Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers [Reprint 2012 ed.] 3110188910, 9783110188912

Diese erste umfassende Studie über das Werk Friedrich Schleiermachers in gendertheoretischer Perspektive untersucht die

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Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers [Reprint 2012 ed.]
 3110188910, 9783110188912

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Elisabeth Hartlieb Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W Härle

Band 136

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Elisabeth Hartlieb

Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers

W G_ DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 0563-4288 ISBN-13: 978-3-11-018891-2 ISBN-10: 3-11-018891-0 Bibliografische Information Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Um zu lieben, muß man mindestens zu zweit sein. Luce Irigaray

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel "Die Bedeutung der Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers" von der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg im Jahr 2004 als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde sie leicht überarbeitet und neuere Literatur nach Möglichkeit berücksichtigt. Das Thema der Arbeit, die gendertheoretische Auseinandersetzung mit dem Werk Friedrich Schleiermachers, liegt in einem Bereich, der in der deutschsprachigen theologischen Forschung noch unbearbeitet ist. Wenn ich im Ergebnis davon spreche, dass Schleiermacher als Vordenker der Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert zu betrachten sei, betone ich gleichzeitig die Ambivalenz dieser Einschätzung aus gegenwärtiger theologischer Sicht. Die Geschlechterdifferenz bedarf einer besonderen theologischen Aufmerksamkeit, um ihre Verwobenheit in kulturelle und theologische Denkmuster und deren Auswirkungen zu reflektieren. Ansätze für einen solchen Umgang finden sich bereits bei Schleiermacher selbst, dessen Theologie gerade darin aktuell ist, dass sie die Geschlechterdifferenz als Paradigma für menschliche Unterschiedenheit überhaupt wahrnimmt und damit die Pluralität und Differenz religiöser Erfahrung theologisch thematisiert. Mit der Veröffentlichung dieser Arbeit kommt ein Projekt zum Abschluss, das meine Zeit als wissenschaftliche Assistentin am Fachbereich Theologie der Marburger Universität begleitet und maßgeblich bestimmt hat. Prof. Dietrich Korsch danke ich für die Ermutigung, mein Interesse an feministischer Theologie und Genderforschung mit Fragen der Schleiermacher-Forschung zu verbinden. Er hat meine Arbeit stets mit Wohlwollen und Interesse begleitet. Prof. Hans-Martin Barth danke ich für die Eigenständigkeit und Freiheit, die er mir für meine Forschungsarbeit eingeräumt hat. Beiden bin ich dankbar dafür, dass sie die Gutachten in kurzer Zeit erstellt und so das Ihre dazu beigetragen haben, dass ich meine Habilitation zügig abschließen konnte. Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann hat sich als fachfremder Kollege die Mühe gemacht, in die Welt der theologischen Geschlechterforschung und Schleiermachers einzutauchen und das dritte Gutachten zu verfassen. Dafür gilt ihm mein Dank ebenso wie für das Interesse, das er schon früh an diesem Thema gezeigt hat.

VIII

Vorwort

Wenngleich dieses Buch die sichtbare Frucht der Marburger Jahre ist, so umfasst diese Zeit doch wesentlich mehr als sich darin widerspiegeln kann. Darum gilt mein Dank all denjenigen, die diese Zeit zusammen mit mir als Lehrende und Lernende der Theologie erlebt und mich in vielfältiger Weise an Verstand, Geist, Seele und Leib bereichert, unterstützt und begleitet haben. Sie alle zu nennen, wäre an dieser Stelle zu viel; besäße dieses Buch jedoch eine Widmung, so wäre es jenen Kolleginnen und Kollegen gewidmet, die mir darüber zu Freundinnen und Freunden geworden sind. Einige von ihnen haben auch direkten Anteil am Prozess der Fertigstellung dieser Arbeit und dafür gilt ihnen ein eigener Dank: Michaela Geiger, Heike Preising und Dr. Julia Koll haben in der Schlussphase große Teile gelesen und mir mit ihren Rückmeldungen geholfen. Eigens erwähnen will ich PD Dr. Gerlinde Baumann und Prof. Dr. Angela Standhartinger, deren freundschaftliche Gespräche meinen Marburger Weg über Jahre hinweg begleitet haben. Prof. Dr. Helga Kuhlmann danke ich insbesondere dafür, dass sie in einem frühen Stadium die mühsame Lektüre der Kapitel II-IV auf sich genommen und mit ihren Anmerkungen und Kommentaren zur Verbesserung beigetragen hat. Dr. Birgit Rommel hat mehrfach große Teile der Arbeit gelesen und mit ihren Anmerkungen nicht wenig zur besseren Lesbarkeit des Textes beigetragen. Darüber hinaus hat sie mehr als andere wahrgenommen, wie mich der Prozess des Forschens und Schreibens mit seinen Höhen und Tiefen bestimmt hat und mich erinnert, wenn dieser Prozess mich zu sehr zu beherrschen drohte. Ruth Poser und Timo Glaser haben die Zitate überprüft und die mühsame, aber unentbehrliche Aufgabe des Korrekturlesens übernommen und so die termingerechte Abgabe der Habilitationsschrift ermöglicht. Timo Glaser hat zudem das Literaturverzeichnis erstellt. Beiden danke ich für ihre sorgfältige und engagierte Arbeit. Ohne Anne Kowalski, meiner studentischen Hilfskraft an der Humboldt-Universität zu Berlin, wäre die Erstellung der Druckvorlage nicht gelungen. Sie hat nicht nur die Layout-Aufgaben übernommen und sich durch die Eigenheiten eines bekannten Textverarbeitungsprogramms nicht beirren lassen, sondern auch zugunsten der zukünftigen Leserinnen und Leser darauf gedrängt, meine langen Sätze zu kürzen und viele Passagen lesbarer zu formulieren. Last but not least hat sie das Register erstellt. Die fertige Druckvorlage ist daher in weiten Teilen ihr Werk.

Vorwort

IX

Mein Dank gilt auch den Institutionen, die diese Arbeit finanziell unterstützt haben: Der Landesverband Baden des Evangelischen Bundes hat die Veröffentlichung durch einen erheblichen Druckkostenzuschuss gefördert, ebenso haben die Evangelische Kirche von KurhessenWaldeck und die Evangelische Landeskirche in Baden einen Beitrag zu den Druckkosten geleistet.

Berlin, im Mai 2006

Elisabeth Hartlieb

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

I Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

1

1. Geschlecht und Geschlechterdifferenz

2

2. Geschlechterdifferenz in der Theologie

10

3. Schleiermachers Theologie als Untersuchungsgegenstand

12

4. Methode und Aufbau der Arbeit

17

II Die Weihnachtsfeier

22

1. Die Weihnachtsfeier als Schlüssel 2. Biographische und zeitgeschichtliche Verortung

22 24

3. Zur literarischen Gestalt 3.1. Inhalt, Form, Aufbau und Akteure 3.2. Die Korrelation von Reden und Erzählungen 4. Die Geschlechtscharaktere

27 27 31 36

5. Frauen, Männer und das Fest der erlösenden Liebe

41

6. Frömmigkeit, Religion und Geschlecht

47

6.1. Die Rolle Sophies

47

6.2. Die Verbindung von Frömmigkeit und Weiblichkeit

50

6.3. Mutterschaft und Weihnachten 6.4. Religion und Geschlecht

51 53

III Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

57

1. Vorbemerkung 2. Historische Verortung 2.1. Die bürgerliche Geschlechterordnung

57 58 61

XII

Inhaltsverzeichnis

2.2. Der biographische Hintergrund bei Schleiermacher

67

2.3. Zeitgenössischen Konzepte der Geschlechterdifferenz

78

2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5.

Rousseau: Die Frau als Supplement des Mannes 80 Kant: Geschlechterdifferenz als binäre Opposition 81 Fichte: Geschlechterdifferenz als hierarchische Einheit 84 Humboldt: Geschlechterdifferenz als komplementäre Einheit ....87 Schlegels Konzeption der Geschlechterdifferenz 91

3. Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz 3.1. Die frühen Texte bis 1802 3.1.1. Die Jugendschriften bis 1793 3.1.2. Die Schriften der Charite-Zeit 1796-1802

95 100 100 104

3.1.2.1. Gedankenhefte 3.1.2.2. Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen

106 112

3.1.2.3. Reden über die Religion

116

3.1.2.4. Monologen

118

3.1.2.5. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde

122

3.1.3. Zwischenergebnis: Von der Freundschaft zur Liebe 3.2. Die Texte bis 1806

129 132

3.2.1. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre

132

3.2.2. Brouillon zur Ethik (1805/06) 3.2.2.1. Liebe als Tugend und die geschlechtliche Liebe

138 140

3.2.2.2. Geschlechtscharakter im Brouillon 3.2.2.3. Das Verständnis von Liebe und Ehe im Brouillon

142 144

3.3. Zwischenergebnis: Von der Liebe zur Ehe 4. Geschlechterdifferenz beim frühen Schleiermacher

151 154

IV Die Entfaltung der Geschlechterdifferenz

156

1. Schleiermachers System der Wissenschaften

157

2. Geschlechterdifferenz, Individualität und Menschheit 2.1. Definition der „Geschlechtsdifferenz"

166 168

2.2. Die Ableitung der Ehe aus der Geschlechterdifferenz

171

2.3. Erscheinungsformen der Ehe 2.3.1. Kinderlose Ehen 2.3.2. Ehelosigkeit 2.3.3. Das Kind als Überwindung der Einseitigkeit 2.4. Der ethische Ort der Liebe: Liebe als Tugend

173 174 175 176 177

Inhaltsverzeichnis

2.4.1. Die Definition der Liebe als Tugend 2.4.2. Differenzierungen im Begriff der Liebe

XIII 177 179

2.5. Zwischenergebnis der Ethik

181

3. Die Geschlechterdifferenz in der bürgerlichen Gesellschaft

184

3.1. Die Geschlechterdifferenz als Differenz der Einzelseele 3.2. Der Ursprung und die Art der Geschlechterdifferenz

186 187

3.3. Individuelle Geschlechterdifferenz und Gesellschaftsordnung....187 3.4. Die Repräsentation des Allgemein-Menschlichen 190 3.5. Zwischenergebnis der Psychologie 192 4. Die Geschlechterkomplementarität in Erziehung und Bildung 193 4.1. Das Geschlechterverhältnis in der Pädagogik 196 4.2. Die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Erziehung 198 4.3. Die pädagogischen Auswirkungen 4.4. Zwischenergebnis der Pädagogik

200 204

5. Geschlechterkomplementarität in Theologie und Kirche

205

5.1. Die Sittenlehre

205

5.1.1. Der Ort der Ehe in der Sittenlehre 5.1.2. Die Ehe zwischen Kirche und Staat

206 208

5.1.3. Das christliche Eheideal

210

5.1.3.1. Monogamie

210

5.1.3.2. Unauflöslichkeit

211

5.1.3.3. Ehelosigkeit 5.2. Die Ehepredigten von 1818

213 214

5.2.1. Theologie der christlichen Ehe 5.2.2. Ehescheidung 5.3. Zwischenergebnis: Die Theologisierung der Ehe

215 221 223

6. Die Ehe als Telos der komplementären „Geschlechtsdifferenz" 6.1. Von der erlösenden Liebe zur christlichen Liebe 6.2. Geschlechterdifferenz und christliche Ehe

226 226 229

6.3. Geschlechtertheoretische Perspektiven

231

V Die Genderkodierung der Religion und ihr Verschwinden

232

1. Weiblichkeit, Gefühl und Religion

234

1.1. Die Wurzeln von Schleiermachers Gefühlsbegriff 1.2. Das Gefühl als Domäne des Weiblichen 1.3. Religion und Gefühl

235 239 241

XIV

Inhaltsverzeichnis

1.3.1. Gefühl und Anschauung des Unendlichen 1.3.1.1. Anschauung 1.3.1.2. Gefühl 1.3.2. Die Veränderungen in der Auflage der Reden von 1806

246 247 252 255

1.4. Die erotische Liebes- und Pflanzenmetaphorik

258

1.4.1. Die Liebesszene

260

1.4.2. Die Veränderungen der Liebesszene in der Auflage von 1806...263 1.4.3. Die Pflanze des göttlichen Lebens 1.4.4. Die Rolle Evas: Religion, Liebe und Sprache

267 269

1.4.5. Religion als der „mütterliche Leib" 1.5. Facetten von Schleiermachers Feminisierung der Religion 1.5.1. Die Integration von Sinnlichkeit und Erotik in die Religion 1.5.2. Schleiermachers „Feminisierung der Religion" 2. „Männliche" Theologie und „weibliches" Erkenntnisprinzip

271 272 276 278 284

2.1. Die Geschlechterdifferenz in dogmatischen Aussagen

288

2.1.1. Sündenlehre

288

2.1.2. Jungfrauengeburt

290

2.1.3. Eschatologie 2.1.4. Ekklesiologie

291 294

2.1.5. Zwischenergebnis 294 2.2. „Weibliche" Frömmigkeit als dogmatisches Erkenntnisprinzip ...295 2.2.1. Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein

296

2.2.2. Gefühl und Frömmigkeit in der Glaubenslehre

305

2.3. Die theologische Funktion der Geschlechterdifferenz 2.4. Ergebnis: Die subkutane Kodierung der Frömmigkeit

311 314

VI Theologie unter der Signatur der Geschlechterdifferenz

319

1. Schleiermachers Denken im Horizont der Geschlechterdifferenz...319 1.1. Schleiermachers Verständnis von Geschlechterdifferenz 319 1.2. Die Auswirkungen 321 1.2.1. Die Bedeutung für einzelne dogmatische Aussagen 322 1.2.2. Der religiöse Stellenwert der Liebe und die Ehetheologie 1.2.3. Geschlechterdifferente Ausdrucksformen des Glaubens 1.2.4. Schleiermachers Ansätze zur Feminisierung der Religion

326 329 331

1.3. Weiblich kodierte Frömmigkeit als theologische Norm? 2. Geschlechterdifferente Theologie als Paradigma?

337 339

Inhaltsverzeichnis

XV

2.1. Das Ende des Komplementaritätsdenkens 2.1.1. Die Verabschiedung der Geschlechtscharaktere 2.1.2. Die Verabschiedung des romantischen Liebesbegriffs 2.1.3. Die Verabschiedung der „Weiblichkeit höherer Ordnung" 2.2. Die Geschlechterdifferenz als Paradigma für Pluralität? 3. Der theologische Stellenwert der Geschlechterdifferenz 3.1. Geschlechterdifferenz und Universalität des Heils 3.1.1. Geschlechterdifferenz und Gottebenbildlichkeit 3.1.2. Geschlechterdifferenz und Erlösung 3.2. Das Problem des genderneutralen theologischen Subjekts

340 340 342 345 347 350 350 354 357 361

Literatur- und Abkürzungsverzeichnis

364

Register

387

I Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie In der systematischen Theologie wird in der Regel vom Menschen generisch als Gattungswesen gesprochen. Auch wo vom Einzelnen als Person oder Individuum gehandelt wird, geschieht das weitgehend auf abstrakte Weise. Das Geschlecht zählt dabei nicht zu den Themen, denen außerhalb spezifischer ethischer Einzelfragen grundlegende theologische Beachtung zuteil wird. Die feministisch-theologische Forschung der vergangenen drei Jahrzehnte hat indes zur Genüge aufgezeigt, dass diese Tatsache höchst problematisch ist und der Überprüfung und Korrektur bedarf. Ist doch die Ausblendung der Geschlechterfrage und insbesondere die Marginalisierung und Ausblendung des Weiblichen nicht allein mit spezifischen Herrschaftsverhältnissen verknüpft, vielmehr verbindet sie sich mit der Konstituierung symbolischer Ordnung1 und betrifft auch den Bereich der religiösen Symbolisierung. Die Marginalisierung des Weiblichen und die Dominanz des Männlichen ist nicht nur eine Frage gesellschaftlicher Verhältnisse, sie tangiert ebenso die Ebene symbolischer Repräsentation. Die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen dem christlichen Symbolsystem, das die Theologie maßgeblich gestaltet und tradiert und der soziokulturellen Ordnung der Geschlechter haben wichtige Arbeiten feministischer Theologinnen thematisiert.2 Damit

1

2

Ich verweise hier für die Rolle der Kategorie Geschlecht als gesellschaftlichem Ordnungsfaktor lediglich auf den Überblicksbeitrag von Theresa Wobbe in dem Band Genus sowie für die konstitutive Bedeutung des Geschlechterdualismus für das abendländische Denken auf den Beitrag von Cornelia Klinger im selben Band (Wobbe, Theresa, Stabilität und Dynamik des Geschlechts in der modernen Gesellschaft: Die soziologische Perspektive, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 2005, 444-481 u. Klinger, Cornelia, Feministische Theorie zwischen Lektüre und Kritik des philosophischen Kanons, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur· und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 2005, 328-364). Auf dem Gebiet der feministischen Theologie erinnere ich exemplarisch an zwei zentrale Arbeiten, die sich auf die deutsche evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts beziehen: Praetorius, Ina, Anthropologie und Frauenbild in der deutschsprachigen protestantischen Ethik seit 1949, Gütersloh 1993 u. Janowski, Christine, Zur paradigmatischen Bedeutung der Geschlechterdifferenz in K. Barths „Kirchlicher

2

Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

zeichnet sich immer deutlicher die Frage ab, ob und in welcher Weise Geschlecht ein Thema systematischer Theologie und nicht allein ein Aspekt theologischer Anthropologie darstellt. In der vorliegenden Arbeit frage ich nach der theologischen Bedeutung von Geschlechterdifferenz, indem ich die Konzeption Friedrich Schleiermachers untersuche und hinsichtlich der Frage bedenke ob, inwiefern und in welcher Weise in der Theologie die Kategorie Geschlecht berücksichtigt werden muss. Daher stelle ich zuerst knapp und in wesentlichen Linien die feministische Diskussion um Geschlecht und Geschlechterdifferenz dar. Dabei werden die Debatten der letzten dreißig Jahre keineswegs umfassend und vollständig wiedergegeben. Vielmehr geht es mir darum, die Begriffe zu klären und meine Position zu verdeutlichen, so dass eine transparente Anwendung auf die Fragestellung, also auf die Theologie Friedrich Schleiermachers vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Diskussionsstandes möglich ist. Im zweiten Schritt gehe ich darauf ein, in welcher Weise die feministische Theologie bisher die Themen Geschlecht und Geschlechterdifferenz in die theologische Diskussion eingebracht hat. Sodann begründe ich drittens die Wahl meines Untersuchungsgegenstandes, um viertens und abschließend kurz das methodische Vorgehen und den Aufbau der Arbeit zu erläutern.

1. Geschlecht und Geschlechterdifferenz Die feministische Philosophin Luce Irigaray bezeichnet die Geschlechterdifferenz als diejenige denkerische Frage, die unserer Zeit aufgegeben ist.3 Sie formuliert die Herausforderung, die Kategorie „Geschlecht" wahrzunehmen, damit Frauen als gesellschaftliche und kulturelle Subjekte ihren Ort in der Welt entdecken und einnehmen können. Bisher sei die Geschlechterdifferenz noch nicht als wirkliche Differenz gedacht worden, sondern der Mann sei das einzige Subjekt des theoretischen, moralischen und politischen Diskurses gewesen. In der feministischen Debatte über Frauen und Geschlechterdifferenz steht Irigaray für die differenzfeministische Position. In dieser Debatte über die Kategorie Geschlecht, Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen, die etwa ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Unterscheidung von Sex (im Sinn von biologischem

3

Dogmatil·:", in: Helga Kuhlmann (Hg.), Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau. Zur Ethik der Geschlechterdifferenz, Gütersloh 1995,140-186. Irigaray, Ethik, 11. Das französische Original erschien 1984 und geht auf Vorlesungen in Rotterdam aus dem lahr 1982 zurück.

Geschlecht und Geschlechterdifferenz

3

Geschlecht) und Gender (im Sinn von soziokulturellem Geschlecht) einsetzte, wurden inzwischen reichhaltige Erkenntnisse gewonnen. 4 Die Unterscheidung von Sex und Gender hat eine Begrifflichkeit geschaffen, die es erst ermöglicht hat, die selbstverständliche Annahme der Natürlichkeit der binären Geschlechterdifferenz aufzubrechen, so dass die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht und nach seiner Konstruiertheit überhaupt erst gestellt werden kann. 5 Diese Position setzt sich in den achtziger Jahren als feministisch-theoretische Grundannahme durch. Geschlecht, nun differenziert in biologisches und soziokulturelles Geschlecht, wird als eine fundamentale soziale Ordnungskategorie identifiziert, die sich quer durch alle Zeiten und in allen Gesellschaften findet, allerdings in sehr unterschiedlichen Formen und Funktionen. Der Schwerpunkt der Forschung liegt in dieser Zeit auf der Frage nach den Ursachen und Entstehungsbedingungen von Geschlecht. Der Akzent liegt auf der als historisch und kulturell wandelbar verstandenen Genderdimension im Blick darauf, wie Gender bei Individuen und in Gesellschaften zustande kommt und welche Rolle jeweils biologische und soziale Faktoren spielen. Im Blickpunkt steht die Differenz zwischen den Geschlechtern und die Annahme einer allen Frauen gemeinsamen weiblichen Erfahrung. In der Folgezeit wird die Fokussierung auf die Differenz zwischen Frau und Mann durch zunehmende Differenzerfahrungen zwischen Frauen aufgebrochen und als spezifisch westliche, weiße und mittelschichtsorientierte Perspektive kritisiert. Gender wird als ein Faktor neben anderen, wie Rasse, soziale Herkunft oder sexuelle Orientierung, gesehen, die gesellschaftliche Ordnungsund Machtprozesse strukturieren. Unter dem Einfluss konstruktivistischer und dekonstruktivistischer Ansätze radikalisiert sich die Kritik

4

Die Forschung hat gegenwärtig einen Stand der Differenzierung erreicht, der die Zusammenarbeit von Forscherinnen der verschiedensten Wissenschaften erfordert bzw. auch in Deutschland zur Etablierung der „Genderstudien" geführt hat (vgl. z.B. Inge Stephan/Christina von Braun (Hg.), Genderstudien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2000). Ein eigenes Problem bildet m.E. die überwiegend sozialund geisteswissenschaftliche Ausrichtung der Debatte, die nur sehr begrenzt naturwissenschaftliche Forschungen aus Biologie, Neurophysiologie, Entwicklungspsychologie usw. rezipiert. Die begrifflichen und methodischen Voraussetzungen für eine solche Debatte sind ausgesprochen schwierig, da erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Überlegungen eine zentrale Rolle spielen (vgl. dazu Fausto-Sterling, Anne, Sich mit Dualismen duellieren, in: Ursula Pasero (Hg.), Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik, Wiesbaden 2002, 17-64). Fausto-Sterling verfolgt als Molekularbiologin die naturwissenschaftliche und die soziologisch-wissenschaftstheoretische Diskussion.

5

Vgl. Stephan, Inge/Braun, Christina von, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Genderstudien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2000, 9-15, hier: 10.

4

Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

an einem naturalistischen Verständnis der Kategorie Geschlecht in zweierlei Hinsicht: Erstens wird das Sex/Gender-Modell fraglich, indem auch der Körper und das biologische Geschlecht als soziale Konstruktionen betrachtet wird. Zweitens wird die natürliche Zweigeschlechtlichkeit bestritten, sofern auch die Binarität der Geschlechterdifferenz als Effekt soziokultureller Prozesse verstanden werden. Die dekonstruktivistische Infragestellung der Geschlechterdifferenz hat intensive Kontroversen über die Frage von Biologismus bzw. Essentialismus der Kategorie Geschlecht, einschließlich der theoretischen und praktischen Konsequenzen ausgelöst. 6 Dabei ist deutlich geworden, dass die Thematisierung der Kategorie Geschlecht und der Geschlechterdifferenz grundlegende Probleme aufwirft und oftmals bereits die Option für unterschiedliche theoretische Ansätze mit Erwägungen über politische Strategien verbunden ist. In den neueren Forschungen zum Verhältnis von Körper und Geschlecht zeigt sich eine gewisse Klärung: Es wird unterschieden zwischen der Theorieebene, die von einem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus ausgeht, aber gerade keine

6

Zur Kritik an der Unterscheidung von Sex und Gender sowie an der Prämisse der Geschlechterbinarität vgl. neben ludith Butlers Dekonstruktion der natürlichen Zweigeschlechtlichkeit (Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt. a.M. 1991) die sozialkonstruktivistische Kritik von Gildemeister und Wetterer, die auf weitere sozialwissenschaftliche Studien verweisen (Gildemeister, Regine/ Wetterer, Angelika, Wie Geschlechter gemacht werden, in: Knapp, Gudrun-Axeli/ Wetterer Angelika (Hg), TraditionenBriiche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg 1992, 201-254). Zum gegenwärtigen Diskussionsstand vgl. Hof, Renate, Einleitung: Geschlechterverhältnis und Geschlechterforschung - Kontroversen und Perspektiven, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 2005, 2-41. Zur Problemstellung und exemplarischen Diskussion der Optionen ist die Arbeit von Andrea Maihofer (Maihofer, Andrea, Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a.M. 1995) immer noch erhellend. Maihofer selbst lehnt die Alternative zwischen Geschlecht als Natur oder als sozialer Konstruktion ab und zeigt auf, dass die konstruktivistische Position eine berechtigte erkenntnistheoretische Problematik formuliert, die aber selbst nicht ontologisch verabsolutiert werden darf. Die Einsicht, dass über den geschlechtlichen Körper „außerhalb der symbolischen Ordnung, des sprachlichen Bedeutens, der diskursiven Zeichenpraxis" (a.a.O., 73) nichts gesagt werden kann, darf nicht dazu führen, dass jegliche Beziehung zwischen Sex und Gender bestritten und die begriffliche Unterscheidung selbst verabschiedet wird. Damit würde lediglich die Alternative zwischen essentialistischen und konstruktivistischen Theorien zur Geschlechterdifferenz radikalisiert und damit wiederum die kulturelle Opposition von Natur/Körper/Materie und Kultur/Geist/Bewusstsein verstärkt. Maihofer macht darauf aufmerksam, dass die Debatte um Essentialismus oder Konstruiertheit der Kategorie Geschlecht und die „Inkonsequenz" der Sex-Gender-Unterscheidung, die dabei mitspielt, auf die grundsätzliche Binarität der Logik unseres Denkens verweisen, sofern Denken bedeutet, Unterscheidungen zu machen (vgl. a.a.O., 74f.).

Geschlecht und Geschlechterdifferenz

5

ontologischen Aussagen macht und insofern von der „Naturhaftigkeit" der Geschlechterdifferenz als Ergebnis der sozialen Konstruktion sprechen kann, und der Ebene des Alltags, in der Geschlecht als „natürlich" gegeben erscheint. 7 Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die strikte Binarität der Kategorie Geschlecht und eine darauf basierende natürliche Heterosexualität biologisch nicht zu begründen sind. 8 Denn auf biologischer Ebene sind inzwischen Differenzierungen zwischen genetischem, hormonellem und organisch-phänomenologischem Geschlecht eingeführt, die, da sie in komplexen Wechselwirkungen miteinander stehen, keine strenge Binariät, sondern eher eine Pluralität des biologischen Geschlechts nahe legen. 9 Auch das soziokulturelle Geschlecht eines Individuums entwickelt und aktualisiert sich als ein höchst komplexes und dynamisches Prozessgeschehen im Wechselspiel zwischen verfestigter soziokultureller symbolischer Ordnung, Gender-generierenden Interaktionen im Rahmen von gesellschaftlichen Kommunikationsmustern sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen. Es kann von Individuen weder völlig frei gewählt oder beliebig verändert werden, noch ist es ein starres unbewegliches Zwangskorsett, das Individuen in ihrer geschlechtlichen Identität ein Leben lang unveränderbar festlegt. Unter diesen Voraussetzungen sind Aussagen über kausale Wirkungen des biologischen auf das soziokulturelle Geschlecht höchst schwierig und weiterhin kontrovers. Doch biologistisch legitimierte Vorstellungen einer binären Geschlechterdifferenz können nicht mehr unmittelbar aufrechterhalten werden. Dies betrifft die Idee eines durchgängigen männlichen oder weiblichen Geschlechtscharakters, die Vorstellung einer geschlossenen Geschlechtsidentität, die weitgehend aufgrund von Physiologie und Sexualität konstituiert wird, und das damit selbstverständlich gekoppelte Konzept eines natürlichen gegengeschlechtlichen Begehrens. Die Aus7

Vgl. Villa, Paula-Irene, Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Opladen 2 2001, 225.

8

Gildemeister und Wetterer verweisen auf Untersuchungen, die die komplexen und vor allem reflexiven Wechselwirkungen zwischen biologischem Geschlecht und kulturellen Prozessen darstellen. Verstärkt wird diese Einsicht durch die erkenntnistheoretische Prämisse der unhintergehbaren Zeichenhaftigkeit und damit sozialen Konstruiertheit wissenschaftlicher Aussagen und Erkenntnisse, die den wissenschaftlichen Objektivitätsbegriff entsprechend modifizieren. Zu dieser wissenschaftstheoretischen Debatte vgl. Harding, Sandra, Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women's Lives, Ithaca/London 1991 sowie Betzier, Monika, „Objektivität" als epistemische Norm feministischer Erkenntnistheorie, DZPh 46 (1998), 783-797.

9

Vgl. dazu Maurer, Margarete, Sexualdimorphismus. Geschlechtskonstruktion und Hirnforschung, in: Ursula Pasero (Hg.), Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik, Wiesbaden 2002, 65-108, hier: 73.

6

Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

sage, dass es sich bei Geschlecht um eine soziokulturelle Konstruktion handele, ist zwar inzwischen in der Frauen- und Geschlechterforschung unbestritten, dennoch kann noch nicht von einer geschlossenen Theoriebildung gesprochen werden. Weiterhin und umso nachdrücklicher ist es unumgänglich, den kritischen Impuls, der mit dem Erkenntnisinteresse (nicht nur der theologischen) Geschlechterforschung verbunden ist, „mit Bezug auf den spezifischen historischen Ort der eigenen Praxis und Theoriebildung" 10 zu bestimmen und damit den eigenen Standpunkt zu markieren. Auf dem Hintergrund dieser sehr verkürzten Darstellung der feministischen Diskussion verorte ich nun meine Verwendung der Begriffe Geschlecht und Geschlechterdifferenz. Die Unterscheidung von Sex und Gender ist - darin ist der konstruktivistischen Kritik zuzustimmen - m.E. erkenntnistheoretisch problematisch bzw. inkonsequent. Sie ist - und hier folge ich Andrea Maihofer - zugleich theoriepragmatisch sinnvoll, um die Kultur-Natur-Trennung unseres Denkens nicht ungewollt zu verstärken und der Gefahr zu entgehen, den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus zu einer ontologischen Aussage zu verabsolutieren. Letzteres würde innerhalb der feministischen Theoriedebatte die dualistische Trennung von Natur und Kultur verstärken. 11 Darum entscheide ich mich dafür, die begriffliche Unterscheidung von Sex und Gender beizubehalten und zugleich beide Begriffe als soziokulturelle Konstrukte zu verstehen. Geschlecht und (binäre) Geschlechterdifferenz sind also nicht natürlich, sondern erscheinen uns als naturhaft. Was den Begriff der Geschlechterdifferenz betrifft, so ist er aus kritisch-feministischer Perspektive nicht unproblematisch. Der Verweis auf die Geschlechterdifferenz ist eng mit dem Gedanken der notwendigen sexuellen Unterscheidung in Hinsicht auf die Fortpflanzung der menschlichen Gattung verbunden und dient daher als Anknüpfungspunkt für biologistische und naturalistische Theorien. Das Thema der Generativität wurde meist von Kritikerinnen feministischer Positionen besetzt und von feministischer Seite tendenziell vernachlässigt. Doch es erscheint mir so elementar und bedeutsam, dass es nicht grundsätzlich ausgeblendet werden darf.12 Zum anderen impliziert die Geschlechter10 11

12

Hof, Einleitung, 32. Mit Maihofer bin ich der Meinung, dass wir diesem Dilemma nicht entgehen können, da die fundamentalen Strukturen unseres Denkens von Dualismen, also von einer zweiwertigen Logik geprägt sind (vgl. Maihofer, Geschlecht, 74). Gerade die Phänomene des gender crossing, der Transsexualität und die politische Transgender-Bewegung stellen die feministische Theorie vor Fragestellungen, die darauf hinweisen, dass die Verschränkung von Geschlecht und Identität, Körper und Selbst, sexueller Praxis und Lebensentwurf komplexer sind, als die feministi-

Geschlecht und Geschlechterdifferenz

7

differenz in unserer westlichen Kultur eine klare Binarität der Geschlechter, die sowohl die Vorstellung von Zwischenstufen oder einer Mehrzahl von Geschlechtern ausschließt als auch das gegengeschlechtliche Begehren als exklusive natürliche Form der Sexualität und des erotischen Begehrens betrachtet. Nicht zuletzt ist der Begriff der Geschlechterdifferenz in unserer Kultur mit einem tiefgehenden asymmetrischen dualistischen Denken verbunden, das Unterscheidungen sogleich in Hierarchien ordnet und gerade nicht egalitär versteht. Diese drei Punkte, die Tendenz zu einer biologistisch-naturalistischen Interpretation, die unhinterfragte Binarität und die damit verknüpfte Dualisierung belasten den Gebrauch des Begriffs. Dennoch erscheint es mir notwendig, weiterhin den Begriff Geschlechterdifferenz zu gebrauchen. Allerdings unter der Prämisse, dass die binäre Geschlechterdifferenz als soziokulturelle Konstruktion zu betrachten ist.13 Drei Punkte motivieren diese Entscheidung: Erstens ist die Geschlechterdifferenz als begriffliche Kategorie empirisch-analytisch unverzichtbar, da unsere lebensweltliche Wirklichkeitswahrnehmung und Alltagspraxis davon tiefgehend bestimmt sind.14 Dies gilt umso mehr für die Zeit zwischen 1750 und 1850 als der Periode, die Friedrich Schleiermachers Lebenszeit (1768-1834) einschließt und die ich für die Erfassung des geschlechtergeschichtlichen Kontextes meiner Studie einbeziehe. Zweitens erweist sich die Geschlechterdifferenz Kultur übergreifend als sinnvolle Kategorie, z.B. in der Ethnologie, sofern die ethnographischen Daten die These der kulturellen Konstruiertheit von Geschlecht unterstützen, nicht aber das destabilisierende Moment der Dekonstruktion im Butlerschen Sinn.15 Zum dritten ist die Geschlechterdifferenz im Rahmen einer liberalen Gleichheitstradition als theoretischer Kritikbegriff notwendig. Vor allem dieses letzte Argument erscheint mir aus-

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14

15

sehe Sex-Gender-Unterscheidung oder das neuzeitlich-westliche Zwei-GeschlechterModell (vgl. Schröter, Susanne,. FeMale. Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern, Frankfurt a.M. 2002, 209 sowie das gesamte Kapitel "Gender crossing und Identittäspolitk" einschließlich des Epilogs zu Geschlecht als Kategorie, 169-229). Methodisch ist darum ein zweifacher Blick notwendig, um die Mechanismen zur Herstellung der Geschlechterdifferenz zu identifizieren und ebenso Strategien ihrer expliziten Durchbrechung oder subversiven Ironisierung. Vgl. Pahl-Patalong, Uta, Art. Gender, WFT ^2002, 216-221, hier: 220. Damit begründet auch Pahl-Patalong den methodischen zweifachen Blick. Zugleich ist zu beobachten, dass die Abgrenzungen in unserer Gesellschaft schwächer werden, wie sich an der weitgehenden gesellschaftlichen Akzeptanz lesbischer und schwuler Lebensweisen und an der Diskussion um Inter- und Transsexualität zeigt. Vgl. Schröter, Susanne, Zwischen Exotisierung und Homogenisierung: Geschlechterforschung in der Ethnologie, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 2005, 42-78, bes. 62f., sowie Schröter, FeMale, 215.

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Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

schlaggebend, weil es die innere Dialektik feministischer Denkbewegungen und ihre historische Verortung berücksichtigt. Denn die feministische Forschung hat aufgezeigt, dass der Ausschluss der Frauen parallel zur Forderung nach bürgerlich-politischer Gleichheit stattfand, die zu den gesellschaftlichen Grundüberzeugungen unserer modernen westlichen Kultur gehört, so dass die feministische Gleichheitsforderung implizit zur Forderung nach Angleichung an die Standards des männlichen Bürgers mutierte. 16 Auf dem Hintergrund der Erkenntnis, dass im Umgang mit der Kategorie Geschlecht in unserer westlichen Kultur zur Debatte steht, wie „Unterscheidungen getroffen, Dichotomisierungen [...] eingeführt und Hierarchien produziert werden", 17 stellt die differenzfeministische Forderung nach Anerkennung der Geschlechterdifferenz vor das grundsätzliche Problem nach der Anerkennung von Differenz unter dem politischen und gesellschaftlichen Gleichheitsanspruch. Sie ist somit eine Weiterentwicklung der Forderung nach Gleichheit und kein Rückfall in ein biologistisch fundiertes Konzept von Geschlechterdifferenz. 18 Während die feministische und feministisch-theologische Debatte bis in die achtziger Jahre vorwiegend damit beschäftigt war, die selbstverständliche hierarchische Differenzstruktur hinter dem Gleichheitsdiskurs aufzudecken, d.h. die herrschenden Androzentrismen und Sexismen auf der Ebene gesellschaftlicher wie symbolischer Strukturen zu entlarven, bedeutet die heutige Debatte um Geschlechterdifferenz aus feministischer Sicht eine radikale Kritik des vorfindlichen Gleichheitsdiskurses aufgrund seines faktischen Androzentrismus. 19 Dies beinhaltet eine Öffnung, die mit der Emphase auf der Differenz und der Infragestellung ihrer binären, dualistischen Struktur politische wie erkenntnistheoretische Herausforderungen an den Feminismus formuliert und darin kreative, utopische Potentiale erschließt. Die Debatten um Essentialismus versus Konstruktivismus der Geschlechterdifferenz haben deutlich gemacht, dass mit der Kategorie Geschlecht die grundlegende Frage aufgeworfen ist, wie in unserer westlichen Kultur auf symbolisch-repräsentativer und auf sozialer Ebene Unterscheidungen getroffen werden. Damit berührt die Frage nach der Geschlechterdifferenz auch die Diskurse um gesellschaftliche Strukturen und Machtprozesse sowie die Diskurse um Subjekt und 16 17 18 19

Vgl. Gerhard, Ute u.a. (Hg.), Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht, Frankfurt a.M. 1990 sowie Maihofer, Geschlecht, 159-164. Stephan/Braun, Einleitung, 10. Vgl. Maihofer, Geschlecht, 172. Die postmoderne Kritik jeglicher Universalismen wie des Subjektbegriffs trifft dabei auf innerfeministische Debatten um die Differenzierung von Frauenerfahrung.

Geschlecht und Geschlechterdifferenz

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Person. Die Verwendung des Begriffs Geschlecht im Sinn einer soziokulturellen Kategorie, aber nicht unter Verzicht auf die Unterscheidung von Sex und Gender, und die Beibehaltung des Begriffs der Geschlechterdifferenz erscheinen mir angesichts der Geschichte impliziter Androzentrismen in der scheinbar genderneutralen Begrifflichkeit von Philosophie und Theologie notwendig und angemessen. Die kritische Dekonstruktion konkreter historischer Konzepte von Geschlecht und Geschlechterdifferenz erledigt darum gerade nicht die Frage nach der Kultur ü bergreifenden Bedeutsamkeit der Kategorie Geschlecht und der Ausbildung der symbolischen Geschlechterordnung. Vielmehr verschärft sie das Problem, warum es anscheinend zu immer neuen Konstruktionen von Geschlecht kommt, nicht aber zu einer grundsätzlichen Bedeutungslosigkeit. Diese Frage scheint mir mit zwei Sachverhalten verknüpft zu sein. Zum einen damit, dass über die Koppelung an sexuelle Reproduktion die logische Struktur von Einheit und Binarität und damit der Gedanke von Differenz eine elementare Symbolisierung, also lebensweltliche Anschaulichkeit und Erfahrbarkeit gewinnt. Zum anderen damit, dass diese logische Strukturkategorie elementar mit sozialen und historischen Konkretionen im Bereich von Macht und Sinn gekoppelt ist. In dieser Verbindung, die die Geschlechterdifferenz zu einer kulturellen Fundamentaldifferenz mit performativer Kraft macht, liegt ihre spezifische Deutekraft wie auch ihre Problematik gerade für religiöse Symbolsysteme. Diese sind nämlich in ihren Symbolen eng verwoben mit der sozialen und kulturellen Ordnung einer Gesellschaft, weil sie als spezifische, letztbegründende Deutungs- und Orientierungssysteme fungieren. In der soziokulturellen Außenperspektive feministischer Theorie steht die Frage nach der Geschlechterdifferenz in der Theologie unter der Leitfrage nach dem Beitrag der Theologie zum Wechselspiel von Denkmustern und sozialen Realitäten, das mit der gendertheoretischen Analyse aufgedeckt wird. 20 In feministisch-kulturtheoretischer Außenperspektive geht es mir in dieser Arbeit also darum, die Verbindungslinien innerhalb der Theologie Schleiermachers in doppelter Richtung zu analysieren: zum einen als Auseinandersetzung und Rezeption zeitgenössischer Vorstellungen zur Geschlechterdifferenz in der Theologie, deren Subjekte selbst mit den sozialen und kulturellen Ordnungen ihrer Gesellschaft verwoben sind, zum anderen als spezifischen Beitrag zur konkreten Ausformung der kulturellen genderspezifischen Ordnungsmuster auf der Ebene orientierender und letztbegründender Wirklichkeitsdeutungen.

20

Vgl. Stephan/Braun, Einleitung, 14.

10

Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

2. Geschlechterdifferenz in der Theologie In der theologischen Selbstdeutung geht es darum, wie Theologie das Wechselspiel von spezifischen Denkmustern des christlichen Glaubens mit denjenigen der allgemeinen Kultur und Gesellschaft in Reflexion auf die bisherige Christentumsgeschichte und in Bezug auf das, was Theologie als gegenwärtige Realität erkennt, deutend und orientierend weiterentwickelt und an religiöse Praxis zurückbindet. In diesem Sinn ist auch der christlichen Theologie die Geschlechterdifferenz als denkerische Frage aufgegeben. Diese Problematik ist im Raum der christlichen Kirchen und Theologie als feministisch-theologische Frage nach der Rolle von Frauen und der Wahrnehmung von Frauenerfahrung aufgebrochen. Die feministische Theologie und ihr Ansatz bei der Erfahrung von Frauen bringt damit die Kategorie Geschlecht zuallererst kritisch in die theologische Diskussion. Leitbegriffe sind Sexismus (Rosemary Radford Ruether), Androzentrismus (Ina Praetorius) und Kyriarchat (Elisabeth Schüssler Fiorenza). Ziel ist die Subjektwerdung von Frauen, die Beteiligung von Frauen an der Formulierung von Theologie und an der kirchlichen Gestaltungsmacht im Blick auf die Veränderung von Kirche und der Gesellschaft unter der Leitvorstellung von Gerechtigkeit für Frauen und Männer, von Geschlechtergerechtigkeit. Frausein und Frauenerfahrung bilden bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts den Bezugspunkt für feministische Theologien. Doch die feministischen Theoriedebatten um die Differenzen zwischen Frauen wie die theologiespezifische Debatte um den Antijudaismus der feministischen Theologie verändern die methodischen Ansätze und die Fragerichtung. 21 Seitdem wurde der Ausgangspunkt von Frauenerfahrungen problematisiert, methodisch präziser reflektiert und die Kategorie Geschlecht eingeführt. 22 Charakteristisch für die de21

22

Vgl. zur gesamten Entwicklung bis Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts Siegele-Wenschkewitz, Leonore, Die Rezeption der Genus-Kategorie in der theologischen Wissenschaft, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, 60-112. Eine Darstellung der neueren Entwicklung, allerdings vor allem für die Bibelwissenschaften, findet sich bei Maier, Christel, Theologie, in: Inge Stephan/Christina von Braun (Hg.), Genderstudien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2000, 247-261. Beispielhaft für die methodische Reflexion und Differenzierung der Kategorie Frauenerfahrung in der systematischen Theologie ist McClintock Fulkerson, Mary, Changing the Subject. Women's Discourses and Feminist Theology, Minneapolis 1994, sowie zur Diskussion der Problematik weiterführend: Chopp, Rebecca S./Davaney, Sheila Greeve (Hg.), Horizons in Feminist Theology. Identity, Traditions, and Norms, Minneapolis 1997, zur Rezeption differenzfeministischer Ansätze in der feministischen Theologie vgl. Jungblut, Dorothee, „Gaia am Spülstein". Weiblichkeitstheorien als Voraussetzung feministischer Theologie, St. Ingbert 1998 sowie

Geschlechterdifferenz in der Theologie

11

/konstruktivistische Wende zur Gender-Kategorie ist die Vermeidung von Essentialismen und eine große methodische und inhaltlichthematische Breite unter dem Dach von Leitbegriffen, die für aktuelle Diskurse stehen. Feministische Theologie hat nicht nur aufgezeigt, wie androzentrische und sexistische Vorstellungen von Frau und Weiblichkeit in Theologie und Kirche über Jahrhunderte herrschten und sich theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich ausgewirkt haben. Sie hat auch die androzentrische und sexistische Struktur scheinbar egalitärer bzw. „geschlechtsneutraler" theologischer Aussagen nachgewiesen. 23 Die Vermutung, dass die Leitdifferenz Gott - Mensch analog zur Geschlechterdifferenz männlich - weiblich gedacht und damit faktisch rückbezüglich der patriarchale Herrschaftsanspruch legitimiert und ins Religiöse überhöht wird, wurde ebenfalls schon früh geäußert. 24 Entsprechend findet sich schon von Anfang an in der feministischen Theologie Kritik an traditionellen Gottesbildern und Gottesvorstellungen. Diese kritische Arbeit feministischer Theologie - nicht allein die Kritik an der „Männlichkeit" Gottes - bearbeitet die implizite Frage, wie jeweils die Verbindungen zwischen der theologischen Leitdifferenz Gott - Mensch und der soziokulturellen Leitdifferenz Mann - Frau beschaffen sind, vor allem, ob und inwiefern diese Beziehungen offene und versteckte Asymmetrien zuungunsten von Frauen herstellen, legitimieren, verstärken oder tradieren. Diese feministisch-theologische Kritik enthält m.E. zwei grundlegende Einsichten. Die erste Einsicht betrifft die perspektivisch prägende Kraft der Geschlechterdifferenz, die erfordert, dass in der Rede vom Günter, Andrea (Hg.), Feministische Theologie und postmodernes Denken. Zur theologischen Relevanz der Geschlechterdifferenz, Stuttgart 1996, Gisela Matthiae greift als eine der ersten deutschen Theologinnen kreativ den dekonstruktiven Feminismus auf (vgl. Matthiae, Gisela, Clownin Gott. Eine feministische Dekonstruktion des Göttlichen, Stuttgart/Berlin/Köln 2 2001, zuerst 1999). Zur Einführung der Gender-Kategorie in die Praktische Theologie vgl. Pahl-Patalong, Uta, „Geschlecht" wahrnehmen. Auf dem Weg zu einer Methodologie feministischer Praktischer Theologie, in: Eberhard Hauschild t/Martin Laube/Ursula Roth (Hg.), Praktische Theologie als Topographie des Christentums. Eine phänomenologische Wissenschaft und ihre hermeneutische Dimension, Rheinbach 2000, 304-322, zu den Bibelwissenschaften vgl. Schottroff, Luise/Schroer, Silvia/Wacker, Marie-Theres, Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995. 23

Vgl. dazu das Wörterbuch der Feministischen Theologie, das über die einzelnen Artikel und deren Literaturverweise die Ergebnisse der feministisch-theologischen Forschung der letzten Jahrzehnte erschließt (Gössmann, Elisabeth u.a. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, Gütersloh 2 2002).

24

Vgl. Mary Dalys These von 1973: „Wenn Gott männlich ist, mufl [...] das Männliche Gott sein." (Daly, Mary, Jenseits von Gottvater, Sohn und Co. Aufbruch zu einer Philosophie der Frauenbefreiung, München 2 1982 (Originalausgabe 1973), 33).

12

Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

Menschen, im Begriff der Person und des Subjekts die Kategorie Geschlecht aufgrund ihrer fundamentalen Funktion als soziokulturelles Ordnungsmuster methodisch nicht ausgeblendet werden darf. Daraus ergibt sich die Aufgabe, jeweils zu reflektieren, in welcher Weise eine gendersensible Perspektive in theologische Aussagen angemessen eingebracht kann. Die zweite Einsicht betrifft die anthropomorphe Gottesrede, deren Probleme aber auch Chancen immer wieder die theologische Reflexion erfordern. 25 Die theologische Bedeutung der Geschlechterdifferenz liegt in der expliziten oder impliziten Verbindung zur Leitdifferenz Gott/in - Mensch bzw. Schöpfer/in - Geschöpf, die nicht nur in eine Richtung, also als symbolische Repräsentation nichtgegenständlicher Aussagen über Gott erfolgt, sondern als religiöse Symbolisierung zurückwirkt auf die Bereiche, in denen die Geschlechterdifferenz als soziokulturelles Ordnungsmuster wirkt. Wenn die Leitdifferenz Gott - Mensch parallel zur Leitdifferenz Mann - Frau gesetzt wird, transportiert die Analogie nicht nur das Moment der intensiven und engen Beziehungshaftigkeit, sondern auch das Moment der Asymmetrie. Für feministische Theologie ist jedoch gerade das Moment der Gleichheit von Frauen und Männern im Blick auf das Gottesverhältnis wie im Blick auf die soziokulturelle Ordnung eine zentrale Voraussetzung. Daraus erwächst zum einen die kritische Aufgabe, die theologische Entfaltung der Leitdifferenz Gott/in - Mensch auf implizite Prämissen zur Geschlechterdifferenz zu analysieren und zum anderen die konstruktive Aufgabe, die Geschlechtersymbolik als soziokulturelles Ordnungsmuster in ihrem Wechselspiel mit der jeweiligen sozialen Realität in ihrer Bedeutsamkeit für theologische Aussagen präzise zu beschreiben und an innertheologischen Kriterien zu prüfen, inwieweit sie angemessene Deutungen und Symbolisierungen darstellen. Methodisch erfordert dies, dass systematisch-theologische Aussagen kontextualisiert werden, nicht nur im Blick auf die theologie- und philosophiegeschichtlichen Bezüge, sondern auch hinsichtlich der historisch soziokulturellen Geschlechterverhältnisse.

25

Vgl. dazu Elizabeth Johnson, die auf den Zusammenhang feministisch-theologischer Kritik an Gottesbildern und der bisherigen systematisch-theologischen Reflexion auf die Frage der analogen Rede von Gott hinweist (Johnson, Elizabeth, Ich bin die ich bin. Wenn Frauen Gott sagen, Düsseldorf 1994, 167).

Schleiermachers Theologie als Untersuchungsgegenstand

13

3. Schleiermachers Theologie als Untersuchungsgegenstand Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher gehört zu den bedeutendsten protestantischen Theologen der Neuzeit. In mehrfacher Hinsicht legt sich nahe, die theologische Relevanz der Geschlechterdifferenz für sein Denken zu untersuchen. So gibt es ein nahe liegendes theologiegeschichtliches Interesse, das nach dem gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht als ausreichend bearbeitet gelten kann. Schleiermacher entwickelt sein philosophisches und theologisches Denken in der Zeit des Umbruchs vom Ancien Regime zur bürgerlichen Gesellschaft, in der nicht nur ein politischer und gesellschaftlicher, sondern auch ein vielschichtiger geistes- und ideengeschichtlicher Wandel stattfindet. Dies schließt die Debatte um die „Frauenfrage" ein. Die von der Forderung der Gleichheit aller Menschen ungeachtet ihres Standes und ihrer Herkunft provozierte „Querelle des Femmes" 2 6 transformiert sich in die Diskussion über das Wesen des Geschlechtsunterschiedes, der den Ort der Frau in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft legitimiert. So lässt sich im 18. Jahrhundert ein Wandel des Verständnisses von „Geschlecht" feststellen, der sich auf dem Hintergrund des aufblühenden Interesses für die Anthropologie im späten 18. Jahrhundert in neuen naturwissenschaftlichen Konzepten von Geschlechterdifferenz niederschlägt. 27 Friedrich Schleiermacher ist in diese Debatte involviert und greift das Konzept der Geschlechterdifferenz philosophisch und theologisch auf. Seine Verbindung zu dieser Debatte sowie seine eigene Rolle für die Integration des Modells der Geschlechtscharaktere in die Theologie ist bisher vergleichsweise wenig untersucht worden, insbesondere im deutschen Sprachraum. 28 26

Vgl. dazu Kap. ΠΙ 1.1.

27

„Dieser Mensch [um dessen Erkenntnis es geht, EH] wird im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr in erster Linie als Angehöriger eines gesellschaftlichen Standes wahrgenommen, sondern als Teil einer universal gültigen natürlichen Ordnung. [...] Neben dem Unterschied der Rasse ist es jetzt vor allem der des Geschlechts, der als Grundelement jeglicher Ordnung begriffen und ausgedeutet wird." (Frevert, Ute, Geschlecht - männlich/weiblich. Zur Geschichte der Begriffe (1730-1990), in: Dies., „Mann und Weib, und Weib und M a n n " . Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, 13-60, hier: 54). Erste Ansätze gibt es in der amerikanischen Schleiermacherforschung. Allerdings konzentrieren sich die Arbeiten auf den frühen Schleiermacher und beziehen seine Theologie insgesamt zu wenig ein. Zu nennen ist vor allem die grundlegende Arbeit von Ruth Richardson, die historisch und ideengeschichtlich für die SchleiermacherForschung eine Pionierleistung darstellt (Richardson, Ruth Drucilla, The Role of W o m e n in the Life and Thought of the Early Schleiermacher (1768-1806), Lewiston 1991). Daneben ist ein Sammelband zum Thema „Schleiermacher and Feminism"

28

14

Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

Die vorliegenden Arbeiten zu Schleiermacher und der Frauenbzw. Geschlechterfrage sind vor allem von der Frage geleitet, inwiefern Schleiermacher einen Beitrag zum Feminismus geleistet habe. 29 Eine (Nicol, Ian G. (Hg.), Schleiermacher and Feminism. Sources, Evaluations, and Responses, Lewiston 1992) und die Dissertation von Patricia Guenther-Gleason über die Rolle Schleiermachers in der Kontroverse zwischen Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel zu erwähnen (Guenther-Gleason, Patricia E., On Schleiermacher and Gender Politics, Harrisburg 1997). Der kurze Artikel von Elisabeth Wiederanders, der Schleiermacher in ungebrochener Weise als Förderer der Frauenemanzipation skizziert und erfreulicherweise auch auf seine späteren Äußerungen wie in der Sittenlehre und den Ehepredigten hinweist, ist eine Ausnahme im deutschen Bereich, stellt aber schon aufgrund seiner Kürze keinen weiterführenden Beitrag zur Forschung dar (Wiederanders, Elisabeth, „Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre". Zur Emanzipation der Frau bei Schleiermacher, ThV 16 (1986), 119-129). Ähnliches gilt für den Beitrag von Guenther-Gleason in dem bereits erwähnten Sammelband, in dem sie knapp auf die späteren Texte Schleiermachers eingeht (vgl. Guenther-Gleason, Patricia E., Schleiermacher's Feminst Impulses in the Context of his Later Work, in: Ian Nicol (Hg.), Schleiermacher and Feminism, Lewiston 1992, 95-127). Die erste Arbeit, die darüber hinaus geht und Schleiermacher theologisch auch unter der Frage der Geschlechterdifferenz untersucht, ist die kürzlich erschienene hervorragende Dissertation von Heleen Zorgdrager (Zorgdrager, Heleen, Theologie die verschil maakt. Taal en sekse-differentie als sleutels tot Schleiermachers denken, Zoetermeer 2003). Daneben wird Schleiermacher vor allem in der Romantikforschung unter feministischen Gesichtspunkten untersucht, vgl. Friedrichsmeyer, Sara, The Androgyne in Early German Romanticism. Friedrich Schlegel, Novalis and the Metaphysics of Love, Bern 1983; Massey, Marilyn Chapin, Feminine Soul. The Fate of an Ideal, Boston 1985; Ellison, lulie, Delicate Subjects. Romanticism, Gender and the Ethics of Understanding, Ithaca 1990; SimonKuhlendahl, Claudia, Das Frauenbild der Frühromantik. Ubereinstimmung, Differenzen und Widersprüche in den Schriften von Friedrich Schlegel, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Novalis und Ludwig Tieck, Diss. Kiel 1991. 29

Aus dieser Frage entsteht bereits Anfang des 20. lahrhunderts eine Kontroverse, als in der Ersten Frauenbewegung Schleiermachers Katechismus der Vernunft für edle Frauen aufgegriffen wurde, um die Forderung nach Frauenbildung zu verstärken: Helene Lange beruft sich in ihrer Forderung nach Frauenbildung auf Schleiermacher und druckt den Katechismus als erstes Dokument der Frauenbewegung ab (vgl. Lange, Helene, Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen, Leipzig 2 1915, 28f. u. 129f.), und im Gegenzug wird Schleiermacher von konservativer theologischer Seite für die Verteidigung des bürgerlichen Frauenbildes und zur Abwehr der feministischen Gedanken herangezogen (vgl. Walsemann, Hermann, Schleiermacher und die Frauen, Preußische lahrbücher 154 (1913), 451-482). Im Gefolge der Zweiten Frauenbewegung wiederholt sich diese Gegenüberstellung in ähnlicher Weise, wenn Richardson über Schleiermacher zu dem Urteil kommt, er sei „a late eighteenth-, early nineteenth-century harbinger of German feminism" (Richardson, Role, 182), bzw. Dawn de Vries aus Schleiermachers Weihnachtsfeier einen Beitrag für eine feministische Christologie gewinnt (Vries, Dawn de, Schleiermacher's Christmas Eve Dialogue. Bourgeois Ideology or Feminist Theology? JR 69 (1989), 169-183), während ihn Sheila Briggs oder Katherine Faull ebenso wie Marilyn Chapin Massey aus feministischer Sicht als androzentrischen Theologen kritisieren, der keine Basis für eine frauen- bzw. gendergerechte theologische Perspektive abgeben könne (Massey, Soul; Padilla (Faull), Katherine M., The Embodiment of the Absolute. Theories of the Fe-

Schleiermachers Theologie als Untersuchungsgegenstand

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eigene Schwierigkeit stellt dabei der Textbefund dar, denn sowohl diejenigen, die Schleiermacher als Vorläufer feministischer Ideen einstufen, wie diejenigen, die ihn als androzentrischen Theologen kritisieren, berufen sich auf Aussagen Schleiermachers. Der schon von Hermann Walsemann 3 0 vorgeschlagene Weg, die Spannung zwischen den Aussagen etwa des Katechismus der Vernunft für edle Frauen oder den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde und den späteren Vorlesungen über Psychologie und Pädagogik, aber auch der Ehepredigten zu lösen, indem man zwischen einem frühen und einem späten Schleiermacher unterscheidet und diese Wandlung je nach Standpunkt als Reifeprozess oder als reaktionäre Verbürgerlichung interpretiert, erweist sich als unhaltbar. Denn die gleichen Vorstellungen, mit denen der junge Schleiermacher die Hochschätzung des Weiblichen begründet, behält er auch in seinen späteren Texten bei, in denen er an der Begrenzung der Frauen auf die häusliche Sphäre festhält. 31 Entsprechend kritisch fällt auch das Urteil von Katherine Faull und Sheila Briggs 32 aus, die auf dem Hintergrund feministischer Untersuchungen zur Herausbildung des bürgerlichen Frauen- und Familienbildes in Schleiermachers Wertschätzung des Weiblichen eine Funktionalisierung der Frauen im Dienst des bürgerlichen Mannes und dessen Kompensationsund Regressionsbedürfnissen sehen. Ihre Kritik konvergiert mit der These von Pia Schmid und Juliane Jacobi, dass in das bürgerliche Frauenbild eine Modernitätskritik ein-

minine in the Works of Schleiermacher, Schlegel, and Novalis, Ann Arbor 1988; Faull, Katherine M., Schleiermacher - Α Feminist? Or, H o w to Read Gender Inflected Theology, in: Ian Nicol (Hg.), Schleiermacher and Feminism, Lewiston 1992, 1 3 32; Briggs, Sheila, Schleiermacher and the Construction of the Gendered Self, in: Ian Nicol (Hg.), Schleiermacher and Feminism, Lewiston 1992, 87-94). 30

Vgl. Walsemann, Schleiermacher, 466: „Schleiermacher hat sich dann beizeiten losgerissen aus dem romantischen Kreise, sein besseres Selbst iviedergefunden und sich durchgerungen zu wissenschaftlicher und sittlicher Größe." Walsemann unternimmt eine Verteidigung Schleiermachers gegen eine Beanspruchung als feministischer Denker durch die Erste Frauenbewegung.

31

Vgl. Guenther-Gleason, Schleiermacher, 4.

32

Vgl. Faull, Schleiermacher sowie Padilla, Embodiment u. Briggs, Schleiermacher. Guenther-Gleason kommt zu einer deutlich differenzierteren und im Vergleich zu Schillers Position positiveren Einschätzung von Schleiermachers Weiblichkeitskonzeption. Für sie instrumentalisiert Schleiermacher Frauen und Weiblichkeit nicht in der Art, wie sie es bei Schiller vorfindet. Darum biete Schleiermacher nach Guenther-Gleason durchaus Anknüpfungsmöglichkeiten für feministische Theorien des Ästhetischen. (Vgl. Guenther-Gleason, Patriacia E., „Christmas E v e " as a Work of Art. Implications for Interpreting Schleiermacher's Gender Ideology, in: Richardson, Ruth Drucilla/ Lawler, Edwina (Hg.), Understanding Schleiermacher. From Translation to Interpretation. A Festschrift in Honor of Terrence Nelson Tice, Lewiston/Queenston/Lampter 1998, 117-162).

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Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

fließe, die die Weiblichkeit als „Gegengift zu den sich abzeichnenden Folgen der Moderne konzipiert" 33 . Die polare Ergänzungstheorie der Geschlechterdifferenz, die Schleiermacher vertrete, halte an der Struktur des „Anderen" fest, selbst wenn diese von einem egalitären Ergänzungsmodell überwölbt werde. Damit werde seine Modernitätskritik domestiziert und letztlich positiv dienstbar gemacht, um die Defizite der Aufklärung abzufangen, allerdings zugunsten der bürgerlichen Männer, die strukturell einen größeren Teil des Modernitätsgewinns einheimsten. In Patricia Guenther-Gleasons Untersuchung über Schleiermachers Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse, die sich allerdings auf die Zeit von Schleiermachers Freundschaft mit Friedrich Schlegel in Berlin konzentriert, zeigt sich die Ambivalenz von Schleiermachers Denken. Während Schleiermacher einerseits konsequent die Egalität des Weiblichen und der Frauen vertritt, setzt er sich dennoch nicht für den direkten Zugang von Frauen zum Bereich des öffentlichen Lebens ein, sondern betont ihre Zugehörigkeit zum Haus und zur Familie. 34 Diese Ambivalenz von Schleiermachers Vorstellungen und die kontroverse Einschätzung des feministischen Potentials seiner Theologie provozieren m.E. die Frage nach der expliziten oder impliziten Bedeutung der Geschlechterdifferenz für Schleiermachers theologisches Denken. Der zweite Grund für die Untersuchung Schleiermachers ist weniger theologiegeschichtlich als systematisch-theologisch motiviert. Mit dem Terminus Geschlechterdifferenz steht eine Struktur im Zentrum, die als fundamentale soziale Struktur und als kulturelle Deutekategorie fungiert, derer sich Schleiermacher in seiner Theologie und Philosophie bedient. Schleiermacher tut das als Theologe, der seine Theologie von den beiden Polen der Geschichtlichkeit der christlichen Religion und des christlich-frommen Selbstbewusstseins her entfaltet. Beide Pole bieten Anschlussmöglichkeiten für die feministisch-theologische Debatte, die mit dem Begriff der Kontextualität die Bedeutung der konkreten Subjekte der Theologie wie die Bedeutung ihrer sozialen, ökonomischen und historischen Strukturbedingungen thematisiert. Dieses Potential von Schleiermachers Theologie für feministisch-theologisches Arbeiten zu erschließen, ist m.E. eine lohnende Aussicht, wie die „dekonstruktivistische" Lektüre Schleiermachers, die Heleen Zorgdrager in ihrer Arbeit bietet 35 , deutlich macht. Sie liest Schleiermacher auf dem 33 34

Jacobi, Juliane/Schmid, Pia, Weiblichkeit als Gegengift. Frauenbilder aus den Anfängen der Pädagogik, in: ZP.B 29, Weinheim/Basel 1992, 245-247, hier: 246. Vgl. Guenther-Gleason, Schleiermacher, 352f.

35

Vgl. Zorgdrager, Theologie.

Methode und Aufbau der Arbeit

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Hintergrund der dekonstruktivistischen Genderdebatte unter dem Leitgedanken der positiven Wahrnehmung von Differenz und Pluralität. Damit leistet sie einen gewichtigen Beitrag zur Überwindung der kontroversen Urteile über Schleiermachers Feminismus und zeigt auf, in welche Richtung ein kritisch-konstruktiver Umgang mit Schleiermachers Theologie im Horizont einer gendersensiblen Theologie gehen kann. Doch gerade dann stellt die Frage der Geschlechterdifferenz bei Schleiermacher eine spezifische Herausforderung dar: Scheint Schleiermachers Theologie doch einerseits von ihrem Ansatz verheißungsvoll für feministisch-theologische Anschlüsse zu sein, indem sie eine theologische Aufwertung von Weiblichkeit zu bieten scheint und Frauen als Subjekte, insbesondere in ihrem Bildungsverlangen wahrnimmt, andererseits wirkt Schleiermacher abschreckend durch Aussagen über Geschlechterverhältnisse und Weiblichkeitsvorstellungen, die sich als Adaption an die bürgerliche Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts erweisen und bestenfalls theologiegeschichtlichen Wert haben. Diese Ambivalenz hinsichtlich der Geschlechterthematik legt zwei Umgangsweisen mit Schleiermachers Theologie nahe, die beide nicht befriedigen. Entweder wird die Thematik der Geschlechterdifferenz und ihre theologische Bedeutung ignoriert - so in der Regel in der bisherigen theologischen Schleiermacher-Forschung - oder Schleiermacher wird aus feministischer Sicht als Theologe nicht wahrgenommen. Beide Optionen bleiben defizitär. Die erste, sofern sie ein zentrales Thema zum Verstehen des Schleiermacherschen Denkens auf dem zeitgenössischen Hintergrund wie im Blick auf die Folgewirkungen ignoriert, die letztere, sofern die konstruktiven Möglichkeiten und Anknüpfungspunkte, die einer der bedeutendsten Theologen des frühen 19. Jahrhunderts für gegenwärtige Problemstellungen bietet, verschenkt werden.

