den Gemeingeist streng, wiewohl nicht völlig klar, geschieden hält. Wir wollen versuchen auf diesem dritten selbständigen Weg noch­ mals aus Schleiermacherö System bis vor die Pforten deö Predigt­ problems hinzuführen.

3. Der Heilige Geist und die Vernunft Überblickt man, waö Schleiermacher in philosophischem Zusammen­ hänge über die Religion lehrt, so zeigt sich zweierlei: Die Religion er­ scheint als ein integrierender Bestandteil des Systems der Vernunft und sie stimmt in der Darstellung Schleiermacherö inhaltlich ganz genau mit seinem Bilde des Christentums zusammen. Um sich von der erst genannten Tatsache zu überzeugen, muß man nur das Schema der Philosophischen Ethik überblicken, welche ja bei Schleiermacher eine Einleitung in die Geisteswissenschaften ersetzt (vgl. Fig. ia, ferner Absatz 1 dieses Kap.). Die Religion erfährt ihre transzen­ dentale Ableitung aus der erkennenden Funktion der Vernunft, inner­ halb deren sie den eigentlich subjektiven Charakter vertritt. Religion ist also im System der Vernunft das eigentümliche Wissen um sich selbst und zwar im Maße höchst möglicher Unmittelbarkeit, sie beruht somit, wie wir schon oben angedeutet haben, auf dem Gefühl. Indem jedoch

Der Heilige Geist und die Vernunft

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dieses Gefühl nicht extrem-subjektiv gedacht werden darf — das Extrem ist ja für Schleiermacher geradezu das Kennzeichen des Unsittlichen und seine Ethik eine Ethik der Mitte oder der Identität der Extreme — indem also das Gefühl nur a potiori die subjektiv-eigentümliche Sphäre des Erkennens bedeutet, hat es ein Ferment des Identischen in sich; eS ist, da sich ja doch die allen gemeinsame Vernunft auch in ihm offenbart, mitteilbar. Der Schematismus dieser religiösen Mitteilung nun ist die „Darstellung" im engeren Sinn, die „Kunst" aller Art bis hin zur formlosen Mitteilung des erregten Lebens. Auf diesem Schematismus nun erhebt sich die „relative" Sphäre der Kirche, also jene Aufhebung der Isolierung des einzelnen in der Gemeinschaft der eigentümlichen Erregtheit. Die höchste Srufe des gemeinsamen Gefühlslebens ist das religiöse. In der Scheidung von Klerus und Laien hat diese relative Vernunftsphäre alsdann noch ihre spezielle Soziologie, eine Tatsache, die wir nur anführen, um zu zeigen, wie sich die rein spekulative Religionslehre Schleiermachers in der Wirk­ lichkeit verankert. Wie weit ist nun trotzdem für Schleiermacher das Christentum auf eigene Füße gestellt? Denn auch das Gottesbewußtsein des Christen­ tums stellte sich uns ja nur als eine andere Formulierung seiner philo­ sophischen Auffassung des absoluten Selbstbewußtseins dar. Die Frage der Selbständigkeit des Christentums, bezw. die Affinität seines Prinzips mit dem Prinzip der Vernunft kann nur an der Hand der christlichen Sitte diskutiert werden. Schon in der Einleitung derselben (24—30) wird festgestellt: „Beide, die philosophische und die religiöse Sittenlehre, müssen ihrem Inhalt nach gleich sein, wenn wir als Theologen nicht in den unauf­ löslichen Widerspruch geraten sollen, ein und dasselbe zu tun und nicht zu tun uns verbunden zu fühlen" (26 f.). Dies ist natürlich nicht als Behauptung tatsächlicher Übereinstimmung der christlichen und philosophischen Ethik gemeint, sondern gilt im Hinblick auf die ideale Vollendung der beiden Arten von Ethik. Aber während der Inhalt beider Wissenschaften die Trennung beider Disziplinen nicht hinreichend begründen würde, ist dieö vielmehr eine Folge ihrer verschiedenen Duellen. „Die religiöse Sittenlehre setzt immer voraus das religiöse Selbstbewußtsein unter der Form des Antriebes" (28). Dagegen ist es der Ansatz der philosophischen Ethik: „ein System von Lebenöregeln für den einzelnen aus der reinen Idee der Vernunft herauszubilden . . . (so) daß sich ein widerspruchsloses gemeinsames Leben daraus ent­ wickele" (28 f.). Damit ist das Problem jedoch in seiner ganzen Schärfe

166

II. Hauptteil: Predigt und Text. 7. Schleiermachers spekulatives System

gestellt: Es gibt — materiell betrachtet — nur eine Sittlichkeit, wobei Sittlichkeit in der ganzen Breite einer vernünftigen oder geistigen Ord­ nung des Lebens zu verstehen ist. Demnach bleibt auch das Walten des christlichen Prinzips, des Heiligen Geistes, in den Grenzen der Vernunft. Trotzdem aber hält Schleiermacher aufs Deutlichste den christlichen und „allgemein menschlichen Standpunkt", den Heiligen Geist und Gemeingeist — oder wie er es immer nennen mag — aus­ einander. Die ganze „Christliche Sitte" bedeutet ein zäheö Ringen mit dieser Frage. „Es ist einer der schwierigsten Punkte, das Verhältnis zu be­ stimmen zwischen dem göttlichen Geist und der Vernunft in Christo und in den Gläubigen" (63). Denn während Schleiermacher es der Vernunft zuzugestehen scheint, daß sie sich sowohl im Allgemeinen wie im Individuellen manifestiere — so daß in ihrem Bereich allgemeine und individuelle Normen möglich sind — ist für ihn der „Geist im christlichen Sinne, als Prinzip, das nur durch die Verbindung mit Christo im Menschen einheimisch wird", das in allen Gläubigen Iden­ tische. Nun hat die christliche mit der allgemein menschlichen Sittlich­ keit gemeinsam, daß „sittlich" nur dasjenige Handeln ist, in dem der Geist über das Fleisch, bezw. die Vernunft über die Sinnlichkeit herrscht. Während jedoch in der allgemein menschlichen Sittlichkeit auch die Eigentümlichkeit als vernunftgesättigt Impuls werden kann (das war ja Schleiermacherö Hauptanliegen gegen die Kantische Ethik!), gilt für die christliche Sittlichkeit folgendes: „Der Geist ist doch immer ein und dasselbe, eben weil er von Christo auögeht und in allen ein­ zelnen in derselben Beziehung mit Christo gedacht wird; er kann also auch nur derselbe sein in allen" (60). Ist also damit der Geist restlos auf Seite der Allgemeinheit, so bleibt für die Eigentümlichkeit nur übrig: „Die ursprüngliche Differenz ist vom christlichen Standpunkt aus in das Fleisch zu setzen.... so kann auch die Eigentümlichkeit sittlicherweise nie Impuls werden" (60 f.). Damit ist natürlich das „Fleisch" hier ebensowenig wie in philosophischem Zusammenhänge die Sinnlichkeit als etwas Unsittliches hingestellt, beide sind vielmehr lediglich als das Objekt sittlichen Handelns bezeichnet. Indem also der göttliche Geist in die Individualität eingeht, wird er nicht selbst verschieden, sondern nur „in jedem ein anderer in seinen Äußerungen; der göttliche Geist findet in jedem Menschen immer schon eine indivi­ dualisierte Vemunft, deren Sein in der Sinnlichkeit sein höchstes Organ ist, und die er. . . durchdringen muß, sodaß also die Eigen­ tümlichkeit des Menschen zugleich in allem sein muß, was der gött-

z. Der Heilige Geist und die Vernunft

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liche Geist in ihm wirkt" (62 f.). Die Vernunft in ihrer individuellen Ausprägung ist also nicht nur Zweck oder Objekt, sondern Organ des göttlichen Geistes und wird sich mit demselben schließlich „so voll­ kommen in ELnS bilden . . . daß die Differenz beider, des göttlichen Geistes und der individualisierten Vemunft, immer mehr aufhören müsse" (64). In etwas anderer Weise wird das Verhältnis des Heiligen Geistes zur Vernunft in einem aufschlußreichen Stück der Vorlesung von 1824/25 diskutiert, welches JonaS (Chr.S. 511—513) mitgeteilt hat. Der Ge­ dankengang ist hier folgender: „Christus, der absolute Anfang der christlichen Kirche, hat diese nur durch darstellendes Handeln zu stiften angefangen." Ist der Anfang der christlichen Kirche Christi Selbst­ darstellung, so überhaupt die erste Grundlage dieser Gemeinschaft: Jesum erkennen als den Sohn Gottes. „Das Prinzip nun, welches das eigentümliche Leben der christlichen Kirche konstituiert, ist der Heilige Geist, der, von der Erscheinung Christi abhängig, das göttliche Prinzip in ihm, ihn selbst, auf die Menschen überträgt Doch nun ent­ steht die Frage deö Verstehens, und hier wird offenbar, wie grundlegend die Anschauung über daö Verhältnis von Geist und Vernunft für die homiletische Fragestellung ist: denn diese ganze Selbstdarstellung Christi, die Mitteilung des Heiligen Geistes an Menschen, die denselben nicht haben, setzt voraus, „daß auch die den Heiligen Geist vemehmen können, die desselben noch nicht sind teilhaftig geworden". „Aber wo hat denn dieses Aufnehmenkönnen seinen Sitz? In der mensch­ lichen Vernunft, sofern sie selbst.... eine göttliche Mit­ teilung an den Menschen ist." „Es kann also vorausgesetzt werden, daß die menschliche Vernunft nicht das gleiche, sondern das gleichartige aber unendlich Höhere in Christo unter der Form eines Ahndens zu vernehmen imstande ist, und ohne diese Voraus­ setzung könnte eS niemals ein Verbreiten des Christlichen gegeben haben." Damit kommt also Schleiermacher zu dem sehr entscheidenden Schluß, „die Verwandtschaft des göttlichen Geistes mit der menschlichen Vernunft könne nicht aufgegeben werden". Konkret kommt Schleier­ macher über daS Verhältnis beider zu folgender Darstellung: Die Ver­ nunft waltet in der „äußeren Sphäre", während der Heilige Geist die innere Sphäre schafft, indem er sich der äußeren Sphäre, des xotvbs Xöyog bedient und dieser sich, eventuell unter ihrer gleichzeitigen Um­ gestaltung, einfügt. „Zuvorderst muß, wo das Christentum verbreitet werden soll, die Überzeugung gewonnen sein, daß man vernünftige Wesen vor sich hat, und daS ist nur möglich, wo ein allgemein mensch-

