Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren: Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert 9783111071879, 9783110992168

The medieval world was familiar with a number of legal figures that allowed women to stand in for their husbands or sons

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Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren: Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert
 9783111071879, 9783110992168

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Verzeichnis der Abkürzungen
Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren – Zur Einführung
Regierende Herrscherwitwen und das Risiko eines fremden Herrschers. Zum Verhältnis von Dynastie und Geschlecht
Dux dominaque Iudita – Frauen als Regentinnen und Herzöge im 10. Jahrhundert?
Sächsische Regentinnen des 12. Jahrhunderts – Kaiserin Richenza und Herzogin Gertrud von Sachsen und Bayern
Weibliche Handlungsspielräume im normannischen Süditalien: Die Regentschaft der Gräfin Adelasia von Kalabrien und Sizilien (1101–1112)
Stellvertretung im Königreich Sizilien-Neapel und die Stellung der ersten angevinischen Königinnen als Vikarinnen des Königs
Die weibliche Stellvertretung in der Krone Aragón (13.–15. Jahrhundert). Ein Modellfall?
Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay und ihr Einfluss auf die Königsherrschaft Balduins IV. von Jerusalem
Selbstverständnis und Herrschaftspraxis schlesischer Regentinnen im 13. Jahrhundert
Regentschaft im Zeichen des Widerstreits von Seniorat und Primogenitur. Die Moskauer Großfürstin Sofija Vitovtovna als Regentin für Vasilij II
Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

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Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert

Schriften des Historischen Kollegs Herausgegeben von Hartmut Leppin Kolloquien 111

Regentinnen und andere ­Stellvertreterfiguren Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert

Herausgegeben von Gabriela Signori und Claudia Zey

Schriften des Historischen Kollegs herausgegeben von Hartmut Leppin in Verbindung mit Florian Albert, Birgit Emich, Ute Frevert, Joël Glasman, Julika Griem, Anke Hilbrenner, Bernhard Löffler, Frank Rexroth, Markus Schwaiger, Reinhard A. Stauber und Willibald Steinmetz Das Historische Kolleg fördert im Bereich der historisch orientierten Wissenschaften Gelehrte, die sich durch herausragende Leistungen ausgewiesen haben. Es vergibt zu diesem Zweck jährlich bis zu sechs Fellowships. Darüber hinaus wird alle drei Jahre der „Preis des Historischen Kollegs“ verliehen. Die Fellowships dienen renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dazu, während eines Kollegjahres frei von anderen Verpflichtungen eine größere Arbeit abzuschließen. Professor Dr. Claudia Zey (Zürich/CH) war – zusammen mit Dr. Philipp Lenhard (München), Professor Bernhard Rieger, PhD (Leiden/NL), Dr. Susanne Schregel (Köln), Professor Dr. Petra Sijpesteijn (Leiden/NL) – Fellow des Historischen Kollegs im Kollegjahr 2020/2021. Das geplante Kolloquium konnte wegen der Corona-Pandemie nicht in München stattfinden; stattdessen führten Professor Dr. Gabriela Signori und Professor Dr. Claudia Zey gemeinsam ein Kolloquium zum Thema „Female Regency and Other Figures of Representation (5th to 15th Centuries)/Weibliche Regentschaft und andere Stellvertreterfiguren (5. bis 15. Jahrhundert)“ am 23. und 24. September 2021 in Konstanz durch, das von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wurde. Die Ergebnisse des Kolloquiums werden in diesem Band veröffentlicht. Das Historische Kolleg wird seit dem Kollegjahr 2000/2001 – im Sinne einer Public-private-Partner­ ship – in seiner Grundausstattung vom Freistaat Bayern finanziert, die Mittel für die Stipendien kamen bislang unter anderem von der Fritz Thyssen Stiftung, dem Stiftungsfonds Deutsche Bank, der Gerda Henkel Stiftung, der C.H.Beck Stiftung und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Träger des Historischen Kollegs, das vom Stiftungsfonds Deutsche Bank und vom Stifterverband errichtet und zunächst allein finanziert wurde, ist die „Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs“. Claudia Zey wurde im Kollegjahr 2020/2021 von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Historisches Kolleg Kaulbachstraße 15, 80539 München Fax:+49 (0) 89 2866 3863 Tel.:+49 (0) 89 2866 380 E-Mail: [email protected] www.historischeskolleg.de ISBN 978-3-11-099216-8 ISBN (PDF) 978-3-11-107187-9 ISBN (Epub) 978-3-11-107198-5 Library of Congress Control Number: 2023931701 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Die Bildnachweise zu den Abbildungen in den Beiträgen befinden sich jeweils in der Bildunterschrift. Sollten trotz sorgfältiger Recherche nach den Rechteinhabern berechtigte Ansprüche bestehen, wenden Sie sich bitte unmittelbar an den Autor oder die Autorin des jeweiligen Beitrags. Coverbild: Die Regentin mit Engelsflügeln (Symbol der Bourbonen) am Staatsruder, am Boden liegend als Demut inszeniert der Autor des Werkes, Étienne Le Blanc; Étienne Le Blanc: Gestes de Blanche de Castille; Auftragswerk der Regentin Louise von Savoyen (1476–1531); Bibliothèque ­nationale de France, Département des Manuscrits. Français 5715, fol. 1r. Satz: Typodata GmbH, Pfaffenhofen/Ilm Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Gabriela Signori/Claudia Zey Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren – Zur Einführung . . . . . . . . . . . .  1 Anne Foerster Regierende Herrscherwitwen und das Risiko eines fremden Herrschers. Zum Verhältnis von Dynastie und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Linda Dohmen Dux dominaque Iudita – Frauen als Regentinnen und Herzöge im 10. Jahrhundert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Marianne Wenzel Sächsische Regentinnen des 12. Jahrhunderts – Kaiserin Richenza und Herzogin Gertrud von Sachsen und Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Julia Becker Weibliche Handlungsspielräume im normannischen Süditalien: Die Regentschaft der Gräfin Adelasia von Kalabrien und Sizilien (1101–1112) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Cristina Andenna Stellvertretung im Königreich Sizilien-Neapel und die Stellung der ersten angevinischen Königinnen als Vikarinnen des Königs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Sebastian Roebert Die weibliche Stellvertretung in der Krone Aragón (13.–15. Jahrhundert). Ein Modellfall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

VI

Inhalt

Eric Böhme Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay und ihr Einfluss auf die Königsherrschaft Balduins IV. von Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Julia Burkhardt Selbstverständnis und Herrschaftspraxis schlesischer Regentinnen im 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Maike Sach Regentschaft im Zeichen des Widerstreits von Seniorat und Primogenitur. Die Moskauer Großfürstin Sofija Vitovtovna als Regentin für Vasilij II. . . . . 177 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Vorwort Die mittelalterliche Welt kennt eine bemerkenswerte Vielzahl von Rechtsfiguren, durch die Frauen standesunabhängig, formalisiert oder qua Gewohnheit, Ehe­ männer oder Söhne vertreten konnten. Regentschaft ist in dieser Vielfalt eine besonders wichtige Spielart stellvertretender Herrschaftsausübung, da sie den meist krisen­anfälligen Herrschaftsübergang markiert. Mit diesem Band wird das Ziel verfolgt, verschiedene Formen weiblicher Regentschaft im europäischen Vergleich und im historischen Wandel auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Theorie und Praxis hin zu untersuchen. In neun Beiträgen wird nach Handlungsspiel­ räumen, nach Institutionen und nach Personen, die für eine solche Stellvertretung als geeignet erachtet wurden, sowie nach der Wahrnehmung und Bewertung weiblicher Stellvertretung gefragt. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Grenz­ regionen an der Peripherie Europas mit ihren unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Voraussetzungen. Neben Beispielen aus dem römisch-deutschen Reich werden weibliche Regentschaften in den Königreichen Sizilien, Aragón und ­Jerusalem sowie dem Herzogtum Schlesien und dem Großfürstentum Moskau in den Blick genommen. Dieser Sammelband ist aus einer durch die Fritz Thyssen Stiftung finanzierten Tagung hervorgegangen, die im Herbst 2021 an der Universität Konstanz statt­ gefunden hat. Dass dieser Band in die Reihe der „Schriften des Historischen ­Kollegs – Kolloquien“ aufgenommen wurde, ist den Umständen der Corona-Pandemie geschuldet. Einerseits musste die ursprünglich für Herbst 2020 in Konstanz geplante Tagung um ein Jahr verschoben werden. Andererseits war es während des einjährigen Senior Fellowships von Claudia Zey am Historischen Kolleg in München 2020/2021 nicht möglich, ein Kolloquium zum Projekt „Stellvertretung im Mittelalter – Konzeption und Funktionalität repräsentativer Herrschaft“ verlässlich zu planen und durchzuführen. Das Historische Kolleg hat sich daher bereit erklärt, den für das Projekt einschlägigen Tagungsband in seine Publikationsreihe aufzunehmen. Dafür gebührt dem Historischen Kolleg unser Dank. Dr. Elisabeth Hüls möchten wir für die umsichtige redaktionelle Betreuung des Bandes eigens danken. Unser besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren für die engagierte Bearbeitung ihrer Themen. Durch die zügige Abgabe ihrer Beiträge haben sie das rasche Erscheinen des Bandes ermöglicht. Gabriela Signori und Claudia Zey 

https://doi.org/10.1515/ 9783111071879-203

Konstanz und Zürich, im Januar 2023

Verzeichnis der Abkürzungen a. anno/im Jahr ad anno/zum Jahr a. a. ACA Arxiu de la Corona d’Aragó AHCB Arxiu Històric de la Ciutat de Barcelona AHR The American Historical Review AKG Archiv für Kulturgeschichte amt. amtierend Annales ESC Annales. Économies, Sociétés, Civilisations ARV Arxiu del Regne de València Canc. Cancilleria CHE Cuadernos de la Historia de España Czasopismo Prawno-Historyczne CPH D/DD Diploma/Diplomata DA Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters D HII/DD HII Heinrici II. diplomata. Hg. von Harry Bresslau und Hermann Bloch (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 3). Hannover 1900–1903. Die Urkunden Heinrichs des Löwen. Herzogs von D HdL/DD HdL Sachsen und Bayern. Bearb. von Karl Jordan (MGH Laienfürsten und Dynastenurkunden 1). Leipzig 1941. D Jerus./DD Jerus. Die Urkunden der lateinischen Könige von Jerusalem. Hg. von Hans E. Mayer (MGH Diplomata regum Latinorum Hierosolymitanorum 1–4). 4 Bde. Hannover 2010. D Karol/DD Karol Pippini, Carlomanni, Caroli Magni diplomata. Hg. von Ernst Mühlbacher (MGH Diplomata Karolinorum 1). Hannover 1906. D Lo III/DD Lo III Die Urkunden Lothars III. und der Kaiserin Richenza. Hg. von Emil von Ottenthal und Hans Hirsch (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 8). Berlin 1927 (Verweis auf die Urkunden Lothars). Doc. Documento/Dokument Ottonis I. diplomata. Hg. von Theodor Sickel (MGH D OI/DD OI ­Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1). Hannover 1879–1884. https://doi.org/10.1515/9783111071879-204

X D OII/DD OII

Verzeichnis der Abkürzungen

Ottonis II. diplomata. Hg. von Theodor Sickel (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2, 1). Hannover 1888. Ottonis III. diplomata. Hg. von Theodor Sickel (MGH D OIII/DD OIII Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2, 2). Hannover 1893. DOP Dumbarton Oaks Papers Die Urkunden Lothars III. und der Kaiserin Richenza. D Ri/DD Ri Hg. von Emil von Ottenthal und Hans Hirsch (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 8). Berlin 1927 (Verweis auf die Urkunden Richenzas). D Ro. II./DD Ro. II. Rogerii II regis Diplomata latina. Hg. von Carlrichard Brühl (Codex diplomaticus regni Siciliae. Ser. I, Tomus II, 1). Köln u. a. 1987. EHR The English Historical Review EME Early Medieval Europe ep. epistula/Brief Ex Exodus/2. Buch Mose der Bibel Frühmittelalterliche Studien FMSt fol. folio/folia GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht JGO Jahrbücher für Geschichte Osteuropas JMH Journal of Medieval History lib. liber/Buch MEFRM Mélanges de l’École française de Rome – Moyen Âge MFF Medieval Feminist Forum. A Journal of Gender and Sexuality Monumenta Germaniae Historia MGH MR Mestre Racional Prov. Provincia/Provinz Polnoe sobranie russkich letopisej PSRL QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken r recto/Vorderseite RCA I registri della cancelleria angioina ricostruiti da Riccardo Filangeri con la collaborazione degli Archivisti Napoletani. 50 Bde. Neapel 1950–2010. Reg. Regest RHGF Recueil des Historiens des Gaules et de la France RI II, 1 J. F. Böhmer: Regesta Imperii II. Sächsisches Haus 919–1024. Bd. 1: Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich I. und Otto I. 919–973. Bearb. von Emil von Ottenthal. Innsbruck 1893.

Verzeichnis der Abkürzungen

RI II, 2

XI

J. F. Böhmer: Regesta Imperii II. Sächsisches Haus 919–1024. Bd. 2: Die Regesten des Kaiserreiches unter Otto II. 955 (973)–983. Bearb. von Hanns Leo Mikoletzky. Graz 1950. RI IV, 1, 1 J. F. Böhmer: Regesta Imperii IV. Lothar III. und Ältere Staufer 1125–1197. Abt. 1. Die Regesten des Kaiserreiches unter Lothar III. und Konrad III. Teil 1: Lothar III. 1125(1075)–1137. Neubearb. von Wolfgang Petke. Köln u. a. 1994. RI IV, 1, 2 J. F. Böhmer: Regesta Imperii IV. Lothar III. und Ältere Staufer 1125–1197. Abt. 1. Die Regesten des Kaiserreiches unter Lothar III. und Konrad III. Teil 2: Konrad III. 1138(1093/94)–1152. Neubearb. von Jan Paul Niederkorn unter Mitarbeit von Karel Hruza. Wien u. a. 2008. J. F. Böhmer: Regesta Imperii V. Jüngere Staufer 1198– RI V, 1, 2 1272. Bd. 1. Teil 2: Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV., Friedrich II., Heinrich (VII.), Conrad IV., Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard 1198– 1272. Neubearb. von Julius Ficker. Innsbruck 1882. Regesta regni Hierosolymitani (1097–1291). Hg. von RRH Reinhold Röhricht. 2 Bde. Innsbruck 1893/1904. Sir Jesus Sirach/Buch der Bibel Schlesisches Urkundenbuch. Bd. 1: 971–1230. Hg. von SUB I Heinrich Appelt und Josef Joachim Menzel. Köln 1963. Schlesisches Urkundenbuch. Bd. 2: 1231–1250. Hg. von SUB II Heinrich Appelt und Josef Joachim Menzel. Wien 1977. v verso/Rückseite Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte ZBLG Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins ZDPV ZfO Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung ZGO Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins ZRG, GA Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung

Gabriela Signori/Claudia Zey Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren – Zur Einführung Die mittelalterliche Welt kennt eine bemerkenswerte Vielzahl von Rechtsfiguren, durch die Frauen standesunabhängig, formalisiert oder qua Gewohnheit, Ehemänner oder Söhne vertreten konnten. Das Spektrum dieser Figuren ist breit: Es reicht von der Vormundschaft über die Testamentsvollstreckung bis zur Generalvollmacht, die den Frauen uneingeschränkte Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gewährte. Regentschaft von Frauen, die im Fokus dieses Sammelbandes steht, ist demnach zwar nur eine Spielart der Stellvertretung unter anderen, jedoch eine besonders wichtige, da sie den meist krisenanfälligen Herrschaftsübergang markiert und zudem den Blick auf Herrschaftspraktiken lenkt. Regentschaft ist ein politisches Instrument, dessen Nutzung nicht auf Frauen beschränkt ist, das Frauen in der Praxis aber häufig zugestanden wird. Vormundschaft hingegen ist ein privatrechtliches Instrument, das primär die Interessen unmündiger Kinder schützen soll, während Mandat und Generalvollmacht (unter Ausklammerung des Prozessrechts) Instrumente der ökonomischen Interessenvertretung und des Gesandtschaftswesens sind.1 In der Praxis gestalten sich die Übergänge von dem einen zum anderen „Instrument“ fließend; das heißt, Wirtschaft, Recht und Politik bilden keine distinkten Systeme und lassen sich nicht in der gewünschten Schärfe auseinanderhalten. Dennoch ist für alle hier zur Diskussion stehenden Stellvertreterfiguren die Frage von erstrangiger Bedeutung, in welchen Bereichen genau die Frauen stellvertretend handelten und welche Geltungsdauer ihre Aktivitäten hatten. Auch die Frage, wie sich Regentschaft in ihren zeitund raumspezifischen Ausprägungen von anderen Formen reginaler Herrschaft unterscheidet, bleibt im Folgenden jeweils zu klären. In der Vormoderne zeichnen sich zwei funktionale Grundtypen von Regentschaft ab: 1. Stellvertreterfiguren bei temporärer Abwesenheit der Ehemänner und Söhne im Krankheitsfall oder im Kriegsfall oder auf Reisen und 1 

Vgl. Gabriela Signori: Der Stellvertreter. Oder: Wie geht eine Anwesenheitsgesellschaft mit Abwesenheit um? In: ZRG, GA 132 (2015), S. 1–22; Claudia Zey: Die Augen des Papstes. Zu Eigenschaften und Vollmachten päpstlicher Legaten. In: Jochen Johrendt/Harald Müller (Hg.): Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. Berlin/New York 2008, S. 77–108. In den folgenden Anmerkungen wird in der Regel die nach dem Jahr 2000 erschienene Literatur in Auswahl berücksichtigt. https://doi.org/10.1515/9783111071879-001

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Gabriela Signori/Claudia Zey

2. Stellvertreterfiguren, die die Frauen an die Stelle ihrer verstorbenen Männer treten und an ihrer statt agieren lassen – mit oder ohne Beratergremium –, meist, bis die gemeinsamen Kinder oder der designierte Nachfolger Volljährigkeit erreicht haben. Pauline Puppel spricht von „vormundschaftlicher Herrschaft“.2 Dabei gilt es zu beachten, dass Minder- beziehungsweise Volljährigkeit keine feste, sondern eine historisch und kulturell variable Größe darstellen.3 Wie bei der Vormundschaft geht es bei der Regentschaft primär darum, die Interessen der Ehemänner sowie die Interessen der gemeinsamen Kinder zu wahren. Das spiegelt sich auch in den Herrscherurkunden wider, in denen die Fiktion des regierenden Königs und der unterstützenden Ehefrau oder Mutter in der Rolle einer Petentin oder Intervenientin aufrechterhalten wird.4 Inwiefern über die Generationen der eigenen Kinder hinaus „dynastische“ Interessen hineinspielen, bleibt für die Frühzeit der Regentschaft zu klären. Oft wird das Dynastiekonzept in der Forschung allerdings missbräuchlich synonym für Herrscherhaus oder Herrschergeschlecht verwendet. Sich für die Belange seiner Kinder einzusetzen, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dynastische Interessen zu vertreten. Anders als bei der Vormundschaft greift die Einrichtung der Regentschaft indes weit über die Sphäre des Privaten hinaus, indem sie letztlich genauso wie die Generalvollmacht weitreichende Entscheidungsbefugnisse beinhaltet, Entscheidungsbefugnisse, die es von Fall zu Fall zu bestimmen und definieren gilt. Die Stellvertreterfiguren sind unverzichtbare politische, wirtschaftliche und ­soziale Instrumente der Interessenwahrnehmung, aber allesamt zeitlich begrenzt und in diesem Sinne Brückeninstitutionen. Bekleiden Frauen das Regentschafts­ amt, während ihre Söhne noch nicht volljährig sind, spielt implizit die Idee mit, dass Frauen als Ehefrauen und Mütter besser als andere Verwandte dazu befähigt sind, die Interessen ihrer Ehemänner und Kinder zu vertreten.5 Dass auch das Gegenteil der Fall sein kann, nährt bis heute die Fantasie von Literaten.6 2 Pauline Puppel: Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500–1700. Frankfurt a. M./New York 2004, S. 35 f. 3  Der Sachsenspiegel (1220–1235) beispielsweise knüpft sie, für den Fall, dass das numerische Alter unbekannt sei, bei jungen Männern an den Bartwuchs. Sachsenspiegel (Landrecht). Stuttgart 1982, Nr. 42, S. 41 f.: Ubir ein unde zwenzig iar, so ist der man zu sinen tagen komen, ubir sechstig iar, so ist her ubir sine tage komen, alse her vormunden haben sal, ab her wil unde en krenket damete sine buze nicht noch sin wergelt. Wisse einer nicht, wie alt er sei, hat her har in deme barte unde nidene unde under itlichem arme, so sal man wissen, daz her zu sinen tagen komen iz. Vgl. dazu die Beiträge in: L’enfant. Bd. 2: Europe médiévale et moderne. Brüssel 1976. 4  Vgl. dazu Amalie Fößel: Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume. Stuttgart 2000, S. 123–150. 5  Explizit gemacht wird die Idee in den französischen Coutumes vgl. Michelle Bubenicek: Quand les testaments règlent les régences. Les prises de pouvoir de Yolande de Flandre, comtesse de Bar et de Marie de Blois, duchesse de Lorraine, au XIVe siècle. In: Hubert Collin (Hg.): Mélanges d’archéologie, d’art et d’histoire offerts au chanoine Jacques Choux. Nancy 1997, S. 59–66, hier: S. 60 f. 6  Vgl. dazu etwa Linda Dohmen: Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger. Ostfildern 2017; Anne Foerster: Die Witwe des Königs. Zu Vorstellung, Anspruch und Performanz im englischen und deutschen Hochmittelalter. Ostfildern 2018, S. 125–146.

Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren – Zur Einführung

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Forschungsstand In der Forschung werden die verschiedenen Stellvertreterfiguren meist getrennt behandelt, womit das Verständnis der verschiedenen Einrichtungen wesentlich erschwert wird. Vergleichsweise breit erschlossen ist vor allem in der anglo-amerikanischen Forschung die städtische Einrichtung der Vormundschaft (guardianship; wardship).7 Wenige Studien liegen hingegen zur Institution des Testamentsvollstreckers vor,8 noch weniger zu den auf den Namen von Ehefrauen und Müttern ausgestellten Generalvollmachten.9 Trotz gesamteuropäischer Bedeutung überrascht letztlich auch das weitgehende Fehlen von Studien zu Regentschaft, die auf systematische, überregionale Fragen fokussieren.10 Es überwiegen weithin   7  Vgl.

dazu neben einer Vielzahl von regionalen Studien: Noël James Menuge: A Few Home Truths. The Medieval Mother as Guardian in Romance and Law. In: ders. (Hg.): Medieval Women and the Law. Woodbridge/Suffolk 2000, S. 77–103. In Deutschland ist Vormundschaft ein traditionelles Forschungsfeld der Rechtsgeschichte, das sozialgeschichtlich noch kaum erschlossen ist; vgl. Andreas Roth: Zu den Anfängen der Vormundschaft über Erwachsene im Mittelalter und der frühen Neuzeit. In: Tiziana J. Chiusi u. a. (Hg.): Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag. Berlin 2008, S. 945–962; Adalbert Erler: Art. Vormundschaft. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5. Berlin 1998, Sp. 1050–1055; Karl A. Kroeschell: Vormundschaft II. Germanisches und Deutsches Recht. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München 1997, Sp. 1854 f.   8  Die Forschung beschränkt sich weitgehend auf die rechtlichen Dimensionen der Frage, nimmt ausgewählte Testatoren oder Regionen in den Blick wie zum Beispiel Gerhard Hückstädt: Der Testamentsvollstrecker im deutschen Recht des Mittelalters. Universität Kiel 1971; Anne-Marie Landes: L’exécution testamentaire en Rouergue au XIIIe siècle. In: Études sur le Rouergue. Rodez 1974, S. 125–138; Yves Jeanclos: La pratique de l’exécution testamentaire à Troyes d’après quelques actes de la seconde moitié du XIVe siècle. In: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 59 (1991), S. 67–95. Auf die herausragende Bedeutung der Ehefrauen als Testamentsvollstreckerinnen im spätmittelalterlichen Norfolk weist hin Philippa C. Maddern: Friends of the Dead: Executors, Wills and Family Strategy in Fifteenth-Century Norfolk. In: Rowena E. Archer/­ Simon K. Walker (Hg.): Rulers and Ruled in Late Medieval England. Essays Presented to Gerald Harriss. London/Rio Grande 1995, S. 155–174.   9 Reichhaltiges Material findet sich in den cisalpinen Gerichtsbüchern (Signori: Stellvertreter [wie Anm. 1]) und den transalpinen Notariatsregistern (Roberto Sabatino López: Proxy in Medieval Trade. In: Order and Innovation in the Middle Ages. Essays in Honour of Joseph R. Strayer. Princeton 1976, S. 187–194), wie zum Beispiel im Register des Zaccaria de Fredo. Notaio in Candia (1352–1357). Hg. von Antonino Lombardo. Venedig 1968, Nr. 2 (Schwester), Nr. 29 (Mutter), Nr. 99 und Nr. 113 (Ehefrau). 10  Im „Lexikon des Mittelalters“ fehlt das Lexem „Regentschaft“. Die Forschung setzt, wenn wir das richtig überblicken, erst in den 1990er-Jahren ein. Vgl. Armin Wolf: Regenschaft. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 485–487; speziell zum Mittel­ alter Maria Teresa Guerra Medici: La régence de la mère dans le droit médiéval. In: Parliaments, estates and representation 17 (1997), S. 1–11; Simone Bertière: Régence et pouvoir féminin. In: Kathleen Wilson-Chevalier/Éliane Viennot (Hg.): Royaume de fémynie. Pouvoirs, contraintes, espaces de liberté des femmes, de la Renaissance à la Fronde. Paris 1999, S. 63–70; André Corvisier: Les régences en Europe. Essai sur les délégations de pouvoirs souverains. Paris 2002; ders.: Pour une enquête sur les régences. In: Annales 21 (2002), S. 201–226; Bettina Elpers: Regieren, Erziehen, Bewahren. Mütterliche Regentschaften im Hochmittelalter. Frankfurt a. M. 2003; Regina Schäfer: Handlungsspielräume hochadeliger Regentinnen im Spätmittelalter. In: Jörg ­ ­Rogge (Hg.): Fürstin und Fürst. Familienbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten von hochadeligen Frauen im Mittelalter. Stuttgart 2004, S. 203–224.