4. Methode und Aufbau der Arbeit Auf dem Hintergrund der feministisch-theologischen Debatte, ob die Kategorie Geschlecht (naturalistisch oder konstruktivistisch verstanden) für das glaubende Subjekt von Bedeutung sei oder nicht, geht meine Untersuchung der theologischen Bedeutung der Geschlechterdifferenz bei Schleiermacher der Frage nach, in welcher Weise Schleiermacher die Geschlechterdifferenz nicht nur als anthropologischen

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Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

Sachverhalt explizit wie implizit in die Theologie einbringt 36 , sondern auch als Deutekategorie verwendet und ihr damit ausdrücklich eine theologische Bedeutung einräumt. Damit verwende ich den Begriff der Geschlechterdifferenz einerseits als elementaren anthropologischen Differenzbegriff, der sich an bestimmten Themen in Schleiermachers Denken identifizieren lässt. Andererseits verstehe ich die Geschlechterdifferenz als kulturelles Deutungsmuster, als Code innerhalb einer Ordnung symbolischer Repräsentation, an dem theologische Aussagen aufgrund impliziter Einschreibungen partizipieren. In dieser Verwendung untersuche ich zentrale Begriffe von Schleiermachers Theologie auf mögliche latente Genderkodierungen. Damit ist eine zweifache Fragerichtung angedeutet. Erstens: Wo findet sich bei Schleiermacher die Geschlechterthematik, welches sind seine Vorstellungen von Geschlechterdifferenz und in welcher Weise schlagen sich diese in seinem Denken, insbesondere in seiner Theologie nieder? Wie sind aus gegenwärtiger feministisch-theologischer Sicht seine theologischen Aussagen zu beurteilen? Zweitens: Wie schreibt sich die Geschlechterdifferenz nicht nur unmittelbar, sondern auch implizit in sein Denken ein? Verbindet Schleiermacher die Idee der Geschlechterdifferenz explizit mit seinem Verständnis von Religion, Frömmigkeit und Theologie? Findet sich bei ihm ein Ansatz für eine systematisch-theologische Reflexion über die Bedeutung des Geschlechts für das religiöse Subjekt? Diese doppelte Fragerichtung entspringt der spezifischen Herausforderung, vor die Schleiermachers Theologie stellt, wenn es um das Thema Geschlechterdifferenz geht. Die Frage nach der Bedeutung der Geschlechterdifferenz bei Schleiermacher zwingt zu einem cross-over in verschiedener Hinsicht. Die Fragestellung ist motiviert durch die Auseinandersetzung mit feministischen Theorien zu Geschlecht und Geschlechterdifferenz und deren möglicher theologischer Relevanz. Als Fragestellung an das Verständnis von Schleiermachers Theologie begibt sich die Untersuchung in den Zusammenhang der theologischen und philosophischen Schleiermacher-Forschung. Sie will die Genese von Schleiermachers Denken der Geschlechterdifferenz in seinen Schriften und im Zusammenhang seiner sozial- und geistesgeschichtlichen Bezüge erfassen, ihre Gestalt und Funktion für Schleiermachers Denken analysieren und damit einen 36

Diese Problematik wurde in der feministischen Theologie von Anfang an benannt und in ihrem androzentrischen Charakter wie ihrer sexistischen Wirkung aufgedeckt. Beispielhaft dafür sind die Arbeit von Ina Praetorius zu ethischen Entwürfen (Praetorius, Anthropologie) oder auch die Studien über Karl Barth von Christine Janowski und Marga Baas/Heleen Zorgdrager (vgl. Janowski, Bedeutung; Baas, Marga/Zorgdrager, Heleen, Freiheit aus zweiter Hand. Feministische Anfragen an die Stellung der Frau in Karl Barths Theologie, ZDT 3 (1987), 135-151).

Methode und Aufbau der Arbeit

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Beitrag zur Erhellung von Struktur und Geltung dieses Denkens leisten. Darin wiederholt sich das methodische Problem von Schleiermachers Vorgehen: das Ineinander von systematischer Rekonstruktion und historisch-materialer Darstellung und Deutung. Dieses Problem stellt sich aufgrund des Schleiermacherschen Materials, das selbst auf diesen beiden kategorial zu unterscheidenden, aber nicht zu trennenden Ebenen arbeitet. Es stellt sich indes auch auf der Ebene der Fragestellung selbst, sofern die Kategorie Geschlecht und der Begriff der Geschlechterdifferenz Untersuchungsgegenstände in den Schleiermacherschen Texten sind und zugleich auf dem Hintergrund der feministischen Theoriedebatte und der systematisch-theologischen Verortung der Kategorie Geschlecht und der Frage der Geschlechterdifferenz theoretisch aufgeladene Analysebegriffe darstellen. Die entscheidende analytische Prämisse besteht darin, dass ich den Begriff der Geschlechterdifferenz einerseits als elementaren anthropologischen Differenzbegriff verwende und andererseits als kulturelles Deutungsmuster, als Code innerhalb einer Ordnung symbolischer Repräsentation, an dem theologische Aussagen partizipieren. Methodisch ergeben sich daraus folgende Überlegungen: Dem systematisch-theologischen Erkenntnisinteresse gemäß liegen der Arbeit die zentralen theologischen Texte Schleiermachers zugrunde sowie diejenigen, die inhaltlich einen Bezug zum Thema besitzen. 37 Aus der doppelten Fragehinsicht bzw. der Unterscheidung von Geschlechterdifferenz als elementarem anthropologischem Differenzbegriff und als kulturellem Code ergibt sich eine Zweiteilung der Untersuchung: erstens in diejenigen Textbereiche, in denen die Geschlechterdifferenz als anthropologische Differenz identifizierbar ist bzw. eine Bedeutung hat. Dafür bieten sich die Themenbereiche an, in denen die Mann-FrauBeziehung ausdrücklich thematisiert wird, also die Themen Freundschaft, Liebe und Ehe sowie explizit anthropologische Texte. Dieser Themenbereich findet sich bei Schleiermacher zum einen in seiner philosophischen und theologischen Ethik und in den Vorlesungen über Psychologie und Pädagogik. Daneben berücksichtige ich die Frühschriften zur Freundschaftsthematik sowie die Texte aus der Berliner Zeit, die Liebe und Ehe thematisieren und die Ehepredigten Schleiermachers. Für die Suche nach impliziten Einschreibungen der Geschlechterdifferenz habe ich mich auf die beiden zentralen systematischtheologischen Schriften Schleiermachers konzentriert, auf die Reden

37

Nicht umfassend einbezogen wurden die exegetischen Schriften Schleiermachers sowie seine Predigten in ihrer Gesamtheit.

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Geschlechterdifferenz als Thema systematischer Theologie

über die Religion und die Glaubenslehre,3S Für beide Fragehinsichten ist damit zwar keine absolute Vollständigkeit hinsichtlich der vorhandenen Texte erreicht, aber eine Breite, die sich zeitlich von den frühen bis zu den späten Schriften Schleiermachers erstreckt und die inhaltlichthematisch seine philosophische und seine theologische Arbeit sowie die Ausweitung in die „technischen Disziplinen" umfasst und sich insofern im gesamten Schleiermacherschen System der Wissenschaften bewegt. Zudem umfasst die Auswahl gattungsmäßig sehr unterschiedliche, sowohl literarische als auch wissenschaftliche Texte. Das Ziel ist eine Gesamtanalyse von Schleiermachers Denken der Geschlechterdifferenz auf dem Hintergrund des zeitgenössischen ideengeschichtlichen Kontextes der Debatte um die Geschlechterdifferenz, um Vereinnahmungen und vorschnelle Interpretationen zu vermeiden. Die Debatte um die Geschlechterdifferenz stelle ich exemplarisch an den Positionen Jean-Jacques Rousseaus, Johann Gottlieb Fichtes, Immanuel Kants und Wilhelm von Humboldts dar. Für die Interpretation der Schleiermacher-Texte wird der zeitgenössische und biographische Kontext jeweils einbezogen, insbesondere die Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte. 39 Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: In Kapitel II umreiße ich das Problem und die Fragestellung anhand einer Interpretation der Weihnachtsfeier von 1806, die als literarischer Text über die theologische Frage nach der Bedeutung des Weihnachtsfestes auf der inhaltlichen wie auf der sprachlichen Ebene die Themen Religion und Geschlechterdifferenz miteinander verschränkt und in mehrfacher Hinsicht als Schlüsseltext zu lesen ist. Darauf folgt in den Kapiteln III und IV eine chronologisch orientierte Untersuchung im Blick auf die Frage nach der Geschlechterdifferenz als anthropologischer Differenz bei Schleiermacher. Kapitel III behandelt die thematisch relevanten Texte Schleiermachers bis 1806, um die Genese seines Denkens der Geschlechterdifferenz im Rahmen seiner denkerischen Entwicklung darzustellen. Das Schwergewicht liegt dabei auf den Themen Liebe und Ehe von den Frühschriften über die Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde bis zum Brouillon zur Ethik von 1805/06 und bezieht die literarischen Texte aus dem Kontext 38

39

Die Hermeneutik und die Dialektik Schleiermachers hat Heleen Zorgdrager untersucht und ist zu aufschlussreichen Ergebnissen gekommen, die die Ergebnisse dieser Studie u.a. im Blick auf die Sprache bereichern können, (vgl. Zorgdrager, Theologie, 123-163). Die Breite des Materials erlaubt keine intensive Analyse der Einzeltexte mit literaturwissenschaftlichen Methoden und berücksichtigt auch hinsichtlich der historischen Forschung zur Frauen- und Geschlechtergeschichte notgedrungen nur eine Auswahl.

Methode und Aufbau der Arbeit

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des Schlegel-Kreises wie die wissenschaftlich-akademischen Texte mit ein, in denen Schleiermacher seine eigene Ethik konzipiert. Kapitel IV untersucht auf der Grundlage der bisherigen Ergebnisse die philosophische Ethik, Psychologie und Pädagogik sowie die theologische Sittenlehre und die Ehepredigten zum Themenbereich Liebe, Ehe und Geschlechterdifferenz. In diesen Texten, die mit Ausnahme der Ehepredigten wissenschaftliche Texte aus dem oder für den akademischen Lehrbetrieb darstellen, entfaltet und vertieft Schleiermacher seine Konzeption der Geschlechterdifferenz und wendet sie auf seine theologische Ethik an. Das Ergebnis zeigt sich in seiner wirkungsträchtigen Ehetheologie, wie sie in den Ehepredigten von 1818 zu greifen ist. Kapitel V unternimmt den Perspektivenwechsel, der sich mit der Verschränkung der Themen Religion und Geschlecht bereits in der Weihnachtsfeier zeigt, und fragt unter der methodischen Vermutung, dass Schleiermacher die Geschlechterdifferenz auch als kulturellen Code in seiner Theologie verwendet, nach der impliziten Genderkodierung theologischer Aussagen und deren Bedeutung. Textgrundlage hierfür sind die Reden über die Religion und die Glaubenslehre. Im Zentrum steht die Untersuchung der für Schleiermachers Theologie zentralen Begriffe Gefühl und Frömmigkeit. Das Schlusskapitel VI resümiert die Ergebnisse im Blick darauf, inwiefern bei Schleiermacher programmatisch von einer „Feminisierung der christlichen Religion" gesprochen werden kann und was dies in Hinsicht auf die Frage nach einer Theologie unter der Signatur der Geschlechterdifferenz austrägt.

II Die Weihnachtsfeier 1. Die Weihnachtsfeier als Schlüssel Für die Frage nach der Bedeutung der Geschlechterdifferenz in der Theologie Schleiermachers bietet sich als Einstieg und Angelpunkt die Auseinandersetzung mit seiner kleinen Schrift von 1806 Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch aus zwei Gründen an. Erstens steht dieser Text zeitlich zwischen Schleiermachers Jugend und der frühromantischen Zeit einerseits und der Zeit als angesehener Prediger und führender Theologe der Berliner Universität andererseits. Er bildet eine Art biographische Brücke zwischen der Entwicklung seines Denkens einschließlich der experimentellen Phase, die die Berliner Zeit der Freundschaft mit Friedrich Schlegel und im Umkreise der Zeitschrift Athenaeum darstellt, und der Zeit seines öffentlich anerkannten Schaffens, in der er die neuen Anstöße mit der theologischen und kirchlichen Tradition zu verbinden sucht. Zweitens nimmt die Weihnachtsfeier thematisch eine Schlüsselstellung ein. Sie behandelt in literarischer Form einen Grundgedanken Schleiermacherscher Theologie, den Gedanken der Inkarnation, 1 und sie verbindet dieses theologische Grundthema mit der Erörterung des Verhältnisses von Religion und Geschlecht. Dieser aus einem spontanen Impuls heraus konzipierte und schnell geschriebene Text fungiert als Schlüsseltext zu Schleiermachers Theologie. Für seine Christologie wurde das schon bald gesehen, 2 nicht jedoch für das 1

Vgl. Schleiermachers Aussage über die Glaubenslehre im Sendschreiben an Lücke: „Ich hätte gezvünscht, es so einzurichten, daß den Lesern möglichst auf jedem Punkt hätte deutlich werden müssen, dass der Spruch Joh. 1, 14. der Grundtext der ganzen Dogmatik ist, so wie er dasselbe für die ganze Amtsführung des Geistlichen seyn soll." (An Lücke, K G A 1/10, 343).

2

So zuletzt Matthias Morgenroth (vgl. Morgenroth, Matthias, WeihnachtsChristentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002, 93-107, hier: 93), der sich auf eine Reihe bedeutender Vorgänger berufen kann. Die Weihnachtsfeier ist im Blick auf den theologischen Gehalt schon früh wahrgenommen und seitdem immer wieder diskutiert worden. Dies setzt ein mit Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling und David Friedrich Strauß und setzt sich fort bis in die jüngste Gegenwart hinein mit Dawn de Vries' feministischem Interesse an der Christologie der Weihnachtsfeier und Dietrich Korschs Interpretation im Rahmen seiner Marburger Antrittsvorlesung (vgl. Vries, Christmas Eve u. Korsch, Dietrich, Weihnachten Menschwerdung Gottes und Fest der Familie, Internationales Jahrbuch für Praktische Theologie 2 (1999), 213-228). Zur Interpretationsgeschichte von Schelling bis Karl Barth vgl. Quapp, Erwin, Barth contra Schleiermacher? „Die Weihnachtsfeier"

Die Weihnachtsfeier als Schlüssel

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Thema des Verhältnisses von Religion und Geschlecht und die Frage der theologischen Bedeutung der Geschlechterdifferenz. Auch hier kommt der Weihnachtsfeier eine singuläre Position zu. Während das Thema Freundschaft, Liebe und Ehe für die Frage nach der Geschlechterdifferenz gerade in der Berliner Zeit sehr ergiebig ist, gilt dies weit weniger für die spätere Zeit. Damit kommt - so meine These - der Weihnachtsfeier eine Schlüsselstellung insofern zu, als hier Verbindungslinien zusammenlaufen und Konstellationen deutlich werden, die in anderen Texten nur getrennt oder unterschwellig zu verfolgen sind. Mit der biographischen Brückenstellung verbindet sich die Besonderheit, dass in der Weihnachtsfeier die Themen Religion und Geschlecht in einer Weise zusammentreffen und ausdrücklich in Verbindung miteinander gebracht werden, wie das in keiner anderen Veröffentlichung Schleiermachers der Fall ist. Frauen und Männer sprechen miteinander und in verschiedener Weise über das Weihnachtsfest und seine Bedeutung, thematisieren dabei Geschlechterdifferenz wie Frömmigkeit und Theologie in unterschiedlicher Weise und auf verschiedenen Ebenen des Textes. Deshalb legt es sich nahe, mit der Fragestellung nach der Bedeutung der Geschlechterdifferenz für Schleiermachers theologisches Denken hier einzusteigen und aufgrund der dabei gewonnenen Beobachtungen, Ergebnisse und weiterführenden Fragen die Untersuchung auszudehnen. So soll die Verbindung von Religion und Geschlecht bei Schleiermacher in einem ersten Schritt in der Weihnachtsfeier in ihrer Bedeutung aufgezeigt und in einer ersten Verhältnisbestimmung präzisiert werden. Von da aus erfordert die Fülle und Komplexität des Materials eine getrennte Behandlung der Frage nach Schleiermachers Denken der Geschlechterdifferenz in ihrer Genese und Bedeutung wie in der Frage nach der Verbindung von Geschlechterdifferenz und Religion bzw. Theologie. Wie in einer Ouvertüre klingen in der Weihnachtsfeier die zentralen Themen und Motive an und vereinen sich zu einem Muster, das in Entwicklung und Transformation in das gesamte Denken Schleiermachers hineinspielt und nicht als eine poetische Spezialität und Laune des Autors abgetan werden kann.

als Nagelprobe, mit einem Nachwort zur Interpretationsgeschichte der „Weihnachtsfeier", Marburg 1978, hier: 61-101. Quapp beachtet die Frau-MannKonstellationen und verbindet sie mit den theologischen Aussagen. Die Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz als theologisches Moment in der Weihnachtsfeier hebt ihn von den anderen Autoren ab, obgleich seine Interpretation m.E. nicht allein aus feministischer Sicht, sondern auch im Blick auf Schleiermachers Modell von Geschlechterdifferenz problematisch ist.

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Die Weihnachtsfeier

2. Biographische und zeitgeschichtliche Verortung3 Das im Januar 1806 in Halle erschienene kleine Buch Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch ist ein ganz eigener Text im Werk des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher. 4 In literarischer Form verhandelt der Text die Bedeutung des christlichen Weihnachtsfestes. Seine Entstehung verdankt dieses Büchlein einem spontanen Einfall in den ersten Dezembertagen 1805. Schleiermacher hatte zugunsten eines Konzertes des blinden Flötisten Friedrich Dulon seine Ethik-Vorlesung ausfallen lassen. 5 Der Nachhall dieses Erlebnisses inspiriert Schleiermacher zu einer Weihnachtsgabe für seine Freunde, wie er es schon mit den Monologen6 praktiziert hatte. Obgleich Schleiermacher den Text innerhalb von drei Wochen anfertigt und sofort zum Drucker gibt, kann die Schrift nicht mehr zum Weihnachtsfest 1805, sondern erst im Januar 1806 erscheinen. Die ursprünglich anonym geplante Schrift versieht Schleiermacher aufgrund des Drängens des Herausgebers mit seinem Namen. Wie schon in den Monologen geht es Schleiermacher um die Darstellung eines zentralen theologischen bzw. philosophischen Gegenstandes in einer nicht akademisch-diskursiven, sondern poetischen Form im Sinne der Vorstellungen aus dem Kreis der Berliner Frühromantiker. Als Professor an der Hallenser Universität hat Schleiermacher das bohemehafte Berliner Leben mit Friedrich Schlegel und in den jüdischen Salons, das seine kirchlichen Vorgesetzten mit Misstrauen betrachteten, hinter sich gelassen. Zwischen Berlin und Halle liegen einsame Jahre als Pfarrer in Stolp. Auch die enge Freundschaft mit Eleonore Grunow, der Frau eines Kollegen, die Schleiermacher zu dem Weggang aus Berlin mitbewogen hat, bricht ab. Völlig überraschend für Schleiermacher, der sich nach der Trennung Eleonores von ihrem Mann und dem eingeleiteten Trennungsverfahren auf die Heirat vorbereitet, kehrt Eleonore Grunow im letzten Moment unmittelbar vor der gerichtlichen Scheidung am 9. Oktober 1805 zu ihrem Mann und in ihre Ehe zurück. Diese

3

Mit dieser Einordnung ziele ich nicht auf eine psychologisierende Interpretation im Gefolge Wilhelm Diltheys, die Gefahr läuft, die eigene Textinterpretation mit den Ansichten des Autors zu identifizieren - ein Vorwurf, den Quapp vor allem gegen Emanuel Hirsch erhebt (vgl. Quapp, Barth, 87). Vielmehr meine ich, dass der biographische Kontext bestimmte Bezüge aufzeigt oder erhellt, die das Textverständnis vertiefen, jedoch nicht die Rekonstruktion des Lebensgefühls des Autors erlauben.

4

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 39-100. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Patsch, Hermann, Historische Einführung, KGA 1/5, VII-CXXVIII, hier: XLH-LXVIIL Vgl. die Notiz in: Brouillon hg. v. Birkner, 51, vgl. auch Richardson, Role, 133. Vgl. Monologen, K G A 1/3, 1-61.

5 6

Biographische und zeitgeschichtliche Verortung

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Entscheidung stürzt Schleiermacher in eine tiefe Krise. 7 Biographisch steht er an einem Wendepunkt seiner Hoffnungen und Pläne. 8 Obgleich sich Schleiermacher also offensichtlich in einem neuen Lebensabschnitt befindet, knüpft die Weihnachtsfeier literarisch als Rahmenerzählung mit eingestreuten Dialogen, Erzählungen und Reden eher an die frühromantische Textproduktion Schleiermachers an als an seine übrigen Arbeiten aus der Hallenser Zeit. 9 Dies wird auf der Ebene der literarischen Personen fortgeführt, indem Charaktere aus den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde wieder auftauchen: 10 Ernestine ist nach Schleiermachers eigener Äußerung identisch mit der Ernestine der Vertrauten Briefe,11 und ebenso lässt sich dann vermuten, dass die übrigen Personen mit denen der Vertrauten Briefe identisch sind: Karoline ist die junge, noch unverheiratete Frau („Mädchen"), und Ernestines Mann der Eduard aus den Vertrauten Briefen. Es fehlen Friedrich und Eleonore 12 , dafür hat sich der Kreis um neue Personen erweitert: Ernestines Tochter Sophie, Agnes mit ihren beiden Söhnen, die Verlobten Ernst und Friederike, der Jurist Leonhardt und ganz am Ende der geheimnisvolle Josef. Ruth Richardson versteht die Weihnachtsfeier aufgrund der Überschneidungen mit den Vertrauten Briefen biographisch als langen Brief Schleiermachers an Eleonore Grunow. Er wolle ihr darin dokumentieren, dass er ihre Zurückweisung verarbeitet

7

Vgl. dazu Richardson, Role, 135-138.

8

Diese Situation stellt für Richardson einen wichtigen Umstand für die Entstehung der Weihnachtsfeier dar. Auch Barth erwähnt diese Vorgeschichte zusammen mit dem Projekt der Plato-Übersetzung (vgl. Barth, Karl, Schleiermachers Weihnachtsfeier (1924), in: Ders., Gesamtausgabe III. Vorträge u. kleinere Arbeiten 1922-1925, Zürich 1990, 4 5 8 ^ 8 9 , hier: 466). Ebenso nimmt Hirsch einen Einfluss von Eleonore Grunow an. Er bewertet ihn noch wesentlich stärker als Richardson und sieht darin die entscheidende Ursache für Schleiermachers Entwicklung zum christlichen Denker und Prediger (vgl. Hirsch, Emanuel, Schleiermachers Weihnachtsfeier, in: Ders., Schleiermachers Christusglaube. Drei Studien, Gütersloh 1968, 7 - 5 2 hier: 10). Mit Richardson und im Einklang mit den Forschungen zu Schleiermachers Jugendschriften ist festzuhalten, dass die theologische Entwicklung Schleiermachers schon früher einsetzte. Dennoch ist die Weihnachtsfeier als ein wichtiges Dokument von Schleiermachers Entwicklung zu verstehen (vgl. auch Richardsons Aufweis, dass die veränderte Haltung Schleiermachers zur Ehescheidung schon in diese Zeit zu datieren ist: Richardson, Role, 139-142). Die übrigen Arbeiten aus diesem Zeitraum, die in KGA 1/5 versammelt sind, tragen einen diskursiven Charakter.

9 10 11

Vgl. dazu Kap. ΠΙ 3.1.2.5. Schleiermachers diesbezügliche Bemerkung aus einem Brief an seine Braut Henriette von Willich vom 21. Februar 1809 ist ein gewichtiger Hinweis für die Kontinuität zwischen der Weihnachtsfeier und den Vertrauten Briefen (vgl. Braut-Briefe, 346 u. Richardson, Role, 134f., Anmerkung 4).

12

Mit denen offensichtlich Schleiermacher und Eleonore Grunow gemeint sind.

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Die Weihnachtsfeier

und seinem Leben eine neue Orientierung gegeben habe. 13 Für diese Interpretation spricht die literarische, personale und thematische Anknüpfung an die Vertrauten Briefe bei offensichtlichem Fehlen der Figur Eleonores. 14 Die Szenerie selbst, die gemeinsame Feier des Weihnachtsabends von befreundeten Paaren und Einzelpersonen im gastfreundlichen Haus einer Familie, stellt ein Bild häuslicher, bürgerlicher Geselligkeit dar. Sie verbindet so die Erinnerung an die freundschaftliche Geselligkeit der Salons aus der frühromantischen Berliner Zeit mit der Familienatmosphäre des bürgerlichen Hauses 15 , die Schleiermacher auch für sich persönlich erhofft und wünscht, 16 und die er als Gast des Kapellmeisters, Komponisten und Musikjournalisten Johann Friedrich Reichardt erlebt. Zahlreiche große und kleine Anspielungen machen die Erstausgabe der Weihnachtsfeier zu einem zeitbezogenen Werk. 17 Die Aufnahme bei den Zeitgenossen war geteilt: 18 Während die öffentlichen Rezensionen positiv und freundlich ausfielen, äußerten sich die Frühromantiker, an deren Urteil Schleiermacher gerade gelegen war, im persönlichen Kreis zurückhaltend bis spöttisch-ablehnend. Friedrich Schlegel kritisierte gegenüber Schleiermacher, der von ihm eine Beurteilung wünschte, die Vielzahl der Personen und einen künstlichen Stil. In internen Äußerungen dagegen missfiel ihm v.a. der Inhalt. 19 Auch Rahel Varnhagen bemerkte kritisch, dass Schleiermacher 13

„Christmas Eve is almost like a long letter from Schleiermacher to Eleonore. It allows Schleiermacher to tell Eleonore that he has gotten control of his life." (Richardson, Role, 138).

14

Richardson unterstützt dieses Argument damit, dass sie nicht nur - wie eine beachtliche Zahl der Schleiermacher-Interpreten - die Reden der Männer alle als Stimmen Schleiermachers selbst interpretiert, sondern auch den Jungen Anton als Repräsentant seiner Kindheit sowie Josef als Repräsentant des Autors bzw. von Schleiermachers gegenwärtiger Selbsteinordnung deutet. Diese biographischen Stadien (religiöser) Entwicklung seien als fortschreitend zu sehen, in dem vergangene Ansichten in den neuen nicht zurückgelassen, sondern aufgehoben werden (vgl. Richardson, Role, 155f., Anmerkung 42). Ähnlich will auch Barth in Josef ein Selbstporträt des Autors erkennen und betont, dass keiner der Männer „Un-Schleiermacherisches" sage. Er interpretiert die Unterschiede jedoch weniger biographisch als theologisch (und in der Intention Schleiermachers der 2. Auflage von 1826), wenn er auf die Pluralität der Gemeinde hinweist (Barth, Weihnachtsfeier, 468f.). Zur Identifizierung mit dem Reichardtschen Haus vgl. Patsch, Einführung, K G A 1/5, LI. Für heutige Leserinnen changiert der Text zwischen Idealisierung und Sentimentalität und strahlt eine eigene, ambivalente Atmosphäre aus.

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16

17 18 19

Das zeigt sich schon in Schleiermachers langjährigem Wunsch nach einer Ehe mit Eleonore Grunow wie auch in den Briefen an seine Braut Henriette von Willich (vgl. auch Richardson, Role, 69). Ausführlich dazu Patsch, Einführung, K G A 1/5, L - L V . Vgl. Patsch, Einführung, KGA 1/5, LV-LXIV. „Der Herr Schleiermacher giebt in allerlei Darstellungen einen kleinen Messias nach dem andern von sich. Aber man sieht dem vernünftigen Piippchen das Professorkind gar zu sehr

Zur literarischen Gestalt

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mit der Weihnachtsfeier die Grenzen seines Talentes literarisch wie in der Intention überschätze. 20

3. Zur literarischen Gestalt 3.1. Inhalt, Form, Aufbau und Akteure Worum geht es in diesem Werk Schleiermachers, das von seinen Freunden eher kritisch rezipiert wurde, aber dennoch zum meistgedruckten Text Schleiermachers avancierte, und das seit David Friedrich Strauß in seinem theologischen Gehalt wahrgenommen wurde? 21 Ein Freundeskreis - das Ehepaar Ernestine und Eduard mit der Tochter Sophie, die junge Frau Karoline, Agnes, Mutter zweier Söhne und mit dem dritten Kind schwanger, Agnes' Sohn Anton und sein jüngerer Bruder, der namenlos bleibt, der junge Jurist Leonhardt, die Verlobten Friederike und Ernst - feiern zusammen den Heiligen Abend, beginnend mit der gemeinsamen Bescherung, die die Gastgeberin und Hausfrau Ernestine arrangiert hat. Daran schließen sich Wechselgespräche an, die aus der Situation des weihnachtlichen Feierns und der Betrachtung der Geschenke erwachsen. Aus dem Gespräch entspinnen sich die Erzählungen dreier Frauen, während die vierte, Friederike, die Erzählungen musikalisch auf dem Klavier begleitet und kommentiert. Nach einer Unterbrechung, während der man auf Josef, den letzten Gast, wartet, bestreiten die drei anwesenden Männer die Runde mit Reden, in denen jeweils der Sinn des Weihnachtsfestes Thema ist. Dazwischen wird gemeinsam musiziert und gesungen, und so endet auch die Erzählung wieder im gemeinsamen Gesang, nachdem der letzte erwartete Gast, Josef, eingetroffen ist. Die literarische Form dieses Textes ist für Schleiermacher selbst bedeutsam und er erwartet darauf eine Rückmeldung seiner frühromantischen Freunde. Damit ordnet er selbst die Weihnachtsfeier in den Zu-

20

21

an der Nase an." (Brief an Ludwig Tieck vom 26. August 1807, zitiert nach Patsch, Einführung, KG A1/5, LVII). „In diesem Büchelchen wollte er etwas leisten, ums nicht ursprünglich seines war; und noch dazu in einer Form, die ihm durch seine Talente nicht zu Gebote stand [...]."(zitiert nach Patsch, Einführung, KGA1/5, LIX). 1826 unternahm Schleiermacher selbst eine zweite Auflage, die er stilistisch und an einigen Stellen - vor allem in den Reden von Leonhardt und Ernst - inhaltlich überarbeitete. Schon 1837 wurde eine dritte Auflage nötig. Patsch vermutet eine Gesamtauflage von über 50 000 Exemplaren. Zur zweiten Auflage sowie zur Druckgeschichte s. Patsch, Einführung, KGA 1/5, LXIV-LXVIII. Zur Interpretationsgeschichte vgl. Quapp, Barth, 61-101.

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Die Weihnachtsfeier

sammenhang der gemeinsamen literarischen Bestrebungen aus der vergangenen Zeit um die Zeitschrift Athenaeum ein. 22 Schleiermachers Selbstzeugnisse wie die Textanalyse weisen auf die Zugehörigkeit des Werkes in die schriftstellerische Arbeit im Umfeld des Schlegelkreises. Im Sinne von Friedrich Schlegels „progressiver Universalpoesie" verbinden sich mehrere Untergattungen der Prosa (Rede, Erzählung, dramatischer Dialog) zu einem Ganzen. Hermann Patsch, bezeichnet die Weihnachtsfeier literarisch und gattungsmäßig als ein „Formexperiment"Ρ Gattungsmäßig handelt es sich um eine Rahmenerzählung mit Dialogen und einem anschließendem zweifachen Zyklus von je drei Erzählungen und je drei philosophisch-theologischen Reden. 24 Patsch schlägt für die Verknüpfung von Rahmennovelle mit Dialog- und Redeelementen den Begriff „Dialognovelle" vor 25 und kommt zu der Einordnung: „Insoweit ist die »Weihnachtsfeier« ein Werk der Frühromantik - nach dem Zerfall der frühromantischen Schule!" 26

Wie schon angesprochen, entsteht der Text innerhalb kürzester Zeit und parallel zu Schleiermachers Vorlesungstätigkeit im Dezember 1805. Die eilige Arbeitsweise verhindert eine nochmalige sorgfältige Durchsicht und Überarbeitung des gesamten Textes, was Schleiermacher unbefriedigend findet. 27 Dennoch ist er mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden und erwartet das Urteil seiner Freunde. In einem Brief an Johann Christian Gaß kritisiert er lediglich, dass der erste Teil loser gearbeitet sei als der zweite. 28 Aus diesem Hinweis ist ersichtlich, dass Schleiermacher selbst von einer Zweiteilung ausgeht: Er sieht die Zäsur wohl nach den Erzählungen der Frauen vor den Reden der Männer, in denen ein knapper Ab22

Vgl. Patsch, Einführung, K G A 1/5, XLVIII. Die von Schleiermacher selbst verwendete Gattungsbezeichnung lässt sich aus Friedrich Schlegels Antwortbrief vom 25. Juli 1806 nicht entziffern und wird von Dilthey als „mimisch" gelesen, eine Deutung, die Patsch als sachlich richtig akzeptiert (vgl. KGA 1/5, XLIX, Anmerkung 183).

23

Patsch, Einführung, KGA 1/5, XLVffl.

24

Vgl. Patsch, Einführung, KGA 1/5, XLIX. Patsch stellt mehrere Quellen für diese Gesamtgestalt fest: für die Gattung der Rahmennovelle Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter (1795), für die ins Gespräch eingestreuten Vorträge Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800) aus dem Athenaeum, für die Nachahmung des platonischen Dialoges Schellings Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge. Ein Gespräch (1802).

25

Patsch, Einführung, KGA 1/5, L.

26 27

Patsch, Einführung, KGA 1/5, XLIX. Vgl. Patsch, Einführung, KGA 1/5, XLVI, mit einem Zitat aus einem Brief an seinen Freund und Verleger Reimer, aber auch schon die Entstehung der Reden 1799, die abschnittweise zum Drucker gegeben wurden. Vgl. Patsch, Einführung, K G A 1/5, XLVII, der aus einen Brief Schleiermachers an Johann Christian Gaß vom 6. Februar 1806 zitiert.

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Zur literarischen Gestalt

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schnitt eine deutliche Unterbrechung der fiktiven Situation einleitet. An dieser Stelle kommen ungenannte Gäste an, die sich nach einem schnellen Essen wieder verabschieden. 29 Diese Zweiteilung entspricht nach dem Umfang des gesamten Textes ziemlich exakt der Mitte. Damit zerfiele das Ganze sehr deutlich in einen narrativen, dialogischen und einen diskursiven, monologischen Teil. M.E. können unter stärkerer Beachtung der verschiedenen Gattungselemente sowie der Rolle Sophies30 fünf Abschnitte unterschieden werden. 31 Damit kommt der Text stärker als Gesamtheit in den Blick, und die erste Hälfte wird nicht in die Rolle gedrängt, eine narrative Startrampe für die philosophischtheologischen Erörterungen der zweiten Hälfte zu werden. Die Dialoge des Freundeskreises wie die Erzählungen der Frauen erhalten ein stärkeres Eigengewicht, obgleich das Ungleichgewicht des Umfanges der einzelnen Teile ein Achtergewicht auf den Reden der Männer vermuten lässt. Die fünf Abschnitte der Dialognovelle lassen sich folgendermaßen abgrenzen: 1) Die Eröffnung mit der Schilderung des Raumes, der Bescherung und den ersten Gesprächen bis zur Betrachtung von Sophies Historienbild, abgeschlossen durch ein gemeinsames Musizieren und Singen von Sophie, Eduard, Friederike und Karoline.32 2) Der große Dialogteil, eingeleitet durch die Gespräche über die Geschenke und über Sophies religiöse Begeisterung, in dem das Verhältnis von Religion und Musik sowie - angestoßen durch Sophies Beispiel - die Entwicklung von Frömmigkeit erörtert werden, und der mit der Uberleitung zu den Erzählungen der drei Frauen abschließt.33 3) Der Novellenteil mit den Erzählungen von Ernestine, Agnes und Karoline, die nur durch kurze Dialoge voneinander getrennt werden. 34

29 30 31

32 33 34

Vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 82. S. dazu unten 6.1. Barth und Richardson gehen von einer Dreiteilung aus, wobei sie als ersten Teil den gesamten Anfang einschließlich der Wechselgespräche, als zweiten Teil die Erzählungen der Frauen und als dritten Teil die Reden der Männer unterscheiden. M.E. ist diese Dreiteilung im Prinzip zutreffend. Meine Einteilung unterscheidet sich davon lediglich durch die Abtrennung einer Eröffnung von der Partie der Wechselgespräche und eines kurzen Schlusses nach Eduards Rede. Vgl. Barth, Weihnachtsfeier, 469f., sowie die Einteilung in drei Akte bei Richardson, Role. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 43-50. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 50-72. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 72-82.

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Die Weihnachtsfeier

4)

Der Redenteil, der mit Leonhardts Rede beginnt, dem, getrennt wiederum nur durch knappe Wechselgespräche, die Reden von Ernst und Eduard folgen. 35 5) Der kurze Schluss mit der Ankunft Josefs und dessen Schilderung seiner kindlichen Festfreude, die mit der Aufforderung zum gemeinsamen Singen endet. 36 Die einzelnen Abschnitte sind thematisch verbunden über die Rolle der Musik in dem gesamten Text (auf der Handlungsebene, auf der Inhaltsebene und über die verwendete Metaphorik) sowie über die geschickte Verknüpfung der Thematik von Religion und Frömmigkeit mit derjenigen der Komplementarität der Geschlechter. Alle drei Bereiche, Musik, Geschlechterthematik und Religion, treffen sich im thematischen Zentrum, dem Weihnachtsfest, und tragen damit bei zur Reflexion und inhaltlichen Bestimmung dessen, was auf der Handlungsebene gefeiert wird. Die literarische Form, die die diskursiven Elemente in narrativ-poetische einbettet, ermöglicht eine Komplexität des Textes, die mit einer rein diskursiven Erörterung und ihrer darin bedingten Linearität nicht zu erreichen ist. Der Ablauf der Weihnachtsfeier spiegelt das Ideal eines bürgerlichen Familienweihnachtsfestes wider, einschließlich des gemeinsamen Essens, das jedoch nur beiläufig erwähnt wird. 37 Doch gehören die beteiligten Personen keiner (Groß-)Familie an, sondern bilden einen geselligen Freundeskreis, aus sieben bzw. am Ende acht Erwachsenen und drei Kindern (Sophie, die Tochter von Ernestine und Eduard, sowie Anton und sein jüngerer Bruder, die Söhne von Agnes). Die Geselligkeit des Freundeskreises bewegt sich zwischen der Religions- und Standesgrenzen überschreitenden Geselligkeit der jüdischen Salons einer Henriette Herz und Rahel Levin einerseits, und der Selbstverständlichkeit einer bürgerlichen Familie andererseits. Die einzelnen Personen wie ihre Beziehungen untereinander werden durch die Dialoge und durch sparsame Hinweise des Erzählers charakterisiert. So scheinen die Erwachsenen dem jungen bis mittleren Alter anzugehören; sie sind verheiratet (Ernestine und Eduard, Agnes, deren Mann unbekannt bleibt) oder verlobt (Friederike und Ernst) bzw. noch sehr jung (Karoline) und ungebunden (Leonhardt). 38 Niemand erscheint als

35

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 83-97.

36 37

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 97f. Vgl. die Schilderung des Weihnachtsabends in Thomas Manns Roman „Die Buddenbrocks" u. dazu Korsch, Weihnachten, 213.

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Der Familienstand Josefs bleibt völlig im Dunkeln, aber er wirkt alleinstehend. Ihn aus Symmetriegründen zum Mann von Agnes zu machen, hat im Text keinerlei Anhalt, wenngleich damit die Frage nach dem Verbleiben desselben gelöst wäre.

Zur literarischen Gestalt

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Repräsentant der Großelterngeneration, die konfessionelle Zugehörigkeit zum Christentum und Nähe zum Protestantismus ist auch bei den kirchlich Distanzierten vorauszusetzen. Die sieben Erwachsenen agieren einigermaßen ausgewogen, obgleich Friederike diejenige ist, die sich am wenigsten am gemeinsamen Gespräch beteiligt, keine Geschichte erzählt und sich stattdessen aufs Musizieren verlegt. Indem sie die Musik zu ihrem Ausdruckselement wählt, kommt sie in eine gewisse Nähe zu Josef, der keinen Anteil an den Wechselgesprächen hat und sich den Reden der Männer explizit verweigert. Sein Auftauchen in letzter Minute wie seine Schilderung des Weihnachtsabends, die in der Aussage gipfelt, dass dem sprachlosen Gegenstand des Weihnachtsfestes eine sprachlose, sich kindlich äußernde Freude entspricht, gibt ihm eine ganz eigene Rolle.

3.2. Die Korrelation von Reden und Erzählungen In der Interpretation der Weihnachtsfeier hat die Frage der Charakterisierung der Personen und ihrer Zuordnung stets eine Rolle gespielt 39 , werden doch hier im Zusammenspiel der Interpretation der diskursiven wie der dramatischen und novellistischen Elemente wichtige Weichen gestellt. Sofern nicht in der Interpretation das Schwergewicht völlig auf den Reden der drei Männer, und damit auf der theologischen Frage nach Schleiermachers Deutung des Weihnachtsfestes bzw. seiner impliziten Christologie liegt, steht die Bedeutung und Zuordnung der Erzählungen der drei Frauen mit zur Debatte. Die Korrelation von Erzählungen und Reden ist schon aufgrund der Symmetrie offensichtlich und weist auf eine implizite Verbindung von Form bzw. Inhalt mit dem Geschlecht der Sprechenden. Erzählen die Frauen auf intuitiv-ganzheitliche Weise von dem, worüber die Männer dialektisch streiten? Geht es also um unterschiedliche Darstellungen der gleichen Sache? Was hätte dann aber die Doppelung von

39

Allerdings wurden die Erzählungen und damit die Rolle der Frauen keineswegs immer für die theologische Interpretation mit berücksichtigt. Eine frühe negative Äußerung dazu findet sich bei Schelling, der kritisiert, dass für Schleiermacher das „'allgemein Menschliche' ... 'ins Weibliche übergegangen ist'" (zit. nach Quapp, Barth, 63). Eine konstruktive Interpretation unternimmt Quapp selbst, der die Querverbindungen zwischen der Geschlechteranthropologie Schleiermachers und der theologischen Deutung des Weihnachtsfestes betont und eine jeweils geschlechtsspezifische Deutung für Frauen und für Männer herausarbeitet (vgl. z.B. Quapp, Barth, 45). Zu seiner Interpretation im Einzelnen s.u. Im Zusammenhang einer feministischen Debatte um Schleiermacher stehen die Interpretationen von de Vries, Christmas Eve, 169-183, und Richardson, Role, 133-164.

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Die Weihnachtsfeier

Rede und Erzählung für einen Zweck und Sinn? Oder geht es um unterschiedliche Stufen der Erfassung des Gegenstandes - erfassen die Frauen den Sinn des Weihnachtsfestes besser als die Männer, oder verhält es sich umgekehrt? Stellen also die frommen Erzählungen in religiöser Sprache dar, was in seiner eigentlich theologischen Bedeutung jedoch erst in den christologischen Reden ansichtig wird? 40 Oder hat, eine dritte Möglichkeit, die Zweiheit von Rede und Erzählung einen ähnlichen Sinn wie die Zweiheit der Geschlechter: Eröffnet also erst die Einheit von narrativem und reflexivem Reden den Gegenstand in angemessener Weise? Dafür spräche die unterschiedliche inhaltliche Akzentuierung insofern, als die Gesamtsicht von Reden und Erzählungen gemeinsam den Sinn von Weihnachten in komplementärer Spannung erschlösse. Die Interpretation, die von der Bedeutung der geschlechtsspezifischen Zuordnung der Gattungen ausgeht, wird dabei unterstützt durch den thematisch-inhaltlichen Bezug auf das Gespräch über die unterschiedliche Entwicklung der Frömmigkeit bei Frauen und Männern, die die Personen der Weihnachtsfeier führen. Dieses Gespräch verweist deutlich auf die geschlechtsspezifische Anthropologie Schleiermachers, die sich in der Weihnachtsfeier an vielen Details sowie in den Äußerungen über die unterschiedliche religiöse Entwicklung von Frauen und Männern wie in unterschiedlichen Erziehungskonzepten und -Stilen zeigt, und die darüber hinaus in anderen Texten literarisch wie diskursiv thematisiert wird. 41 Erklärungsbedürftig ist auch die Dreizahl der Erzählungen bzw. der Reden, die - ausgehend von den Reden der Männer - meist als Stufenfolge der spirituellen Entwicklung bzw. der theologischen Einsicht verstanden wird. 42

40 41 42

Formal bedeutete die erste Möglichkeit eine Antiklimax und die zweite eine Klimax - eine m.E. näherliegende Figur. Unmittelbar zu verweisen ist auf die Vertrauten Briefe sowie auf den Brouillon. Die Abfolge der Männer-Reden wird meist als Stufenfolge theologischer Einsicht Schleiermachers selbst (so schon Strauß, vgl. Quapp, Barth, 68) bzw. allgemeiner verschiedener Christologien verstanden. Richardson verbindet Reden und Erzählungen über die geschlechtsspezifische Eigenart zu einem Gesamtbild einer Stufenfolge religiöser Erkenntnis (vgl. Richardson, Role, 155). De Vries verbindet Schleiermachers Unterscheidungen der theologischen bzw. religiösen Sprachformen (poetisch - rhetorisch - didaktisch) mit der Unterscheidung nach Geschlecht und sieht den inhaltlichen Akzent auf der kindlichen Unmittelbarkeit religiöser Erfahrung, die Frauen näher sei als Männern (vgl. de Vries, Christmas Eve, 172f.). „There is no question that the Christmas Eve Dialogue [im Original hervorgehoben, EH] seems to favor simple, childlike experience over abstract theological reflection, or that, at least in this text, women appear more suited to the former, while men are inclined to the latter." (a.aO., 179).

Zur literarischen Gestalt

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Mit Ruth Richardson gehe ich von der Einordnung der Weihnachtsfeier in den frühromantischen Kontext aus, aber unter Berücksichtigung der zeitlichen Verschiebung und der in Schleiermachers Leben und Denken erkennbaren Veränderungen. Die offensichtliche literarische und inhaltliche Beziehung zu den Vertrauten Briefen ist dabei der Ansatzpunkt und damit die Ausgangsthese, dass Schleiermacher mit den Paarkonstellationen nicht einfach eine soziale Wirklichkeit abbildet, sondern eine inhaltliche Aussage verbindet. Die Geschlechterdifferenz von Mann und Frau ist keineswegs zufällige und gefällige Illustration, sondern spielt für das Verständnis der Weihnachtsfeier eine zentrale Rolle. 43 Die Besonderheit dieses Textes liegt gerade darin, dass die Geschlechterdifferenz inhaltlich thematisiert, in der Frage der unterschiedlichen Geschicklichkeit in den Ritualen des Schenkens wie des Verhältnisses von Frauen und Männern zur Religion bzw. zur Frömmigkeit von den literarischen Personen diskutiert wie auf der Ebene der literarischen Darstellung und Handlung ausagiert wird. Damit verbinden sich die Geschlechtscharaktere auf der inhaltlichen wie auf der Darstellungsebene mit anderen Themen. Zudem erlaubt die literarische Struktur von Inhalts- und Handlungsebene eine Querverflechtung, wie sie für diese Problematik charakteristisch ist: Die Geschlechterdifferenz ist auf der Handlungsebene präsent, während auf der inhaltlichen Ebene ein anderer Gegenstand verhandelt wird. Damit ergibt sich literarisch eine Möglichkeit der Genderkodierung, die nicht nur über die Metaphorik 44 , sondern auch über die Handlungsebene bzw. die literarischen Personen erfolgt. Wie später noch darzustellen sein wird, 45 hat Schleiermacher ein Modell egalitärer Komplementarität der Geschlechter und geht von einem männlichen bzw. weiblichen Geschlechtscharakter aus, der Män-

43

44 45

So hat Karl Barth die wichtige Rolle der Frauen (wie auch der Musik) in diesem Text durchaus wahrgenommen, aber vor allem hinsichtlich seiner kritischen Auseinandersetzung mit Schleiermachers Theologie argumentativ funktionalisiert. Er findet in der „Anschauung" der Mutterliebe, die für ihn in den Erzählungen zum Ausdruck kommt, die „in den frühern Predigten vermißte festliche Mitte der Schleiermacherschen Weihnachtsgedanken" (Barth, Weihnachtsfeier, 473). Hier enthülle sich die Feier des Natürlichen in seiner höchsten Form. Letztlich würden „als Maria oder als Christus immer wir selbst, die Frau im Manne das göttliche Kind, der Mann in der Frau die reine Mutter verehrend, beide vereint sich selber Anschauung edelster, erhöhtester Menschlichkeit" gefeiert (a.a.O., 473f.). Oder noch schärfer: „Die Musik und das Ewig-Weibliche [...] sie sind als via regia zu dem Unaussprechlichen die eigentliche theologische Substanz des kleinen Meistenuerkes." (a.a.O., 486). Vgl. dazu die Zuweisung der Geschlechtscharaktere zu den Tonarten in der Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 65. Vgl. dazu Kap. ΠΙ 3.2.2.2.

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Die Weihnachtsfeier

Männern und Frauen jeweils zukommt. 46 Diese in den Vertrauten Briefen erkennbaren Geschlechtscharaktere werden in der Weihnachtsfeier inhaltlich vertieft und weiter entfaltet. 47 Sie bilden gleichzeitig ein Strukturmoment für die Beziehungen der literarischen Personen und für die Bestimmung von Religion und Frömmigkeit. So ist die Korrelation von Erzählungen der Frauen und Reden der Männer auf dem Hintergrund des Modells der egalitären Geschlechterkomplementarität zu verstehen: Die Erzählungen und die Reden sind aufeinander bezogen als geschlechtsspezifisch unterschiedliche Zugänge und Ausdrucksformen des behandelten Gegenstandes, die diesen erst zusammen angemessen darstellen. Während in den Erzählungen die Bedeutung des Weihnachtsfestes intuitiv zur Anschauung kommt, wird in den Reden der Gehalt argumentativ und dialektisch entfaltet. Dennoch ist in den Erzählungen und den Reden auch eine inhaltliche, nicht nur eine gattungsmäßige Differenz festzustellen. Die Erzählungen thematisieren unübersehbar die Beziehung von Mutter und Kind, deren theologische Bedeutung schon in dem kurzen Gespräch Sophies mit ihrer Mutter im ersten Teil angesprochen wird. Erwin Quapp ist recht zu geben, dass Schleiermacher darin implizit bzw. narrativ eine Art „protestantische Mariologie" anlegt. 48 Diese betont die ge46

Vgl. dazu Brouillon hg. v. Birkner, 54-58, sowie die Vertrauten Briefe, die allerdings mehr das Thema der Liebe zwischen Frau und Mann in den Mittelpunkt stellen. Männlichkeit und Weiblichkeit als Geschlechtscharakter kommt dabei Männern und Frauen jeweils in erster Linie, aber empirisch nicht in absoluter Weise zu. Eine undifferenzierte Identifikation von Geschlechtscharakter und vorfindlicher Person entspricht nicht Schleiermachers persönlicher Erfahrung. Er schreibt sich ja durchaus Tendenzen und Züge des weiblichen Geschlechtscharakters zu: „Mir geht es aber iiberall so, wohin ich sehe, daß mir die Natur der Frauen edler erscheint und ihr Leben glücklicher, und wenn ich je mit einem unmöglichen Wunsche spiele, so ist es mit dem, eine Frau zu sein." (Brief aus Stolp an Charlotte von Kathen vom 4. August 1804, Briefe 1, 403).

47

Vgl. Richardson, Role, 142-144.

48

Quapp, Barth, 26. Quapp entdeckt in den Erzählungen der Frauen eine „protestantische Mariologie" als Pendant zu der Christologie der Männer-Reden. Dies stellt eine weitere Frau-Mann-Korrelation zwischen den Erzählungen und den Reden her. Bei dieser Bezeichnung wird man jedoch den grundsätzlich unterschiedlichen Deutungshorizont einer „evangelischen Mariologie" berücksichtigen müssen. Vgl. dazu Schöpsdau, Walter, Zur Einführung: Maria - neu gesehen, in: Ders. (Hg.), Mariologie und Feminismus (BenshH 64), Göttingen 1985, 7-17. Schöpsdau betont, dass es eine „evangelische Mariologie" (a.a.O., 14) nicht im eigentlichen Wortsinne geben kann, da sich jedes Einrücken der Gestalt Marias in soteriologische Zusammenhänge verbietet. Die Grenzlinie wird durch das solus Christus gebildet. So auch Frieling in: Frieling, Reinhard, Art. Maria/Marienfrömmigkeit ΠΙ. Dogmatisch III/l. Evangelisch, T R E 22 (1992), 137-143, hier: 139. Die Rolle der paradigmatisch Glaubenden, die aus Marias Zustimmung zu ihrer Erwählung abgeleitet wird (Lk 1,38), ist dagegen auch aus protestantischer Sicht hervorzuheben und gilt gerade für Schleiermachers Weihnachtsfeier. Sie ist der erste protestantische Text seit Luthers Auslegung des Magnifikat (Luther, Martin, Das Magnifikat verdeutscht und ausgelegt. 1521, W A 7, 5 3 8 -

Zur literarischen Gestalt

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genwärtige Beziehung der Glaubenden zu Christus und darin auch die Vergegenwärtigung des Weihnachtsgeschehens aus Sicht der Frauen. Im Zentrum der Erzählungen steht die Mutterliebe, die in andächtiger und demütiger Liebe das Christusgeschehen in seiner keimhaften Bedeutung erkennt und zugleich in der Mutter-Kind-Beziehung widergespiegelt sieht. Die geschlechtsspezifische Differenz dieser Repräsentation wird von Sophie angesprochen, wenn sie die Möglichkeit der Vergegenwärtigung und der unmittelbaren Identifikation bei Frauen mit der „Mutter des göttlichen Kindleins" anspricht. 49 Dagegen diskutieren die Männer in ihren Reden unterschiedliche Christologien und Erlösungsvorstellungen, also Grund und Sinn von Weihnachten. So beleuchten die verschiedenen Zugänge auch unterschiedliche inhaltli-

604), der die Figur der Maria so stark in den Mittelpunkt rückt und theologisch besetzt. Zur Bedeutung Marias als prototypische Verkörperung des Glaubens an Christus bei Schleiermacher vgl. Zorgdrager, Theologie, 344. Die Rolle Marias als Vorbild des Glaubens und der Liebe wird von Ernestine ausdrücklich bestätigt (vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 51). Weitere Marien-Motive sind eine Strophe aus den Marienliedern des Novalis, die von Sophie und Friederike gesungen werden (vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 74), das „Marienbild" aus Ernestines Erzählung, in dem sich für sie der Sinn des Weihnachtsfestes erschließt (vgl. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 72f.), und die Anspielung auf Lk 1,28-30 in Agnes' Erzählung. Alle Erzählungen entfalten das Motiv der Mutter-Kind-Beziehung oder der Mutterliebe, wobei hier Bild und Person Marias fließend ineinander übergehen, wie es auch für römisch-katholische Mariologie typisch ist (vgl. Frieling, Maria, 138). So rücken die Frauen in ihrem qua Mutterliebe unmittelbaren Zugang zur rechten Verehrung des Göttlichen in die Rolle von Vorbildern für andere ein. Dies gilt z.B. für die Mariengestalt in Ernestines Erzählung, die sich als Eduards ältere Schwester entpuppt und zur „Freundin und Führerin meiner [Ernestines, EH] Jugend" (Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 73) wird. „Frauen finden in die Nachfolge Mariens, indem sie in ihrem Kind das göttliche Urbild erblicken" (Morgenroth, Weihnachts-Christentum, 101; vgl. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 51). Allerdings ist der Deutungshorizont der Weihnachtsfeier von vornherein ein privatindividueller und damit grundsätzlich von einer dogmatisch ausgerichteten Mariologie zu unterscheiden. Auch der Vorbildcharakter bleibt in der Weihnachtsfeier auf der individuellen Ebene und entbehrt jedes institutionell-kirchlichen oder gar dogmatisch-lehrhaften Bezugs, wie dies für die gesamte Ausrichtung des Textes gilt. Die starke Identifikation von Frausein mit Mutterschaft und Mutterliebe und die Einengung des Frauenbildes darauf - so noch bei Johannes Paul Π in seiner Verlautbarung Mulieris Dignitatem von 1988 - , die von feministischen Theologinnen in der katholischen Mariologie kritisiert wird, trifft in der Tendenz auch die Darstellung Schleiermachers. Das Frauenbild der Weihnachtsfeier stellt keine Alternativen vor, vor allem, weil die katholische Option der Jungfräulichkeit eher kritisch beurteilt wird, wie die Äußerungen über die unverheirateten Frauen der Herrnhuter Brüdergemeine oder katholischer Ordensfrauen andeuten (vgl. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 52f.). Zur feministischen Auseinandersetzung mit der Gestalt Marias und der Kritik an der Mariologie vgl. Leicht, Irene, unter Mitarbeit von Stefanie Rieger-Goertz, Maria, in: Dies./Claudia Rakel/Stefanie Rieger-Goertz (Hg.), Arbeitsbuch Feministische Theologie, Gütersloh 2003, 343-349. 49

Vgl. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 49.

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Die Weihnachtsfeier

che Facetten desselben Gegenstandes, wie die christologische Zuspitzung der Reden im Vergleich zu den Erzählungen zeigt. Obgleich der Gedanke naheliegen mag, die Paare nach ihren sozialen Zusammengehörigkeiten zu ordnen, lässt sich dies nicht durchführen, da Friederike, Emsts Verlobte, nicht erzählt, sondern Klavier spielt. Vielmehr ist nach inhaltlichen Korrelationen zu suchen, wenn es um die Zuordnung von Frauen-Erzählung und Männer-Rede geht. Schleiermacher nimmt über Gattung und geschlechtsspezifische Zuordnung eine doppelte Verschränkung zwischen Reden und Erzählungen vor, die zusätzlich durch ein Stufenmodell eine dynamische Bewegung erhält. Der Gegenstand, das Weihnachtsfest und seine Bedeutung, kann nur angemessen dargestellt und erkannt werden, wenn die spannungsreiche Konstellation von drei Reden und drei Erzählungen durch insgesamt sechs Personen unterschiedlichen Geschlechts als differenzierte Ganzheit gewürdigt wird.

4. Die Geschlechtscharaktere Die Weihnachtsfeier ist davon geprägt, dass Frauen und Männer in ihrem Umgang miteinander und in der Welt Geschlechtswesen sind. Das Geschlechterverhältnis wird in der Einführung wie im ersten Teil mit den Wechselgesprächen thematisch und bestimmt die Korrelation der Erzählungen zu den Reden bzw. manifestiert in der Komplementarität der auftretenden Personen. 50 Dabei ist anders als in den Vertrauten Briefen die erotische Liebe zwischen Frau und Mann kein Thema. Die sozialen Beziehungen der Personen auf der Handlungsebene setzen die erotische Liebe voraus, aber sie erscheint nur andeutungsweise in der Stimmung von Ernst, der auf seine baldige Heirat mit Friederike hinweist. 51 Der weibliche und männliche Geschlechtscharakter 52 zeigt sich in kleinen Alltäglichkeiten wie den Ritualen des Schenkens, aber auch in tiefergehenden Fragen nach der Frömmigkeit als Aspekt der männlichen bzw. weiblichen Persönlichkeitsentwicklung. Schleiermacher setzt 50

So besonders Richardson, die alle Akteure (d.h. mit Ausnahme des namenlosen jüngeren Bruders von Anton) in Paare ordnet.

51 52

Liebe ist dagegen in Gestalt der Mutterliebe ein zentrales Thema. Der Begriff Geschlechtscharakter wird von Schleiermacher selbst verwendet und zeitgleich in seinem Brouillon zur Ethik entfaltet. Er versteht darunter offensichtlich eine weitere natürliche Fragmentierung der Vernunft in der Persönlichkeit, also ein Moment der Individualität, das sich durch die menschliche Physis wie die Psyche zieht, also in allen Aspekten der menschlichen Person und nicht etwa nur als Unterschied der Geschlechtsorgane wirksam ist; vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 54f., sowie Kap. ΠΙ 3.2.2.2.

Die Geschlechtscharaktere

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beispielsweise in der Schilderung des Spiels, die Geber der jeweiligen Geschenke zu erraten, das direkte Verhalten der Männer, das ihrer Machtposition entspricht 53 , der scharfen Beobachtungsgabe und Kombinationsfähigkeit der Frauen im Bereich des zwischenmenschlichen Umganges entgegen. Dahinter ist ein Modell der polaren Komplementarität erkennbar. Die unterschiedlichen weiblichen und männlichen Geschlechtseigenschaften, die sich im weiblichen und männlichen Geschlechtscharakter bündeln, verhalten sich zueinander als sich wechselseitig ergänzende und bedingende Pole. Damit stehen sie stets in Relation einer wechselseitigen Abhängigkeit zueinander. Ernst bewertet diese Komplementarität mit positiven Konnotationen der männlichen Attribute, indem durch ein Mischzitat aus Koh 7,28f. 54 der Aufrichtigkeit des Mannes die Kunstfertigkeit der Frau (mit ambivalenter Konnotation) gegenübergestellt wird, 55 während Karoline diese Bewertung ironisch kontert und deutlich macht, dass das Komplementaritätsmodell eine wechselseitige Beziehung voraussetzt, die für die Stärken der einen Seite eine entsprechende Schwäche oder ein Defizit der anderen Seite zur Bedingung hat: „So habt Ihr doch den Trost, sprach Karoline, uns nicht verderbt zu haben durch die moderne Artigkeit. Vielleicht mag wol gar beides eben so ewig sein als nothwendig; und wenn etwa Eure ehrliche Einfalt die Bedingung unserer Schlauheit ist, so beruhiget Euch damit, daß vielleicht auf einer andern Seite unsere Beschränktheit sich eben so verhält zu Euren größeren Talenten." 5 6

Die Ironie von Karolines schlagfertiger Erwiderung ist unüberhörbar und zugleich bekräftigt sie das vorausgesetzte Komplementaritätsmodell der Geschlechterdifferenz. In diesem Modell vereinigen sich aus modern-feministischer Sicht Elemente, die die entstehende bürgerliche Geschlechterordnung vor allem in der Trennung und Zuordnung von privater Häuslichkeit und Mutterschaft für Frauen und Öffentlichkeit und Berufstätigkeit für Männer bestätigen. Dabei erscheinen die Freiheitsräume der Männer wesentlich großzügiger bemessen als die der

53

54

„Ihr liebt gar sehr die geraden Wege, wie es auch den Machthabern geziemt, und Eure Bewegungen, wenn ihr auch gar nichts damit zu sagen gemeint seid, sind doch von einer so verräterischen Verständlichkeit [...]." (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 45). In diesen Worten Friederikes wird subtil auf die Machtdifferenz zwischen Frauen und Männern und auf die damit verbundenen unterschiedlichen Verhaltensweisen angespielt. Vgl. dazu die Anmerkung in Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 45. Die von Schleiermacher bearbeitete Form des Zitates pointiert die Komplementarität der Geschlechtscharaktere.

55

Vgl. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 45; siehe auch die Erläuterung im Apparat zu Koh 7,28t.

56

Weihnachtsfeier, K G A 1/5,45f.

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Die Weihnachtsfeier

Frauen. 5 7 So bringt z.B. Eduard eine Charakteristik der Frauen, die typisch für die bürgerliche Geschlechterordnung ist: „Ja wir erkennen es [...] wie Ihr bestimmt seid und gemacht, die ersten reinen Keime zu pflegen und zu entwikkeln, ehe noch etwas Verderbliches heraustritt oder sich ansetzt. Den Frauen, die sich dem heiligen Dienst widmen, ziemt es überall, im Innern des Tempels zu wohnen als Vestalinnen, die des heiligen Feuers wachen. Wir dagegen ziehn außen herum in strenger Gestalt, üben Zucht und predigen Buße, oder heften den Pilgern das Kreuz an und umgürten sie mit dem Schwerdt, um ein verlorenes Heiligthum zu suchen und wieder zu gewinnen."58 In dieser Charakteristik ist die Trennung von privat und öffentlich mit entsprechender Aufgabenverteilung an Frauen und Männer, also das bürgerliche Modell, verbunden mit religiösen Konnotierungen, die die Freiheit der Männer draußen nicht unbedingt verlockend erscheinen lässt im Vergleich zum eingeschlossenen, aber dem Heiligen nahen Dasein der Frauen drinnen. Religiös gesehen erscheint der Freiheitsgewinn der Männer gefährlich und die Abgeschlossenheit der Frauen von Vorteil. 59 Die komplementären Geschlechtscharaktere werden in der Weihnachtsfeier erst im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Entwicklung der Frömmigkeit bei Frauen und Männern wirklich deutlich. Doch Schleiermacher hat im Brouillon zur Ethik von 1805/06 - und damit genau zu der Zeit, in der er an der Weihnachtsfeier arbeitet - die Abschnitte über Freundschaft, freie Geselligkeit, Liebe und Ehe konzipiert. 6 0 Dies bedeutet, dass die dort vorgenommene Zuordnung als Hinter-

57

Darauf wird in Kap. IE noch näher einzugehen sein, sowohl im Blick auf die inhaltliche Bestimmung von Schleiermachers Modell im Kontext der zeitgenössischen Debatte wie im Blick auf die kontroverse Bewertung von Schleiermachers Position aus gegenwärtiger feministischer Sicht.

58 59

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 52. Eduard bleibt unwidersprochen, hat er doch auch den Duktus des Gedankens von Ernestine und Agnes bekräftigt. In dieser Wertschätzung der abgeschlossenen Welt der Frauen deutet sich m.E. eine private Sicht Schleiermachers an. Schleiermacher erlebt die private Sphäre, in der sich die Frauen bewegen, als Freiraum für Phantasie und Gefühl, die im öffentlichen Bereich der Männer aufgrund von beginnenden Modernisierungsprozessen stark reglementiert sind (vgl. Simon-Kuhlendahl, Frauenbild, 174f.). Allerdings ist aus modern-feministischer Sicht anzumerken, dass dabei in der Regel die (vormodernen) Zwänge der Hausarbeit, mit denen auch bürgerliche Frauen konfrontiert waren, nicht als solche wahrgenommen wurden (vgl. dazu Duden, Barbara, Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Kursbuch 47 (1977), 125-149, hier: 132-135).

60

Nach der Notiz von Schleiermacher hat er wegen Dulons Konzert vor der 30. Stunde ausgesetzt, die die Freundschaft behandelt; die Geschlechtscharaktere behandelt er kurz danach in der 32. Stunde (vgl. Brouillon hg. v. Birkner 1981, 51 u. 54).