! 68

II. Haupttcil: Predigt und Text. 7. Schleiermachers spekulatives System

liches darstellendes Handeln hervortritt. Sodann bedarf eö einer Ge­ meinschaftlichkeit der Rede, die ebenfalls ein allgemeines darstellendes Handeln vorauöfetzt " Unter diesem Gesichtspunkt von „äußerer" und „innerer" Sphäre, von Vernunft und Heiligem Geist, steht der ganze Aufbau der christ­

lichen Sitte. Hierbei ist zu beachten, daß das „äußere" dem „inneren" vorauögeht, zeitlich wie sachlich; es ist unabhängig von dem erst mit Christo erscheinenden Heiligen Geist, aber doch in engster Artverwandt­ schaft zu ihm. Der Heilige Geist geht infolgedessen, ungeachtet seines einzigartigen Ursprunges, durchaus in die menschlichen, bürgerlichen, staatlichen, kulturellen usw. Verhältnisse ein, um sie zu durchwalten und zu vollenden. Wir erinnern uns aus der philosophischen Ethik des prinzipiellen Gedankens, daß die völlige Vereinigung von Natur und Vernunft das Ziel des ethischen Prozesses darstellt: „Die ganze Natur soll durch die Vernunft Organ der Vernunft werden." Nunmehr stehen wir an­ gesichts des Verhältnisses von Heiligem Geist und Gemeingeist vor einer ganz analogen Situation: Das Ziel des Prozesses der Christiani­ sierung — denn darum geht es (Daö Wort findet sich z. B. Chr. S. 642) — ist dies, daß die Vernunft in ihrer individuell-menschlichen wie allgemein-soziologischen Darstellung Organ deS Heiligen Geistes werde. Hinter der Vernunft, oder vielmehr in sie hineinbegriffen, finden wir aber die Natur. Am Ende des 2. Sendschreibens an Lücke steht das so überaus verräterische und aufschlußreiche Wort Schleiermachers: „Wo Übernatürliches bei mir vorkommt, da ist es immer ein erstes, eö wird aber hernach ein Natürliches als zweites" (ed. Mulert 68). In der Tat: Für Schleiermacher liegt das Ziel der Entwicklung und damit auch das Interesse im Heiligen Geist bei der Vernunft, in der Vernunft bei der Natur (vgl. auch Gl. L. § 123). Diese Auffassung ist für die Predigten von grundsätzlicher Wichtig­ keit. Ihr theologischer Ort liegt darin, daß der christliche „Prozeß", um den es für Schleiermacher auf der ganzen Linie im Christentum geht, ein Vorgang, eine Klärung im Bewußtsein, ein Aufstieg in den Stufen deö Selbstbewußtseins ist. Damit ist der Prozeß für Schleiermacherö Auffassung nicht imaginär, sondem von höchster Realität. Denn, wie wir sahen, daö Bewußtsein ist ja, transzendental gedeutet, die Form für daS Leben der Vernunft. ES scheint, als läge für die Predigten die Schwierigkeit in diesem: Hinsichtlich des „Anfanges" deS Christentums in der Person Jesu betont Schleiermacher die Einzig­ artigkeit deS Christentums wie der Person des Erlösers. Hierin ist

8. Schleiermachers Bibelverständnis

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er nicht nur christozentrisch, sondern er vermag auch den wunderbaren übernatürlichen und gleichsam übervernünstigen Charakter dieses An­ fanges zuzugeben. Aber diese qualitative Einzigartigkeit deö Christen­ tums in seinen Anfängen kann und will er für den Fortgang und daS Ende des Prozesses nicht festhalten; hier liegt vielmehr sein ganzes Pathos bei der Betonung der Vernünftigkeit und Natürlichkeit. Weil das Christentum so völlig darinnen aufgehen kann und soll, stimmt es tatsächlich mit der idealen Religion überhaupt zusammen.

8. Kapitel

Schleiermachers Bibelverständnis Das spekulative System Schleiermacherö hat uns die Koordinaten seines Denkens an die Hand gegeben. Seine ganze Anschauung vom Menschen liegt darin beschlossen, homiletisch deshalb von Wichtigkeit, weil es der Mensch ist, dem gepredigt, daS Wort der Bibel verkündigt werden soll. Zwischen diesem spekulativen System und der Bibel ist das Problem der Analogie gegeben, das uns im 6. Kap. entgegentrat, das sich in dem Verhältnis von Vernunft und Heiligem Geiste ab­ zeichnete, und daß wir nunmehr von der anderen Seite aus, nämlich von der Wirklichkeit der Bibel her, wie sie Schleiermacher sah, zu sehen versuchen.

1. Das Neue Testament Schleiermacherö Bibel ist im wesentlichen das Neue Testament, dem das Alte nur als Urkunde der jüdischen Religion gleichsam zur erklärenden Folie dient. Neben dem Sendschreiben „über den sog. ersten Brief des Paulos an Thimotheos" (1807) und dem „kritischen Versuch über die Schriften deS Lukas" (1817) haben wir vor allem seine „Einleitung ins Neue Testament" (1845 — ed. Wolde) und „daS Leben Jesu" (1864 — ed. Rütenik) als Quellen seines wissenschaft­ lichen Bibelversiändnisseö. Indessen hat Schleiermacher als Neutestamentler keine originale Wirksamkeit entfaltet, vorwiegend wohl deshalb, weil er selber keine klare Stellung einzunehmen vermochte.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 8. Schleiermachers Bibelverstänbnis

Seine Haltung ist teils gläubig-naiv, so gegen die Johanneischen Schriften, teils kritisch, wie durchgehend bei den Synoptikern. Die Urteile des Kritikers schweben zwischen Literar- und rationalistischer Sachkritik, doch bleibt auch ein literarkritischeS Urteil wie dasjenige über die Echtheit der Gefangenschaftsbriefe nur zu häufig ohne klaren Entscheid, und die Sachkritik wird vielfach unter Berufung auf die Unerheblichkeit einer Entscheidung für den Glauben nicht zu Ende geführt, so in der Frage der leiblichen Auferstehung Jesu. Schleier­ macher war eine ungeschichtliche Natur und stand deshalb als Histo­ riker durchaus im Schatten der größeren zeitgenössischen Kritiker F. Chr. Baur und D. Fr. Strauß. Die Evangelien stehen in der Auffassung Schleiermacherö vom Neuen Testament im Vordergrund vor den Briefen, die z. B. in der Einleitung weit weniger inhaltlich alö jene behandelt werden. SchleiermacherS Evangelienverständnis spielt Johannes gegen die Synoptiker aus. Diese verhalten sich zu Johannes wie die häretischen zu den kano­ nischen Evangelien, fleischlich die einen, pneumatisch die anderen. Die Synoptiker bieten alles andere denn Biographien, sie sind vielmehr schriftliche Sammlungen des zerstreuten Materials ohne sichtbare und spürbare Ordnung und ohne Spur von Augenzeugenschaft. Sie bringen nacheinander die galiläische und jerusalemische Masse deö Sammel­ gutes, das ganz verschiedener Herkunft ist und die unterschiedlichsten Tendenzen aufweist. Schleiermachers LukaSstudie gibt seltsame Proben solcher Deutung. Da geht die eine Perikope auf die Johannesjünger zurück. Teilweise besteht eine geschichtliche Grundlage für eine Er­ zählung, teilweise liegt poetische Einkleidung vor. Daö Geschlechts­ register Christi ist „lukanisch", die Versuchungsgeschichte kann, von der Christusidee aus geurteilt, weder innerer Vorgang noch Tatsache, sondern muß Parabel sein. Daß die himmlischen Worte bei der Taufe Jesu nicht ertönt sind, geht auS dem Schweigen des Zebedaiden, der eö als einstiger Jünger des Täufers wissen müßte, „schlüssig" hervor. — Bei Matthäus liegt offenkundiges Interesse am Wunderhaften vor, woraus sich seine Verwandtschaft mit den häretischen Evangelien ergibt und was auch den ausführlichen Bericht der Kindheitögeschichten erklärt. Bei Lukas ist die Kindheitsgeschichte nur auö dem Streben nach Vollständigkeit zu verstehen, MarkuS und Johannes dagegen be­ weisen die Reinheit ihres religiösen ChristuSverständnisseö, indem sie die Kindheitsgeschichte weglassen. Selbst in der Leidens- und AuferftehungSgeschichte bieten die „aggregierenden Evangelien" nur ein­ zelne Momente; die zwischen ihnen auftauchenden Widersprüche sind

i. Das Neue Testament

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nicht größer als sonst und nur natürlich, geht ja keiner der synoptischen Berichte, sondem allein Johannes, auf Autopsie zurück. Die radikale Kn'tik Schleiermachers an den Synoptikern ist aber nur konsequent bei dem Maß historischer Autorität, welches er Jo­ hannes einräumt. Gegen die anderen Evangelien ist „im Evangelium Johannis der biographische Charakter aufs bestimmteste ausgeprägt" (Einl. 219). Hier hat man den Totaleindruck deö Selbsterlebten. Klar und einheitlich ist die doppelte, apologetische und pragmatische Tendenz des Evangeliums: Christi ganze Erscheinung als Begründer des Glaubens, besonders in den Reden zu erweisen, und die andere: Christi Verhältnisse zu den Pharisäern in fortschreitender Zuspitzung der Dinge bis zu seinem Tode darzustellen. Johannes hat die Syn­ optiker nicht gekannt, deshalb kann er sie auch nicht „ergänzen". Möglicherweise ist sein Evangelium überhaupt vor diesen entstanden. So setzt er die Einsetzung deö Abendmahles als bekannt voraus. Hätte Johannes die Synoptiker gekannt, hätte er nämlich den Widerspruch erwähnt! — Man beachte nur, wie Schleiermacher hier das Schweigen deö Johannes genau umgekehrt auslegt als oben bei der himmlischen Taufbestätigung. Daö ganze Evangelium ist „das Resultat der aposto­ lischen Auffassung". Joh. 8,1—ii scheint, da in den Homilien aus­ gelassen, den Verdacht Schleiermacherö erregt zu haben. Doch hat er den Nachtrag Kap. 21 für wahrscheinlich echt gehalten. Bezeichnend ist, daß ihm der Prolog beileibe nicht als Philosophem gilt, sondem auS einzelnen Reden Christi selbst entstanden und in Ähnlichkeit mit dem Beginn deö SchöpfungöberichteS so formuliert. Somit ist also sogar der Prolog „historisch" und ein Produkt der Reden Christi! Von allen weiteren Schwierigkeiten schweigt der Kritiker völlig. Lokale Unbe­ kanntheiten beweisen nichts (Enon, Sychar), die einförmige Bezeichnung der Gegner Christi als „Juden" ist Sprachgebrauch, wie die rednerische Anrede „Athener". Und waö sonst noch an Schwierigkeiten begegnet, wird im Stil der massivsten apologetischen Zauberkunst auö einer Schwierigkeit zu einer Unerfindbarkeit und als solche zu einem Beweise der Echtheit. Die Briefe sind in der „Einleitung" wesentlich äußerlicher be­ sprochen, d. h. vorwiegend unter dem Geschichtöpunkt der Echtheit und der biographischen Einordnung. Unö interessiert natürlich besonders die Ansicht über Paulus. Die Echtheitsfrage — dies ist im Hinblick auf die noch zu Schleiermacherö Lebzeiten (1826) beginnende Wirk­ samkeit F. Chr. Baurö in Tübingen zu betonen — wird nirgends negativ entschieden, wenngleich mehrfach mit verhaltener Skepsis erörtert.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 8. Schleiermachers Bibelverständnis