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Gabriela Signori/Claudia Zey

Partikularstudien zu ausgewählten, meist reginalen Regentinnen.11 Breit erschlossen ist dabei vor allem die Regentschaft post mortem des Herrschers.12 Aus der Masse der Regentinnen treten vielfach gewürdigte Herrscherinnen hervor wie Adelheid von Burgund (gest. 999) und Theophanu (gest. 991), Blanka von Kasti­ lien (gest. 1252) und Eleonore von Aquitanien (gest. 1204).13 Auch in der seit Jahr11 Vgl. André Poulet: Capetian Women and the Regency. The Genesis of a Vocation. In: John Carmi Parsons (Hg.): Medieval Queenship. New York 21998, S. 93–116, S. 211; Sébastien Rossi­ gnol: Femmes et pouvoir en Silésie polonaise. Veuvage, régence et succession (vers 1200–vers 1350). In: Laurent Jegou u. a. (Hg.): Splendor Reginae. Passions, genre et famille. Mélanges en l’honneur de Régine Le Jan. Turnhout 2015, S. 197–204; Laura Gaffuri: Eine Definition der weiblichen Regentschaft im Herzogtum Savoyen am Ende des Mittelalters. In: Cristina Andenna/Gert Melville (Hg.): Idoneität – Genealogie – Legitimation. Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittel­alter. Köln u. a. 2015, S. 273–290. Zum Konzept der „reginalen Herrschaft“ vgl. Nikolas Jaspert: Indirekte und direkte Macht iberischer Königinnen im Mittelalter. „Reginale“ Herrschaft, Verwaltung und Frömmigkeit. In: Claudia Zey (Hg.): Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert). Ostfildern 2015, S. 73–130. Zu einer anderen, wissenschaftlich breiter erschlossenen Variante, der consors regni, vgl. Thilo Vogelsang: Die Frau als Herrscherin im hohen Mittelalter. Studien zur „consors regni“ Formel. Göttingen 1954; Franz-Reiner Erkens: „Sicut Esther Regina“. Die westfränkische Königin als ­consors regni. In: Francia 20 (1993), S. 15–38; Ana Maria Seabra Rodrigues: The Queen Consort in Late Medieval Portugal. In: Brenda Bolton/Christine Meek (Hg.): Aspects of Power and Authority in the Middle Ages. Turnhout 2007, S. 131–146; Tracy Adams: Christine de Pizan, Isabeau of Bavaria, and Female Regency. In: French Historical Studies 32 (2009), S. 1–32; Laura Brender: Dimitto filium meum in custodia uxoris mee. Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Regentschaft im Spannungsfeld von ‚sex‘, ‚gender‘ und Generation. In: Hartwin Brandt (Hg.): Genus & generatio. Rollenerwartungen und Rollen­erfüllungen im Spannungsfeld der Geschlechter und Generationen in Antike und Mittelalter. Bamberg 2011, S. 191–226; Amalie Fößel: From the Consors Regni to the Koenigs Husfrouwe? Some Comments on the Decline of the Queen’s Power in the Medieval German Empire. In: Eric Bousmar (Hg.): Femmes de pouvoir, femmes politiques durant les d ­ erniers siècles du Moyen Âge et au cours de la première Renaissance. Brüssel 2012, S. 83–90; E. T. Daily: Queens, Consorts, Concubines. Gregory of Tours and Women of the Merowingian Elite. Leiden 2015; Tracy Adams: Theorizing Female Regency. Anne of France’s „Enseignements à sa fille“. In: Cynthia J. Brown/Anne-Marie Legare (Hg.): Les femmes, la culture et les arts en E ­ urope entre Moyen Âge et Renaissance. Turnhout 2016; Helen Watanabe-O’Kelly/Adam M ­ orton (Hg.): Queens Consort, Cultural Transfer and European Politics, c. 1500–1800. London/New York 2017. 12 Vgl. dazu in jüngerer Zeit Thilo Offergeld: Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (MGH Schriften 50). Hannover 2001; Bettina Elpers: Während sie die Markgrafschaft leitete, erzog sie ihren kleinen Sohn. Mütterliche Regentschaften als Phänomen adeliger Herrschaftspraxis. In: Rogge (Hg.): Fürstin (wie Anm. 10), S. 153–166; Fanny Cosandey: Puissance maternelle et pouvoir politique. La régence des reines mères. In: Clio 21 (2005), S. 69– 90; Foerster: Witwe (wie Anm. 6). 13 Vgl. Karl A. Kroeschell: Theophanu und Adelheid. Zum Problem der Vormundschaft über Otto III. In: Albrecht Cordes (Hg.): Rechtsbegriffe im Mittelalter. Frankfurt a. M. 2002, S. 63–77; Jürgen Kaiser: Herrinnen der Welt. Kaiserinnen des Hochmittelalters. Regensburg 2010; Phyllis G. Jestice: Imperial Ladies of the Ottonian Dynasty. Women and Rule in Teenth-Century Germany. London 2018; Patrick Corbet: Entre Aliénor et Blanche de Castille. Les princesses au ­pouvoir dans la France de l’Est. In: Zey (Hg.): Frauen (wie Anm. 11), S. 225–247; Lindy Grant: Blanche of Castile. Queen of France. New Haven/London 2016; Georges Minois: Blanche de Castille. Paris 2018; Ursula Vones-Liebenstein: Eleonore von Aquitanien. Herrscherin zwischen zwei Reichen. Göttingen/Zürich 2000; Bonnie Wheeler/John Carmi Parsons (Hg.): Eleanor of Aquitaine. Lord and Lady. New York 2002; Ralph Turner: Eleanor of Aquitaine. Queen of

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zehnten beständig anwachsenden Forschung zum mittelalterlichen Königinnenund Fürstinnentum wird in erster Linie dieser Typus von Regentschaft wahrgenommen.14 Durch den oft biografischen Zuschnitt der Studien entsteht der Eindruck, es handle sich um eine Ausnahmeerscheinung und nicht um eine auf Dauer gestellte Option. Dieser Eindruck wird bestärkt, wenn die Forschung mit den dichotomen Kategorien wie „Macht“ und „Ohnmacht“ operiert, wo es eigent­ lich um legitime Herrschaftsformen und rechtliche Stellvertreterverhältnisse geht. Macht und Herrschaft sind nicht dasselbe.15 Zum Einsatz gelangte die Einrichtung der Regentschaft am ehesten da, wo Herrschaft erblich und nicht wählbar war.16 Regentschaft ist in diesem Sinne legitime Herrschaft. Gänzlich anders stellt sich die Lage dar, wenn Königinnen auch zu Lebzeiten ihrer Ehemänner aufgrund von deren Abwesenheit oder Schwäche vielfältige Aufgaben als Stellvertreterinnen wahrnehmen konnten.17 In institutionalisierter France, Queen of England. New Haven 2009; Michael Evans: Inventing Eleanor. The Medieval and Post Medieval Image of Eleanor of Aquitaine. London/New York 2014; Georges Duby: Dames du XIIe siècle. Paris 2020. 14 Vgl. allgemein Liz Oakley-Brown/Louise J. Wilkinson (Hg.): The Rituals and Rhetoric of Queenship. Medieval to Early Modern. Dublin 2009; Theresa Earenfight (Hg.): Women and Wealth in Late Medieval Europe. New York 2010; Edward William Monter: The Rise of Female Kings in Europe, 1300–1800. New Haven 2012; Theresa Earenfight: Queenship in Medieval Europe. New York 2013; Murielle Gaude-Ferragu: La reine au Moyen Âge. Le pouvoir au féminin XIVe–XVe siècle. Paris 2014; Eva Roh/Lisa Benz (Hg.): Queenship, Gender, and Reputation in the Medieval and Early Modern West. 1060–1600. Basingstoke 2016. Zu den Königinnen in den Kreuzfahrerherrschaften vgl. Alan V. Murray: Women in the Royal Succession of the Latin Kingdom of Jerusalem (1099–1291). In: Zey (Hg.): Frauen (wie Anm. 11), S. 131–162. Zu den französischen Königinnen vgl. Carsten Woll: Die Königinnen des hochmittelalterlichen Frankreich 987–1237/38. Stuttgart 2002; Kathleen Nolan (Hg.): Capetian Women. New York 2003; Fanny Cosandey: La reine de France. Symbole et pouvoir. Paris 2000; Christine Juliane Henzler: Die Frauen Karls VII. und Ludwigs XI. Rolle und Position der Königinnen und Mätressen am französischen Hof (1422– 1483). Köln u. a. 2012. Zu den Königinnen im römisch-deutschen Reich vgl. Fößel: Königin (wie Anm. 4); Martin Kintzinger: Die zwei Frauen des Königs. Zum politischen Handlungsspielraum von Fürstinnen im europäischen Spätmittelalter. In: Jan Hirschbiegel (Hg.): Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2000, S. 377–398; Karl-Heinz Rueß (Hg.): Frauen der Staufer. Göppingen 2006; Martina Hartmann: Die Königin im frühen Mittelalter. Stuttgart 2009; Amalie Fößel (Hg.): Die Kaiserinnen des Mittelalters. Regensburg 2011; Dohmen: Ursache (wie Anm. 6). Zu den englischen Königinnen vgl. Elisabeth van Houts: Queens in the Anglo-Norman/Angevin realm 1066–1216. In: Zey (Hg.): Frauen (wie Anm. 11), S. 199–224. 15 Vgl. Christine Reinle: Was bedeutet Macht im Mittelalter? In: Zey (Hg.): Frauen (wie Anm. 11), S. 35–72. 16  Vgl. Steffen Patzold: Königserhebungen zwischen Erbrecht und Wahlrecht? Thronfolge und Rechtsmentalität um das Jahr 1000. In: DA 58 (2002), S. 467–501; Armin Wolf: Verwandtschaft – Erbrecht – Königswahl. Frankfurt a. M. 2013; Sverre Bagge: Die Herausbildung einer Dynastie. Thronfolge in Norwegen bis 1260. In: Andenna/Melville (Hg.): Idoneität (wie Anm. 11), S. 257–272; Matthias Becher (Hg.): Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich. Ostfildern 2017. 17 Vgl. Kimberly LoPrete: Adela of Blois. Countess and Lord (c.  1067–1137). Dublin 2007; ­Corinne Péneau: Magnifier l’absence. L’invention du représentant du royaume de Suède à la fin du Moyen Âge. In: Emmanuelle Tixier du Mesnil/Gilles Lecuppre (Hg.): Désordre créateurs. L’invention politiques à la faveur des troubles. Paris 2014, S. 119–151; Frédérique Lachaud/­ Michael A. Penman (Hg.): Absentee Authority Across Medieval Europe. Woodbridge 2017.

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Form ist dieser Typus weiblicher Regentschaft besonders in den iberischen Königreichen Kastilien und Aragón anzutreffen und wird seit einigen Jahren intensiv erforscht.18 Ähnliches gilt für die Sonderformen des Vikariats in den süditalienischen Königreichen Sizilien und Neapel.19

Leitfragen In diesem Sammelband soll Regentschaft europäisch vergleichend und diachronisch übergreifend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt werden. Ziel ist es, das Phänomen länderübergreifend zu erfassen, besonders intensive Phasen der Regentschaftsbildung zu ermitteln und deren Innovationspotenzial für die Bildung neuer Herrschaftsformen zu erfassen. Mit folgenden Leitfragen sind wir an die Autorinnen und Autoren der folgenden Beiträge herangetreten: 18 Zu

den Königinnen der Iberischen Halbinsel allgemein vgl. Theresa Earenfight: Queenship and Political Power in Medieval and Early Modern Spain. Aldershot 2005; María Jesús Fuente Pérez: Reinas medievales en los reinos hispánicos. Barcelona 2008; Silvia Cernadas/Miguel Garcia-­ Fernández: Reginae Iberiae. El poder regio femenino en los reinos medievales peninsulares. Santiago de Compostela 2015; Jaspert: Macht (wie Anm. 11); Ana Echevarría/Nikolas Jaspert (Hg.): El ejercicio del poder de las reinas ibéricas. Barcelona 2016. Zu den Königinnen von Kastilien und León vgl. Elena Lobato Yanes: Urraca I. La corte castellano-leonesa en el siglo XII. Palencia 2000; Ana Echevarría: Catalina de Lancaster. Reina regente de Castilla (1372–1418). Hondarribia 2002; dies.: Catherine of Lancaster, the Castilian Monarchy and Coexistence. In: Roger Collins/ Anthony Goodman (Hg.): Medieval Spain. Culture, Conflict and Coexistence. London 2002, S. 79–122; María del Carmen Pallares/Ermelindo Portela Silva (Hg.): La reina Urraca. Donostia/ San Sebastián 2006; Isabel Beceiro Pita: La parentela regia femenina en los relatos cronísticos ­alfonsíes y bajomedievales. In: Maria Isabel del Val Valdivieso/Pascual Martínez Sopena (Hg.): Castilla y el mundo feudal. Homenaje al profesor Julio Valdeón. Bd. 2. Valladolid 2009, S. 531– 546; Janna Bianchini: The Queen’s Hand. Power and Authority in the Reign of Berenguela of Castile. Philadelphia 2012; Miriam Shadis: Berenguela of Castile (1180–1246) and Political Women in the High Middle Ages. New York 2009. Zu den Königinnen von Aragón und Navarra vgl. Alexandra Beauchamp: Gouverner la couronne d’Aragon en l’absence du roi. La lieutenance générale de l’infant Pierre d’Aragon (1354–1355). Phil. Diss. masch. Bordeaux 2005; Melissa R. Katz: The Final Testament of Violante de Aragon (c. 1236–1300/01). Agency and (Dis)Empowerment of a Dowager Queen. In: Elena Woodacre (Hg.): Queenship in the Mediterranean. Negotiating the Role of the Queen in the Medieval and Early Modern Eras. New York 2013, S. 51–71; Julia Pavón Benito (Hg.): Reinas medievales de Navarra. Madrid 2014; Sebastian Roebert: The Nomination of Elionor of Sicily as Queen-Lieutenant in the Crown of Aragon. Edition and Commentary. In: Medieval Studies 80 (2018), S. 171–229; ders.: Die Königin im Zentrum der Macht. Reginale Herr­ schaft in der Krone Aragón am Beispiel Eleonores von Sizilien (1349–1375). Berlin/Boston 2020; Elena Woodacre: Joan of Navarre. Infanta, Dutchess, Queen, Witch? London/New York 2022. 19  Vgl. Patrizia Mainoni (Hg.): „Con animo virile“. Donne e potere nel Mezzogiorno medievale (secoli XI–XV). Rom 2010; Cristina Andenna: Zur Herrschaftsstabilisierung und -festigung unter Karl I. und Karl II. von Anjou. Das Generalvikariat als Resilienzressource. In: Lukas Clemens/ Janina Krüger (Hg.): Beharrung und Innovation in Süditalien unter den Anjouherrschern im 13. und 14. Jahrhundert / Persistenza e innovazione nell’Italia meridionale sotto le dinastie angioine del Duecento e del Trecento. Trier 2023 [im Druck], S. 29–75.

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– Inwiefern spielen über die Generation der eigenen Kinder hinaus „dynastische“ Interessen in die Regentschaft hinein oder inwieweit geht es primär um das Recht der eigenen Söhne/Töchter? – Zeichnen sich spezifische politische Konstellationen ab, die Regentschaft ermöglichen oder die Wahl bestimmter Regentschaftstypen fördern? –  In welchem Bezug steht die Regentschaft zu anderen Formen reginaler Herrschaft? –  Welche Kräfte wirken auf die Wahl der Regentschaft ein (Familie, Magnaten, Städte, Parlamente)? Welche Rolle spielte die Kirche – und welche die Ökonomie? –  Welche Regentschaftstypen lassen sich identifizieren? –  Welche Bedeutung nimmt darin die Kategorie „Geschlecht“ ein? Auf der Ebene der Quellenanalyse sollen ferner die spezifischen Begriffe für Regentschaft ermittelt sowie Wahrnehmung und Bewertung stellvertretenden ­ Handelns von Königinnen und Fürstinnen als Zeichen von Akzeptanz oder Ablehnung analysiert werden. Auch wenn nicht alle Fragen umfassend beantwortet werden können, soll dieser Band dazu beitragen, zentrale Aspekte eines Kernelements weiblicher Herrschaft zu erschließen.

Aufbau und Inhalt des Tagungsbandes Den Auftakt des Bandes macht der Beitrag von Anne Foerster zu regierenden Herrscherwitwen und dem damit verbundenen Risiko von Fremdherrschaft durch einen männlichen Herrscher. In einem weiten Überblick über europäische Reiche, in den auch der Spezialfall des Königreichs Jerusalem einbezogen wird, lenkt sie den Blick auf die Wahrnehmung von weiblicher Regentschaft durch mittelalterliche Autoren und fragt, ob eher das Geschlecht der Regentinnen oder die Gefahr dynastischer Diskontinuitäten für die kritische Wahrnehmung der Zeitgenossen sorgte. Linda Dohmen geht der Bedeutung von Herzogswitwen als Regentinnen für ihre Söhne im 10. Jahrhundert nach, besonders am Beispiel Judiths von Bayern und ihrer Schwägerinnen, und deren Bewertung durch die Chronisten. Marianne Wenzel stellt für Kaiserin Richenza und deren Tochter, Herzogin Gertrud von Sachsen und Bayern, den Vergleich zweier unterschied­licher Formen von Regentschaft im 12. Jahrhundert an: diejenige für den abwesenden Herrscher und diejenige für den minderjährigen Sohn. Sie analysiert auf dieser Basis Entscheidungs- und Handlungsspielräume der beiden sächsischen Fürstinnen. Mit den Beiträgen von Julia Becker und Cristina Andenna wird der Fokus von Mittel- nach Südeuropa verschoben. Die Regentschaft der Gräfin Adelasia von Kalabrien und Sizilien für ihren minderjährigen Sohn, den späteren König Roger II., zu Beginn des 12. Jahrhunderts untersucht Julia Becker ebenfalls mit der Frage nach Handlungsspielräumen und den die Herrschaftspraxis begünstigenden Faktoren, wie die personelle Kontinuität im Umfeld der Herrscherin. In der

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wechselvollen Geschichte des Königreichs Sizilien-Neapel am Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter markiert der vom Papsttum gelenkte Übergang der Herrschaft auf die Anjou einen besonders markanten Einschnitt, der sich auch in neuen Formen weiblicher Stellvertretung äußerte. Cristina Andenna beleuchtet die Stellung der ersten angevinischen Königinnen als Vikarinnen, die einen inte­ gralen Bestandteil eines auf Stabilisierung aller Teile des transmarinen Reiches ausgerichteten Herrschaftssystems bildeten. Dass die Königinnen an den Rändern des lateinischen Europas auch aufgrund ihrer exponierten Grenzlage zum arabisch-islamischen Kultur- und Herrschaftsraum stärker in die aktive Herrschaftsausübung zu Lebzeiten ihrer Männer einbezogen wurden oder selbst die Initiative ergriffen, verdeutlichen die Beiträge von Sebastian Roebert und Eric Böhme. Die besondere Stellung der Herrscherinnen in den iberischen Reichen betont Sebastian Roebert am Beispiel der Statthalterschaft in der Krone Aragón als einer institutionalisierten Form reginaler Regierungsbeteiligung bei Abwesenheit oder Verhinderung der Herrscher im 14. und 15. Jahrhundert. Dabei richtet er sein Augenmerk besonders auf den Prozess der mehr oder minder formalisierten Ernennungen. Gänzlich anders gelagert präsentiert sich der von Eric Böhme behandelte Fall der Agnes von Courtenay. Niemals zur Königin gekrönt, behauptete sie sich gleichwohl durch ihren Status als Mutter König Balduins IV. von Jerusalem kraft ihres Selbstverständnisses und ihrer personellen Beziehungen in dem von Rivalitäten geprägten Königshof in Outremer im ausgehenden 12. Jahrhundert. Konzise Einblicke in die verschiedenen, stark von spezifischen Nachfolgeregelungen geprägten Regentschaftsformen von Fürstinnen im lateinisch und orthodox geprägten Osteuropa bieten abschließend die Beiträge von Julia Burkhardt und Maike Sach. Mit dem Selbstverständnis und der Herrschaftspraxis polnischer und schlesischer Regentinnen im 13. Jahrhundert befasst sich Julia Burkhardt vor allem anhand der Sukzessionsordnungen. Maike Sach erläutert die begünstigende Wirkung der Durchsetzung der Primogenitur gegenüber dem gewohnheitsrechtlichen Seniorat für die Anerkennung von Witwen beziehungsweise Müttern als Regentinnen am Beispiel der Moskauer Großfürstin Sofija Vitovtovna am Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert. Beide Autorinnen demonstrieren eindrucksvoll, dass in den von der Forschung häufig vernachlässigten osteuropäischen Reichen informelle und institutionalisierte Formen weiblicher Regentschaft ebenso häufig anzutreffen sind wie in den weit besser erforschten Reichen West-, Mittel- und Südeuropas. Auch wenn die hier präsentierten neun Beiträge nur einen begrenzten Ausschnitt möglicher Forschungen zu Regentschaften von Königinnen und Fürstinnen bieten können, lassen sie keinen Zweifel daran, dass es sich um eine äußerst probate Form von Stellvertretung in den verschiedenen, gleichwohl durchweg monarchisch geprägten Herrschaftssystemen im mittelalterlichen Europa handelte.

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Abstract The medieval world knows a remarkable variety of legal – formalized or customary – figures through which women could represent husbands or sons, regardless of status and milieu. In this variety, female regency is only one option, but a particularly important one, since it marks the transition of rulership often prone to crisis. Thus, the aim of this volume is to examine various forms of female regency in a synchronic and diachronic perspective focussing on similarities and differences prevalent in theory and practice. Special attention is paid to the border regions of Europe with their different legal and social conditions: beside the Holy Roman Empire, the kingdoms of Sicily, Aragon and Jerusalem as well as the Duchy of Silesia and the Grand Duchy of Moscow.