Die Geschlechtscharaktere

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grund gelesen werden kann und muss. Demnach zeichnen sich Frauen psychisch durch ein Übergewicht des Gefühls und intellektuell durch ein Ubergewicht des „höhern Gefühls" aus, während bei Männern psychisch die Anschauung und intellektuell das Denken vorherrschen. 61 Die unterschiedlichen Geschlechtscharaktere von Frauen und Männern manifestieren sich durch einen ganz verschiedenen Verlauf ihrer Persönlichkeitsentwicklung. So formuliert Agnes in dem Gespräch, das durch Sophie angestoßen wird, die Frage, ob der höhere Zustand des Erwachsenseins nur über den Verlust der ursprünglichen gegenwärtigen kindlichen Unmittelbarkeit zu erlangen sei: „Müssen denn die ersten kindlichen Gegenstände der Freude verloren gehen, damit man die höheren gewinne? Sollte es nicht eine Art geben, diese zu gewinnen, ohne jene fahren zu lassen. Fängt denn das Leben mit einer reinen Täuschung an, in der gar keine Wahrheit ist, nichts Bleibendes? Wie meinst du es eigentlich? Fangen die Freuden des Menschen der zur Besinnung über sich und die Welt gekommen ist, der Gott gefunden hat, mit Streit und Krieg an, mit der Vertilgung nicht des Bösen, sondern des Schuldlosen? Denn so bezeichnen wir doch immer das Kindliche oder auch das Kindische wenn ihr lieber wollt." 6 2

Ernestine antwortet ihr darauf mit der These von der geschlechtsspezifischen Entwicklung von Frauen und Männern, in der sich ihr Geschlechtscharakter zeige. „[...] aber es scheint doch und sie gestehen es auch selbst ein, daß die Männer, man möchte wol sagen die Besten am meisten, zwischen der Kindheit und ihrem bessern Dasein ein wunderliches wüstes Leben führen, leidenschaftlich und verworren. Es sieht aus wie eine Fortsezung ihrer Kindheit, deren Freuden auch eine heftige und zerstörende Natur zeigen; aber auch in ihrem unstäten Treiben wie ein unschlüßiges immer wechselndes Fahrenlassen und Ergreifenwollen, wovon wir nichts verstehen. Bei uns vereinigt sich beides unmerklich miteinander. In dem was uns in den Spielen der Kindheit anzieht, liegt schon unser ganzes Leben, in jedem offenbart sich allmählig die höhere Bedeutung [...]". 63

Frauen seien also durch kontinuierliche Höherentwicklung und damit durch eine spezifische Ungebrochenheit der kindlichen Unmittelbarkeit gekennzeichnet. Dies ermögliche ihnen dann eine besondere Nähe zum Religiösen. Demgegenüber seien die Männer durch den Gegensatz „des Unbewußten und des Besonnenen" charakterisiert, der sich in den Brü61

Vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 55.

62

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 69.

63

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 70. Erkennbar sind Anklänge an Friedrich Schlegels Roman Lucinde, in der der Held Julius eine Jugend voll äußerer und innerer Zerrissenheit und leidenschaftlicher Verworrenheit führt, bevor er in der Begegnung mit Lucinde und in der gegenseitigen Liebe zu seiner erwachseneren Männlichkeit findet.

40

Die Weihnachtsfeier

chen der Entwicklung manifestiere. Letztlich diene aber diese Unterschiedlichkeit wieder dem Ziel gemeinsamer Erkenntnis: „So hätten, sagte Eduard, Männer und Frauen auch in der Entwikkelung des Geistigen, das doch in beiden dasselbe sein muß, ihre abgesonderte Weise, um sich durch gegenseitiges Erkennen auch hierin zu vereinigen. Ja es mag wol sein, und es spricht mich recht klar an, daß in uns der Gegensaz des Unbewußten und des Besonnenen stärker hervortritt und sich während des Ueberganges in jenem unruhigen Streben, jenem leidenschaftlichen Kampf mit der Welt und sich selbst offenbart. Dagegen in Eurem ruhigen und anmuthigen Wesen die Stätigkeit beider und ihre innere Einheit ans Licht tritt, und heiliger Ernst und liebliches Spiel überall Eins sind." 6 4

Für die Erzählungen der Frauen und die Reden der Männer lässt sich nach Richardson konstatieren, dass dem jeweiligen Geschlechtscharakter entsprechend eine kontinuierliche, stufenweise Höherentwicklung vorliegt oder ein dialektisches Verhältnis, sich also die Einheit des Daseins und die Unmittelbarkeit des Gefühls der Frauen und das durch Brüche gekennzeichnete Streben nach außen und das Abstraktionsvermögen der Männer niederschlägt. 65 Innere Einheit des weiblichen Geschlechtscharakters und innere Gegensätzlichkeit des männlichen, die sich entsprechend im geschlechtstypischen Empfinden und Erkennen manifestieren, sind einander gleichrangig und ergänzen sich komplementär zu einer differenzierten Ganzheit. 66 Damit ist schon angelegt, dass auch die Frage von Frömmigkeit und Theologie, also das Verhältnis zur Religion, geschlechtsspezifisch mitbestimmt ist, aber nicht im Sinne einer Unterordnung oder eines Antagonismus, sondern im Sinne der wechselseitigen Ergänzung.

64

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 70.

65

Vgl. Richardson, Role, 150.

66

Quapps sichtbares Bemühen, die Abwertung der Frauen in Schleiermachers Weihnachtsfeier, wie er sie schon bei Schelling feststellt (vgl. seine klare Kritik an Schellings Androzentrismus: Quapp, Barth, 63) und überstark bei Hirsch konstatiert („Dabei scheint es so, als ob die von Hirsch miterlebte Zeitgeschichte ihm das Verstehen der Frauen in der 'Weihnachtsfeier' völlig verstellt."; a.a.O., 100), hebt vor allem auf den wesenhaften Geschlechtsunterschied zwischen Frau und Mann als anthropologische Basis verschiedener Theologien bzw. Christologien ab (z.B. a.a.O., 25 u. 45). Dabei entgeht er jedoch nicht der Gefahr, eine Hierarchie dieser Geschlechterdifferenz en passant einzuführen. Der „Naturstand der Ehe" dient bei Ernestine und Eduard dazu, dass Höchstes und Niedriges sich durchdringen, ganz im Sinn der gegenseitigen Erkenntnis, von der Eduard spricht, aber eben mit einem klaren Oben und Unten: „Hier soll sich also das Niedere der Ernestine mit dem Höchsten des Eduard geistig durchdringen und erkennen, um sich so in beiden zu einer Einheit durchzuringen." (a.a.O., 45, Anmerkung 224).

Frauen, Männer und das Fest der erlösenden Liebe

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5. Frauen, Männer und das Fest der erlösenden Liebe Bevor jedoch das Verhältnis von Religion bzw. Frömmigkeit und Geschlechtscharakter näher beleuchtet werden soll, erscheint es sinnvoll, das zentrale Thema des Textes zu behandeln und die genderspezifischen Konstellationen in die Interpretation einzubeziehen, um daraus Rückschlüsse für die Querverbindungen zwischen Religion und Geschlecht(scharakter) bzw. der geschlechtsspezifischen Zugänge zu Frömmigkeit und Theologie zu ziehen. Dies bedeutet, dass der zweite Teil des Textes, in dem das Verhältnis von Religion und Geschlecht explizit zum Gesprächsthema wird - in der Frage nach der unterschiedlichen Entwicklung von Frauen und Männern und deren Bedeutung für ihre Religiosität - zugunsten der Auseinandersetzung mit den Erzählungen und Reden zurückgestellt wird. In Anlehnung an die komplementäre Stufenstruktur des dritten und vierten Teils der Weihnachtsfeier sollen jeweils die Themen und Motive der Erzählungen und Reden kurz skizziert werden. 67 Die Grundstruktur ist die einer doppelten Verschränkung: Zum einen entsprechen sich je eine Erzählung und eine Rede derart, dass sie erst zusammen eine sich ergänzende Gesamtsicht geben. Dies betrifft nicht nur die Form und damit die Polarität von intuitiver Anschauung und dialektischer Erkenntnis bzw. die Polarität von Frömmigkeit und Theologie, sondern auch die Themen „protestantische Mariologie"68 und Christologie. Jede Frau-Mann-Konstellation repräsentiert eine Frömmigkeitsstufe wie eine entsprechende theologische Position. In den Erzählungen wird die gegenwärtige Beziehung der Glaubenden als Frömmigkeit thematisiert: das Gewicht liegt auf der Mutterliebe als dem Paradigma der demütigen und andächtigen Liebe, die die vergegenwärtigende Teilhabe am göttlichen Weihnachtsgeschehen darstellt. In den Reden liegt das Gewicht auf der Reflexion über die Bedeutung des Weihnachtsfestes, also in der Theologie, und so auf der grundsätzlichen Beziehung von Erlöser und Erlösung. Zum zweiten stellen die Paare (einschließlich Friederikes und Josefs) auch Stufen spiritueller Entwicklung bzw. theologischer Einsicht dar, die als Vertiefung und Erhöhung der Frömmigkeit wie der theologischen Erkenntnis zu sehen sind, in der es nicht um eine Destruktion des Vorhergehenden, sondern um dessen relative Überwindung und Aufhebung geht. Hier geht die Entwicklung von einer eher äußerlich-

67 68

Ich lehne mich dabei an Richardsons Gliederung an, arbeite allerdings das Thema der Mutterliebe heraus, das sie m.E. zu Unrecht vernachlässigt. S.u. Anmerkung 84.

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Die Weihnachtsfeier

betrachtenden Frömmigkeit und einer rationalistischen Theologie (Ernestine - Leonhardt) über eine im Rahmen kirchlicher Formen und Gemeinschaft sich manifestierende Frömmigkeit und einer historisch orientierten kirchlichen Theologie (Agnes - Ernst) hin zu einer das Außere, Irdische zugunsten des Inneren, Himmlischen hinter sich lassenden und so neu gewinnenden (mystischen) Frömmigkeit und einer entsprechend spekulativen Theologie (Karoline - Eduard). 69 Die eigentliche Vollendung ist die „sprachlose Freude" des „sprachlosen Gegenstandes"70, die nicht mehr in Worten, sondern in Tönen einen Ausdruck findet (Friedrike - Josef). Diese Interpretation soll nun im knappen Durchgang durch die jeweilige Konstellation von Erzählung und Rede erhärtet werden. Die Entsprechung von Erzählung und Rede im Sinn der Komplementarität von Weiblichkeit und Männlichkeit wurde schon in der Analyse der Form herausgearbeitet. Damit verbunden ist der Gedanke des Verhältnisses von Frömmigkeit und Theologie. Beide bedingen sich wechselseitig insofern, als Theologie die intellektuelle, systematische und wissenschaftliche Reflexion von Frömmigkeitsgehalten und -äußerungen darstellt, ontisch also Frömmigkeit zur Grundlage hat, während der Erkenntnis nach der theologischen Reflexion die Priorität zukommt. Diesem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis entspricht eine wechselseitige Abhängigkeit von Frauen und Männern im Modell der komplementären Geschlechtscharaktere: von weiblich kodierter und empirisch von Frauen dominierter Frömmigkeit und männlich kodierter und Männern vorbehaltener theologischer Wissenschaft. 71 Damit wird das Schema Einheit - Weiblichkeit/Frau und Differenz - Männlichkeit/Mann, das auf der Ebene der religiösen Entwicklung im Gespräch herausgestellt wurde, im Bereich der Religion wiederholt und so mit der Geschlechterkomplementarität parallelisiert. So wie Ernestines Schilderung des „Marienbildes" im weihnachtlichen Festgottesdienst eine andächtige, aber doch von außen kommende Beobachterperspektive einnimmt, bestimmt auch Leonhardt die Bedeu-

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Dabei erweist sich diese höhere Frömmigkeit und spekulative Christologie als Feier der menschlichen Natur, die im göttlichen Prinzip angeschaut und erkannt wird (vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 94).

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Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 97.

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Vgl. dazu auch die Äußerung Eduards über das Verhältnis von Frauen und Kirche, in der der Grund der engeren Kirchenbindung der Frauen darin gesehen wird, dass ihr Geschlechtscharakter sie auf die Empfindung verweise und damit innerlich wie äußerlich auf die Kirche, während die Männer mit der wissenschaftlichen Erkenntnis eine Unterscheidung von innerer und äußerer Zugehörigkeit zur Kirche machen könnten (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 95f.).

Frauen, Männer und das Fest der erlösenden Liebe

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tung des Weihnachtsfestes als kritischer Betrachter von Außen. 72 Von diesem Standpunkt aus gesehen hat der geschichtliche Stifter des Christentums kaum einen Bezug zum Weihnachtsfest und seine gegenwärtige Kraft und Bedeutung beruht nicht auf einem geschichtlichen Bezug. Vielmehr gründet, so Leonhardt, die Kraft des Weihnachtsfestes auf der Durchführung der Riten und Gebräuche, die von denen getragen werden, die sich darin artikulieren: den Kindern. Die vorreflexive Einheit gegenwärtiger Religiosität bzw. Frömmigkeit im Ritual vollendet sich gewissermaßen im Weihnachtsfest. Denn der Sinn des Festes kommt - im göttlichen Kind symbolisiert, durch Kinder getragen und tradiert - gegenwärtig zur Anschauung und ermöglicht erst so eine Anknüpfung an die an sich dürftige Weihnachtsgeschichte. 73 Agnes und Ernst stehen für die kirchliche Innenperspektive in der Deutung von Weihnachten. Beide verbindet der unmittelbare Bezug von Weihnachten und Kindertaufe. Agnes' Erzählung von der Taufe ihres neugeborenen Neffen am Weihnachtsabend wird von Ernst aufgenommen und in eine allgemeine theologische Aussage gebracht. 74 Leonhardt deutet denn auch das geschilderte Bild dieses Täuflings christologisch als „gleichsam ein umgekehrtes negatives Christkindlein, in ivelches der Heiligenschein einströmt, nicht aus."75 Die innere Bedeutung des Äußeren oder die religiöse Deutung des Natürlichen durch die kirchliche Handlung sowie der Ursprung der religiösen Entwicklung des Einzelnen in der Kirche manifestieren sich in dieser Geschichte. Während die Mutter-Kind-Beziehung und vor allem die Mutterliebe darstellt, wie in dieser natürlichen Beziehung die geistliche Dimension gegenwärtig wird, zeigt sich in der aktiven Rolle der frommen Gemeinschaft die Bedeutung der Kirche für die Weitergabe des Glaubens. So öffnet sich der frommen Mutterliebe die innere 72

Er verspricht bewusst eine Alternative zu den Predigten der Gottesdienste am nächsten Weihnachtsmorgen (vgl. Weihnachtsfeier, KGA1/5, 83).

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Das gelungene Zusammenfallen von Darstellung bzw. Ritual, Darsteller und Gegenstand machen die Bedeutung des Weihnachtsfestes aus: „Denn wie ein Kind der Hauptgegenstand desselben ist, so sind es auch hier die Kinder vornemlich, welche das Fest, und durch das Fest wiederum das Christenthum selbst heben und tragen. Und wie die Nacht die historische Wiege des Christenthums ist, so wird auch das Geburtsfest desselben in der Nacht begangen; und die Kerzen, mit denen es prangt, sind gleichsam der Stern über der Herberge und der Heiligenschein, ohne welchen man das Kind nicht finden würde in der Dunkelheit des Stalls, und in der sonst unbestirnten Nacht der Geschichte." (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 88). „Daher hat auch kein besonderes Fest mit diesem allgemeinen eine solche Aehnlichkeit, als das der Kindertaufe, wenn man nicht ganz ohne Sinn dabei zu Werke geht." (Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 91). Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 78.

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Dimension der scherzhaften Weihnachtsgeschenke für den Säugling. Die Mutter übersieht schon dessen ganzes Leben in dem Spiel der „Vergegenwärtigung der Zukunft"76 ihres Sohnes. 77 Damit scheint die Mutterschaft und die Mutterliebe das privilegierte Medium der Wahrnehmung und Vermittlung des Göttlichen zu sein, und damit den Frauen qua natürlicher Gebärfähigkeit zuzukommen. Doch die besondere, prophetisch wahrnehmende Rolle der Mutter sowie die sakramental vermittelnde Rolle des Pfarrers (und Vaters?) sind eingebunden in eine fromme Gemeinschaft. 78 Agnes selbst fasst ihre Erzählung in dem Satz zusammen: „Denn ich weiß mit Worten nicht zu beschreiben, wie tief und innig ich damals fühlte, daß jede heitere Freude Religion ist, daß Liebe Lust und Andacht Töne aus Einer vollkommnen Harmonie sind, die auf jede Weise einander folgen und zusammenschlagen können." 7 9

Darin ist - abgesehen von der Musik-Metaphorik, die eine eminente Rolle spielt - die Harmonie von natürlichen Gefühlen und Religion formuliert. In Emsts Rede wird die Gefühlsthematik aufgenommen in der Reflexion auf die Weihnachtsfreude, deren Prinzip die Freude der Erlösung sei. Die Erlösung hebt den Gegensatz von Wesen und Erscheinung, von Zeit und Ewigkeit auf und begründet damit ein neues Leben. So wie der himmlische Schein über die Kirche in die Getauften einströmt, wie also den äußerlichen Ritualen das transzendente Göttliche zugrunde liegt und durch diese wirkt, so rührt die allgemeine Weihnachtsfreude notwendig von der Idee des Erlösers und aus dem Prinzip der Erlösung her. Der Gegensatz von Erscheinung und Wesen bestimmen das menschliche Leben, die Erlösung, die Jesus Christus in die Welt gebracht hat, ist für Ernst die Aufhebung dieses Gegensatzes, und das Weihnachtsfest die Bewusstwerdung dessen im Sinn der „zusammengedrängte[n] Anschauung einer neuen Welt"80. Ernst formuliert als theologische Einsicht die Christologie, in der Christus als Erlöser die

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„Nur die Mutter, deren Liebe den ganzen Menschen im Kinde sieht, und diese Liebe ist es eben, die ihr den engelischen Gruß zuruft [Anspielung auf Lk l,28ff: Maria, EH], sieht auch den himmlischen Glanz schon ausströmen aus ihm, und nur auf ihrem profetischen Angesicht bildet sich der schöne Widerschein [...]." (Weihnachtsfeier, KGA1/5, 76). Vgl. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 78. Die Vergegenwärtigung der Zukunft ist auch ein Marienthema. „Nicht in der Mutter allein oder in mir wohnt jezt noch sein religiöses Gefühl, das in ihm noch nicht sein kann, sondern in uns Allen, und aus uns Allen muß er es sich dereinst zueignen." (Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 77). Vgl. auch die Schilderung der gemeinsamen Handauflegung aller, a.a.O., 78. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 78. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 92.

Frauen, Männer und das Fest der erlösenden Liebe

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Überwindung der Zwiespältigkeit menschlichen Lebens möglich macht, indem er geschichtlich den Keim zur Aufhebung der Gegensätze legt und zugleich als Person das vollendete Urbild darstellt. Karolines Erzählung wie Eduards Rede beschließen die Reihe der sprachlichen Deutungen des Weihnachtsfestes, wenn auch nicht die Reihe der Mann-Frau-Konstellationen. Bei beiden überwindet die (mystische) Innerlichkeit das Außere im Sinn einer Unterscheidung und Unabhängigkeit vom sichtbaren Äußeren zugunsten einer Neugewinnung desselben auf einer höheren Ebene. Karolines Erzählung von der wundersamen Heilung eines todkranken Kindes am Weihnachtsabend, das dessen Mutter bereits aufgegeben hat, veranschaulicht das Ineinander von Mutter-KindBeziehung, die als endliche gefährdet und zugunsten der Transzendenz beider aufzugeben ist, und die in dieser Aufgabe (qualitativ) neu geschenkt wird. Nicht mehr die natürliche Mutterliebe eingebunden in die kirchliche Frömmigkeit, sondern der Verzicht darauf zugunsten der höheren, himmlischen Liebe macht das Kind zum ,,himmlische[n] Kind"81. Innerliches und Äußerliches sind in ein neues Wechselverhältnis gebracht, nicht im Sinn einer harmonischen Entsprechung, sondern im Sinn eines komplementären Verhältnisses: Der irdische, äußerliche Schmerz entspricht der göttlichen Herrlichkeit, die darin erst zugänglich wird. 82 Analog formuliert Eduards Rede eine mystische Christologie der Inkarnation des Logos im Sinn eines Hervortretens des ursprünglichen und göttlichen Erkennens in der Gestalt der endlichen, sinnlichen Natur. Dabei ist die individuelle Gestalt die des Erlösers und die allgemeine die der Kirche als der zum Selbstbewusstsein gekommenen Menschheit. In diesem Sinn ist die Mutterschaft bei Eduard nicht die natürliche Basis für die Religiosität, sondern sie ist eher ein natürliches Spiegelbild geistlicher Erkenntnis, das sich erst aus dieser Einsicht erschließt: „In Christo sehen wir also den Erdgeist zum Selbstbewußtsein in dem Einzelnen sich ursprünglich gestalten. Der Vater und die Brüder wohnen gleichmäßig in ihm, und sind Eins in ihm, Andacht und Liebe sind sein Wesen. Darum sieht jede Mutter, die es fühlt, daß sie einen Menschen geboren hat, und die es weiß durch eine himmlische Botschaft, daß der Geist 81

Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 81.

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Auf den Gedanken Emsts, hier liege eine „umgekehrte Maria" vor, „die mit dem tiefsten Mutterleiden, mit dem Stabatmater anfängt und mit der Freude an dem göttlichen Kinde endigt", entgegnet Ernestine: „[...] Mariens Schmerz mußte doch verschwinden in dem Gefühl der göttlichen Größe und Herrlichkeit ihres Sohnes; so wie ihr auf der andern Seite Alles, was ihm äußerlich begegnete, nur als Leiden, als Entäußerung erscheinen konnte." (Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 82).

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der Kirche, der heilige Geist in ihr wohnt, und die deshalb gleich ihr Kind im Herzen der Kirche darbringt, und dies als ein Recht fordert, eine solche sieht auch Christum in ihrem Kinde, und eben dies ist jenes unaussprechliche, alles lohnende Muttergefühl. Und eben so jeder von uns schaut in der Geburt Christi, seine eigene höhere Geburt an, durch die nun auch nichts anders in ihm lebt, als Andacht und Liebe, und auch in ihm der ewige Sohn Gottes erscheint." 8 3

In diesen Sätzen gibt es eine geradezu schwebende Wechselwirkung zwischen Natur und Geist, Gefühl und Wissen, Spekulation und Mystik. Diese Wechselbeziehung kann von einer spekulativ-mystischen Christologie her und im Zusammenhang mit einem entsprechenden Kirchenverständnis diskursiv formuliert werden, wie Eduard es tut. Sie kann aber auch als spirituelle Erfahrung narrativ kommuniziert werden wie in Karolines Geschichte. Ein eigenes Paar bilden Friederike und Josef, die nicht mehr in ihrem Reden, sondern in ihrem Handeln die Bedeutung des Weihnachtsfestes zum Ausdruck bringen. Sie gehören nicht mehr in die Reihe derer, die über die Bedeutung von Weihnachten reden, sondern sie feiern das Weihnachtsfest und stellen darin letztlich die Rückkehr zu einer zweiten Kindlichkeit dar.84 Josef reklamiert für sich die Rückkehr zum Kindsein, in den Zustand prädiskursiver, vorsprachlicher, ungeteilter, freudiger Einheit mit der Welt, die er mit der erotischen Metapher des Kusses fasst. 85 Die musizierende und sich dem Wort entziehende Friederike steht, wie schon angedeutet, in der Nähe Josefs, weil ihr Ausdrucksmedium die Musik ist, die eine Darstellung von Einheit und Differenz erlaubt, die dem Wort nicht möglich ist: im harmonischen Zusammenklang verschiedener Töne. Darin deutet sich eine höhere Einheit, die gewissermaßen post-diskursiv und nach-sprachlich die Pluralität in der Gesamtheit als eine differenzierte Gleichzeitigkeit symbolisiert. Wenn Sophie und Anton den unbewussten Anfang reprä-

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Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 96.

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„Alle Formen sind mir zu steif, und alles Reden zu langioeilig und kalt. Der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt auch mir eine sprachlose Freude, die meinige kann wie ein Kind nur lächeln und jauchzen. [...] Auch ich selbst bin ganz ein Kind geivorden zu meinem Glükk." (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 97). De Vries sieht in Josef die Person mit den „weiblichsten" Zügen in der gesamten Weihnachtsfeier und argumentiert auch mit Hinweis auf Sophies teilweise wenig weiblichen Neigungen, dass Schleiermacher seine Geschlechtscharaktere nicht fest an (biologisches) Frau- bzw. Mannsein gebunden sehe, sondern eher ein Ideal der Androgynie anstrebe (vgl. de Vries, Christmas Eve, 182). Ich stimme de Vries zu, was die Unterscheidung von Geschlechtscharakteren und Frau- bzw. Mannsein betrifft. Die Frage, ob Schleiermacher ein Ideal der Androgynie vorschwebte, muss im folgenden Kap. ΠΙ noch genauer diskutiert werden.

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Vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 98.

Frömmigkeit, Religion und Geschlecht

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sentieren, dann Friederike und Josef die bewusste Vollendung der Religion als Höherentwicklung und als Rückkehr auf höherer Ebene. Hier vereinigen sich Frömmigkeit und Theologie zu einer religiösen Unmittelbarkeit, die sich angemessen nicht mehr in Worten, sondern in Tönen artikuliert und mitteilt. Damit wird die Rolle der Musik, wie sie in den Gesprächen des geselligen Kreises konturiert wird, bruchlos integriert. 86 Denn auch die Musik bringt Schleiermacher in Zusammenhang mit der Geschlechterkomplementarität, wenn Eduard die Tonarten Dur und Moll mit Männlichkeit und Weiblichkeit parallelisiert. 87

6. Frömmigkeit, Religion und Geschlecht 6.1. Die Rolle Sophies Von den Kindern rückt allein Sophie - die „kleine Prophetin" - in den Vordergrund, mit einem umso wichtigeren Part für die gesamte Erzählung. Das Thema Kindsein und Rückkehr zur Kindheit spielt in der Weihnachtsfeier zusammen mit dem Thema „Mutterschaft" eine wichtige Rolle. Beide Bereiche berühren nur mittelbar das Thema der Geschlechtscharaktere, müssen indes sowohl von ihrer Bedeutung für den Text wie von ihrer inhaltlichen Verknüpfung her bei dem Komplex von Religion und Geschlecht mitbedacht werden. Sophie wird immer wieder zur Initiatorin von Gesprächen der Erwachsenen oder deren Gegenstand, treibt durch ihre Handlungen den Abend gestalterisch mit voran und gibt einige sehr pointierte Deutungen bzw. Aussagen in den Gesprächen über Musik und Religion. Sophie scheint kurz vor der Pubertät zu stehen 88 und gibt bei aller Klugheit, die Schleiermacher keineswegs als Altklugheit erscheinen lassen

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Vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 63-65, insbesondere dung von Ton und Gefühl: „Denn jedes schöne Gefühl hervor, wenn wir den Ton dafür gefunden haben; nicht das ösen Gefühl ist die Musik am nächsten verwandt." (a.a.O.,

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Vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 65. Patsch weist darauf hin, dass Schleiermacher diesen Gedanken wohl von dem Komponisten Reichardt übernommen habe (vgl. Patsch, Einführung, KGA 1/5, LII, Anmerkung 197). Vgl. dazu Eduards Schilderung ihres Umgangs mit den biblischen Geschichten, die zwischen kindlicher Märchenhaftigkeit und erwachender jugendlicher Skepsis schwankt: „[...] wenn in einzelnen Momenten schon das Mädchen die Oberhand gewinnt über das Kind [...]" (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 58). Eduard betont auch, dass Sophie „[...] kein bloßes Kind ist, [...] sondern sie ist ein Mädchen" (Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 68).

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die Äußerungen zur Verbintritt nur dann recht vollständig Wort [...]. Und grade dem religi63).

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Die Weihnachtsfeier

will, 89 mit ihrer Lebhaftigkeit und vor allem mit ihrer dezidierten Abneigung gegen typisch weibliche Beschäftigungen wie Handarbeiten, nicht das Ideal eines fügsam-braven bürgerlichen Mädchens ab. Sie erscheint im Gegenteil als aktives Mädchen mit einem klaren eigenen Willen. 90 Sophie ist auf der Handlungsebene und in ihrem Verhalten weder passiv noch unbestimmt, sondern entschieden in ihren Ideen und Wünschen und erfolgreich in der Umsetzung bzw. Durchführung und weist so schon darauf hin, dass der weibliche Geschlechtscharakter keine Schwäche oder Ohnmacht impliziert. 91 Sophie repräsentiert in spezifischem Sinn das Kind zwischen diesen Erwachsenen, während die beiden Söhne von Agnes, Anton und sein jüngerer Bruder, nur eine Nebenrolle haben. Richardson macht darauf aufmerksam, dass Anton als Sophies komplementäres Gegenüber auftritt. 92 Doch mir scheint, dass Anton nur schwach gezeichnet ist und sehr schnell in den Hintergrund tritt, während Sophie die Szene als das Kind beherrscht. 93 Ihr weibliches Geschlecht ist dabei nicht zufällig für die Funktion, die sie einnimmt. Das Kind, das durch sein Kindsein auf der Handlungsebene eine zentrale und singuläre Position einnimmt, und das den rechten Kindersinn verdeutlicht, der den Zugang zum Gottesreich ermöglicht, ist ein Mädchen. Sophie vereinigt ungeachtet ihres fehlenden Reflexionsvermögens 94 die kindliche Spontaneität des reinen Gegenwärtigseins mit weiblicher Rezeptionsfähigkeit und Intuition für das Religiöse. Sie zeigt eine kind-

89

Vgl. Patsch, Einführung, KGA 1/5, LIV, der aus einem Brief an Henriette Herz vom 17. Januar 1806 zitiert. Sie sei von Schleiermacher „rein kindisch" gemeint (s. ebd.).

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Massey interpretiert die Person der Sophie in der Weihnachtsfeier mit Hinweis auf den starken Bezug auf Novalis (Marienlieder) als patriarchale Vereindeutigung von Novalis' Sophie-Bild: Die Sophie der Weihnachtsfeier sei eine domestizierte Sophia, die zusammen mit einem Marienbild, das allein die mütterlichen Aspekte betone, eine Beziehung von Weiblichkeit und Religiosität repräsentiere, die in ein bürgerliches Familienbild passe (vgl. Massey, Soul, 136-146). Patsch dagegen verneint, dass Sophie eine Anspielung auf die Sophie in Novalis' Heinrich von Ofterdingen und damit auf Novalis Braut Sophie von Kühn enthalte (vgl. Patsch, Einführung, K G A 1/5, LIV). Auch die erwachsenen Frauen erwecken keineswegs den Eindruck von Handlungsunfähigkeit oder Schwachheit. Vgl. Richardson, Role, 145.

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Darin kann man m.E. bereits einen Hinweis auf die Nähe von Weiblichkeit und Frömmigkeit sehen. Leonhardts Frage, welches Gefühl, Freude oder Trauer, sie vorziehe, macht Sophie unruhig und unwillig, gerade weil sie - für Leonhardt unverständlich - ganz in ein e m gegenwärtigen reinen Gefühl, sei es Freude oder Traurigkeit, aufgeht („[...] aber am liebsten wäre ich immer das, was ich jedesmal bin.") und nicht über ihre vergangenen Gefühle reflektiert. Sie ist weder willens noch in der Lage auf Leonhardts Fragen nach ihrem Gefühlszustand zu antworten (vgl. Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 67f.).

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liehe Frömmigkeit als spontanes, rein gegenwärtiges Gefühl ohne Drang zur Reflexion. Sophie repräsentiert die „natürliche" kindliche (d.h. im Mädchen sich entwickelnde) Religiosität.95 Gegen die Besorgnis Leonhardts, Sophie neige zur frommen Schwärmerei, verweist ihr Vater auf ihre Natürlichkeit und darauf, dass sie keine Neigung zum Kirchgang empfinde.96 Dagegen zeichnet Sophie sich durch eine große Liebe zur Musik aus, auch ein Indiz für ihr frommes Gefühl. Zugleich ist diese Neigung zur Musik sehr eigen, verbindet eine große Liebe und Hingabe mit „schroffem" Unterscheidungsvermögen und Einseitigkeit.97 Ihre Gesangstechnik manifestiert die fromme Andacht Sophies: „Bey der schon erwähnten Abneigung gegen weibliche Arbeiten, zeigt das Kind ein entschiedenes Talent zur Musik; aber auch eben so beschränkt als groß. [...]. Nur selbst ausüben mag sie nicht leicht etwas, als was im großen Kirchenstil gesezt ist. [...] Hier weiß sie jedem Tone sein Recht anzuthun, jeder tritt mit kaum sich losreißender Liebe von dem Andern heraus, und steht dann doch selbstständig da in gemeßner Kraft, und räumt dann wieder, wie mit einem frommen Kusse, dem nächsten seine Stelle. [...] Man kann es kaum anders nennen, auch ganz abgesehen von den Gegenständen, als daß sie mit Andacht singt, und jeden Ton mit demüthiger Liebe98 wartet und pflegt." 99

So wird sie für die Erwachsenen in der Tat in gewisser Weise als eine „kleine Prophetin" zur kindlichen Mittlerin, die deshalb auch von Josef ausdrücklich miteinbezogen wird in die gemeinsame Feier.100 In Sophie verquicken sich Kindsein und die Anlage des weiblichen Geschlechtscharakters, die von den Erwachsenen anschließend unter der Frage der spezifischen religiösen Entwicklung von Frauen und Männern diskutiert wird.

95

Massey charakterisiert ihre Frömmigkeit als „natural because it is not tied to any particular doctrine or external thing. Hers is a spontaneous religious joy, a feeling of harmony, like that evoked by music." (Massey, Soul, 141). 96 „Zur Kirche hat sie nicht einmal besondere Lust. Man singt ihr dort zu schlecht, und das Uebrige versteht sie nicht, und es macht ihr Langeweile." (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 54) „Wirfinden sie natürlich, und so ist auch in der That die Gesinnung ihr natürlich. Was so kommt, denken wir, kann man auch ungestört der Natur überlassen." (ebd.). 97 Weihnachtsfeier, KGA 1/5,46: „[...] ο große Musik! Weihnachten fir ein ganzes Leben!" 98 Als „demüthige Liebe" wird die Maria entsprechende Mutterliebe charakterisiert (vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 66). 99 Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 47. 100 Vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 98.

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Die Weihnachtsfeier

6.2. Die Verbindung von Frömmigkeit und Weiblichkeit Die Rolle Sophies könnte vermuten lassen, dass nicht das Geschlecht, sondern kindliche Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit entscheidend für wahre Frömmigkeit sind: „Das hat sie uns doch deutlich gezeigt [...] welches der Kindersinn ist, ohne den man nicht ins Reich Gottes kommen kann; eben dies, jede Stimmung und jedes Gefühl für sich hinnehmen und nur rein und ganz haben wollen."101 Doch Eduard hakt hier ein und betont Sophies geschlechtliche Zugehörigkeit. 102 Er tritt für die Verbindung von Frömmigkeit und weiblichem Geschlecht ein: Zum einen ist Sophies Kindersinn der eines Mädchens, und zum anderen kennzeichnet den weiblichen Geschlechtscharakter die Einheit des Daseins und Unmittelbarkeit des Gefühls, die zum „Kindersinn" gehören. Der Dialog im Freundeskreis wendet sich dank des spöttischen Leonhardt der konkreten Frage zu, welches Geschlecht den besseren Zugang zum Christentum habe. Denn dieser beginnt mit dem Hinweis, dass die christliche Aufforderung zur Buße der männlichen Entwicklung entspreche, die Männer also dadurch einen besseren Zugang zum Christentum hätten. Diesem Gedanken stellt Karoline die Ähnlichkeit der weiblichen Entwicklung mit derjenigen Jesu Christi entgegen, der darum schon immer zum „Schuzherr der Frauen"103 avanciert sei und von den Frauen geliebt werde - sie stellt also eine privilegierte Beziehung der Frauen zu Christus fest, die auf Ähnlichkeit und Liebe beruhe. In Karolines positiver Inanspruchnahme des negativ konnotierten Sprichwortes, dass Frauen immer Kinder bleiben, wird m.E. eine besondere Ironie sichtbar. 104 Gegen die Geringschätzung des Kindlichen stellt sie die ungebrochene Verbindung von Frauen zum Kinderdasein als Chance einer kontinuierlichen religiösen Entwicklung dar, wie das Mädchen Sophie sie verkörpert. Ernst führt den Gedanken fort, indem er Weihnachten als „unmittelbare Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen" deutet, „bei welcher es also keines Umkehrens zueiter bedarf."105 Friederike bekräftigt die These, dass Frauen keiner Umkehr mehr bedürfen, weil sie in ihrer Ungebrochenheit des reinen kindlichen Gefühls einen unmittelbaren Zugang zu Christus und zur Frömmigkeit 101 Weihnachtsfeier, KGA1/5, 68. 102

„[...] nur dass sie kein bloßes Kind ist, und dies also auch nicht der ganze sondern sie ist ein Mädchen." (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 68). 103 Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 70. 104 Vgl. Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 70f. 105 Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 71.

Kindersinn,

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hätten, mit der Beobachtung, dass das Weihnachtsfest in der Darstellung des Göttlichem im Kind(lichen) bestehe und die Frauen die eigentlichen Trägerinnen des Weihnachtsfestes seien. 106 Auf der Handlungsebene entspricht dem die Rolle und die Beziehung von Ernestine und Sophie als den Mittlerinnen, die in klarer Differenz zum Urbild Christus dennoch eine wesenhafte Beziehung dazu besitzen und so in der Gegenwart anschaulich und zugänglich machen. M.E. weist die Eingebundenheit der beiden in das Ensemble des Freundeskreises, insbesondere durch die Bezüge, die die anderen Frauen herstellen, darauf hin, dass der gegenwärtige Zugang zum Göttlichen ungeachtet aller wesensmäßigen Zugangsmöglichkeiten grundsätzlich vielgestaltig ist und sich gemeinschaftlich ereignet.

6.3. Mutterschaft und Weihnachten Mit Sophie kommt auch die erste Deutung des Weihnachtsfestes im Text, und zwar durch den Erzähler: Weihnachten sei „recht eigentlich das Kinderfest"107. Doch dieser Deutung, die später vor allem von Leonhardt in seiner Rede aufgegriffen wird, folgt wenig später aus dem Munde Sophies die Einführung des zweiten Motivs, das für die Erzählungen der Frauen im Mittelpunkt steht: die Mutterliebe und die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind: „[...] ο Mutter! Du könntest eben so gut die glükliche Mutter des göttlichen Kindleins sein, und thut es Dir denn nicht weh, daß Du es nicht bist? Und ist es nicht deshalb, daß die Mütter die Knaben lieber haben? Aber denke nur an die heiligen Frauen, welche Jesum begleiteten, und an Alles, was du mir von ihnen erzählt. Gewiß, ich will auch eine solche werden, wie du eine bist." 1 0 8

In diesem Ausruf Sophies wird zum ersten Mal das Marien-Thema angeschlagen, das dann auch musikalisch mit den Marienliedern von Novalis durch Friederikes Klavierspiel im Raum erklingt. Die Äußerung Sophies lässt sogleich in einer großen Breite die Möglichkeit der Vergegenwärtigung und Identifikation wie die unaufhebbare Differenz anklingen, die später in den Erzählungen genauer konturiert werden. 109 106 „Es ist offenbar genug, daß überall Frauen und Mädchen die Seele dieser kleinen Feste sind, am meisten geschäftig dabei, aber auch am reinsten empfänglich und am höchsten erfreut. Wenn sie nur Euch überlassen wären, würden sie bald untergehn: durch uns allein werden sie zu einer ewigen Tradition." (Weihnachtsfeier, KGA1/5, 71). 107 Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 47. 108 Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 49. 109 Ebenfalls klingt m.E. eine subtile Wahrnehmung der Mutter-Tochter-Beziehung durch Schleiermacher hier an, sowohl in der Bewunderung Sophies für ihre Mutter

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Ernestine bestätigt diese Identifikationsmöglichkeit für sich und unterscheidet dabei zwischen der anthropologischen Mutter-TochterBeziehung und der religiösen Deutung. Die Mutter-TochterBeziehung 110 wird zum Ausgangspunkt einer symbolischen Identifikation, ohne die natürliche Dimension des Mutter-Kind-Verhältnisses zu stören oder gar zu überdecken: „[...] ich könnte wol auch die Mutter des angebeteten Kindes sein, weil ich in der Tochter, wie Maria in dem Sohne, die reine Offenbarung des Göttlichen recht demüthig verehren kann, ohne daß das rechte Verhältniß des Kindes zur Mutter dadurch gestört würde." 1 1 1

Ernestine nennt damit das Programm der Frauen-Erzählungen in ihrem Bezug zur vorhergehenden Unterredung, d.h. die Verbindung von Mütterlichkeit und mütterlicher Liebe mit dem Zugang und der besonderen Nähe der Frauen zum Weihnachtsfest aufgrund ihrer kontinuierlichen Entwicklung von der kindlichen Religiosität zum ,,höhere[n] Selbstbeioußtsein in der Empfindung"112. Die Erzählungen der Frauen stellen jeweils eine Mutter-Kind-Beziehung in unterschiedlicher Weise ins Zentrum. Es ist auffällig, wie häufig das Thema der Mutter-KindBeziehung und der Mutterliebe in der Weihnachtsfeier auch noch darüber hinaus angesprochen wird und damit geradezu dominiert. 113 „Aber die Mutterliebe ist das Ewige in uns, der Grundakkord unseres Wesens." 1 1 4

Diese Aussage von Agnes identifiziert Weiblichkeit mit Mutterliebe und erklärt zugleich die Mutterliebe zum geschlechtsspezifisch anthropologischen Anknüpfungspunkt des Ewigen. Hier treffen sich in der Tat der Schoß der Menschheit und der Schoß der Religion. Frauen werden zu Mittlerinnen des Absoluten und zugleich zu Hüterinnen und Pflegerinnen desselben, indem sie, aufgrund ihres Glaubens und der und der Identifikation mit ihr wie auch in der verborgenen Kritik der Bevorzugung der Söhne. 110 Interessanterweise hat für Schleiermacher das Geschlecht des Kindes in der MutterKind-Beziehung keine Bedeutung: Ernestine sieht ganz selbstverständlich ihre Mutter-Beziehung zu ihrer Tochter als Identifikationsmöglichkeit für sich an. 111 Weihnachtsfeier, KG A 1/5, 51. 112 Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 95. 113 Zumindest gegenwärtigen Leserinnen springt dabei die Kongruenz zwischen einer Weiblichkeitsvorstellung, die sich vorrangig als Mutterschaft manifestiert, und der religiösen Aufladung dieser Weiblichkeitsvorstellung über die Marienvorstellung ins Auge, so dass sich der Gedanke an die Funktionalisierung des Marienbildes innerhalb der bürgerlichen Geschlechterordnung bis hin zu Parallelen in der Gegenwart geradezu aufdrängt. Selbst wenn Schleiermacher biographisch diese Wirkung nicht intendiert hat, hat die Weihnachtsfeier vermutlich zur Überhöhung der Frau als Mutter auch im Protestantismus ihren Teil beigetragen. 114 Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 65.

Frömmigkeit Religion und Geschlecht

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mütterlichen Liebe, die höhere Dimension in der natürlichen suchen und anschauen: „Und glaubst du denn, die Liebe geht auf das, wozu wir die Kinder bilden können? [...] Nein, sie geht auf das Schöne und Göttliche, was wir in ihnen schon glauben, was jede Mutter aufsucht in jeder Bewegung, sobald sich nur die Seele des Kindes äußert."115 Theologisch ist mit dieser „protestantischen Mariologie" eher die Soteriologie als die Christologie angesprochen. Im Unterschied zum passivischen Grundduktus der Rechtfertigungslehre transportiert das Bild der Maria als Mutter des göttlichen Kindes ein starkes Element machtvoller, lebensspendender Verbundenheit, ein Moment von Teilhabe, die aktive Teilnahme, Partizipation und in der Mutter-Kind-Beziehung auch (schützende) Überlegenheit bedeutet. 116

6.4. Religion und Geschlecht Betrachtet man die verschiedenen Elemente im Uberblick, ergibt sich folgendes Bild: Zum einen bildet das Modell der egalitären Geschlechterkomplementarität ein starkes Strukturmoment für den Aufbau der Weihnachtsfeier und damit für die Deutung der Frauen-Erzählungen und der Männer-Reden als komplementäre Paar-Konstellationen in einer Stufenfolge. Darin repräsentieren Frauen aufgrund des weiblichen Geschlechtscharakters die Frömmigkeit, während Männer die (wissenschaftliche) Theologie repräsentieren. Beide ergänzen und durchdringen sich jeweils zu einer Gesamtheit, einer Form protestantischen Christentums, in dem sich eine bestimmte Frömmigkeitsgestalt und eine bestimmte Theologie wechselseitig entsprechen, und innerhalb dessen verschiedene Stufen möglich sind. Die verschiedenen Stufen spiritueller Entwicklung und theologischer Erkenntnis artikulieren sich sprachlich narrativ oder diskursiv, in ihrer höchsten Stufe jedoch kommen Frömmigkeit und Theologie wieder zu einer Einheit, die sich nicht mehr sprachlich artikuliert, sondern musikalisch. Quer zu dieser strukturellen Deutung verlaufen das Motiv der Kindheit (mit der Akteurin Sophie und dem entsprechenden Gespräch der Erwachsenen) sowie das Motiv der Mutterliebe bzw. Mutter-Kind-

115 Weihnachtsfeier, KGA1/5, 66. 116 Dieses machtvolle Moment des Marienbildes nehmen katholische feministische Theologinnen durchaus positiv auf, wenn sie Maria als Vorbild des Glaubens hervorheben. Für die evangelische Theologie stellen wohl die synergistisch-aktivischen Konnotationen, die sich im Mutterbild finden, eine eigene Schwierigkeit dar.

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Beziehung. 117 Diese beiden Motive sind nicht auf wechselseitige Ergänzung hin angelegt, sondern betonen die Geschlechterdifferenz als Verschiedenheit, in der eine Dominanz des Weiblichen gegeben ist. Was bedeutet dies im Blick auf das Verhältnis von Frauen und Männern als religiöse Subjekte, also als Subjekte der Frömmigkeit und der Theologie? Zum einen kommt den Frauen eine ungebrochene Verbindung zur Kindheit und damit zum „Kindersinn" zu, der einen vorreflexiven Zugang zum Religiösen hat, wie sich am Beispiel Sophies zeigt. Das Motiv der Kindheit bedeutet in religiöser Hinsicht, dass das Absolute in kindlich vorreflexiver Gegenwärtigkeit erfahren wird. Frauen, die nach diesem Motivstrang der Weihnachtsfeier immer Kinder bleiben, haben also einen anderen Zugang zur Religion als Männer. 118 Die Kontinuität ihrer Frömmigkeit bringt die Frauen in eine spezifische Nähe zu Christus, der, obgleich männlichen Geschlechts, nicht die männliche Gebrochenheit, sondern ein ungetrübtes Gottesbewusstsein besitzt. 119 Weibliche Glaubensweisen wären dann durch ein Moment ursprünglicher Einheit und Nähe zum Göttlichen ausgezeichnet, wie sie sich urbildhaft in Jesus Christus manifestieren. Den Frauen fehlt jedoch die Erfahrung des Bruchs und damit der Differenz, die den Zugang zur theologischen Reflexion öffnet. Zum anderen steht den Frauen qua Geschlechtscharakter grundsätzlich die Möglichkeit der Mutterschaft und der Mutterliebe als natürlicher Anknüpfungspunkt der Frömmigkeit offen, wie sie Maria als exemplarische Glaubende symbolisiert. Die Mutterliebe ist ein ähnliches Medium des Religiösen wie der Kindersinn, wenn auch in einer deutlich anderen Färbung. Sie stellt die demütige, andächtige Liebe dar, die - als Pendant zum Kindersinn - im Kind das „Schöne und Göttliche" oder mit den Worten Eduards „die menschliche Natur [...],

117 Quapp, der m.W. als erster die Geschlechterdifferenz in ihrer theologischen Bedeutung für das Verständnis der Weihnachtsfeier fruchtbar gemacht hat, konzentriert sich auf den Differenzgedanken und leitet daraus gewissermaßen geschlechtsspezifische Theologien ab: „Sie [Gespräche über den Unterschied von Frauen und Männern in der religiösen Entwicklung, EH] haben die Funktion, darauf vorzubereiten, daß die geschlechtsspezifischen Unterschiede als nicht zu leugnende anthropologische Basis dementsprechende verschiedene Christus-Beziehungen, Weihnachtsvorstellungen, ja letztlich Christologien nach sich ziehen." (Quapp, Barth, 25). 118 „Aus der Bestimmung dass die Frauen immer es zu werden. Frauen burtsgedanken; Männer

des Wesensunterschiedes zwischen Mann und Frau folgt letztlich, Kinder bleiben, wohingegen die Männer erst umkehren müssen, um betonen daher am Fest ihrer Eigenart entsprechend den Wiedergedie Rückkehr zur Kindheit." (Quapp, Barth, 45).

119 Sophies Andeutung über die Jüngerinnen Jesu deute ich als Ausdruck dieser besonderen Nähe der Frauen zu Jesus, die Schleiermacher hier behauptet: „Aber denke nur an die heiligen Frauen, welche Jesum begleiteten, und an Alles, was du mir von ihnen erzählt." (Weihnachtsfeier, KGA 1/5, 49).

Frömmigkeit, Religion und Geschlecht

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angesehen und erkannt aus dem göttlichen Princip"120 wahrnimmt und verehrt. So ist die Mutterliebe, die für Schleiermacher offensichtlich zum Wesen jeder Frau gehört, für Frauen selbst ein unmittelbarer, intuitiver Zugang zur Religion. 121 Über die männlichen Zugangsmöglichkeiten oder Frömmigkeitsweisen wird dagegen weniger ausführlich gehandelt. Im Gegensatz zur ungebrochenen weiblichen Frömmigkeit, scheint es für Männer, idealtypisch gesehen, keine bruchlose Frömmigkeit zu geben, und es wird ihnen kein vergleichbarer unmittelbarer Zugang aufgezeigt wie derjenige der Mutterliebe. 122 Für die Männer ist der Bruch mit dem präreflexiven Kindersinn typisch, also die Erfahrung von Diskontinuität und Distanz. Sie bedürfen einer Umkehrbewegung hin zur Kindheit, einer Wiedergeburt, die dann jedoch auf einer höheren Stufe erfolgt und die theologische Reflexion hervorbringt. Männliche Glaubensformen besäßen in der Konsequenz dieses Gedankens stets ein Moment von vermittelter Differenz in der Einheit und Nähe zum Göttlichen, wie es die Bewegung von Bruch und Wiedergeburt darstellt. Sie tendierten damit zur wissenschaftlichen Theologie als ihrer adäquaten Entfaltung und Ausdrucksweise. Bei dieser Gegenüberstellung bleiben m.E. mehrere Fragen, die in der Weihnachtsfeier selbst nicht diskutiert werden, sondern auf die es lediglich kleine Hinweise gibt. Dies betrifft das Verhältnis von weiblicher und männlicher Frömmigkeit in idealtypischer Hinsicht wie im 120 Weihnachtsfeier, K G A 1/5, 94. 121 Die unmittelbare Koppelung von Mutterliebe als exemplarischer Repräsentation bzw. Symbolisierung christlicher Liebe und Gottesverehrung mit dem Modell der Geschlechtscharaktere prägt das Frauenbild und damit das Verständnis von Weiblichkeit, das in der Weihnachtsfeier dargestellt und damit zeitgenössischen Leserinnen und Lesern vorbildhaft nahegebracht wird. Ich unterscheide dabei zwischen der textimmanenten Bedeutung, die im folgenden im Mittelpunkt steht, und einer Außenperspektive, die die Verbindung von Weiblichkeit und Mutterschaft in der Weihnachtsfeier im Zusammenhang der Strukturen der bürgerlichen Geschlechterordnung und Familie betrachtet. In diesem Kontext wirkt die Verbindung von Weiblichkeit und Mutterschaft in der Weihnachtsfeier zweifellos weit weniger subversiv als die Weiblichkeitsbilder in den Vertrauten Briefen, da sie sich spannungslos in ein patriarchales bürgerliches Familienkonzept einpassen lässt. 122 Barth interpretiert durch eine (so in der Weihnachtsfeier nicht belegbare, aber psychologisch interessante) Verschränkung von Mutter/Frau bzw. Kind/Mann: „[...] die Frau im Manne das göttliche Kind, der Mann in der Frau die reine Mutter verehrend, beide vereint sich selber Anschauung edelster, erhöhtester Menschlichkeit." (Barth, Weihnachtsfeier, 474). Damit suggeriert er, dass in der Weihnachtsfeier die Verehrung der göttlichen Mutter für Männer ein Weg der Rückkehr zur Kindheit und damit zur Frömmigkeit sein könnte. Quapps Auslegung legt eine solche Folgerung nahe, aber er zieht diesen Gedanken nicht aus. Die frühromantisch aufgeladene Atmosphäre der Weihnachtsfeier, wie sie sich insbesondere in dem Novaliszitat manifestiert, lässt m.E. für diese weitergehende Deutung Platz.

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Die Weihnachtsfeier

Blick auf die strukturellen Zuordnungen für Frauen und Männer, die sich daraus ergeben. So scheint mir, dass Schleiermacher die vermittelnde Funktion des Weiblichen für den Bereich der Religion überhaupt und insbesondere für deren Erschließung für Männer festhält, sei es in der Rolle der Frauen für das Feiern des Weihnachtsfestes oder in der Figur des Mädchens Sophie wie in der mariologischen Konnotation der Erzählungen. Im Vorgriff auf die Untersuchungen der nächsten Kapitel ist dabei deutlich zu unterscheiden zwischen einer kulturellen Kodierung des religiösen Bereichs und den sozialen Strukturen, die diesen bestimmen. Denn die manifeste weibliche Kodierung der Frömmigkeit und der Religion impliziert auf der Ebene sozialer Strukturen keine Frauenherrschaft in der Kirche als Institution oder gar in der Theologie als Wissenschaft. Hier regiert vielmehr das bürgerliche Prinzip der Zuordnung von öffentlichem Bereich als Sphäre des Männlichen und der Männer und dem häuslichen Bereich als Sphäre des Weiblichen und der Frauen. Die Frage, welchen Zugang Frauen zur reflexiven Erfassung und Formulierung des Religiösen in Gestalt der Theologie haben können, überschreitet den thematischen Horizont der Weihnachtsfeier ebenso wie die Frage nach ihrer Rolle im kirchlichen Raum. Die Weihnachtsfeier zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie das christliche Weihnachtsfest ganz im Raum privater Geselligkeit und im erweiterten Familienkreis feiert. Die öffentliche kirchliche Begehung erscheint allein in den Erzählungen und Reden als vorausgesetzter Hintergrund und Rahmen, der für die einzelnen Figuren der Dialognovelle von unterschiedlicher Bedeutung ist. Die Querverbindungen von Religion und Geschlecht, die in vielen Facetten die Weihnachtsfeier durchziehen und bestimmen, sind deutlich geworden. Nun geht es darum, diese Linien genetisch und systematisch auszuziehen, ihrer Entstehung und Ausbildung in Schleiermachers Werk nachzugehen und vor allem sowohl die Bedeutung innerhalb von Schleiermachers Philosophie und Theologie selbst auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte zu klären wie auch nach den Anregungen für eine systematisch-theologische Reflexion über die Bedeutung der Geschlechterdifferenz in der gegenwärtigen Theologie zu fragen.

III Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz 1. Vorbemerkung Im vorausgehenden Kapitel habe ich aufgewiesen, wie Schleiermacher in seinem literarisch-theologischen Text Die Weihnachtsfeier von 1806 eine enge Verbindung von Religion und Geschlecht literarisch darstellt und inhaltlich thematisiert und welche Fragen sich daraus ergeben. In den folgenden Kapiteln soll diese Verbindung nun hinsichtlich ihrer Genese, ihrer inhaltlichen Entfaltung und ihrer systematischen Bedeutung untersucht werden. Die zugrunde liegende These lautet, dass die Geschlechterdifferenz 1 tief in Schleiermachers Denken eingewoben ist und nicht etwa nur ein Konzept, das sich auf der Oberfläche befindet und leicht abgelöst werden kann. Geschlechterdifferenz taucht nicht nur als wesentliche Verschiedenheit des männlichen und weiblichen Geschlechtscharakters in Schleiermachers Vorstellung von Freundschaft, Liebe und Ehe auf, sondern wirkt als explizite und implizite Genderkodierung 2 bis in die grundlegenden Leitbegriffe von Schleiermachers Denken hinein. In welcher Weise Schleiermachers philosophisches und theologisches Denken von der Vorstellung der Geschlechterdifferenz geprägt und genderkodiert ist, soll mit einem Durchgang durch die relevanten Texte bzw. Textkomplexe aufgezeigt werden. Die inhaltliche Rekonstruktion von Schleiermachers Denken der Geschlechterdifferenz bedarf einer vorangehenden historischen Verortung im zeitgeschichtli-

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Ich spreche in der Regel von Geschlechterdifferenz im Sinn einer kategorialen Bezeichnung, die im Zusammenhang mit der Analyse von Schleiermacher die Vorstellung einer elementaren Binarität der menschlichen Gattung miteinschließt. Schleiermachers eigenen Ausdruck „Geschlechtsdifferenz" verwende ich der Klarheit halber nur in Zitaten. Zur Debatte um die Kategorie Geschlecht und das Verständnis von Geschlechterdifferenz in der gegenwärtigen feministischen Theorie vgl. Kap. I. Unter Genderkodierung verstehe ich die Konnotation eines Begriffs oder Sachverhaltes, in der dieser Begriff oder Sachverhalt im Rahmen eines binären Geschlechtermodells dem Bereich des Weiblichen oder Männlichen zugeordnet wird. Diese Zuordnung ergibt sich aus der sozial strukturierenden und symbolisch ordnenden Funktion, die die Kategorie Geschlecht auf der individuellen, sozialen und kulturellen Ebene im Rahmen eines sozialen Systems ausübt. Zur Abgrenzung von Diskurs, Semantik und Code in Aufnahme von Foucault und Luhmann vgl. Greis, Jutta, Drama Liebe. Zur Entstehungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1991,15f.

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chen, gesellschaftlichen und biographischen Kontext, um ihre Verflochtenheit in zeitgenössischen Debatten und in die gesellschaftliche Entwicklung deutlich zu machen. Dabei lassen sich in den Texten zwei Stränge unterscheiden: die ethisch-anthropologische Dimension, in der die Geschlechterdifferenz selbst Thema und Gegenstand ist, und die religionsphilosophisch-theologische Dimension, in der Metaphern und Konnotationen die explizite oder implizite genderspezifische Kodierung von Begriffen nahelegen. So wird sich die Untersuchung von Schleiermachers Jugendschriften, in denen die Geschlechterthematik kaum eigens hervortritt, über die Darstellung der ausdrücklichen Thematisierung in Schleiermachers wissenschaftlichen Texten bis zur Untersuchung möglicher Genderkodierungen seines theologischen Hauptwerkes erstrecken.

2. Historische Verortung Schleiermacher entwickelt sein Denken in einer Zeit des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs und der Formierung der europäischen Moderne. Dies betrifft die Diskurse in der Philosophie und den Naturwissenschaften, in der Literatur und den anderen Künsten, es betrifft die gesellschaftlichen Lebensformen und ökonomischen Verhältnisse ebenso wie die politische Landkarte und die Machtverhältnisse zwischen Adel und Bürgertum. Das Ancien Regime des feudalen Europa in den Jahrzehnten des ausgehenden 18. Jahrhunderts, seine politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen transformieren sich unterschiedlich schnell bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Territorialstaaten, in denen das Bürgertum und der Wandel zu einer leistungsfähigen Verwaltung und industrieller Wirtschaftsweise die Dynamik und Richtung des Modernisierungsprozesses angeben. Im Zuge dieses Umbruchs kommt es zu einer Neuformierung der Geschlechterverhältnisse, die die Moderne entscheidend mitkonstituieren. Obgleich die Geschlechterdifferenz zu den grundlegenden Kategorien abendländischer Kultur gehört, sind die inhaltlichen Vorstellungen von Geschlecht, von Frausein und Mannsein, von Männlichkeit und Weiblichkeit keineswegs über die Jahrhunderte konstant geblieben. Ebenso hat sich die Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Verhältnis zu anderen, personale Identität und gesellschaftliche Stellung strukturierenden Leitkategorien verschoben. Die Zeit von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein. In diesen Jahren vollzieht sich die Transformation der frühneuzeitlichen Geschlechterverhältnisse und -bilder zur bür-

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gerlichen Geschlechterordnung mit ihren Vorstellungen vom naturgegebenen Wesen von Frau und Mann. Dabei sind gerade die Jahre vor und nach der Jahrhundertwende um 1800 interessant, weil in dieser Zeit noch verschiedene Weiblichkeitsvorstellungen miteinander konkurrieren. 3 Friedrich Schleiermacher lebte in einem nicht nur theologie-, sondern auch geschlechtergeschichtlich außerordentlich interessantem Zeitraum. Dies verlangt nicht nur eine systematische Untersuchung seiner Texte auf ihren Ideengehalt hin, sondern auch deren historische Verortung hinsichtlich der Formierung der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse wie hinsichtlich der dabei aufbrechenden Debatten um die „Frauenfrage". Nicht zuletzt ist sich die Forschung einig, dass die Interpretation von Schleiermachers Werk und auch einzelner Texte nicht ohne biographische Einordnung erfolgen kann, um dem engen Zusammenhang von Leben und Werk bei Schleiermacher gerecht zu werden. 4 Die Vielseitigkeit und Breite seiner Gedankenwelt entwickelt sich im Austausch mit dem, was ihm begegnet. Dabei gibt Schleiermacher seine eigenen Grundintentionen keineswegs auf, sondern zeichnet sich durch konstruktive Aufnahme und Integration, durch Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung seiner Ideen aus. Der Zusammenhang von Leben und Werk gilt umso mehr für eine Fragestellung, die diesen Zusammenhang bereits in sich impliziert. Die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht und des Verständnisses von Weiblichkeit und Männlichkeit als ihrer inhaltlichen Konkretion bezieht die eigene Person in ihrer unhintergehbaren geschlechtlichen Bestimmtheit und ihre vorgängigen biographischen und gesellschaftlichen Erfahrungen mit ein. 5 So werden in einem ersten, 3

„Das ausgehende 18. Jahrhundert stellt sich [...] als ein historischer Zeit-Raum dar, in dem verschiedene Konzeptionen bürgerlicher Weiblichkeit miteinander konkurrierten." (Frevert, Ute, Menschenrechte und Frauenpflichten im ausgehenden 18. Jahrhundert. Das bürgerliche Projekt, in: Dies., Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986,15-62, hier: 61f.).

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Vgl. dazu Wilhelm Diltheys Eröffnung seines Lebens Schleiermachers von 1870 (vgl. Dilthey, Wilhelm, Leben Schleiermachers, Gesammelte Schriften Bd. 13, Berlin 1970, ΧΧΧΠΙ) und zuletzt Nowak, Kurt, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 7 sowie Fischer, Hermann, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, München 2 0 0 1 , 1 5 .

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Reflexion in ihrer Nachgängigkeit ermöglicht eine gewisse Distanzierung, aber keine absolute Lösung davon. Dies gilt analog auch für mich als diejenige, die Schleiermachers Lebens- und Gedankenwelt untersucht. Insofern ist erkenntnistheoretisch die Perspektivität der Untersuchung und Darstellung unhintergehbar. Die wissenschaftstheoretische Forderung lautet entsprechend, methodisch transparent, nachprüfbar und ergebnisoffen zu arbeiten und insbesondere die eigene Position und Intention im Blick auf die Fragestellung offenzulegen. Die Intention der Erweiterung weiblicher Freiheitsräume und Handlungsoptionen sowie der Förderung der Sub-

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relativ knappen Abschnitt dieses Kapitels die historisch-biographischen Bezüge auf dem Hintergrund der Herausbildung der bürgerlichen Geschlechterordnung dargestellt, um eine Verortung der im zweiten, wesentlich längeren Abschnitt folgenden Analyse zu ermöglichen. Zuerst wird der geschlechtergeschichtliche Kontext skizziert, also die Zeit zwischen 1750 und 1850 in Deutschland als Zeit, in der mit dem Entstehen und der Befestigung der bürgerlichen Gesellschaft zugleich ein Umbruch in der Geschichte der Geschlechterverhältnisse und in der Bedeutung der Kategorie Geschlecht erfolgt. Daran schließt sich die biographische Verortung Schleiermachers und seine Einordnung in die zeitgenössische Debatte um die „Frauenfrage" an. Schleiermachers Lebenszeit fällt in eine Periode, in der sich die inhaltlichen Bestimmungen noch im Fluss befinden und literarisch wie biographisch verschiedene Weiblichkeitsvorstellungen zu finden sind. Neben der Frage, inwieweit Entwicklungen und innere Spannungen in seinem Denken von Geschlechterdifferenz zu finden sind, ist deshalb die Einordnung seiner Position innerhalb der zeitgenössischen Debatte interessant, also die Frage, ob und in welcher Weise sich Schleiermacher innerhalb bestehender Diskussionszusammenhänge über Geschlecht und Geschlechtscharakter, über das Wesen der Frau und ihre Rolle in der Gesellschaft äußerte und positionierte. Die Frage, wie sich seine Position aus feministischer Sicht 200 Jahre später ausnimmt, ist erst zum Abschluss der systematischen Untersuchung am Ende des gesamten Durchganges zu stellen.

jektwerdung von Frauen mit dem Ziel der Geschlechtergerechtigkeit bildet für mich das Movens und das leitende Erkenntnisinteresse, nach der theologischen Bedeutung der Kategorie Geschlecht zu fragen. Die Aussage der Unhintergehbarkeit der geschlechtlichen Bestimmtheit trifft auf Schleiermacher und seine Zeit zweifellos zu (vgl. dazu unten 2.1), ungeachtet der im frühromantischen Schlegelkreis möglichen literarischen Spiele mit gesellschaftlichen Konventionen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Denn selbst dieses Spiel und das darin praktizierte Überschreiten geltender Geschlechterkategorien vollzieht sich innerhalb eines Konzeptes, dass das Geschlecht vorgängig gegeben und nicht gewählt oder veränderbar sei. Für die Gegenwart, d.h. den Anfang des 21. Jahrhunderts, gilt m.E. zwar, dass die inhaltlichen Festlegungen in Bewegung geraten und Grenzen durchlässiger werden, doch die ständige performative Herstellung der Geschlechterkategorie wie die vielfältigen Subversionen werden weiterhin von den einzelnen in einem dominanten Kontext vorgängiger Zuweisung binärer Geschlechterrollen bzw. des Verfehlens dieser Zuweisung praktiziert.