Schleiermacher stellt verschiedene Sicherheitsgrade für die paulinischen Briefe fest. In äußerlich-biographischer Beziehung entscheiden drei verschiedene Zeiträume der Abfassung: i. Von der Bekehrung bis zum Übergang nach Europa, 2. Die Gefangenschaft, 3. Die unbekannte Zeit bis zum unbekannten Ende. Innerlich sind zu unterscheiden der feste Kern unbezweifelbarer Paulusbriefe, die Gefangenschafts- und die Pastoralbriefe. Nach der Literaturgattung treten auseinander die zu bestimmter Gelegenheit verfaßten, dann die allgemeine Verhältnisse zwischen Schreiber und Adressat erörternden und schließlich zu direktem Lehrzweck geschriebenen Briefe. Wir betonen, daß Schleiermachers „Verdacht" sich nirgends zu einem negativen Urteil verdichtet. Die „erste Reihe der Ächtheit" hingegen bilden I. Thess., I. u. II. Kor., Röm. u. Gal. Den Kern paulinischer Lehre sieht Schleiermacher richtig in der Frage des Gesetzes. Wir finden bei ihm folgende Darstellung (Einl. 181—192): Um zu einer geistigen Auffassung des Alten Bundes zu gelangen, welche eine religiöse Einheit mit dem Neuen ermöglicht, muß Paulus auf Abraham zurückgehen. Das mosaische Gesetz ist zwischeneingekommen und gilt für die jüdische Volksgemeinschaft in politischer Hinsicht nach wie vor. Indem aber Christus „durch das Gesetz dem Gesetz gestorben" ist (Gal. 2,2), hat dieses seinen religiösen Sinn verloren. Paulus stellt die religiöse Einheit beider Testamente dadurch her, „daß er die göttliche Anforderung an Abraham und die göttliche Anforderung an seine Zeitgenossen zur Anerkennung Christi (sic!) als identisch darstellt". Diese aber realisiert sich „als ein Regiertsein vom göttlichen Geiste". Dies bietet den Schlüssel zu einigen dem Apostel eigentümlichen Punkten, vorab zur „Symbolisierung der Auferstehung Christi". Ohne die Realität von Tod und Auferstehung Christi in den Schatten stellen zu wollen, nimmt Paulus doch beides zugleich symbolisch. Das gesetzliche Leben ist durch den Tod Christi aufgehoben. Und die Auferstehung Christi ist „der Typus des neuen Lebens", „dessen Grund der Glaube und dessen lebendige Kraft der göttliche Geist ist". — Die Anschauung von der allgemeinen Auf­ erstehung und von der Wiederkunft Christi hat Paulus im Laufe der Zeit geändert, wobei es Schleiermacher mit spürbarer Genugtuung er­ füllt, daß der Apostel seine Lehre vom Zukünftigen durch eigene Vor­ stellungen nach Analogie der Naturkunde darstellt. Dies deutet ihm an, daß dieses Lehrstück mindestens in der Begründung auf individueller Ansicht beruht. — Bei der Auslegung von I. Kor. 15,24—28 befremdet die Anschauung von einem Ende der Herrschaft Christi. Dies ist an

i. Das Neue Testament

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sich nicht denkbar. Aber Paulus „hat eS nicht in dieses Leben, sondern darüber hinauögesetzt". Interessant ist schließlich, wie Schleiermacher die Paulinische Lehre von der Strafgerechtigkeit Gottes außer Kraft setzt. „Viele Stellen sind offenbar dagegen, aber diese werden nicht be­ rücksichtigt. Wenn Paulus sagt: Die Gerechtigkeit auö dem Gesetz sei aufgehoben, und die, welche der Geist regiert, haben kein Gesetz; und wenn Strafe sich nur auk bestimmte gesetzwidrige Handlungen be­ zieht: so sieht man, wie gar nicht von einer Strafgerechtigkeit die Rede sein kann." — Freilich — darum ist bei dem Schleiermacherschen Paulus auch von Rechtfertigung keine Rede, sondern seine Verkündigung gipfelt — wir erinnern an das vorhergehende philosophische Kapitel — in der Forderung an den Menschen, vom Geiste regiert zu werden. Weder die Apostelgeschichte noch die anderen Briefe spielen danach in Schleiermacherö Bibelanschauung eine wesentliche Rolle. Dies kann in dem einzigen Punkt seltsam berühren, daß Schleiermacher außer I. Joh. nur noch den I. Petrusbrief auf einen Jünger des Herrn und Augenzeugen seiner Geschichte zurückführt, nämlich auf Petrus selbst. Bedenkt man dies im Zusammenhang mit der Tatsache, daß die 4 ersten Predigtbände nur 4 Predigten über diesen Brief enthalten, die erhaltenen Homilien ihn gar nicht berücksichtigen, so kommt man zu dem Schlüsse, daß eS nicht die „Autopsie" ist, die auch hier betont wird, welche dem Johannes zu seiner Zentralstellung verholfen hat. Grund dafür ist vielmehr die Affinität der Schleiermacherschen Christo­ logie mit Johannes, wie ihn unser Theologe verstand. — Wir gelangen somit zu dem dürren Schlüsse: Die Bibel Schleiermacherö ist das Neue Testament, dieses aber gipfelt in dem Evangelium des LieblingöjüngerS und alle anderen, besonders die Paulinischen Schriften des Kanons, haben letztlich für Schleiermacher nur insoweit Autorität, als sie sich in sein „johanneischeö" Verständnis des Evangeliums einfügen. Diesem Rahmen ordnet sich das „Leben Jesu" durchaus ein1. Es will nicht „Chronologie", sondern „Geschichte" sein, d. h. „das Innere in seiner Lebensentwicklung ... als Einheit finden". DaS bedeutet nichts anderes als die Entscheidung für daS johanneische Geschichtsbild. AuSgebreitete Partien deS angeblich historischen Werkes über Jesu Selbstbewußtsein, Gotteösohnschaft und Naturen sind rein spekulativ, und das dialektische Schema der Vermeidung der Extreme.ist dann auch 1 M. Ätz. hat bisher nur Albert Schweitzer in seiner „Geschichte der LebenJesu-Forschung" (1913) S. 63—68 das Schleiermachersche Leben-Jesu besprochen.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 8. Schleiermachers Bibelverständnis

im Historischen das leitende Prinzip. Sowohl der ebionitische Irrtum nur menschlichen Verständnisses, als auch der doketische, daß alles Menschliche in Jesu nur Schein gewesen sei, ist streng zu meiden. Auch JesuS selbst hat Extreme durchaus vermieden. „Die gewöhnliche Vor­ stellung einer eigentlichen Armut hat nichts für sich" (i86). „Die Jünger gingen ihrem Berufe nach, auf dem sie Christus zuweilen be­ gleitete ohne gerade Teil zu nehmen" (194). Diese bürgerliche Anschauung von Christus überträgt sich auch auf seine Wunder. Von ihr aus wird die synoptische DersuchungSgeschichte kritisiert. „Daö Steineverwandeln wäre, wenn die Not da war, keine Sünde gewesen. Daö Herunterlassen vom Tempel konnte keinen Reiz haben" (150). Statt dessen hören wir: „Es war seine Pflicht, in einer Lebensgefahr zu seiner Erhaltung zu tun, was er konnte" (156). Ein Eindringen in die Geheimnisse der himmlischen Bezeugung Christi bei seiner Taufe verbietet sich förmlich auS AnstandSgründen. „DaS Wunderbare als nur bezüglich auf Johannes und ohne Tätigkeit Christi dabei geht uns eigentlich nichts an" (149). Überhaupt macht die Tat­ sache der Wunder Christi unserem Kritiker schwer zu schaffen. Er hilft sich, indem er zunächst einmal durch die geringere Zahl der johanneischen Wunderberichte sich ermächtigt glaubt, die Massenhaftigkeit der synop­ tischen Wunder zu bezweifeln. Sodann erklärt er diejenigen Wunder für die klarsten, wo die Wirkung im menschlichen Gebiet bleibt, „denn da fehlt eS nicht an Analogie, wie rein organisch krankhafte Zustände aufgehoben werden durch geistige Einwirkung" (215). Schwerer zu beurteilen sind die Wunder, „welche Annehmlichkeit für sich und die Seinigen bezwecken" oder gar „reine Ostentationöwunder". Hier er­ öffnet sich ein reiches Feld literarischer und selbst sachlicher Kritik. Wer Schleiermachers rationalistische Veranlagung bezweifeln sollte, sei an sein „Leben Jesu" gewiesen. Hier wird zudem deutlich, wie das „geistige Verständnis" den Blick ablenken soll von den rein historischen Fragen, aus denen ein Leben Jesu sich doch erklärt, und denen Schleier­ macher auf solche Weise auöweicht. Schleiermacher nimmt verschiedene, sehr vorsichtige Anläufe zur Kritik der Wunder. „DaS Anreden des Meeres und des Sturmes konnte zur Wirkung nichts beitragen .... Nicht zu erklären (so. ist es), daß er an die Wahrnehmung des ver­ trockneten Feigenbaumes eine Theorie der Wunderwirkung anknüpft, wodurch also zugegeben wird, daß jener Erfolg von ihm gewollt (völlig im Widerspruch damit, daß noch keine Zeit für Feigen war) und wunder­ bar bewirkt worden sei" (223). Schleiermacher wagt sich freilich meist über ein non liquet nicht hinaus: „Es muß dabei bleiben, daß wir

i. Das Neue Testament

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nicht abschließen können" (224). Überaus aufschlußreich ist ein Satz,

den die Nachschrift verrät: „Der wünschenswerteste Auögang der Untersuchungen für unsere Aufgabe wäre dieser: wenn unS die Auf­ gabe ganz wegfiele, in dem Leben Jesu wundertätige Wirkungen anzu­ nehmen, welche über daS Gebiet des menschlichen Lebens und Daseins hinausgehen(239f.). Nach diesen peinlichen Fragen ver­ breitet sich dann Schleiermacher wieder ausführlichst anläßlich Jesu Lehre über seine Person und seinen Beruf über die aus der Glaubens­ lehre schon geläufigen christologischen Gedanken. „DaS in Christo wirksame Göttliche heißt also Heiliger Geist als Prinzip eines gemein­ samen Lebens" (325). Interessant ist, wie in diesem Zusammenhang altbekannte Formeln einen rationalistischen Klang erhalten. „Sein (Jesu) Beruf war in dem Reiche GotteS den Kampf gegen die Welt einleiten ... Es ist der Kampf deS Geistes gegen daS Fleisch" (325s.). Von offener Kritik am Bibelbericht bis zur kaum merklichen spiritualisierenden Umdeutung finden sich alle Grade. Jesus hat keine Lehre vom Teufel (340), seine Verkündigung des Gerichts geht nur auf dne „beständige fortgehende Scheidung" (356). Um Johannes zu recht­ fertigen, muß die Taufe von Jesus, lange nachdem seine Jünger sie längst ausübten, noch eingesetzt sein (365). — Alle diese Beobachtungen häufen sich im Leidens- und Auferstehungsabschnitt des Lebens Jesu. Der Einzug Jesu ist, um die Nachrichten zu vereinigen, „wahrscheinlich zweimal, vielleicht in geringerem Maße täglich wiederholt" worden (407). Die von den Synoptikern berichtete Schwachheit Jesu in Gethse­ mane ist „nicht fern von Sünde", und daher unwahrscheinlich (415). Der Auferstandene geht natürlich auch nicht durch die verschlossene Tür (473 f.). War er überhaupt wirklich tot? „Für mich erscheint es als etwas ganz Gleichgültiges, ob man das eine sagt, oder daS andere sagt" (443). DaS einzig sichere Kennzeichen deS Todeö, die Verwesung, feftft1. Wozu wäre übrigens der physische Tod nötig, da GotteS Ge­ rechtigkeit nur durch etwas Geistiges befriedigt werden kann? Schleier­ macher flüchtet sich hier in daS gleiche non liquet hinein wie bei der Himmelfahrt und sonst oft. — Diese Konsequenzen muß man noch dazu nehmen, wenn man SchleiermacherS „johanneisches Schriftverständnis" begreifen will. Es muß dazu herhalten, dem Christentum ein spiritualistisches Gewand zu geben, um unter diesem Mantel die rationalistische Kritik deS Tat1 A. Schweitzer a. a. O. S. 65 macht darauf aufmerksam, baß dieser Ge­ danke erstmals bei dem Rationalisten Paulus begegnet.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 8. Schleiermachers Bibelverständnis

sächlichen als eine harmlose Sache zu betreiben. Denn in dieser Bibel­ auffassung gilt grundsätzlich nicht daö „Physische", sondern das „Geistige".