Anne Foerster Regierende Herrscherwitwen und das Risiko eines fremden Herrschers Zum Verhältnis von Dynastie und Geschlecht Situationen, in denen Herrscherwitwen nach dem Tod ihres Gemahls als Regen­ tinnen für ihre minderjährigen Söhne agierten, erfüllten die Zeitgenossen oft mit Unbehagen. Herrschaft war als Form der Machtausübung gewöhnlich männlich konnotiert,1 was sich etwa daran zeigt, dass ihre Ausübung durch eine weibliche Person meist einen Kommentar hervorrief, der die Frage nach deren Eignung the­ matisierte. Diese war demnach grundsätzlich erklärungsbedürftig. Begründungen dafür, dass die Frau, um die es jeweils ging, in der Lage war, die herrscherlichen Aufgaben zu erfüllen, fanden die Chronisten – wenn sie sie finden wollten. Sie bestanden etwa in einer Vermännlichung der Herrscherinnen in der Erzählung, in einer Reduzierung ihrer Geschlechtlichkeit oder einfach in dem Hinweis, dass ihr das weibliche Geschlecht nicht im Weg stand.2 Es ist angesichts solcher Rechtfertigungsstrategien und Erklärungen davon aus­ zugehen, dass das Geschlecht nicht der alleinige Grund für das Unbehagen bei mütterlichen Regentschaften gewesen sein kann. Auf der Suche nach weiteren Gründen soll hier auf Fragen von Monarchie und dynastischen Prinzipien auf der einen und den Ansprüchen der Großen des Reichs auf der anderen Seite fokus­ siert werden, wobei der Faktor „Geschlecht“ nicht ausgeblendet werden kann und soll. Der Aufsatz wählt also die Perspektive von außen auf die Regentschaft von Frauen. Ziel ist es, die Sorgen und Einwände aufzugreifen, die mittelalterliche Autoren notierten, und zu klären, was zu Kritik an Regentinnen führte und wa­ rum. Die These lautet, dass die Skepsis gegenüber verwitweten Stellvertreterinnen auch darin begründet lag, dass die Fehlstelle in der dynastischen Trias aus König, Königin und Nachfolger ein Einfallstor für Außenstehende bot und das dynasti­

1  Joan

W. Scott: Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: AHR 91 (1986), S. 1053– 1075, hier: S. 1070–1074; Pierre Bourdieu: La domination masculine. Paris 1998. 2  Vgl. dazu etwa Anne Foerster: Gender and Authority – The Entanglement of Two Concepts in High Medieval Historiography. In: Andrea Stieldorf u. a. (Hg.): Geschlecht macht Herrschaft – Interdisziplinäre Studien zu vormoderner Macht und Herrschaft / Gender Power Sovereignty – Interdisciplinary Studies on Premodern Power. Göttingen 2021, S. 341–365. https://doi.org/10.1515/9783111071879-002

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sche Prinzip sowie damit verbundene Herrschaftsmechanismen gefährdete. Mit dem im Titel angesprochenen „fremden Herrscher“ ist daher nicht in erster Linie eine reichsfremde, sondern vor allem auch eine dynastiefremde Person gemeint.

Monarchische Herrschaft und königliche Familie Die Monarchie im europäischen Mittelalter war keine „One-Man-Show“. Der König herrschte kooperativ und komplementär mit seiner Familie und den Fürs­ ten des Reichs. Das Königtum war eine aus vielen Gliedern zusammengesetzte Institution, die sich um eine Familie gruppierte.3 Die Mitglieder dieser Familie – im Kern der König, seine Gattin sowie der Thronfolger – waren demnach von zentraler, aber jeweils unterschiedlicher Bedeutung für die Herrschaft.4 Und so gefährdete der Tod einer dieser drei Personen die Beständigkeit der königlichen Familie, die Beständigkeit der Dynastie, in unterschiedlicher Weise: War die Kö­ nigin kinderlos verstorben, konnte der König erneut heiraten, um einen legitimen Nachfolger zu zeugen. Gab es bereits Söhne, gefährdete er mit der neuen Verbin­ dung deren Stellung und riskierte Rivalitäten innerhalb der Familie. Dennoch hei­ rateten auch Könige mit Nachfolgern erneut.5 Den Tod oder das Ausbleiben eines Nachfolgers empfanden die Zeitgenossen als höchst problematisch. So beklagte etwa Thietmar von Merseburg angesichts der Kinderlosigkeit Heinrichs II. und seiner Gemahlin Kunigunde das Schicksal von Völkern, „denen keine Hoffnung verbleibt auf die Nachfolge eines Sprosses ihrer Herren in der Herrschaft“, denn ihnen drohe Fremdherrschaft und damit „Unterdrückung und große Gefahr für die Freiheit“.6 Starb der König und hinterließ einen minderjährigen Nachfolger, der noch zu jung war, um die Herrschaft übernehmen, heiraten und selbst einen 3  Steffen Patzold: Der König als Alleinherrscher? Ein Versuch über die Möglichkeit der Monar­ chie im Frühmittelalter. In: Stefan Rebenich (Hg.): Monarchische Herrschaft im Altertum. Ber­ lin/Boston 2017, S. 605–635, hier: S. 623–627; Raphaela Averkorn: Das Arbeitspaar als Regelfall. Hochadlige Frauen in den Außenbeziehungen iberischer Frontier-Gesellschaften des Spätmittel­ alters. In: Corina Bastian u. a. (Hg.): Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 15– 32; Theresa Earenfight: Queenship in Medieval Europe. Basingstoke 2013, S. 25; dies.: Without the Persona of the Prince: Kings, Queens and the Idea of Monarchy in Late Medieval Europe. In: Gender & History 19 (2007) 1, S. 1–21, hier: S. 8 f.; zusammenfassend Sebastian Roebert: Die Kö­ nigin im Zentrum der Macht. Reginale Herrschaft in der Krone Aragón am Beispiel Eleonores von Sizilien (1349–1375). Berlin/Boston 2020, S. 17–23. 4  Earenfight: Queenship (wie Anm. 3), S. 25. 5  Dass die Nachfolgeproblematik auch bei verwitweten Herrschern nicht die einzige Motivation für zweite Ehen war, zeigt das DFG-Projekt „Zwischen dynastischer Räson und persönlicher Motivation: Fürstliche Witwer und ihre Handlungsspielräume im spätmittelalterlichen Reich (1250–1550)“. Siehe den gleichnamigen Beitrag von Laura Potzuweit in: Mitteilungen der Resi­ denzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen NF 8 (2019), S. 121–128. 6 Thietmar von Merseburg, Chronicon. Hg. von Robert Holtzmann (MGH Scriptores rerum Germanicarum N.S. 9). Berlin 1935, I, 19, S. 24–26; Übersetzung: Thietmar von Merseburg, Chronik. Hg. von Werner Trillmich. Darmstadt 1957, S. 23.

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Nachfolger zeugen zu können, verblieb eine Leerstelle in der Trias an der Seite der Königinmutter. Auch sie konnte wieder heiraten. Das jedoch geschah in sol­ chen Fällen eher selten. Welche Implikationen sich für die königliche Trias erga­ ben, wenn sie es tat und was, wenn nicht, soll im Folgenden für das römischdeutsche Reich, England und Frankreich beleuchtet werden. Die Bedeutung des weiblichen Geschlechts in solchen Konstellationen wird anschließend durch einen kontrastierenden Blick nach Jerusalem, insbesondere auf die Regentschaft des Kö­ niginwitwers Johann von Brienne für seine minderjährige Tochter, aufgezeigt.

Mütterliche Regentschaften – wer, wann, wie oder warum nicht? Der Tod eines Königs, bevor sein Sohn die Volljährigkeit erreichte, war nicht der Regelfall und so ergab sich oft gar nicht die Notwendigkeit für die Herrscher­ witwe, die Regentschaft für einen minderjährigen Sohn zu übernehmen. Im ­römisch-deutschen Reich waren, nach der ottonischen Kaiserin Theophanu, im Hochmittelalter Agnes von Poitou, Konstanze von Sizilien sowie Elisabeth von Bayern, Görz und Tirol in dieser Situation, wobei nur Agnes tatsächlich als Re­ gentin für Heinrich IV. im römisch-deutschen Reich fungierte. Agnes hatte zu Lebzeiten Heinrichs III. regen Anteil an dessen Regierung ge­ habt.7 Es gibt einige Hinweise darauf, dass er ihr in Absprache mit seinen Großen die Regentschaft für den minderjährigen Sohn aufgetragen haben könnte.8 Diese cura regni wird bei den Chronisten nicht nur aus Agnes’ Mutterrolle abgeleitet, sondern auch aus der als Kaiserin.9 Nach Lampert von Hersfeld verblieben ­(remansit) die höchsten Angelegenheiten (summa rerum) und die Verwaltung (administratio) gar in ihren Händen – möglicherweise ein Verweis auf Agnes’ Beteili­ gung an der Regierung Heinrichs III.10 Nicht zuletzt spricht auch das in einem Schreiben Papst Gregors VII. erwähnte, der Kaiserin von den Großen eingeräum­ te Mitspracherecht bei der Thronfolge, sollte Heinrich IV. vorzeitig sterben, dafür, die Regentschaft nicht primär aus der Mutterrolle abzuleiten.11  7 

Amalie Fößel: Die Königin im mittelalterlichen Reich. Stuttgart 2000, S. 125; Mechthild BlackVeltrup: Agnes von Poitou. In: Amalie Fößel (Hg.): Die Kaiserinnen des Mittelalters. Regensburg 2011, S. 122–146, hier: S. 125–131.   8  Fößel: Königin (wie Anm. 7), S. 177, S. 332  f.  9  Brunos Buch vom Sachsenkrieg. Hg. von Hans-Eberhard Lohmann (MGH deutsches Mittel­ alter 2). Leipzig 1937, c. 1, S. 13; Die Weltchronik Frutolfs von Michelsberg. Hg. von Martina Hartmann und Benedikt Marxreiter (MGH Scriptores 31,1). Digitale Vorabedition 2021, online zu­gänglich unter: https://www.mgh.de/storage/app/media/Die%20MGH%20amm/FrutolfChronik_SS_Vorabedition_Hartmann-Marxreiter_Satzlauf_2021-01-28T0854.pdf (letzter Zugriff am 28. 12. 2021), S. 24, a. a. 1057. 10 Lamperti monachi Hersfeldensis opera [im Folgenden: Lampert von Hersfeld, Opera]. Hg. von Oswald Holder-Egger (MGH Scriptores rerum Germanicarum 38). Hannover/Leipzig 1894, S. 69, a. a.  1056. 11  Das Register Gregors VII. Bd. 1. Hg. von Erich Casper (MGH Epistulae selectae 2,1). Berlin 1920, IV, 3, S. 299; vgl. dazu ausführlicher Fößel: Königin (wie Anm. 7), S. 333 f.

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Konstanze von Sizilien konzentrierte sich in ihrem letzten Lebensjahr, das ihr nach dem Tod Heinrichs VI. noch blieb, nicht auf die Ansprüche ihres Sohnes Friedrich auf das römisch-deutsche Reich, sondern auf ihre eigenen Ansprüche und die ihres Sohnes im Königreich Sizilien.12 Dort hatte sie, anders als nördlich der Alpen, wo sie kaum in Erscheinung getreten war, bereits Regierungserfahrung gesammelt. Aus ihrer vermehrten Urkundenausstellung während der Abwesen­ heit ihres Gatten zwischen Ostern 1195 und dem Frühjahr 1197 lässt sich schlie­ ßen, dass sie mit einem Beratergremium als Stellvertreterin agierte. Eine formelle Ernennung ist nicht belegt. Ihre Urkunden kennzeichnen sie sowohl für diese Zeit als auch für die nach Heinrichs Tod als Königin, nicht als Stellvertreterin.13 Elisabeth von Bayern, Görz und Tirol hatte dagegen keinerlei Regierungserfah­ rung als sie nach knapp achtjähriger Ehe mit Konrad IV. zur Witwe wurde. Kon­ rad war im Jahr nach dem Tod seines Vaters, Friedrichs II., ohne seine schwangere Gattin nach Sizilien gezogen, um dort seine Herrschaftsansprüche durchzusetzen. Die Stellvertretung für die Angelegenheiten des Reichs übertrug er Elisabeths Va­ ter, Otto II. von Bayern. Bevor Konrad am 21. Mai 1254 im Heerlager in Lavallo starb, ohne den Sohn, den Elisabeth ihm geboren hatte, gesehen und auch ohne seine Ansprüche im römisch-deutschen Reich oder die auf das Königreich Jerusa­ lem, die er über seine Mutter, Isabella von Montferrat, hatte, durchgesetzt zu ha­ ben, übertrug er die Regentschaft Markgraf Berthold von Hohenburg. Elisabeth billigte man nur die Erziehung ihres Sohnes Konradin zu, die Vormundschaft übernahm ihr Bruder Ludwig II. von Bayern.14 In Frankreich trat die Konstellation für die Regentschaft einer Herrscherwitwe für einen minderjährigen Sohn im Zeitraum zwischen 1000 und 1250 zweimal auf: zunächst bei Anna von Kiew, die 1060 die Vormundschaft für ihren Sohn ­Philipp I. übernahm, später bei Blanka von Kastilien, der Mutter Ludwigs IX. des Heiligen. Sie nahm diese Rolle gleich zweimal ein: von 1226 bis 1235 als Regentin für den noch minderjährigen Sohn und von 1248 bis zu ihrem Tod 1252, als ­Ludwig sich auf dem Kreuzzug befand.15 Beiden ist aufgrund ihrer geringen Sichtbarkeit in den Urkunden ihrer Gatten zu Unrecht wenig Einfluss nachgesagt worden. Neuere Studien weisen jedoch ihre aktive Beteiligung an der Herrschaft nach.16 12  Tobias Weller: Konstanze von Sizilien. In: Fößel (Hg.): Kaiserinnen (wie Anm. 7), S. 213–231, hier: S. 226. 13  Theo Kölzer: Kaiserin Konstanze, Gemahlin Heinrichs VI. In: Gesellschaft für staufische Ge­ schichte e.V. (Hg.): Frauen der Staufer. Göppingen 2006, S. 59–73, hier: S. 68; ders.: Urkunden und Kanzlei der Kaiserin Konstanze, Königin von Sizilien (1195–1198). Köln u. a. 1983, S. 18–30. 14  Elke Goez: Elisabeth von Bayern, Gemahlin Konrads IV. und Meinhards II. von Görz-Tirol. In: Gesellschaft für staufische Geschichte e.V. (Hg.): Frauen (wie Anm. 13), S. 151–170, hier: S. 152 f. 15  Emily Joan Ward: Anne of Kiev (c. 1024–c. 1075) and a Reassessment of Maternal Power in the Minority Kingship of Philip I of France. In: Historical Research 89 (2016) 245, S. 1–19, hier: S. 2; Lindy Grant: Blanche of Castile. Queen of France. New Haven/London 2016, S. 78–105, S. 131– 145. 16  Miriam Shadis: Blanche of Castile and Facinger’s „Medieval Queenship“. Reassessing the Ar­ gument. In: Kathleen Nolan (Hg.): Capetian Women. New York u. a. 2003, S. 137–161, hier:

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In England gab es im gesamten Hochmittelalter nur einen einzigen Fall eines minderjährigen Thronerben. Heinrich III. war beim Tod seines Vaters Johann Ohneland neun Jahre alt. Die Regierung übernahm ein Regentschaftsrat, sodass Johanns Witwe Isabella von Angoulême es nicht vermochte, eine zentrale Rolle am englischen Hof einzunehmen. Isabella hatte bereits als Gattin keinen Anteil an der Regierung gehabt und hatte daher weder Erfahrungen sammeln noch ein Netzwerk aufbauen können.17 Diese Faktoren dürften jedoch für die Übernahme einer Regentschaft eine bedeutende Rolle gespielt haben.

Wiederheiraten bei potenziellen Regentinnen Von den genannten sechs Königinnen heirateten drei erneut: Elisabeth von Bay­ ern, Görz und Tirol sowie Isabella von Angoulême, die keine Regentinnen waren, und Anna von Kiew, die an der Minderjährigkeitsregierung ihres Sohnes zumin­ dest beteiligt war.18 Die Motive für die zweite Eheschließung können jeweils nur vermutet werden. Denkbar wäre, dass eine Wiederverheiratung für Herrscherwit­ wen dann attraktiv war, wenn sich keine andere Möglichkeit der ökonomischen und sozialen Absicherung bot.19 Von Adelheid von Maurienne, der Witwe Lud­ wigs VI. und Mutter des erwachsenen Thronfolgers Ludwig VII., wird vermutet, sie sei die neue Ehe eingegangen, um über ihren neuen Gatten ­einen Platz im Machtzentrum zu behalten.20 Auch bei Elisabeth und Isabella sind ihre Wieder­ heiraten eher als Reaktion auf den schwindenden respektive nicht vorhandenen

S. 142–161; Grant: Blanche (wie Anm. 15), S. 61–77; Ward: Anne (wie Anm. 15), S. 5 f. Adela von der Champagne, die im Auftrag ihres erwachsenen Sohnes, Philipps II. Augustus, während des­ sen kreuzzugsbedingter Abwesenheit gemeinsam mit ihrem Bruder die Regierungsgeschäfte für ihren minderjährigen Enkel führte, befand sich in einer ganz anderen Konstellation und wird deshalb nicht berücksichtigt. 17  Nicholas Vincent: Isabella of Angoulême: John’s Jezebel. In: Stephen D. Church (Hg.): King John. New Interpretations. Woodbridge 1999, S. 165–219, hier: S. 199–206; Louise J. Wilkinson: Maternal Abandonment and Surrogate Caregivers: Isabella of Angoulême and her Children by King John. In: Carey Fleiner/Elena Woodacre (Hg.): Virtuous or Villainess? The Image of the Royal Mother from the Early Medieval to the Early Modern Era. New York 2016, S. 101–124, hier: S. 106–111; Anne Foerster: Die Witwe des Königs. Zu Vorstellung, Anspruch und Perfor­ manz im englischen und deutschen Hochmittelalter. Ostfildern 2018, S. 164, S. 239, S. 264 f. 18  Robert-Henri Bautier: Anne de Kiev, Reine de France et la politique royal au XIe siècle. Étude critique de la documentation. In: Revue des études de slaves 57 (1985), S. 539–564, hier: S. 552– 560, vermutet einen völligen Ausschluss vom Hof; ebenso Wladimir V. Bogomoletz: Anna of Kiev. An Enigmatic Capetian Queen of the Eleventh Century. A Reassessment of Biographical Sources. In: French History 19 (2005) 3, S. 299–323; anders: Ward: Anne (wie Anm. 15). 19 Elisabeth van Houts: Married Life in the Middle Ages, 900–1300. Oxford 2019, S. 145–148; Anne Foerster: Die Witwenschaft kinderloser Königinnen im Hochmittelalter. In: Das Mit­ telalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 26 (2021) 2, S. 393–411, hier: S. 398–400. 20  Lois L. Huneycutt: The Creation of a Crone: The Historical Reputation of Adelaide of Mau­ rienne. In: Nolan (Hg.): Capetian Women (wie Anm. 16), S. 27–43, hier: S. 35.

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Einfluss auf die Vormundschaftsregierung zu lesen.21 Isabella zumindest gewann durch die Verbindung mit Graf Hugo X. von Lusignan beachtliches politisches Gewicht. Die Ehe war ein Skandal: Es handelte sich bei Hugo nicht nur um den Verlobten ihrer Tochter, zudem bildete sich durch die Verbindung ein der engli­ schen Krone gefährlicher Machtblock.22 Zeitgenössische Schreiber kritisierten die mangelnde Loyalität der Mutter gegenüber dem Sohn und dessen Reich.23 Anna hingegen war nach dem Tod Heinrichs I. von Frankreich und der Thron­ besteigung ihres achtjährigen Sohns, Philipps I., an der Regierung beteiligt.24 Die eigentliche Regent- und Vormundschaft schreibt die Historiografie Balduin V. von Flandern, dem Gatten der Schwester Heinrichs I., zu. Besonders die aus ­Flandern stammenden Annalen betonen die Bedeutung „ihres“ Grafen, den sie als regni Francorum magistratus respektive als interrex bezeichnen.25 Die späteren anglo-normannischen Chronisten verstehen ihn gar als von Heinrich auf dem Sterbebett als Vormund eingesetzten Regenten.26 Diese Auffassung lässt sich zwar nicht durch zeitgenössische Dokumente bestätigen, die späteren Ausführungen zu (vermeintlichen) Bestimmungen vor dem Tod des Herrschers zeigen aber, dass man einer formellen Regelung der Regentschaft einige Bedeutung beimaß. Die Urkunden dieser Zeit weisen deutlich auf den Einfluss der Königinmutter zumindest während der ersten zwei Jahre der Minderjährigkeit Philipps hin. Von 13 Urkunden erwähnen 11 die Beteiligung der Königinmutter.27 Eine führt die Seelen von Mutter und Sohn unter denen der dominorum nostrorum piissimorum regum auf.28 Die Regierungsbefähigung der hier Agnes genannten Anna scheint somit nicht nur aus ihrer Rolle als Mutter, sondern auch aus der als Königin abge­

21  Goez: Elisabeth (wie Anm. 14), S. 154  f.; Wilkinson: Abandonment (wie Anm. 17), S. 108–112; Vincent: Isabella (wie Anm. 17), S. 166 f.; Foerster: Witwe (wie Anm. 17), S. 199–202. 22  Er bestand unter anderem aus den Grafschaften von Angoulême, Lusignan und La Marche; Isabellas verstorbener Gemahl hatte ihn 1200 gerade noch verhindern können, indem er Isabella ihrem Verlobten Hugo IX. von Lusignan, dem Vater ihres nun neuen Gatten, vor der Nase wegschnappte. Vgl. Wilkinson: Abandonment (wie Anm. 17), S. 112 f.; Vincent: Isabella (wie ­ Anm. 17), S. 198–210. 23 Matthäus Parisiensis, Flores Historiarum. Bd. 2. Hg. von Henry R. Luard. London 1890, S. 251–254; ders., Chronica majora. Bd. 4. Hg. von Henry R. Luard. London 1877, S. 205, S. 210 f., S. 214–217; vgl. Foerster: Witwe (wie Anm. 17), S. 117 f. 24  Hierzu und zum Folgenden Ward: Anne (wie Anm. 15), S. 7–12. 25  Annales Blandiniensis. In: Les Annales de Saint-Pierre de Gand et de Saint-Amand. Hg. von Philip Gierson. Brüssel 1937, S. 27, a. a. 1061; Annales Elonenses. In: ebd., S. 157, a. a. 1061. 26  Wilhelm von Poitiers, Gesta Guillelmi. Hg. von R. H. C. Davis und Marjorie Chibnall. Oxford 1998, S. 32 f., behauptet keine Ernennung Balduins. Er bezeichnet dessen für Philipp und dessen Reich übernommene Funktionen mit tutela, dictatura atque administratio (Obhut, Befehlsgewalt und Verwaltung). Erst Hugo von Fleury, Modernorum Regum Francorum Actus. Hg. von Ge­ org H. Pertz (MGH Scriptores 9). Hannover 1851, S. 389, formulierte, Heinrich habe seinen min­ derjährigen Sohn dem Vormund Balduin überlassen (relinquens filio suo regi Philippo nundum adulto tutorem […] Balduinum). 27  Maurice Prou (Hg.): Recueil des actes de Philippe Ier. Paris 1908, Nr. 2–14. 28 Ebd., Nr. 6, S. 20: „unsere frömmsten Herren Könige, das heißt Philipp und seine Mutter ­Agnes“.

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leitet, sodass es nicht verwundert, Begriffe der Vormundschaft weniger häufig zu lesen als bei Balduin. In einer weiteren Urkunde verweist Philipp aber auf seine Mutter in quorum tutela et nos et regnum nostrum esse decebat und betont so ihre Stellung als Vormund.29 Als noch recht junge Witwe – sie war zwischen 28 und 36 Jahre alt – heiratete Anna von Kiew Graf Rudolf III. von Valois. Dieser verstieß dazu seine bisherige Ehefrau unter dem Vorwand der Untreue. In einem Schreiben an Papst Alexan­ der II. beklagt Erzbischof Gervasius von Reims dieses Vorgehen und betont, den König schmerze die Verbindung zwischen seiner Mutter und dem Grafen – ob grundsätzlich oder wegen der unkanonischen Konstellation, muss offenbleiben.30 Rudolf verfügte über einen beachtlichen Herrschaftskomplex. Er hatte schon vor der Verbindung mit Anna enge Kontakte an den Hof gepflegt, aber auch einst ge­ gen Heinrich rebelliert. Es ist also denkbar, dass Anna mit der Eheschließung be­ zweckte, ihrem Sohn die Loyalität dieses Magnaten zu sichern.31 Die Motive für die Heirat auf Annas Seite sind aber ebenso unklar wie die genaue Datierung der­ selben. Die Briefkorrespondenz des Erzbischofs von Reims in dieser Angelegen­ heit deutet darauf hin, dass die Ehe Anfang 1062 geschlossen wurde.32 In der Zeit zwischen ungefähr 1062 und 1065 verschwindet Anna fast vollständig aus den ­Urkunden ihres Sohnes, in denen sie zuvor sehr präsent gewesen war. Auch ihr neuer Gemahl, der vor 1062 die diplomatischen Dokumente Philipps bezeugte, erscheint erst ab 1065 wieder regelmäßig in den Zeugenlisten.33 Nahm man Anna ihren Einfluss wegen ihrer zweiten Ehe? Befürchtete man, sie könnte die Wün­ sche ihres neuen Gemahls höherstellen als ihre Verantwortung gegenüber ihrem Sohn und dessen Reich? Eindeutig ist der Befund nicht, denn zum einen sind die Datierungen der Urkunden umstritten und zum anderen sind der Zeit zwischen Ende 1061 und Anfang 1065 ohnehin nur wenige Urkunden sicher zuzuordnen. Nichtsdestotrotz kommt auch Emily Ward, die Anna aus dem Schatten des männ­ lichen Regenten Balduin holen möchte, zu dem Schluss, dass sich deren Einfluss nach 1062 deutlich verringerte.34 In allen drei Fällen, bei Elisabeth, Isabella und Anna, scheint es weniger die Wiederheirat an sich, als vielmehr die Wahl des zweiten Gemahls gewesen zu sein, 29  Ebd., Nr. 13, S. 40: „in deren Obhut sowohl wir als auch unser Reich uns zu befinden gezie­ men“. 30  Gervasii Remorum Archiepiscopi Epistolæ. Hg. von Léopold Delisle. In: RHGF. Bd. 11. Paris 1876, S. 498–500. 31  Ward: Anne (wie Anm. 15), S. 16. 32  Ebd., S. 13  f. Bautier: Anne (wie Anm. 18), S. 556, vermutet auf der Grundlage einer abwei­ chenden Datierung eines Briefs, sie sei bereits im Jahr nach Heinrichs Tod angebahnt worden. Die Forschung bewertete den Schritt in die zweite Ehe lange als ungebührlich hastig, wobei die Erwähnung der Todesnachricht und der Wiederheirat in einem Satz in einer fast 50 Jahre später verfassten Chronik nicht viel über die Zeitspanne dazwischen aussagt. 33 Prou (Hg.): Recueil (wie Anm. 27), Nr. 2, Nr. 3, Nr. 8–10, nach 1065: Nr. 19, Nr. 21, Nr. 23, Nr. 27, Nr. 29, Nr. 32; vgl. Ward: Anne (wie Anm. 15), S. 15; Bogomoletz: Anna (wie Anm. 18), S. 316. 34  Ward: Anne (wie Anm. 15), S. 13, S. 16.