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2.1. Die bürgerliche Geschlechterordnung In der frühen Neuzeit ist das Verhältnis der Geschlechter im Rahmen der Ordnung des Hauses durch biblisch-theologische Vorstellungen und durch die Ökonomie des Hauses mit ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsverteilung bestimmt, die die Herrschaft des Ehemannes und Hausvaters über Frau, Kinder und Gesinde vorsieht, aber zugleich relativ eigenständige Bereiche für die Ehefrau und Hausmutter beinhaltet. Dadurch gibt es durchaus gewisse Möglichkeiten und Freiräume zur Selbstthematisierung für Frauen der höheren Stände. Die Eheschriften Luthers, die in die Debatten des 16. Jahrhunderts über Geschlechterbeziehungen und Ehe einzuordnen sind, festigen in Deutschland definitiv die Ehe als einzige angemessene Beziehung zwischen Mann und Frau und werten den Status der Frau als „Gehülfin" des Mannes und Hausmutter auf. 6 In den philosophisch-literarischen Aufklärungsdiskursen in der Mitte des 18. Jahrhunderts wird der Mensch als solcher, als erkennendes Subjekt vor aller Sozialität, zum Thema. Die Vernunft als universalisierende, Standesgrenzen und Herkommen vorausliegende und so diese überwindende Macht macht den Menschen zum Menschen, nicht die zufällige Konstellation seiner Geburt. Die Bildung dieser Naturanlagen ergibt sich daraus konsequent als Aufgabe und als Weg zur Ausbildung wahren Menschseins. Die naturrechtlich-aufklärerische Forderung der Gleichheit aller Menschen wird jedoch nicht selbstverständlich auf die Geschlechterfrage angewandt. Anders als Herkunft und Stand wird das Geschlecht zu einer Scheidelinie, die intensive Debatten provoziert um das Wesen der Frau - das Wesen des Mannes war selbstverständlich identisch mit dem Menschen als Vernunftwesen. 7 Dieser Streit um die Frauenfrage, die „Querelle des Femmes"s spielt

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„Der Wandel der Institution Ehe im Verlauf der Frühen Neuzeit ist nicht nur Indikator, sondern Schlüssel zum Verständnis des gesellschaftlichen Wandels von der ständischen zur »bürgerlichen« Gesellschaft. In der Reformation wurde Ehe zur ersten Ordnung Gottes und zur zentralen gesellschaftlichen Ordnung." (Wunder, Heide, „Er ist die Sonn', sie ist der M o n d " . Frauen in der frühen Neuzeit, München 1992, 88). Zur Verankerung der Ehe als Gottes Schöpfungswerk und Ordnung vgl. Luther, Martin, Eine predigt vom Ehestand, gethan durch D. Martinum Lutherum seliger. Anno 1525. zu Wittemberg, W A 17.1, 12-29, hier: 12-14 sowie Scharffenorth, Gerta, „Freunde in Christus". Die Beziehung von Mann und Frau bei Luther im Rahmen seines Kirchenverständnisses, in: Dies./KlausThraede (Hg.), „Freunde in Christus werden...". Die Beziehung von Mann und Frau als Frage an Theologie und Kirche, Gelnhausen/Berlin/Stein 1977, 183-277. Vgl. Steinbrügge, Liselotte, Wer kann die Frau definieren? Die Debatte über die weibliche Natur in der französischen Aufklärung, in: Ute Gerhardt u.a. (Hg.), Diffe-

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

in der gebildeten, wissenschaftlichen und künstlerischen Welt des 18. Jahrhunderts eine große Rolle. Dabei lässt sich bei aller Differenzierung der einzelnen Positionen, auf die später noch einzugehen ist, gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Veränderung der Argumentationslage beobachten. Die Positionen verschieben sich im Zuge der Diskussion weg von einem „cartesianischen Feminismus"9, in dem die Unterschiede der Geschlechter im Blick auf die Universalität der Vernunft als zu überwindendes Vorurteil gesehen werden, hin zu anthropologischnaturwissenschaftlichen, ja medizinischen Begründungen der körperlichen und intellektuellen Unterlegenheit der Frau. 10 In dieser Debatte renz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht, Königstein/Ts. 1990, 224-241. 8

9 10

Die „Querelle des Femmes" als Streit um die intellektuelle und moralische Ebenbürtigkeit des weiblichen Geschlechtes umfasst einen wesentlich weiteren Zeitraum von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert in ganz Europa. Der Anfang und noch mehr der Abschluss werden unterschiedlich datiert. Die Diskussion u m 1800, insbesondere in Deutschland, gehört thematisch und was die Intensität der Debatte betrifft eindeutig zu diesem in verschiedenen Kontexten immer wieder aufbrechenden Diskurs. Der gesellschaftliche und politische Bruch der Französischen Revolution wie die veränderte Argumentationslage aufgrund der aufklärerischen politischen Gleichheitsforderung legen es nahe, von einer „erneuerten Querelle" zu sprechen. Zur Frage der Begriffs- und Forschungsgeschichte, der zeitlichen Abgrenzung, der Themen und literarischen Formen vgl. den einführenden Artikel von Bock, Gisela/Zimmermann, Margarete, Die Querelle des Femmes in Europa. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung, Querelle 2 (1997), 9-38. Vgl. auch Gössmann, Elisabeth, Einleitung. Die Gelehrsamkeit der Frauen im Rahmen der europäischen »Querelle des Femmes«, in: Dies. (Hg.), Das Wohlgelahrte Frauenzimmer (APTGF 1), München 2 1998 (1984), 9-31. Vor allem in Italien und Frankreich kam seit der Renaissance und in der Frühaufklärung mit der „Querelle des Femmes" eine Debatte über die weibliche Erziehung und Bildung und die Stellung der Frau in der Gesellschaft auf, in der der geschlechtsübergreifende Gleichheitsgedanke thematisiert wurde. Marie de Jars de Gournay formulierte in ihren beiden Publikationen (Egalite des Hommes et des Femmes 1622 und Grief des Dames 1626) als erste explizit den Gleichheitsgedanken bezüglich des Geschlechterverhältnisses (vgl. dazu FerrariSchiefer, Valeria, Frangois Poullain de la Barre und die Gleichheit der Geschlechter, in: Elisabeth Gössmann (Hg.), Kennt der Geist kein Geschlecht? (APTGF 6), München 1994, 135-175, sowie Ferrari-Schiefer, Valeria, La Belle Question. Die Frage nach der Gleichheit der Geschlechter bei Frangois Poullain de la Barre (1647-1723) vor dem Hintergrund der (früh-)neuzeitlichen Querelle des Femmes (Theologie in Geschichte und Gesellschaft 8), Luzern 1998). Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt a.M. 1991, 7. So der Göttinger Professor Ernst Brandes in seinem 1788 erschienenen Buch Geschichte des toeiblichen Geschlechts (vgl. Honegger, Ordnung, 53f.). Honegger belegt mit der Darstellung von Jakob Mauvillons Argumentation in seiner Schrift Ueber die Weiber, in der er ebenfalls mit der physischen Überlegenheit des Mannes argumentiert, daraus jedoch andere gesellschaftliche Schlüsse zieht (vgl. Honegger, Ordnung, 56), dass die Bandbreite der Argumentationen und der Bestimmung der gesellschaftlichen Position von Frauen erheblich variierte.

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zeichnet sich der Siegeszug der „modernen" wissenschaftlichen Begründung von der naturgegebenen Komplementarität der Geschlechter gegenüber der aufklärerischen Gleichheitsposition ab. 11 In Deutschland findet erst Ende des 18. Jahrhunderts, beeinflusst vom gesellschaftlichen Rollenwandel der Frauen, eine intensivere Diskussion statt. 12 In dieser Diskussion stammen die publizierten Schriften fast ausschließlich von Männern. Dabei zeichnet sich bereits eine deutliche Verschiebung der Gewichte weg von einem (früh-)aufklärerischen Feminismus wie ihn Poullain de la Barre, Mary Wollstonecraft 13 oder Theodor von Hippel 14 vertreten, hin zu einem Modell wesentlicher und in der Natur des Geschlechtsunterschiedes zwischen Frauen und Männern begründeten Verschiedenheit ab. Beide Seiten führen nichtreligiöse, naturrechtliche Argumente ins Feld, um die Beziehung der Geschlechter zu begründen. Einen nachhaltigen Einfluss übt dabei Jean-Jacques Rousseau mit seinem Erziehungsroman Emile (1762) aus, der auch in Deutschland eifrig rezipiert wird. 15

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Dabei vertraten nicht wenige Jakobiner, die sich weit öfter mit der Frauenfrage auseinandersetzten als ihre politisch konservativeren Zeitgenossen, eine naturdeterministische Position (vgl. Honegger, Ordnung, 65). Dies trifft sich mit der Beobachtung von Wunder, dass die Rechtsangleichungen in Preußen und Osterreich, die auf die Vereinheitlichung von Untertanenrechten unter Wahrung von Standesinteressen zielten, z.T. für Frauen faktisch günstiger ausfielen als in Frankreich, wie sich an der der republikanischen Gesetzgebung zeigt: „Die Berufungsinstanz »Menschenrechte« blieb für Frauen solange abstrakt, wie Bürgerrechte, d.h. insbesondere Partizipation an politischer Herrschaft und Rechtssetzung, Männern vorbehalten waren." (Wunder, Sonn, 257). Dorothea Christina Leporin war in ihrer Schrift Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten bereits 1742 als erste Frau in Deutschland öffentlich für die Befähigung der Frauen zum Studium und zum Beruf eingetreten (vgl. Leporin, Dorothea Christina, Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten, in: Elisabeth Gössmann (Hg.), Eva - Gottes Meisterwerk (APTGF 2), München 2 2000 (1995), 461-496). Die deutsche Übersetzung von Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Women von 1792 erscheint bereits 1793 (vgl. Becker-Cantarino, Barbara, Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche - Werke - Wirkung, München 2000, 24). Vgl. Jacobi, Juliane, Der Polizeidirektor als feministischer Jakobiner. Theodor Gottlieb von Hippel und seine Schrift »Uber die bürgerliche Verbesserung der Weiber«, Berlin 1794, in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760-1830, Marburg 1989, 358-372. Hippels Werk befand sich in Schleiermachers Bibliothek (vgl. Meckenstock, Günter, Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskataloges und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, besorgt von Günter Meckenstock (SchlAr 10), Berlin/New York 1993, 202). Rousseau entwirft im fünften Buch Sophie oder die Frau programmatisch das Bild der Emile zugedachten Frau und ihrer gesellschaftlichen Rolle als Geliebter, Mutter und Hausfrau. Zusammen mit seinem Roman Julie ou La Nouvelle Heloise (1761) erzielt Rousseaus psychologisierendes Frauenbild eine weitreichende Wirkung (vgl. Be-

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Diese Geschlechterdebatte bzw. die Diskussion der „Frauenfrage" vollzieht sich in Deutschland parallel zur Herausbildung des Bürgertums als neuer sozialer Gruppe und des bürgerlichen Ehe- und Familienideals, das im 19. Jahrhundert zum gesellschaftlich normativen Leitbild wird. 16 Die Entstehung der bürgerlichen Familie geht soziologisch einher mit einer Transformation der Rollen von Frauen und Männern, ideengeschichtlich mit der Ausbildung der Vorstellung polarer Geschlechtscharaktere. „Geschlecht" und die Differenz der Geschlechter werden zu Strukturkategorien, die kulturell die symbolische Ordnung der Moderne tiefgehend mitkonstituieren. Die Differenz zwischen Frau und Mann wird als qualitativ wesentliche und biologisch-natürliche verstanden und mit spezifischen Rollenzuweisungen für bürgerliche Frauen und Männer verbunden. Weiblichkeitsvorstellungen und die Kategorie „Geschlecht" erhalten gegenüber den übrigen gesellschaftlichen Strukturierungsmomenten wie Alter, Zivilstand und soziale Schicht ein neues Gewicht. 17 Sozialgeschichtlich spielt dabei der Wandel der Institution „Ehe", der schon in der frühen Neuzeit einsetzte, eine entscheidende Rolle. Sie avanciert zur zentralen gesellschaftlichen Ordnung. Die gestiegene religiöse Bedeutung seit der Reformation konvergiert mit den obrigkeitlichen Interessen: „Ehefähigkeit wurde zur Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz".18 Zugleich entwickelt die neue soziale Gruppe des Bürgertums, die sich vornehmlich aus akademisch gebildeten Verwaltungsbeamten, Pfarrern, Ärzten und Professoren herausbildet, eine vom Adel wie von Handwerk und bäuerlichem Stand deutlich abgehobene eigene Le-

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cker-Cantarino, Schriftstellerinnen, 83). Vgl. auch dazu und zu der möglichen Attraktivität von Rousseaus Konzept für Frauen Richardson, Role, 7. Eine scharfsinnige Analyse von Rousseaus programmatischen Konzepten von Weiblichkeit gibt Küster, Friederike, Sophie oder Julie? Paradigmen von Weiblichkeit und Geschlechterordnung im Werk Jean-Jacques Rousseaus, DZPh 47 (1999), 13-33. Zur RousseauRezeption in Deutschland vgl. Spitzer, Ellen, Emanzipationsansprüche zwischen der Querelle des Femmes und der modernen Frauenbewegung. Der Wandel des Gleichheitsbegriffs am Ausgang des 18. Jahrhunderts, Kassel 2002, 64-102. Obgleich dem Bildungsbürgertum um 1800 nur ein sehr geringer Prozentsatz der Bevölkerung, auch in den Städten, zuzurechnen ist, wirkte es prägend auf weite Kreise und gab im 19. Jahrhundert das Lebensmodell vor, an dem sich auch Handwerker und Kleinbürger zu orientieren suchten (vgl. Frevert, Menschenrechte, 24). So die Historikerin Heide Wunder: „Der Blick auf die Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit [...] hat gezeigt, daß in der ständischen Gesellschaft die »Kategorie Geschlecht« nicht die universelle Strukturierungskraft wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts besaß. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war die Wirksamkeit der Geschlechtszugehörigkeit nach Lebensalter, Zivilstand und sozialer Schicht gestuft." (Wunder, Sonn, 264). Wunder, Sonn, 88.

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bensweise. 19 Diese Männer lösen sich von den traditionellen Verhältnissen des „ganzen Hauses" und gehen ihrer Arbeit meist außerhalb des Hauses nach. Der Haushalt ist nicht mehr ein auf Selbstversorgung ausgerichteter Produktionsort wie in der Ökonomie des „ganzen Hauses", in dem Hausvater und Hausfrau je auf ihre Weise zum Erwerb beitragen, sondern die Ehefrau verbraucht für die Hauswirtschaft das vom Ehemann außerhalb des Hauses erworbene Geld, so dass sich Erwerbs- und Familienbereich trennen. Damit verändert sich auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung hin zu einer Unterscheidung von männlichen und weiblichen Tätigkeitsbereichen, die räumlich und sachlich voneinander entfernt sind. 20 In diesem Zusammenhang sind neue Handlungsmodelle nötig, die die herkömmlichen ständischen Strukturen des Geschlechterverhältnisses und der Ehe umdeuten und transformieren können. Dabei werden neue Weiblichkeitsvorstellungen entwickelt und ausprobiert; die Frauen des Adels wie die bäuerlichen Frauen bzw. die Frauen der Unterschichten dienen dabei als Negativbilder. 21 Die neuen Handlungsmodelle konzentrieren sich auf die verheiratete Frau, die die dreifache Aufgabe hat, Ehefrau, Mutter und Hausfrau zu sein. 22 Dabei ist vor allem die Betonung der psychisch-emotionalen Aspekte neu, die die Rolle der Mutter und Ehefrau in der liebevollen Aufzucht der Kinder und in der verständnisvoll-aufmerksamen Zuwendung zu ihrem Gat-

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Vgl. dazu Frevert, Menschenrechte, 15-62.

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Wunder arbeitet in ihrer Untersuchung zur frühen Neuzeit heraus, dass die Ökonomie des ganzen Hauses ein materielles Aufeinanderangewiesensein von Ehemann und Ehefrau bedeutet und eine Gleichwertigkeit über Werte und Ziele hergestellt wird, die beiden gemeinsam sind, aber außerhalb ihrer selbst liegen (vgl. Wunder, Sonn, 265). „Das Bürgertum des späten 18. Jahrhunderts rückte sowohl von dieser als unsittlich und unaufrichtig empfundenen Weiblichkeit der Adelskultur als auch von dem »entweiblichten« Frauentypus ab, den es bei Bauern und Unterschichten entdeckt hatte." (Frevert, Menschenrechte, 33). Eine eigene Frage ist es, inwieweit die entworfenen Weiblichkeitsvorstellungen und das Ideal der bürgerlichen Ehe gelebt wurden. Die Möglichkeiten dazu gab es nur für einen äußerst geringen Teil der Bevölkerung. Vgl. dazu Schmid, Pia, Säugling, Seide, Siff. Frauenleben in Berlin um 1800, in: Viktoria SchmidtLinsenhoff (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760-1830, Marburg 1998, 247-259. Vgl. Frevert, Menschenrechte, 20. Frevert zeichnet die Entstehung des bürgerlichen Frauen- und Eheideals konsequent als Ergebnis der Herausbildung des Bürgertums und der Wandlung vom „ganzen Haus" zur „Familie". Die Ablösung von der überkommenen Lebensweise verlangt von Männern und Frauen neue Handlungsmodelle und schafft entsprechende Bedürfnisse. Dem entspricht Wunders These, dass die Zentralstellung der Institution Ehe und der Wandel von Ehe und Familie entscheidend für den Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft gewesen seien (vgl. Wunder, Sonn, 88).

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ten verlangt. 23 Der gesellschaftliche Status von Frauen wird aufgrund familiärer Beziehungen bestimmt: Sie sind entweder Töchter oder Ehefrauen und gehören damit in die private Sphäre des Hauses; sie haben in der Regel keinen davon unabhängigen Platz im neu entstehenden öffentlichen Bereich, und für sie gelten auch nicht die neuen Kategorien, wie Bildung und individuelle Leistung, die das Selbstbewusstsein des bürgerlichen Mannes begründen. 24 Die Tätigkeit der Gattin und Mutter wird als naturhaftes Gefühl von Liebe und Fürsorge, nicht als mühevolle Aufgabe und Pflicht charakterisiert. 25 Dem liegt eine bemerkenswerte Verschiebung der gesamten Vorstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit zugrunde. Gewissermaßen unabhängig von Herkunft und Stand gebe es ein naturgegebenes Wesen der Frau bzw. des Mannes, das sich in der Ordnung der bürgerliche Ehe widerspiegele. Die Differenz der Geschlechter übersteigt nun als naturhaft gegebene alle Unterschiede des Lebensalters, der Herkunft und der sozialen Schicht. Ideengeschichtlich beschreibt diese neue Konstellation die Frage, wer die Vorstellung vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen, als erkennendem autonomem Subjekt für sich beanspruchen kann und darf: „Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts tritt also der Mensch auf den Plan; kurz darauf aber folgt ihm das Weib und damit das vertrackte Problem mit dem Geschlecht." 2 6

23

24

„Mit der Aufivertung der Familie als Ort reiner Menschlichkeit, als Antipode der öffentlichen, konkurrenzgeleiteten Sphäre verband sich die Hochschätzung einer neuen Art von Weiblichkeit, die mit den erotischen Idealen adlig-höfischer Kultur und galanter Literatur ebensoioenig gemein hatte ioie mit dem bäuerlich-handwerklichen Leitmotiv der pausenlos für ihre Wirtschaft tätigen Hausmutter." (Frevert, Menschenrechte, 22f.). „All jene Kategorien, die das bürgerliche Selbst- und Sendungsbcwußtsein begründeten, wie Bildung und individuelle Leistung, galten für bürgerliche Frauen nicht." (Frevert, Menschenrechte, 36).

25

Barbara Duden arbeitet anschaulich heraus, wie die Vorstellung von „Arbeit" im Sinn von Mühe und Anstrengung für die Tätigkeiten der Ehefrau und Mutter sich verliert und aus der Perspektive des Ehemannes zur schönen Beschäftigung mutiert (vgl. Duden, Eigentum).

26

Honegger, Ordnung, 6 (Hervorhebung im Original). Honegger stellt fest, dass das Auftauchen des „Menschen" in den Diskursen von Kultur, Wissenschaft und Politik seit Mitte des 18. Jahrhunderts begleitet ist vom einem kontrastierenden kulturellen Systematisierungsprozess, dem scharfen Dualismus der Geschlechter und dem Anspruch, es darin mit einer natürlichen Ordnung zu tun zu haben. Die Differenz von „männlich" und „weiblich" erhält kulturell eine neue Bedeutung, wird neu kodiert als naturgegebener Wesensunterschied der Geschlechter bei gleichzeitiger Identifikation von Menschsein als Vernunftwesen mit Mannsein. In dieser Geschlechterkodierung liegt nach Honegger ein entscheidendes Strukturmoment der Moderne (vgl.a.a.O., 4).

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Für diesen Prozess der Herausbildung des Konzepts des bürgerlichen Mannes als eines vernunftgeleiteten Individuums und verantwortlich handelnden Bürgers wie der bürgerlichen Frau als einer tugendsamen Gattin und Mutter sind Religion und Frömmigkeit durchaus produktiv gestaltende Faktoren. 27 Die sich ausbildende Aufteilung in Öffentlichkeit und Privatsphäre ist nicht nur engstens mit der Geschlechterordnung verbunden, sie entwickelt sich auch interdependent mit einer Veränderung der Frömmigkeit und der religiösen Sitten und Gebräuche. Religiöse Feste wie das Weihnachtsfest, nicht nur die zentralen „Rites de passage" wie Taufe und Hochzeit, verlagern sich vom öffentlichen Kirchenraum in den privaten Raum der Familie, der nur noch die engsten Angehörigen umfasst und nicht mehr mit dem größeren Kreis des „ganzen Hauses" identisch ist. Zugleich werden die zentralen gottesdienstlichen Elemente Abendmahl und Predigt zu Orten, an denen grundlegende Vorgänge bürgerlicher Innerlichkeit erfahren und eingeübt werden können: die von Äußerlichkeiten gelöste unmittelbare Begegnung mit sich selbst und anderen und die Reflexion über wichtige Fragen der Moral und des zwischenmenschlichen Umganges. 2 8

2.2. Der biographische Hintergrund bei Schleiermacher Friedrich Schleiermachers Leben und Wirken fällt in die Phase, in der sich diese Verbindungen von Religion und Frömmigkeit, Geschlechterkonzepten und -Verhältnissen und dem Ideal des Menschen als Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur in theoretischen Debatten, sondern auch in sozialen Veränderungen formen und etablieren. Da zudem sein Denken losgelöst von seiner Biographie nicht angemessen verstanden werden kann, soll nun der biographische Hintergrund Schleiermachers soweit skizziert werden, wie er für die

27

28

Die gestaltende Kraft von Religion und gelebter Frömmigkeit für die Individualität des einzelnen wie für die Lebensformen von Gruppen werden von neueren Forschungen zur Entstehung des Bürgertums betont (vgl. dazu Habermas, Rebekka, Rituale des Gefühls. Die Frömmigkeit des protestantischen Bürgertums, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, 169-193 u. Hölscher, Lucian, Bürgerliche Religiosität im protestantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, 1 9 1 215). Vgl. dazu ausführlich Habermas, Rituale, insbes. 185 u. 191. Habermas verweist auf Schleiermachers Predigten über den christlichen Hausstand von 1818, in denen er als christliche Aufgabe angibt, dass das Hausinnere, d.h. die Familie, zum Tempel Gottes werden solle (vgl. Hausstandspredigten, SW II/l, 551-672).

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Entfaltung seines Denkens der Geschlechterdifferenz bedeutsam ist. 29 Dies betrifft zum einen die Frage, ob und in welcher Weise es eine innere Entwicklung bei Schleiermacher in der Geschlechterthematik gibt, die mit biographischen Erfahrungen und Ereignissen verbunden ist. Gibt es eine Kontinuität, oder ist von Brüchen oder gar inneren Distanzierungen zu früheren Erkenntnissen bei Schleiermacher auszugehen? Es betrifft aber auch die Frage, wo Schleiermacher innerhalb der skizzierten Entwicklung der bürgerlichen Geschlechterordnung zu positionieren ist: Wie sieht sein Beitrag dazu in systematischer und theologiegeschichtlicher Hinsicht aus? Zuletzt geht es um die Frage, wie Schleiermachers Denken der Geschlechterdifferenz und deren Verbindungen mit seiner Theologie aus feministisch-theologischer Sicht einzuordnen sind. Können daraus Anregungen oder Impulse für eine Theologie gewonnen werden, die sich in der Gegenwart der Subjektwerdung von Frauen und der Gestaltung einer geschlechtergerechten Welt verpflichtet weiß? Die letzten beiden Fragen können erst am Ende der Arbeit beantwortet werden. Schleiermachers Lebensweg lässt sich in drei große Stationen einteilen: die Zeit von Kindheit und Jugend, des Studiums und der ersten beruflichen Tätigkeiten bis 1796, die Zeit der Entwicklungen in Berlin 1796 bis zur Hallenser Zeit 1807 und die Zeit seines Wirkens in Berlin 1807 bis 1834.3°

Die erste Periode bis 1796 umfasst die Zeit bis ins Erwachsenenalter, in der Schleiermacher jedoch noch keine wirklich selbständigen Tätigkeiten ausübt. 31 Schleiermachers Kindheit und Jugend ist davon

29

Die enge biographische Verknüpfung des Geschlechterthemas wird wiederholt festgestellt, so schon bei Nowak, Kurt, Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 1986, 278.

30

So Fischer, Schleiermacher, ähnlich Nowak in seiner umfangreichen Schleiermacherbiographie, der Fischers Dreiteilung von Bildungsstationen, Werden und Reifezeit, die stark an der Werkentwicklung orientiert ist, durch eine gesonderte Betrachtung des letzten Lebensjahrzehntes differenziert (vgl. Nowak, Schleiermacher). Ruth Richardsons interessante und materialreiche Untersuchung nimmt nur den Zeitraum bis 1806 in den Blick (vgl. Richardson, Role).

31

Schleiermacher teilt mit vielen anderen jungen bürgerlichen Männern seiner Zeit den Umstand, dass zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Erreichen einer ökonomisch einigermaßen gesicherten Existenz, die ihm auch die Heirat und Familiengründung und damit die volle gesellschaftliche Etablierung ermöglicht, eine recht lange Periode der beruflichen und finanziellen Unsicherheit liegt. Die kriegsbedingten Wirren tragen nicht zur Verkürzung dieser Zeit der wirtschaftlichen Unsicherheit bei. Schleiermachers Heirat mit Henriette von Willich 1809 erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem Schleiermacher im Alter von 40 Jahren nicht mehr jung ist; die berufliche und vor allem wirtschaftliche Absicherung ist durch die Ernennung

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gezeichnet, dass der Vater als Militärgeistlicher beruflich oft unterwegs und von zu Hause abwesend ist und die Mutter zwar trotz ihrer körperlich und seelisch nicht sehr robusten Konstitution die drei Kinder allein aufzieht, jedoch schon 1783 stirbt. 32 Schon vor der Aufnahme in das Herrnhuter Pädagogikum von Niesky 1783 ist Friedrich Schleiermacher von seiner Familie getrennt, um als Pensionär in Pleß eine Schulbildung zu erhalten, so dass dieses von vielen Ortswechseln gekennzeichnete Familienleben für ihn früh zu Ende geht. 33 Mit Schleiermachers Aufnahme in Niesky beginnt eine Jugendzeit, die aufgrund der geschlechtsspezifischen Aufteilung in die Chöre der unverheirateten Frauen, der unverheirateten Männer und der Eheleute in den Herrnhuter Niederlassungen vor allem durch Abwesenheit alltäglichen Umgangs mit Frauen und Mädchen gekennzeichnet ist. In Herrnhut wächst Schleiermacher vornehmlich unter gleichaltrigen Jungen auf, ebenso in Barby, so dass er erst wieder mit dem Beginn des Studiums in Halle in eine Welt eintritt, in der gesellschaftliche Kontakte zwischen Frauen und Männern üblich sind. Alltäglichen Umgang und engere Beziehungen mit Frauen hat Schleiermacher dann erst in Drossen, Schlobitten und Landsberg. 34 Dagegen beeinflussten die Herrnhuter Ansichten über die Rolle der Frau und die Beziehungen der Geschlechter wohl Schleiermachers Vorstellungen über das Weibliche. Richardson kommt zu dem Urteil, dass sowohl Schleiermachers spätere Selbsteinschätzung, dass er in seinem Temperament Frauen näher stehe als Männern, wie seine selbstverständliche Annahme, dass Frauen intellektuelle Fähigkeiten besitzen, zum Teil auf Herrnhuter Einflüsse zurückzuführen seien. 35 Die Verbinzum Prediger der Dreifaltigkeitskirche im Sommer 1808 in Aussicht (vgl. Nowak, Schleiermacher, 205-209). 32

33 34

35

Zur Beurteilung von Schleiermachers Eindrücken im Elternhaus vgl. Richardson, Role, 35f., sowie das Urteil von Meisner über die Ehe der Eltern Schleiermachers, das Richardson dort zitiert. Vgl. Nowak, Schleiermacher, 21-23. Vgl. dazu Richardson, Role, 42^14. Zu Schleiermachers Unerfahrenheit in Bezug auf Frauen vgl. auch die von Dilthey zitierte Äußerung: „Ich kenne die Weiber nur vom Hörensagen." (Dilthey, Leben, 49). Vgl. Richardson, Role, 36-42. Zu Zinzendorfs positiver Schätzung von Frauen bes. a.a.O., 37, und zur Verbindung dieser Hochschätzung von Frauen mit der Rolle des Gefühls als Ort der Wahrnehmung und Anerkennung geistlicher Wahrheit vgl. a.a.O., 38f. Vgl. dazu auch Tanner, Fritz, Die Ehe im Pietismus, Zürich 1952, 90-179; Kluckhohn, Paul, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Tübingen 3 1966, 132-136 u. 501-50; Critchfield, Richard, Prophetin, Führerin, Organisatorin. Zur Rolle der Frau im Pietismus, in: Barbara Becker-Cantarino (Hg.), Die Frau von der Reformationszeit bis zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte, Bonn 1980, 112-137. Neuere Forschungen zeigen, dass Herrnhut eigene, von den

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dung zu Herrnhut bleibt auf einer biographisch-familiären Ebene stets gewahrt, da Schleiermacher einen engen Briefkontakt mit seiner drei Jahre älteren Schwester Charlotte pflegt, die sich zu einem Leben als Herrnhuterin entschloss. 36 Spätere Aussagen von Schleiermacher selbst sprechen für den Einfluss der Herrnhuter Geschlechterkonzepte auf seine Selbstwahrnehmung wie auf seine eigenen Vorstellungen. 37 Doch auch die Begegnung mit der siebzehnjährigen Friederike Gräfin zu Dohna während seiner Schlobittener Hauslehrerzeit hat nach Schleiermachers eigener Aussage seine Vorstellung und vor allem Hochschätzung von Weiblichkeit tief beeinflusst. So schreibt er in einem Brief vom 19. August 1802:

bürgerlichen Geschlechterrollen teilweise abweichende Vorstellungen und Lebensentwürfe von Frauen, aber auch von Männern ermöglicht bzw. aufgrund der spezifischen Theologie und Lebensweise hervorbringt. So lässt sich „von einer gewissen Vorreiterolle des Pietismus (und speziell auch Zinzendorfs) bei der Formulierung des neuen Frauenideals als einer Hüterin kultureller und religiöser Werte sprechen. [...] Ein wesentlicher Unterschied zur bürgerlichen Geschlechter-ideologie scheint mir aber darin zu bestehen, daß dies nicht komplementär zu einem Mann gedacht war, der diese Ideale längst aufgegeben hat, vielmehr sollten die Frauen 'Vorbild'für den Mann sein [...], da er im Verständnis Zinzendorfs ja letztlich ebenfalls Braut Christi war." (Mettele, Gisela, Bürgerinnen und Schwestern. Weibliche Lebensentwürfe in bürgerlicher Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft im 19. Jahrhundert, UnFr 45/46 (1999), 113-140, hier: 121). Vgl. auch Zimmerling, Peter, Zinzendorfs Bild der Frau, UnFr 45/46 (1999), 9 - 2 7 ; Vogt, Peter, Herrnhuter Schwestern der Zinzendorfzeit als Predigerinnen, UnFr 45/46 (1999), 2 9 60 sowie Peucker, P.M., „Gegen ein Regiment von Schwestern". Die Stellung der Frau in der Brüdergemeine nach Zinzendorfs Tod, UnFr 45/46 (1999), 61-72. Schleiermachers emotionale Sensibilität war im Herrnhuter Kontext also nicht außergewöhnlich. Z u m Einfluss Herrnhuts auf Schleiermachers Frömmigkeitsverständnis vgl. auch Quapp, Erwin H.U., Christus im Leben Schleiermachers. V o m Herrnhuter zum Spinozisten (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts 6), Göttingen 1972, 20-102. Auch wenn man Quapps Interpretation nicht folgt, ist die ausführliche und materialreiche Darstellung informativ. 36

37

In seinen Briefen an Charlotte finden sich aufschlussreiche Äußerungen über sein Selbstverständnis wie über seine Beziehungen zu Frauen. Auch wenn bei der Deutung zu berücksichtigen ist, dass die unterschiedlichen Lebenswelten eine Rolle spielen, zeugen die Briefe von einer tiefen und vertrauten Beziehung Schleiermachers zu seiner älteren Schwester, die durch die Verantwortung Charlottes für Schleiermacher (vgl. Nowak, Schleiermacher, 19) wie durch den frühen Tod der Mutter eher vertieft wurde. Vgl. dazu Schleiermacher in einem Brief an seine Schwester Charlotte vom 27. Dezember 1800: „In der Gemeine habt ihr gleichsam alle eine weibliche Constitution, die man auch im Körperlichen durch Ruhe und Stille heilt und stärkt, dagegen, wer eine männliche hat und starke Bewegung braucht, in die Welt hinaus muß und da mit seinem Gemüth auf dem entgegengesezten Wege an denselben Punkt kommt." (Briefe \, 251). Die Zuschreibung von Aktivität und Ruhe geradezu als körperliche Disposition entspricht dabei den gängigen zeitgenössischen Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsvorstellungen in der fortschrittlichen Variante, die Wesensbeschreibungen mit physischen Argumentationen als naturhaft abstützt.

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„Die Kunst und die Frauen kannte ich noch gar nicht. Für die letztere ging mir der Sinn erst in dem häuslichen Cirkel in Preußen auf. Dieses Verdienst um mich hat Friederike mit in die Ewigkeit genommen, und es wird, hoffe ich, nicht das geringste sein, was ihr schönes Dasein gewirkt hat. Und nur durch die Kenntniß des weiblichen Gemüthes habe ich die des wahren menschlichen Werthes gewonnen." 3 8

Ruth Richardson vermutet, dass seine Konzeption von Freundschaft und seine Vision einer romantischen Ehe durch die Gespräche mit Friederike von Dohna und nicht erst durch die Freundschaft mit Friedrich Schlegel und Dorothea Veit angestoßen wird. 39 Schon Schleiermachers erste briefliche Äußerungen über eine Frau, die ihn beeindruckt, erweist, dass nicht das Rousseausche Ideal einer lieblichen, zurückhaltenden und sich unterordnenden Frau ihn fasziniert, sondern dass er Intelligenz, Wissen und Bildung, gesellschaftliche Gewandtheit und Lebhaftigkeit hochschätzt. 40 Dies zeigt sich noch wesentlich deutlicher in den freundschaftlichen Frauenbeziehungen, die er in späteren Lebensphasen pflegt, insbesondere aber in der Freundschaft zwischen ihm und Henriette Herz. Die Zeit als Hauslehrer bei der gräflichen Familie von Dohna ist für Schleiermacher eine Zeit, in der er im Kontakt zu den Frauen der Familie die Verbindung von Intellekt, Gefühl und Vorstellungskraft an Frauen schätzen lernt. Die kurze Zeit, in der Schleiermacher einer jungen Frau den Hof macht, die nach seiner eigenen Schilderung weit eher dem Ideal einer gut aussehenden, unterhaltsamen, aber mehr durch Bescheidenheit als durch intellektuelle Brillanz ausgezeichneten Frau entspricht, kann wohl als Erproben der erwarteten männlichen Rolle verstanden werden. 4 ' Die Zeit des Heranwachsens und der Ausbildung ist also für Schleiermacher gekennzeichnet durch die Abwesenheit des Vaters, den frühen Verlust der Mutter und das Aufwachsen in einer frauenlosen, aber Weiblichkeit positiv bewertenden Umgebung. Der Eintritt in den üblichen gesellschaftlichen Kontext brachte in Drossen, Schlobitten und Landsberg die ersten engeren Kontakte mit Frauen für den jungen 38

Schleiermacher an Eleonore Grunow am 19. August 1802 (Briefe 1, 319).

39

Vgl. Richardson, Role, 47f.

40

Schleiermacher charakterisiert Frau Benike, die offensichtlich die erste Frau war, mit der er intensiveren Umgang hatte und die ihn deutlich anzog, folgendermaßen: Frau Benike hat einen „reichen Vorrath von Bonsens [...] liebenswürdigen Wiz [...] sie spricht viel und alles was sie spricht ist treffend; mit viel Belesenheit verbindet sie sehr feinen Geschmak. [...] Sie unterrichtet ohne es zu ivißen und gefällt überall ohne daß sie es zu wollen scheint; sie ist die Seele jeder Gesellschaft und jedermann bemerkt dies außer sie selbst. Sie ist munter ohne ausgelaßen und offen ohne auffallend naif zu seyn. Geselligkeit und geselliges Vergnügen scheint ihr über alles zu gehn [ . . · ] " (An Brinckmann am 8. August 1789, K G A V/1,144).

41

Vgl. Richardson, Role, 48.

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Mann Schleiermacher. Unter diesen Beziehungen waren für ihn besonders die zu Frau Benike und zu Friederike von Dohna emotional tiefgehend, gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit. Doch verbot sich für Schleiermacher das Ausleben potentieller physisch-erotischer Gefühle aufgrund der sozialen Stellung der beiden Frauen: Frau Benike war verheiratet, und Schleiermacher vermutlich zu zurückhaltend und unerfahren, um diese gesellschaftliche und religiöse Schranke zu durchbrechen, Friederike von Dohna gesellschaftlich unerreichbar. 42 Die Zeit in Berlin und in Halle ist dagegen charakterisiert durch intensive und unterschiedliche, emotionale wie intellektuelle Erfahrungen im Bereich von Freundschaft und Liebe und deren Reflexion. Schleiermacher verkehrt in den Berliner Salons und schließt enge Freundschaften mit Henriette Herz und Friedrich Schlegel. Er kommt in den Kreis der Frühromantiker, die Freundschaft und Liebe nicht nur kritisch gegenüber vorgefundenen Konventionen der Ehe reflektieren, sondern auch in den eigenen persönlichen Beziehungen gesellschaftliche Konventionen brechen. Intellektuell geht es im Freundeskreis Friedrich Schlegels um einen ganzheitlichen Begriff von Liebe und ein Ideal von Freundschaft, persönlich und gesellschaftlich um die Suche nach Lebensweisen, die individuelle Beziehungen von Frau und Mann und die Qualität ihrer sinnlichen wie geistigen Liebe über gesellschaftliche Normen und Konventionen setzen. In dieser Zeit veröffentlicht Schleiermacher eine Reihe von Texten, die Liebe und Freundschaft und besonders die Situation von Frauen zum Thema haben. Parallel finden sich Äußerungen in Briefen, die seine theoretische Auseinandersetzung mit der Frauenfrage und der Ehe 43 wie seine Selbstreflexion im Blick auf Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität betreffen. Was seine Selbstwahrnehmung und einordnung angeht, so hat Schleiermacher offensichtlich klare Vorstel42

43

Richardson betrachtet gerade die Zeit in Landsberg, in der Schleiermacher fast täglich mit Frau Benike verkehrte und Einblick in ihre eheliche Unzufriedenheit wie in außereheliche Kompensationsversuche erhielt, als wichtige Entwicklungsphase Schleiermachers. Die leidenschaftliche Seite intensiver gegenseitiger Anziehung, die ohne Zukunftsperspektive war, wurde mit der Zeit beiderseits in die Bahnen einer ruhigeren Freundschaft geleitet. Schleiermacher habe damit erfahren, welche Schwierigkeiten in Beziehungen von Mann und Frau auftreten können, vor allem welche Schwierigkeiten sich für Frauen in der Ehe ergeben, so dass bereits in dieser Zeit durch eine Reflexion über die Rolle und die Situation von Frauen die Veröffentlichungen der Berliner Zeit zur Frauenfrage vorbereitet worden seien (vgl. Richardson, Role, 50f.). So schreibt er über die Ehe am 10. November 1801 an seine Schwester Charlotte: „Ueberhaupt ist in der Welt nichts so schwierig als das Heirathen. Wenn ich alle meine Bekannten in der Nähe und in der Ferne betrachte so thut mir das Herz weh darüber wie wenig glükliche Ehen es unter ihnen giebt." (KGA V/5, 248).

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lungen von „Männlichkeit" und „Weiblichkeit" und ist frei genug, sich selbst in der Nähe von Frauen und von Weiblichkeit zu positionieren. „Es liegt sehr tief in meiner Natur, liebe Lotte, daß ich mich immer genauer an Frauen anschließen werde als an Männer, denn es ist so vieles in meinem Gemüth was diese selten verstehen."44 Diese Selbsteinschätzung der Verwandtschaft seiner Natur mit der weiblichen und die Hochschätzung von Frauen drückt sich noch viel deutlicher vier Jahre später aus: „Aber freilich sind die Frauen auch darin glücklicher als wir; ihre Geschäfte begnügen sich mit einem Theil ihrer Gedanken, und die Sehnsucht des Herzens, das innere schöne Leben der Phantasie, beherrscht immer den größeren Theil. [...] Mir geht es aber überall so, wohin ich sehe, daß mir die Natur der Frauen edler erscheint und ihr Leben glücklicher, und wenn ich je mit einem unmöglichen Wunsche spiele, so ist es mit dem, eine Frau zu sein." 45 So ist Schleiermachers Leben von 1796 bis 1807 durch intensive Frauenbeziehungen gekennzeichnet, die in den Zusammenhang der romantischen Geselligkeit und ihrer experimentellen Lebensweise gehören. Während sein damaliger enger Freund Friedrich Schlegel eine Bekehrung von der Frauenverachtung zum Kämpfer für die Gleichheit der Frau erfährt, entfaltet und intensiviert sich Schleiermachers bereits vorhandene Hochschätzung und Anerkennung des Weiblichen in der Begegnung mit wirklichen Frauen. Schleiermacher erlebt Frauen wie Caroline Schlegel, Dorothea Veit und Henriette Herz als geistreich, intellektuell anregend, schlagfertig und gebildet. Er macht die Erfahrung, dass Freundschaft nicht nur zwischen Männern, sondern auch zwischen Männern und Frauen möglich ist, sich also die Beziehung zwischen Frau und Mann auch auf der rein geistigen Ebene abspielen

44

Brief an Charlotte vom 23. März 1799, KGA V/3, 46. Vgl. auch eine Notiz, in der Schleiermacher sich gegen Fichtes Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit abgrenzt: „Nach Fichte bin ich eine ganz weibliche Seele und völlig vergriffen; denn der Geschlechtstrieb erscheint bei mir größtentheils nur als Trieb das Weib zu befriedigen." (Gedanken IV, Nr. 11, K G A 1/3,135).

45

Brief aus Stolp an Charlotte von Kathen vom 4. August 1804 (Briefe 1, 402f.). Ich vermute, dass darin sich nicht so sehr die frühromantische Freiheit im Spiel mit Geschlechterrollen oder gar die Sehnsucht nach männlicher Ergänzung zur Vollkommenheit ausspricht, sondern sich in diesem Satz die Perspektive ausdrückt, dass Frauen ein freieres, für Phantasie und Vorstellungskraft offeneres Leben führen, weil sie nicht unter den Pflichten der männlichen Sphäre von Politik und Öffentlichkeit stehen (vgl. auch Simon-Kuhlendahl, Frauenbild, 175). In dieser Zeit hatte Schleiermacher selbst sich noch nicht politisch-gesellschaftlich engagiert. Ob Schleiermacher diese Hochschätzung des unpolitischen weiblichen Lebens nach 1806 noch in gleicher Weise aufrecht erhält, scheint mir angesichts seines politischen Engagements zweifelhaft.

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kann. 46 Gleichzeitig wird er Zeuge der Liebesbeziehung von Friedrich Schlegel und Dorothea Veit und verteidigt Schlegels Roman Lucinde als Darstellung einer Liebe, die die geistig-seelische und die körperlicherotische Ebene in einer Paarbeziehung vereint, in der die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit spielerisch vertauscht werden, und damit literarisch ein Gegenmodell gegen die Trennung von Sinnlichkeit und Geistigkeit wie gegen die konventionellen Geschlechterverhältnisse vorgestellt wurde. Persönlich wird für Schleiermacher dieses Ideal einer geistigen und sinnlichen Liebe, die zugleich echte Freundschaft zwischen Frau und Mann ermöglicht, durch die Beziehung zu Eleonore Grunow beflügelt. Seine literarische Kritik der Ehe gewinnt hier eine zusätzliche persönliche Betroffenheit, zugleich entwickelt sich das Ideal einer Freundschaftsehe zwischen zwei für einander bestimmten einander harmonisch ergänzenden und miteinander verschmelzenden Seelen, ungeachtet der Möglichkeit einer Verwirklichung. 47 Schleiermacher ist bereit, für diese Beziehung seine berufliche Stellung und seine gesellschaftlichen Karrierechancen (zumindest im Bereich der Kirche) zu riskieren. Eleonore Grunows Zurückschrecken vor der Scheidung im letzten Moment trifft ihn tief und bedeutet vorerst das Scheitern seiner Hoffnung auf Ehe und Familie, wie er es sich wünschte. 48 Diese erste Berliner Zeit und die Einsamkeit im Provinzstädtchen Stolp bis zur Professur in Halle sind also biographisch eine Zeit innerer und äußerer Begegnungen und Auseinandersetzungen im Bereich menschlicher Beziehungen und insbesondere in Bezug auf das Thema Weiblichkeit, Männlichkeit und Geschlechterverhältnisse. Schleiermacher entwickelte Überlegungen zur Frauenfrage im Zusammenhang der Thematik von Liebe und Ehe, die auf der Basis seiner eigenen Erfahrungen und Vorstellungen durch die Geselligkeit des SchlegelKreises wie durch Überlegungen Schlegels zur Frauenfrage vertieft wurden. Gesellschaftskritisch im engeren Sinn ist dabei seine Ehevorstellung, die nicht im aufklärerischen Geist auf der Vertragsehe mit dem Zweck der Kindererzeugung, sondern auf der ganzheitlichen, sinnlichen und geistigen Liebe und der Vereinigung der Seelen gründet und daher auch die Ehescheidung für berechtigt hält, wenn damit eine falsche, aus konventionellen Gründen getroffene Wahl annulliert

46

Vgl. dazu Richardson, Role, 55-58.

47

Vgl. Monologen, K G A 1/3, 47, sowie Schleiermachers Brief an Ehrenfried von Willich vom 11. August 1801, der ebenfalls eine verheiratete Frau liebte (vgl. K G A V/5, 1 7 8 183). Vgl. dazu Richardson, Role, 79-82. Vgl. dazu Richardson, Role, 135-137.

48

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wird. 49 Biographisch stellt sich die Frage, ob mit dem Auseinanderbrechen des Schlegel-Kreises und insbesondere mit dem Ende der Beziehung zu Eleonore Grunow sich bei Schleiermacher eine grundlegende innere Wandlung und eine Distanzierung von der Lebensweise und den Ansichten dieser Zeit vollzieht. 50 Diese Frage soll jedoch beantwortet werden, wenn der Blick auf die dritte große Phase von Schleiermachers Leben abgeschlossen ist. Sie umfasst seine Zeit in Berlin als Prediger an der Dreifaltigkeitskirche und als Professor an der neugegründeten Universität von 1807 bis zu seinem Tode 1834. Schleiermacher erreicht geradezu klassisch die volle gesellschaftliche Etablierung nach den Maßstäben seiner Zeit, die von den unsrigen nicht so weit entfernt scheinen: Er erhält eine feste, finanziell einigermaßen abgesicherte, angesehene berufliche Stellung, heiratet und gründet eine Familie. Dieser persönliche Rahmen gibt nun die Grundlage für sein weiteres Wirken als Prediger, Wissenschaftler, Universitäts- und Kirchenpolitiker. Die Frauenfrage und Geschlechterthematik ist auf der persönlichen Ebene geklärt und erhält ihren erkennbaren Platz in Schleiermachers wissenschaftlichen Schriften zur Ethik, zur Christlichen Sitte, in den pädagogischen und psychologischen Vorlesungen sowie in den Predigten über den christlichen Hausstand. Die Ehe mit der zwanzig Jahre jüngeren Witwe Henriette von Willich stellt nach außen die Verwirklichung des bürgerlichen Familienideals dar, und zwar in der Variante der liebenden Gattin als geistiger Gefährtin ihres berühmten Mannes, weniger in der Ausprägung der sorgenden Hausmutter. 51 Die Ehe zwischen Henriette und Friedrich 49

Vgl. dazu die Äußerungen Schleiermachers in seinem Brief an v. Willich vom 11. August 1801 und das vierte Gebot aus dem Katechismu: „4) Merke auf den Sabbath deines Herzeiis, daß du ihn fei/erst, und wenn sie dich halten, so mache dichfrey oder gehe zu Grunde." (Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen, in: Fragmente, K G A 1/2,153).

50

Dies nimmt Emanuel Hirsch an, der darin einen wichtigen Reifeprozess Schleiermachers sieht (vgl. Hirsch, Weihnachtsfeier, 9t.). Nowak dagegen schildert die definitive Trennung von Eleonore Grunow und Schleiermacher im Herbst 1805 eher beiläufig als Ende einer aussichtslos sich hinziehenden, immer wieder durch Absagen von Seiten Eleonores geprägten Beziehung (Nowak, Schleiermacher, 162; vgl. auch a.a.O., 128). In Nowaks Biographie werden als weitere bestimmende Faktoren sowohl die berufliche Veränderung durch die Professur wie die Politisierung Schleiermachers im Zusammenhang mit der Niederlage Preußens gegen Napoleon und der Eroberung Halles erkennbar (vgl. a.a.O., bes. 142 u. 177).

51

So sieht N o w a k Henriette Schleiermachers Selbstverständnis in einem Verlobungsbrief, und hebt auf die Ungleichheit der beiden Ehepartner ab, indem er auf einen Brief Henriettes v. Willich am 3. November 1808 an Schleiermacher hinweist: „'Ja süßer Ernst, zvenn mein Ζ immer neben Deinem sein könnte, das wäre herrlich. Ich will auch immer recht leise dann kommen, und, ohne Dich weiter zu stören, Dir über die Schulter se-

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Schleiermacher verläuft nicht ohne Spannungen. Henriette hat Schwierigkeiten mit ihren Kindern aus erster Ehe, entwickelt um 1813 eine Schwärmerei für Alexander von der Marwitz und seit 1817 eine intensive Bindung zu der Hellseherin Karoline Fischer, die sie praktisch in ihren Haushalt aufnimmt. Schleiermacher dagegen hat ein anstrengendes und zeitaufwendiges Berufsleben und wünscht sich zum Ausgleich ein intensives biedermeierliches Familienleben. Dies ermöglicht ihm Henriette nur in sehr eingeschränktem Maß. Aus Schleiermachers Sicht dürfte seine Ehe mit ihr sowohl auf der Ebene der geistigen Beziehung wie im Blick auf seine Vorstellungen eines gepflegten Familienlebens eine herbe Enttäuschung gewesen sein. 52

52

hen, wenn Du schreibst, und nur manchmal die Hand küssen, mit der Du nicht schreibst so daß es Dich nicht unterbrechen darf.' Dechiffriert man den Untertext, dann spricht aus diesen Sätzen zweierlei: die Genugtuung, die Lebensgefährtin eines berühmten Mannes zu werden, und das Gefühl der Unterlegenheit." (Nowak, Schleiermacher, 208). Vgl. auch Ute Freverts Vergleich der Schleiermacherschen Ehe mit der Ehe Wielands und seiner Frau Dorothea (Frevert, Menschenrechte, 62). Dennoch stilisiert Nowak Schleiermacher in dieser Beziehung zum leidenden Heiligen, wenn er ihn gegenüber Henriette als „besonnenen Seelenführer" darstellt und ihr Verhalten als schmerzvolle Bewährungsprobe sieht, die Schleiermacher offensichtlich bravourös besteht: „Schleiermacher blieb der unbeirrbare Gatte, der mit seiner Liebe einen bitteren Kelch trank" (Nowak, Schleiermacher, 374). Für Henriette bleibt nur die Rolle der Unterlegenen, die in dieser Ehe versagt und die Belastungen verursacht. Aus der Distanz ist sehr viel schärfer zu fragen, ob Schleiermacher nach dem Scheitern der Beziehung zu Eleonore Grunow nicht auf das Ideal der Freundschaftsehe verzichtet und dem Arrangement der bürgerlichen Ehe nachgegeben hat. Ebenso gilt es, die Perspektive Henriettes wahrzunehmen. Einen Ansatz dazu bietet der Aufsatz von Jensen, Gwendolyn Ε., Henriette Schleiermacher. A W o m a n in a Traditional Role, in: John C. Fout (Hg.), German Women in the 19th Century. A Social History, N e w York 1984, 88-103. Allerdings beschränkt sich Jensen auf eine Auswertung des Briefwechsels zwischen Schleiermacher und Henriette von Willich von 1806-1808 und lässt die späteren Jahre der Ehe der beiden außer Betracht. Henriette von Willich war auf der Suche nach einem liebenden Gatten und nach einem Vaterersatz; Schleiermacher bot sich dafür idealerweise an. Aber ihre eigenen Unterlegenheitsgefühle ihm gegenüber konnte sie trotz seiner Unterstützung nicht gänzlich überwinden (vgl. Jensen, Henriette, bes. 96f.). Damit hatte Henriette genau an dem Punkt, an dem sie ihre Aufgabe sah, mit sich selbst zu kämpfen: Sie verstand die Ehe als Freundschaft, in der die Ehepartner sich als geistige Gefährten gegenseitig weiterbringen auf dem Weg der Menschlichkeit. Dagegen betrachtete sie die Aufgabe der Hausfrau und Mutter als Notwendigkeit, nicht als eigentliche Berufung (vgl. Jensen, Henriette, 92f.). Zugleich konnte sie sich von vornherein nicht als gleichwertige Gefährtin Schleiermachers sehen. Angesichts ihrer Suche nach einer Vaterfigur liegt dieser Widerspruch wohl zu weiten Teilen in ihr selbst. Doch mag der wachsende Ruhm Schleiermachers wie seine intensive Inanspruchnahme durch seine vielen Aktivitäten nicht wenig zur Verschärfung dieser Empfindungen beigetragen haben. Wenn Jensen recht zu geben ist, dass Henriette Schleiermacher Religion als ihre spezifische Möglichkeit zur Lebensbewältigung verstand, erscheinen m.E. ihre spätere Hinwendung zu Karoline Fischer und die daraus entstehenden Spannungen in ihrer Ehe in einem anderen Licht (vgl. Jensen, Henriette, 95-97). Angesichts des Gefühls

Historische Verortung

77

Schleiermachers Biographie ist m.E. nicht durch radikale Brüche mit der Vergangenheit oder durch Abwendungen von früheren Vorstellungen und Ideen gekennzeichnet. Eher werden äußere Lebenswendungen und innere Enttäuschungen als Ernüchterungen und Selbstkorrekturen gedeutet und veranlassen ihn zu Neuorientierungen seines Gesichtskreises und seines Denkens, ohne bisherige Konzepte einfach fallen zu lassen. So bringt es die Veränderung, die mit der Berufung nach Halle und der Rückkehr nach Berlin in den Wirren der preußischen Niederlage einhergeht, mit sich, dass nicht mehr der enge Kreis der Freunde und Freundinnen und die darin gelebte Individualität und Freiheit zu Beziehungsexperimenten, sondern die Gesellschaft als ganzes und ihre Institutionen den Horizont des Denkens abgeben. Nachdem sich der romantische Freundeskreis aufgelöst hat, sich die Chance der wissenschaftlichen Wirksamkeit an der Universität eröffnet und Eleonore Grunow sich im letzten Moment gegen die Scheidung entscheidet, verbleibt Schleiermacher nicht in einer experimentellen gesellschaftlichen Randposition, sondern erlangt die Aussicht auf eine bürgerliche Existenz als theologischer Lehrer. Die berufliche und wissenschaftliche Karriere bedeutet zum einen langfristig nicht nur Existenzsicherung, sondern auch eine gesellschaftliche Position und Handlungsmöglichkeiten in einem weiteren Rahmen. Sie erfordert aber zum anderen die Auseinandersetzung mit den Institutionen Staat, Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft aus der Binnenperspektive des Reformers, nicht aus der Außenperspektive des Revolutionärs. Persönlich verlangt diese Entwicklung Schleiermacher ab, das Scheitern bestimmter Lebenswünsche anzuerkennen und damit die Tragfähigkeit der bisherigen Vorstellungen zu überdenken. Aber Schleiermacher unternimmt keine vollkommene Kehrtwendung, er versucht die Integration des Bisherigen in die erweiterte, neue Perspektive. Dies gilt gerade für sein Selbstverständnis und seine Position in der Geschlechterthematik. Dazu liefert ihm das romantische Konzept ausreichend Ansatzpunkte. Im Vergleich zu Friedrich Schlegel charakterisieren Schleiermacher Integrationsvermögen und Kontinuität eher als Brüche, programmatische Fragmente und stete Neuanfänge. So hat Schleiermacher die Radikalisierungsmöglichkeiten in Richtung egalitärer Geschlechterverhältnisse, die in seinen Texten der Berliner Zeit bis 1800 erkennbar sind, nicht weiter verfolgt, sondern die Trennung zwischen dem öffentlichen eigener Unzulänglichkeit wie unerfüllter Liebesbedürfnisse wird Religion zum Ersatz: „She had discovered, in part, a cure for torpor, self-doubt, and for insufficient love." (Jensen, Henriette, 97f.). Eine andere These, die zu prüfen wäre, verstünde Henriettes Beziehung zu Karoline Fischer als Subversion gegenüber Schleiermacher und seinen religiösen wie ehelichen Idealen.

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

Raum von Beruf, Wissenschaft und Politik sowie der häuslichen Geselligkeit als Scheidelinie übernommen. So vertritt er weiterhin die Gleichheit der sich ergänzenden Geschlechtscharaktere sowie die Freiheit und Überlegenheit des Weiblichen im Bereich von Gefühl und Phantasie, zeigt aber keine Ansätze zu einer rechtlichen Gleichstellung oder gar politischen Beteiligung von Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft. 53 Die biographische Verortung soll mit einem vertiefenden Blick auf Schleiermachers Position innerhalb der zeitgenössischen Debatten um die Frauenfrage abgeschlossen werden.

2.3. Zeitgenössischen Konzepte der Geschlechterdifferenz Die Diskussion um das Wesen der Geschlechter und die Position der Frau kulminiert in Deutschland am Ende des 18. und in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, während in den folgenden Jahrzehnten die Verfestigung und Popularisierung der Geschlechterkonzepte zu konstatieren ist.54 Inhaltlich wird die Debatte um die „Frauenfrage" von den drei Themenkreisen der Frauenbildung, der politischen Rechte für Frauen und der ontologischen Frage nach dem Wesen der Frau bestimmt und in der Regel von der letzten Frage her angegangen, indem die andere Wesensart der Frau ihren Ausschluss aus Bildung und politischer Partizipation begründen soll.55 Die kontroverse Diskussion lässt sich in Deutschland zwischen 1770 und 1805 in fünf Phasen einteilen 56 und ist in vielen Punkten der englischen und französischen Literatur verpflichtet, was sich in zahlreichen Ubersetzungen manifestiert. Der Anstoß kommt aus Ostpreußen durch Hamann, Herder, Huppel und Hippel, die eine radikale und ungewohnte Lektüre der überlieferten Argumente zu den Geschlechterrollen vortragen. Ihre Beiträge zur Querelle des Femmes sind noch vom aufklärerischen Gleichheitsgedanken geprägt. Davon unterschieden ist eine zweite Phase von Mitte der 1770er bis Ende der 1780er Jahre, in der belletristische, fiktionale Litera-

53

54

55 56

Eine Ausnahme stellt die Frage der Ehescheidung dar, in der Schleiermacher seine Position im Zusammenhang mit Eleonore von Grunows Entscheidung, ihren Mann nicht zu verlassen, klar gewandelt hat (vgl. dazu Richardson, Role, 139-142). Vgl. Hoffmann, Volker, Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtscharakteristik der Goethezeit, in: Karl Richter/Jörg Schönert (Hg.), Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, Stuttgart 1983, 8 0 97. Hoffmann gibt einen differenzierten Überblick über die literarischen Strömungen quer durch alle Textgattungen. Vgl. Richardson, Role, 2. Dazu Hoffmann, Weib, 1-3.

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tur eine neue Gewichtung zwischen Sinnlichkeit und Verstand propagiert. Sie betont deren Einheit gegen eine rationalistische, strenge Trennung und dabei auch einer Abwertung der Sinnlichkeit. Die Ablösung des Rationalismus durch ein sensualistisches Denken wertet zwar die Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft auf und regt insbesondere naturwissenschaftliche Forschungen an, sie erodiert jedoch zugleich den Gedanken der Gleichheit der Geschlechter, der auf der Neutralität der Vernunft hinsichtlich des Geschlechts ruht. Diese eher progressiven Tendenzen werden in der dritten Phase, deren führender Vertreter Ernst Brandes ist, bekämpft. Bei Brandes verbinden sich ein völlig dichotomisches Modell der Geschlechter und eine Abwertung der Frau mit antifranzösischer Zivilisationskritik. Die vierte Phase setzt ab 1795 mit Wilhelm von Humboldts Theorien zur Geschlechterpolarität und Wilhelmine Karoline von Wobesers Roman Elisa, oder das Weib, wie es seyn sollte ein. In diesen Zeitraum fällt Schleiermachers Zugehörigkeit zum Athenäumskreis und seine intensive Beschäftigung mit dem Thema Liebe und Geschlechterdifferenz. Humboldt und Schiller stehen mit ihren Weiblichkeitsvorstellungen und einem eher konservativen Frauenbild gegen Friedrich Schlegels progressive Ideen, die Schleiermacher unterstützt. 57 Zu diesem Zeitpunkt der Debatte hat sich die Idee der Geschlechterdifferenz allgemein durchgesetzt und variiert hinsichtlich der inneren Zuordnung des binären Geschlechterverhältnisses und dessen Bewertung. In der philosophischen Debatte, die von dieser breiteren literarischpopulärwissenschaftlichen zwar thematisch nicht einfach zu trennen, aber doch klar zu unterscheiden ist, lassen sich die Grundlinien über Rousseau, Kant, Fichte und Wilhelm von Humboldt charakterisieren. 58 57

Vgl. zur Kontroverse zwischen Schiller und Schlegel Guenther-Gleason, Schleiermacher, 6 2 - 7 8 u. Becker-Cantarino, Barbara, „Feminismus" und „Emanzipation"? Zum Geschlechterdiskurs der deutschen Romantik am Beispiel der Lucinde und ihrer Rezeption, in: Hartwig Schulz (Hg.), Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons, Berlin/New York 1997, 2 1 44. Becker-Cantarino hält anders als Guenther-Gleason den Unterschied zwischen Schiller und Schlegel hinsichtlich ihrer Weiblichkeitskonzepte für weniger einschneidend, da auch Schlegel die männliche Perspektive und die Funktionalisierung des Weiblichen innerhalb des komplementären Geschlechtermodells nicht sprenge.

58

Hegel behandele ich nicht eigens, da seine relevanten Texte zeitlich später liegen und für die Grundlagen von Schleiermachers Konzept der Geschlechterdifferenz und der Ehe, die er im Brouillon 1805/06 entwickelt, nicht in gleichem Maße relevant sind. Zu Hegels philosophischer Bestimmung der Geschlechterdifferenz in der Phänomenologie des Geistes wie in seiner Rechtsphilosophie vgl. Bennent, Heidemarie, Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur, Frankfurt a.M./New York 1985. Bennents Untersuchung zur Stellung der Frau ist trotz einiger Korrekturen, die durch die Forschung inzwischen zu machen sind, von beachtlicher Klarsicht, insbesondere ihre

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

Alle diese Denker gehen nicht mehr von einer Gleichheit der Geschlechter im Sinne von Poullain de la Barres Sentenz „L'esprit n'a point de sexe" aus, sondern gehören zu Verfechtern der Geschlechterdifferenz. Dabei vertreten sie jedoch unterschiedliche Modelle und Ausprägungen. 2.3.1. Rousseau: Die Frau als Supplement des Mannes Der französische Kulturphilosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau spielt mit seinem Bildungsroman Emile (1762) wie auch mit seinem Werk Julie oü la Nouvelle Hiloise unter den Männern wie Frauen des Bürgertums in Deutschland aufgrund seiner außerordentlichen Popularität eine wichtige Rolle in der Verbreitung einer Geschlechterkonzeption, in der Mann und Frau ihren natürlichen Unterschieden nach in klar unterschiedenen Rollen aufeinander bezogen sind: Frauen seien dazu bestimmt, sich dem Mann unterzuordnen, da ihr ganzer Wirkungskreis und ihre Lebensaufgabe auf die Unterstützung und Ergänzung des Mannes ausgerichtet sei, während Männer durch ihr Begehren sich auf Frauen ausrichteten, die Welt aber ihren Wirkungskreis darstelle. 59 Rousseau stellt sein Geschlechtermodell in den Rahmen eines naturrechtlich fundierten politischen Entwurfs, der auf eine freie Bürgerrepublik ausgerichtet ist.60 Im Blick auf sein angestrebtes politisches Ziel des mündigen freien Bürgers, wie Emile es verkörpert, handelt sich Rousseau jedoch mit der Bestimmung des Wesens der Frau in Sophie, das nicht Freiheit und Mündigkeit, sondern Unterwerfung und Abhängigkeit verlangt, ein naturrechtliches Begründungsproblem ein. Dieses löst er durch die Konstruktion eines natürlichen „Standes der Frau"61, der diese Hierarchisierung begründe. 62 Im naturrechtlichen Stand der Frau manifestiert sich demnach eine Koinzidenz von Vernunft und Natur, die das Herrschaftsverhältnis der

59

Analysen zu Kant, Fichte und Hegel zeichnen ein aufschlussreiches Bild der philosophischen Entwicklung der Geschlechterdifferenz. Die Analyse von Küster zeigt auf, dass die Unterschiede zwischen Sophie und Julie keineswegs widersprüchlich sind, sondern sich innnerhalb einer systematischen Lektüre des Ortes und der Bedeutung von Rousseaus Modell der Geschlechterordnung ergänzen (vgl. Küster, Sophie, 13-33 sowie Bennent, Galanterie, 8 1 - 9 6 u. Richardson, Role, 4-7).

60

Vgl. Küster, Sophie, 24.

61

Rousseau, Jean-Jacques, Emile oder über die Erziehung, übers, v. L. Schmidts, Paderborn 111993, 415.

62

„Wenn sich die Frau darüber beklagt, daß die Ungleichheit zwischen ihr und dem Mann ungerecht ist, so hat sie unrecht. Diese Ungerechtigkeit ist keine menschliche Einrichtung, zu mindestens nicht das Werk eines Vorurteils, sondern das der Vernunft." (Rousseau, Emile, 390). Zur genaueren Analyse von Rousseaus Konzept der Frau als Supplement des freien Bürgers vgl. Küster, Sophie, bes. 14r-21.