2. Die Johanneshomilien „Wie der Jünger, dessen Schrift er uns auslegt, ruht er hier an der Brust deS Erlösers, was er da erfahren und geschaut, das deutet er uns und verkündet in immer neuen Wendungen die Herrlichkeit deS Fleisch gewordenen und ewig Fleisch werdenden Wortes. Wie in der gläubigen Anschauung dieser Herrlichkeit Schleiermacherö ganzes Wesen wurzelte; wie sie allein seinem eben so tiefen als scharfsinnigen Geiste versöhnend die letzten Rätsel unseres Daseins gelöst.... das wird dem empfänglichen Sinne auS diesen Vorträgen verständlich." Diese Probe auS dem einleitenden PanegyrikuS des Herausgebers Sydow soll uns darauf aufmerksam machen, daß wir ins Heiligtum Schleiermachers eintreten. Seine Johanneshomilien* sind nicht nur in der Predigtliteratur deS 19. Jahrhunderts, sondern auch im Predigt­ werk Schleiermacherö selbst ganz außergewöhnlich. Die meditative Versenkung in den Text ist aufs höchste gesteigert. Von Satz zu Satz schreiten Besinnung, Deutung, Auslegung vor, kaum läßt die An­ schauung deö Herrn noch einen Seitenblick auf die eigenen Verhält­ nisse zu. Nirgends sind Bilder und Gleichnisse hinzugegeben, da das Bild deö johanneischen Christus alles überstrahlt. Dem flüchtigen Leser mögen diese bildlosen Reden wohl den Eindruck abstrakter Ein­ tönigkeit machen, aber dem geduldigen wird in der einzigartigen Samm­ lung deS Denkens die Sorgfalt, ja die Inbrunst der Betrachtung nicht verborgen bleiben. Man muß nur zum Vergleich die MarkuShomilien? heranziehen, um die gedankliche Kraft ermessen zu können, welche den Johanneshomilien innewohnt. Wie wird doch dort in den Markuöpredigten die Gemeinde durch die Schule der Bibelkritik geführt, wie oft wird dort der Verführung ins Allgemeine zu gehen nachgegeben, welches Zerfließen der Betrachtung beobachten wir. Nichts von alle1 Frühpredigtcn ab Misericord. Dom. 1823 gehalten, von Ad. Sydow, unvollständig (Kap. 1—16) in Band 8 u. 9 der Predigtsammlung herausgegeben. 2 Frühpredigten abTrin. 1831 bis zu Schleiermachers Tod (bis Mk. 14,23) gehalten und von Fr. Zabel im Band 5 und 6 (bis S. 190) der Predigtsammlung herausgegeben. Die vorletzte findet sich Bd. 3, S. 778. Die letzte erschien als Sonderdruck.

2. Die JohanneShomilien

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dem hier! Wir finden vor allem keine Spur von Kritik, entsprechend der Auffassung des Predigers, in Johannes daö einzig authentische Evangelium zu besitzen. Im Gegenteil. Weil dieser einzige „Bio­ graph" Jesu daö Wesentliche an Christus erfaßt hat, nämlich den geistigen Gehalt seines Wirkens, so tun wir gut, auch die Kleinigkeiten, auch die Rahmenerzählungen geistig zu verstehen oder doch ihnen einen Sinn abzugewinnen. Daß Jesuö sich von Jerusalem nach Galiläa auf die Wanderschaft begibt, ist ein Ausdruck seiner Berufstreue, so wie unsere Berufötreue uns seßhaft macht (8,305 s.). Daß Christus umgekehrt dann alsbald wieder, trotz aller Gefahren, nach Jerusalem zieht, zeigt ihn als Vorbild deö Gehorsams, des zum Zeichen er unter das Gesetz getan ward (8,317s.). Der Zweifel der Leute über die Identi­ tät des geheilten Blindgeborenen veranlaßt Schleiermacher, über die Achtsamkeit auf die Umwelt als die rechte Mitte zwischen Neugierde und Gleichgültigkeit nachzusinnen (9,15;ff.). Daö Vorangehen des Hirten vor den Schafen gibt Anlaß über das doppelte Ziel zu sprechen, zu dem uns Jesus der Hirte hinleitet, zu Friede und Seligkeit, aber auch zu Schmach und Verfolgung (9,192 f.). Die Liebe Jesu zu Maria und Martha zeigt, daß nicht leibliche Nachfolge allein Jesu Liebe her­ vorruft, wie bei Petrus, sondern jeder Beruf ist dem Herrn gleich lieb (9,240). Dies nur als Proben dafür, welcher sorgfältige psychologische Ausbau die minutiöse Auslegung dieser Predigten begleitet. Natürlich bedeutet diese Kleinarbeit kein Hängenbleiben am Kleinen und Äußerlichen. Vielmehr bemüht sich Schleiermacher überall vom Äußeren zum Inneren vorzudringen. Die Homilie über den 38 jährigen Kranken am Teiche Bethesda (8,316) zeigt dies deutlich. „Wie dort die Kranken umherlagen, um gesund zu werden ... so sehen wir die Menschen in großen Haufen von dem Tichten und Trachten nach den irdischen Dingen und nach den Gütern dieser Welt ergriffen." Aber wenn die Menschen wüßten, wer der Erlöser ist, so riefen sie ihn an, daß er ihnen helfen möchte „um den Geist mit etwas besserem zu sättigen und um ihnen statt deö Vergänglichen daö Ewige und statt des Irdischen das Himmlische zu geben" (319). Aber — die Kranken kennen Jesum nicht. Und auch Jesu Wahl wird nur vom Zufall ge­ leitet. Diese „Historisierung" durchbricht die Allegorisierung der Ge­ schichte, zu der man schon auf dem Wege war. Zudem: Jesus gerät an einen Unwürdigen! Denn „hätte der Kranke ein rechtes Verlangen nach der Gesundheit gehabt, so wäre er von diesem Orte fortgeblieben, wo er die Kräfte, die ihm noch übrig waren, nicht gebrauchen konnte, sondem in einem müßigen Zustande mußte verkommen lassen" (323). W. Trtllhaas: Schleiermachers Predigt 12

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So sehr hat der Geheilte in seiner 38-jährigen Krankheit das Vermögen verloren, „nicht nur nach dem Höheren und Ewigen zu streben, sondern auch zu erkennen, wo eS ist", (330), daß er hingeht und den Namen seines Wohltäters den Pharisäern angibt. Zeigt sich in ihm daö Bild der Verstockung, so in Christo daö Bild dessen, der nicht nur Wunder­ täter, sondem auch Erlöser sein, der „der leiblichen Wohltat eine geistige hinzufügen" will. Am Zufälligen setzt er ein, und schreitet zum Geistigen vor. Er mißachtet die gesetzliche Gebundenheit an den Sabbath und macht unS frei von dem Äußerlichen. — Wichtig ist, hierbei festzustellen, daß sich unsere Predigt in der Darstellung und Betrachtung dieser Ver­ hältnisse erschöpft. Die blasse „Anwendung" am Schlüsse betont unsere Pflicht, „die Menschen um uns her" vor Verstockung zu bewahren. Daß Schleiermacher bei der Betonung des „geistigen" Sinnes häufig in die Nähe der Allegorie gerät, entspricht den Texten, welche er auslegt. Die wunderbare Speisung ist natürlich bei Johannes nicht das Wunder selbst, sondem nur ein Zeichen dafür, daß Christus nicht nur lehrt und heilt, sondem auch „daß er diejenigen, welche sich wahr­ haft um ihn her sammeln, auch speise und nähre" (8,395). Denn Christus ist selbst daö Brot. „Laßt uns festhalten an dem Zeugnis, daß der Herr von Anfang an wußte, waö er tun wollte, und daß das ganze menschliche Geschlecht, wenn eS an ihn glaubt, genug haben wird an seiner Fülle und satt werden von ihm alö dem beständigen und täglichen Brote deö Lebens, als der alleinigen eigentlichen Nahrung deö Geistes" (8,398). Wohl vermeidet Schleiermacher bei Jesu Rede vom Brot deö Lebens (Joh. 6) den Hinweis auf das Abendmahl und deutet die Stelle nur auf die Menschwerdung: „Das Brot deö Lebenö, welches ich bin, kann ich nur geben vermittels des menschlichen Lebenö, welches ich unter euch führe, welches ich aber wieder hingeben werde..." (8,453). Andrerseits wird die Erzählung von der Heilung deö Blindgebormen kräftig benutzt zum Hinweis auf die Sinnbildlichkeit der Geschichte: Das Waschen im Teiche Siloha ist daS Sinnbild der Taufe. „Lasset euch taufen ... so werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen, d. h. daö Licht des geistigen AugeS" (9,149). Es ist»in­ dessen doch nur von einer Nähe der Allegorie zu reden. Denn an andren Stellen permeiden die JohanneShomilien bewußt eine immerhin nahe­ liegende allegorische Auslegung. Wir denken hierbei vor allem an die Predigt über die Hochzeit zu Kana (8,112), welche ebenso wie später der Besuch Jesu in Bethanien (9,301) nur als Erweis der geselligen Neigung Jesu — im Gegensatz zum Täufer — ja alö Zeichen der „menschlichen Gemütlichkeit des Erlösers" betrachtet wird. Eö ist die

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Schleiermachersche Anschauung von der vorzüglichen Geschichtlichkeit des vierten Evangeliums, welche das Allegorisieren im prägnanten Sinne verhindert. Dieser Glaube an die Geschichtlichkeit verhindert auf der ganzen Linie die Kritik, die in den MarkuShomilien ja so häufig hervortritt. AlS stärkster Beweis des Geschichtlichen gilt freilich, wie wir schon oben sahen, der Umstand, daß bei Johannes die geistigste Auffassung deS Erlösers vorliegt. Diese geistige Auffassung nun wird auf Schritt und Tritt in den Predigten betont. Sie hervorzukehren, den tieferen Sinn der Vorgänge zu suchen, das innerliche gegen das äußerliche Verständnis auszuspielen ist Schleiermacher auf Schritt und Tritt bemüht. Wir ersparen uns hier die Anführung einzelner Belege, die in jeder Predigt zu Tage treten. Dieses Bemühen aber ist zweifellos ungemein fruchtbar, ja es macht den unvergleichlichen Reiz dieser Predigten aus, daß so auch aus verborgenen Winkeln deö Textes heraus noch Licht strahlt, z. B. aus solchen Stellen, die größere Ereig­ nisse vorbereiten oder ihnen folgen, etwa nachttägliche Gespräche oder Rahmengeschichten, die den Wechsel deS Schauplatzes motivieren. Die Überfahtt Jesu über daS galiläische Meer Joh. 6,16—25 mit der Furcht

der Jünger im Sturm und der neugierigen Frage deö Volks „Rabbi, wann bist du hergekommen?" dient zur Veranschaulichung der Not­ wendigkeit, „von allem Äußeren und Leiblichen immer wieder auf daS Innere und Geistige zurückzugehen" (8,415). „Alles Äußerliche wird unS nur sein daS Zeichen der Zukunft und ein Ruf des Herrn." Die vorbereitende Erzählung der Auferweckung des Lazarus Joh. 11,1—14 ist besonders darum von Bedeutung, weil sie die Ruhe und Gelassen­ heit Christi unS vor Augen malt. Jesuö eilt nicht bei der Nachricht von deS Freundes Krankheit, aber als er geht, schreckt ihn kein Hinweis auf die Gefahr in Judäa. „Alle Trübsal und Widerwättigkeiten des Lebens, auch die letzte, der irdische Tod, nicht ausgenommen, vermögen den nicht zu beunruhigen, der durch den Glauben zum Leben hindurchge­ drungen ist" (9,250). So zeigt Schleiermachers Bibelauslegung schon in formaler Hinsicht den Charakter seiner inhaltlichen Auffassung deS Christentums: Die Sorgfalt der Einzelexegese, selbst deö Rahmen­ werkes, zeigt die Betonung der Natürlichkeit, die Hinwendung der Exe­ gese zum geistigen Verständnis auch in den Kleinigkeiten erinnert an die Auffassung von der Einheit des Geistigen und Natürlichen. Bezeichnend ist es nun, daß Schleiermacher wohl die Kleinig­ keiten betont und jedes Wort genau prüft — z. B. zu Jesu Rückverweis Joh. 11,40 „Habe ich dir nicht gesagt..." bemerkt, daß Joh. hier daS erste Gespräch „nicht so buchstäblich aufbewahrt hat" (9,274) — 12*