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die Kritik hervorrief:35 wegen der Rangminderung,36 wegen der unkanonischen Ehe, wegen der politischen Implikationen. Allerdings hatte die Eheschließung ei­ ner adligen Dame, noch dazu einer Herrscherwitwe und -mutter, immer politi­ sche Implikationen.

Die legitimierende Wirkung der Herrscherwitwe Problematisch war nicht nur der Rangverlust der Königinmutter durch eine nie­ derrangige Ehe, sondern auch die Rangerhöhung des zweiten Gemahls. Diese zeigt sich etwa darin, dass der Geschichtsschreiber Guibert von Nogent die Groß­ artigkeit Rudolfs von Valois mit dem Hinweis darauf, dieser habe die Witwe Heinrichs I. von Frankreich, die Mutter des aktuellen Königs Philipp, geheiratet, zur Genüge und für sein Publikum verständlich belegt zu haben meinte.37 Die hinterbliebene Gattin des Königs war durch die Ehe mit diesem und/oder durch ihre Krönung und Weihe zur Königin selbst von königlicher Würde erfüllt, wes­ halb sie in manchen Fällen die Legitimation zur Herrschaft symbolisch weiter­ reichen konnte – in einem einmaligen Akt, wie Wipo dies etwa für Kunigunde von Luxemburg bei Konrad II. vermerkt, oder durch eine Eheschließung mit dem Thronanwärter,38 was im früheren Mittelalter mitunter dazu geführt hatte, dass nachfolgewillige Königssöhne ihre Stiefmutter heirateten, um ihren Anspruch ab­ zusichern.39 Im hochmittelalterlichen Nordwesteuropa gab es – anders als bei­ spielsweise in Byzanz, wo die Ehe der Kaiserwitwe und mütterlichen Regentin Eudokia Makrembolitissa mit ihrem zweiten Gemahl Romanos Diogenes, jenen auf den Thron brachte – keinen Fall, in dem die Ehe mit der hinterbliebenen 35 

Foerster: Witwe (wie Anm. 17), S. 115–119. Zusammenhang mit Elisabeths Eheschließung gibt es zahlreiche in der älteren Forschung vertretene, aber nicht durch zeitgenössische Quellen belegbare Behauptungen: So soll Konradin gegen diese niederrangige Verbindung gewesen sein. Elisabeths Brüder sollen Meinhard gedrängt haben, vor der Heirat wenigstens den Ritterschlag zu empfangen. Andere meinen, Elisabeth selbst hätte ihrem Gatten die ehelichen Rechte verwehrt, bis er sich zum Ritter schlagen ließ; vgl. Regesta Imperii V. Jüngere Staufer 1198–1272. Bd. 1. Teil 2: Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV., Friedrich II., Heinrich  (VII.), Conrad IV., Heinrich Raspe, Wilhelm und ­Richard 1198–1272 [im Folgenden: RI V, 1, 2]. Neubearb. von Julius Ficker. Innsbruck 1882, hier: RI V, 1, 2, n.  5567a, online zugänglich unter: http://www.regesta-imperii.de/id/1259-1006_1_0_5_1_2_2671_5567a (letzter Zugriff am 28. 12. 2021); Hermann Wiesflecker: Meinhard der Zweite: Tirol, Kärnten und ihre Nachbarländer am Ende des 13. Jahrhunderts. Innsbruck 1995, S. 39; Goez: Elisabeth (wie Anm. 14), S. 154. In anderen Fällen, etwa bei Isabella von Angoulême, Mathilde von England und Maria von Brabant, ist das ehrverletzende Potenzial einer niederran­ gigen zweiten Ehe durchaus zeitgenössisch belegt; vgl. Foerster: Witwe (wie Anm. 17), S. 251 f.; Foerster: Witwenschaft (wie Anm. 19), S. 398–400. 37  Guibert de Nogent: Autobiographie. Hg. von Edmond-René Labande. Paris 1981, S. 60. 38 Zur herrschaftslegitimierenden Funktion der Herrscherwitwe vgl. Foerster: Witwe (wie Anm. 17), S. 69–75. 39  Brigitte Kasten: Noverca venefica. Zum bösen Ruf der Stiefmutter in der gallischen und frän­ kischen Gesellschaft. In: FMSt 35 (2001), S. 145–181, hier: S. 148 f., S. 157–159. 36  Im

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­Gattin des Königs zur Herrschaftslegitimation ausgereicht hätte.40 Aber Emma von der Normandie, die Witwe des angelsächsischen Königs Æthelreds des Unbe­ ratenen und Mutter von dessen jüngeren Söhnen, Alfred und Eduard (der spätere Bekenner), heiratete, nachdem ihr Gatte 1016 während der Belagerung von Lon­ don verstorben war, den Belagerer und Eroberer von England, Knut den Großen, was diesem zusätzlich Legitimität verschaffte. Ein Chronist des 12. Jahrhunderts, Wilhelm von Malmesbury, bewertet das als Illoyalität Emmas gegenüber dem ­verstorbenen Gemahl und ihren Söhnen,41 deren Thronanspruch sie weder gegen deren älteren Halbbruder, noch gegen den Eroberer verteidigte.42 Ob als neuer König oder nur als Gatte – der Mann an der Seite der Königin konnte durch sie Prestige gewinnen, sich Zugang zur Macht verschaffen, rief ­dabei aber auch Neider auf den Plan, die ihm seinen Einfluss missgönnten und aufseiten der Königinmutter Loyalitätskonflikte gegenüber Sohn und Reich res­ pektive die Bevorzugung des neuen Gemahls fürchteten. Dafür brauchte es aber nicht einmal eine Ehe, wie die nächsten beiden Fälle zeigen.

Gerüchte um alleinstehende Regentinnen Agnes von Poitou und Blanka von Kastilien agierten mehrere Jahre als Regentin­ nen für ihre minderjährigen Söhne. Sie heirateten nicht wieder. Stattdessen wur­ den sie Opfer von Gerüchten, die ihnen in der Phase der Regentschaft unkeusche Beziehungen zu ihren engsten Ratgebern nachsagten. Agnes hatte während ihrer dreizehnjährigen Ehe mit dem Salierkaiser Hein­ rich III. großen Anteil an den Regierungsgeschäften. Als 1056 ihr Gemahl starb und ihm der knapp sechsjährige Heinrich als vierter dieses Namens auf den Thron folgte, konnte die etwa 31-Jährige also bereits einige Erfahrung in der Lenkung eines Reichs aufweisen. Im November 1061 entsagte die Kaiserinmutter im Rah­ men einer Witwenweihe den weltlichen Angelegenheiten, wohl um eine Lösung für das von ihr mitverschuldete Papstschisma zu begünstigen. Obgleich sie ­weiterhin als Regentin handelte, hatte sie im Zusammenhang mit der Weihe an­ 40  Bei Maria von Alania, die nach der Absetzung ihres kaiserlichen Gatten, Michaels VII. Dou­ kas, dessen Nachfolger Nikephoros III. Botanciates ehelichte und ihn als Nachfolger legitimierte, war dies, wie Dion C. Smythe: Behind the Mask: Empresses and Empire in Middle Byzantium. In: Anne J. Duggan (Hg.): Queens and Queenship in Medieval Europe. Proceedings of a Confer­ ence Held at King’s College London, April 1995. Woodbridge 1997, S. 141–152, hier: S. 147, be­ tont, eher eine zusätzliche Legitimation. 41  Wilhelm von Malmesbury, Gesta regum Anglorum. The History of the English Kings. Bd. 1. Hg. und übersetzt von Roger A. B. Mynors, vervollständigt durch Rodney M. Thomson/Michael Winterbottom. Oxford u. a. 1998, cc. 180.10 f., 181.3, 196.4. Zur Diskussion um den zeitlichen Ablauf siehe Elisabeth van Houts: Cnut and William: A Comparison. In: Laura Ashe/Emi­ ly J. Ward (Hg.): Conquests in Eleventh-Century England: 1016, 1066. Woodbridge 2020, S. 65– 84, hier: S. 78 f. 42  Pauline Stafford: Queens, Concubines and Dowagers. The King’s Wife in the Early Middle Ages. London 1983, S. 157 f.

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scheinend die Befugnisse Bischof Heinrichs von Augsburg erweitert. Beim Staats­ streich von Kaiserswerth im April 1062 wurde dieser entmachtet, Erzbischof Anno von Köln übernahm die Regentschaft und Agnes zog sich zurück, ohne dass ihre Stellung formal angetastet worden wäre. Lampert von Hersfeld, der zu­ nächst Agnes’ Geschick in der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit des Reichs betont hatte,43 berichtet für das Jahr 1062 von großem Unmut bei den Fürsten, der schließlich zu den Ereignissen von Kaiserswerth geführt haben soll. Verärgert seien sie gewesen, weil sie den Eindruck hatten, die Kaiserin würde sich in der Regierung hauptsächlich von Bischof Heinrich beraten lassen. Das wiede­ rum habe den Verdacht aufkommen lassen, die beiden stünden in einem Liebes­ verhältnis, denn anders hätte man sich die Vertrautheit der beiden nicht erklären können.44 Man wird nicht so weit gehen müssen zu vermuten, dass der zeitgenös­ sisch schreibende und Anno von Köln nahestehende Lampert das Gerücht selbst in die Welt gesetzt hat. Wahrscheinlich nutzten es die Gegner der Kaiserin, um Stimmung gegen sie zu machen und ihre eigenen Verschwörungsversuche, von ­denen Lampert ebenfalls berichtet, zu legitimieren.45 Die Altaicher Annalen, die durchaus mit Lamperts Annalen in Verbindung stehen könnten,46 kritisieren Agnes für ihren arglosen Umgang mit Ratgebern, unterstellen ihr aber keine ­ ­Unzucht.47 Ein weiterer Hinweis auf Gerede über mangelnde Züchtigkeit der Kaiserinwitwe stammt aus einem Brief des Bamberger Domscholasters Meinhard an seinen Bischof Gunther. Darin beglückwünscht er diesen zu seiner Versöhnung mit Agnes, bezichtigt diese aber der Wankelmütigkeit, warnt vor ihrem weibli­ chen Geschlecht und verweist auf ihre Natur, die Abstammung von ihrer Mutter, die so viele Beischläfer wie Geburtstage gehabt habe.48 Ein ähnliches Echo erzeugte die Regentschaft Blankas von Kastilien für den minderjährigen Ludwig IX. von Frankreich. Ihr sagte man nicht nur ein sexuelles Verhältnis mit ihrem Ratgeber, dem päpstlichen Legaten Romano Frangipani, nach, sondern auch eines mit dem Grafen Theobald IV. von der Champagne, der 43 

Lampert von Hersfeld, Opera (wie Anm. 10), S. 69. Ebd., S. 79 f.: Imperatrix, nutriens adhuc filium suum, regni negocia per se ipsam curabat, utebaturque plurimum consilio Heinrici Augustensis episcopi. Unde nec suspicionem incesti amoris effugere potuit, passim fama iactitante, quod non sine turpi commercio in tantam coaluissent ­familiaritatem. Ea res principes graviter offendebat […]. 45  Matthias Becher: Luxuria, libido und adulterium. Kritik am Herrscher und seiner Gemahlin im Spiegel der zeitgenössischen Historiographie (6. bis 11. Jahrhundert). In: Gerd Althoff (Hg.): Heinrich IV. Ostfildern 2009, S. 41–71, hier: S. 69. 46  Claudia Zey: „Scheidung“ zu Recht? Die Trennungsabsicht Heinrichs IV. im Jahr 1069. In: Hubertus Seibert/Gertrud Thoma (Hg.): Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutionen im Wandel der Zeit. München 2004, S. 163–183, hier: S. 166 f. 47 Annales Altahenses maiores a.  1060. Hg. von Edmund von Oefele (MGH Scriptores re­ rum Germanicarum 4). Hannover 1891, S. 56. 48  Die Hildesheimer Briefe. In: Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV. Hg. von Carl Erdmann und Norbert Fickermann (MGH Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 5). Weimar 1950, Nr. 71, S. 118 f.; vgl. dazu Claudia Zey: Vormünder und Berater Heinrichs IV. im Urteil der Zeitgenossen (1056– 1075). In: Althoff (Hg.): Heinrich (wie Anm. 45), S. 87–126, hier: S. 100–102. 44 

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sie aus Liebe zu ihr überhaupt erst zur Witwe gemacht haben soll, indem er ihren Gemahl König Ludwig vergiftete. Das behaupten die dem französischen König­ tum nicht gerade wohlgesonnenen englischen Geschichtsschreiber Roger von Wendover und Matthäus Parisiensis.49 In Frankreich verbreiteten politische ­Pamphlete und Spielleute ähnliche Gerüchte. In Gedichten aus dem Umfeld der Adelsopposition, namentlich Peters von Dreux, genannt Mauclerc, iure uxoris Herzog der Bretagne, stehen Anschuldigungen gegenüber Theobald von der Champagne und dessen Bevorzugung durch die Königin im Vordergrund. In ih­ nen wird Theobald angeklagt, den König vergiftet zu haben,50 und Blanka wird beschuldigt, ihre Macht nicht zu teilen,51 auf Rat nicht zu hören,52 aber Theobald in unangemessenem Maße zu begünstigen.53 Der Vorwurf einer sexuellen Bezie­ hung zwischen den beiden wird weniger explizit ausgesprochen als bei den engli­ schen Chronisten, sondern lediglich angedeutet: „Seit an Seit, Kopf an Kopf, führen sie Gemeinschaft.“54 Theobald hatte sich, nachdem er an einer Verschwö­ rung gegen Ludwig VIII. im Sommer 1226 beteiligt gewesen war und auf dem Schlachtfeld von Avignon im September 1226 dessen Heer verlassen hatte, nach dem Tod des Königs von der Opposition ab- und Ludwig IX. und dessen Mutter zugewandt. Möglicherweise erklärte man sich diesen Sinneswandel mit einem amourösen Verhältnis zur Königinmutter. Es ist aber auch denkbar, dass man Theobald seinen Einfluss neidete respektive seine Schlagkraft in den eigenen ­Reihen vermisste und der Vorwurf dazu diente, den ehemaligen Verbündeten zu schmähen.55 In beiden Fällen wird deutlich, dass sich die Öffentlichkeiten hauptsächlich an der empfundenen Ungleichbehandlung störten. In Frankreich zur Zeit Blankas hatte diese schon vor dem Tod ihres Gemahls zu gewaltsamen Konflikten geführt. Unabhängig davon, ob die Zeitgenossen wirklich davon ausgingen, dass die Re­ gentin bei Beratungen mit einzelnen Ratgebern Unzucht trieb, oder ob sie solche Gerüchte nutzten, um einen Konkurrenten zu diffamieren und erklären zu kön­ nen, warum dieser (gefühlt oder tatsächlich) mehr Einfluss besaß als sie selbst, handelt es sich um einen Vorwurf, der in der gegebenen Konstellation, in der die Position des erwachsenen Königs an der Seite der Königin unbesetzt war, offen­ 49 Matthäus

Parisiensis, Flores Historiarum. Hg. von Henry R. Luard. Bd. 3. London 1876, S. 118 f., S. 169, S. 196; Matthäus Parisiensis, Flores Historiarum. Hg. von Henry R. Luard. Bd. 4. London 1877, S. 165; Roger von Wendover, Chronica, sive Flores Historiarum. Bd. 4. Hg. von Henry Coxe. London 1842, S. 136, S. 212 f. 50  Recueil de chants historiques français, depuis le XIIe jusqu’au XVIIIe siècle. Bd. 1. Hg. von Antoine Le Roux de Lincy. Paris 1841, Nr. II.4, S. 170. 51  Ebd., Nr. I.3, S. 166. 52  Ebd., Nr. I.4, S. 167. 53  Ebd., Nr. I.3, S. 166 und Nr. III.1, S. 172. 54  Ebd., Nr. II.5, S. 171: Il et elle, lez à lez / le tiengnent de compaignie. 55 Zur Adelsopposition Grant: Blanche (wie Anm. 15), S. 78–93; ausführlicher Sidney Painter: The Scourge of the Clergy. Peter of Dreux, Duke of Brittany. Baltimore 1937, S. 42–48, S. 55–88. Zu Theobalds Rolle in der Verschwörung und nach dem Tod Ludwigs VIII. vgl. Grant: Blanche (wie Anm. 15), S. 76 f. und Painter: Scourge (diese Anm.), S. 39–43.

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bar nahelag. Er findet sich auch in den Quellen zu vergleichbaren Fällen, etwa bei Margarethe von Navarra, die die Regentschaft für den minderjährigen Wilhelm II. den Guten von Sizilien führte. Ihr war ein Beratergremium an die Seite gestellt worden, in dem ihre Begünstigung eines Eunuchen für Konflikte sorgte. Zur Unter­stützung holte sie mit Stephan von Perche einen entfernten Verwandten ins Land und übertrug ihm wichtige Ämter, woraufhin man ihr vorwarf, ein Verhält­ nis mit diesem zu unterhalten.56 Bei Maria von Antiochia war es der Protosebas­ tos Alexios, ein Neffe ihres verstorbenen Gemahls, des byzantinischen Kaisers Manuels I. Komnenos, mit dem sie eine Affäre gehabt haben soll. Manuel hatte seine Großen lange vor seinem Tod verpflichtet, im Fall der Minderjährigkeit ­seines Sohnes bei seinem Ableben, seine Witwe, die dann Nonne werden sollte, als Regentin anzuerkennen. In diesem Zusammenhang befürchteten die Zeitge­ nossen tatsächlich die Machtergreifung des Protosebastos kraft seiner engen Ver­ bindung zur stellvertretend regierenden Herrscherwitwe.57

Die Angst vor Fremdherrschaft Doch nicht nur die geschlechtliche Liebe der Regentin war ein Problem, sondern auch die Liebe zu ihrer Herkunftsfamilie oder deren Reich. Klagen über den Ein­ fluss der Landsleute der Königin gab es auch mit Blick auf Herrschergattinnen.58 Bei stellvertretend regierenden Herrscherwitwen erhielten solche Vorwürfe aber eine besondere Brisanz aufgrund des Fehlens eines erwachsenen Königs und der daraus resultierenden Unsicherheit hinsichtlich der Nachfolge. So vermischen sich in dem eben zitierten Brief des Bamberger Domscholasters Meinhard die Un­ zuchtsunterstellungen gegenüber Agnes mit der Kritik an ihrer französischen Herkunft, ihrer eigenen Fremdheit.59 Blanka beschuldigte man, Gelder des fran­ zösischen Königshauses nach Spanien zu schicken,60 und meinte, sie hätte nur dann das Recht, Königin zu werden, wenn sie in Paris geboren worden wäre.61 Bei den Vorwürfen gegenüber Margarethe von Navarra und ihrem Vetter spielen

56 

Annkristin Schlichte: Der „gute“ König: Wilhelm II. von Sizilien (1166–1189). Tübingen 2005, S. 9–11; Stefanie Hamm: Regentinnen und minderjährige Herrscher im normannischen Italien. In: Jaqueline Hamesse (Hg.): Roma, magistra mundi. Itineraria culturae medievalis. Turnhout 1998, S. 123–140, hier: S. 134 f. 57  Lynda Garland: Byzantine Empresses. Women and Power in Byzantium AD 527–1204. Lon­ don/New York 1999, S. 204 f. 58  Margaret Howell: Eleanor of Provence. Queenship in Thirteenth-Century England. Oxford/ Maldon 1998, S. 194–197; Robert Bartlett: Blood Royal. Dynastic Politics in Medieval Europe. Cambridge u. a. 2020, S. 30 f. 59 Hildesheimer Briefe (wie Anm. 48), Nr. 71, S. 118  f.; vgl. Miriam Shergold: Like Joseph in Egypt? Exile Experiences of Royal Women. In: Laura Napran/Elisabeth van Houts (Hg.): Exile in the Middle Ages. Turnhout 2004, S. 53–67, hier: S. 57. 60  Recueil de chants (wie Anm. 50), Nr. I.2, S. 166, und Nr. III.3, S. 173. 61  Ebd., Nr. I.3, S. 166.

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ihre spanische und dessen französische Herkunft eine große Rolle und bei den­ jenigen gegenüber Maria ihre lateinische und ihre westliche Politik.62 Dabei geht es hier nicht um proto-nationalistische Fremdenfeindlichkeit. Die fremde Herkunft der Königin war, genauso wie ihr „anderes“ Geschlecht, nicht der Grund für die Ablehnung, sondern die Projektionsfläche, die zum Angriff ge­ nutzt wurde, um das zu verteidigen, worum es eigentlich ging: den Einfluss der Großen. Diese Großen können, neben dem König als „Kopf der Monarchie“,63 der königlichen Familie mit den integralen Bestandteilen „Königin“ und „Nach­ wuchs“, als viertes Element in der vielgliedrigen Institution „Monarchie“ angese­ hen werden.64 Zudem stellten ihre Familien teilweise den Pool dar, aus dem der König seine Gattin wählte, oder eben die Herrscherwitwe ihren zweiten Gemahl. Eine regierende Witwe war demnach in jedem Fall eine Gefahr für den Einfluss der Großen in ihrer Gesamtheit, wenn auch gleichzeitig für einzelne die Chance, über sie verstärkt an der Herrschaft teilhaben zu können. Eine regierende Witwe war ein potenzielles Einfallstor fremder Interessen: der Interessen eines neuen Ehemanns oder eines Geliebten, oder aber der Interessen ihrer Herkunftsfamilie. Indem Agnes und Blanka sich bei ihrem Regierungshandeln von bedeutenden Männern des Reichs beraten ließen, erfüllten sie grundsätzlich die Erwartungen an mittelalterliche Herrscher. Auch Könige und Kaiser liehen ihr Ohr nicht allen Großen gleichermaßen oder wurden zumindest von denen, die sich mehr Einfluss wünschten, beschuldigt, einseitig auf schlechte Ratgeber zu hören.65 Spezifisch an der Situation von Königinnen ist die sexuelle Komponente, die aufgrund ihres weiblichen Geschlechts für die Zeitgenossen mitschwang und aus Königin und Ratgeber ein Liebespaar werden ließ. Bei Witwen lag das besonders nahe, hatten sie doch ihren Gatten verloren und suchten womöglich, ihn zu ersetzen. Ge­ schichten, etwa über den weitverbreiteten und in verschiedensten Facetten erzähl­ ten Stoff der treulosen Witwe, veranschaulichen die gesellschaftliche Skepsis ge­ genüber der Enthaltsamkeit hinterbliebener Ehefrauen und deren Treue gegen­ über dem Verstorbenen.66 Unzuchtsvorwürfe trafen aber auch verheiratete Frauen sowie Königinnen und Kaiserinnen aus eigenem Recht, wie etwa Melisende von Jerusalem und die byzantinische Kaiserin Zoe. Bei Letzteren kam, wie bei 62 

Garland: Empresses (wie Anm. 57), S. 204. Roebert: Königin (wie Anm. 3), S. 17. 64  Siehe Anm. 3. 65 Stellvertretend: Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Paul-Joachim Heinig (Hg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Berlin 2000, S. 53–87; Steffen Patzold: Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik. In: FMSt 41 (2007), S. 75–103; Gerd Althoff: Funktionsweisen der Königsherrschaft im Hochmittelalter. In: GWU 63 (2012), S. 536–550. 66  Van Houts: Life (wie Anm. 19), S. 157; Bernhard Jussen: Der Name der Witwe. Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur. Göttingen 2000, S. 259–312; Cindy L. Carlson/­ Angela J. Weisel: Introduction. Constructions of Widowhood and Virginity. In: dies. (Hg.): ­Constructions of Widowhood and Virginity in the Middle Ages. Houndmills u. a. 1999, S. 1–21, hier: S. 1–3, S. 17 f. 63 

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­ itwen, erschwerend hinzu, dass das Konzept „Herrschaft“ männlich konnotiert W war und man Personen weiblichen Geschlechts nur in Ausnahmefällen die Fähig­ keit, Herrschaft aktiv auszuüben, zugestand, sodass sie in der Regel auf dynas­ tiefremde, männliche Ausführende angewiesen waren.67 Bei Witwen, die selbst dynastiefremd waren, war das besonders problematisch. Das Entstehen solcher Gerüchte wird, wie Linda Dohmen in ihrer Studie zu den Unzuchtsvorwürfen gegenüber den Ehefrauen der Karolinger ermittelt hat, von verschiedenen Faktoren begünstigt. Zu diesen gehören ein hoher Einfluss der Kö­ nigin, ein durch das Verhältnis der Königin mit ihrem Berater für andere ­Große blockiert erscheinender Zugang zum König, eine Schwäche des Königs und eine unsichere Nachfolgesituation.68 Im Fall stellvertretend regierender ­Witwen und ih­ rer minderjährigen Söhne treffen alle diese Faktoren zusammen. Bei Blanka von Kastilien, die ja zweimal als Regentin für ihren Sohn agierte, nämlich ein weiteres Mal, als Ludwig bereits erwachsen war, aber wegen des Kreuzzugs abwesend, lässt sich erkennen, dass sie als Mutter des erwachsenen Königs, der bereits zwei Söhne hatte, nicht in die Kritik geriet, weder wegen Unzucht (sie war nun auch 60 Jahre alt), noch wegen der Begünstigung ihrer spanischen Lands­leute.69 Die Leerstelle auf kanonische Weise zu füllen und einen neuen Gemahl zu neh­ men, bot genauso und aus den gleichen Gründen Zündstoff. Bei Anna von Kiew lässt die Quellenlage zwar keine definitive Aussage darüber zu, ob sie wegen der Heirat ihre Stellung als Regentin einbüßte. Aber die Beobachtung, dass Herr­ scherwitwen, die Söhne aus der Ehe mit dem König hatten, eher nicht wieder hei­ rateten, und die, die es ausnahmsweise doch taten, für ihre Illoyalität gerügt wur­ den, und dass Maria von Antiochia die Regentschaft als Nonne antreten sollte, sind starke Hinweise darauf, dass man in der neuen Ehe der Königinmutter ein Problem sah.