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von Vernunft und Natur, die das Herrschaftsverhältnis der Geschlechter im Rahmen einer Republik mündiger freier Bürger legitimiert. Dieses Modell der Geschlechterdifferenz entwickelt Rousseau als Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft im Rahmen seiner Neukonzeption, die von einem Naturzustand des Menschen ausgeht. Dabei wendet er, wie Küster aufzeigt, unterschiedliche Naturbegriffe an: Für Männer einen politisch emanzipativen, apriorischen Naturbegriff, für Frauen indes den funktionalistischen, aristotelischen Naturbegriff. So gelte für den Mann das Telos der menschlichen Selbstbestimmung des freien Bürgers. „Im Fall der Frau hingegen werden ihre naturwüchsigen Gattungsfunktionen sozial überformt und in den Rollen der tugendsamen Gattin und opferbereiten Mutter als weibliches Wesen unverrückbar festgeschrieben." 6 3

Die im Laufe der Zivilisationsgeschichte aufgrund der natürlichen Wesensunterschiede entstandene Geschlechterdifferenz von Mann und Frau bildet nach Rousseau die Grundlage für eine auf Bürgersinn gegründete Gesellschaft, in der Mann und Frau sich notwendig ergänzen. Die Ordnung des bürgerlichen Gemeinwesens bedürfe sowohl der staatlichen Sphäre der Gesetzgebung wie der moralischen Sphäre der Gesinnung um zu bestehen. Die Frauen seien verantwortlich für die Pflege des Sittlichen und des Sozialen, also eines Raumes, der die staatsbürgerliche Gesinnung kultiviert und regeneriert und darin für die Sphäre der rechtlichen Staatlichkeit unabdingbar, aber von dieser unterschieden ist.64 Die Einrichtung, die die Ergänzung von Mann und Frau ermöglicht, ist die auf Liebe gegründete Ehe als Verbindung der differenten Geschlechter. 65 In Rousseaus Konzept der Geschlechterordnung zeichnet sich unverkennbar die Gestalt der auf Liebe und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung beruhenden bürgerlichen Familie als Raum der Frau ab, der ihr aufgrund ihres natürlichen weiblichen Wesens zukomme. 2.3.2. Kant: Geschlechterdifferenz als binäre Opposition Immanuel Kants Bestimmung des Geschlechterverhältnisses 66 und sein Weiblichkeitsentwurf in seiner vorkritischen Schrift Beobachtungen über

63

Küster, Sophie, 21.

64

Vgl. Küster, Sophie, 24f.

65

Vgl. Küster, Sophie, 24.

66

Einen Literaturüberblick zur Thematik bietet Jauch, Ursula Pia, Immanuel Kant zur Geschlechterdifferenz. Aufklärerische Vorurteilskritik und bürgerliche Geschlechtsvormundschaft, Wien 1989, 26^15.

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das Gefühl des Schönen und des Erhabenen67 (1764) tragen erkennbar die Spuren des Rousseauschen Modells. 68 Seine Ausführungen über den Geschlechtsunterschied werden jedoch nicht konsequent in einer naturhaften Bedürfnisstruktur begründet, sondern haben den Charakter von Setzungen und allgemeinen Beobachtungen. Zur entscheidenden Orientierungsmatrix69 wird die ästhetisch-kulturelle Opposition von Schönheit und Erhabenheit, die Kant mit Weiblichkeit bzw. Männlichkeit identifiziert. 70 Seine Ausführungen über „schöne Weiblichkeit" sprechen Frauen Qualitäten zu, die in einer gewissen Parallele zur erhabenen Männlichkeit erscheinen. So spricht Kant Frauen Verstand nicht ab, sondern charakterisiert diesen im Unterschied zum männlichen „tiefen Verstand" als „schönen Verstand"n. Die weiteren Ausführungen erweisen indes, dass die Bipolarität der Geschlechter eine Ungleichheit impliziert, denn der weiblichen Bildung des „schönen Verstandes" sind enge Grenzen gesetzt. 72 Kant spricht sich für Zurückhaltung bei der geistigen

67

Kant, Immanuel, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen (1764), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. Π Vorkritische Schriften II (1757-1777), Berlin 1912, 205-256, hier: Dritter Abschnitt: Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältniß beider Geschlechter, 228-243. Vgl. auch Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: Ders., Gesammelte Schriften hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1917, 117-333., hier.: Zweiter Teil. Anthropologische Charakteristik B. Der Charakter des Geschlechts, 303-311. Zur Haltung Kants vgl. Richardson, Role, 7-16; Bennent, Galanterie, 96-108 u. Jauch, Kant.

68

Vgl. dazu Jauch, Kant, 58f., die Kants Inspiration durch und Auseinandersetzung mit Rousseau hervorhebt. Kant grenzt sich von Rousseaus Frauenbild insoweit ab, als er sich dessen Diktum über die Frau als „grosses Kind" im IV. Buch des Emile nicht zu eigen macht (vgl. Jauch, Kant, 140f.). Jauch, Kant, 64. Jauchs Rekonstruktion von Kants Konzeption der Geschlechterdifferenz macht deutlich, dass die Beobachtungen als Schlüssel zu Kants Weiblichkeitsentwurf zu lesen sind (vgl. Jauch, Kant, 67).

69

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„[..·] so liegen vornehmlich in dem Gemüthscharakter dieses Geschlechts eigenthümliche Züge, die es von dem unseren deutlich unterscheiden und die darauf hauptsächlich hinauslaufen, sie durch das Merkmal des Schönen kenntlich zu machen. [...] vielmehr erwartet man, daß [...] dagegen unter den männlichen Eigenschaften das Erhabene als das Kennzeichen seiner Art deutlich hervorsteche." (Kant, Beobachtungen, 228; Hervorhebung im Original).

71

Bennent betrachtet diese Zuschreibung als männliche Utopie: „Ähnlich wie im Begriff der 'schönen Tugend' die Wunschvorstellung einer vordualistischen Übereinstimmung des Gefühls mit dem Sittengesetz enthalten ist, steckt im Begriff des 'schönen Verstandes' die Utopie einer aprioroischen Identität des sinnlichen mit dem intelligiblen Vermögen [...]. Während das Weibliche bei Kant aber nur am Rande zum Spiegel männlicher Harmonieträume wird, fungiert es später in der deutschen Klassik bei Humboldt oder Schiller zunehmend als Inbegriff der Sehnsuchtsziele." (Bennent, Galanterie, 103). Jauch, Kant, 75: „Um die 'Schönheit' des weiblichen Verstandes zu fördern und zu erhalten, gilt es vornehmlich auf jede geistige Anstrengung zu verzichten, insbesondere auf die Be-

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Erziehung von Frauen aus, da sonst ihre spezifischen Vorzüge leiden würden. Damit schließt Kant Frauen aus seinem emphatischen Konzept von Menschsein aus, das in einer fortschreitenden Kultivierung mittels der Vernunft besteht. 73 Hier nähert er sich im Ergebnis der Position Rousseaus. Kant fasst die Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit als ästhetischen Dualismus der Opposition zwischen weiblich kodierter Schönheit und männlich kodierter Erhabenheit und ontologisiert ihn im Bereich des Anthropologischen. Diese oppositionelle Differenz tendiert unverkennbar zur Ungleichwertigkeit, aber sie reduziert den Pol der Weiblichkeit nicht zu einem reinen Appendix des Männlichen, sondern behält eine klar binäre Struktur. Aufschlussreich und im zeitgenössischen Kontext singular ist dagegen sein Eheverständnis, das er im aufklärerischen Modell eines wechselseitigen Vertrages zwischen zwei Personen konzipiert. Sein frühaufklärerisches Verständnis von Ehe, in dem die Ehe als Schlichtung des rohen, natürlichen Geschlechterkampfes erscheint, steht in gewisser Spannung zu seinem Weiblichkeitsentwurf und dem Eheverständnis in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen: „In dem ehelichen Leben soll das vereinigte Paar gleichsam eine einzige moralische Person ausmachen, welche durch den Verstand des Mannes und den Geschmack der Frauen belebt und regiert wird." 74

schäftigung mit der 'Weltweisheit' der Philosophie, damit der Schein des schönen nicht zerstört wird." (Vgl. Kant, Beobachtungen, 229L). 73 74

Verstandes

Vgl. Bennent, Galanterie, 100. Kant, Beobachtungen, 242. Die Unterwerfung der Ehefrau erscheint Kant als Notwendigkeit zur Stabilisierung der Ehe, und so verankert er innerhalb des Vertragsgedankens eine klare familiäre Hierarchie (vgl. Kant, Anthroplogie, 303). Jauch zeigt auf, dass sich Kants oft kritisiertes Eheverständnis in der Metaphysik der Sitten Teil I, §§24-27 (vgl. Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin 1907, 277-280) aus seiner Sexualethik heraus „als rechtsphilosphische[r] Endpunkt einer langen und verzweigten Reflexionsanstrengung der Beschreibung, ethischen Problematisierung und, erst dann, der rechtsphilosphischen Determinierung des intersexuellen Verhältnisses qua bürgerliches Eherecht" zu begreifen sei (Jauch, Kant, 144f.). Dabei sei Kants Ansatz die sexualethische Fragestellung, wie bei einer inhärenten Tendenz des Sexualtriebes zur Instrumentalisierung und Verdinglichung des Sexualpartners die Achtung der Menschheit in der Person des Sexualpartners ethisch möglich sei. Kant erkenne, dass diese „Verletzung der Selbstzweckhaftigkeit ihren Archetyp beim weiblichen Menschen" habe (Jauch, Kant, 153) und thematisiere „die Ehe als eine binnenstrukturell organisierte Enklave der intersexuellen Egalität in einer sie umgebenden Gesellschaft der fortbestehenden Subordination des weiblichen unter den männlichen Menschen." (Jauch, Kant, 164). Zu den Problemen der Bestimmung der Ehe als bürgerliches Rechtsinstitut in der Metaphysik der Sitten vgl. Jauch, Kant, 169-179.

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

Kants Eheverständnis in der Metaphysik der Sitten als „die Verbindung zweier Personen zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften" fasse die Ehe als ein intersexuelles Verhältnis, das die Verdinglichung, die im sexuellen Genuss liege, nur unter den Bedingungen der „Erwerbung der ganzen Person" und der „Gleichheit des Besitzes", d.h. unter der Bedingung der symmetrischen Wechselseitigkeit ethisch rechtfertige. Dieses Eheverständnis unterscheidet Kant deutlich von Fichte und Hegel; Kant enttäusche die „Hoffnung auf eine intersexuelle Liebesethik durch die strenge Durchkomponiertheit einer spröden Pflichtenmatrix der intersexuellen Körpermechanik"75. Kant befreit mit dieser Auffassung die Ehe von ihrem theologischen Verständnis als Sakrament, verleiht ihr jedoch nicht die neue Weihe des sakralisierten Verschmelzungsgedankens der romantischen Liebesehe. 2.3.3. Fichte: Geschlechterdifferenz als hierarchische Einheit Johann Gottlieb Fichtes Modell der Geschlechterdifferenz ist nur wenige Jahre nach Kants Ausführungen wie auch Wilhelm von Humboldts Essays entstanden und basiert wie Humboldts Modell auf einer Analyse des Geschlechtsakts als Naturvorgang, zeigt jedoch ein wesentlich anderes Gepräge. Fichte entwickelt in seinem Grundriss des Familienrechts als erstem Anhang zur Grundlage des Naturrechts76 (1797) eine unverblümt asymmetrische, hierarchische Geschlechterkonzeption. 77 Seine Bestimmung der Geschlechterdifferenz resultiert aus seiner naturrechtlichen Begründung der Ehe. Dabei verbindet er die Aussage, dass Frauen wie Männer Vernunft besitzen, mit Hilfe des Gedankens der unterschiedlichen Geschlechtscharaktere konsequent mit einem hierarchischen Eheverständnis und entmündigt damit die Frau auf der rechtlichen Ebene absolut. Fichtes Gesichtspunkt zur Begründung wie zur Bestimmung der Geschlechterdifferenz ist der naturteleologische Gedanke der Fortpflanzung der Gattung Mensch. 78 Die die Gattung bildende Naturkraft 75

Jauch, Kant, 145.

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Fichte, Johann Gottlieb, Grundriss des Familienrechts (als erster Anhang des Naturrechts), in: Ders., Werke 1797-1798, J.G. Fichte-Gesamtausgabe, hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky, Bd. 1/4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 95-128. Zu Fichtes Bestimmung der Geschlechterdifferenz im Rahmen seines Eherechtes vgl. Heinz, Marion/Kuster, Friederike, „Vollkommene Vereinigung". Fichtes Eherecht in der Perspektive feministischer Philosophie, DZPh 46 (1998), 823-839. Zur feministischen Auseinandersetzung mit Fichtes Eherecht a.a.O., 824-829. „Die Natur hat ihren Zweck der Fortpflanzung des Menschengeschlechts [sie] auf einen Naturtrieb in zioei besonderen Geschlechtern gegründet, der nur um sein selbst willen da zu seyn, und auf nichts auszugehen scheint, als auf seine eigene Befriedigung." (Fichte, Grundriss §1, 95).

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verteile sich „gleichsam in zwei absolut zusammen gehörende, und nur in ihrer Vereinigung ein sich fortpflanzendes Ganzes ausmachende Hälften". Geteilt bilde sich aus dieser Kraft das Individuum, doch das „Individuum besteht lediglich als Tendenz, die Gattung zu bilden".79 Mann und Frau sind gleich in Bezug auf ihre Vernünftigkeit. Doch als Gattungswesen sind sie von Natur aus verschieden, um den Naturzweck der Fortpflanzung zu gewährleisten: „Die besondere Bestimmung dieser Natureinrichtung ist die, daß bei der Befriedigung des Triebes, oder Beförderung des Naturzwecks, was den eigentlichen Akt der Zeugung anbelangt, das eine Geschlecht sich nur tätig, das andere sich nur leidend verhalte." 80

Fichte bestimmt also die Geschlechterdifferenz aus dem Geschlechtsakt in der aristotelischen Unterscheidung von Stoff und Form. Das Weibliche wird mit dem passiven, empfangenden Stoff und das Männliche mit der aktiven Bewegung der Zeugung identifiziert. 81 Obgleich Fichte die aristotelische Ontologie nicht teilt, bewertet er den als reine Passivität gedachten Stoff als minderwertig: „[...] das zweite Geschlecht steht der Natureinrichtung nach um eine Stufe tiefer, als das erste; es ist Objekt einer Kraft des erstem"ß2 Fichtes Problem besteht nun darin, dass die gattungsgemäße Bestimmung der Frau, anders als die des Mannes, zu ihrem Vernunftcharakter in Widerspruch steht. Die Frau würde in der völligen Passivität, die ihr im Geschlechtsakt zukommt, ihre Personwürde aufgeben und sich zur Sache herabwürdigen. Er löst diese Schwierigkeit, indem er für die Frau nicht die Befriedigung ihres Geschlechtstriebes, sondern die hingebende Liebe als Naturtrieb postuliert: „Sie behauptet ihre Würde, ohnerachtet sie Mittel wird, dadurch, daß sie sich freiwillig, zufolge eines edlen Naturtriebes, des der Liebe, zum Mittel macht." 8 3

Das zentrale Scharnier in dieser Theorie ist also die Zuordnung von Aktivität und Passivität bezüglich der Vernunfttätigkeit wie im Geschlechtsakt, d.h. auf der geistigen wie auf der physischen Ebene, die dem Mann Aktivität, der Frau Passivität zuschreibt, und die mit der

79

Fichte, Grundriss §1, 96.

80

Fichte, Grundriss §2, 97.

81

„Fichtes Charakterisierung des Geschlechtsunterschiedes mittels der Begriffe Stoff und bewegendes Prinzip demonstriert, nicht anders als Humboldts Geschlechtertheorie, die ungebrochene Wirkungsmacht der aristotelischen Biologie." (Heinz/Kuster, Vereinigung, 832). Fichte, Grundriss §3, 99. Fichtes Höherwertung der Aktivität liegt durchaus auf der Linie des aristotelischen Denkens, allerdings rührt sie aus seiner Bestimmung der Vernunft als „absolute Selbstthätigkeit" (Fichte, Grundriss §3, 97). Fichte, Grundriss §4, 100.

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Bestimmung der Frau als Vernunftwesen in Widerspruch gerät. 84 Den Widerspruch, den Fichte in der Aktivität der Vernunft und der Passivität der Frau im Geschlechtsakt sieht, löst er dadurch auf, dass er der Frau aus Vernunftgründen jeden Geschlechtstrieb abspricht (denn sonst widerspräche sich die vernünftige Frau selbst, indem sie ihre Passivität suchte) und die Aktivität der Frau in der Hingabe an den Mann aus Liebe sieht. 85 Wie die Romantiker sieht Fichte das Wesen der Ehe in der Liebe, nicht in äußeren, objektiven Ehezwecken wie der Fortpflanzung, und unterscheidet sich damit deutlich von den vertragsrechtlichen Ehekonzepten der Frühaufklärung. 8 6 Die Ehe bezweckt die „vollkommene Vereinigung zweier Personen"87 und bewegt sich auf moralischer, nicht auf vertragsrechtlicher Ebene. Fichte entsexualisiert die Frau im Namen der Vernunft 8 8 und ersetzt den natürlichen Sexualtrieb bei ihr durch einen gewissermaßen naturgegebenen Liebestrieb: „Im unverdorbenen Weibe äussert sich kein Geschlechtstrieb, und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen."89 Fichte teilt damit geistige Liebe und körperliche Lust zwischen Frau und Mann auf - eine Position gegen die Friedrich Schlegel und Schleiermacher sich wandten. 9 0 Zugleich symbolisiert diese Weiblichkeit, die ihre Wesensbestimmung in der Liebe hat, „eine konfliktfreie, vorrationale 84

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Die Zweigeschlechtlichkeit und die Passivität des weiblichen Geschlechts gründet für Fichte in der organischen Natur und bezieht sich auf den Menschen als Gattungswesen. Sein Begriff der Geschlechterdifferenz steht in Spannung zu seinem Begriff des Menschen als Individuum, wie allerdings erst am weiblichen Individuum sichtbar wird. Deshalb führt Fichte die Liebe als ,,innigste[n] Vereinigungspunkt der Natur und der Vernunft" ein (Fichte, Grundriss §4, 100). „Genaugenommen besteht die in der Liebe sich vollziehende Vereinigung von Vernunft und Natur darin, daß der Trieb der Frau durch die Natur selbst auf den einzigen mit der Vernunft vereinbaren Zweck des Geschlechts, die Befriedigung des männlichen Triebes, umgelenkt wird." (Heinz/Kuster, Vereinigung, 833). Bennent charakterisiert Fichtes Ehetheorie treffend, wenn sie seinen Eheentwurf mit „weibliche Selbstunteriverfung als Bezveis der Vernunftbegabung" überschreibt (Bennent, Galanterie, 113). Zu Bennents scharfer und luzider Darstellung von Fichtes Ehetheorie vgl. a.a.O., 113-129. Kant sieht trotz seines vertragsrechtlichen Eheverständnisses die Fortpflanzung nicht als Ehezweck und setzt sich damit deutlich von der seit Thomas v. Aquin und bis in die Spätaufklärung vertretenen Position ab. Fichte, Grundriss §8,104. Vgl. Bennent, Galanterie, 116. Fichte, Grundriss §4, 100. Vgl. auch Fichtes Begriff der Liebe: „Liebe ist der innigste Vereinigungspunkt der Natur, und der Vernunft; sie ist das einzige Glied, ιυο die Natur in die Vernunft eingreift; sie ist sonach das Vortrefflichste unter allem Natürlichen." (Fichte, Grundriss §4, 100). Schleiermacher wendet sich in seinen Vertrauten Briefen ausdrücklich gegen Fichtes Ehetheorie (vgl. z.B. K G A 1/3,162).

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Versöhnung des Menschen mit der Natur"91. Die Ehe ist ein sittliches, nicht ein rechtliches Verhältnis, dessen Binnenstruktur dadurch charakterisiert ist, dass die Entrechtlichung der Frau sittlich gefordert wird: „In dem Begriffe der Ehe liegt die unbegrenzteste Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes; nicht aus einem juridischen sondern aus einem moralischen Grunde. Sie muss sich unterwerfen um ihrer eigenen Ehre willen. - Die Frau gehört nicht sich selbst an, sondern dem Manne. [...] Der Mann tritt ganz an ihre Stelle; sie ist durch ihre Verheirathung für den Staat ganz vernichtet, zufolge ihres eigenen nothwendigen Willens, den der Staat garantirt hat. Der Mann wird ihre Garantie bei dem Staate; er wird ihr rechtlicher Vormund; er lebt in allem ihr öffentliches Leben; und sie behält lediglich ein häusliches Leben übrig." 9 2

Im Rahmen seiner Deduktion der Ehe entwickelt Fichte ein Modell der Geschlechterdifferenz der Einheit aufgrund hierarchischer Komplementarität von aktiver superiorer Männlichkeit und passiver inferiorer Weiblichkeit, das von der Frau, um ihrem weiblichen Geschlechtscharakter zu entsprechen, moralisch die rechtliche Selbstaufgabe und völlige Unterwerfung unter den Ehemann verlangt. 93 Dieser naturfundierte Geschlechtscharakter durchzieht das gesamte Wesen der Frau, so dass Fichte letztlich auch den Ausschluss der Frau aus den höheren Bildungsinstitutionen damit begründet. 94 2.3.4. Humboldt: Geschlechterdifferenz als komplementäre Einheit Wilhelm von Humboldts Aufsatz Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einflufl auf die organische Natur (1794) erschien zeitgleich mit Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen. Humboldts Interesse setzt an bei der Frage nach der Verbindung von

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Bennent, Galanterie, 117.

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Fichte, Grundriss §16, 113. Fichte will die Unterwerfung der Frau in der Ehe durch den Großmut des Mannes ausbalancieren (vgl. Fichte, Grundriss §7, 102f.). Doch der Mann hat sowohl die superiore Position als Naturwesen wie auch die überlegene Position des „großmütig gewährenden Garanten weiblicher Würde" (Heinz/Kuster, Vereinigung, 837), so dass die moralische Reziprozität, die Fichte behauptet, lediglich eine scheinbare ist. Vgl. Barbara Dudens Quintessenz: „So war am Ausgang der bürgerlichen Gesellschaft als 'Bestimmung des Weibes' ein weiblicher Geschlechtscharakter formuliert worden, in dem die Aufgabe der Frau identisch wurde mit ihrer Selbstaufgabe. Zu 'sich selbst' kommen hieß für sie, auf sich selbst verzichten." (Duden, Eigentum, 135). Fichte, Grundriss §38, 135. Der weibliche Geschlechtscharakter vereinigt harmonisch Natur und Vernunft, allerdings auf Kosten der Vernunft: „Ihr Grundtrieb verschmilzt gleich ursprünglich mit der Vernunft, weil er ohne diese Verbindung die Vernunft aufhübe; er wird ein vernünftiger Trieb; darum ist ihr ganzes Gefühlsystem vernünftig, und gleichsam auf die Vernunft berechnet. Dahingegen muß der Mann alle seine Triebe erst durch Mühe und Thätigkeit der Vernunft unterordnen."

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sinnlichem und intellektuellem Vermögen und weitet sich aus zu der Frage, wie die Verknüpfung widerstreitender Kräfte überhaupt möglich sei. 95 Nicht mehr die rationale Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, von physischer und moralischer Natur, sondern deren organische Einheit bestimmt Humboldts Denken. Sein Ansatz lässt sich als eine naturphilosophisch-anthropologische Phänomenologie des Geschlechtsunterschiedes beschreiben. 96 Die Kategorie Geschlecht fundiert die Naturprozesse insgesamt und ist keineswegs allein auf die Erhaltung der Gattung beschränkt: „Die Natur wäre ohne ihn [den Geschlechtsunterschied, EH] nicht Natur, ihr Räderwerk stände still, und sowohl der Zug, welcher alle Wesen verbindet, als der Kampf, welcher jedes einzelne nöthigt, sich mit seiner, ihm eigenthümlichen Energie zu wafnen, hörte auf, wenn an die Stelle dieses Unterschiedes eine langweilige und erschlaffende Gleichheit träte." 9 7

Er stützt sich auf eine Naturmetaphysik komplementärer Kräfte, um den Geschlechtsunterschied in seiner grundlegenden Bedeutung für alles Leben darzustellen. Humboldt sieht im Geschlechtsunterschied das Naturprinzip der Wechselwirkung einander antagonistisch entgegengesetzter, aber genau darum sich ergänzender und erst darin zu Harmonie und Leben gelangender Kräfte, die den Bereich des Physischen und den des Moralischen durchdringen. 98 Die verbindende Anziehungskraft, die zur Vereinigung führt, ist die Liebe. Das Charakteristikum seines Modells der Geschlechterdifferenz ist die als Komplementarität verfasste Differenz in der Einheit. Humboldt entwickelt seine Überlegungen ausgehend vom Begriff der Zeugung als schöpferischer Kraft, die die Einheit zweier komplementärer Prinzipien darstellt. 99 Die ungleichen Prinzipien, die in der Zeugung zusammen95

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Humboldt, Wilhelm von, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Bd. 1 Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Stuttgart 4 2002, 2 6 8 295. Dieser Aufsatz erschien 1794 in Schillers Zeitschrift Die Hören, und 1795 der Aufsatz Über die männliche und weibliche Form, der als Fortsetzung verstanden werden kann (vgl. Humboldt, Wilhelm von, Über die männliche und weibliche Form, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Bd. 1 Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Stuttgart 4 20 02, 296-336). „[...] die äussere sinnliche Gestalt der Gegenstände giebt ihm [dem Menschen, EH] einen Spiegel in die Hand, in welchem sein Auge ihre innere Beschaffenheit erblickt." (Humboldt, Geschlechtsunterschied, 271). Humboldt, Geschlechtsunterschied, 268. „[··.] und alsdann bezeichnet er nichts anders, als eine so eigentümliche Ungleichartigkeit verschiedener Kräfte, daß sie nur verbunden ein Ganzes ausmachen, und ein gegenseitiges Bedürfniß, dieß Ganze durch Wechselwirkung in der That herzustellen." (Humboldt, Geschlechtsunterschied, 269). „[...] so ist auch jede Zeugung eine Verbindung zweier verschiedener ungleichartiger Principien, die man, da die einen mehr thätig, die andern mehr leidend sind, die zeugenden (im

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wirken, treten im Bereich der organischen Natur als Wechselwirkung zwischen Körper und Kraft, d.h. nach den Prinzipien von Spontaneität und Rezeptivität, auf und führen zur geschlechtlichen Differenzierung. „Hier beginnt nun der Unterschied der Geschlechter. Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die empfangende mehr zur Rückwirkung gestimmt. Was von der erstem belebt wird, nennen wir männlich, was die letztere beseelt, weiblich. Alles Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit. Indeß besteht dieser Unterschied nur in der Richtung, nicht in dem Vermögen."100 Ausgehend vom Geschlechtsakt identifiziert Humboldt das aktive Prinzip mit dem Männlichen und das passiv-rezeptive Prinzip mit dem Weiblichen, wobei weder Selbsttätigkeit noch Empfänglichkeit überhaupt ohne ein Moment des Komplementärprinzips denkbar sind. Die männliche Selbsttätigkeit trägt den Charakter glühender Energie und strebt konzentriert nach außen, die weibliche Empfänglichkeit ist durch üppige Fülle gekennzeichnet und drängt zur Aufnahme „innerhalb ihres Wesens"101. Der Vorgang der geistigen Zeugung ist dem der körperlichen analog. In der phänomenologischen Charakterisierung der männlichen und der weiblichen Kraft bestimmt Humboldt die männliche als „angestrengte Energie", die weibliche als „beharrliches Ausdauern", eine Charakterisierung, die er aus der Wirkung des Stoffes ableitet, und die er auch als „Daseyn" bezeichnet. 1 0 2 Humboldt sieht das weibliche wie das männliche Prinzip am Prozess der Zeugung aktiv beteiligt, doch seine Formulierung verrät selbst einen gewissen Vorbehalt: „Eigentlich geschieht daher die Belebung durch beide Geschlechter zugleich, nur dass die männliche Kraft doch allein die Erweckung bewirkt, indeß die weibliche nur ihre Möglichkeit vorbereitet, und ihre Fortdauer sichert."103 Und ungeachtet der notwendigen Abhängigkeit beider Prinzipien voneinander zeichnet sich das Männliche durch „eine grössere Unabhängigkeit" aus, während das Weibliche „das eigentlich verknüpfende Band in engeren Sinn des Wortes) und die empfangenden schied, 274).

nennt." (Humboldt, Geschlechtsunter-

100 Humboldt, Geschlechtsunterschied, 277t. Humboldt betont, dass die Differenz nicht eine hierarchische der Ebenen bzw. Vermögen sei, sondern auf der gleichen Ebene sich als komplementäre Richtung manifestiere. Sobald er die formale Bestimmung der komplementären Richtung inhaltlich beschreibt, stehen männliche Bewegung gegen weibliche Beharrlichkeit, männliche Energie gegen weibliches „Daseyn", männliche Tendenz zur Trennung und Unabhängigkeit gegen weibliche Tendenz zur Verbindung. 101 Humboldt, Geschlechtsunterschied, 279. Die Beschreibung lässt die Grundzüge des Geschlechtsaktes erkennbar durchschimmern. 102 Humboldt, Geschlechtsunterschied, 285, vgl. 294. 103 Humboldt, Geschlechtsunterschied, 289.

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dem Ganzen der Natur" sei. 104 Hier deutet sich an, was in Humboldts Schilderung des weiblichen und männlichen Charakters 1 0 5 manifest wird und in seinem Essay Über die männliche und weibliche Form dann offen zutage tritt. Sobald Humboldt sich von den naturphilosophischen Erörterungen ins Gebiet des Ästhetisch-Kulturellen und Anthropologischen begibt, gerät ihm seine ausbalancierte Geschlechterkomplementarität zu einer normativ besetzten Gerichtetheit. So bestimmen wieder der hierarchische Gegensatz von Stoff und Form bzw. von Vernunft und Sinnlichkeit das Wesen von Weiblichkeit und Männlichkeit: „Unverkennbar wird bei der Schönheit des Mannes mehr der Verstand durch die Oberherrschaft der Form [...], bei der Schönheit des Weibes mehr das Gefühl durch die freie Fülle des Stoffes [...] befriedigt."106 Obgleich der Geschlechtsunterschied die elementare schöpferische Differenz darstellt, bildet er im Blick auf die Möglichkeiten der Gattung Mensch eine Beschränkung, die Männern und Frauen als Geschlechtswesen die Vollendung versagt. Jedoch erlaubt der geschlechtslose Menschheitscharakter, der ebenfalls in allen angelegt ist, eine Ergänzung der natürlichen Einseitigkeit qua moralischer Bildung. 1 0 7 Daraus ergibt sich bereits die Aufgabe zur Ausbildung auf ein Menschheitsideal hin, das die begrenzenden Geschlechtscharaktere überschreitet. Der Herrschaftsanspruch des Geistes über die Natur qua Durchbildung der Natur steht selbstverständlich im Hintergrund dieses Konzeptes. Männer zeichnen sich durch „grössere Unabhängigkeit von dem Geschlechtsunterschied"108 aus; sie sind der reinen Menschlichkeit dadurch näher. Damit entfernen sie sich stärker als Frauen von der Natur. So bildet sich männliche Stärke zu Würde und moralischer Freiheit, und so findet man „den Charakter der Männlichkeit, der fast bis auf seine letzten Spuren vertilgt ist, nur in seiner Uebereinstimmung mit der reinen Menschlichkeit wieder. " 1 0 9 Bei Frauen ist nach Humboldt der Geschlechtscharakter

104 Humboldt, Geschlechtsunterschied, 292. 105 Vgl. Humboldt, Geschlechtsunterschied, 286f. 106 Humboldt, Form, 296. So kommt Bennent zu dem Schluss: „Die Geschlechtsverschiedenheit ivird zu einer elementaren qualitativen Differenz auf physischer, geistiger und nun insbesondere auch auf psychischer Ebene, während sie zuvor eher ein Mehr oder Weniger an körperlicher und intellektueller Stärke beschrieb." (Bennent, Galanterie, 11). 107 „Die grundlegende Einheit ist die Geschlechtseinheit, die höchste Einheit, zu der der Mensch sich ausbilden kann, ist die Einheit der Vernunft. Die in der Vernunft vollzogene Einheit entspricht der Einheit der geschlechtlichen Kräfte." (König, Irina, V o m Ursprung des Geistes aus der Geschlechtlichkeit. Zur chronologischen und systematischen Entwicklung der Ästhetik Wilhelm von Humboldts, Egelsbach/Köln/New York 1992, 69). 108 Humboldt, Form, 305. 109 Humboldt, Form, 322.

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stärker mit ihrer Persönlichkeit verbunden. Der Frau bleibt die Herrschaft des Stoffes wie die physische Schwäche, so dass ihre Veredlung „jene Naturabhängigkeit in eine freiwillige Unterzverfung unter ein selbstgegebenes Gesetz verwandelt"110. Humboldt führt in der größeren Bestimmtheit der Frau durch den Geschlechtsunterschied die Scheidelinie Natur - Vernunft auch wieder als geschlechtsspezifische Unterscheidung ein und unterläuft durch die Stufung zwischen Natur und Vernunft die Egalität der Kräfte, die er im Zeugungsbegriff etabliert hat. Humboldts These lautet, dass der Geist der Geschlechtlichkeit entspringt und die Erkenntniskritik in der Zeugungskraft wurzelt, doch dabei gibt die Aufgabe der Bildung der rohen Natur durch die Vernunft den Rahmen ab. Dabei sind allerdings die Männer der Vernunft näher als die Frauen, so dass innerhalb dieses komplementären Einheitsentwurfes der Geschlechtsunterschied auf subtile Weise die Hierarchie des Männlichen über das Weibliche affirmiert. 2.3.5. Schlegels Konzeption der Geschlechterdifferenz Humboldts Konzeption der Geschlechterdifferenz als komplementärer Einheit markiert einen neuen Abschnitt in der Debatte um das Wesen der Geschlechter. Die Geschlechterdifferenz wird von einer Größe der Anthropologie zu einem zentralen Unterscheidungskriterium philosophischer Reflexion. 111 Die Romantiker gliedern die Wirklichkeit kosmisch und naturphilosophisch nach den Kategorien „weiblich - männlich". 112 Das Polaritätsprinzip erscheint als Schlüssel zur Weltdeutung im Bereich der Natur wie im Bereich des Geistigen: Die Einheit des Ganzen entsteht aus der Vereinigung gegensätzlicher Kräfte und befindet sich in einem unendlichen Prozess des Werdens. Das Männliche und das Weibliche erscheinen als elementarer Ausdruck dieser Polarität des Werdens, als kosmische Prinzipien, die sich vom rein Natürlichen bis in die Höhen des Geistigen durchziehen. Die Liebe in der Ein-

110 Humboldt, Form, 323. 111 Vgl. Bennent, Galanterie, 12. 112 Vgl. Bennent, Galanterie, 12. Der frühaufklärerische egalitäre Feminismus entsexualisierte die Frau, indem der weiblich konnotierte Bereich der Gefühle ausgeklammert wurde. „Die Entsexualisierung des Weiblichen korrespondierte einem Bestreben, das Erotische so weit loie möglich aus dem Entwurf eines kultivierten Menschen typus herauszuhalten bzw. ihm einen exakt bemessenen und rational verfügten Standort zuzuweisen." (Bennent, Galanterie, 64, mit Verweis auf Foucault). Dagegen ist die romantische naturphilosophische Heraushebung der Geschlechterdifferenz verbunden mit der Betonung des Eros als kosmischer Lebenskraft wie in Friedrich Schlegels Roman Lucinde (vgl. Schlegel, Friedrich, Lucinde. Ein Roman, KA 5 , 1 - 8 2 ) .

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heit von Sinnlichkeit und Geistigkeit bildet den Einheits- und Vollendungspunkt. Diese Grundlinien prägen auch Friedrich Schlegels Denken, das in seiner frühen und mittleren Schaffensperiode unverkennbar die Signatur der Geschlechterdifferenz trägt. Friedrich Schlegel verbindet die kosmisch-prinzipielle Bedeutung der Geschlechterdifferenz mit einer sensiblen Wahrnehmung der zeitgenössischen Situation realer Frauen im Rahmen einer Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer moralischen Zwänge, wie sie die Geselligkeit des Athenäumskreises um die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel prägt. 113 Der emanzipatorische Impuls Schlegels, der durch biographische Erlebnisse ausgelöst wird und in dem er im Rahmen eines komplementären Geschlechtermodells „starke Weiblichkeit" und „sanfte Männlichkeit" nebeneinander stellt, transformiert sich in ein ästhetisches Programm, in dem Frauen als Symbol „erotisierter Weiblichkeit" (Barbara Becker-Cantarino) zu Verheißungsträgerinnen seines universalpoetischen Entwurfs idealisiert werden. 114 Die Begegnung mit der Verlobten seines Bruders August Wilhelm, der alleinerziehenden Mutter Caroline Böhmer geb. Michaelis, die ihn tief beeindruckt, verändert Friedrich Schlegels Frauenbild. Am Lebensweg seiner Schwägerin erkennt Friedrich Schlegel, wie bedrückend und eingeengt für Frauen die Lebensmöglichkeiten in geistigkultureller, gesellschaftlich-rechtlicher und ökonomischer Hinsicht waren. Im Zuge der Auseinandersetzung über seine Mitarbeit an der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Hören kommt es zu einer Entfremdung Friedrich Schlegels von Friedrich Schiller, die in einer von Schiller und Schlegel als Exponenten geführten Kontroverse über den Geschlechtscharakter der Frau kulminiert. Schiller, mit Wilhelm

113 „Während also die Bewertungen der romantischen Weiblichkeitsmuster stark divergieren, besteht weitgehende Einigkeit im Hinblick auf die antibürgerliche Moralhaltung dieser Richtung. Kennzeichnend für die Frühromantik ist die Entbindung der zwischengeschlechtlichen Liebe von allen institutionellen Zwängen. Die Propagierung einer frei ausgelebten geistigsinnlichen Liebe steht als Angriff auf die utilitaristischen Moralnormen der bürgerlichen Gesellschaft." (Bennent, Galanterie, 75). Allerdings bleibt es auch bei Friedrich Schlegel persönlich bei einer Wahrnehmung der Situation von Frauen, die nicht zu einer gelebten Egalität in der langjährigen Liebesbeziehung und Ehe zwischen Friedrich Schlegel und Dorothea Veit geb. Mendelsohn führt (vgl. Becker-Cantarino, Feminismus, 21-44, bes. 25f.). 114 Vgl. Becker-Cantarino, Feminismus, 41. Becker-Cantarino betont gegen die vorschnelle Identifizierung der geistesgeschichtlichen Forschung über das Frauenbild der Romantik, dass zwischen den gesellschaftlichen und politischen Optionen und Realitäten der Frühromantiker und ihren literarischen Weiblichkeitsbildern im Dienste gesellschaftskritischer, ästhetischer Programme unterschieden werden muss.

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von Humboldt befreundet, vertritt ein Modell der Geschlechterpolarität, das mit der auch von Humboldt verwendeten Begrifflichkeit von Stoff und Form Weiblichkeit als notwendige Ergänzung des Männlichen versteht. Die Frau als Ideal löst den Anspruch auf ein naturhaftharmonisches Ganzes der Menschheit aufgrund ihres naturgegebenen Wesens ein, bleibt aber zugleich deshalb statisch und ohne Entwicklungsmöglichkeiten. Für die realen Frauen propagiert Schiller die bürgerliche Geschlechterrolle der tugendsamen Ehefrau. 115 Dagegen setzt Friedrich Schlegel ein ebenfalls auf Komplementarität der Geschlechter basierendes Modell von „sanfter Männlichkeit" und „selbstständiger Weiblichkeit"u6. In seinem Aufsatz Über die Diotima (1795) 117 bildet die Antike den Hintergrund für ein zeitgenössisch progressives Frauenbild, das eingebunden ist in eine romantische Bildungsidee der ethischen und ästhetischen Vervollkommnung der Menschheit. Die Aufdeckung der strukturellen Ungleichheit im zeitgenössischen Geschlechterverhältnis und die Vorstellung einer höheren Menschlichkeit, der Weiblichkeit wie Männlichkeit untergeordnet sein sollen, leiten seinen Aufsatz Über die Philosophie. An Dorothea (1799). Den Rahmen dieser Weiblichkeitsvorstellungen bildet Schlegels philosophisch-ästhetisches Konzept der Universalpoesie einer alle Hierarchisierungen überwindenden höheren Einheit des Differenten. Kunst, Weiblichkeit, Liebe und Religion vermitteln und repräsentieren diese Universalität. 118 Seine heftige Kritik bürgerlicher Moralvorstellungen und der Ehe als Institution zugunsten einer Liebe zwischen Frau und Mann, die herkömmliche Rollenmuster und Grenzen des Geschlechtes spielerisch durchbricht, wie er sie in seinem Romanfragment Lucinde formuliert, steht in diesem Zusammenhang. Friedrich Schleiermacher stößt über die Freundschaft mit Friedrich Schlegel in den Kreis um die Schlegelbrüder und ihre Zeitschrift Athenäum, die vor allem Schillers betuliches Frauenbild kritisierten und karikierten. Angeregt durch den freundschaftlichen Austausch und die

115 Schiller charakterisiert wie Humboldt Weiblichkeit durch Anmut und sieht Frauen als Repräsentantinnen der Sittlichkeit. Humboldts Essays in den Hören regten ihn zu seinem Gedicht Würde der Frauen (1795) an (vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen, 48). August Wilhelm Schlegel verfasste zum Ergötzen des Freundeskreises eine Persiflage darauf, und Caroline Schlegel bezeichnete Schillers Dichtungen als „die versifizierten Humboldtschen Weiblichkeiten". 116 Schlegel, Friedrich, Über die Philosophie. An Dorothea (1799), KA 8, 41-62, hier: 45. 117 Schlegel, Friedrich, Über die Diotima (1795), Κ Α 1, 70-115. 118 „Liebe Genuß lichen KA 5,

ist nicht bloß das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige einer schönen Gegenwart. Sie ist nicht bloß eine Mischung, ein Ubergang vom Sterbzum Unsterblichen, sondern sie ist eine völlige Einheit beider." (Schlegel, Lucinde, 60).

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literarische Zusammenarbeit mit Friedrich Schlegel werden Geschlechterdifferenz und Frauenfrage auch für Schleiermacher ein wichtiges Thema. Dabei beruht seine Position auf einer breiten Kenntnis der relevanten Autoren sowie auf persönlicher Erfahrung. Schleiermacher besaß die Werke Rousseaus in seiner Bibliothek. 119 Er war ebenso gut vertraut mit den Schriften Kants und mit Fichte, von denen insbesondere der letztere mit seiner Ehetheorie in Deutschland grundlegend wirksam wurde. 120 Von Fichte besaß er u.a. die Grundlagen des Naturrechts (1796) und das System der Sittenlehre (1798). Dessen Ansichten über die Frauenfrage wie über die Ehe kannte er auch aus persönlichen Gesprächen im Jahr 1799, als sich Fichte, Friedrich Schlegel, Dorothea Mendelsohn-Veit zu täglichen Mittagsmahlzeiten trafen. 121 Darüber hinaus finden sich in seiner Bibliothek laut Auktionskatalog Johann Heinrich Campes Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophoron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet (1789) und damit eines der populärsten Werke lehrhafter Literatur für Frauen, Johann Bernhard Basedows Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker (1770), der gegen Rousseau und für die Bildung von Frauen argumentiert, und er besaß Theodor von Hippels Uber die Ehe in 4. Auflage (1793) und Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) und damit ein Werk, das sich dezidiert für die gleichen politischen Rechte von Frauen einsetzt. Auch die Werke von Anna Maria Schuurmann, die für die Bildungsfähigkeit der Frauen plädiert, finden sich in seiner Bibliothek. Schleiermacher war also mit den einflussreichsten philosophischen und literarischen Positionen zur Frauenfrage literarisch vertraut. 122 In welcher Weise er ein eigenes Konzept von Geschlechterdifferenz vertrat, welchen Ort es in seinem Denken einnahm, das gilt es im folgenden zu rekonstruieren. Von Friedrich Schlegel unterscheidet ihn biographisch hinsichtlich der Frauenfrage wie der Geschlechterthematik, dass er keine Wandlung von früherer Misogynität zum progressiven Verfechter weiblicher Freiheiten und Rechte durchmacht. Für die rechtlich-politischen Aspekte der Frauenfrage öffnet Schleiermacher sich kaum. Vor allem bleibt er in seinen späteren Schriften und Äußerungen im Raum der bürgerlichen Geschlechterordnung, wenn auch mit liberalen Einstellungen, was die individuelle Bildung von Frauen betrifft. Schleiermachers positive 119 Vgl. dazu und zu den folgenden Angaben: Meckenstock, Bibliothek. 120 Zu Kant und Fichte vgl. Richardson, Role, 7-16, 18-30 u. Bennent, Galanterie, 9 6 108, 113-129. Zur Auswirkung von Fichtes Ehetheorie vgl. auf Ute Gerhardt, bei Honegger, Ordnung, 252, Anmerkung 331. 121 Vgl. Richardson, Role, 32. 122 So urteilt auch Richardson, Role, 34.

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Wertung des Weiblichen und seine Hochschätzung von Frauen rühren eher aus einer Tendenz, eigene Charakterzüge mit den Stereotypen des Weiblichen zu identifizieren und deshalb besonders sensibel Abwertungen dieser Weiblichkeitszüge wahrzunehmen. 123

3. Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz Nachdem nun der Hintergrund skizziert ist, vor dem sich die Untersuchung von Schleiermachers Texten bewegt, muss die systematische Rekonstruktion der Geschlechterthematik im Denken Schleiermachers die Frage nach der inhaltlichen Konzeption, dem Ort und der Funktion der Geschlechterdifferenz wie der verwandten Themen von Liebe, Ehe und Freundschaft stellen. Dabei gilt es, deren Genese zu berücksichtigen und damit auch die Frage nach der Entwicklung von Schleiermachers Denken insgesamt zu streifen. Das berührt zwei Debatten, die bislang getrennt geführt wurden: Zum einen die Rekonstruktion von Schleiermachers wissenschaftlichem Denken und die Frage nach dessen Leitkategorien, zum anderen die Diskussion um Schleiermacher als „Feministen". 124 Meine Leitthese verknüpft beide Debatten folgendermaßen: Schleiermachers Konzept der Geschlechterdifferenz erschöpft sich nicht darin, eine inhaltlich naheliegende und dem Zeitgeist entsprechende Ausdifferenzierung der Anthropologie darzustellen, sondern leistet in der Doppelfunktion von anthropologischer Elementardifferenz und kulturellem Code die inhaltliche Vermittlung von Religion und gesellschaftlicher Ordnung, der Ausbildung frommer Subjektivität unter dem Druck funktionaler gesellschaftlicher Rollendifferenzierung mit Hilfe des Polaritätsprinzips und des Liebesgedankens, die seine theologische 123 S.o. 1.2 die brieflichen Selbstcharakterisierungen Schleiermachers. Diese Tendenz verwischt jedoch gleichzeitig die Verbindung von „Weiblichkeit" und realem Frausein, was wieder das „feministische" Engagement zugunsten der Verteidigung von Frauen schwächt (vgl. Guenther-Gleason, Schleiermacher, 58). Guenther-Gleason stellt heraus, dass diese „weibliche Identifizierung" und die daraus resultierende Selbstverteidigung in enger Beziehung zu Schleiermachers Selbstverständnis als religiösem Wesen steht (vgl. a.a.O., 36). 124 Das absolute Nebeneinander dieser beiden Diskussionen, die personell, lokal und vom forschungsgeschichtlichen Zusammenhang getrennt laufen und nur sehr selten und punktuell voneinander Kenntnis nehmen, spricht für sich. Dabei ist anzumerken, dass auch Ruth Richardsons Monographie, also die Arbeit einer Schleiermacherforscherin, die sich um die Schleiermacherforschung und -rezeption in den USA verdient gemacht hat und auch regelmäßig die europäischen Debatten wahrnimmt, von der deutschen Schleiermacherforschung in ihrer theologischen Bedeutung kaum beachtet wird.

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Neuorientierung unterstützen. Zum besseren Verständnis seien die beiden Linien, die Frage nach der Genese von Schleiermachers Theoriekonzeption und nach seiner Haltung hinsichtlich der „Frauenfrage" in aller Kürze dargestellt. 125 Die neuere Schleiermacherforschung über die Entstehung und Einordnung von Schleiermachers Theoriekonzeption hat durch die Bearbeitung der Jugendschriften starke Impulse erhalten. Dabei ging es nicht in erster Linie um eine biographische Darstellung der „religiösen Entwicklung Schleiermachers"126, sondern um die textimmanente Analyse und Rekonstruktion seiner Theorieentwicklung. Ähnlich wie bei der Interpretation seines Hauptwerkes standen dabei individualitäts- und subjektivitätstheoretische Interpretationsansätze im Vordergrund, denen durch die umfassende und akribische Arbeit Bernd Oberdorfers 127 eine sozialtheoretische Rekonstruktion der Schleiermacherschen Theorieentwicklung zur Seite gestellt wurde. Die Arbeit Oberdorfers eröffnet eine Deutung der Theorieentwicklung des jungen Schleiermacher, die die Frage nach der Herausbildung seines Religionsverständnisses als einen Seitenaspekt betrachtet, der biographisch stets präsent und

125 Zur Frage der Genese und der Gesamtinterpretation von Schleiermachers Denken vgl. den ausführlichen Überblick bei Schrofner, Erich, Theologie als positive Wissenschaft. Prinzipien und Methoden der Dogmatik bei Schleiermacher, Frankfurt a.M. 1980, 15-58 sowie Barth, Ulrich, Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983, 7-27; Scholtz, Gunter, Die Philosophie Schleiermachers (EdF 217), Darmstadt 1984, 9 ^ 4 ; Meckenstock, Günter, Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789-1794 (SchlAr 5), Berlin/New York 1988, 4-18. Neuere Überblicke geben Moxter, Michael, Neuzeitliche Umformungen der Theologie. Philosophische Aspekte in der neueren Schleiermacherliteratur, PhR 41 (1994), 133-158; Barth, Ulrich, SchleiermacherLiteratur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, ThR 66 (2001), 408-461. Johannes Dittmer bietet die neueste und sehr materialreiche Übersicht, die neben der Debatte um Schleiermachers wissenschaftliches System insbesondere die Forschungslage hinsichtlich der Beziehungen zu Piaton, der Frühromantik und zur romantischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft beachtet (Dittmer, Johannes Michael, Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive, Berlin/New York 2001, 8-67). 126 So der Titel von Johannes Wendlands Veröffentlichung von 1915, die Schleiermachers philosphisches und theologisches Werk auf psychische Dispositionen Schleiermachers zurückführt - insbesondere auf das Mit- und Gegeneinander eines starken Intellektes und einer intensiven und sensiblen Gefühlswelt (vgl. Wendland, Johannes, Die religiöse Entwicklung Schleiermachers, Tübingen 1915). 127 Oberdorfer, Bernd, Geselligkeit und die Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin/New York 1995.

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bedeutsam bleibt, in den frühen Texten jedoch nur marginal und unbetont auftaucht. 128 Oberdorfer ist m.E. darin recht zu geben, dass die Beschäftigung mit Kant auf dem Hintergrund von Schleiermachers sozialtheoretischem Interesse erfolgt. Schleiermachers Beschäftigung mit der Frage nach moralischer Vollkommenheit und Individualität ist angeregt durch seine Leitfrage nach intersubjektiver Kommunikation und Wahrnehmung von Andersheit. Dennoch - und dies vernachlässigt Oberdorfer in seiner Konzentration auf seine These - wirkt die KantRezeption für die weitere Theorieentwicklung und besonders hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Grundlagenfragen 129 nachhaltig. So bringt die Auseinandersetzung mit Kant die Frage nach der systematischen Verortung des Gottesgedankens mit sich. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Metaphysik und Moral, die in den späteren Texten Schleiermachers für seinen Religionsbegriff wie für die Einordnung der Theologie in sein System der Wissenschaften von Bedeutung ist. Ebenso gilt dies für den Freiheitsbegriff, den Schleiermacher aus ethischem Interesse zu klären sucht und der unmittelbar grundlegende Bedeutung hat. 130 Die ontologischen Implikationen seiner ethischen Konzeption verfolgt Schleiermacher in seiner Auseinandersetzung mit Jacobi und Spinoza, in der die Frage der Religion offen thematisch wird. Dies bedeutet, dass mit der Jacobi-Spinoza-Rezeption eine grundlegende Erweiterung von Schleiermachers Theorieentwicklung stattgefunden hat, die das sozialtheoretische Leitinteresse nicht aufhebt, sondern konsequent in einen weiteren Zusammenhang stellt, der nun unmittelbar theologische Fragen, insbesondere den Gottesbegriff, berührt. Aus der Beschäftigung mit Spinoza und Jacobi gewinnt

128 Vgl. Oberdorfer, Geselligkeit, 451f. u. 427: „Auf all diesen Entwicklungsstufen erschienen Religion und Theologie als ein immer auf die Kontingenz, Defizienz und Fragilität der menschlichen Existenz bezogener Seitenaspekt." 129 Vgl. Meckenstocks Arbeit zur Interpretation zentraler Jugendschriften, die mit den beiden Stichworten „ethischer Determinismus" und „kritische Theologie" die Ansätze herausarbeitet, die für das Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher wichtige Weichenstellungen enthalten (vgl. Meckenstock, Ethik). 130 Oberdorfer wendet sich dezidiert gegen Meckenstocks These, dass Schleiermacher in seiner Schrift Uber die Freiheit vom Stadium der Vermittlung zwischen Kant und der Schulphilosophie in die Phase der Affirmation des Kantianismus und der Relativierung der Schulphilosophie übergegangen sei (vgl. Oberdorfer, Geselligkeit, 288f.). Allerdings - und dies genügt m.E. als Weichenstellung - hält auch Oberdorfer als Errungenschaften Schleiermachers aus seiner Kant-Rezeption die strikte Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie sowie die Einsicht in die „erkenntnistheoretische Notwendigkeit der Annahme eines universalen Kausalzusammenhangs der Wirklichkeit" (a.a.O., 288) fest. Daraus folgt als Grundorientierung Schleiermachers deterministische Freiheitstheorie (vgl .a.a.O., 279f.).

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Schleiermacher einen vertieften, radikal endlichen und phänomenalen Begriff von Person und Individualität, dessen Verhältnis zum Unendlichen er mittels des Spinozischen Inhärenz-Gedankens bestimmt. Diese metaphysische Konzeption des Verhältnisses von Unendlichem und Endlichem gibt auch den Rahmen für die spezifische Erkenntnis des Unendlichen durch das Endliche, wobei Schleiermacher die Phänomenalität aller Gegenstandserkenntnis mit Kant festhält und Jacobis Gedanken des unmittelbaren Realitätsbewusstseins auf eine kritische Theorie der Individualität und Personalität konzentriert. 131 Mit Spinozas Inhärenz-Gedanken berührt Schleiermacher unmittelbar die philosophische Gottesfrage und gewinnt darin einen Neuansatz seiner Theologie als Funktion der Kosmologie. 132 Somit zeigen sich in den Jugendschriften bis 1794 in der Tat entscheidende Ansätze für Schleiermachers Theorieentwicklung, wobei m.E. das von Oberdorfer rekonstruierte sozialtheoretische Interesse als Impuls für die weitere Entwicklung seines Denkens in Rechnung gestellt werden muss. Doch im Blick auf die Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza wie von den späteren Veröffentlichungen der reifen Zeit her betrachtet, kommt der Ausweitung seines Denkens in grundlegende erkenntnistheoretische und ontologische bzw. theologische Fragen großes Gewicht zu. Auf diesem Hintergrund sind die inhaltliche Programmatik von Schleiermachers Reden und seine weitere Entwicklung einzuordnen. Doch die stark von subjektivitätstheoretischen Leitbegriffen gekennzeichnete gegenwärtige Forschung neigt dazu, von den Texten der ersten Berliner Zeit von 1796 bis 1802 nur die Reden über die Religion und z.T. noch die Monologen zu beachten. 133 Schleiermachers Athe-

131 „Nur als Erscheinung, nur in der räumlichen und zeitlichen Erstreckung ist also individuelle Personalität, d.h. Identität des Selbstbewußtseins durch alle Veränderungen hindurch und Bewußtsein dieser Identität möglich. Dabei fällt die formale Struktur der allen Vorstellungen des Ichs vorausliegenden, ihnen zugrunde liegenden und sie begleitenden Selbstreferentialität - in Kantischer Terminologie die transzendentale Subjektivität, in jacobis Diktion das unmittelbare Selbstbewußtsein als die Einheitsform des Ichs - zusammen mit den je individuellen, kontingenten Selektions- und Syntheseprozessen, in denen der Einzelne je neu durch Auswahl und Verknüpfung von erinnerten und als eigene erfaßten Vorstellungen zu einer Reihe in der Zeit ein Beivußtsein seiner biographischen Identität produziert, einer Identität, die je gegenwartsfunktional perspektivisch sich wandelt, die unabschließbar - auch durch die Annahme eines substanzialen Substrats nicht definitiv zu sistieren ist." (Oberdorfer, Geselligkeit, 448f.). 132 Vgl. Meckenstock, Ethik, 212: „Durch Schleiermachers Interpretation wird das Ansich, das Spinoza durch den Gottesbegriff erfaßte, auslegbar als ein solches, das durch den Begriff des Universums verstanden wird." u. Oberdorfer, Geselligkeit, 4 5 1 ^ 5 8 . 133 Vgl. Christian Albrechts ausführliche Untersuchung der Reden, die mit der Rekonstruktion von Schleiermachers „Frömmigkeitstheorie" die Verbindung von den Reden zur Glaubenslehre herausarbeitet und einen konsistenten Theorieansatz für Schleier-

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näumsfragmente einschließlich der Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen, die Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, der Fragment gebliebene Versuch über eine Theorie des geselligen Betragens werden meist aus den Theorierekonstruktionen ausgeblendet. Als biographisch aufschlussreiche Dokumente im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zum frühromantischen Freundeskreis Friedrich Schlegels finden sie bei Darstellungen Schleiermachers, die stärker biographisch ausgerichtet sind, mehr Beachtung. Auch hier werden sie allerdings als „Durchgangsphase" m gewertet. Diejenigen Debatten, die dagegen gerade den Texten Schleiermachers im Dunstkreis der Frühromantik hohes Gewicht einräumen, haben in der Regel einen ausschnitthaften Blick auf Schleiermacher, da sie die (Früh-)Romantik mit literaturgeschichtlichem oder kulturtheoretischem Interesse untersuchen. Die Philosophie und Theologie Schleiermachers als ganze ist indessen nicht im Blick. Vorrangig innerhalb der Romantikforschung sowie im Zusammenhang der feministischen Forschung zur Frauenbildung hat sich auch das Interesse an Schleiermachers Frauenbild wie an seiner Konzeption von Weiblichkeit entwickelt. Doch die Verbindungen dieser Diskussion zur theologischen Schleiermacher-Forschung und die Verknüpfungen zu seinen späteren Arbeiten sind bis in jüngste Zeit mit Ausnahme vereinzelter Versuche noch nicht geknüpft worden. 135 Daher wird in dieser Untersuchung die Bedeutung und Funktion von Schleiermachers Konzept von Geschlechterdifferenz und Liebe in seiner Philosophie und Theologie rekonstruiert, indem die relevanten Texte aus den frühen Schriften ebenso wie die späteren Vorlesungen und die Glaubenslehre dargestellt und analysiert werden. Die Interpretation und Einordnung der Ergebnisse in theologischer wie kulturtheoretischer Hinsicht stehen dann am Ende des Durchganges. Begriffe wie machers Theologie über den Begriff der Frömmigkeit bietet: Albrecht, Christian, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (SchlAr 15), Berlin/New York 1994. 134 So z.B. in der Schleiermacher-Biographie von Kurt Nowak (Nowak, Schleiermacher) und der knappen Darstellung von Hermann Fischer (Fischer, Schleiermacher). Fischers zusammenfassendes Urteil soll beispielhaft zitiert werden: „Der Zeit im Kreise der Berliner Freunde und Frühromantiker verdankt Schleiermacher wesentliche Erfahrungen und Einsichten. Der Gedanke der Individualität gexoinnt an lebensgeschichtlicher Fülle; Geselligkeit, Freundschaft, Liebe und Ehe werden in ihrer Bedeutung für den ethischen Lebensprozeß erkannt, und die in den Reden entwickelte Vorstellung von der Selbständigkeit der Religion gegenüber Moral und Metaphysik hält sich als religionstheoretische Erkenntnis Schleiermachers durch. Gleichwohl hat diese frühromantische Epoche für ihn nur den Charakter einer Durchgangsphase. Er wandelt sich vom Romantiker zum großen wissenschaftlichen Theologen und Philosophen, und auch in der Wahrnehmung seines Predigtamtes entfernt er sich immer weiter von seinen romantischen Lebensempfindungen." (a.a.O., 27f.). 135 Vgl. dazu Kap. 1.3.

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Liebe, Freundschaft und Ehe bilden dabei semantische Bedeutungskomplexe für das Verständnis der theoretischen Konzeptionen von Weiblichkeit und Männlichkeit und deren wechselseitiger Bezüge, also für das Konzept von Geschlechterdifferenz, sofern Schleiermacher nicht dieses direkt thematisiert. Je nach Textlage gilt es deshalb, die expliziten wie impliziten Aussagen und Annahmen zum Geschlechterverhältnis in Schleiermachers Auffassung von Freundschaft wie in seinem Liebesbegriff aufzufinden. Mit diesen Themen werden die Anlage seiner Ethik, sein Verständnis des Menschen und seine Individualitätstheorie tangiert. Die Bezüge auf gesellschaftliche Realitäten, die in der zeitgeschichtlichen und biographischen Verortung skizziert wurden, werden in der abschließenden Einordnung wieder in den Blick kommen.

3.1. Die frühen Texte bis 1802 3.1.1. Die Jugendschriften bis 1793 In den unveröffentlichten Jugendschriften aus Schleiermachers Studienzeit in Halle und den Jahren seines Aufenthaltes in Drossen und Schlobitten, die von Günter Meckenstock und Bernd Oberdorfer ausführlich untersucht wurden, thematisiert Schleiermacher weder Geschlechterdifferenz noch geschlechtliche Liebe, reflektiert jedoch das Thema „Freundschaft", und es finden sich verstreute Bemerkungen über die Liebe in weitestem Sinn. 136 So verbindet Schleiermacher bereits hier Liebe mit Gegenseitigkeit bzw. Wechselbeziehung. 137 In den Anmerkungen zu Aristoteles wird Freundschaft zum Paradigma, an dem Schleiermacher sein Denken entwickelt. Freundschaft ist ein „Medium wechselseitiger Steigerung [im Original kursiv, EH] einer [...] sittlich konstitutierte[n} Individualität"13S. Freundschaft ist schon bei Aristoteles und ebenso bei Schleiermacher zuerst und exemplarisch als Beziehung zwischen (freien) Männern gedacht. In dieser Freundschaftskonzeption gibt es also keine sexuelle Differenz zwischen den Freunden. Dies ist jedoch nicht als Unbestimmtheit zu interpretieren; der Mensch, der in seiner Individualität kommuniziert und dem der Freund in irreduzibler Andersheit begegnet, bewegt sich in dem dominant männlich konno136 Ich danke Prof. Ulrich Barth für die Anregung, bei der Freundschaftsthematik der Aristoteles-Anmerkungen von 1788 (KGA 1/1, 1-41) einzusetzen. Zur Interpretation ziehe ich die bereits erwähnte Arbeit von Oberdorfer heran. 137 Vgl. Aristoteles-Anmerkungen, KGA 1/1, 7. 138 Oberdorfer, Geselligkeit, 35.

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tierten Kontext, der die Freundschaftstradition seit der Antike charakterisiert. Im Zentrum der freundschaftlichen Beziehung steht gerade die Kommunikation zwischen eigener und fremder Individualität 139 ohne die Irritation der Geschlechterdifferenz. Diese Beziehung ist hier im buchstäblichen Sinn des Wortes gleichgeschlechtlich vorgestellt, also ohne die Frage, ob eine Freundschaft zwischen Männern und Frauen überhaupt möglich sei.140 Entscheidende Voraussetzung ist die Gleichheit des Anderen in der Freundschaftsbeziehung 141 . Für Schleiermacher ist diese Gleichheit sittlich qualifiziert, d.h. die Gleichheit bemisst sich daran, ob beide gleichermaßen nach der Versittlichung ihrer Person streben und dabei einen vergleichbaren Grad individueller Differenziertheit aufweisen, nicht an Gleichheit des Standes oder ähnlicher Kriterien. So stellt sich die Frage, ob denn dieses Freundschaftskonzept mit dem Gedanken der Geschlechterdifferenz in Verbindung gebracht werden kann. Die Grundstruktur von Schleiermachers Freundschaftskonzeption besteht in wechselseitiger Kommunikation, Selbstmitteilung und Wahrnehmung bei bleibender Differenz, indem Gleichheit und Andersheit dergestalt ausbalanciert sind, dass die wechselseitige Steigerung der Individualität und Person des anderen, nicht aber die einseitige Funktionalisierung oder Instrumentalisierung intendiert sind. In der Freundschaft zwischen Frauen und Männern ist daher die Frage entscheidend, ob die Voraussetzung der Gleichheit erfüllt ist oder ob die Geschlechterdifferenz als sittliche Differenz im Sinne eines qualitativen Unterschiedes des sittlichen Potentials von Frau und Mann gedacht wird. Das Verständnis egalitärer Komplementarität, das Schleiermachers späteres Geschlechtermodell kennzeichnet, erfüllt diese Bedingung sittlicher Gleichheit. Insofern ist der Schluss zulässig, dass das rein männliche Freundschaftsparadigma eine Ausweitung auf Freundschaften zwischen Frauen und Männern ermöglicht, wie dies von Schleiermacher in den Vertrauten Briefen später vertreten wird. Dem Zentrum der Freundschaftskonzeption als wechselseitiger Bereicherung und Ablehnung von einseitiger Instrumentalisierung und Dominanz entspringt eine „Egalisierungsdynamik" (Oberdorfer) als die Tendenz, Kriterien freundschaftlicher Beziehungen wie „Wechselseitig-

139 Vgl. Oberdorfer, Geselligkeit, 32f. 140 Schleiermacher beantwortet diese Frage später in den Vertrauten Briefen anders als Schlegel in seiner Lucinde grundsätzlich positiv (vgl. KGA 1/3,196f. u. 207f.). 141 „Vorausgesetzt ist dabei allerdings immer eine Gleicheit (vgl. 5,15) mit dem Anderen hinsichtlich des Grades der Komplexität, da Unterlegenheit sich gerade in Berechenbarkeit, Transparenz und Instrumentalisierbarkeit äußert [...] und Überlegenheit des Andern ihn das Interesse an der Kommunikation verlieren ließe." (Oberdorfer, Geselligkeit, 32).