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daß der Prediger aber gleichzeitig über die Wundertaten auffallend rasch hinweggeht. Anläßlich der Auferweckung des Lazarus spricht Schleiermacher den aufschlußreichen Satz: „Das Wunderbare in der Auferweckung deö Lazaruö ist immer freilich dasjenige, worüber nie­ mand etwas zu sagen weiß, denn eS ist unseren Augen verborgen. WaS wir aber davon wissen, das sind die Worte deS Herrn selbst" (9,278). Es ist der Widerschein der stets wiederkehrenden Meinung unseres Theo­ logen, daß die Wunder keine Glaubenöstütze sind. „Als Grund deö Glaubens haben sie sich immer schwach bewiesen" (9,309). Sie be­ weisen — wie Schleiermacher in der Homilie über die Hochzeit zu Kana ausführt — nur den Propheten aber nicht den Sohn Gottes. Tat­ sächlich liegt auch im Evangelium nicht auf dem Mirakel der Flach­ druck, sondern auf dem Zeichen, auf der sich offenbarenden Macht Christi. Gelegentlich aber verrät Schleiermacher doch, daß eS ihm auf eine spirituelle Deutung ankommt. Die Auferstehungsweissagung Christi Joh. 2, daß er den abgebrochenen Tempel in drei Tagen wiederauf­ bauen wolle, deutet der Evangelist ausdrücklich auf den „Tempel seines Leibes". Schleiermacher aber deutet diese Deutung weiter auf „die Gemeinde, welche er zum Gotteöreiche sammeln wollte, und die in der Schrift so oft der Leib des Herrn genannt wird" (8,14;). Nun ist freilich die Anspielung auf die dreitägige Frist zwischen Tod und Auf­ erstehung solcher Spiritualisierung im Wege. Aber Schleiermacher wird dadurch nicht irre. „Versucht es nur durch euren Widerstand und euren Unglauben. . . diesen Tempel, in dessen Bau ich be­ griffen bin, zu zerstören, es wird nicht länger dauern als eine kurze Frist (die man gewöhnlich durch einen solchen Zeitraum von dreien Tagen zu bezeichnen pflegte), so werde ich ihn wieder aufrichten." Es ist in seiner Bedeutung kaum abzusehen, daß hier die Spiri­ tualisierung mit Hilfe des Gemeindegedankens erfolgt. Bedeutsam jedenfalls in einer kirchlichen Lage, in welcher alles von der „lebendigen Gemeinde" erhofft wird und in welcher der auf ihre Erzeugung zielende AktiviSmuö jede Bemühung um Lehre und Bekenntnis der Kirche in den Hintergrund drängt. — Der Kern der Johanneshomilien liegt jedenfalls darin, Christum als das Prinzip der Belebung zu erweisen. „Das Totscheinende wird immer wieder erweckt, die verstorbene Natur erwacht mit jedem neuen Frühling aus ihrem Schlummer. . . alles durch die Macht Gottes .... so ist auch die geistige Wirkung deö SohneS eine solche belebende, Leben mitteilende und Leben erhaltende .... wir wissen, daß wir immer aufs neue erweckt werden durch ihn zum geistigen Leben" (8,343). Wir hören auch, anders auögedrückt.

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daß Jesus ein „geistiges Reich" gründen will, unter denselben Gesetzen, nach welchen der Vater die ganze Welt leitet und regieret, ja, „daß beides einö und dasselbe sei, daß das eine, das eben erst entstehende, nur das reine Abbild jenes allgemeinen sei" (8,338). Wir befinden uns in nächster Nähe des spekulativen Systems! Christus vollendet daS Reich der Vemunft! Um dessentwillen muß Gemeinde sein, weil dieses „geistige Reich" die Individuen übergreift. Hier vollendet sich Christi Wirken, hier enden alle Wunder und lösen sich alle Rätsel. — Natürlich tritt der spekulative Hintergrund dieser Gedanken in den Predigten nicht zutage. Aber er erklärt, warum der Gemeindegedanke jene beschriebene Schlüsselstellung innehat und das Stichwort abgibt für das, was wir mit Spiritualisierung meinen. In der Gemeinde realisiert sich die Sendung Christi, der Prediger Schleiermacher glaubt daran und demonstriert es in seinen Predigten. Darum kommt er zu so kühnen Aussagen, daß er zum Wort „Johannes war nicht das Licht" bemerken kann: „So ist es ein gemeinsames Leben, das seinige (sc. Christi — Job. 15,5; 17,20—23) und das unsrige, und wir sind das Licht, aber nicht durch uns selbst, sondern durch ihn, und stehen in einer innigeren Verbindung mit ihm als der, welcher von Gott gesandt war" (8,21). So kommt er schließlich auch zu den überschwäng­ lichen Auslegungen der letzten erhaltenen Johannespredigten über den Weinstock und die Reben, über das Wort „Ihr seid rein um des Wortes willen", oder über das andere „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt daS ihre lieb". — Der Gemeindegedanke bietet hier die Brücke zur Spiritualisierung. So unvollkommen das Individuum sein mag, so hat es doch im Geiste der Gemeinde, worin sich Christi Wirken vollendet, im „geistigen Reiche", im neuen Leben Zugang zur Vollendung. Glaube heißt „. . .in Christo die Herrlichkeit Gottes sehen, welcher allein die Menschen, so wie er ihnen einzeln daS irdische Leben gab durch dieselbige, so auch sie alle zu dem höheren Leben bringen kann . . . ." (9,275s.). Zweifellos ist der Tendenz zuzustimmen, daß der Glaube an Christus nur in der Sphäre der Kirche möglich und sinnvoll ist. Zweifellos wirkt vor allem die Verankerung der Botschaft deS Evangeliums im konkreten, dem Hörer zugänglichen Gegenwartsleben als Kraftbeweiö solcher Predigt. Aber ist nicht die Spiritualisierung hier und überhaupt eine Beugung des Textes unter das System, ist nicht vor allem der am Ende stehende Perfektionismus der Gemeinde — aufs Alltagsleben des einzelnen gesehen — eine unwahre Abstraktion? Eö ist hier der Ort, daran zu erinnern, daß in umgekehrter und doch sehr verwandter

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II. Hauptteil: Predigt und Tert. 8. Schleiermachers BibelverstSnbniS

Weise zu Beginn unseres Jahrhunderts Johannes Müller gerade dem „persönlichen Leben" die Rolle zuerkannte, welche nach Schleier­ macher der Gemeinde zukommt. Was für diesen das JohanneSevangelium ist, ist für jenen die Bergpredigt: Hier redet der historische JesuS! Die Bergpredigt „ist der Wegweiser in daö Neuland Gottes und zeigt unö, wie eö werden kann". Johannes Müller zeigt gleich Schleiermacher einen dem Gegenwartsmenschen zugänglichen Ort, an dem sich der Sinn deS Christentums vollendet, nämlich das unbe­ fangene, wahrhaftig geführte, sittliche Leben der Persönlichkeit. Hierauf beruht die gewaltige Wirkung dieses weltlichen Predigers. Aber auch seine Anschauung ist spiritualistisch, trotz der Betonung vollendeter Natürlichkeit, ja gerade wegen dieser. Beide vermeiden, Schleiermacher mit spekulativen, Johannes Müller mit vitalistischen Hintergedanken die Paradoxie deS Glaubens, d. h. die Aufnahme deö realen fündigen Lebens durch Christus in Gottes Erbarmen. Bei beiden ist, was Christus bringt, nichts absolut Neues, sondem eine Vollendung der Natur, Emeuerung, Verinnerlichung und Veredelung deS Lebens oder, in der dogmatischen Sprache, die Lehre der Heiligung. Wir sagten oben, daß biö zu einem gewissen Grade allerdings das Johannesevangelium dem Forschen nach dem tieferen Sinn entgegen­ kommt. Ja, wir glauben, daß es in vielen seiner Erzählungen nur allegorisch gedeutet werden darf. Aber inwiefern ist nun doch die von Schleiermacher unternommene Spiritualisierung etwaö anderes? Das vierte Evangelium macht auf den allegorischen Sinn vieler Stellen aufmerksam durch das Paradox, etwa durch die Betonung des Miß­ verständnisses der Juden. Schleiermacher aber hebt überall durch sein geistiges und natürliches Verständnis die Paradoxie auf. Die Ant­ wort Jesu an Maria auf der Hochzeit zu Kana „Weib, waö habe ich mit dir zu schaffen?" „hätte Luther auch ebensogut so übersetzen können, Weib, waS geht es dich und mich an? wodurch denn die schein­ bare Härte sich bedeutend vermindert" (8,u8). Es ist überall der Geist der kampflosen Milde, der in der natürlichen Auflösung der Wider­ sprüche und Anstöße waltet. So sagt JesuS zur Samariterin am Brun­ nen, die, wie schon bemerkt, von Schleiermacher nicht als sittlich an­ rüchig bewachtet wird „Bald wird die Zeit kommen, wo weder ihr dieses Wott, noch ihr jenes Wort gebrauchen werdet, um irgend eine christliche Wahrheit auszudrücken, sondem wo man sich über denselben Gegenstand auf eine Weise ausdrücken wird, in welcher der Streit verschwindet" (8,267). Auf diese und ähnliche Weise werden förmlich liberale Anschauungen gepflegt. Die Stelle „Einer ist euer Meister

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Christus, und ihr unter einander seid alle Brüder" (9,21), oder die Pharisäerfrage an den Blindgeborenen „Du in Sünden geboren willst uns lehren?" (9,176s.) werden benutzt, um den Wert des kirchlichen Amtes zu relativieren und das freie Walten des göttlichen Geistes in der Gemeinde zu betonen. Solche Sätze hört der Bürger deö liberalen Zeitalters gerne. Wichtig ist, daß alle Gerichtsaussagen Christi im Sinne einer natürlichen Scheidung gedeutet werden, aber auch hier ohne schlimmen Ausgang. Die „Finsternis" ist nämlich die Zeit, in der der Mensch noch kein sittliches Unterscheidungsvermögen hat (8,198 ff.) Keiner vermochte vor der Erscheinung deS Herrn daö eigentlich Gute zu tun. DaS ist jetzt möglich! „Das Gericht war nicht Christi Beruf, nicht daS waS er wollte, aber eS war der natürliche Erfolg seiner Sen­ dung" (9,180). Auch anderwärts begegnet dieser eigentlich nur positiv gedachte und darum eschatologiefeindliche Lieblingsgedanke Schleier­ machers, z. B. in den „Predigten über einzelne evangelische Stellen": 10,198; 220. Es ist angesichts der vergebenden Gesinnung deö Er­ lösers für unseren Prediger auch selbstverständlich, etwa in der heim­ lichen Reise Jesu nach Jerusalem die Absicht zu finden, die Pharisäer „vor der großen Sünde, zu welcher sie immer näher hingezogen wurden, so viel er nur konnte abzuhalten" (9,3 vgl. 89). — Alleö dient dazu, Anstöße und Paradoxien zu vermeiden, um auf diesem Wege das geistige, und doch uns völlig gemäße, natürliche Verständnis deö 4. Evangeliums zu erzielen und eö unö nahe zu bringen. Es muß unter diesem methodischen Gesichtspunkt aber auch besonders darauf hin­ gewiesen werden, daß Schleiermacher Einwände künstlich hervorruft, um sie dann zu erwidern. Interessant ist in dieser Hinsicht die Homilie über Joh. 8,30—38 (9,95ff.). Der erste Einwand betrifft „die an ihn gläubig geworden waren", von denen es gleichzeitig heißt „sie suchten ihn zu töten usw.". Die Lösung lautet: „Eö mußte eine gemischte Menge sein." DaS zweite Bedenken knüpft Schleiermacher daran, „daß der Herr, indem er vorauösetzt, daß sie an ihn glauben, eö nun doch als etwas Zweifelhaftes hinstellt, ob sie auch an seiner Rede bleiben werden". Wir hören darauf: „Damals nämlich gab eö einen An­ fängerglauben". Einen historischen Einwand knüpft der Prediger an die offenkundig falsche Behauptung der Juden „wir sind niemandes Knechte gewesen" — woran freilich der Prediger die Verblendung der Menschen durch Eitelkeit und Eigendünkel zeigen kann. Der letzte logische Einwand betrifft die Schwierigkeit, wie einer gleichzeitig Knecht der Sünde und Knecht im Hause deö Vaters sein kann. Die Meinung Jesu ist aber natürlich die: „Ihr seid noch Knechte der Sünde, als solche