Der verwitwete König als Stellvertreter: Das Königreich Jerusalem als Kontrastfolie Das Königreich Jerusalem, wo die weibliche Thronfolge zwar nicht die präferierte Lösung war, aber mehrfach praktiziert wurde, bietet die Möglichkeit, das Funk­ tionieren der vielgliedrigen Institution „Monarchie“ und die Implikationen, die die Faktoren „Dynastie“ und „Geschlecht“ mit sich brachten, mit umgekehrten Vorzeichen zu betrachten. 67 Foerster:

Gender (wie Anm. 2); für Jerusalem vgl. Philippe Goridis: Gefährten, Regenten, ­ itwer. Männliche Herrschaft im Heiligen Land der Erbköniginnen. In: Claudia Zey (Hg.): W Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert). Ostfildern 2015, S. 163–197; Alan V. Murray: Women in the Royal Succession of the Latin King­ dom of Jerusalem (1099–1291). In: Zey (Hg.): Frauen (diese Anm.), S. 131–162. 68  Linda Dohmen: Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger. Ostfildern 2017, S. 438–446. 69  Grant: Blanche (wie Anm. 15), S. 131–145; Foerster: Witwe (wie Anm. 17), S. 106  f.

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Als Maria von Montferrat, Königin aus eigenem Recht, 1212 im Kindbett starb und mit der gerade geborenen Isabella ihr einziges Kind in der Obhut ihres Gemahls Johann von Brienne hinterließ, war der Gedanke einer weiblichen ­ Thronerbin nicht mehr neu im Königreich Jerusalem. Maria war selbst einer Vor­ gängerin nachgefolgt, ihrer Mutter Isabella, die drei ihrer vier teilweise recht früh verstorbenen Ehemänner in die königlichen Ehren und vor allem in die Regierung gebracht hatte. Deren Vorgängerin war ihre Halbschwester Sibylla, Schwester des leprakranken Balduins IV. und Mutter des früh verstorbenen Balduins V. Den ­Anfang hatte 1131 Sibyllas Großmutter Melisende gemacht, die als einziges Kind König Balduins II. gemeinsam mit ihrem Gatten Fulko von Anjou den Thron ­bestiegen hatte.70 Die Erwartungen an die Erbin waren 1205 in der von Marias Stiefvater Amala­ rich von Lusignan in Auftrag gegebenen Gesetzessammlung „Livre au roi“ festge­ schrieben worden, ebenso wie Regelungen für etwaige Minderjährigkeitsregent­ schaften,71 wie Marias verwitweter Gemahl Johann sie nun übernahm. Dass er nicht als gekrönter König und Witwer der Königin agierte, sondern als Regent für die minderjährige Thronfolgerin, erwähnt nur die Eracles-Überlieferung, eine altfran­ zösische Fortsetzung der „Historia Ierosolymitana“ Wilhelms von Tyrus, explizit (por le baillage de sa fille).72 Einige an verschiedene Adressaten im Heiligen Land gerichtete Unterstützungs- und Ermahnungsschreiben des Papstes weisen darauf hin, dass der Beginn dieser Phase wohl nicht so unproblematisch war, wie die – für die Frühzeit von Johanns Regierung in Jerusalem ohnehin spärlichen – Berich­ te der Geschichtsschreiber den Anschein erwecken.73 Die Regelungen für die Re­ gentschaft waren nicht eindeutig, und es gab mit Marias Halbschwester Alice und deren Gemahl, König Hugo I. von Zypern, andere Anwärter, die sie beanspruch­ ten. Neben der Unterstützung durch den Papst sicherte sich Johann für alle Fälle mit einer weiteren Maßnahme ab, denn eine der dos entsprechende Versorgung für den Witwer der Königin gab es nicht:74 Schon kurz nach dem Tod seiner Gat­ tin ­heiratete er wieder, und zwar Stefanie, die Tochter Leons II. von Armenien. Die Hoffnung auf einen angemessenen „Witwersitz“ an der Seite der armenischen Prinzessin, für den Fall, dass er sich in Jerusalem als Regent nicht würde halten können beziehungsweise für die Zeit nach dem Mündigwerden seiner Tochter, zerschlug sich jedoch mit dem frühen Tod Stefanies 1220. 1221 endete Johanns

70  Sarah

Lambert: Queen or Consort: Rulership and Politics in the Latin East (1118–1228). In: Duggan (Hg.): Queens (wie Anm. 40), S. 153–169. 71  Goridis: Gefährten (wie Anm. 67), S. 176–179. 72  L’Estoire de Eracles Empereur et la conqueste de la terre d’Outremer. Paris 1859, XXXI, 9, S. 320. 73 Regesta pontificum Romanorum. Bd. 1. Hg. von August Potthast. Graz 1957, Nr. 4638  f., Nr. 4642 f.; Goridis: Gefährten (wie Anm. 67), S. 180 f.; Guy Perry: John of Brienne. Cambridge 2013, S. 51 f. 74  Goridis: Gefährten (wie Anm. 67), S. 169.

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Regentschaft über die Grafschaft Brienne,75 die er während der Minderjährigkeit seines Neffen geführt hatte, und seine Tochter näherte sich dem heiratsfähigen ­Alter. Weitere Absicherungen waren also geboten. Im Zuge der 1222 initiierten Eheverhandlungen mit dem Staufer Friedrich II.76 ließ Johann sich von diesem lebenslange Herrschaftsrechte im Königreich Jerusa­ lem zusichern – eine Vereinbarung, an die sich Friedrich nicht hielt – und nutzte die Gelegenheit, sich mit Berengaria, der Tochter Alfonsos IX. von León, erneut gut zu verheiraten. Johanns Interessen waren durch die Ehen ähnlich geteilt wie die wiederverheirateter Herrscherwitwen. So verließ er etwa 1219 das Kreuzfah­ rerheer bei der Belagerung Damiettas, um die Rechte seiner Gemahlin und seines Sohnes aus dieser Ehe in Armenien zu vertreten, was von anderen Kreuzzugsteil­ nehmern und vom Papst kritisiert wurde.77 Die weiteren Ehen des männlichen Regenten an sich werden jedoch auch in den Wilhelm von Tyrus-Fortsetzungen nicht problematisiert, nicht einmal die schnelle Wiederverheiratung nach dem Tod Marias, zu einem Zeitpunkt, als die Thronerbin noch sehr jung war.78 Kritik an Johann ist in diesen vermutlich in Nordfrankreich entstandenen, sicherlich für ein französisches, nach heldenhaften Geschichten aus den Kreuzfahrerstaaten dürs­ tendes Publikum gedachten Erzählungen nicht zu erwarten.79 Die Eracles-Über­ lieferung erwähnt die Eheschließung mit Stefanie sogar direkt im Zusammenhang mit der Regentschaft (et en celui point que il estoit bail, esposa il Estefanie), ohne jegliche Wertung.80 Den einzigen Hinweis darauf, dass der Einfluss der neuen Gattinnen auf die Angelegenheiten des Königreichs befürchtet worden sein könn­ te, gibt eine Anekdote aus der in Nordfrankreich entstandenen „Chronik des ­Ernoul“ anlässlich der Nachricht vom Tod Stefanies: Demnach wurde vermutet, Johann habe seine Gattin erschlagen, da er gehört habe, sie habe seine Tochter Isabella, „durch die er das Königreich hielt“, vergiften wollen.81 Mit dieser Erzäh­ lung hebt der Autor aber gleich hervor, dass der König sich solchen Versuchen vehement und wirksam entgegenstellt (oder entgegenstellen würde). Nun war die Stellung des Königingemahls in Jerusalem nicht einfach eine ­exakte Umkehrung der Verhältnisse im Westen, nicht nur, aber auch, weil die ­Geschlechterfrage dann doch eine Rolle spielt. Das zeigt etwa die vielzitierte Äu­ ßerung Wilhelms von Tyrus über Fulko V. von Anjou, den Gemahl Melisendes: 75 

Ebd., S. 182 f. Honorii III registro. Hg. von Karl Rodenberg (MGH Epistulae Saec. XIII 1). Berlin 1883, Nr. 196, S. 137 f. 77  Perry: John (wie Anm. 73), S. 111–115; Goridis: Gefährten (wie Anm. 67), S. 182–185. 78 Chronique d’Ernoul et de Bernard le Trésorier. Hg. von Louis de Mas Latrie. Paris 1871, S. 411, S. 450 f.; Eracles (wie Anm. 72), XXXI, 9, S. 320. 79  Zu Entstehung und Verhältnis der Fortsetzungen vgl. Peter Edbury: Ernoul, Eracles, and the Collapse of the Kingdom of Jerusalem. In: Laura Morreale/Nicholas L. Paul (Hg.): The French of Outremer. Communities and Communications in the Crusading Mediterranean. New York 2018, S. 44–68, hier: S. 44–46; Gregory Fedorenko: The Crusading Career of John of Brienne, c. 1210–1237. In: Nottingham Medieval Studies 52 (2008), S. 43–79, hier: S. 52–55. 80  Eracles (wie Anm. 72), XXXI, 9, S. 320. 81  Ernoul (wie Anm. 78), S. 427. 76  Ex

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Rex autem ab ea die ita factus est uxorius […] quod nec in causis levibus, absque ejus conscientia attemptaret aliquatenus procedure – der König sei seiner Frau hö­ rig geworden und habe auch in einfachen Dingen nicht mehr versucht, ohne ihre Zustimmung zu entscheiden.82 Dass die im Rahmen der Ehe mit dem König zur Königin erhobene Frau dem König gehorchte und Entscheidungen nicht ohne ihn traf, wäre den englischen, französischen oder deutschen Autorinnen und Autoren wohl selbstverständlich und daher kaum einer Erwähnung wert gewesen. In der umgekehrten Konstellation nötigte der Gehorsam des Königs gegenüber der ­Königin dem Chronisten einen Kommentar ab. Grundsätzlich wertet Wilhelm von Tyrus das weibliche Geschlecht nicht als selbstständig herrschaftsfähig und kritisiert etwa Melisendes Schwester Alice, die die Herrschaft in Antiochia bean­ spruchte, scharf für ihre Ambitionen. Melisende, die nicht weniger ehrgeizig war, bewertete er ausnahmsweise anders,83 da sie, wie er meint, die eigentlich durch ihr Geschlecht gegebenen Einschränkungen überwand.84 Zudem war ihm daran ge­ legen, in der Zeit des leprösen Balduins IV. den Herrschaftsanspruch von dessen Familie zu betonen.85 Die gemeinsame Regierung Melisendes und Fulkos prägte die Funktionsweise der Monarchie in Jerusalem für die Fälle, in denen Töchter den Thron erbten: Diese lieferten die Legitimation, deren Gatten übernahmen die aktive Regierung.86 Daher wurden die Erbinnen erst mit der Eheschließung über­ haupt befähigt, das Königinnentum zu übernehmen und ihre Ehegatten sorgfältig mit Rücksicht auf Regierungsfähigkeit und eine breite Zustimmung bei den Gro­ ßen ausgewählt.87 Das ging so weit, dass man bereits verheiratete Erbinnen zur Scheidung verpflichtete, falls ihr Gatte nicht den Wünschen des Adels entsprach.88 Demnach hinterließ auch in dieser Konstellation der Tod des Königs, auch wenn seine Stellung von seiner Gattin hergeleitet war und auch wenn bereits ­Kinder aus der Ehe vorhanden waren, eine Lücke, die dem Königreich gefährlich werden konnte. Das galt zumindest für den Fall, dass die Kinder noch nicht selbst herrschaftsfähig waren. Darauf deutet die atemberaubende Geschwindigkeit hin, mit der man sich nach dem jeweiligen Ableben der Gatten Isabellas I. auf neue Ehemänner einigte.89 Melisende hatte nach dem Tod ihres Gemahls eine Wieder­ verheiratung noch ablehnen und aus eigenem Recht respektive für ihren minder­ jährigen Sohn regieren können. Für Isabella, die Schwester des leprakranken 82 

Wilhelm von Tyrus, Chronicon. Hg. von Robert Huygens. Turnhout 1986, XIV, 18, S. 656. Peter Edbury/John Rowe: William of Tyre. Historian of the Latin East. Cambridge u. a. 1988, S. 80–82. 84  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 82), XVI, 3, S. 717; vgl. ebd., XVIII, 27, S. 850. 85  Edbury/Rowe: William (wie Anm. 83), S. 16–18, S. 83  f. 86  Philippe Goridis: Rex factus est uxorius. Weibliche und männliche Herrschaftsrollen in Outre­ mer. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 21 (2016) 1, S. 22–39, hier: S. 30– 36. 87 Murray: Women (wie Anm. 67), S. 131–162, hier bes.: S. 144–155; Goridis: Gefährten (wie Anm. 67), S. 169, S. 175, S. 178 f. 88  Bernard Hamilton: The Leper King and his Heirs. Baldwin IV and the Crusader Kingdom of Jerusalem. Cambridge 2000, S. 218–221. 89  Murray: Women (wie Anm. 67), S. 153  f. 83 

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­ alduin IV., war dies nicht mehr möglich. Auch ihrer Halbschwester Sibylla, die B nach dem Tod ihres ersten Gemahls auf Betreiben Balduins IV. den erst kurz zu­ vor ins Königreich Jerusalem gekommenen Guido von Lusignan geheiratet hatte, verweigerte man nach dem krankheitsbedingten Rückzug ihres Bruders die Re­ gentschaft für dessen Nachfolger, ihren eigenen Sohn aus erster Ehe. Ausschlagge­ bend dafür dürfte die Abneigung vieler Großer gegenüber Guido, dessen Einfluss man fürchtete und einschränken wollte, gewesen sein.90 Bestand die Möglichkeit einer weiblichen Thronfolge, provozierte also sowohl der Tod der Königin als auch der des Königs die Sorge des Adels vor Fremdbestimmung: Starb die Thron­ erbin, war der mit ihr gekrönte, dynastiefremde König ohne erbrechtliche Legiti­ mation. Da er aber bereits regierte, sich seine Stellung in der alltäglichen Praxis also nicht änderte, hatte er durchaus Chancen, diese zu behaupten. Das zeigte sich etwa im Thronstreit von 1186 zwischen Guido, dem Witwer Königin Sibyllas, und dem Markgrafen Konrad von Montferrat, der zur Verbesserung seiner Posi­ tion Sibyllas Halbschwester Isabella heiratete. Konrad gewann zwar schließlich die Oberhand, aber Guido hatte gute Aussichten gehabt, seine Regierung auch ohne Sibylla an seiner Seite fortsetzen zu können.91 Der Faktor „Regierungserfah­ rung“ im fraglichen Königreich, der schon bei den stellvertretend regierenden Herrscherwitwen angesprochen wurde, dürfte auch bei ihren männlichen Pen­ dants relevant gewesen sein. Starb dagegen der König, der Gatte der Erbin, be­ stand die Gefahr, dass die Witwe durch eine Wiederheirat jemanden zum König machte, mit dem der Adel nicht einverstanden war. Dem hatte man in Jerusalem einen Riegel vorgeschoben.

Fazit Anders als bei der Witwe des Königs brauchte es beim Witwer der Königin weder Gerüchte über heimliche noch tatsächliche eheliche Verbindungen mit dynas­ tiefremden Personen, um Ängste des Adels vor Einflussverlust zu schüren. Der Königinwitwer in Jerusalem war kein Einfallstor für dynastiefremde Herrschaft, er war selbst ein fremder Herrscher. Aber er war ein vom oder zumindest mit dem Adel ausgewählter fremder Herrscher und von dessen Wohlwollen abhängig, was den Großen für gewöhnlich ihren Einfluss sicherte. Das war bei den Witwen des Königs in den nordwesteuropäischen Reichen anders: Die Herrscherwitwen, die wieder heirateten, taten dies ohne die Zustimmung der Großen. In der Regel war das unproblematisch, da die ehemalige Königin, wie sie dann oft tituliert wurde, in der Folge den königlichen Hof verließ, um an den Hof ihres neuen Ge­ mahls zu gehen.92 Mit der Ausübung der Regentschaft für einen minderjährigen 90 

Ebd., S. 147 f.; Hamilton: Leper King (wie Anm. 88), S. 211–234. Gefährten (wie Anm. 67), S. 172–176; zum Versuch Friedrichs II., die Herrschaft in Jerusalem als König, nicht nur als Regent zu halten, vgl. ebd., S. 187–192. 92  Van Houts: Life (wie Anm. 19), S. 161–166; Foerster: Witwe (wie Anm. 17), S. 12, S. 147–211. 91  Goridis:

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Sohn war eine Trennung von dessen Hof jedoch nicht zu vereinbaren. Und so war der Weg in eine zweite Ehe eher für diejenigen Herrscherwitwen eine Option, für die sich am Hof des Nachfolgers keine Position als Regentin oder mütterliche Be­ raterin öffnete und für die ein Rückzug auf Witwengüter nicht möglich oder nicht attraktiv war. Im Fall der Anna von Kiew ist nicht zu klären, ob und wie Wieder­ heirat und Verlust der Regentschaft zusammenhingen, aber die Quellen zu ähn­ lich gelagerten Fällen zeigen, dass man durchaus die Gefahr sah, dass die Regentin nicht mehr ausschließlich im besten Interesse der Dynastie, in die sie eingeheiratet hatte, agieren könnte, sondern die Interessen des neuen Ehemanns Einfluss auf ihr Handeln nehmen würden – stärkeren Einfluss, als den anderen Magnaten lieb sein konnte. Die eingangs zitierte Aussage Thietmars von Merseburg kennzeichnet reichsfremde Herrschaft als das größte Übel; das zweitgrößte, so scheint es, trat ein, wenn unter den eigenen Großen einer über die anderen erhoben wurde.93 Diese Sorge rief die verwitwete Stellvertreterin jedoch auch hervor, wenn sie nicht wieder heiratete. Womöglich war die Angst vor dem Schwund des eigenen Ein­ flusses zugunsten des fremden sogar noch größer, wenn unklar war, woher der fremde Einfluss rührte. Die Ungewissheit mag die Fantasie der Zeitgenossen be­ flügelt haben, die in einem heimlichen, im Hintergrund wirkenden Geliebten eine naheliegende Erklärung für das empfundene Ungleichgewicht fanden. Der kontrastierende Blick nach Jerusalem zeigt überdies, welche Auswirkungen die männliche Konnotation von Herrschaft oder zumindest der aktiven Herr­ schaftsausübung hatte. Diese war nicht nur in Outremer gegeben, wo der Herr­ scher bestenfalls gleichzeitig ein Kreuzzugsheld war, sondern auch im Westen. Dort zog man die Möglichkeit, die stellvertretend regierende Königswitwe könne selbst die Herrschaft anstreben, anscheinend gar nicht in Betracht, obwohl sie eine geweihte und gekrönte Königin war. Nur ein Mann an ihrer Seite wurde als Gefahr wahrgenommen.

Abstract The chapter deals with the contemporary evaluation of rulers’ widows who ruled on behalf of their sons during their minority. Rather than being concerned with the functioning of these regencies, it adopts an outside perspective on the regency of women and tries to clarify what led to criticism. Criticism of female regents was not only expressed frequently, but often relates to their gender.

93  Thietmar von Merseburg, Chronicon (wie Anm. 6): „Wehe den Völkern, denen keine Hoff­ nung verbleibt auf die Nachfolge eines Sprosses ihrer Herren in der Herrschaft, denen sich in in­ nerem Zwist und langem Streit kein schneller Entschluß oder Ersatz bietet. Wenn sich in der Sippe kein für das hohe Amt Würdiger findet, dann muß freilich unter Zurückstellung aller Feindschaft aus anderem Hause ein edler Mann erhoben werden; denn Fremdherrschaft ist das größte Elend; Unterdrückung und große Gefahr für die Freiheit bringt sie mit sich.“ Siehe dazu auch die Ausführungen am Beginn des Beitrags.

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The hypothesis is that this scepticism towards widowed regents partly derived from their ability to choose a new husband or – even worse – a lover, which would have allowed someone unentitled into the inner sphere of government. The magnates of the realms thus feared for their own influence. The implications of a dowager acting as regent while being remarried, choosing to remarry or to remain without a husband are examined for high medieval ­Germany, England, and France. The significance of the female gender in such ­situations will then be demonstrated by taking a contrasting look at the Kingdom of Jerusalem, where female succession occurred frequently between 1099 and 1228. Of particular importance will be the regency of John of Brienne, widower of Queen Maria of Montferrat, for his underage daughter, Queen Isabella.