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keit, Gleichheit, Koemergenz der Förderung von Individualität und von Relationalität'nA1 auch in andere soziale Zusammenhänge einzubringen. Oberdorfer sieht gerade in der Ehe die Sozialform, in die Schleiermachers „Prinzip »Freundschaft"143 am deutlichsten ausstrahle. Während Aristoteles in der ehelichen Beziehung eine Differenz in der Vollkommenheit des Wesens konstatiere, stelle Schleiermacher eine Ungleichheit der „Summe der Rechte und Pflichten"144 fest. Schleiermacher sehe die qualitative Ungleichheit in einer Ehe, in der wahre Freundschaft zwischen den Eheleuten herrsche, schwinden, so dass allein die funktionale Differenz bestehen bleibe. 145 Oberdorfer beschreibt ein Verhältnis, in dem bereits eine Grundstruktur von Schleiermachers Eheverständnis erkennbar wird: Die Beziehung der Eheleute sei idealiter von Freundschaft bestimmt, die das Binnenverhältnis enthierarchisiere und egalisiere, aber eine funktionale Differenzierung festhalte, ja gerade bestärke und die äußere Form nicht verändere, so dass die rechtsförmige Ungleichheit und Hierarchie nicht angetastet werde. 146 Dies bedeutet im Blick auf das Verhältnis von Freundschaft und Ehe in Schleiermachers frühen Texten, dass die Eheauffassung, und damit ein zentraler Bereich des Geschlechterverhältnisses, schon sehr früh vom Prinzip der Freundschaft her gedacht wird, auch wenn biographisch und theoretisch die Freundschaftskonzeption als gleichgeschlechtliche Sozialform entworfen wird, und der Begriff der Liebe keine Rolle spielt. Für die Frage der Geschlechterdifferenz im engeren Sinn ist festzuhalten, dass diese auch im Rahmen der Eheauffassung nicht thematisch wird. Sichtbar wird Schleiermachers Tendenz zu einer funktionalen Differenzierung von Frau und Mann bei qualitativer Gleichheit auf der Ebene der persönlichen Binnenbeziehung und unverändert hierarchischer Form im öffentlichen Raum. In den weiteren Jugendschriften finden sich dann nur noch wenige für die Geschlechterfrage aufschlussreiche Hinweise. Schleiermachers Leitinteresse der Realisierung von Sittlichkeit erscheint zuerst einmal in Erwägungen zu ethischen und ontologischen Grundlagenfragen wie im Verständnis von Freiheit und vom Determinismus menschlichen Handelns. In Schleiermachers kleineren Texten zeigen sich sein sozialtheo142 Oberdorfer, Geselligkeit, 88. 143 Oberdorfer, Geselligkeit, 89. 144 Aristoteles-Anmerkungen, KGA1/1, 14. 145 „Wenn es nicht Mos Convenienz oder Fantasie ivar was Eheleute zusammenbrachte, sondern nur etwas wahre Neigung des Herzens dabei im Spiel war, so werden sie sich mit der Zeit entweder hassen oder das innere Gefühl wie sehr Gleichheit die Freundschaft erhöhe wird am Ende über alle die Ungleichheit siegen welche diese Gesellschaft mit sich zu bringen scheint." (Aristoteles-Anmerkungen, KGA 1/1, 17). 146 Vgl. Oberdorfer, Geselligkeit, 90.

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retisch-ethisches Interesse an Problemen der Geselligen ebenso wie seine Bemühung um begriffliche Klärung, die auf die philosophischen Grundlagentexte vorausweist. Diese Auseinandersetzungen mit Kant und mit Spinoza münden in eine „Theorie endlicher, durchgängig sinnlich bestimmter Individuen in konstitutiver sozialer Pluralität und permanenter Interdependent im kausal-temporal gedachten Kontinuum der Wirklichkeit"U7. Damit bewegt sich Schleiermachers Denken nicht nur im Bereich begrifflicher Deduktion von Vernunftideen, sondern schließt die phänomenologische Erfassung der Wirklichkeit wie der Individuen in ihrer sozialen Pluralität notwendig ein. Dies wiederum verleiht seinem Denken eine wesentlich größere Offenheit für die Wahrnehmung und Reflexion sozialer Phänomene. Schleiermacher vereinbart eine nicht-empirische, vernünftige Konzeption von Verhaltensorientierung und entsprechender Beurteilungskriterien mit einer empirischen Anthropologie, die die soziale Entwicklung von Individualität aussagt. Dieser Ansatz erfordert einen allgemeinen Begriff der „Bestimmung des Menschen"148, dessen Plausibilität und Gültigkeit sich bei phänomenologischer Betrachtung erweist. Schleiermachers gesamte Überlegungen dazu erfolgen ohne eine geschlechtsspezifische Perspektive. Obwohl er Unterschiede der sozialen Stellung, der gesellschaftlichen Macht und der Bildung, des Naturverhältnisses und individueller Kontingenzen (wie z.B. körperliche Konstitution) reflektiert, spielt die Frage des Geschlechtes keine Rolle. Schleiermacher ist darauf aus, im Rahmen seiner Konzeption von Sittlichkeit die prinzipiell für alle gleiche Möglichkeit zur Glückseligkeit aufzuweisen und damit die Universalität seiner Konzeption zu plausibilisieren. Möglich scheint ihm das durch eine hohe Bewertung des natürlichen Lebens und der Phantasie. Zugleich berührt Schleiermacher dadurch inhaltlich zwei Kritiken bzw. Defizite der Aufklärung und ihres gesellschaftlichen Modernismus. 149 Obgleich deutlich wird, dass die Geschlechterthematik in diesem Zusammenhang selbst als Aspekt der Unterschiede zwischen Individuen nicht präsent ist, finden sich also mit der Erwähnung des Natürlichen wie der Phantasie Anknüpfungsstellen für die Aufwertung des Weiblichen im Rahmen der späteren Konzeption von Geschlechterkomplementarität. 150

147 Oberdorfer, Geselligkeit, 150. Vgl. auch a.a.O., 315f. 148 Wert des Lebens, K G A 1/1, 391-471, hier: 406. 149 Vgl. dazu Oberdorfer, Geselligkeit, 377-389. 150 Die Diskussion, ob diese Aufwertungen der Phantasie und der Natürlichkeit vor allem kompensatorischen Charakter haben oder ein kritisches Gegengewicht gegen die als ambivalent wahrgenommene Modernität der Aufklärung, kann hier nicht geführt werden. Doch fällt auf, dass Schleiermachers Überlegungen einen stark quie-

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Mit den bisher betrachteten Jugendschriften lässt sich für den Zeitraum bis 1794 festhalten, dass die Frage der Differenz der Geschlechter für Schleiermacher nicht in den Blick tritt, wenngleich er mit dem Konzept der Freundschaft eine anthropologisch normative Sozialform entwickelt, die auf seine Behandlung der Sozialform „Ehe" ausstrahlt. Der selbstverständliche Kontext der Freundschaftskonzeption ist die mannmännliche Beziehung, die mit der antiken Freundschaftstradition impliziert ist. Das Hauptinteresse Schleiermachers gilt jedoch einer Konzeption von sittlicher Individualität, die sozial entwickelt wird und die eingebunden ist in eine Strukturtheorie der Wirklichkeit. Dabei werden bereits im Ansatz verschiedene Sphären in den Blick genommen, die auf die später entfaltete Ethik vorausweisen. Dies gilt jedoch nicht für die Sozialform Ehe, so dass die Rede vom „Menschen", die Schleiermacher z.B. in der Schrift Über den Werth des Lebens durchgängig verwendet, ungeachtet der erkennbaren Differenzierung sozialer Sphären und Strukturen, Frauen nicht einbezieht. Anders gesagt: Die „Strukturbeschreibung empirischer Subjektivität"151, auf die Schleiermachers Theorie zielt, nimmt die Kategorie Geschlecht als eine solche Struktur noch nicht wahr. Deutlich zeichnet sich auch die Tendenz ab, Spannungen und Konflikte zwischen den empirisch-kontingenten Elementen und dem universalen Anspruch und Ziel seiner Theorie über Differenzierungen zu bearbeiten, um die Allgemeinheit des sittlichen Anspruches festzuhalten. Im Blick auf die Sozialform der Ehe ist dabei die Unterscheidung erkennbar zwischen einem Binnenverhältnis, das vom Freundschaftsprinzip bestimmt sein sollte, und einem Außenverhältnis, das den bestehenden hierarchischen Alleinvertretungsanspruch des Mannes unangetastet lässt. 3.1.2. Die Schriften der Charite-Zeit 1796-1802 Die Berliner Zeit als Prediger an der Charite von 1796 bis 1802, in der Schleiermacher zum Freundeskreis um Friedrich Schlegel stößt, bringt im Blick auf die Frage der Geschlechterdifferenz die entscheidenden

tistischen Charakter tragen. Vgl. auch die Behandlung der gesellschaftlichen Machtunterschiede in Wert des Lebens. So auch Nowak, Frühromantik, 82. Oberdorfer dagegen interpretiert Schleiermachers Festhalten an der Normativität der Freundschaft, ohne eine Diskussion der unterschiedlichen Möglichkeiten zur Verwirklichung, als Hinweis darauf, dass Schleiermacher keinen gesellschaftspolitischen Quietismus, sondern eine Reformierbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse von innen heraus vertrete (vgl. Oberdorfer, Geselligkeit 372t.). 151 Oberdorfer, Geselligkeit, 307.

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Impulse, die modifiziert und differenziert in seinem späteren Denken und in seinen Schriften ihren festen Platz einnehmen. 152 Es steht zu vermuten, dass die biographischen Elemente die intellektuelle Auseinandersetzung vorbereiten, motivieren und begleiten, wie umgekehrt die theoretisch-literarische Diskussion die Erfahrungen und Begegnungen in einen neuen Horizont stellt. Schleiermacher wird hineingezogen in die Debatte um die Frauenfrage wie in die Beziehungskonstellationen und -konflikte seines Freundeskreises. 153 So stehen die Texte, die Schleiermacher auf Anregung Schlegels oder als Ergebnis des gemeinsamen „Symphilosophierens" in den Jahren 1798-1800 veröffentlicht, im Zentrum der folgenden genetischen Rekonstruktion. Die Athenäumsfragmente, der Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, die Reden über die Religion an die gebildeten unter ihren Verächtern, die Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde und die Monologen sind die wesentlichen Texte, aus denen sich Schleiermachers frühe Entfaltung der Geschlechterthematik rekonstruieren lässt. Davor liegen noch die unveröffentlichten Vermischten Gedanken und Einfülle der Jahre 1796-1798, die Schlaglichter auf die Entwicklung seiner Ehekonzeption werfen. Aus ihnen sind die aphoristischen Überlegungen Schleierma-

152 Aus der Landsberger Zeit gibt es neben den Predigten nur einige Briefe. Nach der Erfahrung des häuslichen Lebens, die Schleiermacher als Hauslehrer des Grafen Dohna in Schlobitten machte und insbesondere dem tiefgehenden, aber durch Standesgrenzen fest beschränkten Umgang mit Friederike von Dohna, eröffnet ihm der tägliche Umgang mit Frau Benike die Sphäre weiblicher Lebenszusammenhänge. Hier lernt er auch intensiv und nicht ohne eigene Verwicklung die Ehe aus der Sicht einer unglücklich verheirateten Frau kennen (vgl. Richardson, Role, 45f. 4 9 - 5 1 u. Guenther-Gleason, Schleiermacher, 51-54). Im Anschluss an Richardson, die gerade in dieser Periode ein erstaunliches intellektuelles Wachstum Schleiermachers vermutet, ist dies insbesondere für die Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen und seiner Vorstellung von Weiblichkeit anzunehmen, die dann weiterführt zu den Berliner Erfahrungen mit den Frauen im frühromantischen Kreis. 153 Die Bedeutung der Freundschaft zwischen Schleiermacher und Henriette Herz ist gut dokumentiert, einschließlich der zeitgenössischen Karikatur dieser Beziehung in J. D. Falks Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire (vgl. Nowak, Kurt, Nachwort, in: Ders. (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Bruchstücke der unendlichen Menschheit. Fragmente, Aphorismen und Notate der frühromantischen Jahre, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Kurt Nowak, Leipzig 2000, 100-116, hier: 100) und der Besorgnis von nahen Freunden über diesen vertrauten Umgang Schleiermachers mit einer verheirateten Frau (vgl. Schleiermachers Brief an seine Schwester Charlotte vom 23. März 1799, wo er sich gegen Vermutungen verteidigt, seine Beziehung zu Henriette Hertz sei eine erotische, KGA 1/5, 46f. u. Richardson, Role, 52-57). Nowak bezeichnet die Bekanntschaft Schleiermachers mit Henriette und Markus Herz als einen „geistes- und lebensgeschichtlichen Glücksfall" (Nowak, Schleiermacher, 81). Zu Eleonore von Grunows Einfluss vgl. Guenther-Gleason, Schleiermacher, 56f. u. Richardson, Role, 69-75.

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chers zu Ehe und Konkubinat im Kontext von Vertragstheorie und Staatsrecht von Interesse. Parallel zu der Entfaltung der Liebes- und Freundschaftskonzeption im Horizont seiner Konzeption individuellen Lebens, mit der die Geschlechterthematik nun unübersehbar präsent ist, arbeitet Schleiermacher an der Frage nach dem Ort der christlichen Religion. Diese Auseinandersetzung war ihm biographisch mit der herrnhutischen Jugend und seinen intellektuellen Neigungen wie mit den geistesgeschichtlichen Herausforderungen durch Kants Philosophie aufgegeben und hatte sich in der Auseinandersetzung mit Spinoza und Jacobi entscheidend weiterentwickelt. Angesichts der Verknüpfung beider Themen auch bei anderen Mitgliedern des Berliner Kreises, insbesondere bei Friedrich Schlegel, ist dies nicht nur als zeitliches Aufeinandertreffen zu deuten, sondern als inhaltliche Verbindung, die auch in den Reden über die Religion selbst erkennbar ist. So liegen die Wurzeln seines Konzeptes von Liebe, Ehe und Geschlechterbeziehungen, auch von Weiblichkeit und Männlichkeit als Geschlechtscharakteren, in den Schriften aus der Charite-Zeit. Sein Konzept von Liebe und Geschlechterkomplementarität ist dabei wie die Entwicklung seiner Religionsbzw. Frömmigkeitskonzeption eingebettet in sein Interesse an einer Theorie sittlicher Individualität, die sich generiert in einer kausal determinierten, komplexen Welt. 154 3.1.2.1.

Gedankenhefte

In dem von Schleiermacher seit September 1796 (mit Unterbrechung) bis 1799 geführten Heft Vermischte Gedanken und Einfülle155 sowie in den weiteren Heften finden sich einige wenige Bemerkungen über Frauen sowie einige Gedanken zu dem Themenbereich Ehe und Konkubinat 154 Der Begriff des Universums als Bezeichnung absoluter Totalität in den Reden signalisiert die kosmologische Interpretation der Theologie, die, wie schon erwähnt, ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit Spinoza darstellt. 155 Zu dem von Schleiermacher im September 1796 angelegten und wohl bis 1799 geführten Heft Vermischte Gedanken und Einfalle vgl. Meckenstock, Günter, Historische Einführung, K G A 1/2, I X - L X X X V n , hier: XVIII-XXII, sowie Nowak, Nachwort, 1 0 5 113. Dazu kommen weitere Hefte aus dieser Zeit mit weiteren Notizen, in denen sich Beobachtungen Schleiermachers zur eigenen Person und zu Menschen seiner Umgebung mischen mit kurzen Reflexionen und Sentenzen zu poetischen, ästhetischen, aber auch kirchen-, staats- und rechtspolitischen Problemen. Diese „Werkstatthefte" (Nowak, Nachwort, 114) geben Aufschluss über Vorstadien von Schleiermachers Veröffentlichungen, über literarische Projekte und Themen, mit denen er sich in dieser Zeit auseinandersetzt. Zum Umgang Schleiermachers mit diesen Einfallen und zur literarischen Abhängigkeit der Hefte untereinander vgl. Meckenstock, Einführung, K G A 1/2, X V n i - X X I I u. XXIX-XXXI sowie Meckenstock, Günter, Historische Einführung, K G A 1/3, VÜ-CXXI, hier: XCIII-XCVI.

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im Umkreis von Überlegungen zur Vertragstheorie und zum Recht des Staates. Als Schleiermacher im Herbst 1797 seinem Freund Schlegel diese Notizen zeigt, ermutigt ihn dieser zu weiteren Kurztexten dieser Art, die er als Beispiele seiner literarischen Theorie des Fragments 156 einordnet und die er für die Auffüllung der geplanten Fragmente in seiner mit seinem Bruder August Wilhelm herausgegebenen Zeitschrift Athenäum zu nutzen beabsichtigt. 157 Insgesamt zeugen sie von Schleiermachers intensiver Hinwendung zu Poesie und Ästhetik unter dem Einfluss Schlegels wie von der Erweiterung und Bereicherung seines Denkens durch den frühromantischen Freundeskreis. Drei Fragmente thematisieren die Frauen und ihre Situation unmittelbar: Nr. 6, Nr. 12 und Nr. 38.15S Während das Fragment Nr. 12 „Die Weiber sind oft so eitel, daß die Eitelkeit selbst ihnen nicht eitel genug ist" als Kritik Schleiermachers an den Frauen auf dem Hintergrund der Vorstellungen des Katechismus gelesen werden kann, der mahnt, angesichts der Bestimmung der Frauen, wahre Menschheit anzustreben, Koketterie wie Zerstreuung zu vermeiden, 159 gibt Fragment Nr. 38 Aufschluss über Schleiermachers zurückhaltende Einstellung im Blick auf gleiche bürgerliche Rechte und politische Beteiligung von Frauen: „Wenn die Weiber eine politische Existenz bekämen wäre nicht zu besorgen, daß die Liebe und mit ihr der intelligible Despotismus und die formlose Gewalt zu deren Darstellung die Weiber von Natur bestirnt sind verloren gehen würde?" 1 6 0

Friedrich Schlegel trat entschieden auch für die bürgerliche Gleichstellung von Frauen ein. Schleiermacher formuliert dagegen die Sorge, es könne zu einem spezifischen Verlust in der Liebe und damit des „intelligible[n] Despotismus" und der „formlose[n] Gewalt" kommen. Diese Besorgnis Schleiermachers erscheint in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie weist nicht nur darauf hin, dass die spätere klare Zuweisung der Frau und des Weiblichen in die Sphäre des Privaten und Häuslichen einschließlich der Geselligkeit keineswegs eine überraschende

156 Vgl. dazu Nowak, Nachwort, 105. 157 Von den 451 Athenäumsfragmenten sind etwa 30 sicher auf Schleiermacher zurückzuführen. Das bekannteste darunter ist die Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen (vgl. auch Meckenstock, Einführung, KGA 1/2, XXXI-XXXVIII). 158 Die längere Passage in Gedanken I, KGA 1/2, 4 - 7 Nr. 6, die die Reflexion über Ehe und Konkubinat im Rahmen des staatlichen Vertragsrechtes enthält, Nr. 12 (Gedanken I, K G A 1/2, 9 vgl. Gedanken II, KGA 1/2, 112, Nr. 22) u. Nr. 38 (Gedanken I, KGA 1/2, 15). 159 So Richardson, Role, 63. Vgl. Katechismus Erstes Gebot u. Glaube (Fragmente, KGA 1/2, 153f.). 160 Gedanken I, K G A 1/2,15 Nr. 38.

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neue Wendung des reifen Schleiermacher darstellt. 161 Sie gibt auch Aufschlüsse über Schleiermachers Weiblichkeitsvorstellung. Offensichtlich nimmt Schleiermacher die beengte und bedrückte gesellschaftliche Situation der Frauen durchaus wahr, zumal er sie an anderer Stelle entsprechend deutlich anspricht. 162 Aber er fürchtet um den Verlust des „intelligiblen Despotismus", den er den Frauen in besonderer Weise zuschreibt. Unter „intelligiblem Despotismus" ist die persönliche Einflusssphäre zu verstehen, die ein Mensch abgesehen und unabhängig von vorgegebenen gesellschaftlichen Positionen und juristischen Rechten als Person besitzt. 163 Schleiermacher erkennt hellsichtig, dass das Fehlen jeglicher rechtlichen oder politischen Macht Frauen zur intensiven Ausbildung ihrer persönlichen Einflusssphäre drängt, die sie im privaten und halbprivaten Bereich von Familie und Geselligkeit entwickeln und ausüben. Diese Form des Aufbaus von Beziehungen, die er im Bereich der Geselligkeit und zu ihrer Ausbildung für unverzichtbar hält, bringen die Frauen in die Männergesellschaft ein, und sie leisten damit den entscheidenden Beitrag zur Stiftung der „besseren Gesellschaft", auf die Schleiermacher mit seiner Freundschaftskonzeption zielt. 164 Frauen suchen demnach in der Geselligkeit mit Männern einen Raum der Freiheit von den Zwängen der häuslichen Sphäre. Dabei bleibt ihnen der Stand des „gebildeten Menschen" als einzige Schnitt161 Vgl. Richardson, Role, 64. 162 So kritisiert Ernestine in den Vertrauten Briefen die Isolierung der Liebe von Lucinde und Julius von ihrer bürgerlichen Existenz: „Wenigstens nicht in einer solchen Welt, wo die bürgerlichen Einrichtungen die Frauen so sehr erdrücken, da muß derjenige, dem sich ein Weib ergeben hat, schon aus Sellbstvertheidigung in das bürgerliche Leben hineingehen und da wirken." (Vertraute Briefe, KGA 1/3,163). 163 So Simon-Kuhlendahl, Frauenbild, 153f. 164 Vgl. dazu Simon-Kuhlendahl, Frauenbild, 151-153. In dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens schildert Schleiermacher die zeitgenössische Situation bürgerlicher Frauen, die notgedrungen die Geselligkeit stiften, die zur Ausbildung von Sittlichkeit beiträgt. „Die Frauen nämlich sind [...] weit übler daran, als die Männer [...]. Denn wenn der Mann auch von seinem Beruf spricht, so fühlt er sich doch von einer Seite noch frei, nämlich von der häuslichen; dagegen die Frauen, bei denen beides zusammenfällt, bei einer solchen Unterhaltung alle ihre Fesseln fühlen. Dies treibt sie dann weit weg unter die Männer, bei denen sie denn, weil sie mit dem bürgerlichen Leben nichts zu thun haben, und die Verhältnisse der Staaten sie nicht interessiren, jener Maxime nicht mehr folgen können, und eben dadurch, daß sie mit ihnen keinen Stand gemein haben, als den der gebildeten Menschen, die Stifter der besseren Gesellschaft werden." (Theorie des geselligen Betragens, K G A 1/2, 178). Germaine de Stael berichtet, dass sie bei ihrem Deutschlandbesuch 1804 im Unterschied zu Frankreich noch eine klare Trennung der Geschlechter bei geselligen Zirkeln und Treffen vorfand (vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen, 186f.), so dass Schleiermachers Äußerungen über die kreative Funktion der Frauen in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von der Ausnahmesituation der frühromantischen Geselligkeit zeugt und „keine programmatische Darstellung der Berliner Salongesellschaft" darstellt (a.a.O., 189).

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menge und gemeinsame Plattform der Begegnung, so dass sie nach Ansicht Schleiermachers die treibende Kraft in der Herausbildung der freien Geselligkeit darstellen. Anders gesagt, die Fremdheit der Frauen in der Männergesellschaft, die auf ihrem Ausschluss aus der politischen und beruflichen Öffentlichkeit beruht, bringt in eine gemischtgeschlechtliche Gesellschaft ein höchst kreatives Moment von Heterogenität. 165 Obwohl ihm also der Gedanke, dass Frauen die politische und rechtliche Gleichstellung mit den Männern erhalten könnten, nicht undenkbar erscheint, sieht Schleiermacher gleichwohl im Ausschluss der Frauen aus der bürgerlichen Öffentlichkeit von Beruf, Wissenschaft und Politik einen wichtigen Gewinn für die Ausbildung des Menschen überhaupt, nämlich die Stiftung, Pflege und Erhaltung einer kulturell tragenden Eigenschaft, die den Männern mangelt, und die mit der bürgerlichen Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft nach Schleiermachers Meinung verloren ginge. 166 Diese Sicht wird noch unterstützt durch eine eher kritische Sicht auf die berufliche Sphäre 167 und auf die politische Tätigkeit, angesichts derer der Ausschluss der Frauen als Freiheitsgewinn zu verstehen sei.168 In dieser Argumentation Schleier-

165 Schleiermacher erkennt darin noch das Moment der Unfreiwilligkeit, wenn er schreibt: „Ich kann mich hiebei der Bemerkung nicht enthalten, ob nicht, wenn es anders wahr ist, daß die bessere Geselligkeit sich bei uns zuerst unter den Augen und auf Betrieb der Frauen bildet, dieses, wie so vieles andere Vortrefliche, in den menschlichen Dingen ein Werk der Noth ist?" (Theorie des geselligen Betragens, KGA1/2,178). 166 Simon-Kuhlendahl führt nicht nur den „intelligiblen Despotismus" als kulturell wichtige Fähigkeit besonders von Frauen an, sondern auch ihr Verhältnis zur Phantasie, das als Vermögen aufgrund ihrer zurückgezogenen Lebensweise stärker ausgeprägt sei (vgl. Simon-Kuhlendahl, Frauenbild, 173f.). Zur großen Bedeutung der Phantasie vgl. auch die Monologen, in denen das Konzept der inneren, geistigen Freiheit angesichts einer äußeren Enge ein tragender Gedanke ist: „O loiißten doch die Menschen diese Götterkraft der Fantasie zu brauchen, die allein den Geist ins freie stellt." (Monologen, K G A 1/3, 48). Diese Sicht des öffentlichen und politischen Ausschlusses von Frauen zugunsten der gesamten Gesellschaft stützt die feministische Defizit- bzw. Kompensationshypothese. In der feministischen Diskussion wird allerdings - verständlicherweise - der kreative Aspekt nicht so wahrgenommen, wie dies bei Schleiermacher der Fall ist. 167 Schleiermachers politisches Engagement während der napoleonischen Kriege und der Niederlage Preußens wie seine universitäts- und kirchenpolitischen Aktivitäten in seiner späteren Berliner Zeit lassen vermuten, dass er seine Ansicht geändert hat. 168 „Der Staat muß immer angesehen werden als ein Ganzes aus Familien die unmittelbare Theilnahme nur als ein deputirtes Geschäft. Die Weiber sind daher mit Recht ausgeschlossen durch Freiheit." (Gedanken V, Nr. 111, KGA 1/3, 311). Vgl. dazu auch die Interpretation von Simon-Kuhlendahl, Frauenbild, 174-176, die Schleiermachers ambivalente Haltung gegenüber dem Ausschluss von Frauen aus der öffentlichen Sphäre differenziert darstellt und sowohl die persönlich-biographische Seite wie die theoretische Verankerung dieser Position erhellt.

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machers ist sowohl seine kritische Wahrnehmung der Defizite zu erkennen, die die Rolle des bürgerlichen Mannes für diesen selbst wie für die Gesellschaft insgesamt produziert, als auch eine bewusste Zustimmung zu der Funktion der Frau, die Schleiermacher eher kreativ als rein kompensatorisch interpretiert. Schwierigkeiten bereitet allerdings in der Notiz über den intelligiblen Despotismus die Formulierung „zu deren Darstellung die Weiber von Natur bestimmt sind", da natürliche Bestimmung und historische Veränderbarkeit widersprüchlich erscheinen. 169 Seine Äußerungen lassen darauf schließen, dass Schleiermacher historische Veränderungsprozesse in Rechnung stellt, aber deren Verhältnis zu einer Geschlechterkonzeption, die mit Elementen einer naturgegebenen Wesensunterscheidung arbeitet, noch nicht durchreflektiert hat. Im Licht der Spannung, die Schleiermachers ethische Theoriekonzeption einer universalen, vernünftigen Verhaltensorientierung und entsprechender Kriterien und seine phänomenologisch-empirisch ausgerichtete Beschreibung von Individualität durchzieht, lässt sich diese Äußerung auch als Spannung zwischen der universalen, vernünftigen Idee von Weiblichkeit und dem Wesen der Frau einerseits und den empirisch beschreibbaren Bedingungen von Weiblichkeit und Frausein andererseits interpretieren. Dies umso mehr, als für Schleiermacher Natur keinesfalls auf biologische Determiniertheit zu reduzieren ist, sondern stets ein „Organ der Vernunft" darstellt. In dem längeren Fragment Nr. 6 notiert Schleiermacher Überlegungen zu einer Reform der Ehegesetzgebung als Beispiel für staatliches Vertragsrecht. 170 In seinen Überlegungen geht er nicht einfach von der Institution Ehe als vorgegebener und einziger legitimer Form sexueller Beziehungen aus, er stellt vielmehr die Frage nach der Berechtigung 169 Simon-Kuhlendahl sieht darum in diesem Fragment den Widerspruch manifest werden, der Schleiermachers gesamte Geschlechterkonzeption durchziehe: „Dieser Widerspruch in Schleiermachers Überlegungen zur Stellung der Frau tritt nirgendwo so deutlich zutage wie in diesem kurzen Notat, ist aber dennoch implizit in fast all seinen diesbezüglichen Äußerungen enthalten." (Simon-Kuhlendahl, Frauenbild, 155). 170 Dieses Fragment bezieht sich auf einen anonymen Aufsatz aus dem Neuen Teutschen Merkur aus dem Jahr 1793 mit dem Titel Lieber die Vortheile des Systems der Galanterie und Erbfolge bey den Nayren, der für eine Ehe- und Familienform plädiert, die Frauen Freiheit zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten lässt. Das Fragment entstand (nach seiner Datierung auf den 11. Januar 1797) vor Schleiermachers Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel und ist deshalb nicht als Ergebnis einer Radikalisierung in Schleiermachers Denken aufgrund dessen Einfluss zu deuten. Plausibel ist vielmehr, dass Schleiermachers eigene Theorieinteressen ihn zu diesem Text inspirierten. Möglicherweise war er sensibilisiert durch biographische Einblicke, in welcher Weise die Institution der bürgerlichen Ehe als Instrument für Eigentumsbildung und Garant für Besitzansprüche fungiert, und welche Auswirkungen das insbesondere, aber nicht ausschließlich, auf die Ausbildung der Individualität bei Frauen zeitigt.

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des Staates für die Regelung dieses privaten Bereiches. 171 Schleiermachers ungewöhnliche und nicht nur für seine unmittelbaren Zeitgenossen anstößigen Gedanken enthalten eine Kritik der Rechtsform der bürgerlichen Ehe und ein Plädoyer für eine rechtlich-vertragliche Gestaltung des Konkubinats, 172 da dieses nicht unmoralisch sei. 173 Schleiermacher kritisiert sowohl, dass durch das Erbsystem die Ehe vor allem der Eigentumsbildung des Ehemannes und seiner Nachkommen diene und damit soziale Ungleichheit gefördert werde, als auch, dass die Entwicklung der Frau behindert werde. Die enge Verbindung mit dem Ehemann gewähre ihr zwar dessen gesellschaftliches Ansehen, verhindere aber, dass sie, auf sich selbst gestellt, eigene Fähigkeiten ausbilde und Leistungen erbringe. 174 Auffällig ist über den ungewöhnlichen Denkansatz hinaus vor allem Schleiermachers nüchterne Auffassung der Ehe in diesem Text. 175

171 Zur gesamten Interpretation des Textes verweise ich auf die differenzierte Auslegung durch Oberdorfer, Geselligkeit, 478-482, sowie auf die Interpretation von Richardson, Role, 64-66, die auf die Aussagen über Ehe und Konkubinat abhebt. Inhaltlich kommt letztere zu den gleichen Ergebnissen wie Oberdorfer, der ihre Arbeit jedoch nicht erwähnt. Richardson verweist darauf, dass sich Schleiermacher mit seiner Bewertung des Konkubinats gegen Kant und Fichte absetzt, die beide eine solche Beziehung als unethisch verwerfen. Schleiermachers eigenes Verständnis einer unethischen Beziehung (vgl. die Notiz Nr. 6 aus Gedanken I, K G A 1/2, 6, sowie das Siebte Gebot aus dem Katechismus, Fragmente, KGA 1/2, 153) kann gerade nicht die lebenslange eheliche Bindung durch staatliche Bestimmung legitimieren. Nach Schleiermacher ist eine Beziehung unethisch, wenn sie eine Person an der Erfüllung ihrer Pflichten und Ausübung ihrer Rechte hindert, was insbesondere bei übereilt geschlossenen Ehen der Fall sei (vgl. Richardson, Role, 64r-66). Nowak verweist auf die verbreitete gesellschaftliche Praxis des Konkubinates, wie sie sich in gesetzlichen Bestimmungen des Code Napoleon widerspiegelten (Nowak, Frühromantik, 285f.). 172 Die Erlaubnis zur Heirat stellte in der frühen Neuzeit (und territorial unterschiedlich bis weit ins 18. Jahrhundert) ein Privileg dar, das an Bedingungen wie ausreichende materielle Grundlagen u.a. geknüpft war. Zur Ausdehnung des Rechtes auf Heirat in der Neuzeit vgl. Wunder, Sonn, 88. 173 „Unmoralisch ist ein Verhältniß, wenn dadurch Jemand außer Stand gesezt wird seine Pflichten zu erfüllen oder seine Rechte geltend zu machen oder auch wenn der natürlichen Geneigtheit sich den ersten zu entziehn und Andern die lezteren zu beschränken auf eine keine Gegenmittel zulaßende Weise Vorschub geschieht." (Gedanken I Nr. 6, K G A 1/2, 5). 174 „Wenn die Ehen nur Konkubinate wären könnte das weibliche Geschlecht weit mehr Verdienste haben, und eine Frau würde nie mehr gelten als sie werth wäre. Sie hätte Gelegenheit sich emporzuschwingen." (Gedanken I Nr. 6, KGA 1/2, 7). 175 Nowaks Interpretation hebt auf den ,,denkerische[n] und emontionale[n] Wechsel" (Nowak, Frühromantik, 286) ab, den er zwischen diesem Fragment und Schleiermachers Ehekonzeption in den Monologen und den Vertrauten Briefen feststellt. Die andere Tonart und gedankliche Einordnung ist in der Tat bemerkenswert. Sie steht nicht im Widerspruch zu den späteren Ehevorstellungen, sondern zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie noch ganz auf die Regelung der sexuellen Beziehungen unter vertragsrechtlichen Kategorien ohne den umfassenden Liebesgedanken be-

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3.1.2.2. Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen Der prominenteste Text Schleiermachers bei den Verfechterinnen und Verfechtern der Frauenbildung 176 wurde die Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen, der 1798 anonym im Athenäum veröffentlicht wurde. 177 Er stellt ein Plädoyer für die sittliche und geistige Selbstentfaltung der Frau dar und deutet eine entsprechende Vision der Beziehungen zwischen Frauen und Männern an. Formal imitiert der Text den Dekalog, indem er zehn Gebote für Frauen aufrichtet und sich auch in deren Formulierung teilweise am religiösen Vorbild orientiert. Der Text schließt mit einer dreigliedrigen Bekenntnisformel überschrieben mit „Der Glaube"1™. Der Katechismus bietet gute Aufschlüsse über Schleiermachers Frauenideal und über die Beziehungen zwischen Frauen und Männern und erlaubt so, auf seine Geschlechterkonzeption um 1798 zu schließen. Er ergänzt das Bild, das das Fragment Nr. 6 aus den Gedanken I andeutet. Die Adressatinnen und Adressaten dieses Textes sind zuerst die Leser und Leserinnen des Athenäum, also an den aktuellen geistigen Debatten interessierte Menschen. Angesprochen werden explizit im Katechismus Frauen, die mit dem Prädikat „edel" qualifiziert werden, eine Prädizierung, die im Kontext dieser Zeitschrift eher eine geistige Haltung der Ausrichtung auf sittliches und intellektuelles Streben bezeichnen dürfte als eine standesgemäße Herkunft und Wohlstand. Die Überschrift beansprucht, diesen Frauen - entsprechend der Gattung Katechismus - elementare Leitsätze einer der Vernunft verpflichteten schränkt ist - also eher einen kantischen Zugang zur Ehe darstellt, aber bereits mit einer bemerkenswert kritischen Perspektive. 176 Vgl. dazu die Hinweise von Richardson, Role, 61, Anmerkung 11. 177 Fragmente Nr. 364, K G A 1/2, 153f. Die Verfasserschaft Schleiermachers wurde in der Schleiermacherforschung bestritten, meist aus Irritation über die „progressiven" Aussagen Schleiermachers im Vergleich zu seinen späteren Äußerungen über die Ehe, obgleich schon Dilthey den Text Schleiermacher zugeschrieben hat. Vgl. dazu Richardson, Role, 58f., insbesondere den Hinweis auf eine briefliche Äußerung Friedrich Schlegels an seinen Bruder, der die Autorschaft Schleiermachers bekräftigt. 178 Vgl. dazu die Analyse und Untersuchung von Quapp, Erwin, Friedrich Schleiermachers Gebots- und Glaubensauslegung in seiner „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen", in: Kurt-Victor Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984 (SchlAr 1), Berlin/New York 1985, 163-193. Sein Vorschlag, die Vertrauten Briefe als Interpretationskontext zu nutzen, ist für das Verständnis m.E. ausgesprochen erhellend, ebenso ist der strukturelle Vergleich mit dem Text des reformierten Katechismus interessant. Die knappe Interpretation Nowaks zeichnet sich dadurch aus, dass er die hintergründige Bindung des Bildungsentwurfs des Katechismus an das männliche Bildungsideal sowie die Beschränkung der Neubestimmung des Mann-Frau-Verhältnisses auf die individuelle und kulturelle Ebene unter Ausschluss der staatsbürgerlichen Emanzipation markiert (vgl. Nowak, Frühromantik, 283-285).

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Lebensführung („Gebote") und Weltanschauung („Glaube") zu präsentieren. Diese Leitsätze beziehen sich auf Beziehungen in Ehe, Familie und Freundschaft sowie auf die Ausbildung der Individualität, explizit auf Bildung, Ästhetik, geselligen Umgang und Urteilsvermögen („Weisheit") sowie gesellschaftliches Ansehen („Ehre"). Es gibt keine Gebote, die das politische und öffentliche Leben ausdrücklich betreffen, während die angesprochenen Frauen als Personen in ihrer sittlichen Freiheit und Verantwortung stark behaftet werden. Diese Verantwortung richtet sich vorrangig auf den Bereich der heterosexuellen Beziehungen und der Mutterschaft. Es bleibt offen, wer diese Gebote erlässt, die Uberschrift Katechismus der Vernunft und die Erwähnung der Natur als „Herrin" im Zweiten Gebot legen es nahe, den göttlichen Gesetzgeber des Dekaloges durch die natürliche Vernunft ersetzt zu sehen. 179 Es fällt auf, dass - sicher auch bedingt durch die Gattung der sittlichen Gebote - an die Handlungsfähigkeit und -macht von Frauen appelliert wird, Frauen in Freundschafts-, Ehe- und Familienbeziehungen also als aktiv und damit auch als machtvoll erscheinen. 180 Schleiermacher erhellt darin treffsicher typische Handlungsmöglichkeiten von bürgerlichen Frauen seiner Zeit, mit denen sie ihren begrenzten Handlungsbereich zu erweitern versuchten: die bewusste oder unbewusste Instrumentalisierung erotischer Macht (Koketterie und Anbetung, vgl. Erstes Gebot), von Sexualität und Schwangerschaft (um materieller Vorteile oder um eines Kindes willen, vgl. Drittes Gebot), die Einflussnahme auf die Kinder als einem relativ ausgeprägten Macht- und Verantwortungsbereich der bürgerlichen Frau (vgl. Fünftes Gebot). Die Gebzw. Verbote thematisieren Handlungen, die Beziehungen zwischen Frauen und Männern, insbesondere erotische Liebesbeziehungen, funktionalisieren und damit die Liebe herabwürdigen oder missbrauchen. 181 Dabei geht es zum einen um Forderungen, die die innere Haltung betreffen (so z.B. das Zweite, das Vierte, das Achte und das Neunte Gebot) 182 und auf Selbstbeobachtung und Selbstreflexion hinzielen. 179 Quapp denkt an eine Selbstverpflichtung. Vgl. seine Auslegung des Dritten Gebotes: „Auch hier spricht die 'edle Frau' wieder zu sich selbst." (Quapp, Glaubensauslegung, 170). Zu Quapps Überlegungen bezüglich des Vernunftverständnisses vgl. a.a.O., 189f. 180 Dies ist m.E. in Beziehung zu setzen zu Schleiermachers Äußerungen über den „intelligiblen Despotismus" von Frauen. 181 Ähnlich Quapp, der ein Zitat aus den Vertrauten Briefen anführt, um zu bekräftigen, dass die „Ablehnung der Fremdbestimmung der Liebe" die zentrale Aussage des Dritten Gebotes sei (vgl. Quapp, Glaubensauslegung, 170 u. 173 zum Sechsten Gebot). 182 Das Vierte Gebot fällt auf durch die Berufung auf das Herz als Instanz der Person („Merke auf den Sabbath deines Herzens") wie durch die Alternative von Freiheit und Selbstverlust, sofern dieser Berufung Widerstand von außen entgegentritt („und wenn sie dich halten, so mache dich frei oder gehe zu Grunde"). Auch wenn ich anders als

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Zum anderen sind Forderungen formuliert, deren Befolgung Konflikte mit Personen provozieren kann, die rechtliche Verfügungsgewalt über Frauen ausüben. 183 Die Zehn Gebote des Katechismus sind kein ungezügeltes Programm weiblicher Selbstverwirklichung. Zwar wird offensichtlich an die Handlungs- und Bildungsfähigkeit der Frauen appelliert und das eigene „Herz" zu einer Instanz, die absolute Entscheidungen fordert, doch die Autonomie des eigenen Herzens und seine Forderungen stehen unter dem allgemeinen vernünftigen Prinzip der Liebe zwischen den Geschlechtern. Die Liebe zwischen Frau und Mann, die nicht zugunsten eines anderen Zieles oder Zweckes instrumentalisiert werden darf, fordert, bisherige Einschränkungen weiblicher Existenz hinter sich zu lassen und auch bisherige weibliche Einfluss- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten (wie bescheiden sie auch real aussehen mögen) aufzugeben, sofern sie einen Missbrauch der Liebe darstellen. Das bedeutet, dass das hier implizierte Geschlechterverhältnis Frauen Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Handlungsfähigkeit und Verantwortung zuschreibt und deutliche Elemente einer egalitären Beziehung enthält. 184 Dieses Geschlechterverhältnis weist voraus auf die Vertrauten Briefe, in denen Schleiermacher seine Liebeskonzeption der Reziprozität und Anerkennung funktionaler Gleichheit bei bleibender Andersheit des Anderen entfaltet. 185 Das Vierte Gebot fällt dadurch auf, dass das Gebot sich unmittelbar und ausschließlich an die Adressatin selbst richtet und durch die Alternative von Freiheit oder Selbstverlust seine Schärfe und Absolutheit erhält. Sofern die Liebe zwischen den Geschlechtern den inneren Fokus des Katechismus darstellt, folgt aus der ethischen Forderung des Vierten Gebotes, dass diese Liebe nur Frauen möglich ist, die ihre Individualität frei von den bedrückenden gesellschaftlichen Zwängen ihrer Geschlechtsrolle ausbilden. Insofern ist die Ausbildung der eigenen Person und Individualität der Frau eine notwendige Bedingung für die Liebe als Realisierung der „unendlichen Menschheit".

Quapp die Gebote als Forderung der „Herrin Natur" verstehe, ist dies eine „individualgeschichtlieh verstandene Natur" (Quapp, Glaubensauslegung, 172), die nicht im Gegensatz zur Autonomie des weiblichen Individuums steht. 183 So das Sechste und Siebte Gebot, das mit dem Willen des Ehemannes bzw. der Eltern in Spannung geraten kann. 184 So die Reziprozität des Achten Gebotes, das Quapp von einem Gleichgewicht der Liebe her versteht (vgl. Quapp, Glaubensauslegung, 176). 185 Z u m Verhältnis von Liebe und Freundschaft und damit zur Frage, ob und in welcher Weise Schleiermachers Konzeption der Liebe von seiner Theorie der Freundschaft herzuleiten ist, s. hier u. 3.1.2.5 bei der Behandlung der Vertrauten Briefe.

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In den Bekenntnissätzen des Schlussabschnittes 186 wird dieses Verständnis bekräftigt und erweitert. Indem der Bezugspunkt dieser geschlechtsspezifischen Vernunftgebote, das eigentliche Wesen jeder Existenz, nämlich die „unendliche Menschheit"187, zeitlich und normativ vorausliegt, bleibt die Menschheit von der Geschlechterdifferenz unberührt. Damit werden Männlichkeit und Weiblichkeit sekundäre Erscheinungen, „Hülle[n]", die auf den eigentlichen Kern hin zu durchdringen sind. Im zweiten Bekenntnissatz ist die Geschlechterdifferenz nicht nur neutral als „Hülle", d.h. als wahre Erkenntnis verbergendes, aber vielleicht auch schützendes Element menschlicher Existenz bezeichnet, sondern explizit als Begrenzung, die es zu überwinden gilt. Der eigentliche Kern des Menschseins ist für das weibliche Individuum wie für das männliche identisch mit der Aufgabe, sich „dem Unendlichen luieder zu nähern". Die Schranken sind geschlechtsspezifisch verschieden entsprechend der „Fesseln der Mißbildung", die das weibliche Geschlecht prägen und halten. Sie bestehen für Frauen im Gehorsam und in der Zerstreuung. Der dritte und letzte Bekenntnissatz benennt positiv die Güter, an denen die weiblichen Vernunftgebote ausgerichtet sind. 188 Sie enthalten konsequenterweise bis auf die „Freundschaft der Männer" keinen explizit geschlechtsspezifischen Bezug. Im zeitgenössischen Kontext sind sie allerdings Werte, die überwiegend Männern zugeordnet werden und für sie als erstrebenswert gelten, die infolgedessen auch inhaltlich bereits von ihnen gefüllt sind und darin den Rahmen oder Erwartungshorizont für die Leistungen und Produktionen der Frauen abgeben. 189 Der Katechismus als Programmentwurf weiblicher autonomer Individualität ist eingebunden in eine universale Liebeskonzeption bzw. in eine „Religion der Liebe"190, die die Entwicklung der Individualität fo186 „Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der und der Weiblichkeit annahm." (Fragmente, KGA1/2,154). 187 Fragmente, K G A 1/2, 154.

Männlichkeit

188 Quapp interpretiert die Glaubenssätze nach dem Prinzip der Begründung der Dogmatil·; auf der Ethik (vgl. Quapp, Glaubensauslegung, 179) vom Zehnten Gebot her textimmanent. Im Ergebnis trifft sich seine Interpretation mit meiner eher sozialgeschichtlichen Deutung darin, dass das von Männern definierte Verständnis von Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre inhaltlich oder zumindest formal den Rahmen vorgibt. 189 Tugend ist im zeitgenössischen Kontext bereits geschlechtsspezifisch unterschiedlich gefüllt; im Zusammenhang des Katechismus ist damit eine für Frauen wie Männer gleichermaßen geltende Verpflichtung zur Ausbildung sittlicher Individualität zu verstehen. 190 Diese Argumentation fußt auf den Beziehungen zwischen dem Katechismus und den Vertrauten Briefen, auf die z.B. Quapp in seiner Auslegung mehrfach hinweist (vgl. z.B. Quapp, Glaubensauslegung, 174).

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kussiert. Von dieser Interpretation her ist der erste Glaubenssatz im Blick auf seine implizite Aussage zur Geschlechterdifferenz noch einmal zu beleuchten. Darin deutet sich m.E. eine Spannung an, die das Verhältnis von „unendlicher Menschheit" und Geschlechterdifferenz 191 betrifft wie auch die Integration der Geschlechterdifferenz in die Liebeskonzeption, in der polare Anziehung aufgrund der Geschlechterkomplementarität eine fundamentale Bedeutung hat. Werden erst in der Einheit der Liebe die beiden geschlechtlich differenzierten Individuen zur „unendlichen Menschheit", und liegt genau darin die Verheißung der heterosexuellen Liebe? Die „unendliche Menschheit" vor der „Hülle der Männlichkeit und Weiblichkeit" wäre dann die durch die Liebe gestiftete Einheit zweier differenzierter Hälften. Oder liegt schon in dem geschlechtlich differenzierten Individuum an sich, sozusagen hinter bzw. unter der Hülle des Geschlechts in den Einzelnen, das Wesen der „unendlichen Menschheit", die es durch die Maske des Geschlechtscharakters hindurch wahrzunehmen gilt? Eine Entscheidung kann mit dem Text des Katechismus allein nicht getroffen werden. Zusammenfassend gilt also, dass die Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen als Programm zur Entfaltung weiblicher Individualität gelesen werden muss, das für die zeitgenössischen Weiblichkeitsvorstellungen herausfordernd war. Zugleich zeigt sich selbst in diesen frühromantischen Spitzensätzen Schleiermachers, dass sein Verständnis von Weiblichkeit und der Situation von Frauen nicht isoliert von seiner Liebeskonzeption interpretiert werden darf. Festzuhalten ist allerdings, dass die Auffassung von Geschlecht bzw. Männlichkeit und Weiblichkeit als Einschränkung anklingt. Darin spiegelt sich wohl der Einfluss der Erfahrungen von Schleiermachers Gesprächspartnerinnen dieser Zeit ebenso wie die Einstellung Friedrich Schlegels. 3.1.2.3. Reden über die Religion Die 1799 veröffentlichten Reden über die Religion sind in erster Linie als theologische und kulturtheoretische Programmschrift 192 zu lesen, in der Schleiermacher seinen Individualitätsbegriff mit seiner Religionstheorie verschränkt: Religion ist die Beziehung der Individualität zum Absoluten. 193 Die Liebe nimmt einen zentralen Platz ein, sofern sie der Schlüs-

191 Die Äußerungen zur Absolutheit dieser Differenz (vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 54f.) verstärken dieses Argument, weisen zugleich auf ein späteres Reflektionsstadium. 192 Z u m Religionsverständnis und dem Gefühlsbegriff in den Reden vgl. ausführlicher Kap. V . l . 193 Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), K G A 1/2, 185-326, hier: 232: „Ihr selbst seid ein Compendium der Menschheit [...] Bei wem sich die

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sei des Individuums zur Menschheit ist, welche wiederum zur Religion führt. Liebe ist das „universale Band" (Oberdorfer) zwischen den Menschen und zugleich die spezifische Bindung zwischen den Geschlechtern. Nur in dieser knappen Zuspitzung werden die Reden an dieser Stelle gestreift. 194 In den Reden erscheint die Liebe unverkennbar als soziale, die Fremdheit aufschließt, Gegensätze anzieht und vereint, eine Bedeutung, die so auch in den Monologen195 aufzufinden ist. So interpretiert Schleiermacher die Erschaffung des geschlechtlich differenzierten Menschenpaares aus dem geschlechtslosen Erdling in Gen 2,18 als Grunderfahrung der Selbstüberschreitung des Subjektes zur Gemeinschaft. 196 Die Liebe zwischen Frau und Mann als sinnliche und geistige Beziehung ermöglicht die Gleichzeitigkeit von Selbstwahrnehmung und von der Wahrnehmung des Gegenübers im Gegenüber. 197 Mit seiner Auslegung von Gen 2 - 3 formuliert Schleiermacher den engen Zusammenhang von Sozialität und Religion, wobei für ihn die (heterosexuelle) Liebesbeziehung die Kraft darstellt, die jede zwischenmenschliche Beziehung und damit Sozialität und Menschheit überhaupt konstituiert. Heterosexuelle Liebe wird menschheitsgeschichtlich die treibende Kraft zur Ausbildung von Individualität und Religion, weil sie im Sinn einer elementaren Verwandtschaft („Fleisch von meinem Fleisch") eine Einheitserfahrung darstellt, die zugleich Pluralität und Differenz in sich schließt und so die Öffnung des Einzelnen zum Anderen und darin zur Welt, die Etablierung einer entsprechend komplexen Beziehung zwischen Individuen und so zwischen Individuum und Totalität und damit Religion überhaupt ermöglicht.

Religion so wiederum nach Innen zuriikgearbeitet und auch dort das Unendliche [...]." (Vgl. auch Reden 1799, KGA1/2,239). 194 Zur ausführlichen Behandlung vgl. Kap. V 1.3 u. 1.4.

gefunden

195 „Ja Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eigenes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich mtißt alles in gleichförmige rohe Masse zerfließen!" (Monologen, K G A 1/3, 22). 196 „In dem Fleische von seinem Fleische und Bein von seinem Beine endekte er die Menschheit, und in der Menschheit die Welt; von diesem Augenblik an wurde er fähig die Stimme der Gottheit zu hören und ihr zu antworten [...] Unser aller Geschichte ist erzählt in dieser heiligen Sage. [...] denn um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und erfindet sie nur in Liebe und durch Liebe." (Reden 1799, K G A 1/2, 228). Vgl. dazu auch „Mit stolzer Freude denk ich noch der Zeit, da ich die Menschheit fand, und wußte daß ich nie mehr sie verlieren würde." (Monologen, K G A 1/3, 16) - biographisch eine Anspielung auf seine Zeit als Hauslehrer beim Grafen Dohna, die ihn mit seinen ersten intensiven Begegnungen mit dem Familienleben und tiefen Frauenbeziehungen prägte. 197 Die Unterscheidung von Verschmelzung der Personen unter Beibehaltung der Individualität ist hier noch nicht reflektiert.

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Damit finden sich in den Reden Ansätze einer Liebesvorstellung, die gattungsgeschichtlich und individuell Sozialität und Religion ermöglicht und ihre exemplarische, elementare Gestalt in der Liebesbeziehung zwischen Frau und Mann hat. 198 Diese Liebeskonzeption stellt den Zusammenhang her zwischen der Subjekt-Objekt-Welt des reflektierten Vorstellungsbewusstseins und den damit verbundenen metaphysisch-theologischen Letztbegründungen und der Welt intersubjektiver Geselligkeit und deren relationaler Kommunikationstheorien. 199 Diese Konzeption ist weder auf Schleiermacher beschränkt, noch geht sie auf ihn zurück, sie kennzeichnet vielmehr die Frühromantik insgesamt, die dabei auf älteren Strömungen fußt. 200 Schleiermachers Äußerungen in den Reden bilden nicht mehr als eine programmatische Andeutung, die eine begrifflich-systematische Ausarbeitung erst noch verlangen. 201 3.1.2.4. Monologen In den Ende 1799 entstandenen Monologen202, in denen Schleiermacher seine ethische Konzeption der Individualität auf dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung und Entwicklung darstellt, wird deutlich, wie sehr die Entwicklung sittlicher Individualität nicht nur der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion bedarf, sondern auch auf den Austausch der Freundschaft und der Liebe angewiesen ist. Diese Wechselseitigkeit ist unverzichtbar für die Herausbildung der Individualität. 203 Die Sozi198 Vgl. auch Nowak, Frühromantik, 184: „Die Liebe als Urfaktor der Verbindung Individuum - Gattung [.••]." Nowak weist darauf hin, dass Schleiermacher dabei den Gedanken des Sündenfalles stark abschwächt (ebd.). 199 Vgl. Timm, Hermann, Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher - Novalis - Friedrich Schlegel, Frankfurt a.M. 1978, 17, der als Charakteristikum der Frühromantik die programmatische und damit systematische Verbindung zwischen „dem metaphysisch-theologischen Letztbegründungsproblem und der intersubjektiven Geselligkeit" (ebd.) betrachtet und zum Thema seiner Studie macht. 200 Nowak, Frühromantik, 184: „Die Liebesthematik als sozialisierendes und menschheitskonstituierendes Urdatum, eine typische, doch nicht originäre Ideenschöpfung der Frühromantik, scheint sich Anfang der 1790er Jahre auf breiter Front durchgesetzt zu haben, nachdem schon Lessing seinen johanneischen Liebes-Imperativ formuliert hatte." 201 So auch Nowak: „Die von Schleiermacher in den 'Reden' gesetzten Wegmarken gemeinschaftlicher Existenz unter dem Vorzeichen der Liebe sind dann im ethischen Schrifttum des folgenden Jahres ('Monologen', 'Vertraute Briefe') weiter verdeutlicht worden." (Nowak, Frühromantik, 185). 202 Zur Entstehung sowie zum biographischen Hintergrund vgl. Meckenstock, Einführung, KGA1/3, X V - X L . 203 „Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist. Auch hier im Gebiet der höchsten Sittlichkeit regiert dieselbe genaue Verbindung zwischen Thun und Schauen. Nur wenn der Mensch im gegenwärtgen Handeln sich

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alformen werden daraufhin reflektiert, inwiefern sie die Ausbildung der Individualität fördern. Daher fällt der Kritik anheim, was daran durch andere Ziele und Zwecke motiviert ist. Das gilt für die Freundschaft 204 und ist besonders ausgeprägt und deutlich in der Ehekritik, die Schleiermacher in den Monologen entfaltet. Die Liebe ist wie in den Reden die treibende und verbindende Kraft, die die eigene Vollendung und das allgemeine Ganze zusammenhält, das universale Band. 205 Doch wird nicht die Liebe selbst zum Thema wie in den Vertrauten Briefen, sondern die Sozialform der Ehe, die konsequent im Sinne dieses Individualitätskonzeptes verstanden wird und als „das schönste Band der Menschheit"206 bezeichnet werden kann. So tragen alle Motive und Kriterien für Ehe- und Partnerwahl, die nicht vom individuellen Bildungskonzept her bestimmt sind, 207 zum Tod der Liebe bei und dienen lediglich der wechselseitigen Instrumentalisierung der Ehegatten. 208 seiner Eigenheit bewuflt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen; und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschaun, und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten: denn nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt. Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn. Und dieser, wie könnt er wol bestehen ohne Liebe?" (Monologen, KGA1/3, 21f.). 204 „Das ist es, defien ich mich höchlich rühme, daß Lieb und Freundschaft immer so edlen Ursprungs in mir sind, mit keiner gemeinen Empfindung je gemischt, nie der Gewohnheit, nie des weichen Sinnes Werk, immer der Freiheit reinste That, und auf das eigne Sein des Menschen allein gerichtet." (Monologen, KGA 1/3, 25). 205 „Ja Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müsst alles in gleichförmige rohe Masse zerfließen! [...] Uns aber bist da das Erste wie das Lezte: Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort. Vereint fühl ich in mir die beiden höchsten Bedingungen der Sittlichkeit!" (Monologen, K G A 1/3, 22). 206 Monologen, K G A 1/3, 22. 207 Vgl. dazu bereits Schleiermachers Überlegungen zum Ehe- und Konkubinatsrecht in den Gedanken 1, die genau die Privilegierung der bürgerlichen Ehe im Blick auf ehelichen Nachwuchs, Vermögens- und Erbrechte ablehnen und die Individualität der Ehepartner, insbesondere aber der Frau, durch ein vertraglich geregeltes Konkubinat wesentlich besser gefördert sehen (s.o. 3.1.2.1). 208 „O Thränen, daß sich immer und überall das schönste Band der Menschheit so muß entheiligt sehn! Ein Geheimniß bleibt ihnen was sie thun, wenn sie es knüpfen; Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille Jeder, ob der Gewinn τοοΜ aufiviegt was er an baarer Freiheit gekostet hat; des Einen Schiksal wird der Andere endlich, und im Anschaun der kalten Nothwendigkeit erlischt der Liebe Gluth. Alle bringt so am Ende die gleiche Rechnung auf das gleiche Nichts. Es sollte jedes Haus der schöne Leib, das schöne Werk von einer eignen Seele sein, und eigne Gestalt und Züge haben, und Alle sind in stummer Einförmigkeit das öde Grab der Freiheit und des wahren Lebens." (Monologen, K G A 1/3, 32f.) Siehe auch die umfassende abschließende Kritik: „Darauf ist Alles andere auch gerichtet: vermehrten äußern Besiz des Habens und des Wißens, Schuz und Hülfe gegen Schiksal und Unglük, vermehrte Kraft im Bündniß zur Beschränkung der Andern, das nur suchet und findet der

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Dagegen führt die Ehe, die auf der Liebe von Frau und Mann basiert, zu einer neuen Einheit der Personen und befördert wechselseitig die Ausbildung der Individualität: „[...] verschmelzen muß ich mich zu Einem Wesen mit einer geliebten Seele, daß auch auf die schönste Weise meine Menschheit auf Menschheit wirke [,..]."209 Diese neue personale Einheit verlangt die Hingabe der Ehepartner, in der sich jeweils der eine für den anderen opfert. 210 In dieser gedanklichen Struktur spielt also das Moment hingebender Liebe durchaus eine zentrale Rolle - ein Moment, das in Fichtes Ehekonzeption der Frau in voller Reinheit zukommt - , wird nun aber symmetrisch auf Frau und Mann angewandt. Die Verschmelzung der beiden Personen zu einer neuen personalen Einheit bedeutet keine Aufgabe der Individualität. Dies ist möglich, weil Schleiermacher (hier noch implizit) zwischen Person und Individuum unterscheidet. Plausibel wird die personale Einheit der Ehegatten mittels des Gedankens der Geschlechterkomplementarität, den Schleiermacher allerdings erst später im Brouillon zur Ethik ausführt, der aber im Kontext der Geschlechterdebatte um 1800 vorausgesetzt werden kann. 211 Die wechselseitige Ergänzung zweier Personen, die nicht beliebig unterschieden, sondern in präziser Komplementarität, d.h. gewissermaßen in spiegelverkehrter Symmetrie verschieden sind, bringt diese spezifische Einheit zustande. 2 1 2

Mensch von Heute in Freundschaft, Ehe und Vaterland; nicht Hülfe und Ergänzung der Kraft zur eignen Bildung, nicht Gewinn an neuem innerm Leben." (Monologen, K G A 1/3, 34). 209 Monologen, K G A 1/3, 47. 210 „Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun. Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, so soll aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; das stille Haus mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden, soll als freie That sein Dasein bekunden. [...] Macht sie ihn gliiklich, lebt sie ganz für ihn? macht er sie glüklich, ist er ganz Gefälligkeit? Macht beide Nichts so glüklich, als wo Einer dem Andern sich aufopfern kann?" (Monologen, K G A 1/3, 32f.). Diesen Ansatz der Verschmelzung zu einer neuen Person analog zur neuen Einheit im Kind legt Schleiermacher seiner Eheethik im Brouillon 1805/06 zugrunde. 211 S.o. 2.3, insbes. Humboldts Konzept von Geschlechterdifferenz 2.3.4. 212 Die Figur der komplementären Einheit und ihre Logik hat weitreichende Konsequenzen für das Geschlechterverhältnis, das zwischen formaler Egalität und inhaltlicher Asymmetrie changiert: Einerseits besteht echte Gleichheit aufgrund der Äquivalenz der beiden komplementären Pole, die funktional differenziert sind, aber auf der gleichen Ebene stehen. Andererseits definiert das komplementäre Zuordnungsverhältnis beide Pole, wenn allein der eine festgelegt wird. Damit ist nicht beliebig, in welcher Weise die inhaltlichen Bestimmungen vorgenommen werden und inwieweit implizite Normierungen in den Ausgangsbestimmungen enthalten sind. Vielmehr entscheidet die Semantik und Konnotation des ersten Pols auch über den zweiten vollständig.

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Schleiermacher zieht in den Monologen dieses individualisierte Eheideal so weit aus, dass er die Vorstellung sich genau entsprechender Ehepartner andeutet. Das auktoriale Ich erkennt in der Phantasie als der das neue Leben schon vorwegnehmenden und ermöglichenden Kraft bereits die zugehörige Frau und bezieht sie ins eigene Leben ein, obwohl in der realen Existenz diese Beziehung kaum Chancen der Realisierung besitzt. 213 Schleiermachers Eheideal ist also in den Monologen vom Egalitätsgedanken der Freundschaftskonzeption, vom Individualitätsgedanken und von der (implizit polaren) Ergänzungs- und Verschmelzungsidee her konzipiert. Liebe und Freundschaft greifen in der Ehe ineinander, die verschiedenen Aspekte der Frau-Mann-Beziehung (Nachwuchs/Familie, Vermögen/gesellschaftliche Position, Sexualität, geistige Beziehung) fallen zusammen, wobei die Aspekte der geistigsinnlichen Gemeinschaft zur wechselseitigen Ausbildung der Menschheit, Elternschaft und Gründung eines Hausstandes als eine neue Lebensstufe dominieren, während die institutionellen Elemente von Besitz und Familie zurückgedrängt sind bzw. kritisch behandelt werden. 214 213 „Wo mag sie wohnen mit der das Band des Lebens zu knüpfen mir ziemt? Wer mag mir sagen, wohin ich wandern muß um sie zu suchen? denn solch hohes Gut zu gewinnen ist kein Opfer zu theuer, keine Anstrengung zu groß! Und wenn ich sie nun finde unter fremden Gesez, das sie mir lueigert; iverd ich sie erlösen können?" (Monologen, K G A 1/3, 47). Die autobiographischen Anklänge an Schleiermachers Beziehung mit Eleonore Grunow springen ins Auge. Vgl. auch: „Je loeiter ich noch selbst von seinen Grenzen stand, desto sorgsamer nur hab ich der Ehe heiliges Gebiet erforscht: ich weiß was Recht dort ist, was nicht; und alle möglichen Gestalten des Schiklichen hab ich mir ausgebildet, wie erst die späte freie Zukunft sie zeigen wird, und welche drunter mir geziemt, weiß ich genau. So kenn ich die auch unbekannt, mit der ich michßrs heben auf innigste vereingen könnte, und in dem schönen Leben, das wir führen würden, bin ich eingewohnt. [...] So ists gewiß auch ihr, wo sie auch sein mag, die so geartet ist, daß sie mich lieben, daß ich ihr genügen könnte; gleiche Sehnsucht, die mehr als leeres Verlangen ist, enthebt auch sie wie mich der öden Wirklichkeit für die sie nicht gemacht ist, und wenn ein Zauberschlag uns plözlich zusammenführte, würde Nichts uns fremd sein, als wären wir alter süßer Geioohnheit verpflichtet, so anmuthig und leicht würden wir in der neuen Lebensweise wandeln." (Monologen, K G A 1/3, 48). Die Vorwegnahme in der Phantasie spielt im ethischen Individualitätsentwurf der Monologen eine große Rolle, denn dieses Konzept steht von Anfang an unter den Vorzeichen der Kontrafaktizität und der Freiheit, die die innere Selbstbildung durch freie Geselligkeit gewinnt. Entsprechend ist die Einschränkung des geselligen Umganges aufgrund der Einsamkeit das Los, das Schleiermacher beklagt und für das die Phantasie allein einen lebbaren Ausweg ermögliche: „So ist der Bund mit der geliebten Seele schon dem Einsamen gestiftet, die schöne Gemeinschaft besteht, und ist der beßre Theil des Lebens." (Monologen, KGA 1/3, 49). 214 Nowak, Frühromantik, 288 sieht in dem frühromantischen Eheideal der Monologen den klarsten Ausdruck der Liebe als universalem Band der Menschheit: „Die Ehe meinte von Liebe getragene Persönlichkeitsentfaltung von Mann und Frau und der aus der Ehe hervorgehenden Kinder. Zuletzt war auch sie auf die geistige Erhöhung des Daseins [...]