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II. Hauptteil: Predigt und Tert. 8. Schleiermachers Bibelverstänbnis

seid ihr im Hause deö Vaters, aber ihr könnt nicht anders darin sein als Knechte." — Wir sehen, wie Schleiermacher das eigentliche Paradox bei Jo­ hannes gar nicht erkennt, aber statt dessen zwischen Bibel und ge­ meinem Menschenverstand eine dialektische Spannung erzeugt, die er dann durch die Analogie deö Bewußtseins auf der mittleren Linie der Erfahrung und vernünftigen Einsicht löst. Dieö ist das Wesentliche an dem hermeneutischen Prozeß, der bald mehr den Charakter einer logischen, bald mehr den einer psychologischen Vermittlung trägt. — Alle Beispiele ließen sich beliebig vermehren. ES lag uns hier aber nur daran, an den Homilien über das Evangelium deö Johannes die hermeneutische Methode der Predigten zu zeigen. Aber gerade an diesen Predigten tritt schlüssig zutage, wie daS „Methodische" an der Predigtfrage ganz und gar abhängt vom inhaltlichen Verständnis deS Christentums. Darauf soll im nächsten Abschnitt noch in besondrer Weise hingewiesen werden.

3. Das „johanneische" Verständnis des Christentums Wir kamen oben zu dem Schlüsse, daß Schleiermachers Bibel daö Neue Testament ist. Darum kann er sogar gelegentlich alttestamentliche Zitate als neutestamentliche Texte behandeln (z. B. 7,182; 4,624). Im Neuen Testament aber ist das Zentrum Johannes, neben PetruS der einzige authentische Zeuge der Wirksamkeit des historischen Jesuö für Schleiermacher. Diese These entscheidet über die Stellung zu den Synoptikern, die nur als Einzelüberlieferung geschichtliche Be­ deutung haben, fürs Gesamtbild der Wirksamkeit Jesu aber nur zur Korrektur und Ergänzung zu Rate gezogen werden. Wie Schleier­ macher Johannes auölegt, haben wir gesehen. Zwei Punkte sind kenn­ zeichnend dafür: Johannes hat das natürlichste Jesusbild, es ist histo­ risch wahr und sozusagen psychologisch nachvollziehbar. Johannes hat aber auch — worin sich die historische Gültigkeit bestätigt — das geistigste Bild von dem Erlöser. Jesus ist kraft deö Geistes Herr der Natur und Begründer eines geistigen Reiches, dessen Glieder auch wir alö Christen sind. Der Geist der Gemeinde aber ist die Elongatur deS Erlösers; dem Geist der Gemeinde kommt jene Vollkommenheit zu, welche als einziges Individuum in urbildlicher Weise der Erlöser in Erscheinung gebracht hatte. Daraus erklärt sich die eigenartige Form der „An­ wendung", in die wir da und dort die bloße Betrachtung einmünden

DaS „johanneische" Verständnis des Christentums

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festen. Es ist eben keine Gegenüberstellung, kein Wechsel der Kategorie zwischen dem Worte Gottes und uns, sondern ein Wandern auf der gleichen Linie vom dort zum hier, vom damals zum heute. Es ist Gegen­ wart, was wir im johanneischen ChristuSbilde meditierend betrachten, eS ist der Geist der Gemeinde, der in Christo anschaulich „Fleisch ge­ worden" ist und auch unter uns real, Sieg des Fleisches über den Geist werden soll und kann. Christus ist der Führer zum „höheren Leben". In ihm schauen wir die durch den Geist verklärte Natürlichkeit. Wenn auch der ein­ zelne noch in Sünden lebt, so ist doch in Christus das Reich des Geistes da, an dem auch wir Anteil und damit Anteil an der Vollkommenheit haben. Eö ist kein zeitlicher, kein qualitativer Abstand zwischen Christus und der Gemeinde, zwischen dem Zeugnis der Bibel und uns. DaS ist das Entscheidende an dem Bilde des johanneischen Christus, die Analogie zwischen Christus und der Gemeinde, zwischen der Bibel und unS, eS ist die Analogie, wie wir nun erkennen, im Rahmen des geschilderten spekulativen Systems, welche die Predigt Schleiermachers zum Bewußtsein bringen will. Schon im Absatz i des vorigen Ka­ pitels wiesen wir die grundlegende Verflochtenheit von Religion und Vernunft bei Schleiermacher nach. Schon dort beobachteten wir die verschiedene Terminologie, wie das „Gefühl" bald auch „schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl" oder „höheres Selbstbewußtsein" heißen kann. Diese Begriffe kommen wohl in den Predigten nicht vor, aber die Sache ist beim „höheren Leben" die gleiche: Die Beherrschung deö Niederen durch das Höhere, des Sinnlichen durch die Vernunft. Dieses höhere Leben, urbildlich-individuell im Erlöser erschienen, ist aber in der ver­ nünftigen Struktur des Menschen schon vorgesehen, eö ist nur unbewußt und undeutlich vorhanden. Es wird hier entscheidend wichtig sein, die Predigten Schleiermacherö, besonders die Johanneöhomilien als deren idealste Vollendung, eben als Bewußtmachung zu verstehen. Darum sind sie in idealer Identität gleichzeitig Anschauung und Dar­ stellung deö johanneischen Christus, weil sie eben dadurch daS höhere Leben im Menschen wachrufen, daS in ihm geschlummert hat. Freilich wie die Vernunft nicht dem einzelnen, sondern dem allgemeinen, der Menschheit zugeordnet und daS Individuelle nur eine Teiloffenbarung der Vernunft ist, so ist daö in Christo begonnene höhere Leben nicht im Einzeldasein, sondern in dem Geiste der Gemeinde vorhanden. Eö ist also wesentlich unanschaulich, und nur wer in der Anschauung Christi sein Bewußtsein in Richtung auf daö höhere Leben hin klärt und „stei­ gert", gewinnt Anteil an der ganzen Vollkommenheit. Diese Voll-

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 8. Schleiermachers Bibelverständni«

kommenheit ist aber weder in philosophischer noch christlicher Betrachtung für Schleiermacher irgend asketischer Art, sondem sie steht in der Einheit von Natur und Geist, Innerem und Äußerem. Gerade der Naturalismus der Johanneöhomilien ist ja aufschlußreich für die Art seines Geistverständnisses. Die Vergeistigung der Natur und aller natürlichen und menschlichen Verhältnisse ist geradezu das Ziel des christlichen Prozesses, der sich vom „Bewußtsein" her vollziehen soll. Daß Christus der Ursprung dieses Prozesses, dieser Veredelung ist, bedeutet kein Hinauögreifen über das Schema deS spekulativen Systems, es bedeutet höchstens, daß die latierende Herrschaft des Geistes über die Natur ohne ihn nicht realisiert, d. h. bewußt gemacht werden kann. Wenn wir also die Analogiefrage als das hermeneutische Problem der Predigten Schleiermachers festgestellt haben, so können wir diese Analogie genauer bezeichnen als diejenige zwischen dem johanneischen Christentum und dem spekulativen System oder auch zwischen der Bibel und „uns". Es ist klar, daß diese Analogie keine zufällige, am Rande erscheinende „Ähnlichkeit" oder „Gemeinsamkeit in einem Punkt" ist,

sondem sachliche Identität bedeutet. Nur ist eben das, was das System bietet, anzusehen als Schema, als Notwendigkeitsbeweis, gleichsam als Weissagung, die aber erst in Christo erfüllt ist. Die historische Er­ scheinung des Erlösers wird tatsächlich durch das spekulative System nicht überflüssig. Umgekehrt kann Schleiermacher erst mit seinen spekulativen Gedanken im Hintergrund das in die Zeit hinein sich fort­ setzende Werk Christi konkret verstehen und als Vollendung unseres natürlichm, geistigen und kulturellen Lebens deuten und würdigen. Mit aller Vorsicht kann man vielleicht SchleiermacherS spekulatives System als ein modemes „Cur deus homo?“ auf dem Boden des Idea­ lismus bezeichnen. Bei Schleiermacher gibt eö freilich kein anderes Christentum als das „johanneische", d. h. das von Johannes authentisch bezeugte ChriftuSbild. Von Johannes aus werden das Alte Testament und das Christusbild der Synoptiker beurteilt, von Johannes aus erfreut sich — worauf wir hier nur verweisen können — die Apostelgeschichte als daS an keine „Echtheitsfrage" gebundene Zeugnis vom ersten Gemeinde­ leben besonderer Gunst. Es bleibt als wesentliche Frage nur die nach der Auslegung paulinischer Texte. Zur Untersuchung dieser Frage stehen unS vor allem zwei Homilienreihen zu Gebote, die über den Philipperbrief (1822—23; hrSg. v. Sydow, Bd. 10,335 ff.) und die über den Kolosserbrief (1. S. n. Tr. 1830 bis Tr. 1831; Hrsg. v. Zabel, Bd. 6,191 ff.). Angesichts der theologischen Übereinstimmung

3« Das „johanneischr" Verständnis des Christentums

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beider sönnen wir uns an die erstere als an die gründlichere Darbietung halten. Man kann zusammenfassend sagen: Schleiermacher macht aus Paulus einen johanneischen Theologen, indem er ihn zum Kron­ zeugen deö Geistes der ersten Gemeinde und zum Verkünder des neuen Lebens in Christo macht. Das „Sein in Christo" ist hier daö centrum Paulinum, das aber natürlich nicht mit irgend einer Art von Sakra­ mentsmystik, sondern rein spiritualistisch begründet wird. Die paulinische Botschaft ist Gemeindelheologie. Hier finden wir „eine solche Ähnlichkeit zwischen dem Zustande derer, für welche und an welche die heiligen Bücher zunächst geschrieben sind und zwischen dem unsrigen, daß es allerdings scheinen muß, als ob dieselben für unö gemacht wären" (10,337). Wir sind in der Tat Heilige in Christo, „aber freilich nur insofern wir nicht für uns selbst etwas sein wollen, sondern uns mit der Gemeinde, die seinen Namen führt, in dem innigsten Zusammen­ hänge fühlen" (10,340). In dieser Gemeinde sind wir nicht isoliert, — „keiner unter uns soll für sich allein etwas gelten" (10,520), — sondern wir sind hineingebunden in den großen Fortschritt des Reiches Gottes auf Erden. „Wir sehen, wie bald hier bald dort in der Gemeinde Christi die himmlischen Güter, die Er in seinem Evangelio gebracht hat, mit besonderer Liebe gepflegt werden und dadurch einen leichteren Zugang zu den Herzen der Schwachen und Wankelmütigen erhalten" (10,348). Daö „Vollführen des guten Werkes", von dem Paulus Phil. 1,6 spricht, kann nicht im einzelnen Menschen zu seinem letzten und höchsten Ziel gelangen, sondern der Apostel meint „das unaus­ gesetzte Fortschreiten der Christen auf dem Wege der Heiligung" (10,356). Die Zielsetzung „biö an den Tag Jesu Christi" versteht Schleiermacher einfach als die Zuversicht, „daß eö in Zukunft eben so sein werde". Mit anderen Worten: der Prediger lost die eöchatologischen Aussagen des Paulus in Fortschrittsglauben auf. So vermag er auch daö ur­ christliche Problem einer Möglichkeit der zweiten Buße für „eitle leere Fragen" zu erklären, da es sich bei der Gemeinschaft des Menschen mit Christo, nachdem sie wirklich angefangen, nie um Aufhören, sondern nur um Übergänge handeln kann (10,360). Wie wenig die Eschato­ logie in irgend einer Form in den Gesichtskreis tritt, zeigt die Erklärung von Phil. 4,5: „Der Herr ist nahe" bedeutet einfach, daß sein Geist in die Herzen der Seinigen ausgegossen ist (10,748). Darum kann daö Schaffen der Seligkeit mit Furcht und Zittern auch nur den ethischen Sinn einer Furcht vor der eigenen Schwachheit haben (10,538 s.). Wie stark Schleiermacher daran interessiert ist, alles auf das „johanneische" Schema zu projizieren, zeigt sich etwa bei dem Versuch, „das