Linda Dohmen Dux dominaque Iudita – Frauen als Regentinnen und Herzöge im 10. Jahrhundert? „Herzog(in) und Herrin“ – diese frappante Bezeichnung der Judith, Witwe Her­ zog Heinrichs I. von Bayern, in zeitgenössischen Urkunden und Briefen1 kor­ respondiert mit ihrer Rolle als Regentin für ihren Sohn, Herzog Heinrich II. von Bayern, die sie vom Tod Heinrichs I. 955 bis zum Ende der 960er-Jahre übernom­ men haben soll. Frei nach der Gleichung „Powerful Woman = Extraordinary“, die zuletzt Amy Livingston im Medieval Feminist Forum lesenswert infrage gestellt hat,2 firmiert Judith bei Wikipedia als „eine der bedeutendsten Frauengestalten der politischen Geschichte Bayerns im Mittelalter“,3 eine Einschätzung, die einem ersten biografischen Beitrag von Alois Schmid über die bis dahin nahezu nicht beachtete Herzogin zu verdanken sein dürfte. Schmid ordnet Judith ein in „die Reihe der beeindruckenden Frauengestalten der Kaiserinnen Adelheid, Theo­ phanu, Kunigunde oder Agnes“.4 Die Regentschaften Adelheids, Theophanus und Agnes’ für ihre Söhne und En­ kel Otto III. und Heinrich IV. – Kunigunde blieb kinderlos – haben schon länger die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden.5 Allerdings bietet sich auch ein Vergleich auf Ebene der sogenannten Mittelgewalten an, denn neben Judith finden wir im 10. Jahrhundert weitere Frauen, die als Herzoginnen „agency“ entwickel­ ten, mit und für ihre Söhne als Nachfolger ihrer verstorbenen Ehemänner und Herzöge. „Regentschaft“ wird für diese Fälle zunächst als „unterstützendes Mit­

1 In

der Kombination von dux und domina besonders: Ottonis I. diplomata [im Folgenden: D OI]. Hg. von Theodor Sickel (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1). Hanno­ ver 1879–1884, S. 89–638, hier: D OI 279 (Ingelheim, 3. 4. 965), S. 395 f., S. 395; vgl. auch Die ­Briefe des Rather von Verona. Hg. von Fritz Weigle (MGH Die Briefe der deutschen Kaiser­ zeit 1). Weimar 1949, hier ep. 23 (Verona, Herbst 965), S. 118 f., S. 119; zu diesen Beispielen – und weiteren – siehe unten, bes. bei Anm. 30 und Anm. 33. 2 Amy Livingstone: Recalculating the Equation: Powerful Woman = Extraordinary. In: MFF 51 (2016) 2, S. 17–29. 3 Vgl. dazu den Wikipedia-Artikel, online zugänglich unter: https://de.wikipedia.org/wiki/ Judith_von_Bayern_(925%E2%80%93985) (letzter Zugriff am 3. 1. 2022). 4  Alois Schmid: Herzogin Judith von Bayern. In: ZBLG 76 (2013), S. 389–406, hier: S. 390. 5 Vgl. etwa für beide Regentschaften Amalie Fößel: Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume. Stuttgart 2000, S. 319–338. https://doi.org/10.1515/9783111071879-003

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regieren“ einer Mutter für ihren Sohn bis zum Erreichen seiner vollen Herr­ schaftsfähigkeit verstanden.6 Mein Beitrag gliedert sich in zwei Hauptteile: Am Anfang steht die Unter­ suchung der (Dar-)Stellung Judiths in zeitgenössischen Quellen, die zugleich die Besonderheiten der frühmittelalterlichen Überlieferungslage aufzeigt und ver­ deutlicht, in welchen Kontexten die „Regentschaft“ von Frauen auch ohne herr­ schaftskonstituierende Akte greifbar wird. In einem zweiten Schritt widme ich mich Judiths Schwägerinnen Hadwig und Gerberga, den Schwestern Heinrichs von Bayern, sowie Hadwigs Tochter Beatrix, um durch diesen vergleichenden Blick die Charakteristiken frühmittelalterlicher Regentschaften von Frauen auf der Ebene der sogenannten Mittelgewalten weiter zu schärfen. Gerberga war in erster Ehe mit dem lothringischen Herzog Giselbert verbunden, bis sie nach des­ sen Tod den westfränkischen König Ludwig IV. ehelichte.7 Das Beispiel öffnet so auch den Vergleichshorizont zum Phänomen „reginaler Herrschaft“.8 Gerbergas Schwester Hadwig war die Gemahlin des westfränkischen Herzogs Hugo Magnus,9 ihre gemeinsame Tochter Beatrix heiratete Herzog Friedrich von Ober­ lothringen10 und erscheint ebenfalls in zeitgenössischen Briefen und Urkunden aus der Zeit nach Friedrichs Tod als dux. Daher schließt dieser vergleichende Ab­ schnitt mit Überlegungen zur Aussagekraft des ansonsten nur für männliche Per­ sonen verwendeten dux-Titels. Im Fazit werden die sich aus den Quellen ergeben­ den Schlussfolgerungen noch einmal zusammengefasst und in Anknüpfung an die von den Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes aufgeworfenen Fragen für die Zeit des europäischen Frühmittelalters grundsätzliche Aspekte der Regent­ schaft von Frauen herausgearbeitet, die einen Vergleich mit weiteren Fällen er­ möglichen.

 6 Aus

den frühmittelalterlichen „Leges“ lassen sich variierende Altersangaben (zwischen 12 und 15 Jahren) für das Erreichen der Mündigkeit erschließen; vgl. den Überblick bei Thilo Of­ fergeld: Reges Pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter. Hannover 2001, S. 10–21. B ­ rigitte Kasten: Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit. Hannover 1997, S. 257–259, geht mit guten Grün­ den davon aus, dass „ein Kind in verschiedenen Etappen eine immer größere Handlungsfreiheit gewann“ (S. 257).  7  Zu Gerberga vgl. insbesondere Winfrid Glocker: Die Verwandten der Ottonen und ihre Be­ deutung in der Politik. Studien zur Familienpolitik und zur Genealogie des sächsischen Kaiser­ hauses. Köln 1989, hier: S. 29–45; Régine Le Jan: Entre Carolingiens et Ottoniens. Les voyages de la reine Gerberge. In: Odile Redon/Bernard Rosenberger (Hg.): Les Assises du pouvoir. Temps médiévaux, territoires africains. St. Denis 1994, S. 163–173.  8 Zu diesem Begriff Nikolas Jaspert: Indirekte und direkte Macht iberischer Königinnen im Mittelalter. „Reginale“ Herrschaft, Verwaltung und Frömmigkeit. In: Claudia Zey (Hg.): Mäch­ tige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert). Ost­ fildern 2015, S. 73–130, hier: S. 89.  9  Zu Hadwig Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 36–45. 10 Zu Beatrix liegen keine ausführlicheren wissenschaftlichen Untersuchungen vor; vgl. daher Michel Parisse: Beatrix, Hzgn. v. Oberlothringen. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. München 1980, Sp. 1745.

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Die Regentschaft Judiths von Bayern Was also „wissen“ wir über Judith? Geboren wurde sie als Tochter des Luitpol­ dingers Arnulf, der als Herzog der Bayern in Auseinandersetzung mit Heinrich I. wenn auch kein eigenes Königtum, so doch eine Anerkennung seiner Herrschaft in Bayern erreichen konnte.11 Über Judiths Mutter und die Zeit ihrer Geburt schweigen die Quellen.12 Für die Geschichtsschreibung interessant wird Judith erst durch ihre Heirat mit Heinrich, dem jüngeren Bruder Ottos des Großen. Widu­kind von Corvey berichtet Mitte der 960er-Jahre über die Nachfolge Hein­ richs im Herzogtum Bayern nach einem von Arnulfs Bruder, Herzog Berthold, angeführten Aufstand und dessen Tod 947. Dabei erwähnt er, dass Heinrich mit der Tochter des verstorbenen ehemaligen Herzogs Arnulf verheiratet war, die aller­dings namenlos bleibt.13 Eine genauere Datierung ergibt sich aus den „Gesta ­Ottonis“ der Hrotsvith von Gandersheim, die vermerkt, dass zum Zeitpunkt der Eheschließung zwischen Heinrich und der Arnulf-Tochter Judith gerade Friede im Reich herrschte, „während das grausame Geschrei der Kriege gewiss ver­ stummte“.14 Anschließend geht Hrotsvith auf den Aufstand Heinrichs und Eber­ hards von Franken ein, weshalb die Hochzeit Heinrichs mit Judith von der ­Forschung gemeinhin auf 937, und zwar noch zu Lebzeiten des im Juli 937 ver­ storbenen Herzogs Arnulf, angesetzt wird.15 Ludwig Holzfurtner vermutet, dass sich Heinrich mit der Heirat „auch eine Anwartschaft auf das Herzogtum Bayern ausrechnete“, allerdings konnte das höchstens „eine Op­tion für eine fernere Zukunft“ darstellen.16 Denn Arnulf hatte neben Judith noch eine ganze Reihe weiterer, auch männlicher Nachkommen, ­darunter Eberhard, der von seinem Vater zum Nachfolger designiert worden war – ob dies mit dem Einverständnis König Heinrichs I. geschah, muss dahinge­ stellt bleiben – und der tatsächlich bis zu seinem Aufstand gegen Otto I. 938 als Herzog in Bayern herrschte.17 Eberhard wurde verbannt und von Otto durch 11  Zu

Arnulf Ludwig Holzfurtner: Gloriosus dux. Studien zu Herzog Arnulf von Bayern (907– 937). München 2003. 12  So auch Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 390. 13  Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei [im Folgenden: Widukind, Res gestae Saxo­ nicae]. Hg. von Paul Hirsch (MGH Scriptores rerum Germanicarum 60). Hannover 1935, II, 36, S. 95. Vgl. zu Widukind den Überblick bei Alheydis Plassmann: Lateinische Stammes- und Volksgeschichtsschreibung im frühen und hohen Mittelalter. In: Gerhard Wolf/Norbert H. Ott (Hg.): Handbuch Chroniken des Mittelalters. Berlin 2016, S. 47–75, hier: S. 67–70. Zu Bert­ hold Ludwig Holzfurtner: Herzog Berthold von Bayern. Ein Herrscher zwischen den Zeiten? In: Konrad Ackermann (Hg.): Staat und Verwaltung in Bayern. München 2003, S. 61–75. 14  Hrotsvith, Gesta Ottonis. In: dies.: Opera Omnia. Hg. von Walter Berschin. München/Leip­ zig 2001, S. 276–305, Vers 153–162, Zitat: Vers 162: Bellorum certe seve clangore tacente. 15  Vgl. Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 391. 16  Holzfurtner: Gloriosus dux (wie Anm. 11), S. 135 mit Anm. 135. 17  Zur Designation und Nachfolge Eberhards Annales Iuvavenses maximi. Hg. von Harry Bresslau (MGH Scriptores 30). Leipzig 21934, S. 732–744, a. 935, S. 743; dazu Kurt Reindel: Die bayerischen Luitpoldinger, 893–989. Sammlung und Erläuterung der Quellen. München 1953, Nr. 87, S. 170 f.

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­ rnulfs Bruder ­Berthold ersetzt.18 Als dieser Berthold, wie erwähnt, 947 starb, A vergab Otto das Herzogtum Bayern an seinen jüngeren Bruder Heinrich und überging damit die Ansprüche des ebenfalls Heinrich genannten Sohnes Herzog ­ amals noch ein Kind von weniger als zehn Jahren war.19 Bertholds Bertholds, der d Witwe und Heinrichs Mutter Biletrud kam offenbar nicht als Regentin infrage.20 Vielmehr nutzte König Otto die Gelegenheit, seinen jüngeren Bruder endlich zu „versorgen“, wobei dessen Ehe mit der Luitpoldingerin Judith seiner Legitimation im bayerischen Adel sicher dienlich war.21 Über Judiths Jahre an Heinrichs Seite in Bayern ist nahezu nichts überliefert. Nur einmal findet sie in der Geschichtsschreibung Erwähnung, und zwar beim Aufstand von Ottos Sohn aus erster Ehe Liudolf gegen seinen Vater, den ihrer­ seits Judiths Brüder, Pfalzgraf Arnulf, Berthold und Hermann, nutzten, um sich gegen die ottonische Herrschaft und damit nicht nur gegen Otto, sondern auch gegen ihren Schwager Herzog Heinrich von Bayern aufzulehnen. Auch Judiths Tante Biletrud scheint am Aufstand auf Seiten ihrer Neffen teilgenom­ men zu haben. Jedenfalls restituierte ihr Otto II. 976 „Gut, das ihr einst von ihrem ­Ehemann Berthold zu Eigen übertragen und später von den Großen ­unseres Reiches unserem Fiskus gerichtlich zugeschlagen wurde“.22 In dieser Situation konfligierender Loyalitäten wurde Judith mitsamt ihren Kindern (cum filiis) von Liudolf und ihren eigenen Brüdern vorübergehend aus Regens­ burg vertrieben. So berichten es einhellig Widukind von Corvey, Thietmar von Merseburg und nach ihm der Annalista Saxo.23 Judith stand im innerfamiliären 18  Vgl.

zu den Theorien um das weitere Schicksal Eberhards Reindel: Die bayerischen Luitpol­ dinger (wie Anm. 17), Nr. 93, S. 183–189; zur Nachfolge Bertholds Holzfurtner: Herzog Berthold (wie Anm. 13), S. 61–64. 19  Widukind, Res gestae Saxonicae (wie Anm. 13), II, 36, S. 95; vgl. weitere Belege und einen kur­ zen Kommentar bei Reindel: Die bayerischen Luitpoldinger (wie Anm. 17), Nr. 102, S. 201–203; Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 68 f. 20  Zu Biletrud Holzfurtner: Herzog Berthold (wie Anm. 13), S. 73. 21  Vgl. auch ebd.; Holzfurtner: Gloriosus dux (wie Anm. 11), S. 135; Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 391; zur späteren Bedeutung von Heinrichs luitpoldingischer Abstammung vgl. Hubertus Seibert: Bavvarica regna gubernans. Heinrich der Zänker und das Herzogtum Bayern (955–995). In: ders./Gertrud Thoma (Hg.): Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutio­ nen im Wandel der Zeit. Festschrift für Wolfgang Giese zum 65. Geburtstag. München 2004, S. 123–142, hier: S. 125. 22 Ottonis II. diplomata [im Folgenden: D OII]. Hg. von Theodor Sickel (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2, 1). Hannover 1888, S. 10–384, hier: D OII 141 (Frose, ­ 29. 9. 976), S. 158 f., hier: S. 159: […] quod cuidam nobili matrone Biledrit nominate tale predium quale maritus eius Berchtoldus dux iam dudum in proprietatem illi tradidit et postea ex primatibus regni nostri in fiscum nostrum diiudicatum est, per preceptum nostrum iterum sibi redderemus. Vgl. dazu auch kurz Reindel: Die bayerischen Luitpoldinger (wie Anm. 17), S. 203. 23 Widukind, Res gestae Saxonicae (wie Anm. 13), III, c. 20, S. 115; Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung [im Folgenden: Thietmar, Chroni­ con]. Hg. von Robert Holtzmann (MGH Scriptores rerum Germanicarum N.S. 11). Berlin 1935, II, c. 6, S. 44 f.; Die Reichschronik des Annalista Saxo. Hg. von Klaus Nass (MGH Scriptores 37). Hannover 2006, a. 953, S. 181. Adalbert von Magdeburg verweist darauf, dass Heinrichs Gemah­ lin Judith die Schwester des Rebellen Arnulf war, geht aber nicht weiter auf sie ein; (Adalberti)

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Konflikt demnach auf Seiten ihres Ehemannes und des ottonischen Herrscher­ hauses.24 Heinrich von Bayern starb zwei Jahre nach dem Aufstand 955 und hinterließ neben seiner Witwe Judith drei Kinder: Gerberga, die in jungen Jahren in das ot­ tonische Damenstift Gandersheim eintrat und später dort Äbtissin werden sollte, Hadwig, die um diese Zeit Herzog Burchard von Schwaben, den Nachfolger des aufständischen Liudolf, heiratete, und Heinrich, der vermutlich erst nach 950 ge­ boren und somit beim Tod des Vaters noch keine fünf Jahre alt war.25 Doch anders als im Falle des Berthold-Sohnes Heinrich und seiner Mutter Bile­ trud konnte Judiths Sohn die Nachfolge seines Vaters übernehmen, wobei er in drei im Original überlieferten Urkunden, die ihn erwähnen, stets an der Seite sei­ ner Mutter in Erscheinung tritt. Die exklusive gemeinsame urkundliche Nennung gilt als wichtiges Indiz einer Regentschaft Judiths für ihren Sohn Heinrich in ­Bayern. So versah Otto I. 959, vier Jahre nach dem Tod des älteren Heinrich, zwei Schenkungen für die Kanoniker der Salzburger Kirche beziehungsweise die ­Mönche von St. Emmeram zu Regensburg jeweils mit einer Rückfallklausel für die domina Judita und ihren Sohn, den Herzog Heinrich, wobei in der zweiten Urkunde bemerkenswerterweise noch ihrer beider (!) Erbe (ipsorum heredis ­proximi) ergänzt wird.26 Überdies schenkte der König im Jahr 961 dem Kleriker Diotpert ein Gut im bayerischen Kroatengau auf Intervention Herzog Heinrichs, seiner Mutter Judith sowie des Bischofs Abraham von Freising.27 In einer weite­ ren Urkunde aus dem direkten zeitlichen Kontext der Begünstigung Diotperts er­ scheint Judith alleine, ohne ihren Sohn, als Empfängerin einer königlichen Schen­ kung, wobei sie als „überaus mächtige Herrin der Bayern“ (Iuditae prepotenti Bauuariorum domnę) bezeichnet wird.28 Auch hier handelt es sich um ein Origi­ naldiplom, allerdings scheint es „ausserhalb der Kanzlei entstanden“ zu sein,29 was die ungewöhnliche Formulierung erklären könnte und somit Judiths Wahr­ nehmung auch außerhalb des Herrscherhofes widerspiegelt. Diese vier Urkunden sind alle in Bayern ausgestellt und betreffen „bayerische“ Angelegenheiten. Außerdem tritt Judith noch in einer ebenfalls im Original erhal­ tenen Urkunde Ottos I. als Intervenientin gemeinsam mit Bischof Abraham von Freising, aber ohne ihren Sohn Heinrich auf, die am 3. April 965 im mittelrheini­ schen Ingelheim ausgestellt wurde. Dabei erscheint Judith als „geliebte Herrin und Herzog(in)“ (dilectę ducis dominęque Iuditę).30 Continuatio Reginonis [im Folgenden: Adalberti continuatio Reginonis]. Hg. von Friedrich Kurze (MGH Scriptores rerum Germanicarum 50). Hannover 1890, S. 154–179, a. 953, S. 167; vgl. auch Reindel: Die bayerischen Luitpoldinger (wie Anm. 17), Nr. 104, S. 204–214. 24  So auch Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 392  f. 25  Vgl. den Überblick bei Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 285–287. 26  D OI 202 (Rohr, 8. 6. 959), S. 281  f., und D OI 203 (Rohr, 9. 6. 959), S. 282 f. 27  D OI 221 (Regensburg, 13. 2. 961), S. 303  f., hier: S. 303. 28  D OI 220 (Regensburg, 11. 2. 961), S. 302  f., Zitat: S. 302. 29  Ebd., Vorbemerkung des Editors Sickel, S. 302. 30  D OI 279 (Ingelheim, 3. 4. 965), S. 395  f., Zitat: S. 395.

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Dass Judiths Aktionsradius in dieser Zeit keineswegs auf Bayern oder den ­ üden des Ostfrankenreichs beschränkt war, sondern sich auch auf die seit 952 S unter bayerischer Herrschaft stehende norditalienische Markgrafschaft Verona31 erstreckte, ergibt sich aus den Schriften Bischof Rathers von Verona, der in den 960er-Jahren mit Schwierigkeiten in seiner Stadt zu kämpfen hatte.32 In diesen Zusammenhang gehören auch sein Brief an einen unbekannten Empfänger aus dem Herbst 965 sowie sein als Verteidigungsschrift zu wertendes Werk „Qualita­ tis coniectura“, verfasst 966, in denen Rather deutlich macht, dass er unter Judiths Schutz stehe. Judith wird dabei von ihm als dux domina, nur als dux oder als dux inclita oder excellentissima bezeichnet.33 Rather verzichtet also, bewusst oder unbewusst, auf die in Urkunden übliche Kombination von Mutter und Sohn und konzentriert sich ganz auf Judith – und das, obschon sich der junge Heinrich mittlerweile in großen Schritten dem Voll­ jährigkeitsalter näherte, wenn er es nicht Mitte der 960er-Jahre bereits erreicht hatte.34 Heißt das im Umkehrschluss, dass wir es in den Urkunden mit einer Fik­ tion oder zumindest einer idealen Konfiguration zu tun haben und hier in Rathers Schriften die „realen“ Machtverhältnisse mit der Herzoginmutter als der Haupt­ ansprechpartnerin und eigentlichen Inhaberin der herzoglichen Gewalt greifbar werden? In jedem Fall können an einer zentralen politischen Position Judiths im ersten Jahrzehnt der Herrschaft ihres Sohnes Heinrich als Herzog in Bayern keine Zwei­ fel bestehen, auch wenn damit die Zeugnisse für ihr Wirken als Regentin – wie oben erläutert, verstanden im Sinne einer unterstützenden Funktion für den Sohn bis zum Erreichen seiner vollen Herrschaftsfähigkeit – bereits im Wesentlichen ausgeschöpft sind. Zwar wird auch gerne die Heirat Hadwigs mit Burchard von Schwaben bald nach dem Tod Heinrichs I. von Bayern auf ihre Mutter Judith 31  J. F. Böhmer: Regesta Imperii II. Sächsisches Haus 919–1024. Bd. 1: Die Regesten des Kaiser­ reiches unter Heinrich I. und Otto I. 919–973 [im Folgenden: RI II, 1]. Bearb. von Emil von ­Ottenthal. Innsbruck 1893, hier: RI II, 1, Nr. 217a (7. 8. 952), online zugänglich unter: http:// www.regesta-imperii.de/id/0952-08-07_1_0_2_1_1_408_217a (letzter Zugriff am 7. 3. 2022). 32  Zu Rather vgl. etwa Dario Cervato: Raterio di Verona e di Liegi. Il terzo periodo del suo epis­ copato veronese (961–968). Scritti e attività. Verona 1993, S. 141–223, bes. S. 197–223. 33 Die Briefe des Rather von Verona (wie Anm.  1), ep. 23 (Verona, Herbst 965), S. 118 f., bes. S. 119: […] ut, quibus dux domina pręcepit, quo me adiuvaret, iuberet […]; ep. 24 (Verona, Mitte Dezember 965), S. 119–124, bes. S. 121: […] ad dedecus hęc omnia tamen imperatoris et, licet dissimulent, ducum nostrorum […]; ep. 26 (Verona, Anfang Dezember 966), S. 137–155, bes. S. 142: […] subventu excellentissimę ducis […]; bei Raterio di Verona: Qualitatis coniectura. Hg. von Benedetta Valtorta. Florenz 2016, c. 5, S. 70, ist nur von dux bzw. duci die Rede ohne ge­ schlechtsdeterminierendes Adjektiv, sodass die Identifizierung mit Judith und nicht mit Hein­ rich II. hier keineswegs gesichert, wenn auch wahrscheinlich ist (anders Valtorta: ebd., S. 121), siehe aber c. 9, S. 78: Hoc duci inclitae dixit in fronte […], sowie c. 14, S. 90: Huiuscemodi in me dux inclita ­comperiens mores […]. 34  Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 397, verweist darauf, dass Heinrich „[w]enn man das übliche Volljährigkeitsalter von 16 Jahren in Rechnung stellt“, im Jahre 967 volljährig geworden wäre, wobei nicht gesichert ist, dass Heinrich exakt 951 geboren wurde, vielleicht liegt sein Ge­ burtsjahr auch später. Zur Problematik des Volljährigkeitsalters vgl. Anm. 6.