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3.1.2.5. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels

Lucinde

In den Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde sind Liebe und Freundschaft, Beziehungen zwischen Mann und Frau, Weiblichkeit und Männlichkeit unmittelbar Thema und so bietet dieser fingierte Briefwechsel 216 zwischen Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts sowie in unterschiedlichen Lebenssituationen aufschlussreiches Material für Schleiermachers Verständnis der Geschlechterbeziehungen um 1800. 217 Ähnlich wie für die Weihnachtsfeier gilt auch für die Vertrauten Briefe, dass zwischen der Textebene und der Autorenebene unterschieden werden muss, obgleich der Autor Schleiermacher hinter allen Briefen steht, auch da, wo er Gedanken Eleonore Grunows mitverarbeitet haben mag. 218 Auf der Textebene erlaubt die Briefform verschiedene Perspektiven auf das Kernthema Liebe und Freundschaft einzunehmen, also über die literarischen Akteure Differenzierungen einzubringen, die nicht nur das Geschlecht, sondern auch Geschlechterbeziehungen und Lebensformen (die Liebesbeziehung zwischen Friedrich und Eleonore, die Freundschaft zwischen Ernestine 215

hin disponiert, so daß in ihrer irdischen Erscheinungsform nur ein Abdruck des freien Geistesreiches sichtbar sein konnte." Gerade der Gedanke, dass die irdische Ehe lediglich ein Abglanz der eigentlichen idealen Ehe sei, wird dann ein wichtiger Gedanke in Schleiermachers erster Ehepredigt (s.u. Kap. IV 5.2). 215 Vertraute Briefe, K G A 1/3,139-216. 216 Die Briefform war eine beliebte literarische Gattung der Zeit, die oft die essayistische Behandlung eines Themas mit einer auf Kommunikation mit den Leserinnen und Lesern ausgerichteten Darstellungsweise verbindet (vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen, 171-173). 217 Friedrich Schlegels Roman Lucinde, der die Entwicklung des Protagonisten Julius (Schlegels alter ego) zu einer männlichen Identität schildert, die aus den Erfahrungen unterschiedlichster Frauenbeziehungen zu einer sinnlichen und zugleich geistigen Liebesbeziehung mit der echte Weiblichkeit verkörpernden Lucinde (in der Schlegels Geliebte Brendel/Dorothea Veit geb. Mendelsohn wiederzuentdecken ist) gelangt, hatte großen Anstoß erregt, da zum einen die biographischen Bezüge unübersehbar waren, zum anderen das Ideal einer freien, Sinnlichkeit und Geistigkeit vereinenden, gesellschaftliche Konventionen ignorierenden Liebesbeziehung offen dargestellt und gefeiert wurde. Schleiermacher will mit seinen anonym veröffentlichten Vertrauten Briefen die Grundaussagen des Romans unterstützen und verteidigen, auch wenn er in einzelnen Ansichten von Schlegel differiert bzw. literarische Schwächen konzediert. Die literarische Form des Briefwechsels zwischen verschiedenen Personen eignet sich dabei ausgezeichnet, um unterschiedliche Perspektiven und Ansichten auf die Lucinde dar- bzw. debattierend gegeneinanderzustellen. Zur Entstehungsgeschichte und zur Rezeption vgl. Meckenstock, Einführung, K G A 1/3, X L V n i - L X V m sowie Becker-Cantarino, Feminismus, 21-44. Ahnlich wie Schlegels Lucinde fand auch Schleiermachers Verteidigungsschrift bis ins 20. Jahrhundert wenig positive Beachtung. So beurteilt Wilhelm Dilthey die Vertrauten Briefe als eine Schrift, die Schleiermachers nicht würdig sei (vgl. Dilthey , Leben, 515). 218 Dies gilt wohl für die Beilage zum 7. Brief (Eleonore an Friedrich), Vertraute Briefe, K G A 1/3, 201-206.

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und Friedrich wie zwischen Friedrich und Ernst) und Entwicklungsprozesse (Karoline als Mädchen im Vergleich zu Ernestine als Frau) betreffen. Dieses Moment manifestiert sich im Ton und Stil sowie darin, welche Themen zwischen welchen Briefpartnern diskutiert werden. Einen durchgehenden Zug bildet die konstitutive Bedeutung, die Frauen und ihre Kompetenz in diesem Bereich für die Behandlung des Themas haben. Im Unterschied zu literarischen, philosophischen oder politischen Themen kann über die Liebe nicht nur innerhalb eines Geschlechtes geredet werden. Die Geschlechterdifferenz erweist ihre Vorgängigkeit darin, dass sie in dem Bereich, in dem sie unmittelbar thematisiert wird, nicht intellektuell übersprungen werden kann, sondern in der wechselseitigen Ergänzung des geistigen Austausches wirksam werden muss. 219 Anders als in den Monologen, in denen das Geschlechterthema von Schleiermachers individualethischer Ehe-Konzeption her perspektiviert wird, bildet in den Vertrauten Briefen die individuelle Liebesbeziehung des heterosexuellen Paares den Brennpunkt, in dem sich die Aspekte der Geschlechterdifferenz versammeln und die es nun in ihren Facetten zu analysieren gilt. 220 Dabei ist bemerkenswert, wie durch die weiblichen Akteure auf der Textebene das Gewicht der Frauen für die Behandlung der Thematik ausbalanciert ist und z.T. bemerkenswerte Kritik an Formen des „Geschlechtsdespotismus" geübt wird, während zugleich die Komplementaritätsstruktur durchgeführt ist.221 219 Vgl. Vertraute Briefe, K G A 1/3, 156. Das Plädoyer Friedrichs, mit dem er Ernestine für ein Gespräch über die Lucinde zu gewinnen sucht, könnte noch weitergehend interpretiert werden als Anerkennung einer besonderen Kompetenz der Frauen für diesen Gegenstand etwa in dem Sinn, wie Friedrich Schlegel die Ursprünglichkeit der Liebe den Frauen zuschreibt, während sie bei Männern abgeleitet sei. Vgl. a.a.O., 155f., wo „edlen Frauen" die Liebe als „Beruf", d.h. als besondere Kompetenz zugesprochen ist, weil offensichtlich bei diesem Thema eine andere Qualität der Erörterung angebracht ist: „[···] so bleiben das alles leere Worte und kann nichts damit ausgerichtet werden, wenn wir nicht die Liebe in der Wirklichkeit aufzeigen können [...]." (a.a.O., 156). Und noch umfassender wird in Karolines Brief das Liebesthema charakterisiert als eines, das nicht allein intellektuell behandelt werden kann, sondern der eigenen Gefühle und Erfahrungen bedarf. „Ueber diese Dinge muß man seine eigne Ansicht aus seinem eignen Gefühl und seiner schönsten Erfahrung haben, sonst ists nichts damit [...]." (a.a.O., 180). Darin nähert sich die Liebe der Religion. 220 „Die Liebe soll auferstehen, ihre zerstückten Glieder soll ein neues Leben vereinigen und beseelen, daß sie froh und frei herrsche im Gemüth der Menschen und in ihren Werken, und die leeren Schatten vermeinter Tugenden verdränge." (Vertraute Briefe, KGA 1/3, 147). In diesen Sätzen ist das „Kernprogramm der Lucinde und der Lucindebriefe" (Frank, Jürgen, Selbstentfaltung und Gemeinschaft, Diss. Marburg 1993, 437) formuliert. 221 Vgl. z.B. Karolines Kritik: „Denn wenn ivir erst, nachdem wir durch die Besiznahme der Männer gleichsam geadelt sind, Achtung und Aufmerksamkeit verdienen, so sind sie selbst es doch nur, was sie in uns achten, und es ist dies die allergewöhnlichste Denkungsart, nur ein klein wenig verlarvt." (Vertraute Briefe, KGA 1/3, 183).

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Es geht Schleiermacher wie Schlegel um einen Begriff der Liebe, der in sich Geistigkeit und Sinnlichkeit vereinigt und in dieser Vereinigung eine Teilhabe am Absoluten darstellt. 222 Männlichkeit und Weiblichkeit sind in den Vertrauten Briefen vom Liebesbegriff her zu verstehen. 223 Darin gewinnen sie insofern zentrale und essentielle Bedeutung, als der Gedanke von einer in sich identischen und zugleich Differenz umfassenden Totalität, den die Liebe der Geschlechter symbolisiert und der den Liebesakt zu einem Ort der Erfahrung göttlicher Präsenz macht, mit dem polaren Komplementaritätsgedanken der Geschlechterdifferenz aufs engste gekoppelt ist.224 Die Liebe hat für die Geschlechter eine bildende Funktion: Ohne die gegenseitige Einwirkung bleiben Frauen wie Männer als individuelle Personen unvollendet. Darin erweist sie sich als kreativ nicht nur auf der physisch-sinnlichen, sondern auch auf der seelisch-geistigen Ebene: „Wie schön ist das überall angedeutet und durchgeführt, daß der Mann durch die Liebe an Einheit gewinnt, an Beziehung Alles dessen, was in ihm ist, auf den wahren und höchsten Mittelpunkt, kurz an Klarheit des Charakters; die Frau dagegen an Selbstbewußtsein, an Ausdehnung, an Entwickelung aller geistigen Keime, an Berührung mit der ganzen Welt. Mir wenigstens scheint dies ein ganz allgemeines Verhältniß zu sein. Ihr bildet uns aus; aber wir befestigen Euch. [...] aber gar toll ist jede Darstellung, wo Männer und Frauen schon ganz vollendet und fertig die Liebe nur so finden, als eine Zugabe oder als den höchsten Gipfel der Glükseligkeit." 2 2 5

An diesem Zitat fällt nicht allein die treffende Formulierung des egalitären Komplementaritätsmodells auf. Deutlich wird die Funktion der Komplementarität im wechselseitigen schöpferischen Bildungsprozess, der durch die Liebe von Frau und Mann angestoßen und vollendet wird. Zugleich ist ein vertrautes Muster in diesem Bildungsprozess erkennbar: Frauen wirken auf Männer zentrierend, d.h. sie stärken deren nach innen gerichtete Seite, entsprechend der Vorstellung, dass Weiblichkeit in sich ruhend und ursprungsverbunden sei (die positive

222 Die Hochschätzung des Liebesaktes als Ort und Erfahrung göttlicher Gegenwart wird von einer Frau (Ernestine) formuliert (vgl. Vertraute Briefe, K G A 1/3, 165). 223 „[...] über die Lucinde, das heißt über die Liebe und Alles, was damit zusammenhängt [...]." (Vertraute Briefe, K G A 1/3, 145). 224 So begründet Ernst seine Aufforderung an Ernestine damit, dass die Liebe als unendlicher und nicht auszuschöpfender Reflexionsgegenstand auf jeden Fall den Austausch der Geschlechter darüber brauche, da sie sich erst zusammen zu einer Gesamtsicht ergänzen können, falsche Prüderie hier also nicht am Platze sei: „Die Liebe ist ein unendlicher Gegenstand für die Reflexion, und so soll auch ins Unendliche darüber nachgedacht werden, und Nachdenken findet nicht Statt ohne Mittheilung und zwar zwischen denen, welche ihrer Natur nach verschiedene Seiten derselben sehen." (Vertraute Briefe, K G A 1/3, 158). 225 Vertraute Briefe, K G A 1/3, 203.

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Seite der Passivität); Männer wirken dagegen auf Frauen anregend und entfaltend, was der Männlichkeitsvorstellung der aktiven Außenwendung entspricht. Das Ziel ist also ein Uberschreiten der Einseitigkeiten des jeweiligen Geschlechtscharakters und der Geschlechtsrolle hin zu einer gemeinsamen höheren Menschlichkeit. 226 Der geschlechterspezifische Bildungsprozess der Liebe indessen beruht auf den traditionell festgelegten Geschlechterpolaritäten und wird durch sie angetrieben. Insofern verharren damit auch Verfechter eines progressiveren Frauenbildes wie Schlegel und Schleiermacher im gleichen Bedeutungssystem wie die konservativen Vertreter Schiller und Wilhelm von Humboldt. Die wechselseitige Bildung zur Menschlichkeit 227 hat Friedrich Schlegel bis zur Vorstellung des gegenseitigen Wechsels des Bewusstseins und des Tauschs der erotischen Geschlechtsrollen vorangetrieben. 228 Schleiermacher vertritt diesen Einheitsgedanken zwar ebenfalls, allerdings mit einem eigenen Akzent, der im Unterschied zu Schlegel die Schranke des Geschlechts stärker festhält. Schleiermacher verbindet die Geschlechterdifferenz sehr viel enger mit der Individualität im Sinne einer die spezifische Besonderheit des/der einzelnen prägenden Polarität. Der spielerische Rollenwechsel und die spekulative Transzendierung des Geschlechtscharakters wie in Schlegels Lucinde bleiben in den Vertrauten Briefen ohne Echo. Das Spannungsverhältnis von Individuum und Menschheit bedeutet bei Schleiermacher, dass im Blick auf die Menschheit der Gedanke der vorausliegenden geschlechterneutralen Einheit als ein sittlich orientierendes Ideal angesichts der vorfindlichen Ungleichheit zwischen Frau und Mann dient. Insofern kann die Geschlechterdifferenz hinsichtlich der gesamten Menschheit als Hülle bezeichnet werden, die ihre Einheit verbirgt. 229 Für konkrete Frauen und Männer dagegen hat sie gerade darin Bedeutung, dass sie als Movens auf diese Einheit der Menschheit hin dient, die in der liebenden Vereinigung von Frau und Mann erfahrbar wird. Insofern ist Aufhebung der Geschlechterdifferenz im Rollentausch oder im Ideal der Androgynie kein Ziel für Frau

226 Genau dieses Überschreiten der Geschlechtsrolle, das Schlegel in der Lucinde schildert, wurde als besonders skandalös empfunden: „[...] wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. [...] Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit." (Schlegel, Lucinde, K A 5, 12f.). 227 Vgl. Nowak, Frühromantik, 280. 228 Vgl. Schlegel, Lucinde, KA 5, 10-13. 229 Vgl. Katechismus, K G A 1/2, 154.

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oder Mann als Individuum. 230 Die Vorstellung der Liebe in den Vertrauten Briefen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass in ihrer Einheit die Differenzen nicht verschwinden, sondern aufgehoben werden in eine in sich differente Totalität, in der Identität und Differenz gleichursprünglich zusammengehalten werden in der Verschmelzung der Liebenden wie in der unhintergehbaren Verschiedenheit ihres Geschlechts, die auf Ergänzung drängt und auf Ergänzung angewiesen ist. Die Liebe erweist darin ihre Nähe zum Göttlichen, dass sie diese Identität und zugleich Differenz von Sinnlichkeit und Geistigkeit, von Männlichkeit und Weiblichkeit vermittelt. 231 Daher betont Schleiermacher in den Vertrauten Briefen gegen Schlegels Theorie der Ursprünglichkeit der Liebe bei der Frau, aber ihrer Abgeleitetheit beim Mann die Gleichursprünglichkeit der Liebe bei Frauen und Männern. Es bedarf bei Schleiermacher nicht einer „erlösenden Liebe" durch die Frau als Initialmoment, vielmehr ist Liebe ein Wechselgeschehen, in dem Ursache und Wirkung nicht einseitig festliegen. 232 Auf der literarischen Ebene sind es aber Frauen, die die Liebe als ganzheitliches Mysterium beschreiben: „Nichts Göttliches kann ohne Entweihung in seine Elemente von Geist und Fleisch, Willkühr und Natur zerlegt werden. Darum sind es eben wahre und ächte Mysterien, weil die Personen nicht anders können, als sie so zerlegen und sie also niemals sehen, wie sie sind." 2 3 3

So Ernestines Reserve gegen die analytische Betrachtung der Liebe. Auf der Ebene der fiktiven Briefeschreiberinnen stehen die Frauen für die unhintergehbar umfassende Dimension der Liebe, die ihre religiöse Dimension ausmacht. Für den Autor Schleiermacher sind also Frauen 230 Zu Androgynitätsvorstellungen in der Romantik vgl. Giese, Fritz, Die Entwicklung des Androgynenproblems in der Frühromantik, Langensalza 1919 u. Friedrichsmeyer, Androgyne, 131-168. 231 Zur differenten Einheit vgl. Vertraute Briefe, K G A 1/3, 150: „Hier hast Du die Liebe ganz und aus einem Stück [...] im Sinnlichsten siehst Du zugleich klar das Geistige, welches durch seine lebendige Gegenwart beurkundet, daß jenes ivirklich ist ivofür es sich ausgiebt [ . . . ] " und zur Vermittlung des Göttlichen darin: „[...] Eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Verschmelzung und der Vereinigung der Hälfte der Menschheit zu einem mystischen Ganzen." (a.a.O., K G A 1/3,194). 232 „]ede ist Ursach und Wirkung der andern, so gewiß als jede Liebe zugleich Gegenliebe, und jede wahre Gegenliebe zugleich Liebe ist." (Vertraute Briefe, K G A 1/3, 199, Eleonore an Friedrich). 233 Vertraute Briefe, K G A 1/3, 165. Auf der metaphorischen Ebene noch ausdrucksstärker ist Eleonores Schilderung ihrer Liebe als erleuchtender göttlicher Blitz (Orgasmusmetapher): „[...] dann fühlen wir auch beide am tiefsten, wie einig wir sind durch und durch, und mich durchzükt, wie ein göttlicher Blitz, der mich fast verzehrt, eine unendliche, zusammenhängende Reihe von gleichen Gedanken und Gefühlen, die vom höchsten Himmel bis in den Mittelpunkt der Erde reicht, und mir Vergangenheit und Zukunft, und Dich und mich und Alles erleuchtet und erklärt." (a.a.O., KGA 1/3,199f.).

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die literarischen Trägerinnen dieser Liebesidee, die damit weiblich konnotiert ist. 234 Anders als Schlegel vertritt Schleiermacher die Ansicht, dass Liebe nicht die einzig mögliche Beziehung zwischen den Geschlechtern sei. Auch Freundschaft könne es zwischen Mann und Frau geben. Schleiermacher macht allerdings den Vorbehalt, dass beide bereits eine erfüllende Liebesbeziehung leben müssen. Wenn die Gefahr gebannt ist, dass jede geeignete heterosexuelle Begegnung zu einem „ Versuch in der Liebe" gerät, ist die Freundschaft einer Frau und eines Mannes als „beständiges Bestreben nicht eben das Wesen des Freundes durch das Deinige, sondern seinen Zustand seinem Wesen gemäß zu ergänzen"235, möglich. Freundschaft zielt im Unterschied zur Liebe nicht auf komplementäre Ergänzung, sondern auf Ausbildung der Andersheit des Anderen entsprechend seinem Wesen. Liebe ist Verschmelzung zu einer Person aufgrund der Geschlechterdifferenz, während Freundschaft Ausbildung der Individualität in der Person des anderen durch den wechselseitigen Austausch ist, also gerade wechselseitige Bereicherung bei bleibender Differenz von Personalität und Individualität. Dies bedeutet, dass heterosexuelle Liebe stets Elemente der Freundschaft beeinhaltet, aber darüberhinaus eine kategorial andere Gemeinsamkeit intendiert. In den Vertrauten Briefen entwirft Schleiermacher das Ideal einer Liebe zwischen Frau und Mann, die Geistigkeit wie Sinnlichkeit beinhaltet und über die komplementäre Polarität der Geschlechterdifferenz in den Liebenden eine produktive Dynamik initiiert, die beide zu einer Einheit zusammenführt und die Liebenden selbst transzendiert. Gerade in der Zusammengehörigkeit von Geistigem und Sinnlichem ist diese Liebe das Medium, in dem die Erfahrung des Absoluten möglich wird: „Der Gott muß in den Liebenden sein, ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung, die sie in demselben Augenblicke gemeinschaftlich fühlen, und hernach auch wollen. Ich nehme in der Liebe keine Wollust an ohne diese Begeisterung [...]." 236 Die sinnlich-geistige Vereinigung der beiden Liebenden ist ein Moment göttlicher Präsenz. 2 3 7 Damit erhält die Geschlechterdifferenz als Grund234 Diese Beobachtung kann man auch hinsichtlich der Rolle der Frauen in der Weihnachtsfeier machen (s.o. Kap. Π) und damit eine vergleichbare innere Spannung zwischen der egalitären Rolle beider Geschlechter in der und für die Liebesbeziehung und der literarischen Initiations- und Vermittlungsrolle der Frauen festhalten. 235 Vertraute Briefe, K G A 1/3, 208. 236 Vertraute Briefe, K G A 1/3,165. 237 So schließt Schleiermacher seine Rezension der Lucinde im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks mit dem Urteil: „Durch die Liebe eben wird das Werk nicht nur poetisch, sondern auch religiös und moralisch. Religiös, indem sie überall auf dem

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läge dieser Liebe religiöse Bedeutsamkeit. Den Vertretern der Geschlechter kommt nicht die gleiche Aufgabe zu. Offensichtlich gibt es in der Entwicklung und Entfaltung der heterosexuellen Liebesfähigkeit für Frauen und Männer unterschiedliche Wege - dies ist ja das Thema von Schlegels Lucinde, und so sehen es auch die Akteure und Akteurinnen der Vertrauten Briefe. Den Frauen komme es in besonderer Weise zu, die Liebe zu pflegen: „Edle Frauen" haben die Liebe „als Beruf"238, während Männer offensichtlich angeregt durch die Kompetenz der Frauen ihre eigene Liebesfähigkeit vertiefen. 239 Wie in der Theorie der Freundschaft manifestiert sich auch in der Liebeskonzeption der Vertrauten Briefe eine Egalisierungstendenz, denn die Grundidee der Wechselseitigkeit komplementärer Pole, die erst gemeinsam das Ganze darstellen, impliziert zwar funktionale Verschiedenheit, aber keine qualitativen Hierarchien. Die Liebesbeziehung von Frau und Mann ist interdependent im Sinne wechselseitiger Ergänzung bis hin zur Verschmelzung. Diese Einheit in der komplementären Ergänzung setzt die funktionale Egalität zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, aber gerade keine Gleichheit im Sinne von Wesensidentität voraus. 240 Standpunkte gezeigt wird, von dem sie über das Leben hinaus ins Unendliche (Rezension von Friedrich Schlegel: Lucinde, KGA1/3, 217-223, hier: 223).

sieht

[...]."

238 Vertraute Briefe, K G A 1/3,155. 239 Vgl. auch im Versuch über die Schaamhaftigkeit, K G A 1/3, 168-178, hier: 175, die Darstellung der Frauen als Priesterinnen der Liebe, deren Aufgabe es sei, die Liebe vor äußeren Eingriffen, z.B. durch verobjektivierende Betrachtung allein der physiologischen Vorgänge, zu schützen. Frauen kommt diese Aufgabe anscheinend qua Geschlechtscharakter zu, zumal gerade Schamhaftigkeit bei Zeitgenossen als typisch weibliche Tugend angesehen wurde, so bei Kant in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen (vgl. Kant, Beobachtungen, 234). Vgl. dazu Richardson, Ruth Drucilla, Schleiermacher's 1800 „Versuch über die Schaamhaftigkeit". A Contribution Toward a Truly Human Ethic, in: Ian Nicol (Hg.), Schleiermacher and Feminism. Sources, Evaluations, and Responses, Lewiston 1992, 49-85, bes. 58-74, zu Rousseau, Kant, Campe, ν. Hippel und Fichte. Anders als diese unternehme Schleiermacher in seinem Essay eine neue, geschlechtsneutrale Definition von Schamhaftigkeit. Dessen ungeachtet zeichnen die Vertrauten Briefe Frauen als den Männern in Sachen Liebe nicht nur als ebenbürtig, sondern als überlegen. Diese Kompetenz bilde sich quasi naturwüchsig im Reifeprozess der Frau aus: Das Mädchen gleiche einer Knospe, die sich ohne Einfluss von außen von selbst entfalte, wenn es an der Zeit sei (so Friedrich an Karoline, vgl. K G A 1/3, 184-186). Das schließe die Entwicklung der Liebesfähigkeit durch „Versuche in der Liebe", die in den Vertrauten Briefen auch für Mädchen eigens thematisiert wird, nicht aus, sondern ein. Diese Entwicklung ist als organisch-natürlich vorgestellt, die sich dem Gefühl als innere Wahrnehmung unabhängig von äußeren Geboten mitteile („heilige Scheu", KGA 1/3, 187f.). Diese Vorstellung ähnelt der Vorstellung von der weiblichen religiösen Entwicklung, die in der Weihnachtsfeier zu finden ist (s.o. Kap. Π 6.2). 240 So urteilt Becker-Cantarino, Feminismus, 39: „Die psychische Emanzipation wird - wie bei Schlegel - vollzogen, das Wesen der Trau noch weiter individualisiert und der einseitig

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Darüberhinaus zeigt sich in den Vertrauten Briefen im Liebesbegriff eine universale und religiöse Dimension, die dem Freundschaftskonzept nicht eigen ist. Hier wird deutlich, wie Schleiermachers Theorieentwicklung über die Auseinandersetzung mit Spinoza eine neue Dimension gewonnen hat, die zuerst in den Reden über die Religion zu greifen ist. Hat er dort vor allem den Begriff des Universums zum kosmisch akzentuierten Totalitätskonzept und zum Zentralbegriff seiner Religionskonzeption gemacht, so finden sich doch auch schon Hinweise auf die Idee der Liebe, die in der Menschheitsgeschichte wie im einzelnen Religion erschließt bzw. einen Erfahrungsraum für sie zur Verfügung stellen kann. 241 In den Vertrauten Briefen verknüpft Schleiermacher dieses universale Moment mit individual- und sozialphilosophischen Aspekten des Liebesbegriffs. Der kosmisch-religiöse Aspekt der Liebe wird mit den sozialen und ethischen Aspekten der Paarbeziehung zwischen Frau und Mann verbunden und in den verschieden Facetten diskutiert. Die Geschlechterdifferenz stellt dabei gewissermaßen den Kreuzungspunkt dar, sofern sich die universalen Polaritäten von Geist und Natur, von Spontaneität und Rezeptivität in einem Modell differenter Einheit darstellen lassen, wie es das Modell der Freundschaft (auch zwischen Frau und Mann) nicht vermag. Denn die Liebesvereinigung von Frau und Mann beinhaltet ein Totalitätsmoment, das der Freundschaft fehlt und auf der polaren Symmetrie der Geschlechter beruht. 242 3.1.3. Zwischenergebnis: Von der Freundschaft zur Liebe In seinen Jugendschriften entwickelt Schleiermacher eine Theorie der Freundschaft, die als Modell für komplexe soziale Wechselbeziehungen dienen kann, und die in der Auseinandersetzung mit Jacobi und Spino-

männlichen Perspektive entrückt." Zugleich betont Becker-Cantarino, dass diese Aufwertung der Frau aber keine gesellschaftlich-politische Gleichberechtigung bedeute. 241 Die religiöse Dimension des romantischen Liebesverständnisses, wie sie sich in den Reden und den Vertrauten Briefen manifestiert, hat ihre Wurzeln schon in der Herrnhuter Frömmigkeit. Darauf weist bereits Bennent hin (Bennent, Galanterie, 75), auch neuere mentalitätsgeschichtliche Forschungen zur Kultur des Bürgertums verweisen auf die Wurzeln im Pietismus (vgl. Trepp, Anne-Charlott, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, 23-55, hier: 35). 242 „[...] denn in den höchsten Momenten der Liebe ist das Vertauschen des Bewußtseins, das gänzliche Hineinversetzen in den Andern das Höchste und Nothwendigste." (Vertraute Briefe, K G A 1/3, 201) und auch: „Die vollkommene Symmetrie des Eigenthiimlichen, das beständige Zusammentreffen im Heiligsten und Schönsten von jedem Punkte aus, wirst Du bei keinem Andern finden [···]." (a.a.O., 208 [Friedrich zu Eleonore]).

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za die Umrisse einer metaphysischen Totalitätskonzeption erkennen läßt. In der Berliner Charite-Zeit verbindet sich diese Konzeption im Zusammenhang des frühromantischen Symphilosophierens mit der Religionsthematik, profiliert sich in der Individualitätskonzeption der Monologen und gewinnt eine eigene Färbung über die zentrale Stellung des Liebesbegriffs als einer Kraft, die Bereiche des Natürlichen und des Kulturellen verbindet und in dieser umfassenden Totalität letztlich in den Bereich der Religion gehört. Der Aspekt der heterosexuellen Liebe steht dabei unübersehbar im Vordergrund. Schleiermacher nimmt Elemente seiner Freundschaftskonzeption in sein Verständnis der Liebe als geistiger und sinnlicher Kraft zwischen den Geschlechtern auf. Dabei mischt er sich in Debatten um die Rolle und Stellung der Frauen ein und entwickelt seine eigene Position. Mit dem Gedanken der komplementären Geschlechtscharaktere, der zwar nicht begrifflich, aber inhaltlich in den Vertrauten Briefen das Modell der Liebesbeziehung zwischen Frau und Mann bestimmt, kann das Verständnis der heterosexuellen Liebe vertieft und in die für Schleiermachers Denken charakteristische Struktur relativer Gegensätze, die zur Einheit streben, aufgenommen werden. Mit dem Modell der komplementären Ergänzung von Männlichkeit und Weiblichkeit etabliert Schleiermacher das Konzept der Geschlechterdifferenz als Struktur seines Liebesbegriffs, ohne den Begriff selbst zu verwenden. 243 Über den religiös besetzten Liebesbegriff rückt die Geschlechterdifferenz, die in den Jahren kurz vor 1800 zu einer zentralen kulturellen Kategorie wird, bei Schleiermacher in den Bereich der Religion. Dabei greift Schleiermacher biographische Erfahrungen wie intellektuelle Anregungen auf und reflektiert sie im Rahmen seiner bisherigen Konzeption. Soziale Lebensformen wie Ehe und Freundschaft werden von ihm kritisch geprüft, inhaltlich neu bestimmt und erhalten so ihre Funktion und Bedeutung im Programm einer Religion der Liebe. Die Liebe zwischen Frau und Mann und ihre soziale Lebensform, die Liebes-Ehe, stehen im Zentrum dieser frühromantischen Religion der Liebe. In der Liebesvereinigung verschmelzen Mann und Frau zu einer Einheit, die Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft verbindet,

243 Richardson verweist auf die innere Zusammengehörigkeit der Vertrauten Briefe und des Brouillons zur Ethik 1805/06. Hinsichtlich des Liebesbegriffs vgl. Richardson, Ruth Drucilla, Schleiermacher's „Vertraute Briefe". A Momentary Aberration or a Genuine Schleiermacherian Ethical Treatise?, in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin/New York 1991, 4 5 5 ^ 7 2 .

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kurz: die Welt und Ich in der Anschauung des Universums zusammenhält. 244 Über den Begriff der Liebe wird der Gedanke der Geschlechterdifferenz als einer symbolischen Ordnungskategorie vorbereitet, die nicht nur den Bereich des Physischen und des Geistigen in den Individuen verbindet und den Bereich des sozialen Lebens und seine elementaren Formen strukturiert, sondern auch die Vermittlung mit dem Absoluten berührt und damit für die Religion zu einer Leitdifferenz avanciert. 245 Die behandelten Schriften Schleiermachers vollziehen die Verbindung von Religion und Geschlechterdifferenz über den Liebesbegriff eher am Rande und beiläufig, nicht als explizite Verschiebung traditioneller Theologumena und dogmatischer Aussagen. Vielmehr äußert sich Schleiermacher in diesen Texten nicht als Prediger und Theologe, sondern als freier Autor und intellektueller Denker. Er wendet sich explizit an Außenseiter und begibt sich damit in eine Position der Vermittlung, die von vornherein eine Grenzüberschreitung wagen muss. Für die weitere Entwicklung von Schleiermachers Denken stellt sich zum einen die Frage, ob er die hohe Bewertung der geschlechtlichen Liebe bis zur Sakralisierung, die sich in den fast zeitgleich entstandenen Vertrauten Briefen und den Reden über die Religion erkennen lässt, in ihrer religiösen Valenz zurücknimmt oder weiter bearbeitet. Zum anderen ist zu fragen, ob und wie die religiöse Symbolisierung auf den Code der Geschlechterdifferenz selbst zurückwirkt. Über Schleiermacher hinaus und unabhängig von seiner theologischen Option wird dadurch eine kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit den bisherigen theologischen Konzepten angeregt: Welche Bedeutung hat es, wenn Liebe explizit auch als sexuell-erotische und nicht nur als geistige Kraft mit der Sphäre des Göttlichen identifiziert und als Raum unmittelbarer Gotteserfahrung qualifiziert wird?

244 Vgl. Vertraute Briefe, KGA 1/3, 199f. 245 In Schleiermachers Sakralisierung der Liebe deutet sich eine Integration der romantischen Liebe in die Religion an, die er später als Integration der Liebe in die christliche Ehe weiterführt (vgl. Kap. IV 5.2). Neuere soziologische und kulturgeschichtliche Untersuchungen interpretieren die Entstehung der Sozialform der Paarliebe seit dem 18. lahrhundert als Kompensation des Sinnverlusts durch den Traditionsabbau in der modernen Gesellschaft einschließlich des Verlusts der religiösen Sinnstiftung (vgl. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1992, bes. 222-243).

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3.2. Die Texte bis 1806 Den Hochzeiten der Berliner Frühromantik um 1799, die mit den wichtigsten Veröffentlichungen Schleiermachers zusammenfallen, folgen ab 1800 innere Spannungen und äußere Kritik; es bilden sich neue Konstellationen und der Berliner Kreis löst sich auf. Schleiermacher sieht sich 1802 gezwungen, die Aufforderung der Kirchenleitung zur Übernahme der Hofpredigerstelle in Stolp (Hinterpommern) anzunehmen. 246 Der Umzug bedeutet einen völligen Umbruch der äußeren Situation Schleiermachers und eine tiefe Vereinsamung durch den Verlust der Freunde wie durch die quälende unglückliche Beziehung zu Eleonore Grunow. In dieser Zeit verfasst er das umfangreiche Werk Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, das 1803 in Berlin erscheint und seine ethischen Studien seit der Hallenser Zeit zu einem vorläufigen Abschluss bringt. 3.2.1. Grundlinien einer Kritik der bisherigen

Sittenlehre

Die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre247 sind ein „Buch des Übergangs"2*8, in dem die langjährige Auseinandersetzung mit der Ethik seit der Hallenser Studienzeit zum Abschluss kommt, aber auch das frühromantische Symphilosophieren übergeht in die Ausbildung einer eigenen systematischen Konzeption. 249 Schleiermacher behandelt durchgehend die verschiedenen ethischen Systeme von der Antike bis in seine Gegenwart, indem er sie anhand eines von ihm entworfenen kritischen Rasters untersucht, sie auf die Vollständigkeit des jeweiligen Systems hin prüft und ihre Prinzipien und Begriffe auf innere Konsistenz und logische Widerspruchsfreiheit hin abklopft. Im Rahmen dieser kritischen Prüfung behandelt Schleiermacher zuerst die höchsten Grundsätze der verschiedenen ethischen Systeme, sodann die einzelnen realen ethischen Begriffe und abschließend die Systeme als ganze. In diesem dritten Abschnitt führt Schleiermacher den Systemgedanken als Gesamtheit eines vollständigen und notwendigen inneren 246 Vgl. Nowak, Schleiermacher, 122-124. 247 Vgl. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), K G A 1/4, 27-357. Der Text folgt der Erstausgabe. Zur Einführung vgl. Arndt, Andreas, Kommentar, in: Friedrich Schleiermacher. Schriften, hg. v. Andreas Arndt (Bibliothek Deutscher Klassiker 134), Frankfurt a.M. 1996, 993-1349, hier: 1160-1172 u. Herms, Eilert/Meckenstock, Günter/Pietsch, Michael, Historische Einführung. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, KGA 1/4, VII-LXXXVII. 248 Nowak, Schleiermacher, 129. Vgl. auch Arndt, Kommentar, 1163f. 249 Zur Kontinuität mit der Frühromantik insbesondere im Gedanken einer obersten spekulativen Wissenschaft vgl. Arndt, Kommentar, 1165.

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Zusammenhanges für eine wissenschaftliche Darstellung der Ethik ein. 250 Die Frage, ob es für jeden Fall nur eine einzige mögliche sittliche Handlungsweise gibt, führt ihn zu der Aussage, dass die Ethik nicht weniger als die Kunst die Individualität der Handelnden berücksichtigen muss. Denn ein ethisches System hat für Schleiermacher nicht allein die äußeren Handlungen, sondern auch die inneren Vorgänge des Gemüts einzubeziehen, 2 5 1 um die Ethik in ihrem ganzen Umfang angemessen zu behandeln. Daher ist das Problem der Individualität bzw. der „Verschiedenheit des Charakters"252 in der Ethik zu berücksichtigen. Diese auszubilden ist eine ethische Aufgabe, die jedoch bisher keineswegs ausreichend behandelt worden ist. 253 Die Vernachlässigung der Individualität in den ethischen Systemen führt Schleiermacher darauf zurück, dass die Phantasie als geistiges Vermögen, das mit der Individualität verbunden ist und diese ausmacht, übersehen wurde und allein die Vernunft, das in allen Menschen gleiche geistige Vermögen, als ethisch gestaltende Kraft wahrgenommen wurde: „Dieses nemlich scheint der Grund des Übels zu sein, daß Alle fast das geistige Vermögen des Menschen nur ansehen als Vernunft, die andere Ansicht dieser Grundkraft aber als freies Verknüpfungs- und Hervorbringungsvermögen, oder als Fantasie, ganz vernachläßigen, welches doch die eigentlich ethische Ansicht sein müßte, und sich eben deshalb auch in der Ausführung nicht ganz übersehen läßt."254 Schleiermacher betrachtet in den Grundlinien die Phantasie gerade als die eigentlich produktive und gestaltende Antriebskraft, die das Handeln entwirft und motiviert, während die Vernunft dabei eine affirmative bzw. kritisch verwerfende Funktion hat, also vor allem als Urteilskraft beteiligt ist. 255 In der zentralen Rolle der Phantasie liegt für Schleiermacher die Wichtigkeit von Gedanken und Gefühlen begründet, die nicht durch die äußeren Gegenstände veranlasst sind, sondern 250 Vgl. Grundlinien, KGA1/4, 267-276. 251 Vgl. Schleiermachers erweiterte Definition des Sittlichen als „[...] den ganzen Inbegrif dessen, was in einem gegebenen Falle im Gemüth vorgegangen ist [...]." (Grundlinien, K G A 1/4, 280). 252 Grundlinien, K G A 1/4, 279. Dies entspricht den verschiedenen Stilen der Kunstlehre (vgl. ebd.). 253 Vgl. Grundlinien, K G A 1/4, 280. 254 Grundlinien, K G A 1/4, 287. Vgl. auch Schleiermachers Kritik an der Tendenz der ethischen Systeme, von der Individualität abzusehen, im Brouillon von 1805/06 (Brouillon hg. v. Birkner, 46-49). 255 „Denn jener [Kant, EH] begreift nicht, daß er durch dieselbe Kraft, welcher er nur verstatten möchte aus dem umherziehenden Rauch Bilder zu dichten, auch Alles andere bilden und gestalten muß, und daß eben diese nicht nur alle künftigen Handlungen vorbildet, welche die Vernunft bestätigt oder verwirft, sondern auch die gewählten erst belebend ausbilden muß." (Grundlinien, K G A 1/4, 288).

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allein als innere gleichzeitige Vorgänge mit äußerem Handeln verbunden werden. Diese innere Tätigkeit spielt für die Ausbildung von Sittlichkeit auf nichtreflexivem Weg eine entscheidende Rolle und ist für die Ausbildung von ethisch positiven Gewohnheiten und Anderungsprozessen zu nutzen. Dies gilt insbesondere für die Ausbildung von Sittlichkeit bei Frauen und bei Personen, die eine mechanische, also nicht reflektierte Tätigkeit ausüben. 256 Schleiermacher weitet im Zweiten Buch der Grundlinien die Ethik entscheidend aus, indem er Individualität, Phantasie und Tätigkeiten des Gemütes einbezieht und miteinander verknüpft. Damit hat er einen wichtigen Schritt zur Konstruktion seiner eigenen Ethiktheorie vollzogen. Entscheidend ist die Hervorhebung der Phantasie als produktiver ethischer Grundkraft, die sowohl für die innere Tätigkeit des Gemütes wie für die Ausprägung der Individualität verantwortlich ist. Der Vernunft kommt die Aufgabe des kritischen Urteils zu. Der beiläufige Hinweis auf das „weibliche Geschlecht" belegt deutlich, wie sehr Schleiermacher die Phantasie und die damit verbundene innere Tätigkeit selbstverständlich mit Weiblichkeit verbindet. Dies bedeutet, dass ein Seelenvermögen, das von Schleiermacher als ethische Grundkraft eingeführt wird, über kulturelle und anthropologische Konzepte mit einer materialethischen Problemlage, nämlich den Fragen der Geschlechterbeziehungen, verbunden ist. Die Analyse von Schleiermachers Kritik an den ethischen Begriffen der Mäßigung des Geschlechtstriebes und der Keuschheit sowie noch deutlicher an der Vernachlässigung von Liebe und Ehe in den bisherigen ethischen Systemen wird aufzeigen, welche Verbindungen zwischen der systematischen und der materialethischen Ebene bestehen. Schleiermacher führt die Phantasie als Grundkraft und die Individualität als anthropologische Zentralbestimmung in seine Ethiktheorie ein. Beide sind für Schleiermacher miteinander verbunden. Der Individualität räumt er einen eigenen ethischen Ort ein, indem er ihre Ausbildung als sittliche Aufgabe formuliert. Das bedeutet in der Konsequenz, dass Verschiedenheiten wie die des Geschlechts nicht empirische Abweichungen des sittlich unteilbaren und einfachen Guten darstellen, sondern kulturell wie anthropologisch einzuordnen und nach ihrer sittlichen Funktion zu beurteilen sind. Damit ist die Verortung der Geschlechtscharaktere in der Ethik vorbereitet, wie Schleier-

256 „Wie denn auch offenbar nicht nur die Sittlichkeit des weiblichen Geschlechtes vorzüglich von diesem Theile ihres Lebens abhängt, sondern auch die mannigfaltigen besonderen sittlichen Erscheinungen unter der mechanisch arbeitenden Abtheilung der Gesellschaft hieraus zu erklären sind." (Grundlinien, KGA 1/4, 290).

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macher sie später behandelt. 257 Indem Schleiermacher die sittliche Produktivität der inneren Tätigkeit wahrnimmt und ihre ethische Relevanz anerkennt, kann er bisher unterbestimmte oder gänzlich übersehene Bereiche des Ethischen präziser behandeln. Dies gilt für die ethische Bedeutung der Geselligkeit und insbesondere für die Begründung und Behandlung der Liebe und Ehe, aber auch der Freundschaft. So vernachlässigen Kant und Fichte, aber auch die eudämonistischen Systeme die Bedeutung der Kommunikation und der Geselligkeit einschließlich des Scherzes. 258 Die Vernachlässigung der inneren Tätigkeit wirkt sich so Schleiermacher - auch als Defizit in der ethischen Ableitung und Behandlung von Liebe und Freundschaft aus, denen die „Gemeinschaft des Innern [...] unentbehrliche Bedingung ist."259 Die Analyse von Schleiermachers Kritik an Fichtes Ehetheorie 260 erhellt, wie sich seine Vorstellung der Geschlechterdifferenz in materialethisch signifikanten Bereichen abbildet. 261 Schleiermacher vertieft damit seine Reflexion im Bereich der Sexualethik in Kontinuität zu seinen Überlegungen in den Gedankenheften wie in den Vertrauten Briefen. Die Bedeutung, die Schleiermacher Liebe und Freundschaft gibt, manifestiert sich in seiner Forderung, diese müssten durch eine systematische Deduktion als notwendige ethische Güter erwiesen werden. 262 Schleiermacher lokalisiert das Hauptproblem, das zur unzureichenden Behandlung von Liebe und Freundschaft in den ethischen Systemen führt, im fehlenden Zusammenhang zwischen dem Physischen und dem Ethischen. 263 Die antiken Autoren sind bezüglich ihrer defizitären Behandlung der Liebe „als ein besonderes, und zwar auf das 257 Vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 54-58 u. Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 81f. 258 „Es gilt aber dieser Vonuurf daß vernachläßiget wird die freie Mittheilung als ein sittlich gefordertes aufzustellen und auszubilden, nicht nur die praktischen Sittenlehren, sondern nicht minder auch die auf Lust und Genuß ausgehenden [...]." (Grundlinien, K G A 1/4, 292). 259 Grundlinien, K G A 1/4, 293. 260 Vgl. Grundlinien, K G A 1/4, 297-300. Die Kritik Schleiermachers an Kant liegt gedanklich auf der gleichen Linie, fällt jedoch weniger scharf aus. Kant kenne nur die praktische Liebe, die nicht als innere Tätigkeit aufgefasst werden kann, und entsprechend behandele er die Ehe ohne Bezug auf den Begriff der Liebe (vgl. Grundlinien, K G A 1/4, 295f.). 261 Zur Bedeutung der Grundlinien für Schleiermachers Kritik an Fichtes und Kants Ehetheorie vgl. auch Richardson, Role, 113-116. 262 Vgl. Grundlinien K G A 1/4, 300f. 263 So bemerkt Schleiermacher bezüglich der antiken Systeme: „Denn da ihnen die Idee des Symbolischen gänzlich fehlt, sind sie auch nicht im Stande einen Zusammenhang zwischen dem physischen und ethischen anzugeben." (Grundlinien, K G A 1/4, 295). Eine Ausnahme macht Schleiermacher hier allein für Piaton, bei dem er genau diese symbolisierende Verbindung von Geschlechtstrieb und Ideenerzeugung findet (vgl. a.a.O., 301f.).

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allergenaueste auf Gemeinschaft des Inneren angelegte Verhältniß" noch zu entschuldigen, da sie von einem „Verhältniß sittlicher Ungleichheit zwischen beiden Geschlechtern"264 ausgehen. So kennen die antiken Systeme die Ehe nicht als eigenes sittliches Gut, sondern lediglich als Naturzweck oder als Mittel zur Fortpflanzung, und entsprechend ist auch Keuschheit keine sittliche Tugend, denn das Unsittliche wird in der Abweichung vom Naturzweck durch Fixierung auf Phantasieobjekte gesehen. Die Ansätze zu einer Begründung der Ehe als sittlichem Gebot bei den neueren Ethiken, insbesondere bei Fichte, sind jedoch nach Schleiermacher in der argumentativen Begründung verworren und unzureichend. Auch Fichte fehlt letztlich eine klare Lösung für „den Hauptknoten der Aufgabe [...], nemlich die Verbindung des natürlichen Geschlechtstriebes mit einem besonderen geistigen Bedürfnifl [...]."265 So kritisiert Schleiermacher bei Fichte bereits dessen Einordnung der Mäßigung des Geschlechtstriebes unter die sittlichen Güter. Diese sind gerade nicht als reine Begrenzung eines natürlichen Triebes sittlich, sondern insofern mit dem sittlichen Grund der Handlung auch schon deren Grenze mitgegeben ist.266 Schleiermacher deckt in seiner Darstellung nicht ohne Spott auf, daß Fichtes Begründung des Geschlechtstriebes eine unhaltbare Konstruktion darstellt. Sie beruht auf der Prämisse der vorgeburtlichen fleischlichen Tötung des Geschlechtstriebes bei der Frau und der geistigen Auferstehung desselben als Liebe. Als Hingabe - und nicht etwa als wohltätige Handlung der Gefälligkeit - ermöglicht diese dann die Verschmelzung mit dem vom physischen Geschlechtstrieb motivierten Mann zu dem sittlichen Ziel der „gänzliche[n] Verschmelzung zweier Individuen"267.

264 Grundlinien, K G A 1/4, 295. 265 Grundlinien, K G A 1/4, 299. 266 Vgl. Grundlinien, K G A 1/4, 219f. Schleiermacher schließt mit einem ironischen Fazit: „[...] ferner wie dann doch auch die Sittlichkeit des Mannes gleichsam durchdrungen und gesättiget wird mit dem Wasser dieser fremden Quelle, und die Sittlichkeit überhaupt, welche vorher aus dem innersten der Intelligenz hervorging, nun am Ende in einer andern, vielleicht noch schöneren Gestalt aus dem Geschlechtstriebe hervorsprießt, dieses alles ist zu sehr hervorspringend, um mehr als angedeutet zu werden." (a.a.O., 221f.). 267 Grundlinien, KGA 1/4, 221. Diese Formulierung ist bereits eine für Schleiermacher typische. Fichtes dagegen spricht zwar von einer „durch den Geschlechtstrieb begründete[n] vollkommene[n] Vereinigung zweier Personen" (Fichte, Grundriss §8, 104) und stellt diesen Vereinigungsprozess nicht als Verschmelzung des Bewusstseins dar, sondern als „Umtauschung der Herzen und der Willen" (a.a.O., 103). Bei Kant könne von einer Ethisierung noch weniger die Rede sein, da der Geschlechtstrieb zwar Zweck der juridisch gefassten Ehe sei, aber gerade das sittliche Sollen des Geschlechtstriebes nicht aufgezeigt werde. In den anderen ethischen Systemen beziehe sich die ethische Überlegung allein auf das Gebot der Fortpflanzung, woraus keine eigene ethische Verpflichtung der Ehe abgeleitet werden kann, sondern deren In-

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Bei der Behandlung von Fichtes Ehetheorie zeigt sich eine ähnliche Problematik wie bei der Analyse des Keuschheitsgebotes: Da Fichtes Begründung, wie aus der körperlichen Befriedigung des Geschlechtstriebes beim Mann die geistige Liebe hervorgehe, nicht einleuchtet, kann die eheliche Liebe nicht von der Freundschaft unterschieden werden. 268 Zudem setzt Fichte die Entsprechung von körperlicher und geistiger Verschiedenheit der Geschlechter voraus, ohne diese ethisch zu bestimmen. Denn diese ethische Bestimmung zwänge ihn nach Ansicht Schleiermachers zu der Unterscheidung zwischen einem allgemein Menschlichen und der Differenz des Geschlechts. Kurz, Fichte kann den Begriff der Liebe ethisch nicht bestimmen, weil ihm der Begriff der Geschlechterdifferenz fehlt bzw. er diesen nicht klärt. Daraus folgt die Korrumpierung von Fichtes zentralem ethischen Konzept des Gewissens. Denn ohne einen reflektierten Begriff der Liebe könne die sittliche Urteilskraft nicht entscheiden. 269 Diese knappe, aber aufschlussreiche Kritik des wissenschaftlichen Standes der Sexualethik schließt Schleiermacher mit dem Aufweis, dass auch der Begriff der Schamhaftigkeit ethisch gehaltlos sei. 270 Nach Schleiermachers Urteil ist also dieser Stand der ethischen Reflexion des Bereiches von Sexualität und Ehe völlig unzureichend. 271 Diese Kritik Schleiermachers in den Grundlinien weist zum einen auf die Behandlung des Themas Liebe und Ehe in seinem Brouillon zur Ethik hin, in dem der Liebesgedanke als Verschmelzung zweier Indivistrumentalisierung zugunsten der Fortpflanzung offensichtlich sei (vgl. Grundlinien, KGA1/4, 222f.). 268 Vgl. Grundlinien, K G A 1/4, 297. 269 Vgl. Grundlinien, K G A 1/4, 220 u. 297f. Letztlich ist für Schleiermacher auch die auf die Ehe bezogene Tugend der Keuschheit bei Fichte nicht ausreichend ethisch fundiert (vgl. a.a.O., 222). 270 Schleiermachers eigene Position lässt sich durch die Abhandlung über die Schaamhaftigkeit in den Vertrauten Briefen entnehmen (Grundlinien, K G A 1/3, 168-178). Richardson arbeitet heraus, in welcher Weise Schamhaftigkeit bei den Zeitgenossen Schleiermachers als typische weibliche Tugend dazu dient, Frauen zu domestizieren und insbesondere bei Fichte zum Angelpunkt des entsexualisierten, allein dem Haus zugeordneten und dem Mann unterworfenen weiblichen Geschlechtscharakters wird (vgl. Richardson, Versuch, 73f.). Schleiermacher dagegen definiere Schamhaftigkeit neu als eine Tugend, die sowohl von Frauen wie von Männern geteilt und geübt werde und damit ihre Zuordnung zum weiblichen Geschlechtscharakter verliere (vgl. a.a.O., 84f.). 271 „Wie gänzlich also dieser für die Ethik höchst wichtige Gegenstand in den praktischen Systemen noch in der Verwirrung liegt, und den ersten klaren Begriff enoartet, dies muß jedem einleuchten." (Grundlinien, K G A 1/4, 223). Diese Kritik gilt allerdings nicht für eudämonische Ethik-Systeme, die auch bezüglich der Tugend der Schamhaftigkeit nach Schleiermacher die konsequentere Position aufweisen. Schleiermachers Kritik dieser Tugend in den deontologischen Ethiksystemen verläuft nach dem gleichen Argumentationsmuster wie seine Kritik an der Ehe als sittlichem Gut (vgl. a.a.O., 223f.).

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duen und die Ehe ähnlich wie bei Fichte zentral ist und dennoch völlig anders begründet wird; sie verweist aber auch auf die Kontinuität, mit der er die Thematik von Freundschaft, Liebe und Ehe weiter behandelt. Schleiermacher führt das Problem der Fichteschen Ehetheorie im Kern auf einen defizitären Liebesbegriff zurück. Das Defizit des Fichteschen Liebesbegriffs wiederum lässt sich letztlich als das Fehlen eines angemessenen Begriffs der Geschlechterdifferenz erweisen. Schleiermachers Kritik legt den Finger auf die Unhaltbarkeit der Fichteschen Konstruktion von männlichem Geschlechtstrieb und weiblicher Liebe als Grund der Ehe. Die Liebe des Mannes ist, so Schleiermachers Monitum, durch die Frau vermittelt, während ihm ursprünglich nur der natürliche Geschlechtstrieb zukommt. Die kritische Analyse Schleiermachers erhellt, dass eine andere Konzeption von Geschlechterdifferenz und Liebe im Zusammenhang mit dem Begriff der Individualität diese Schwierigkeit beheben könnte. Seine Kritik an Fichtes Ehetheorie bildet also eine Art Negativfolie für seine eigene ethische Theoriebildung. Darüber hinaus zeichnen sich die Verbindungen zwischen dem materialethischen Thema Liebe und Ehe und der systematisch-konstruktiven Ebene von Liebesbegriff und Geschlechterdifferenz in Schleiermachers ethischem Entwurf etwas deutlicher ab. Die Geschlechterdifferenz ist innerhalb des Individualitätsbegriffs zu verorten; sie ist von vornherein nicht auf die Naturebene der Gattung zu beschränken, sondern muss auch als vernunftbestimmt gedacht werden. Dies wird Schleiermacher in seinem ersten eigenen Entwurf einer Ethik dann auch zum Modell der egalitären Geschlechterkomplementarität führen. Ist die Geschlechterdifferenz indes nicht nur eine biologische Gegebenheit oder ein reines Naturdatum, sondern auch Teil menschlicher Kultur, dann zeichnet sich eine doppelte Bedeutung der Geschlechterdifferenz ab, wie sie in den Grundlinien angedeutet ist: Geschlechterdifferenz ist zum einen eine elementare anthropologische Bestimmung des Menschen, die sein Wesen als Einheit von Natur und Vernunft durchzieht, zum anderen wirkt sie als ein kulturelles Strukturprinzip, das in der Beschreibung des Sozialen und Kulturellen, also im Feld der Ethik, erkennbar ist. 3.2.2. Brouillon zur Ethik (1805/06) Waren die Grundlinien ein Werk des Übergangs, in dem Friedrich Schleiermacher seinen eigenen Ethikentwurf nur als Negativfolie in der Kritik der bisherigen Systeme andeutete, so hat er sein eigenes ethisches System erstmals im Zusammenhang mit seinen Vorlesungen zur

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Ethik an der Universität Halle formuliert. 272 Bei dem Brouillon zur Ethik handelt es sich um das erhaltene Vorlesungsmanuskript von Schleiermachers Ethik-Vorlesung in Halle vom Wintersemester 1805/06 und damit um den ersten Gesamtentwurf seines ethischen Systems, den Schleiermacher im Zusammenhang seiner Vorlesungen verfasst hat. 273 Dort behandelt Schleiermacher von der 32. bis zur 36. Vorlesungsstunde die Themen Geschlechtscharakter, Liebe und Ehe, Freundschaft und Familie. 274 Die Behandlung im Brouillon widmet dem Thema in seinen verschiedenen materialen Facetten einen relativ großen Raum. Schleiermacher nimmt dabei den Begriff der Liebe zum Ausgangspunkt und vermittelt den inneren Zusammenhang zwischen Geschlechtscharakter und Ehe noch stärker über den Liebesgedanken, als dies in der Ethik von 1812/13 der Fall ist. Dabei zeigt sich eine terminologische Unklarheit bzw. Unschärfe: Im Brouillon spricht er einerseits in der Güterlehre von Liebe, und zwar im Zusammenhang von Geschlechterdifferenz und Ehe, andererseits bestimmt er in der Tugendlehre die Liebe als Tugend, indem er einen wesentlich weiteren Liebesbegriff zugrunde legt. 275 In seinen späteren Ethikmanuskripten überwindet Schleierma272 Schleiermacher beabsichtigte lange, seine philosophische wie auch seine theologische Ethik zu veröffentlichen. Da er diese Absicht nie ausführte, sind es „faktisch [...] erst die Nachlaßausgaben der Manuskripte zum System gewesen, die Schleiermachers Verständnis der Ethik, die auch die fundierende Rolle dieser Disziplin in seiner Wissenschaftssystematik deutlich vor Augen gestellt haben." (Birkner, Hans-Joachim, Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06). Auf d. Grundlage d. Ausg. v. Otto Braun hg. u. eingel. v. Hans-Joachim Birkner (PhB 334), Hamburg 1981, V I I X X V i n , hier: X). Zur Editionsgeschichte und den einzelnen Ausgaben vgl. Birkner, Einleitung Brouillon, VII-XXIL 273 Nach seiner Berufung an die Universität Halle las Schleiermacher neben theologischen Vorlesungen zum ersten Mal die Ethik im Wintersemester 1804/05 und ebenso im darauffolgenden Wintersemester. 274 Richardson, Role, 119, weist darauf hin, wie interessant und materialreich der Brouillon im Blick auf Schleiermachers Denken der Geschlechterdifferenz ist und betont insbesondere die inhaltliche Kontinuität zu den Vertrauten Briefen. 275 Vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 132 u. 137-143. In der Ethik 1812/13 vermeidet Schleiermacher diese Unklarheit, indem er den Begriff der Liebe nur noch in der Tugendlehre verwendet, während er in seiner Ableitung der Ehe die Rolle der Geschlechterdifferenz stärker herausarbeitet und den Ausdruck „Wahlanziehung" benutzt, wo er von der Geschlechtsliebe auf individueller Ebene zwischen einem bestimmten Mann und einer bestimmten Frau spricht. Zur Ethik 1812/13 vgl. Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 32f. u. insbes. 81-93, die stark vom Thema der Familie geprägt sind. Ausgangspunkt ist hier die Geschlechterdifferenz als männlicher und weiblicher Geschlechtscharakter und der physische Geschlechtstrieb, während dem Begriff der Liebe eine eigene Behandlung in der Tugendlehre zuteil wird. Zur Struktur ethischen Handelns und des ethischen Subjekts vgl. sehr knapp Sorrentino, Sergio, Natur- und Vernunftkausalität. Schleiermachers Ethik als Thematisierung der Humanität, in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin/New York 1991, 493-508, hier: 496-501.

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eher diese Unschärfe, indem er die Liebe konsequent in die Tugendlehre einordnet und den Begriff im Zusammenhang mit der Erörterung der Ehe vermeidet. 3.2.2.1. Liebe als Tugend und die geschlechtliche Liebe Terminologisch nicht unterschieden von der geschlechtlichen Liebe zwischen Mann und Frau handelt Schleiermacher die Liebe als Tugend der Gesinnung ab. Darunter versteht Schleiermacher eine Betrachtung von Aspekten des Geistes, wie er sich als individuelle Seele findet. Unter dem Aspekt des Symbolisierens entwickele sich die Tugend der Weisheit, unter dem Aspekt des Organisierens die Tugend der Liebe, die die Natur zum Organ der Vernunft bildet. Schleiermacher statuiert in der Liebe ein verbindendes Element, so dass die Bewegung der Beseelung zugleich gemeinschaftsbildend wirkt, wobei er ausdrücklich die „eheliche Liebe" nennt. 276 Wie später in der Ethik von 1812/13 definiert Schleiermacher „Liebe" als „Seele-Seinwollen, wodurch die Vernunft eins wird mit der Materie": damit ist die Liebe „der unmittelbarste Wendepunkt zwischen Physischem und Ethischem"277. Die gestaltende Bewegung der ungestalteten Materie zum Bestimmten und Einzelnen eines Leibes 278 werde angetrieben durch die Liebe, und insofern sei die Liebe „das Princip des Daseins der einzelnen Dinge"279. Aus der Grundbewegung der Beseelung entsteht als erste Differenz zum einen die vernunftgemäße Gestaltung der Natur, die Bildung, und zum anderen ein Organ vernünftigen Erkennens, das Bewusstsein. Als zweite Differenz entwickelt sich die Unterscheidung in der Bildung, sofern die Bewegung der Liebe als ursprüngliche Beseelung der Natur, und sofern sie als Einwirkung auf die bereits beseelte Natur erfolgt. 280 Der Vorgang erfolgt stets intersubjektiv und interdependent, mit dem Bestreben des gemeinsamen Seele-Seinwollens·, ebenso wie Bildung und Bewusstsein miteinander in Verbindung stehen, denn kein Bilden erfolgt ohne Erkennen, und Erkennen bewirkt ein Einbilden der Vernunft

276 Vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 132f. 277 Brouillon hg. v. Birkner, 137. 278 Schleiermachers Formulierung zeigt eine Nähe zu modernen Vorstellungen der Selbstorganisation von Materie in Stufen wachsender Komplexität, wobei der aporetische Terminus der „Selbstorgansiation" bei ihm durch das Modell der Liebe als initiativem Impuls ersetzt ist, da er von einem dualen Modell dialektischer Bezogenheit von Natur und Geist ausgeht. 279 Brouillon hg. v. Birkner, 137. 280 Vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 138.

Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz

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in die Natur. 281 Schleiermacher betont sofort, nachdem er die Unterscheidung von Bilden und Erkennen eingeführt hat, deren Relativität, so dass er wieder zur Einheit zurückkommt: „Daraus folgt nun, daß alles, was wir als seiend, der Form nach in der Weisheit gesehn haben, in der Liebe zur Identität des Seins und Werdens gelangt [,..]."282 Liebe ist die zentrale Kraft, die verhindere, dass aus den Dualen von Idee und Erfahrung, von Theorie und Praxis ein Dualismus werde. Schließlich schreibt Schleiermacher der Liebe Omnipräsenz und Omnipotenz zu: „Auf diese Weise ist die Liebe überall. Sie ist Princip der bildenden Function, anfangend von der Persönlichkeit, dann Geschlechtsvereinigung und Familie stiftend, wobei sie zu der ersten Repräsentation der Totalbeseelung der Vernunft gelangt, dann die größte Organisation hervorbringend. Denn alles ist ein Beseelenwollen. Eben so ist sie Princip der erkennenden Function, anfangend von der Persönlichkeit, endend im Produciren einer vollendeten Gemeinschaft aller Erkenntniß."283 Nach dieser Bestimmung der Liebe beschreibt Schleiermacher das Phänomen des Bewusstseins unter der Bestimmung der Liebe und so das Wirken der Liebe im Erkennen. Anschließend umreißt er den Bereich des Bildens unter dem Leitaspekt der Liebe. Die Liebe ist das notwendige Pendant zur Individualität, die einer Gegenkraft bedarf, um ihre Unzugänglichkeit und Unübertragbarkeit für das Bezogensein der Person auf die Gemeinschaft zu vermitteln. 284 Die Liebe ist somit für Schleiermacher diejenige Gestaltungsmacht, die die Natur mit der Vernunft so vermittelt, dass die konkrete Vielfalt des einzelnen überhaupt erst entsteht und sich zugleich in Harmonie mit der einheitsstiftenden Vernunft befindet. Die Liebe zwischen den Geschlechtern wie die „Geschlechtsdifferenz" 2 8 5 selbst, die Schleiermacher im Rahmen der Güterlehre traktiert, erweist sich sodann als Gestalt der Liebe, wie sie sich in der organisierenden Funktion ausbildet. Im Zuge der detaillierteren Behandlung der

281 „ Jedes wirkliche Erkennen mit Bewußtsein ist ja ein Einbilden der Vernunft in die Natur, ein liebendes Schaffen, ein Uebergehen der Idee in eine Reihe einzelner Betrachtungen und Gedanken. " (Brouillon hg. v. Birkner, 139). 282 Brouillon hg. v. Birkner, 139. 283 Brouillon hg. v. Birkner, 140. 284 Vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 49: „Dieser Trieb die unzugängliche und unübertragbare Individualität anzuschaun ist, was man im engeren, aber noch nicht engsten Sinne Liebe nennt." Diese Liebe im weiteren Sinn ist auf wechselseitige Anschauung und Erkennen ausgerichtet und insofern die Triebfeder von Geselligkeit und Freundschaft und dann natürlich auch von erotischer Liebe als Liebe im engeren Sinn. 285 Schleiermacher verwendet den Begriff im Brouillon erstmals.

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

organisierenden Funktion kommt Schleiermacher zu der Schlussfolgerung, der allgemeine Charakter der Vernunft verlange, dass die individuelle organisierende Tätigkeit nicht zu einer völligen Abschließung der einzelnen führt, sondern dass auch die organisierende Tätigkeit unter dem Aspekt der Individualität eine Tendenz zur Überschreitung und damit zu einer „Gemeinschaft der Individualität"286 enthalten muss. Damit gelangt Schleiermacher zur Erörterung der Sozialformen unter dem Stichwort der Geselligkeit, die er zusammen mit der Freundschaft abhandelt. 2 8 7 3.2.2.2. Geschlechtscharakter im Brouillon Als eine besondere Struktur der Individualität führt nun Schleiermacher den Geschlechtscharakter 2 8 8 ein. Diese Struktur lässt sich in der Person als unverwechselbares interdependentes Relationsgefüge von Vermögen, Organen und Kräften fassen, als dialektische Kombination in spezifischen Graden und Quantitäten, und so als partikulare und damit unter den Bedingungen der Geschichtlichkeit mögliche Gestalt der Vernunft darstellen. „Die Vereinzelung der Vernunft in der Persönlichkeit erscheint uns aber noch zerspalten im Geschlechtscharakter. Wenn also die Vernunft mit der Bestimmtheit des Einzelnen durch die Natur eins werden muß, so muß sie es auch mit dem Geschlechtscharakter. Dies muß nothwendig mit angeschaut werden, wo die Bildung zur Individualität und die Gemeinschaft derselben soll ethisch dargestellt sein."289 Schleiermacher integriert damit in seinen Entwurf der Ethik ein zeitgenössisches Konzept und gibt ihm eigene Konturen. 2 9 0 Der Geschlechtscharakter ist durch Binarität und „absolute Einseitigkeit"29'1 gekennzeichnet, d.h. er ist eine duale, auf komplementäre Ergänzung angelegte Struktur. 2 9 2 Sofern der Geschlechtscharakter ein Element der Partikula286 Brouillon hg. v. Birkner, 49. 287 Brouillon hg. v. Birkner, 50-52. 288 In der singularischen Verwendung (wie in der zitierten Definition) konvergiert der Ausdruck Geschlechtscharakter mit Schleiermachers Begriff der Geschlechtsdifferenz, wie er ihn später in der Ethik 1812/13 verwendet (vgl. Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 80f. Zusatz 1816 ). 289 Brouillon hg. v. Birkner, 54f. 290 Zur zeitgenössischen Debatte um Konzepte der Geschlechterdifferenz s.o. 2.3. 291 Brouillon hg. v. Birkner, 55. 292 Binarität, präziser Komplementarität, ist eine unhinterfragte Prämisse aus der zeitgenössischen Debatte, die sich in Schleiermachers Denken in der Struktur oszillierender Polaritäten auf gleicher Ebene einfügt, die sich zu einem komplexen Fachwerk ergänzen. Die absolute Gespaltenheit ist jedoch ein für Schleiermacher auffälliges Charakteristikum, da er in der Regel von relativen Gegensätzen im Rahmen eines Minimum-Maximus-Prinzips ausgeht. Die absolute Gespaltenheit scheint in Span-

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Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz

risierung der Vernunft unter der Bedingungen der Natur und also ein Element der der Natur einwohnenden Vernunft darstellt, hat er eine physische Basis, die jedoch wissenschaftlich noch wenig beschrieben ist.293 Obgleich Schleiermacher im Bereich des Biologischen noch keine endgültigen Aussagen erwartet, erscheint ihm die Basis ausreichend klar, um den Geschlechtsunterschied als eine den gesamten Körper durchziehende und bestimmende und ebenso die psychischen und intellektuellen Vermögen prägende Struktur zu beschreiben. Er setzt wie seine Zeitgenossen bei den körperlichen Geschlechtsorganen und ihren Funktionen an und stellt eine vom Physischen über das Psychische ins Intellektuelle aufsteigende duale Reihe auf: Bereich

Weiblich

Männlich

Körper

Empfangen Sensibilität

Zeugen Muskelkraft

Psyche

Gefühl

Anschauung

- Erkennen

Höheres Gefühl

Denken

- Darstellen

gemeinschaftlich/Sitte

individuell/Kunst

Ethik

Nach Schleiermachers Vorstellung, dass die Identität im Idealen sich als Oszillieren im Realen abbildet, manifestiert sich der Geschlechtscharakter in der realen Person als Überwiegen eines Vermögens oder einer Funktion des idealen komplementären Duals. Schleiermacher entwickelt also den Geschlechtscharakter als ein klar bestimmbares, zentrales Theorieelement seiner Ethik, das strukturell zum Begriff der Individualität gehört. Er resultiert aus der Bewegung der Einwohnung der Vernunft in geschichtlich-empirische Subjekte, die nur als Partikularisierung und damit als Differenzierung und Vervielfachung möglich sei. Diese binäre anthropologische Differenz-

n u n g z u m K o n z e p t d e r I n d i v i d u a l i t ä t als „Repräsentation

des Universums"

z u stehen

( B r o u i l l o n h g . v . Birkner, 55). D i e s e S p a n n u n g ist m . E . ein H i n w e i s a u f die S o n d e r s t e l l u n g d e s G e s c h l e c h t s c h a r a k t e r s als S t r u k t u r e l e m e n t v o n I n d i v i d u a l i t ä t , d e r d a m i t in sich, s t ä r k e r als a n d e r e S t r u k t u r e l e m e n t e , die T e n d e n z z u r S e l b s t ü b e r s c h r e i t u n g hin z u r G e m e i n s c h a f t enthält. D a v o n z u u n t e r s c h e i d e n ist die E r s c h e i n u n g s f o r m d e s Geschlechtscharakters,

die s e h r w o h l relative G e g e n s ä t z e v o n M ä n n l i c h k e i t

und

W e i b l i c h k e i t bei e m p i r i s c h e n P e r s o n e n , d.h. bei F r a u e n u n d M ä n n e r n , e r l a u b t . 2 9 3 In d i e s e r B e m e r k u n g manifestiert sich m . E . die D i s k u s s i o n s l a g e d e r Zeit, in d e r d a s K o n z e p t d e s G e s c h l e c h t s c h a r a k t e r s bereits a l l g e m e i n e w i s s e n s c h a f t l i c h e

Anerken-

n u n g fand, aber die w i s s e n s c h a f t l i c h e A n t h r o p o l o g i e (parallel z u d e r sich herausbild e n d e n S o n d e r a n t h r o p o l o g i e d e r F r a u ) erst i m E n t s t e h e n b e g r i f f e n w a r .