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 8. SchlriermacherS Bibelverständnis

Eine" waö Paulus immer schreibt (Phil. 3,1) nämlich „Freuet euch", mit dem „Einen" deö Johannes, nämlich „Kindlein liebet euch unter« einander", als identisch zu erweisen (10,614). Wie ein Same geht die geistige und göttliche Liebe im Gemüte deS Menschen auf (10,365). DaS Evangelium — man beachte die geringe Stringenz der Begriffe, die Austauschbarkeit von „Liebe", „Evangelium", „neues Leben" — daö Evangelium hat die Bestimmung, das ganze persönliche und ge­ meinsame Leben deö Menschen zu einem Tempel GotteS zu machen. Es gibt keine höhere Angelegenheit hienieden als die „für die unbe­ grenzte Herrschaft und die unendliche Verbreitung desselben . . . wirk­ sam zu sein" (10,396). Weil das Christentum eine fortschreitende Sache ist, darum sind starke Ausdrücke wie Phil. 2,15 oder 3,3 mit der frühen Entwicklungsstufe zu entschuldigen. Selbst die Eschatologie löst sich in den „christlichen Prozeß" auf, eöchatologische Begriffe im Text wie „der Tag Jesu Christi" (Phil. 1,6) haben nur die Bedeutung eines asymptotischen Zieles für den Prozeß *. Auch mit der „Kraft der Auf­ erstehung Christi" (Phil. 3,10) meint der Apostel lediglich, „daß wir in einem neuen geistigen Leben wandeln" (10,647)1 2. Es bedarf gar keines Wortes mehr, daß dieses Paulusbild für die Rechtfertigung aus Glauben keinen Raum mehr läßt. Diese evangelische Grundlehre kommt gar nicht zur Sprache, wo sie aber anklingt, wird sie in dem schon geschilderten Sinne umgebogen. „Dieser Glaube an Christum ist von dem Glauben an die neue Kreatur unzertrennlich, ja beide sind

eins und dasselbe, und so ist die Gerechtigkeit durch den Glauben nichts anderes als die ganze gottgefällige Gestalt der neuen Kratur" (10,645). Der Glaube fällt einfach mit dem „Sein in Christo" und dem neuen Leben zusammen. „Der wahre Glaube an Christum muß sein ein Hingeben deS ganzen Gemütes an ihn, ein Eingehen in die Gemeinschaft seines reinen göttlichen Lebens, sodaß wir nicht unser eigenes von dem feinigen gesondertes Leben haben, sondern er in uns lebt und wir in ihm" (ebd.). Die wahre Beschneidung (Phil. 3,3) ist „Gott im Geist dienen" (10,622).

1 ES ist hingegen unrichtig, Schl, habe nie über eSchatologische Texte gepredigt. (Friso Melzer: ThStKr. 1930, S. 382 ff.) 2 Wie synergistisch dieses neue Leben gedacht ist, zeigt die öftere Aus­ einandersetzung mit der Hoffnung für frühverstorbene Kinder, die doch noch nichts von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wissen, sondern unmündig und unentwickelt sterben (10,649, vgl. übrigens 4,406). Hier lehrt Schl, nahezu einen limbus infantium, wenn er unbedenklich von einer „Anstalt" spricht, „wodurch alle unmündigen Seelen auf eine uns unbekannte Weise weiter entwickelt werben und die sie deS Segens der Auferstehung teilhaftig macht."

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Dieses PauluSbild bietet nichts Neues. Es macht aber doch den Eindruck, als hätte es Schleiermacher bewußt auf seine Johannes­ theologie hin interpretiett. An zwei Punkten sind auch speziell johanneische ELgenatten auf Schleiermacher übergegangen. Einmal die EntwicklungS- und Zeitlosigkeit deö ChriftuSbildeS, die allerdings im 4. Evangelium bis zur Präexistenzlehre (Joh. 1,2) und zur Lehre von der Präexistenz des Christusglaubens (Joh. 8,56) gesteigert wird. Zum anderen das Fehlen der endgeschichtlichen Eschatologie. An der entscheidenden Stelle (Joh. 11,24 ff.) schiebt JesuS die endgeschichtliche Auffassung beiseite mit dem Hinweis auf sich selbst: Christi Erschei­ nung auf Erden ist die Parusie, und wer an ihn glaubt, der lebt. Aber was sonst in das Bild Christi eingeht, ist weithin nicht Lehre des 4. Evangelisten, sondern Biedermeierkultur: wo Schleiermacher daö heitere und fröhliche Leben der Jünger des Herrn schildert (io,2ioff.), wo er für Toleranz und Weltoffenheit ficht (10,231), da ist er einfach ein Kind seiner Zeit. SchleiermacherS oben erwähnter BiblizismuS erweist sich durch den unablässigen Schriftbeweis. Ein ungeheurer Reichtum von Schrift­ worten steht ihm zu Gebote — kein Pietist könnte „biblischer" reden alö Schleiermacher. Aber eö kann nicht ausbleiben, daß er gewisse Stellen bevorzugt, Stellen, denen von seinem System aus gesehen ein be­ sonderer Sinn zukommt*. Eö sind keineswegs nur johanneischr Worte, aber doch geben sie einen Einblick in SchleiermacherS Bibel. Wenn dieser BibliziSmuö dazu noch kritisch gehandhabt wird, ist daö nur ein Vorzug mehr. Daß der BiblizismuS in Analogie zu einem spekulativen System steht, ist darum noch nicht schlecht, denn eö kommt auf daö PrioritätSverhältniS I Wir notieren einige Beispiele solcher Lieblingszitate und fügen bezeich­ nende Stellen ihres Vorkommens hinzu: Gen. 1,3- „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, eS war sehr gut" bient etliche Mal« als Hinweis auf die Güte der Schöpfung im weittragendsten Sinne (2,292; 514; 3,1-7; 769; 7,230). — Der Gegensatz von Fleisch und Geist wirb in den verschiedensten Wen­ dungen erwähnt (2,96s; 3,223; 393; 609s.; 7,571). —I. Joh. 3,2: „ES ist noch nicht erschienen, was wir sein werden" ist der eigentliche Text einer Predigt über Joh. 1,19—28 (2,284ff.) und begegnet z.B. auch 7,198s.; 8,14; 10,1-9; 434. — Im Blick auf di« einzelnen wird gerne Röm. 3,23 herangezogen: „Sie sind allzumal Sünder" (2,146; 393; 3,544; 10,227), während das Wesen des Glaubens meist mit Gal. 2,-0 beschrieben wird „Christus lebt in uns" (2,64; -68; 378; 4-5; 3,220; 546; 4,228). Gerne kommt der Prediger auf die „Freiheit der Kinder Gottes" (Röm. 8,21) zu sprechen (2,5-; 9»; 3,-49; 453; 8,178; 10,221). Diese Liste läßt sich beliebig vermehren.

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 9- Krittscher Erttag

und auf die Art der Spekulation an1.2 Will doch auch Schleiermachers Spekulation nichts anderes sein, denn eine Beschreibung der Wirk­ lichkeit, der Natur, in welcher Christus erschienen ist, nichts als eine Beschreibung des Menschen, der in den tiefsten Bedürfnissen seiner Seele befriedigt werden will (10,337; 514). Dies führt uns nun aber zu den homiletischen Grundproblemen zurück.

9. Kapitel Kritischer Erttag Eö kommt unS darauf an, in Auseinandersetzung mit Schleiermachers Predigtauffafsung Einsichten über die Predigt überhaupt zu gewinnen. Dazu aber müssen wir das Gesamtbild von homiletischer Theorie und Praxis bei Schleiermacher nochmals überblicken. Friedrich Schleiermacher lebt in der Geschichte der Homiletik fort als der Vater des Begriffs der künstlerisch-darstellenden Predigt: Die Gemeinde stellt durch den Mund ihres Predigers ihren Glaubensbesitz dar, sie selbst ist Subjekt der Predigt, genau genommen aber auch Ob­ jekt derselben, denn daö zu verkündigende Evangelium ist Besitz ihres religiösen Bewußtseins. Karl Fezer? hat diesen Predigtbegriff mit kritischem Scharfsinn diskutiert und vor allem die Frage erhoben, ob es die reale oder die ideale Gemeinde sei, die bei diesem „anthropo­ zentrischen" Predigtbegriff gemeint ist. Er hat ferner dargetan, daß Schleiermacher mit dem Gedanken des „Darstellens", womit er den rationalistischen Predigtbegriff des „wirksamen Handelns" zu überbietm suchte, den Kern des Predigtproblems gar nicht erreicht, ganz abgesehen davon, daß er diese Idee nicht rein durchführen konnte. — Aller dieser Kritik Fezerö können wir vollauf beitreten. Allein eS handelt sich hierbei nur um die homiletische Theorie deS großen Theo­ logen, die uns nur eingangs beschäftigte und über die hinweg wir in 1 Andersartig und doch verwandt ist die spekulative Auswertung der johanneischen Schriften bei I. G. Fichte, die wir hier nur erwähnen können. Für ihn bient vor allem der Johannesprolog als Stützpunkt einer metaphysischen Auseinandersetzung mit dem SchöpfungS- und EmanationSgebanken. Ium andern aber entnimmt Fichte dem Johannesevangelium die Forderung an die Menschen, zur selben (metaphysischen) Einigung mit Gott zu gelangen, welche wir an JesuS wahrnehmen. ES liegt also auch hier eine Att von Urbild-Lehre vor. 2 DaS Wort Gottes und die Predigt. Stuttgart 1925, passim.

i. Der Spiritualismus

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den Predigtnachlaß Schleiermachers selbst eindrangen. Wir dürfen besonders in Rückerinnerung an den 2. Hauptteil dessen Ertrag dahin zusammenfassen, daß sich der darstellende Charakter der Predigten vollauf bestätigte, wenn schon in einem anderen Sinne. Wir nannten Schleiermacher einen biblizistischen Prediger. Dies ist zunächst ganz formal gemeint: die Hälfte seines Predigtwerkes besteht aus Homi­ liereihen, und auch in den Einzelpredigten wurdm Thema und Partition im Laufe der Entwicklung mehr und mehr äußeres, ja entbehrliches Gewand. Auch in seiner theoretischen Lehre stehen ja, wie wir sahen, die „Formalien" der „Predigtkunst" nur ganz am Rande. Die kirchen­ amtliche Homiletik kann ihn nicht zum Kronzeugen ihrer Wünsche machens wie sich auch Luther und Calvin diesen Wünschen entziehen. Auf die Praxis gesehen, ist der darstellende Charakter der Predigten jedenfalls nicht Schleiermacherö schlechtester Zug. Man kann in ihm fast einen mustergültigen Lehrer dafür finden, wie man sich dem eigenen Gefälle des Textes überlassen, mit ihm Zwiesprache halten, ihn der Gemeinde vor Augen malen, und sich mit dem Teft auseinandersetzen soll. Ein formaler Methodismus wird bei ihm natürlich sowohl mustergültig-logische Thema-Predigten als auch formlose Homilien finden und bei einiger Vernunft bei dem großen Meister sich von der Irrelevanz dieses formalen Problemkreises überzeugen können, falls dazu das Beispiel Luthers noch nicht hinreichen konnte. Hingegen wollen wir einige andere homiletische Probleme auf­ greifen, für die uns Schleiermacher die Augen öffnen kann. Dahin rechnen wir als erstes den Spiritualismus seiner Predigten.