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zurückgeführt,35 doch ist dafür keine Quellengrundlage erkennbar. Noch weniger lässt sich festmachen, dass es Judith gewesen wäre, die ihrer zweiten Tochter Ger­ berga die Äbtissinnenwürde in Gandersheim sicherte oder ihrem Neffen Heinrich auf den Bischofssitz von Augsburg verhalf.36 Während eine Schenkung Ottos I. für die erzbischöfliche Kirche zu Salzburg vom Herbst 969 merkwürdig unbestimmt auf die Intervention des namentlich ge­ nannten Herzogs Heinrich sowie seiner parentis, also wohl seiner Mutter Judith, zurückgeführt wird,37 setzt sich Heinrich II. in den Folgejahren zweimal alleine bei Kaiser Otto I. für Personen und Institutionen seines bayerischen Herrschafts­ bereichs ein.38 Judith scheint sich also nach 966, spätestens aber um 969 zuneh­ mend aus der Politik zurückgezogen und ihrem Sohn die alleinige Herrschaft im Herzogtum überlassen zu haben. Heinrich war mittlerweile mindestens 15 Jahre alt.39 Judiths Fehlen in den Quellen dieser Jahre fügt sich zum Bericht der „Vita Erhardi“ über eine Pilgerreise der Herzogin, hier bezeichnet als Iudita ductrix, nach Jerusalem.40 973 – möglicherweise war Heinrich II. zu diesem Zeitpunkt be­ reits mit Gisela, der Tochter König Konrads III. von Burgund, verheiratet41 – er­ scheint sie dann wieder in den ottonischen Urkunden, und zwar vier- von fünfmal mit dem Zusatz venerabilis domna.42 Überdies handelt es sich bei diesen Urkun­ den des Jahres 973, mit Ausnahme einer Schenkung für Judith selbst, allesamt um Begünstigungen für das Kloster Niedermünster zu Regensburg, für das Judith bei Otto I. und Otto II. intervenierte. In einer Regensburger Traditionsnotiz, einer Schenkung für St. Emmeram, die Josef Widemann in die Jahre 972 bis 974 datiert hat, wird sie gar als „ehrwürdige (Schutz)Herrin und fromme Frau“ (uenerabilis patrona ac sanctimonialis femina) 35 

Ebd., S. 396. Zum Zeitpunkt und den Umständen der Heirat auch Jürgen Dendorfer: Herzogin Hadwig auf dem Hohentwiel. Landesgeschichtliche Perspektiven für das Früh- und Hochmittel­ alter. In: ZGO 161 (2013), S. 11–42, S. 37 f. mit Anm. 132. 36  So etwa ebd., S. 396. Laut Gerhardi Vita s. Oudalrici episcopi Augustani. Hg. von Georg Waitz (MGH Scriptores 4). Hannover 1841, S. 377–428, c. 28, S. 415 f., waren es Burchard von Schwa­ ben, also Judiths Schwiegersohn, und Heinrich II., die Heinrich den Bischofssitz von Augsburg sicherten; dazu Karl Uhlirz: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III. Bd. 1: Otto II. 973–983. Leipzig 1902, S. 35–37. 37  D OI 380 (Montecchio, 30. 10. 969), S. 521  f. 38  D OI 389 (Pavia, 7. 3. 970), S. 530  f.; D OI 423 (Nierstein, 18. 10. 972), S. 577 f. 39  Vgl. dazu Anm. 34. 40 Vita Erhardi episcopi Bavarici. Hg. von Wilhelm Levison (MGH Scriptores 6). Hannover/ Leipzig 1913, S. 1–21, bes. S. 19. Vgl. dazu auch Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 397. 41  Vgl. dazu bzw. zum Geburtsjahr des späteren Kaisers Heinrich II. Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 303. Die Eheschließung fand auf jeden Fall vor 976 statt, als Gisela bereits zwei Söhne mit Heinrich II. hatte, sodass ein Heiratsdatum um 972 durchaus plausibel erscheint. 42  D OI 431 (Merseburg, 27. 4. 973), S. 584, eine Schenkung für Judith; D OI 432 (Merseburg, 27. 4. 973), S. 585 und D OI 433 (Merseburg, 27. 4. 973), S. 585 f., betreffen Schenkungen für das Kloster Niedermünster auf Intervention der Kaiserin Adelheid und Judiths; D OII 40 (Worms, 27. 6. 973), S. 50, eine Wiederholung von D OI 433; D OII 41 (Worms, 27. 6. 973), S. 51, eine Wie­ derholung von D OI 432, wobei der Zusatz venerabilis für Judith nicht übernommen wurde. Alle Urkunden sind im Original überliefert.

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bezeichnet,43 was einen Klostereintritt nahelegt. Daher könnte auch der St. Em­ meramer Nekrologeintrag zum 29. Juni mit dem Vermerk Iudita vid. non., also vidualis nonna, auf „unsere“ Judith bezogen sein.44 Zum 28. Juni ist im selben Nekrolog Iudita duc. verzeichnet, was sich ebenfalls auf Judith beziehen dürfte.45 Allerdings gehört nur der Eintrag zum 29. Juni zum Kernbestand des Nekrologs aus dem Jahr 1045.46 Alois Schmid hat über einen Zusammenhang zwischen Ju­ diths Schleiernahme und dem Aufstand Heinrichs II. 974 nachgedacht und ihren Schritt als „resignative Abwendung von der Welt der Politik“ gedeutet.47 In jedem Fall dürfte sich Judith für das Damenstift Niedermünster in Regensburg entschie­ den haben, wo sie schließlich an der Seite ihres Gemahls ihre letzte Ruhestätte fand48 und als dessen Gründerin sie erinnert wurde.49 Dass Judith hingegen die „Leitung [des Regensburger Niedermünsters] übernahm“, also die Äbtissinnen­ würde innehatte, ist nicht erkennbar.50 Anlässlich ihres Todes um 985 weiß Thietmar von Merseburg, der seine Chro­ nik in den 1010er-Jahren verfasste, eine Episode zu erzählen, die nur bei ihm überliefert ist, die aber in jedem Fall einen Reflex auf die bewegte politische Ver­ gangenheit der verstorbenen Herzogin darstellen dürfte. Es heißt dort, Judith habe in der Zeit ihrer Witwenschaft continenter – also enthaltsam – gelebt, wäh­ rend sie doch Bischof Abraham von Freising „mehr als andere schätzte“, weshalb „sie völlig unschuldig von niederträchtigem Gerede [wörtlich: vom missgünstigen 43  Die Traditionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters S. Emmeram. Hg. von Josef Wi­ demann. München 1943, Nr. 195 [972–974], S. 145 f., eine Schenkung an St. Emmeram unter Vor­ behalt lebenslänglicher Nutzung für sich und ihren Bruder Ludwig, ein Akt, den sie nach dem Tod ihrer Bruders erneuerte, ebd., Nr. 196 [972–974], S. 146 f. Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 397, ordnet diese Schenkungen noch in die Zeit der Regentschaft Judiths für Heinrich ein, wobei er sich wenig später, S. 398, Widemanns Datierung anschließt. 44  Das Martyrolog-Necrolog von St. Emmeram zu Regensburg. Hg. von Eckhard Freise/Dieter Geuenich/Joachim Wollasch (MGH Libri memoriales N.S. 3). Hannover 1986, S. 231. 45 Ebd. 46  Vgl. Eckhard Freise: Der Codex I 2 20 8 der Universitätsbibliothek Augsburg. In: Das Marty­ rolog-Necrolog von St. Emmeram (wie Anm. 44), S. 28–95, hier: S. 71, S. 74–76, zum zweiten Ein­ trag zum 28. Juni, ebd., S. 78. 47  Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 398; zum Aufstand vgl. Franz-Reiner Erkens: Fürst­ liche Opposition in ottonisch-salischer Zeit. Überlegungen zum Problem der Krise des frühmit­ telalterlichen deutschen Reiches. In: AKG 64 (1982), S. 307–370, hier: S. 339 f. 48 Vgl. Klaus Schwarz: Archäologische Geschichtsforschung in frühen Regensburger Kirchen. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 10 (1976), S. 13–54, hier: S. 24–26. 49 So etwa im Necrologium Monasterii Inferioris Ratisbonensis. Hg. von Franz Ludwig Bau­ mann (MGH Necrologia Germaniae 3). Berlin 1905, S. 273–289, hier: S. 280: Iunius […] III. kal. [28. Juni] Ievta ducissa, fundatrix Inferioris Monasterii; Heinrici II. diplomata [im Folgenden: D HII]. Hg. von Harry Bresslau und Hermann Bloch (MGH Diplomata regum et imperatorum Ger­ maniae 3). Hannover 1900–1903, S. 1–692, hier: D HII 29 (Regensburg, 20. 11. 1002), S. 31–33, für Niedermünster, quod divę memoriae avia nostra Ivditha olim in honore sanctae dei genitricis ­Mariae a fundamentis in abbatiam erexit. Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 400–404, mit weiteren späteren Belegen. 50  Schmid: Herzogin Judith (wie Anm. 4), S. 398 (Zitat), was er aber, S. 401, mit Verweis auf nicht vorhandene Quellen relativiert.

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allgemeinen Zahn] zerrissen wurde“. Abraham habe sich daher noch am Tag ihres Todes beim Feiern der heiligen Messe aus eigenem Antrieb erfolgreich dem Gottes­urteil der Hostienprobe unterzogen.51 Tatsächlich tritt der Bischof von Freising, wie erwähnt, in den überlieferten Ur­ kunden zweimal an Judiths Seite in Erscheinung, als er 961 gemeinsam mit ihr und Heinrich II. von Bayern bei Otto I. für den Kleriker Diotpert intervenierte und als er sich 965 mit Judith, diesmal ohne Heinrich, für einen seiner Vasallen beim Herrscher einsetzte.52 Aus diesen Stellen ist in der Forschung eine gemeinsa­ me Regentschaft Judiths und Abrahams für Heinrich geworden,53 wahrscheinlich aus der Überlegung heraus, dass eine Frau eines (rechtlichen) Vormundes, in ­jedem Fall eines Mannes an ihrer Seite bedurfte. Diese rechtliche Minderstellung Judiths könnte, der gängigen Lehrmeinung zur Stellung der Frau im frühen Mit­ telalter entsprechend, auch in ihren Schenkungen für St. Emmeram zum Aus­ druck kommen, denn die Witwe agierte hier una cum manu filii sui Heinrici ducis. Allerdings schenkte dieser Herzog Heinrich 985 ein Gut seines Sohnes Brun an Niedermünster cum manu matris sue domine Judite54 – wir sehen hier also einmal mehr ein Beispiel dafür, dass scheinbar eindeutig eine rechtliche Minderstellung frühmittelalterlicher Frauen belegende Formeln weiterer Prüfung bedürfen.55 Dass Judith sich – wie andere Herrscherinnen und Herscher auch – Rat holte, ist sicher plausibel, und zu Abraham scheint sie tatsächlich ein gutes, nach Thiet­ mar sogar ein enges Verhältnis gepflegt zu haben. Eine gemeinsame Regentschaft von Herzoginwitwe und Bischof für den jungen Heinrich II. ist jedoch nicht er­ kennbar. 51  Thietmar,

Chronicon (wie Anm. 23), II, c. 41, S. 90: Haec in viduitate sua continenter vivens cum Habraham, Frisinginsem episcopum, prae caeteris diligeret, invido vulgari dente admodum inculpabilis dilaniebatur. Quae cum de hac luce migraret, in die depositionis suae ab eodem antis­ tite missam cantate sic expurgaret. Ante communionem is versus ad populum, quae merita eius fuerint, circumstantibus indixit: „Hoc“, inquiens, „delictum, quo diffamata fuit, si hec umquam commisit, facia omnipotens Pater Filii suimet corporis et sanguinis salutare remedium mihi prove­ nire ad iudicium et ad debitam dampnationem animaeque eius ad perpetuam salvationem“. Et tunc cum mentis ac corporis innocentia sumpsit unicum cunctis fidelibus remedium. Credidit popu­ lus, quamvis sero, et cum detraccione iniusta plus ei profuit, cum nocere studuerit. Zu der Stelle vgl. Linda Dohmen: Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger. Ostfildern 2017, S. 499. 52  D OI 221 (Regensburg, 13. 2. 961); D OI 279 (Ingelheim, 3. 4. 965). 53  Vgl. etwa Rudolf Reiser: Art. Judith, bayerische Herzogin. In: Karl Bosl (Hg.): Bosls Bayeri­ sche Biographie. 8000 Persönlichkeiten aus 15 Jahrhunderten. Regensburg 1982, S. 398; Seibert: Bavvarica regna (wie Anm. 21), S. 126. 54  Die Traditionen (wie Anm. 43), Nr. 195, S. 145  f., Nr. 196, S. 146 f., dazu auch Anm. 43. 55  Zur Komplexität frühmittelalterlicher Rechtspraktiken in Bezug auf die Stellung der Frau vgl. grundsätzlich Ingrid Heidrich: Besitz und Besitzverfügung verheirateter und verwitweter freier Frauen im merowingischen Frankenreich. In: Hans-Werner Goetz (Hg.): Weibliche Lebensge­ staltung im frühen Mittelalter. Köln 1991, S. 119–138; Doris Hellmuth: Frau und Besitz. Zum Handlungsspielraum von Frauen in Alamannien (700–940). Sigmaringen 1998, sowie die Diskus­ sion um die sogenannte Friedelehe, dazu Andrea Esmyol: Geliebte oder Ehefrau? Konkubinen im frühen Mittelalter. Köln u. a. 2002; Ruth Mazo Karras: The History of Marriage and the Myth of Friedelehe. In: EME 14 (2006), S. 119–152.

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Judiths Zeitgenossinnen und Verwandte als Regentinnen für ihre ­minderjährigen Söhne? Gerberga, Hadwig und Beatrix Auf der Suche nach vergleichbaren „politischen Karrieren“ von Zeitgenossinnen Judiths von Bayern fällt der Blick insbesondere ins Westfrankenreich, denn dort­ hin waren Judiths Schwägerinnen, die Schwestern Ottos I. und Heinrichs I. von Bayern, Gerberga und Hadwig, verheiratet worden, wobei die Quellenlage zu den beiden sehr unterschiedlich ist. Gerberga, offenbar die ältere der Schwestern, hatte bereits 928/929 den Herzog der Lothringer Giselbert geheiratet.56 Mit dieser Verbindung dürfte ihr Vater, Kö­ nig Heinrich I., versucht haben, Lothringen stärker an das Ostfrankenreich zu binden.57 Die Strategie ging auf, bis sich Giselbert 939 dem Aufstand von Judiths Ehemann Heinrich, damals noch nicht Herzog von Bayern, anschloss und in des­ sen Verlauf im Rhein ertrank.58 Er hinterließ neben seiner Witwe mehrere Töchter und einen Sohn, Heinrich. Laut Widukind von Corvey vertraute Otto I. diesen in jedem Fall noch minderjährigen Jungen (puerulum, nomine Heinricum) sogleich dem lothringischen Grafen Otto an.59 Eine Regentschaft Gerbergas in Lothringen kam in dieser Situation offenbar nicht infrage. Die Witwe wagte stattdessen einen ungewöhnlichen Schritt, der sich bei Widukind wie ein Im-Stich-Lassen ihrer Familie liest: Sie heiratete den west­ fränkischen König Ludwig IV.60 Laut Régine Le Jan könnte diese Eheschließung mittelfristig durchaus den Zweck verfolgt haben, die Chancen ihres minderjähri­ gen Sohnes in Lothringen zu sichern.61 Heinrich soll spätestens 944 gestorben sein,62 doch scheint ein früheres Datum plausibler, denn bereits 941 gaben ­Gerberga und Ludwig ihrem erstgeborenen Sohn den programmatischen Namen Lothar und brachten so ihre Ansprüche auf das Herzogtum gegen Gerbergas ost­ fränkische Verwandtschaft zum Ausdruck.63 Als König Ludwig 954 einem Reitunfall zum Opfer fiel, wurde Gerberga zum zweiten Mal Witwe, erneut mit minderjährigen Kindern – der älteste Sohn Lothar war gerade 13 Jahre alt. In dieser Situation, so berichtet der Reimser Kleriker ­Flodoard in seinen Annalen, sei es die verwitwete Königin gewesen, die sich an 56  Zur

Datierung der Heirat Gerbergas und Giselberts Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 272. 57  Vgl. ebd., S. 28. 58 Widukind, Res gestae Saxonicae (wie Anm. 13), II, c. 26, S. 88; zum Verhältnis Lothringens zum Ostfrankenreich Walter Mohr: Geschichte des Herzogtums Lothringen. Bd. 1: Geschichte des Herzogtums Gross-Lothringen (900–1048). Saarbrücken 1974, S. 23–29; Rüdiger E. Barth: Der Herzog in Lotharingien im 10. Jahrhundert. Sigmaringen 1990, S. 39–82; Simon MacLean: Ottonian Queenship. Oxford 2017, S. 51–53. 59  Widukind, Res gestae Saxonicae (wie Anm. 13), II, c. 26, S. 89. 60 Ebd. 61  Le Jan: Entre Carolingiens (wie Anm. 7), S. 168  f. 62  Vgl. Mohr: Geschichte (wie Anm. 58), S. 33, mit S. 99, Anm. 214; Le Jan: Entre Carolingiens (wie Anm. 7), S. 169. 63  Vgl. MacLean: Ottonian Queenship (wie Anm. 58), S. 54  f.

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Herzog Hugo von Franzien wandte, ihn um „Rat und Hilfe bat“ (consilium et auxilium petens) und so seine Unterstützung von Lothars Königtum erreichen konnte.64 Daraufhin sei Lothar mit Zustimmung Hugos und auch Bruns, des Erz­ bischofs von Köln, sowie der übrigen geistlichen wie weltlichen Großen Franzi­ ens, Burgunds und Aquitaniens zum König geweiht worden. Hugo habe (dafür) Burgund und Aquitanien erhalten. Flodoard bezeichnet Lothar dabei als „Junge“ oder „Kind“ (Lotharius puer) und betont die zentrale Rolle der Mutter in den Ereignissen, wenn er abschließend Gerberga regina cum filio rege nach Laon zu­ rückkehren lässt.65 Der als „Königsmacher“ inszenierte Hugo war der zweifellos mächtigste Große im Westfrankenreich der Zeit, der Nachwelt bekannt als Hugo Magnus.66 Hugo hatte um circa 936 Gerbergas Schwester Hadwig geheiratet,67 wobei die ver­ wandtschaftliche Verbindung in den Berichten um Lothars Königserhebung 954 keine Erwähnung findet. Hugo starb bereits 956, und auch er hinterließ mehrere Söhne, darunter den ältesten, den nach heutigen Maßstäben zumindest jugend­ lichen Hugo (Capet), der rund drei Jahrzehnte später, 987, zum König des west­ fränkisch-französischen Reiches erhoben werden sollte.68 Ferdinand Lot hat in dieser Konstellation der Jahre ab 956 den erwähnten Erz­ bischof Brun von Köln, der zugleich der jüngste Bruder Gerbergas, Hadwigs, Heinrichs von Bayern und Ottos I. war, als den eigentlichen Regenten des West­ frankenreiches identifiziert.69 Daraus ist mitunter eine doppelte Regentschaft 64  Les

Annales de Flodoard [im Folgenden: Flodoard, Annales]. Hg. von Philippe Lauer. Paris 1905, a. 954, S. 138; zum Entstehungskontext der Quelle zuletzt Stéphane Lecouteux: Le contexte de rédaction des Annales de Flodoard de Reims (919–966). In: Le Moyen Âge 116 (2010), S. 51– 121, S. 283–318. Vgl. auch Annales sanctae Columbae Senonensis a. 708–128. Hg. von Georg Heinrich Pertz (MGH Scriptores 1). Hannover 1826, S. 102–109, a. 954, S. 105. 65  Flodoard, Annales (wie Anm. 64), a. 954, S. 139; durchaus ähnlich Richeri historiarum libri IIII [im Folgenden: Richer, Historiae]. Hg. von Hartmut Hoffmann (MGH Scriptores 38). Hannover 2000, III, c. 1 f., S. 171. 66 Zu Hugo Magnus vgl. grundlegend Karl-Ferdinand Werner: Les premiers Robertiens et les premiers Anjou (IXe siècle–début Xe siècle). In: Olivier Guillot/Robert Favreau (Hg.): Pays de Loire et Aquitaine de Robert le Fort aux premiers Capétiens. Actes du colloque scientifique in­ ternational tenu à Angers en septembre 1987. Poitiers 1997, S. 9–65; zu Hugos Rolle 954 Bernd Schneidmüller: Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum. Untersuchungen zur Herrschaftslegitimation der westfränkisch-französischen Monarchie im 10. Jahrhundert. Wiesba­ den 1979, S. 156 f. 67  Zur Heirat nur kurz Widukind, Res gestae Saxonicae (wie Anm. 13), I, c. 31, S. 44, ohne Nen­ nung von Hadwigs Namen. Der Zeitpunkt ergibt sich aus Hugonis Magni charta. Hg. von Léo­ pold Delisle. In: RHGF. Bd. 9. Paris 1874, hier: S. 720–722, bes. S. 721: […] necnon amabillimae et multum dilectae conjugi suae Haduidi usu […], die auf 937 datiert. 68  Das Geburtsdatum Hugo Capets 940/941 ist erschlossen; siehe Carl von Kalckstein: Geschich­ te des französischen Königthums unter den ersten Capetingern. Bd. 1: Der Kampf der Robertiner und Karolinger. Leipzig 1877, S. 255; zu den weiteren Söhnen vgl. Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 288 f. 69 Ferdinand Lot: Les derniers Carolingiens. Lothaire, Louis V, Charles de Lorraine 954–991. Paris 1891, S. 18–52, überschreibt das Unterkapitel vom Tod Hugos bis zum Tod Bruns 956–965 mit „Régence de Brunon“, siehe auch bes. S. 19 und S. 51; vgl. MacLean: Ottonian Queenship (wie Anm. 58), S. 74 mit Anm. 2.

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Bruns, ab 954 für Lothar, ab 956 für die Söhne Hugos des Großen geworden.70 Grundlage dieser These ist das Engagement Bruns in der westfränkischen Politik dieser Jahre, das aus seiner Doppelfunktion als Erzbischof von Köln und neuer Herzog in Lothringen auf Geheiß Ottos I. rührt. Diese Doppelfunktion bringt sein Biograf Ruotger mit dem Ausdruck archidux auf den Punkt, wobei er Brun in diesem Zusammenhang auch als „dem Westen Beschützer und Verwalter“ (occi­ denti tutorem et provisorem) charakterisiert.71 Allerdings beziehen sich diese Be­ zeichnungen eben nicht auf eine mögliche Regentschaft für Lothar, vielmehr ist der zeitliche Zusammenhang, in dem sie stehen, der Aufstand Liudolfs im Som­ mer 953, der Otto in den Südosten des Reiches ziehen ließ.72 An späterer Stelle in der Vita geht Ruotger dann aber doch kurz auf das Verhältnis des westfränkischen Königs zu seinem Onkel Brun ein, indem er ausführt, dass „Lothar, der Sohn ­seiner Schwester, der aus altem Königsgeschlecht stammte, von seinen Vettern schwer bedrängt wurde“ und von Brun gerettet und erhöht worden sei. „Er gab nicht eher nach, als bis er ihn an die Stelle seines Vaters als König eingesetzt und die Söhne Hugos, die jenem an Macht und Einfluß überlegen waren, und alle Großen dieses Reiches unter sein Joch gebeugt hatte.“73 Dass Hugos Söhne un­ mittelbar nach dem Tod ihres Vaters bereits mächtiger als dieser gewesen wären, widerspricht allem, was wir sonst über frühmittelalterliche Herrschaftsnachfolgen wissen und bleibt überdies ohne Niederschlag in anderen Quellen. Als Regent für Lothar, geschweige denn für Lothar und Hugo (sowie dessen Brüder) wird Brun jedenfalls in keiner zeitgenössischen Quelle bezeichnet. Vielmehr lässt Dudo von St. Quentin in seiner Geschichte der normannischen Herzöge aus dem ersten Drittel des 11. Jahrhunderts Hugo den Großen auf dem Sterbebett seine Frau, Hadwig, und seinen Sohn – gemeint ist wohl Hugo –, „bis dieser das Alter erreicht“, in den Schutz Richards von der Normandie übergeben, der als ihrer beider advocatus agieren solle.74 Dieses Beispiel für Sterbebettlyrik 70 

Vgl. dazu MacLean: Ottonian Queenship (wie Anm. 58), S. 74 mit Anm. 2. Vita Brunonis archiepiscopi Coloniensis [im Folgenden: Ruotger, Vita Brunonis]. Hg. von Irene Ott (MGH Scriptores rerum Germanicarum. N.S. 10). Weimar 1951, hier: c. 20, S. 19; Übersetzung in Anlehnung an Hatto Kallfelz: Lebensbeschreibungen einiger Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts. Darmstadt 1986, S. 207. Zur Vita vgl. zuletzt Britta Hermans: Sanctum eum adprime virum esse. Die Vita Brunonis des Ruotger als Bischofsvita. In: Geschichte in Köln 63 (2016), S. 7–23. 72  Ruotger, Vita Brunonis (wie Anm. 71), c. 20, S. 19–21. 73  Ebd., c. 39, S. 41  f.: Pręterea Lotharium, sororis suę filium, de antiqua regum prosapia ortum, cum a sobrinis suis vehementer esset oppressus, mirifice eruit et exaltavit nec cessavit, donec in ­locum patris sui regem constituit ac maiores ipso potentioresque Hugonis filios omnesque illius regni principes sub iugum eius stravit […]. Übersetzung Kallfelz: Lebensbeschreibungen (wie Anm. 71), S. 241. 74  De moribus et actis primorum Normanniae ducum auctore Dudone sancti Quintini decano. Hg. von Jules Lair. Caen 1865, c. 101, S. 263: […] Hugo, dux magnus et mirabilis, coactus imbeci­ litate sui corporis, […], dixit: „[Ricardus, Northmannorum dux praepotentissimus] vero uxoris meae filiique mei, dum in id aetatis erit, advocatus sit […].“ Zu der Stelle kurz Lot: Les derniers Carolingiens (wie Anm. 69), S. 18. Zu Dudo vgl. zuletzt Benjamin Pohl: Dudo of Saint-Quentin’s Historia Normannorum. Tradition, Innovation and Memory. Woodbridge 2015. 71 Ruotgeri