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

struktur in den idealen Polen Weiblichkeit und Männlichkeit ist inhaltlich anschlussfähig und konkretisierungsbedürftig. Zugleich erweist sich diese inhaltliche Bestimmung in der Gestalt der Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit als hochgradig konventionell und darin den zeitgenössischen Vorstellungen verhaftet, die progressive Verfechter von Frauenrechten wie konservative Vertreter eines bürgerlichen Frauenbildes teilen. In ihrer inhaltlichen Konventionalität bilden Schleiermachers Geschlechtscharaktere ein starkes theoretisches Moment, das an einem Geschlechter-Diskurs partizipiert, der so verschiedene Bereiche wie Religion und Biologie oder so unterschiedliche Vermögen wie Gefühl und Gebären miteinander in einen unterschwelligen Zusammenhang bringt. 3.2.2.3. Das Verständnis von Liebe und Ehe im Brouillon Die konkrete Erscheinungsform der Geschlechterdifferenz - oder in Schleiermachers Terminologie des Brouillon der Geschlechtscharakter resultiert aus der notwendigen Partikularisierung der Vernunft im Individuum. Das Moment der Vereinzelung der Vernunft manifestiert sich in der binären Struktur des Geschlechtscharakters als „absolut gespalten"294. Seine Gespaltenheit impliziert bereits eine Bewegung der Selbstüberschreitung, die ähnlich absolut ist und zur völligen Integration der Gegensätze bzw. zur absoluten Vereinigung beider Pole tendiert. Der Geschlechtscharakter stiftet Kommunikation, bildet eine Attraktionskraft im zwischenmenschlichen Umgang, die auf die Uberwindung der Spaltung drängt. Diese ist weder in der freien Geselligkeit noch in der Freundschaft zu finden, denn die Geselligkeit involviert den Geschlechtscharakter nur sekundär und ist zuerst an der Anschauung der Individualität interessiert, die Freundschaft basiert auf dem Gefühl, das keinen unmittelbaren Zugang zum Anderen gewährt. Die Unmittelbarkeit, die den Zugang und damit die Identität in der Vereinigung ermögliche, ist für Schleiermacher an den organischen Gegensatz gebunden: „[...] der organische Gegensatz muß sich erst in Identität verändern. Dies geschieht nun durch die Liebe in derselben Function, worin zugleich das Geschlecht erhalten wird. Hieraus also die Identität des Physischen und Ethischen, wodurch eben der Geschlechtstrieb zur Liebe wird und die Befriedigung desselben zur Ehe. Das ist das eigenthiimliche ethische Resultat des Geschlechtscharakters [..·]." 2 9 5 294 Brouillon hg. v. Birkner, 55. 295 Brouillon hg. v. Birkner, 56. Anschließend entwickelt Schleiermacher eine ideale Abfolge dergestalt, dass die freie Geselligkeit der Liebe vorausgehen muss, damit die Komplementarität der Geschlechter wahrgenommen werden kann, während die

Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz

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Schleiermacher sieht den Koitus als den entscheidenden Akt an, in dem sich die absolute Vereinigung vollzieht und Natur und Vernunft, Sinnlichkeit und Geistigkeit zusammenfallen. Hierin bleibt die zentrale Aussage der Liebeskonzeption der frühromantischen Vertrauten Briefe erhalten, dass in der Liebe Sinnlichkeit und Vernunft nicht auseinanderfallen. Zum anderen schließt Schleiermacher sich damit der zeitgenössischen Tendenz an, den Bereich des Physischen und damit der Natur als Basis der Geschlechtscharaktere zu betrachten und infolgedessen auch das Spezifikum der Geschlechterdifferenz letztlich in einer physischen Differenz zu verorten. Er verbindet diese Vorstellung einer naturwissenschaftlichen Basis des Geschlechtsunterschiedes mit seinem Ansatz der Einwohnung der Vernunft in die Natur, durch die sich die Natur zum Organ der Vernunft bildet: Der Geschlechtstrieb als organische Kraft auf körperlicher Ebene vermittelt die psychische und geistige Verschmelzung der komplementären Geschlechtscharaktere. 2 9 6 Aus diesem Verständnis des ,,Act[es] der Geschlechtsvereinigung"297 entwickelt Schleiermacher sein Verständnis der Ehe; dabei nimmt er im Vergleich zu den Aussagen der Berliner Zeit um 1800 eine Verschiebung vom Liebesbegriff auf die Ehe vor. 298 Des weiteren manifestiert sich in der Konzentration auf den Koitus eine Koppelung des romantischen Liebesbegriffs mit einer spezifischen Sexualitätsauffassung. „An diesem unmittelbaren Verhältniß der Liebe muß also das Ganze aufgefaßt und beurtheilt werden. Der Act der Geschlechtsvereinigung ist eine absolute Verschmelzung des Bewußtseins, in welchem die Differenz aufgehoben wird und die entgegengesetzten Factoren sich saturiren. Dieser Act wird herbeigeführt durch die Anerkennung und Anziehung des Entgegengesezten, aber als eines Unbekannten, und durch eine Wahl, die ein Freundschaft nachzufolgen habe (ebd.). Dies erinnert an die Reihenfolge, die Schleiermacher in den Vertrauten Briefen für den Umgang zwischen Frauen und Männern und insbesondere für die Freundschaft zwischen beiden aufstellt (vgl. Vertraute Briefe, KGA1/3, 207t.). 296 Anders als bei Fichte, der den Geschlechtstrieb strikt in männliche Aktivität, d.h. Zeugen, und weibliche Passivität, d.h. Empfangen, definiert und wiederum Vernunft nur aktiv vorstellt und darum die Frau als ethisches Subjekt und so als Vernunftwesen nicht mit einem Geschlechtstrieb konzipieren kann, kann Schleiermacher aufgrund seines netzartigen Begriffs des ethischen Subjektes, obgleich er bei denselben Konventionen (Zeugen - Empfangen) ansetzt, sehr viel flexiblere Personenkonzepte entwickeln und den Geschlechtscharakter selbst differenzierter bestimmen als Fichte. 297 Brouillon hg. v. Birkner, 56. 298 Vgl. auch Richardson, Role, 125-129. Wie Richardson sehe ich im Brouillon die Kontinuität des Liebesbegriffs und der Geschlechtscharaktere aus den Vertrauten Briefen. Allerdings findet m.E. durch die analytisch-argumentative Entfaltung des Aktes der Geschlechtsvereinigung als Bestimmungsgrund der Ehe und Familie eine wichtige Verschiebung der Akzente statt, auf die Richardson nicht eingeht.

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

Verständniß von Individualität abgesondert vom Geschlechtscharakter voraussezt, welches aber eben so unvollkommen sein muß." 2 9 9

Schleiermacher sieht die Liebe als ganzheitliche Bewegung, die einerseits durch eine komplementäre Anziehung mit dem Element der Fremdheit („Anerkennung und Anziehung des Entgegengesezten, aber als eines Unbekannten"), andererseits gleichzeitig durch eine gewisse, wenn auch notwendig unvollständige („abgesondert vom Geschlechtscharakter") Kenntnis und ein entsprechendes Moment des Wählens und Entscheidens („eine Wahl, die ein Verständniß von Individualität [...] voraussezt") gekennzeichnet ist. Damit wird auch deutlich, dass die Individualität einer Person des anderen Geschlechts erst in der heterosexuellen Liebe vollständig erkannt und darin zugleich ein strukturelles Defizit zur Quelle höherer Komplexität wird. Die absolute Einseitigkeit des Geschlechtscharakters bedeutet, dass dieser gerade keine Repräsentation des Universums im einzelnen sein kann, sondern notwendig der Vereinigung mit einem komplementären anderen bedarf. 300 Entscheidend ist in dieser Argumentation die Identität von Organischem und Ethischem der Vereinigung, d.h. die Verbindung des Koitus mit der „Verschmelzung des Bewufltseins"3m. Diese gründet darin, dass der Geschlechtsakt den Charakter einer - bei Schleiermacher allerdings wechselseitigen - Inbesitznahme hat, „dafi der Eine ganz eigentlich Princip des Andern wird".302 Der im Koitus begründete wechselseitige Austausch begründet einen gegenseitigen Besitz, der keine flüchtigen 299 Brouillon hg. v. Birkner, 56. 300 Diese Vorstellung der Liebe ist dem romantischen Totalitäts- und Weltverständnis verbunden, das durch die Dynamik der nach Identität strebenden polaren Differenzen der Welt und die Möglichkeit ihrer Erfüllung als kreative Vereinigung charakterisiert ist. 301 „Der Act der Geschlechtsvereingung ist eine absolute Verschmelzung des Beioußtseins, in welchem die Differenz aufgehoben wird und die entgegengesetzten Factoren sich saturiren." (Brouillon hg. v. Birkner, 56). 302 Brouillon hg. v. Birkner, 57. „In dem Actus selbst ist nur einer dem Anderen Repräsentant des Geschlechts. Nun aber hat durch diesen Actus das Bewußtsein des einen für immer einen Begründungspunkt im Andern; es ist eine vollständige gegenseitige Besiznahme. Des Mannes Gefühl in der Frau gegründet, die Anschauung der Frau im Mann gewurzelt." (ebd.) Schleiermachers Formulierung erinnert an den Austausch-Gedanken der Vertrauten Briefe (KGA 1/3, 203), wobei er als wesentliche Charakteristika der Frau das Gefühl und dem Mann die Anschauung zuschreibt (vgl. auch Brouillon hg. v. Birkner, 55). Obwohl Schleiermacher wie Fichte den Koitus als zentralen Ansatzpunkt seiner Ehetheorie nimmt und die Differenz von Zeugen und Empfangen in ähnlicher Weise ansetzt, widerstrebt ihm eine Verteilung von rein geistiger Liebe und rein physischer Sexualität auf die Geschlechter, wie seine Kritik an Fichte in den Grundlinien zeigt. Insofern hat seine Rede von der „gegenseitige[n] Besiznahme" im Unterschied zu Fichte nicht den Klang absoluter Unterwerfung der Frau in der Ehe, die für Fichte zwingender Ausdruck seiner Ehetheorie sind (vgl. auch Schleiermachers Überlegungen zum Eherecht Gedanken I, Nr. 6, KGA 1/1, 4-7).

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Wechsel der Liebespartner zulässt. Damit hat die Ehe in ihrer Gestalt als auf Dauer und Ausschließlichkeit gestellte Dualität eines Mannes und einer Frau ihre Grundlage im Geschlechtsakt. 3 0 3 Schleiermacher skizziert in diesem kurzen Abschnitt des Brouillon mittels seines Liebesbegriffs und der „Geschlechtsdifferenz" die Elemente einer Ehetheorie, die er später weiter entfaltet und theologisch aufnimmt. Mit dieser analytischen Konzentration auf den Koitus als Bestimmungsgrund der Ehe integriert Schleiermacher zugleich die Reproduktionsfunktion, die zeitlich und funktional mit dem Koitus verknüpft ist, ohne jedoch dessen Zweckbestimmung zu sein. Somit ist auch der Zweck der Ehe nicht die Fortpflanzung. Ihre Zweckbestimmung liegt in der Vereinigung der beiden Individuen verschiedenen Geschlechts. Die Vereinigung, so Schleiermacher, hebt die Differenz der Geschlechter auf, und dies manifestiert sich auf der natürlich-organischen Ebene in der Verknüpfung von Geschlechtsakt und Fortpflanzung. Die Individuen vollziehen in der physisch-geistigen Vereinigung gewissermaßen organisch den Überschritt von der Ehe zur Familie, von der momentanen zur dauerhaften Aufhebung der Geschlechterdifferenz in einer größeren Einheit: „Also wie Liebe = Ehe, so Ehe = Familie. In dieser nun und in Beziehung auf das Reproducirte entwickelt sich die Extinction des Geschlechtscharakters, die in der Vermischung nur in einem vorübergehenden Moment oder vielmehr rein innerlich gegeben ist, als ein Aeußerliches permanent in der Zeit." 304 Schleiermachers ganzheitlicher Liebesbegriff ermöglicht argumentativ zwanglos ein Verständnis der natürlichen Kreativität als dem äußerlichen, aber dauerhaften Ausdruck der inneren Vereinigung und Identität („Extinction des Geschlechtscharakters").305 Die Familie als Ganzes hebt gewissermaßen in Zeit und Raum die Differenzen der Individuen auf

303 „Die Geschlechtsvereinigung kann nicht ein vorübergehender und willkührlich zu wechselnder Actus sein. Es giebt keine Form als Ehe, d.h. Dualität und Unauflöslichkeit." (Brouillon hg. v. Birkner, 57). Vgl. auch Schleiermachers Zusatz über die „vage Befriedigung des Geschlechtstriebes" (Brouillon hg. v. Birkner, 56). Die Ausbildung von Individualität impliziert eine bewusste Wahl. In dieser Argumentation ist bereits die Ablehnung der Ehescheidung impliziert, die Schleiermacher selbst noch um 1800 und im Zusammenhang seiner Beziehung zu Eleonore Grunow als erlaubte Handlungsoption betrachtet. Zur weiteren Begründung dafür, dass Schleiermacher seine Haltung zur Ehescheidung nicht erst zum Zeitpunkt seiner Ehepredigten ändert, vgl. Richardson, Role, 139-142. 304 Brouillon hg. v. Birkner, 57. 305 Wie Schleiermacher sich die „vollständige gegenseitige Besiznahme" und infolgedessen die „Extinction des Geschlechtscharakters" vorstellt, macht er mit dem folgenden Gedankengang über das Äußerlichwerden des Kindes für die Mutter deutlich, das sich für diese immer stärker zu einem Gegenüber der Anschauung entwickele.

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in eine neue Einheit. Sie ist „eine vollständige Repräsentation der Idee der Menschheit"306. Idealiter wird in ihr die Geschlechterdifferenz aufgehoben in die „reine Indifferenz", in die androgyne Einheit von Weiblichkeit und Männlichkeit, ebenso wie die Altersunterschiede aufgehoben werden in „ewige Maturität".307 Damit bildet die Familie die erste vollständige Organisation, ohne die die Ausbildung einer vollkommenen Individualität nicht möglich ist. Sie wird in Schleiermachers ethischem System zur Keimzelle aller übrigen gesellschaftlichen Sphären. Schleiermacher führt also im Brouillon das Konzept der Geschlechterdifferenz begrifflich ein und entwickelt daraus seine Ehetheorie. Inwiefern stehen diese Aussagen in Kontinuität zu seinem frühromantischen Verständnis der Liebe zwischen den Geschlechtern, und wo ist eine Verschiebung oder Umgestaltung festzustellen? Schleiermacher baut seine Ehetheorie im Brouillon zur Ethik ganz auf seine ganzheitliche Auffassung der Liebe und den Gedanken der „absoluten Vereinigung" auf: Sie werden zum Angelpunkt des Eheverständnisses. Zugleich leistet er eine begriffliche Deduktion der Ehe mittels des neu eingeführten Terminus der „Geschlechtsdifferenz", die den sachlichen Gehalt seiner Konzeption egalitär-komplementärer Geschlechtscharaktere zusammenfasst. Schleiermacher thematisiert im Brouillon jedoch die „absolute Vereinigung" von Frau und Mann nicht wie in den Vertrauten Briefen im Kontext von freier Liebe, die später (möglicherweise) zur bürgerlichen Ehe führt, sondern von vornherein im Kontext der Ehe. 308 Dies hat seinen Grund sicher auch in der veränderten Gattung und Abzweckung: Schleiermacher verteidigt nun nicht mehr als Intellektueller den Skandalroman eines Freundes vor der literarischen Welt, sondern lehrt philosophische Ethik als ordentlicher preußischer Professor. Der Kontextwechsel von der freien Liebe zur Ehe signalisiert in der Tat eine inhaltliche Verschiebung in der gesellschaftlichen Aussage. Das egalitäre Komplementaritätsmodell in den Vertrauten Briefen steht innerhalb des individuell-utopischen Entwurfs von Schlegels Lucinde. Dort ist die Weltabgeschiedenheit der beiden Liebenden programmatisch; die utopische Geselligkeit des frühromantischen Freundeskreises, sein experimenteller Charakter bilden einen 306 Brouillon hg. v. Birkner, 58. 307 Brouillon hg. v. Birkner, 58. In den folgenden Abschnitten entwickelt Schleiermacher aus der Familie die Sphäre der freien Geselligkeit, die Freundschaft als Sozialform und vor allem die Sphäre des Staates im Zusammenhang mit der „Idee einer individuellen Kultur" (a.a.O., 64). Auch die Religion, deren höchste individuelle Form die Kirche darstellt, hat die Familie als Wurzelgrund (vgl. a.a.O., 114). 308 Ein Bindeglied könnte das Ideal der Liebesehe aus den Monologen darstellen, um das Eheverständnis Schleiermachers hier positiv auf die Liebeskonzeption der Vertrauten Briefe zu beziehen.

Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz

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sozialen Hintergrund, dessen Fragilität und Instabilität sich inzwischen erwiesen hat. 309 Obgleich Schleiermacher die egalitäre Grundstruktur des komplementären Modells der Geschlechtscharaktere und den Gedanken der Liebe beibehält, fallen Liebe und Ehe (wie in den späteren ethischen Texten) zusammen, oder, genauer gesagt, die Ehe nimmt die Liebe in sich auf. Die Liebe ist weiterhin die Voraussetzung der „absoluten Vereinigung" und erfüllt sich in der Liebesehe. 310 Konsequent bleibt Schleiermacher bei seinem Grundgedanken der Aufhebung der „Geschlechtsdifferenz" in der liebenden geschlechtlichen Vereinigung. Doch findet diese nun in der Ehe statt und führt direkt zur Bildung der Familie. Diese Kontextverschiebung erhält noch größeres Gewicht durch die zentrale Funktion der Ehe als Keimzelle der vier ethischen Sphären Staat, Wissenschaft, Religion und Kunst sowie als notwendige Voraussetzung der Ausbildung von Individualität in Schleiermachers Ethik. Schleiermacher stellt damit sein Modell der egalitären Geschlechterdifferenz in den Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft. An die bürgerliche Ehe als allgemeiner Lebensform ist eine Unterscheidung geknüpft, die Schleiermacher ethisch voraussetzt, ohne sie zu reflektieren: 311 die Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft. 312 Doch genau diese Unterscheidung weist auf die gesellschaftliche Schieflage des egalitär intendierten Geschlechtermodells, die auch Schleiermachers Ehetheorie tangiert und sein egalitäres Komplementaritätsmodell mit 309 Vgl. aber schon die Kritik Ernestines an Julius' Weltabgeschiedenheit in den Vertrauten Briefen (KGA1/3,163f.). 310 „Dies [die Aufhebung der Differenz der Geschlechtscharaktere in Identität, EH] geschieht nun durch die Liebe in derselben Function, worin zugleich das Geschlecht erhalten wird. Hieraus also die Identität des Physischen und Ethischen, wodurch eben der Geschlechtstrieb zur Liebe wird und die Befriedigung deselben zur Ehe." (Brouillon hg. v. Birkner, 56). 311 Die neue Kontextualisierung von Schleiermachers Modell der Geschlechterdifferenz - vielleicht könnte man von einer Kontexterweiterung sprechen - entspricht seiner persönlich-biographischen Veränderung: der Auflösung des Berliner Freundeskreises und der Neuorientierung nach dem „Exil" in Stolp sowie dem Ende der Beziehung zu Eleonore Grunow im Oktober 1805. Nicht unerheblich dürfte zu dieser Kontexterweiterung auch Schleiermachers Professur in Halle beigetragen haben, die ihm als akademischem Lehrer eine öffentliche Rolle in einer staatlichen Einrichtung gibt. Hinzu kommt die unmittelbare Konfrontation mit der großen Politik: „Die Monate von Preußens Niederlage bei Jena und Auerstedt, der Eroberung Halles und der Schließung der Universität bis zum Übergang nach Berlin, also die Zeit vom Oktober 1806 bis zum Mai 1807, venvandelten den Gelehrten und Prediger zum homme politique." (Nowak, Schleiermacher, 177). 312 Einen Hinweis gibt die funktionale Differenzierung in der Ehe, die Schleiermacher andeutet: Frauen beschreibt er als „Virtuosinnen in dem Kunstgebiet der freien Geselligkeit" bzw. noch deutlicher als die „sittlichen Besizerinnen, die Männer nur die rechtlichen als Repräsentaten der Familie beim Staat" (Brouillon hg. v. Birkner, 59f.).

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den hierarchischen Vorzeichen der bürgerlichen Gesellschaft versieht. 313 Dennoch überwiegt die Kontinuität, wenn Schleiermacher die Grundstruktur seines komplementären Geschlechtermodells und seines Liebesbegriffs in ein ethisches Konzept von Geschlechterdifferenz und Ehe überführt. Die für die Interpretation durchaus wichtigen Transformationen sind jedoch besser in einem Modell der (Kontext-) Erweiterung und der analytischen Vertiefung zu interpretieren, die durch die Entwicklung seines gesamten wissenschaftlichen Systems und den Ausbau desselben zustande kommen, als mit der Figur von Bruch und Neueinsatz. 314 Die systematische Bestimmung der Liebe im Rahmen der Tugendlehre stellt eine grundlegende Weichenstellung dar, die sich in der Struktur ähnlich in der späteren Ethik und auch in der Glaubenslehre

313 Die Verbindungen von Schleiermachers Denken zur entstehenden bürgerlichen Gesellschaft hat Yorick Spiegel herausgestellt (vgl. Spiegel, Yorick, Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. Sozialphilosophie und Glaubenslehre bei Friedrich Schleiermacher, München 1968). Spiegel interpretiert Schleiermacher als einen Theologen, der - wenn auch unzureichend in den theoretischen Instrumentarien und im Ergebnis - als einziger in Deutschland sich „bisher ganz der Problematik einer liberaldemokratischen Gesellschaftsform gestellt hat, nachdem die absolutistischen Staatsordnungen hinfällig geworden waren, auf die die Orthodoxie mit ihren Systemen sich ausrichtete." (a.a.O., 257). Dafür nimmt Spiegel eine starke Wandlung Schleiermachers an, der sich von einem ästhetischen und unpolitischen romantischen Denker in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seiner Zeit zu einem sozialphilosophischen Theologen gewandelt habe. Diese Öffnung Schleiermachers für gesellschaftliche und politische Fragestellungen lässt sich in der Tat seit seiner Hallenser Zeit beobachten. Anders als Spiegel verstehe ich jedoch auch die romantische Ästhetik als kritischen Impuls und sensible Reaktion auf Defizite, die der Rationalismus der Aufklärung und seine Indienstnahme für die gesellschaftliche Modernisierung hervorbrachte. Dies betrifft insbesondere Schleiermachers Gefühlsbegriff, den Spiegel als sozialen und nicht als religiösen Begriff interpretiert (vgl. a.a.O., 150). M.E. ist Schleiermachers theologischer Neuansatz mit seinem Religionsverständnis in den Reden durch die Glaubenslehre nicht gebrochen. Vielmehr stellt die Glaubenslehre in ihren einleitenden Paragraphen die denkerische Begründung und in ihrer Entfaltung der dogmatischen Aussagen die Bewährung dieses Religionsverständnisses auf dem Boden der christlichen Religion dar. Auch das sozialtheoretische Interesse Schleiermachers erwacht nicht erst in seinen späteren Jahren. Es gehört, wie Bernd Oberdorfers Arbeit gezeigt hat, zu den frühen und kontinuierlichen Leitinteressen Schleiermachers. 314 In diesem Zusammenhang ist an die programmatische Verabschiedung des Systemzwangs auf der formalen Ebene durch die Gattung des Fragments für das Athenäum zu erinnern, die auch für Schleiermachers Schreiben in der Berliner Zeit vor 1800 programmatisch ist. Eine Abkehr davon deutet sich schon mit den Grundlinien an, und im Zuge (und Zugzwang) der universitär-wissenschaftlichen Arbeit wendet sich Schleiermacher der systematischen Darstellung zu.

Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz

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findet. 315 Liebe geht von der Vernunft auf die Natur und ist insofern „Seele-sein-wollen"316. Dabei bleibt Schleiermacher seiner Intention treu, dass die Verbindung von Physischem und Ethischem von entscheidender Bedeutung ist. 317 Als solche wirkt sie in zweifacher Weise sowohl organbildend (als bildende Liebe bzw. ursprüngliche Beseelung der Natur) als auch bewusstseinsbildend (als erkennende Liebe bzw. Wirkung auf die bereits beseelte Natur). 318 Schleiermacher bestimmt die Liebe als omnipräsente, umfassend kreative Kraft allen sittlichen Handelns, die die Identität von Sein und Werden ermöglicht: „Auf diese Weise ist die Liebe überall. Sie ist Princip der bildenden Function, anfangend von der Persönlichkeit, dann Geschlechtsvereinigung und Familie stiftend, wobei sie zu der ersten Repräsentation der Totalbeseelung der Vernunft gelangt, dann die größte Organisation hervorbringend. Denn alles ist ein Beseelenwollen. Eben so ist sie Princip der erkennenden Function, anfangend von der Persönlichkeit, endend im Produciren einer vollendeten Gemeinschaft aller Erkenntniß."319 Der hohe Ton der Monologen und Reden ist einer wissenschaftlichdiskursiven Sprache gewichen: Der Begriff der Liebe wird als Prinzip der ethischen Funktionen expliziert, die Schleiermacher in seiner Theorie entwickelt hat. Zugleich wirkt die Zusammenfassung der Wirksamkeit der Liebe wie Grund- und Schlussstein seines Systems und nimmt darin eine ontologische Färbung an. Die rhetorische Domestizierung enthält keine inhaltliche Rücknahme hinsichtlich der Bedeutung der Liebe für die einzelnen wie im Gesamtgeschehen.

3.3. Zwischenergebnis: Von der Liebe zur Ehe Schleiermacher greift das zeitgenössische Konzept der Geschlechtscharaktere auf, das sich sachlich in den Vertrauten Briefen schon abzeichnet 315 Vgl. Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 146-154 s.u. Kap. IV 2.5. Die Parallelität von Weisheit und Liebe, die Schleiermacher entwickelt (Brouillon hg. v. Birkner, 132), findet sich auch in der Parallelität von Liebe und Weisheit als Eigenschaften Gottes in der Glaubenslehre (vgl. Glaubenslehre 1830/31 §§166-169, KGA 1/13.2, 500-513). 316 Brouillon hg. v. Birkner, 133. 137. Vgl. auch die Definition in: Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 146. 317 „Liebe ist der unmittelbarste Wendepunkt zwischen Physischem und Ethischem." (Brouillon hg. v. Birkner, 137). Vgl. auch den noch sehr an den emphatischen Liebesbegriff der Reden und der Vertrauten Briefe erinnernden Zusatz Schleiermachers an seine Niederschrift: „Jede Anschauung ist Liebe, die Vernunft erhebt dadurch das fluctuirende Wahrnehmen zu ihrer Potenz und die unbeiuußte Einheit des Geistes und der Materie zu einer bewußten." (a.a.O., 140). 318 Brouillon hg. v. Birkner, 138f. 319 Brouillon hg. v. Birkner, 140.

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

und das als Konstrukt zur Beschreibung der Geschlechterverhältnisse mit wissenschaftlichem Anspruch in der Debatte um die Frauenfrage von zahlreichen Zeitgenossen verwendet wurde. Das „Standardmodell" polarer Weiblichkeit und Männlichkeit integriert Schleiermacher als Modell egalitärer Geschlechterkomplementarität im Horizont seines Individualitätskonzepts. Damit vollzieht Schleiermacher begrifflich den Anschluss an die zeitgenössische Debatte und stellt sich auf die Seite derjenigen, die angesichts der aufklärerischen Forderungen nach Gleichheit der Menschen einerseits und den neuen Anforderungen, welche die Umbrüche hin zur bürgerlichen Gesellschaft den einzelnen andererseits abverlangen, die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse im Modell der bürgerlichen Geschlechterordnung reflektieren und gestalten. Auf dem Konzept der Geschlechtscharaktere und dem Gedanken der naturbasierten, die menschliche Person durchgängig bestimmenden „Geschlechtsdifferenz" baut er seine Theorie der Ehe auf und legt den Grundstein für eine ethische Theorie der Familie als fundamentaler kulturschaffender Lebensform. Die Liebe als Attraktionskraft individueller (Paar-)Beziehungen verliert ihre Selbstständigkeit. Sie erhält ihren Platz als eigentliche Motivation für die Ehe im Unterschied zu „sachfremden" Motivationen wie Besitz oder gesellschaftlicher Position, wie sich in der entfalteten Ethik von 1812/13 zeigt. Liebe erscheint nicht mehr als das Medium der zweckfreien, unmittelbaren Teilhabe am Universum, sondern wird funktionalisiert zum Medium der Entwicklung der Familie und des Staates. Ihre ekstatisch-religiöse Dimension, die unmittelbare Wahrnehmung der Teilhabe an der Einheit des Universums, die sich in den Vertrauten Briefen wie in den Reden stark mit den erotischen Aspekten der heterosexuellen Liebe verbindet, tritt zugunsten der Ethisierung der Liebe zurück: Liebe wird zur Tugend. So verschiebt sich auch der Fokus weg von der erotisch-religiösen Ekstase, die die kosmische Unmittelbarkeitserfahrung des Universums repräsentiert, hin zur Befriedigung und Freude am gemeinsamen ehelichen und familiären Leben von Frau und Mann, die darin einen nur gemeinsam zu vollbringenden Anteil an der Entwicklung ihrer individuellen Menschlichkeit wie der Menschheit als ganzer leisten. Die funktionale Differenz, die Schleiermachers inhaltliche Bestimmung der Geschlechtscharaktere enthält, konvergiert mit der bürgerlichen Trennung von Häuslichkeit bzw. Privatheit und Öffentlichkeit. So lässt der ethische Ansatz Schleiermachers nur indirekt am unthematisierten selbstverständlichen Ausschluss von Frauen aus der Sphäre von Politik, Beruf und Wissenschaft erkennen, dass er einer Hierarchie verpflichtet ist, die Frauen mit dem Verweis auf den weiblichen Ge-

Schleiermachers Auffassung der Geschlechterdifferenz

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schlechtscharakter keinen rechtlich-politischen Subjektstatus zugesteht. 320 Die Liebe behält ihren konstitutiven Charakter im Rahmen des Prozesses der „Beseelung der Natur durch die Vernunft" ebenso wie ihre grundlegende Bedeutung für das einzelne Paar. Indem sie über die Konzeption der Geschlechterdifferenz und der Geschlechtscharaktere geradezu das Aufeinanderzugehen von Natur und Vernunft darstellt,321 hat sie einen Zug zur universellen ethischen Formbildung in Gestalt der Ehe, die wiederum zur Familie wird und darin zur Grundlage und zum Anfangspunkt aller wesentlichen ethischen Formen und Prozesse. Der Brouillon von 1805/06 enthält also eine Theorie der Ehe, die die Liebeskonzeption der romantischen Zeit integriert. Dies ist eine theoretisch plausible und beachtliche Weiterentwicklung im Blick auf die systematische Kohärenz bei gleichzeitiger sachlicher Ausweitung von Schleiermachers Denken. Zugleich wird damit jedoch die kirchlich und gesellschaftlich subversive Potenz domestiziert, die in der zuvor betonten positiven Verbindung von erotischer Liebe und religiösem Erleben enthalten ist. Für diese Zähmung bildet die Konzeption der Geschlechtscharaktere bzw. der „Geschlechtsdifferenz" den Angelpunkt. Die kosmisch-erotische Erlösungskraft der Liebe bleibt nicht bei der Erfüllung des individuellen Paares stehen, sondern wird zum Fundament einer Lebensform, die Mann und Frau klare Rollen und Aufgaben zuweist und darin dem größeren Ganzen dient. Die individuelle Liebe ist nicht mehr zweckfrei, sondern dient der Entwicklung des Staates und der Menschheit. Ohne die Konzeption der komplementären Geschlechterdifferenz verlöre die funktionale Zuweisung der gesellschaftlichen Sphären an die Geschlechter ihre Grundlage angesichts der Gleichheitsforderungen der Aufklärung, wie sie auch für Frauen erhoben wurden. Das bürgerliche Familienkonzept, das Schleiermacher mit dem romantischen Liebesideal verbindet, stünde ohne den Komplementaritätsgedanken in wesentlich stärkerer Spannung zum Gedanken der Individualität der einzelnen wie zum Gedanken einer allgemeinen menschlichen Natur. Schleiermacher führt diese im Brouillon angelegte Theorie der Ehe in den Texten der Reifezeit fort, sowohl in der philosophischen Ethik, wo er sie als grundlegende kulturschaffende Lebensform entwickelt, wie in den theologischen Texten, vor allem in den

320 Diese zeigt sich vielmehr als Spannung in den späteren Texten der Psychologie (s.u. Kap. IV.3.3). An die Thematisierung des Ausschlusses in den Gedankenheften sei erinnert (s.o. 3.1.2.1 insbes. Gedanken V, Nr. I l l , KGA 1/3, 311). 321 Dies arbeitet Schleiermacher in der Ethik 1812/13 explizit aus (s.u. Kap. IV 2.4.1).

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Die Entdeckung der Geschlechterdifferenz

zwei Ehepredigten von 1820, in denen die christliche Ehe zur vollendeten Konkretion der Ehe avanciert.

4. Geschlechterdifferenz beim frühen Schleiermacher Überblickt man die Genese von Schleiermachers Liebesbegriff wie seines Begriffs der Geschlechterdifferenz, so lässt sich festhalten, dass es sein Interesse an der Ausbildung individueller Sittlichkeit im Rahmen von Intersubjektivität ist, das ihn zur Reflexion über die Freundschaft führt. Sein egalitäres Freundschaftsmodell strahlt aus auf die Überlegungen zu Liebe und Ehe, die sich in Wechselwirkung zwischen philosophisch-ethischer Reflexion und biographischer Erfahrung entwickeln. Die Impulse der Berliner Zeit um den Schlegel-Kreis und das Athenäum wirken als Katalysatoren, die Debatten, nicht nur um Schlegels Lucinde, motivieren Schleiermacher zu einem Verständnis sinnlichgeistiger Liebe zwischen den Geschlechtern, das in sich Momente ekstatischer Erotik, religiös-kosmischer Totalitätserfahrung und ethischer Geistigkeit vereint. Das sich in den zeitgenössischen Debatten gerade etablierende Konzept der Geschlechtscharaktere greift Schleiermacher auf und integriert es in sein Denken. Insofern liegen die Fundamente für Schleiermachers Vorstellung von Liebe und von Geschlechterkomplementarität in der Charite-Zeit. Das Übergangswerk der Grundlinien wie das Hallenser Ethikmanuskript des Brouillon stellen die weiteren wichtigen Etappenschritte dar: In den Grundlinien findet Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit Fichtes Sexualethik und Ehephilosophie seinen Zugang zur begrifflichen Bedeutung der Geschlechterdifferenz und zu einer Vertiefung der Wechselseitigkeit der geschlechtlichen Liebe. Der Brouillon bildet in mehrfacher Hinsicht den Abschluss der Grundlegung von Schleiermachers Denken der Geschlechterdifferenz: Er gelangt nun zu einer präzisen Bestimmung der Geschlechterdifferenz wie des Begriffs der Liebe. Die Geschlechtsdifferenz stellt die organische Basis der heterosexuellen Liebe und damit der Ehe dar, während der Begriff der Liebe im weiteren Sinn in die Tugendlehre eingeordnet wird. Diese Präzisierung und Ausdifferenzierung unternimmt Schleiermacher im Rahmen einer Darstellung seiner eigenen ethischen Theorie und ordnet damit Liebe und Geschlechterdifferenz systematisch in seine Ethik ein. Während die Liebe zu einer fundamentalen Kraft des organischen Prozesses als solchem avanciert, aber auch zum Prinzip der Erkenntnisprozesse in

Geschlechterdifferenz beim frühen Schleiermacher

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Individuen und Gemeinschaften, 322 stellt die Geschlechterdifferenz eine anthropologische Elementardifferenz der Individualität dar, deren Tendenz zur Selbstüberschreitung hin auf Einheit zum Anstoß für die Bildung der elementaren Gemeinschaftsformen (Ehe und Familie) wird.

322 Vgl. Brouillon hg. v. Birkner, 140.

IV Die Entfaltung der Geschlechterdifferenz Die Jahre von 1807 bis 1834 in Berlin bilden die lange Periode der Ausdifferenzierung von Schleiermachers Denken. Dies trifft auch für den Themenkomplex der Geschlechterdifferenz zu, die er in verschiedenen Zusammenhängen behandelt: in seiner philosophischen und theologischen Ethik, in seinen Ehepredigten sowie in den Vorlesungen zur Psychologie und Pädagogik. Die im Brouillon angelegte Integration und Domestizierung der Liebeskonzeption zu einer Theorie der Ehe erfährt eine Vertiefung und Ausgestaltung, aber keine grundlegenden Änderungen mehr. Die Grundlage bildet sein Begriff der „Geschlechtsdifferenz" im Sinn einer elementaren anthropologischen Struktur im Horizont der Individualität. Allerdings gibt es eine signifikante Veränderung: Die Hauptmasse der Texte (mit Ausnahme der Ehepredigten) stammt aus dem wissenschaftlich-akademischen Bereich und behandelt wesentlich umfassendere Gegenstände, so dass die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht und Geschlechterdifferenz nun jeweils im Kontext einer Wissenschaft erscheint und eingeordnet wird. Denn Schleiermacher entwickelt in diesen Jahren sein System der Wissenschaften, das als Rahmen für die Behandlung der einzelnen Gegenstandsgebiete dient, jedoch selbst nicht zum Gegenstand einer eigenen Veröffentlichung wird. Äußerlich manifestiert dieser Sachverhalt sich darin, dass Schleiermacher in großer Breite philosophische und theologische Themenfelder in seinen Vorlesungen bearbeitet. Damit zeichnen sich die Umrisse der Geschlechter-Thematik in seinem gesamten Denken inhaltlich deutlicher ab. Für die Einzelanalyse bedeutet dies, dass der Ort der behandelten Texte in Schleiermachers System der Wissenschaften berücksichtigt werden muss. Dabei wird die Reihenfolge des Vorgehens von einem Schleiermacher externen Gesichtspunkt aus bestimmt, insofern zuerst die Texte untersucht werden, die unmittelbare Sachaussagen zum Thema Geschlechterdifferenz beinhalten, also die Vorlesungen zur philosophischen Ethik, zur Psychologie und zur Pädagogik für den philosophischen Bereich und die Sittenlehre sowie die Ehepredigten für den theologischen Bereich. Die Texte, die grundlegend für Schleiermachers Gefühlskonzeption und sein Religionsverständnis sind und insbesondere den zentralen Systemgedanken des unmittelbaren Selbstbewusstseins in seiner theologischen Relevanz sowie den transzendentalen

Schleiermachers System der Wissenschaften

157

Letztbegründungszusammenhang behandeln, werden hingegen in einem zweiten Schritt 1 untersucht, da darin die Thematik der Geschlechterdifferenz nicht unmittelbar, sondern mittelbar auf der Metaebene mit Hilfe der Frage nach den impliziten Codes für Darstellungsformen und Symbolisierungsprozesse zu fassen ist. Dies bedeutet, dass der Zusammenhang von Theologie und Philosophie jetzt nur kurz angesprochen wird, da er im Rahmen von Schleiermachers Religionsverständnis thematisiert wird. Angesichts der Unabgeschlossenheit von Schleiermachers System 2 und der sich daraus entwickelnden Forschungsdiskussion sind jedoch einige Vorklärungen erforderlich, die im nächsten Abschnitt erfolgen.

1. Schleiermachers System der Wissenschaften Schleiermachers Denken und Wirken zeichnet sich darin aus, dass er nicht nur als Theologe, sondern in umfangreichem Maße auch als Philosoph produktiv war. Seit Wilhelm Dilthey ist es weitgehend üblich geworden, von Schleiermachers philosophischem System zu sprechen und ihn damit im Kontext der identitätsphilosophischen Systembildungen zu verstehen. 3 Für das Verständnis seiner Theologie ist es selbstverständlich geworden, auch sein philosophisches Denken einzubeziehen, zumal Schleiermacher sich seit Beginn seiner akademischen Tätigkeit beiden Bereichen intensiv zuwendet und parallel theologische und philosophische Kollegs abhält. 4 Dabei bildet die Philosophie das

1

S.u. Kap. V.

2

Eine genauere Behandlung der Gründe für diese Unabgeschlossenheit verlangt bereits einen Einstieg in die Diskussion, die unter 2.2.1 erfolgt. Hier soll lediglich auf den Umstand hingewiesen werden, dass Schleiermacher selbst die Konzeption seines Systems der Wissenschaften nicht in einem Hauptwerk entfaltet, so dass es aus den einzelnen Texten rekonstruiert werden muss. Vgl. dazu Arndt, Kommentar, 1023: „Schleiermachers Philosophie ist - auch nach ihrem Selbstverständnis als »werdendes Wissen« - wesentlich ein unabgeschlossenes Unternehmen, das mit experimentellen spekulativen Konstruktionen arbeitet. Deren theoretisches Gravitationszentrum liegt nicht in einem grundlegenden systematischen Hauptwerk bzw. einer Werkgruppe vor [•••]."

3

Vgl. Scholtz, Philosophie, 64.

4

Dies hat Birkner mit seiner Arbeit zu Schleiermachers Sittenlehre 1964 deutlich gemacht (Birkner, Hans-Joachim, Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964; vgl. auch Birkner, Hans-Joachim, Theologie und Philosophie. Einführung in die Probleme der Schleiermacher-Interpretation, TEH 178 (1974), 7-42). Das affirmiert Ulrich Barth in seiner jüngsten Literaturumschau: „ScW[eiermacherjs Christentumsauffassung ist sachlich und methodisch integriert in eine begriffliche Gesamtdeutung der soziokulturellen Le-

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Die Entfaltung der Geschlechterdifferenz

Gebiet, in dem sich Schleiermacher schon früh aus Neigung betätigt und dem seine ersten frei entstandenen literarischen Produktionen gewidmet sind. Sein wissenschaftlich-philosophisches Interesse markiert Schleiermacher mit den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), in denen er seinen Anspruch auf einen eigenen Entwurf der philosophischen Ethik formuliert. Seit seiner Berufung an die Universität Halle kann Schleiermacher an dieser Aufgabe im Zusammenhang seiner Vorlesungen arbeiten. Er wendet sich - neben der konsequenten Erarbeitung des theologischen Fächerkanons mit Ausnahme des Alten Testaments 5 - der Entfaltung seines philosophischen Denkens zu, zunächst in Gestalt der Ausarbeitung einzelner Wissenschaftsgebiete, insbesondere der philosophischen Ethik. 6 Mit der Ubersiedlung nach Berlin 1807 und der Berufung an die dortige theologische Fakultät 1810 setzt Schleiermacher die in Halle begonnene Zweigleisigkeit von Theologie und Philosophie fort, indem er nicht nur theologische Kollegs anbietet, sondern ebenso regelmäßig philosophische Vorlesungen und Akademievorträge hält. Aus diesem Sachverhalt ergeben sich zwei Fragen. Erstens: Was ist unter seinem System der Wissenschaften zu verstehen? Und zweitens: Wie ist das Verhältnis von Theologie und Philosophie zu fassen? Welchen Ort und welchen Status hat die Theologie in Schleiermachers System? 7 Schleiermacher selbst hat keine systematische Darstellung seines Systems gegeben, so dass es sich bei allen Darstellungen um Rekonstruktionen handelt, die mit Widersprüchen im überlieferten Textbe-

benswirklichkeit und kann aliein aus ihr zureichend Schleiermacher-Literatur, 458).

verständlich

gemacht werden."

(Barth,

5

Detaillierter dazu Nowak, Schleiermacher, 149-163.

6

Schleiermacher bezeichnete sich in Halle als „Professor extraordinarius theologiae et philosophiae" (zitiert nach Fischer, Schleiermacher, 32). Er liest im 1. Semester „Hauptund Fundamentallehren des theologischen Systems", „Enzklopddie und Methodologie" und anders als angekündigt nicht christliche Sittenlehre, sondern philosophische Ethik (vgl. Fischer, Schleiermacher, 33f.). Die Entwicklung von Schleiermachers theologischem und philosophischem Denken verläuft zeitlich parallel und weist zahlreiche Bezüge aufeinander auf, ohne dass Schleiermacher die beiden Disziplinen ihrer Eigentümlichkeit berauben oder sie zu einer christlichen Philosophie zusammenführen wollte (vgl. dazu Birkner, Theologie).

7

Die Schleiermacher-Forschung hat in den letzten dreißig Jahren dazu erhebliches geleistet. Als zentrale Beiträge sind hier zu nennen: Birkner, Sittenlehre; Birkner, Theologie; Herms, Ellert, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974; Wagner, Falk, Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974; Schrofner, Theologie; Barth, Christentum; Scholtz, Philosophie; Meckenstock, Ethik; Schröder, Markus, Die kritische Identität des neuzeitlichen Glaubens. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996; Arndt, Kommentar; Dittmer, Wissenschaftslehre.

Schleiermachers System der Wissenschaften

159

stand zu kämpfen haben. Dabei sind diese Spannungen sowohl auf die Entstehungsgeschichte der Texte in Gestalt von unabgeschlossenen, oft nur sehr knappen Vorlesungsnotizen Schleiermachers und studentischen Kollegmitschriften zurückzuführen, als auch auf den „blinden Fleck" der unbearbeiteten Naturphilosophie. Hinzu kommt als innere Schwierigkeit, dass Schleiermacher von miteinander vernetzten theologischen und philosophischen Problemstellungen ausgeht, die ihn letztlich zu einem prozesshaften Vorgehen bewegen. 8 Deshalb kann auch eine knappe Skizze von Schleiermachers System, die nicht auf eine Einführung zielt, sondern auf unabdingbare Vorklärungen im Blick auf die Interpretation der Geschlechterthematik, nicht auf einen genetischen Blick verzichten. 9 Die Hauptthemen in Schleiermachers Jugendschriften kreisen um die Fragen echter Sittlichkeit im Kontext von Intersubjektivität und Gemeinschaft. Aufgrund der Konfrontation mit der Aufklärungsphilosophie und der Auseinandersetzung mit Kant radikalisiert Schleiermacher einerseits die Ethik, die autonom und ohne Unterstützung durch den moralischen Gottesbeweis auskommt, und entschärft andererseits Kant im Bereich der Vernunfterkenntnis, indem er den vorkritischen Parallelismus von Denken und Sein gerade nicht aufgibt. Die Vermittlung von Vernunft und Handeln erfolgt über das Gefühl, sofern das als

8

9

Vgl. Arndt, Kommentar, 1024. Zur Frage der Prozesshaftigkeit von Schleiermachers Denken und seinen Ansätzen einer entsprechen Fassung seines Systems vgl. insbesondere Dittmer, Wissenschaftslehre. In Aufnahme von Arndt unterscheide ich die Frühzeit bis 1793, in der sich in der Konfrontation mit der Aufklärungsphilosophie und mit Kant erste Ansätze herausbilden, die in der Phase von 1793 bis 1802 mit der Frühromantik konvergieren und sich in der Auseinandersetzung mit dem Spinozismus und Jacobi zu basalen Strukturen präzisieren und verdichten. Die eigentliche Formierung des Systems erfolgt vor allem 1802 bis 1811 aus diesen Anfängen im Zusammenhang mit der Hinwendung zur akademischen Form und der Entwicklung zentraler Elemente, insbesondere der Ethik und der Dialektik sowie der theologischen Enzyklopädie in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums. Die weitere Ausarbeitung, Differenzierung und Vertiefung erfolgt in den Reifejahren der Berliner Zeit durch die umfangreiche Vorlesungs- und Vortragstätigkeit. Insbesondere die Erweiterung durch die Psychologie (1818) sowie die Weiterentwicklung der Dialektik (1822) und die Herausgabe der 1. Auflage der Glaubenslehre (1820/21) sind dabei für die Gestaltung des Systems von Bedeutung. Für die Rekonstruktion seines Systems bieten sich als die beiden großen Zugänge die Theorie der Subjektivität und die Geschichtsphilosophie an, die sich wechselseitig ergänzen müssen, wie die Rekonstruktion der Schleiermacherschen Christologie beweist. So der Forschungskonsens, den U. Barth formuliert (vgl. Barth, Schleiermacher-Literatur, 458). Zum folgenden vgl. Arndt, Kommentar, 10341119; Scholtz, Philosophie, 45-78; Fischer, Schleiermacher, 75-97.

160

Die Entfaltung der Geschlechterdifferenz

Selbstgefühl verstandene Freiheitsgefühl zum zentralen Bezugspunkt wird und die Funktion des Kantischen „Ich denke" einnimmt. 10 Das Bestreben, Selbst- und Weltbewusstsein, Ideales und Reales zu vereinigen, führt Schleiermacher in den Bereich des identitätsphilosophischen Denkens, das die Überwindung der Kantischen Doppelwelt von Phainomena und Noumena intendiert, insbesondere zu einer Konvergenz mit dem frühromantischen Denken Friedrich Schlegels und Schellings. Diese Position erarbeitet sich Schleiermacher in seinen Spinoza· und Jacobistudien. Während er Spinoza in Anspruch nimmt, um die Kantische Entgegensetzung von Subjekt und Objekt zu überwinden, übernimmt er von Jacobi den Gedanken der Identität der Person, auf der die Einheit des Selbstbewusstseins und zugleich das unmittelbare Realitätsbewusstsein ruht und die als lebendige Individualität funktional die Stelle der Kantischen Apperzeption einnimmt. Damit überwindet Schleiermacher seine frühere Position, in der das Freiheitsgefühl die entscheidende Vermittlungsrolle innehat, zugunsten der Individualitätsvorstellung und gewinnt als zentralen Gedanken die Idee, dass das Individuelle eine Repräsentation des Identischen und Allgemeinen sei.11 Natur und Vernunft stehen in einem dynamischen Wechselspiel und generieren als Kräfte der Wirklichkeit individuelle Identitäten. Auf der Ebene des Denkens entspricht diesem Wechselspiel der Gegensatz von Denken und Sein bzw. des Idealen und Realen, aus dem sich ein kategoriales „Fachwerk" polarer Begriffe entwickeln lässt. Doch der höchste Gegensatz des Realen und des Idealen setzt, letztlich um der Einheit des Selbstbewusstseins willen, einen Grund voraus, in dem dieser Gegensatz zur Einheit zusammenfällt, ohne gänzlich aufgehoben zu sein. Dieses Absolute ist für Schleiermacher bewusstseinstranszendent und nicht begrifflich erkennbar. Somit bewegt sich Schleiermachers Denken insgesamt auf dem Boden idealistischer Systemkonzeptionen, die nach der Vereinigung der Gegensätze im Absoluten suchen. Er bricht die idealistische Position allerdings insofern kritisch, als er auf der Prämisse besteht, dass sich das Absolute nicht begrifflich erkennen lässt, sondern präreflexiv im Gefühl seinen Resonanzraum hat. Das Denken ist eine gleichsam kreisende Reflexionsbewegung mittels komplementärer Begriffspaare und Urteile, die näherungsweise Wissen im Werden generiert, doch den Einheitsgrund

10

11

Vgl. Arndt, Kommentar, 1054. Damit deutet sich „eine spekulative Allfladung des Gefühlskonzepts in Richtung auf die spätere Auffassung des unmittelbaren Selbstbewußtseins als Gefühl an" (ebd.). Vgl. Arndt, Kommentar, 1081.

Schleiermachers System der Wissenschaften

161

dieses Wissens nicht reflexiv erfassen kann, sondern stets schon voraussetzt. 12 Die Frage nach der Gewinnung objektiven, gültigen Wissens kann daher als Leitfrage für die Ausarbeitung von Schleiermachers „System der Wissenschaften" betrachtet werden. Im Blick auf die Frage nach einer Ordnung des Wissens folgt aus der Hypothese des bewusstseinstranszendenten Einheitsgrundes, dass das absolute Wissen keinen Gegensatz enthält, sondern Ausdruck des mit ihm identischen absoluten Seins ist, während im Endlichen das Wissen stets unter einem Gegensatz steht 13 und deshalb unabgeschlossen, stets „werdendes Wissen" ist. Aus dem Gegensatz von Natur und Vernunft resultiert die Aufteilung in die Wissenschaften der Physik und der Ethik, die wiederum jeweils unter dem Gegensatz von real und ideal zu bearbeiten sind, woraus sich für die Physik die Differenzierung in die spekulative Naturphilosophie und die empirische Naturkunde ergibt und analog für die Ethik die Unterteilung in Ethik und Geschichtskunde. 14 Die Vermittlung zwischen den empirischen und den spekulativen Formen der Wissenschaften übernehmen die kritischen Disziplinen einerseits und die technischen andererseits. Das Wesen der kritischen Wissenschaften liegt in der „Verbindung des Empirischen mit der speculativen Darstellung, nemlich zu beurtheilen, wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowol dem Grade als der eigenthümlichen Beschränktheit nach verhalten"15, und stellt also eine Verbindung zwischen spekulativer und empirischer Gestalt eines Wissenschaftsbereiches her. Die technischen Disziplinen hingegen stellen die Verbindung vom Wissen zum Handeln insofern her, als sie das Wissen um spezifische Bedingungen im Blick auf Bereiche menschlicher Produktivität hervorbringen, also Verbindungen zwischen den spekulativen, den empirischen und den kritischen Disziplinen eines Wissenschaftsbereiches herstellen und hinsichtlich spezifischer Umsetzungen bzw. Gestaltungsaufgaben fokussieren. Gemäß den zentralen Gegensätzen, die nach Schleiermacher Denken und Sein im Endlichen bestimmen, ist deshalb die Gewinnung von Wissen in den Einzelwissenschaften ein Prozess, der einerseits spekulativ die Einheit des Wissens als Idee des absoluten Wissens voraussetzt und die begriffliche Entfaltung der Einzelwissenschaften ermöglicht, der jedoch andererseits erst in der Durchführung zu objektivem Wissen 12

Die kritische Brechung der idealistischen Position betont auch Potepa, der auf die Bedeutung der Hermeneutik in Schleiermachers Denken aufmerksam macht (vgl. Potepa, Maciej, Schleiermachers hermeneutische Dialektik, Kampen 1996).

13 14 15

Vgl. Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 7. Vgl. Birkner, Sittenlehre, 33-36. Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 12.

162

Die Entfaltung der Geschlechterdifferenz

gelangen kann, da sich in diesem System der Wissenschaften Form und Gehalt wechselseitig durchdringen. Schleiermachers Systemkonstruktion, die auf vollständiges und umfassendes wahres, also auf absolutes Wissen hinzielt, problematisiert in seiner prozesshaften Struktur des unabgeschlossenen, werdenden Wissens inhärent die systemspezifische Anforderung nach Vollständigkeit und Abgeschlossenheit. Dies manifestiert sich in drei Themenkomplexen, die konsequenterweise die Gestalt interpretationsbedürftiger Sachverhalte angenommen haben: die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Dialektik, das Fehlen einer ausgearbeiteten Naturphilosophie und die Frage nach dem Ort der Psychologie im System der Wissenschaften. Zum ersten: Schleiermacher beginnt die Ausarbeitung seines philosophischen Systems mit der Ethik, die damit die materiale Grundlegung wird. 1811 kommt die Dialektik hinzu, die Schleiermacher als Grundlagenwissenschaft versteht, die in ihrem transzendentalen Teil eine transzendentale Letztbegründung gibt und im kritischen Teil eine formal-verfahrenstechnische Grundlegung liefert. Auch wenn Schleiermacher in den späteren Manuskripten seiner Ethik mit Lehnsätzen aus der Dialektik arbeitet 16 , bleibt die materiale Priorität der Ethik und damit die Frage, inwiefern sie durch die Dialektik notwendigerweise fundiert wird. Zum zweiten: Schleiermacher hat den Bereich der Physik, genauer seine Naturphilosophie nie ausgearbeitet, obgleich von der gesamten systematischen Anlage her diese Durchführung erforderlich ist, um die Vorgriffe auf die Physik in der Ethik zu erhellen und zu plausibilisieren. Denn die individuellen Gebilde bzw. Erscheinungen stellen ja Mischungseinheiten der Gegensätze dar, so dass die Einheit des Ganzen in der Einzelwissenschaft immer schon vorausgesetzt und in der Durchführung aufgezeigt werden muss, um die Gültigkeit der Ergebnisse zu erweisen. Physik und Ethik stellen nach Schleiermacher je in sich die Totalität des Wissens dar und öffnen so den Zugang zur Ersten Philosophie. Dabei denkt Schleiermacher an eine Interdependenz und wechselseitige Durchdringung dergestalt, dass beide Wissenschaften sich gegenseitig unterstützen. 17 Damit stellt der Sachverhalt des blinden Flecks von Schleiermachers Naturphilosophie vor die Frage, ob damit nicht sein Gesamtentwurf fraglich wird. 18 Zur Thematik 16 17

Vgl. Ethik 1812/13 hg. v. Birkner, 7f. So Arndt mit Hinweis, dass Schleiermacher hier Friedrich Schlegels Gedanken des Wechselerweises aufgenommen habe (vgl. Arndt, Kommentar, 1070).

18

Als vorläufige Entgegnung, die noch genauer auszuführen ist, mag folgender Hinweis gelten: Mit der Bestimmung der Psychologie als „Bruchstück der Anthropologie" (Arndt), die zwischen Empirie und Spekulation ebenso vermittelt wie zwischen Physik und Ethik, kann die Behandlung der Psychologie durch Schleiermacher positiv als Angeld für die den fehlenden Bereich der Physik gedeutet werden. Gewicht

Schleiermachers System der Wissenschaften

163

der Geschlechterdifferenz lässt sich schon jetzt feststellen, dass das Fehlen der Naturphilosophie bei Schleiermacher hinsichtlich der physikalischen Seite eine Unbestimmtheit und Ungeklärtheit ergibt, deren sich Schleiermacher selbst zwar bewusst ist, die ihn jedoch nicht anficht. Er erwähnt den hypothetischen und unvollständigen Charakter der Aussagen, auf die er sich stützt, ohne sich dadurch ernstlich in seiner Argumentation irritieren zu lassen. 19 Die Frage, ob die Dialektik als Darlegung der Grundlagenwissenschaft alle anderen Wissenschaften ausreichend fundiert, induziert die Frage nach der inneren Konsistenz von Schleiermachers philosophischem System. In ähnliche Richtung weist der dritte interpretationsbedürftige Sachverhalt, die erst spät ausgearbeitete Psychologie und ihr Ort im System der Wissenschaften, den Schleiermacher selbst nicht eindeutig bestimmt. Die Psychologie behandelt als Gegenstand das „Ich", die Strukturmomente des menschlichen Selbstbewusstseins und damit die Grundbedingungen des Wissens überhaupt. 20 Dies spricht sachlich für eine Vorordnung vor die Logik, Physik und Ethik. 21 Bedeuund Bedeutung erhält die Psychologie dadurch, dass ihr Gegenstand die Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins berührt und damit ins Zentrum des Schleiermacherschen Denkens vorstößt. 19

Die Kritik Arndts, dass Schleiermacher ganz gegen seine erklärte Intention in seinem System eine Immunisierung der Spekulation gegenüber der Empirie praktiziere (vgl. Arndt, Kommentar, 1119), wird dadurch unterstützt.

20

In seiner Vorlesung 1818 thematisiert Schleiermacher das Problem des Zirkels, das sich bei der Behandlung der Psychologie stellt, und betont deshalb den vorbereitenden Charakter seiner Psychologie (vgl. Psychologie 1818, SWΙΠ/6, 406f.).

21

Die Debatte um den Status der Psychologie wurde durch Eilert Herms' provokative These eröffnet, sie und nicht die Dialektik bilde das „Fundament der Schleiermacherschen Systemkonzeption" (Herms, Eilert, Die Bedeutung der „Psychologie" für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin/New York 1991, 3 6 9 ^ 0 1 , hier: 398). Andreas Arndt reagierte mit der Gegenthese, die Psychologie sei das „von der Empirie ausgehende Komplement zur Dialektik" (vgl. Arndt, Andreas, „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip". Friedrich Schleiermachers Psychologie, in: Dieter Burdorf/Reinhold Schmücker (Hg.), Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn u.a. 1998, 147-161, hier: 159). In der Bedeutung der Psychologie als sachliche Grundlage folgt Fischer der Einordnung Arndts (vgl. Fischer, Schleiermacher, 84). In seiner jüngsten einschlägigen Veröffentlichung verteidigt Herms nochmals seine PsychologieInterpretation gegen Arndt und Fischer mit Verweis auf den Textbefund (vgl. Herms, Eilert, Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins, in: Christine Helmers/Christiane Kranich/Birgit Rehme-Iffert (Hg.), Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, Tübingen 2003, 23-52, hier: 28 Anmerkung 17). Dieser Kontroverse zwischen Arndt und Herms Hegt m.E. die unterschiedliche Schleiermacher-Interpretation der beiden zugrunde, die sich am Stellenwert bzw. der Einstufung der Dialektik manifestiert. Während Arndt Schleiermacher vom Boden der Dialektik aus als denkerisch letztlich

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Die Entfaltung der Geschlechterdifferenz

tet dies, dass die Psychologie als eigentlicher Grund des Schleiermacherschen Systems zu verstehen sei, da sie die empirisch basierte Wissenschaft für die Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins darstellt? 22 Oder ist Schleiermachers System letztlich viergliedrig, da die Psychologie als das von der Empirie ausgehende, zwischen Ethik und Physik vermittelnde Komplement zur Dialektik zu betrachten ist, indem sie „als «Bruchstück» der Anthropologie die als empirisch gesetzte leiblich-seelische Einheit durch die Reihe der Gestalten des Geistes hindurch auf den transzendentalen Grund bezieht"23? Wenn auch die von Arndt postulierte Viergliedrigkeit eine Konjektur darstellt, die die Unklarheiten vereindeutigt, die Schleiermacher selbst hinterlässt, so kommt der Psychologie für das Verständnis der Grundfunktionen des menschlichen Bewusstseins und damit für die Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins eine Schlüsselstellung zu, die sich gerade in der kritischen, d.h. vermittelnden Position zwischen Physik und Ethik zeigt und in den zahlreichen Bezügen der Psychologie zur philosophischen Ethik, zur Glaubenslehre und zur Pädagogik.24 Das wiederum bedeutet, dass eine Einordnung der Psychologie allein als kritische Wissenschaft diese unterbestimmt und der Vorschlag der Erweiterung des Schleiermacherschen Systems zu einem viergliedrigen sachlich der Bedeutung der Psychologie Rechnung trägt, obgleich Schleiermacher terminologisch und systematisch hierbei in der Schwebe bleibt. Sachlich knüpft sie eine einleuchtende Vernetzung, die dem Stil interdependenter Relationalität des Schleiermacherinkonsequenten Identitätsphilosophen sieht, der an einer nur scheinbaren Trennung von Philosophie und Theologie sowie an der begrifflichen Nichterkennbarkeit des Absoluten festhalte, weil er die letzte denkerische Durchdringung unterlasse, versteht Herms Schleiermacher als Denker der endlichen Subjektivität, dessen Theorie konsequent empirisch-anthropologisch verortet werden müsse. Für Herms ist deshalb das Beharren auf der Nichterkennbarkeit des Absoluten kein denkerischer Defätismus, sondern theologisch konsequent, denn Menschen versicherten sich der Wahrheit letztlich nicht kraft ihres Denkens, sondern kraft der Erscheinung der Wahrheit im Endlichen; genauer dank des Reflexes ihrer Erscheinung, die das unmittelbarere Selbstbewusstsein bestimme (vgl. Herms, Bedeutung, 400f.). 22

Vgl. Herms, Bedeutung, 393f. Herms vertritt eine konsequent anthropologischempirische Interpretation Schleiermachers und stuft die Dialektik in ihrem transzendentalen Teil zurück, indem er sie als Kunstlehre einordnet (vgl. a.a.O., 380).

23

Arndt, Kommentar, 1112. Schleiermacher selbst betont in seiner Vorlesung 1818, dass die Psychologie in der Anthropologie einen Bruch darstelle. Es gehe in der Psychologie darum, das „geistige Princip, welches durch das ganze Lehen hindurch geht, auf einer bestimmten Stufe, der einzigen, die uns wirklich gegeben ist, anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen. Die spekulativen Blikke sind also der eigentliche Hauptzzvkk der Psychologie. Die Psychologie ist also auf der einen Seite ein Bruch