1. Der Spiritualismus Wir haben SchleiermacherS Johannesauslegung bezw. die SchriftauSlegung seiner Predigten überhaupt als spiritualistisch bezeichnet. WaS ist damit gemeint? Dem Wortlaut nach bedeutet spiritualistisch „geistig" und Spiritualismus „geistiges Verständnis", d. h. tieferes, eigentliches Verständnis eines Satzes oder Wortes, dessen „äußerliches" 1 „Man kann in der altmodischen Form der streng an den Text gebundenen, sorgfältig nach Thema und drei Teilen disponierten Predigt durchaus packend und zeitgemäß predigen und man kann jenseits aller Gesetze und Regeln altüberkommener Predigtkunst die Gemeinde völlig um das betrügen, was sie mit Recht von uns erwartet und was man ihr schuldig ist." (Amtsblatt f. b. Ev.-luth. Kirch« in Bayern r. b. Rh., 1932, S. 116.)

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 9. Kritischer Ertrag

Verständnis vermieden werden soll. Darin liegt aber beschlossen, daß der Spiritualismus etwas anderes ist als der sensus spiritualis der mittelalterlichen Hermeneutik*. Der Unterschied liegt darin, daß der sensus spiritualis neben den Literalsinn tritt, der Spiritualismus aber den Wortverstand vertiefen und letzten Endes das „äußerliche" Verständnis vermeiden will. Es wäre aber völlig verkehrt, die Geistig­ keit deö besagten Verständnisses mit Abstraktion zu verwechseln. Ab­ straktion ist stets eine Sache des Intellekts, und als solche nur wenigen zugänglich, ohne doch besondere persönliche, moralische Qualitäten vorauSzusetzen. DieS ist aber im Spiritualismus aufs höchste der Fall. Er bedeutet eine besondere Weise der Zugänglichkeit eines Gesagten. Spirituell ist daS Verständnis eines Satzes, eines Gedankens, einer Begebenheit dann, wenn deren Sinn mir kraft meiner Innerlichkeit zugänglich ist. Wenn ich spiritualisiere, übertrage ich ein Gesagtes oder Berichtetes auf eine Ebene, wo ich es innerlich nachvollziehen, realisieren kann. Spiritualismus heißt: alles nur auf Grund jener innerlichen Realisierbarkeit verstehen wollen. Es ist klar, daß aus allen diesen Gründen der Spiritualismus eine dauernde häretische Möglichkeit in der Kirche war, die stets aufö neue in die Erscheinung trat. Wenn die Mystiker etwa an Weihnachten über die Geburt Gottes in der Seele predigten, so spiritualisierten sie das Evangelium, indem sie eS in eine innerlich nachvollziehbare Form um­ gossen^. Nichts anderes aber liegt im Schwärmertum vor, wo man das äußere Schriftwort der Reformatoren als den papierenen Papst verdächtigte und ihm das innere Wort entgegensetzte. Kreuz und Geist waren die Stichworte dieser Bewegung, weil sie den Weg des inner­ seelischen Prozesses bis hin zur Langeweile bezeichneten. Durchaus in diesem Sinne nannten wir auch Schleiermacher einen Spiritualisten, da auch er — bei aller mustergültigen Sorgfalt der Exegese — auf das innere oder geistige Verständnis deö Textes 1 „Illa ergo prima significatio qua voces significant res, pertinet ad primum sensum, qui est sensus historicus, vel litteralis. Illa vero significatio qua res significatae, per voces, iterum res alias significant, dicitur sensus spiritualis, qui super litteralem fundatur et eum supponit.“ Thomas Aqu. 8. theoL I. qu. I. a. io. 2 Die von Vetter herausgegebenen Predigten TaulerS (Berlin 1910) liefern zahllose Belege für die spiritualistische SchristauSlegung der Mystik. J. B. S. 341,26—29. WeleS ist nu das schiff da unser herre in sitzet ze lerende? DaS ist daS inwendige, der gründ des Menschen: da setzet unser herre inne sine raste; fm wöle die ist da. — Ebenda Geburt Christi in der Seele 397,9—16; Geburt -eS Kreuzes 234,16—22 usw.

i. Der Spiritualismus

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auögeht. Wohl ist dieses geistige Verständnis spekulativ unterbaut, aber doch nicht abstrakt gemeint. Eö zielt auf daö immer mehr zur Bewußtheit fortschreitende Leben der Christenheit. Der auch von Fezer erörterte Gegensatz von idealer und realer Gemeinde verfängt hierbei gar nicht, weil im Darstellen deS qualitativ Vollkommenen das un­ vollkommen entwickelte Bewußtsein der Gemeinde zu sich selbst kommen soll. Hier, im christlichen Prozeß, ist der Ort für die Spiritualisierung. ES mag zunächst seltsam berühren, daß wir gerade in der psychologischen AufweiSbarkeit, in der Naturalisierung deS Evangeliums, den stärksten Beweis für Schleiermachers Spiritualismus erblickt haben. Aber es handelt sich ja bei diesem „geistigen" Verstehen — wie gesagt — nicht um abgezogene Gedanklichkeit, sondern um die Transponierung des Wortes der Bibel in die Sphäre der Innerlichkeit. Dadurch unterscheidet sich die spiritualistische Auslegung von den in der Kirche seit alterS ge­ übten Auölegungsweisen: Diese — wir denken an Allegorie, Anagogie und Tropologie — wollen Auslegung im Rahmen des kirchlichen Glaubens sein, der Spiritualismus aber will spekulative oder psycho­ logische Ermöglichung deS Verstehens leisten. Es liegt auf der Hand, hier zu fragen, ob nicht damit eben die Aufgckbe der Predigt bezeichnet sei: Verständnis möglich zu machen. So formuliert, natürlich. Es liegt ja im Wesen der Predigt, daß daö ergangene Wort weiterhin ergeht, daö Gefälle des Textes sozusagen weiterhin fällt, daö in Worten gefaßte und verstandene, geglaubte Evangelium weiterhin in neuem aktuellem Gewände verstanden und geglaubt wird. Aber dieser Effekt ist nicht unsere Leistung, unser Be­ mühen. D. h. das Wort Gotteö muß bleiben, was eö ist. Eö ermög­ licht sich selbst Eingang in Ohr und Herz vermittels des Predigtamteö. Weder Predigtamt noch AuSlegungS- oder Lehrwissenschaft sind be­ rechtigt, den Wagen des Wortes Gottes auf ein anderes Gleis zu „übersetzen"*, etwa auf daö Gleis deS natürlichen oder deS „Innenlebens" hinüber zu setzen und durch solch eine kategoriale Veränderung die Fahrt einladender zu machen. Daö Verständnis deö Wortes Gottes kann sich immer nur in der ihm eigenen Fahrtrichtung vollziehen, oder so, daß man das Verhältnis dieser Fahrtrichtung zu andern Gleisen, Straßen und Ortschaften unseres menschlichen Lebens zu bestimmen versucht. Der Spiritualismus Schleiermacherö, in dessen Schatten der 1 Die „Übersetzungen" in andere Sprachen sind Dienst am Wort, Ver­ kündigung und nicht kategoriale Verschiebungen, von welchen wir hier reden. W.T rill Haas: Schleiermachers Predigt 13

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II. Hauptteil: Predigt und Text. 9. Kritischer Ertrag

Liberalismus deS 19. Jahrhunderts weithin gewohnt hat, hat aber eine Grundvoraussetzung. Nach ihm geht es in der Predigt um geistiges Verstehen. Darum hat die „religiöse Rede" die Aufgabe darzustellen, damit man anschauen und verstehen könnte. Dieses Verstehen ist freilich keine intellektuelle Funktion, denn eö begreift die Erfahrung der Seele, des Herzens ein. Und doch kennzeichnet auch daö Wort „Erfahrung" allein nicht hinreichend den Spiritualismus Schleiermachers. Jede Predigt soll Erfahrung deuten und Erfahrbares künden, wenn sie etwa von der Gnade in Christus spricht. Kündet doch auch Christus (Joh. 7,17) den Tätern des Willens Gottes eine „gnosis“ über die Herkunft seiner Lehre an. Aber Schleiermacher deutet nach der schon geschehenen Erfahrung daS Evangelium. Die Erfahrung des Glaubens bleibt immer im Glauben, letztlich undarstellbar, unanschaulich, ohne Kon­ tinuität mit dem gewöhnlichen Erfahrungsablauf, an dessen Erlebnis ich andere zuverlässig teilnehmen lassen kann. Schleiermacher stellt das Evangelium in die Kontinuität des Erfahrungsablaufes hinein und „klärt" denselben so, daß er in seiner latenten Christlichkeit sicht­ bar und zum christlichen Prozeß wird. Sind wir zu diesem Urteil gelangt, so müssen wir unser früheres Urteil daneben halten, daß Schleiermacher förmlich biblizistischer Prediger war. Wie verträgt sich sein „Spiritualismus" mit dem an­ geblichen „BibliziSmuS" ? Hierauf gibt der folgende Abschnitt Auskunft.

2. Die Analogie des Wortes Warum Schleiermacher Spiritualist und Biblizist zugleich sein konnte, haben wir schon erklärt: ES ist die Analogie von Bibel und Spekulation, welche seine Theologie kennzeichnet. Rein theoretisch hat Schleiermacher sich in der „Christlichen Sitte" mit der Entsprechung von vovs oder xoivbg Xoyog und Ttvevfia Sytov, wie er dort sagt, beschästigt*. ES ergab sich dort folgendes Bild: Der uns angeborene Ge­ meingeist („vovs") ist ein unvollkommener Herrscher über daS Fleisch

1 Daß eine Entsprechung stattfindet, wiesen wir oben im Abschnitt „Der Heilige Geist und die Vernunft" nach. Neuerdings hat W. Berwiebe dieses Problem aufgegriffen. „Pneuma und Nüs in Sch.'S Christi. Sitte", ZThK 1932, S. 236 ff. Die schließliche gegenseitige Durchdringung beider Kräfte setzt aber eine ursprünglich« Analogie schon voraus, die bas große Problem Schl.'s ist. Dies kommt bei V. nicht klar heraus. Die von ihm behauptete Übereinstimmung Schl.'s mit Luther ist doch einigermaßen ftagwürdig.

2. Die Analogie des Wortes

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Mit Christus tritt der Heilige Geist („Trr-Lv/za L'^eov") in die Erscheinung, der uns zum höheren Selbstbewußtsein, zur „Selig­ keit" führen kann. Für ihn gehött der Gemeingeist zum Fleisch, der Heilige Geist hat die Vemunft unter sich, jedoch nicht als Widersacher, als „Hure", sondem als „Organ". Dies bedeutet praktisch, daß der Heilige Geist in den Gemeingeist eingeht, indem er ihn zu seinem Organ macht. Der vov$ tritt in einen Prozeß ein, mit dem Ziel vollkommenes Organ des Heiligen Geistes, ja Heiliger Geist selbst zu werden. So ist gewiß der Heilige Geist von oben gekommen, in Christus auö Gnaden den Menschen gegeben. Aber er ist doch auch eines völligen Eingehens in diese Welt fähig, er kann ein psychologischer Faktor werden. Es besteht nach der „Christlichen Sitte" folgende Gleichung: i’oEg : od(>£ — rtvevfia Sytov : (vovq o