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dient gewiss der panegyrischen Überhöhung Richards, dessen angebliche Vor­ mundschaft über Hadwig und Hugo, der ja vermutlich bereits 15 oder 16 Jahre alt war, keinen Niederschlag in zeitgenössischen Quellen findet. Allerdings verdeut­ licht die Episode das Machtvakuum, das spätestens mit dem Tod des Hugo ­Magnus im Westfrankenreich entstanden war und in das auch Brun – im Auftrag Ottos – hineinstoßen konnte. Tatsächlich können die Treffen Bruns und Gerbergas in der zweiten Hälfte der 950er-Jahre, die Flodoard überliefert,75 auch als Schauplätze eines innerfamiliären Konflikts über Lothringen und dessen Zugehörigkeit zum Ost- oder Westfran­ kenreich gedeutet werden, wie Simon MacLean argumentiert hat.76 Gerbergas kö­ nigliche Stellung und ihre Rolle am westfränkischen Hof treten dabei insbeson­ dere in der urkundlichen Überlieferung deutlich zutage. So erscheint sie etwa in einer im Original überlieferten Urkunde Lothars von 958, in der sie für das Klos­ ter Cluny interveniert, als domina mea mater cloriosissimaque Girberga regina, „meine Herrin, glorreichste Mutter und Königin“; überdies wird auf den Konsens ihrer (!) und der Getreuen Lothars verwiesen.77 Zumindest der Dreiklang „Her­ rin, Mutter, Königin“ ist für Gerbergas Nennungen in Lothars Urkunden typisch. Während Brun in den Urkunden Lothars nur in einer einzigen Urkunde, überdies erst von 965, ausgestellt in Köln, in Erscheinung tritt,78 findet Gerberga kontinu­ ierlich und in herausragender Stellung bis weit in die 960er-Jahre hinein Erwähnung,79 also auch noch nachdem Lothar 965 die Stieftochter seines Onkels Otto, Emma, geheiratet hatte.80 Analog zu dem Befund, dass Gerberga als (Mit-)Regentin Lothars identifiziert werden kann, während sich eine derartige Rolle ihres Bruders aus der zeitgenössi­ schen, insbesondere der urkundlichen Überlieferung nicht erkennen lässt, muss ebenfalls eine Regentschaft Bruns oder Richards von der Normandie für die Kin­ 75 

Flodoard, Annales (wie Anm. 64), a. 956, S. 143; a. 957, S. 144; a. 958, S. 146; a. 959, S. 146. MacLean: Ottonian Queenship (wie Anm. 58), S. 75–83. 77  Recueil des actes de Lothaire et de Louis V, rois de France (954–987). Hg. von Louis Halphen. Paris 1908, Nr. 12 (Dijon, 23. 11. 958), S. 25–27, Zitat: S. 26 und dann: per consensum suorum ­nostrorumque fidelium. 78  Ebd., Nr. 23 (Köln, 2. 6. 965), S. 50–53. 79  Nämlich in fast einem Drittel der Urkunden Lothars von 954 bis 968, davon achtmal als Inter­ venientin, so oft wie kaum jemand sonst: Ebd., Nr. 3 f. (Laon, 1. 1. 955), S. 6 f., S. 8–10; Nr. 6 (Compiègne, 21. 5. 955), S. 13–15; Nr. 11 (Compiègne, 11. 2. 958), S. 22–25; Nr.  12 (Dijon, 23. 11. 958), S. 25–27; Nr. 14 (Condes, 5. 10. 961), S. 29–31; Nr. 17 (Reims, 8. 12. 962), S. 36 f.; Nr. 25 f. (Saint-Vaast d’Arras, 5. 5. 966), S. 58–66; Nr. 31 (Laon, 17. 5. 968), S. 74–77. Für einen Ver­ gleich mit anderen Königinnen Sean Gilsdorf: The Favor of Friends. Intercession and Aristocra­ tic Politics in Carolingian and Ottonian Europe. Leiden/Boston 2014, S. 112–124; Linda Doh­ men: „Auf Vermittlung unserer geliebten Gemahlin“. Königinnen als Intervenientinnen in ost­ fränkischen Herrscherurkunden (843–911/918). In: Diana Ordubadi/Dittmar Dahlmann (Hg.): Die ‚Alleinherrschaft‘ der russischen Zaren in der ‚Zeit der Wirren‘ in transkultureller Perspek­ tive. Göttingen 2021, S. 357–374. Vergleichbar ist nur das Aufscheinen des Grafen Arnulf von Flandern, dazu Geoffrey Koziol: The Politics of Memory and Identity in Carolingian Royal ­Diplomas. The West Frankish Kingdom (840–987). Turnhout 2012, S. 259–261. 80  Zu dieser Heirat Dohmen: Ursache (wie Anm. 51), S. 312  f. 76 

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der Hugos des Großen infrage gestellt werden, auch wenn Hadwig in der kurzen Zeit zwischen Hugos Tod 956 und ihrem eigenen, vermutlich 958/959, in den Quellen kaum fassbar ist.81 Immerhin berichtet Flodoard für das Jahr 957, Lothar habe sich gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Tante mit seinem Onkel Brun getroffen; im Folgejahr kam Brun erneut – mit Heer (!) – ins Westfrankenreich, „um sich mit seinen Schwestern und seinen Neffen zu besprechen“.82 Für 959 ist dann nur noch von einem Treffen Bruns „mit der Königin, (seiner) Schwester, und seinen Neffen“ die Rede, das in Streit mündete, wobei schließlich jedoch „Frieden unter ihnen bis zu einer künftigen Versammlung“ geschlossen werden konnte.83 Nach einer Vormundschaft oder Regentschaft Bruns klingt das nicht; von Richard ist zudem gar keine Rede. Wenn mit Bruns Neffen nicht nur Lothar und sein jün­ gerer Bruder Karl, der noch ein Kleinkind war, sondern auch Hadwigs Söhne ge­ meint waren, diese selbst aber nicht aufscheint, dürfte das ein Indiz für ihren Tod darstellen.84 Da überdies Hugo Capet vermutlich gar nicht minderjährig war, ver­ mag Hadwigs diffuse Rolle in der kurzen Zeit nach 956 nicht zu verwundern. Hadwigs Tochter Beatrix, eine der Schwestern Hugo Capets, ist anders als ihre Mutter eindeutig als Herzogin bezeugt – sie gilt überdies als Regentin für ihren Sohn Dietrich. Hanns Leo Mikoletzky spricht gar von einer „vormund­schaft­ liche[n] Regierung“ nach dem Tod Herzog Friedrichs von Oberlothringen.85 Die­ sen hatte Beatrix um 954 geheiratet.86 Laut Flodoard war Friedrich 959 von sei­ nem angeheirateten Onkel Brun zu seinem Stellvertreter (vice sua) ernannt wor­ den.87 Als Friedrich 978 starb, hinterließ er neben Beatrix zwei Söhne, von denen wohl einer, Adalbero, für die geistliche Laufbahn vorgesehen war, während der andere, Dietrich, ihm im Herzogtum folgen sollte.88 Die Belege für Dietrichs Agieren als Herzog stammen allerdings erst aus den 980er-Jahren, was für ein 81  955, noch zu Lebzeiten Hugos, findet Hadwig in einem Diplom Lothars Erwähnung, das sie als Intervenientin eines Schenkungsaktes Rudolfs II. von Burgund nennt; Recueil des actes de Lothaire (wie Anm. 77), Nr. 5 (Laon, 8. 3. 955), S. 11–13, bes. S. 12. Die Überlieferungslage der (Privat-)Urkunden Hugos des Großen und Hugo Capets ist schlecht. Kritische Editionen stehen weiterhin aus. 82  Flodoard, Annales (wie Anm. 64), a. 957, S. 144; a. 958, S. 146: Bruno Coloniensis archiepiscopus cum exercitu Lothariensium per Franciam proficiscitur in Burgundiam, locuturus cum sororibus ac nepotibus suis. Zum Kontext der Treffen MacLean: Ottonian Queenship (wie Anm. 58), S. 81, S. 89. 83 Flodoard, Annales (wie Anm. 64), a. 959, S. 146: Bruno iterum in Franciam venit, et apud Compendium cum regina, sorore, ac nepotibus suis discordantibus, pro quibusdam castris quae rex Lotharius ex Burgundia receperat, colloquium habuit; obsidibusque datis, pacem inter ipsos usque ad futurum placitum pepigit. 84  Zur Diskussion um Hadwigs Todesdatum Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 274  f. 85  J. F. Böhmer: Regesta Imperii II. Sächsisches Haus 919–1024. Bd. 2: Die Regesten des Kaiser­ reiches unter Otto II. 955 (973)–983 [im Folgenden: RI II, 2]. Bearb. von Hanns Leo Mikoletzky. Graz 1950, hier: RI II, 2, Nr. 769c (17[?]. 6. 978), online zugänglich unter: http://www.regestaimperii.de/id/0978-06-17_1_0_2_2_0_338_769c (letzter Zugriff am 12. 1. 2022). 86  Zur Datierung von Kalckstein: Geschichte (wie Anm. 68), S. 276. 87  Flodoard, Annales (wie Anm. 64), a. 959, S. 146  f. Zur These um die Teilung Lothringens 959 (und gegen diese These) Barth: Herzog (wie Anm. 58), S. 130–167. 88  Vgl. Glocker: Die Verwandten (wie Anm. 7), S. 307.

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noch junges Alter 978 spricht.89 Wann Dietrich heiratete – offenbar recht spät, spätestens aber wohl Mitte der 990er-Jahre90 –, ist leider nicht deutlicher festzu­ machen, sodass auch dieser Anhaltspunkt zur ungefähren Bestimmung des Alters entfällt. Beatrix jedenfalls erscheint in den Urkunden Ottos II. und Ottos III. sowie den Briefen Gerberts von Aurillac als Herzogin; zum Teil wird auch Dietrich zu­ mindest erwähnt. So intervenierte Beatrix – illustris dux Beatrix nostra conso­ brina – 983 gemeinsam mit Bischof Dietrich von Metz bei Otto II. für Bischof Notker von Lüttich.91 984 beurkundete Otto III. eine Besitzbestätigung für das Bistum Toul unter Vorbehalt der der Herzogin Beatrix (nostrae nepti ductrici) und nach ihr ihrem Sohn (post se uni filio suo) zuerkannten Rechte. Aus der Narratio der Urkunde geht hervor, dass Beatrix nach Friedrichs Tod die Abtei Saint-Dié ut senior suus, „als/wie ihr Herr“, gehalten habe, also die Rechte (und Pflichten) ihres Ehemannes übernahm.92 In Gerberts Briefsammlung sind gleich drei Briefe an Beatrix aus dem Sommer 985 erhalten, die der spätere Papst Silvester II. zum Teil im Namen Erzbischof Adalberos von Reims verfasste und die allesamt keine Anrede enthalten. Allerdings sind sie in der handschriftlichen Überlieferung mit Beatrice duci überschrieben.93 Beatrix erscheint hier also wiederholt alleine, ohne ihren Sohn, was durchaus an die Rolle Judiths von Bayern in den Schriften Ra­ thers von Verona erinnert. Überdies wird beiden Frauen in zeitgenössischer Überlieferung die Bezeich­ nung dux zuteil, ein lateinisches Substantiv im Maskulinum, das ursprünglich ei­ nen militärischen Anführer meinte.94 Dass es sich bei unseren Fällen jeweils um eine Frau handelt, die als dux bezeichnet wird, wird neben dem Namen durch im Femininum stehende Zusätze verdeutlicht, bei Judith von Bayern besonders mar­ kant in den Formulierungen dux domina und dux inclita.95 89  Zum

Geburtsjahr Dietrichs Robert Parisse: Les origines de la Haute-Lorraine et sa première maison ducale (959–1033). Paris 1909, S. 27 mit Anm. 3. 90  Vgl. dazu und auch zu einem möglichen Konflikt zwischen Beatrix und Dietrich Mohr: Ge­ schichte (wie Anm. 58), S. 59, S. 65, S. 69. 91  D OII 308 (Verona, 15. 6. 983), S. 365. 92  Ottonis III. diplomata [im Folgenden: D OIII]. Hg. von Theodor Sickel (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2, 2). Hannover 1893, S. 393–877, hier: D OIII 2 (Speyer 984), S. 395 f., Zitate: S. 396. 93  Die Briefsammlung Gerberts von Reims. Hg. von Fritz Weigle (MGH Die Briefe der deut­ schen Kaiserzeit 2). Weimar 1966, Nr. 61 (Reims, Juni/Juli 985), S. 92 f., hier: S. 92: Beatrici duci ex persona Adalberonis; Nr. 62 (Reims, Ende Juni–Anfang Juli 985), S. 93: eidem; Nr. 63 (Reims, erste Hälfte Juli 985), S. 94 f., hier: S. 94: eidem duci Beatrici. Weigle editiert die Überschriften nicht, da es sich nicht um Bestandteile der Originalbriefe, sondern um Registerangaben handelt (ebd., S. 6); er führt sie aber im Anmerkungsapparat auf. Vgl. auch Mathilde Uhlirz: Untersuchungen über Inhalt und Datierung der Briefe Gerberts von Aurillac, Papst Sylvesters II. Göttingen 1957, S. 59– 62. 94  Vgl. für die komplexe Debatte jüngst Michael Zerjadtke: Das Amt ‚Dux‘ in Spätantike und frühem Mittelalter. Der ‚ducatus‘ im Spannungsfeld zwischen römischem Einfluss und eigener Entwicklung. Berlin/Boston 2018, S. 4–13. 95  Beispiele Anm. 30, Anm. 33, Anm. 91 und Anm. 93.

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Bereits Walther Kienast hat mit Blick auf die jeweilige Bezeichnung von Judith und Beatrix als dux auf eine Parallele zu Judiths Tochter Hadwig, Witwe Herzog Burchards von Schwaben, verwiesen.96 So wird Hadwig in einer – ebenfalls im Original erhaltenen – Urkunde Ottos III. von 990, in der sie als Intervenientin auftritt, als dux und dilecta consanguinea angeführt sowie als dux domina pos­ tum 99497 – diese Bezeichnungen werden verwendet, obwohl Otto II. das Her­ zogtum Schwaben bereits 983 an Konrad I. als Nachfolger des Liudolf-Sohnes Otto gegeben hatte.98 Ekkehard, der in seinen „Casus Sancti Galli“ immer wieder auf Hadwig zu sprechen kommt, führt sie gar als Hadawiga, Henrici ducis filia, Suevorum post Purchardum virum dux vidua ein.99 An anderer Stelle im Werk spricht Ekkehard schlicht von dux und meint Hadwig; nach Burchards Tod sei Hadwig „mitsamt Heiratsgut und Herzogtum“ (cum dotibus et ducatu) zurück­ geblieben.100 Insbesondere die Tatsache, dass die kinderlose Hadwig – eben anders als Judith oder Beatrix – nicht für einen Sohn regierte, sondern „das Herzogtum an Liudolfs Sohn Otto [hatte] abgeben müssen“, hat Kienast wohl dazu veranlasst, eine „tat­ sächliche[…] Ausübung der Herzogsgewalt“ durch Hadwig, die sich an der Ver­ wendung des dux-Titels festmachen ließe, entschieden zu verneinen. Er sieht stattdessen „rein sprachliche […]“ Gründe für die Verwendung des männlichen Titels in allen besprochenen Fällen: „[D]ie weibliche Form von dux wurde erst später allgemein gebräuchlich“.101 Allerdings verweist Kienast selbst auf die zi­ tierte Urkunde Ottos III., in der Beatrix als ductrix bezeichnet wird, wobei das Original nicht erhalten ist.102 Noch eindrücklicher aber verdeutlicht ein Blick auf die volkssprachliche Überlieferung in Form der althochdeutschen Glossen, dass die explizit weibliche Form von dux bereits in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhun­ derts bekannt und gebräuchlich war: Der „Vocabularius Sancti ­Galli“, gewisser­  96 Walther

Kienast: Der Herzogstitel in Frankreich und Deutschland (9. bis 12. Jahrhundert). Mit Listen der ältesten deutschen Herzogsurkunden. München/Wien 1968, S. 342.  97  D OIII 63 (Frankfurt, 18. 6. 990), S. 469  f., hier: S. 469: ob petitionem et interventum Hadeuigę ducis, nostrae scilicet dilectę consanguineae; D OIII 152 (Ingelheim, 4. 11. 994), S. 562 f., hier: S. 563: per traditionem bonę memorię dominę Hadewigę ducis.  98  In Nachfolge Ottos I., vgl. RI II, 2, Nr. 891b. Erstmals ausdrücklich als dux Alamannorum (und nicht allein als dux) ist er bezeugt in D OIII 4 (Ingelheim, 27. 10. 984), S. 398 f., hier: S. 398. Zu Hadwig Dendorfer: Herzogin Hadwig (wie Anm. 35).  99  Ekkehart IV., St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli). Hg. von Hans F. Haefele und Ernst Tremp (MGH Scriptores rerum Germanicarum 82). Wiesbaden 2020, c. 90, S. 398 f. mit Übersetzung: „Hadwig, Tochter des Herzogs Heinrich, nach dem Tod ihres Mannes Purchard Herzog der Schwaben, wohnte als Witwe auf dem Hohentwiel.“ Dendorfer: Herzogin Hadwig (wie Anm. 98), S. 11, gibt als Übersetzung „Herzogin von Schwaben“. 100  Ekkehart IV., St. Galler Klostergeschichten (wie Anm. 99), c. 90, S. 398  f. (mit Übersetzung). Weitere Stellen bei Dendorfer: Herzogin Hadwig (wie Anm. 98), S. 16 mit Anm. 24. 101  Kienast: Herzogstitel (wie Anm. 96), S. 342. 102  D OIII 2 (Speyer 984); vgl. Kienast: Herzogstitel (wie Anm. 96), S. 342. Vermehrte Belege für ductrix oder ducissa lassen sich ab dem 11. Jahrhundert festmachen; vgl. auch Walther Kienast: Die Ursprünge des Herzogstitels in Frankreich. In: Etudes sur l’histoire des assemblées d’états. Paris 1966, S. 13–35, hier: S. 33 f.

Dux dominaque Iudita – Frauen als Regentinnen und Herzöge im 10. Jahrhundert?

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maßen ein „nach Sachgruppen gegliedertes lateinisch-althochdeutsches Wörter­ buch“, führt nach rex, regina und dux auch ducissa – herizohin auf.103 Vor diesem Hintergrund kann die Entscheidung der mittelalterlichen Zeitgenossen, den duxTitel im Zusammenhang mit weiblichen Personen zu verwenden, nicht einfach mit mangelnden sprachlichen Fähigkeiten erklärt und abgetan werden. Damit ist keineswegs gesagt, dass die hier betrachteten Frauen, denen gramma­ tikalisch männlich wirkende Titel104 zugewiesen wurden, tatsächlich als „soziale Männer“105 auftraten oder als solche wahrgenommen wurden, weil Herrschaft „immer männlich“ gewesen sei.106 Vielmehr scheint die Verwendung grammatika­ lisch überwiegend männlich aufscheinender Titel für Frauen in den hier bespro­ chenen Zusammenhängen gar nicht als Problem wahrgenommen worden zu sein.107 Zugleich deutet das Beispiel der Hadwig von Schwaben darauf hin, dass zeitgenössisches Verständnis des dux-Titels ebenso wie der dahinterstehenden Herzogsgewalt fluider und flexibler war, als wir uns das heute für diese Zeit vor­ stellen mögen.108

Fazit Regentschaften von Frauen und konkret von Müttern im 10. Jahrhundert waren keineswegs institutionalisiert, noch stellten sie de-facto-Automatismen dar. Durch den vergleichenden Blick auf die Ebene der Mittelgewalten treten gerade auch sol­ che Fälle hervor, in denen minderjährige Söhne nicht unmittelbar die Nachfolge ihrer Väter antraten, wie der junge Heinrich, Sohn Bertholds und Biletruds, in Bayern oder Gerbergas und Giselberts Sohn Heinrich in Lothringen. Regent­ schaften von Müttern konnten dann eine pragmatische Lösung darstellen, wenn eine Vater-Sohn-Folge politisch opportun war, der jeweilige Sohn jedoch auf­ 103 Cod.  Sang. 913, p.  186; Zitat: https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0913 (letzter Zugriff am 14. 3. 2022). Zur Handschrift grundsätzlich Rolf Bergmann/Stefanie Stricker: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Bd. 2. Berlin/New York 2005, Nr. 254, S. 582–585. Vgl. dann auch aus dem 11. Jahrhundert Summarium Heinrici. Hg. von Rei­ ner Hildebrandt. Bd. 1: Textkritische Ausgabe der ersten Fassung, Buch I–X. Turnhout 1974, S. 281 (SH A – Langfassung). Ebenfalls aus dem 8. Jahrhundert, aber nicht im Original überliefert und zudem aus einem italienischen Kontext Pippini, Carlomanni, Caroli Magni diplomata. Hg. von Ernst Mühlbacher (MGH Diplomata Karolinorum 1). Hannover 1906, hier: D Karol 156 (Capua, 22. 3. 787), S. 211 f.: de dationibus regum quamque reginarum vel ducum atque ducissa­ rum. 104 Dass dux, wie comes, aber anders als rex, sowohl im Maskulinum als auch im Femininum stehen kann, zeigt die Verwendung mit weiblich deklinierten Adjektiven. 105  Dazu Jörg Rogge: Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert) – Zusammenfassung. In: Zey (Hg.): Frauen (wie Anm. 8), S. 437–457, hier: S. 437. 106  Ebd., S. 437 (als Frage formuliert). 107  Zumindest wurde dem nicht Ausdruck verliehen. 108  In diese Richtung auch nachdrücklich Dendorfer: Herzogin Hadwig (wie Anm. 98), S. 13  f. und bes. S. 20 f.

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grund seines Alters und des damit einhergehenden Mangels an Erfahrung noch nicht in vollem Maße herrschaftsfähig war. Allerdings variierte das Alter der Her­ zogssöhne, die von ihren Müttern unterstützt wurden, stark. Hugo Capet etwa war beim Tod Hugos des Großen nach allgemeinem Verständnis offenbar bereits volljährig; dennoch sehen wir Hadwig an seiner Seite. Eine regelrechte Bestellung der Regentschaft lassen die Quellen nicht erkennen, genauso wenig wie ein klar markiertes Ende: Die als Mütter für ihre Söhne herrschenden Frauen „verschwin­ den“ keineswegs mit der Volljährigkeit ihrer Söhne aus den Quellen, sondern tre­ ten weiter als Handelnde, vermehrt „in eigener Sache“, auf. Auch die anschließen­ de Heirat der Söhne stellt keineswegs einen so eindeutigen und klar greifbaren Einschnitt dar, wie vermutet werden könnte.109 Vielmehr handelte es sich wohl um ein wichtiges Ereignis in einer Phase des Übergangs, in der der Herzogssohn an Selbstständigkeit gewann und zunehmend in seinen Aufgaben durch seine neue Ehefrau unterstützt wurde – sie übernahm damit die Rolle, die zuvor die Mutter (mit) ausgefüllt hatte. Allerdings werden in den Quellen Herrscherwitwen und -mütter in der Zeit ihrer „Regentschaft“ gegenüber ihren Söhnen mitunter ganz in den Vordergrund gestellt. Dabei spielt das Geschlecht jedoch keine explizite Rol­ le, wie überhaupt keine Unterschiede zu männlichen Amtsinhabern thematisiert werden. Wie alle Herrscher und Herrscherinnen holten sicher auch die als Regen­ tinnen für ihre Söhne agierenden Mütter den Rat ihrer Getreuen ein, doch ein „Regentschaftsrat“, der der jeweiligen Frau – aufgrund ihrer verminderten Rechtsmündigkeit? – zur Seite gestanden hätte, ist in keinem Fall greifbar. Viel­ mehr zeigen die Beispiele Judiths, Beatrix’ und auch Hadwigs von Schwaben, dass diese Frauen auch ohne Sohn – beziehungsweise allgemeiner ohne einen Mann – an ihrer Seite als duces wahrgenommen wurden und in diesem Sinne mit herzoglicher Autorität agierten.

Abstract The East and West Frankish duchies and kingdoms of the 10th century saw a number of apparently powerful women ruling side by side with their often under­ age sons. One of them was Judith, widow of Duke Henry of Bavaria and mother of Duke Henry II, whom contemporaries even addressed as dux dominaque – duke and lady? This chapter takes Judith’s example as a starting point in order to examine the role and perception of women as ducal regents in the 10th century. In these cases, ‘regency’ ought to be understood more as a kind of informal sup­ port for a son in need than a formal institution. Judith’s sisters-in-law Gerberga and Hedwig were married to the dukes of Lotharingia and Francia respectively, and both soon found themselves widowed with young sons as potential heirs to their fathers’ positions – Gerberga even suffered this fate again after her second 109  Vgl.

82.

hierzu auch die Überlegungen und Beispiele bei Dohmen: Ursache (wie Anm. 51), S. 80–

Dux dominaque Iudita – Frauen als Regentinnen und Herzöge im 10. Jahrhundert?

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marriage to King Louis IV. Similar to her aunt Judith, Hedwig’s daughter Bea­ trice, widow of Duke Frederick I of Upper Lorraine and mother of Thierry I, ­repeatedly appears as dux in contemporary sources, clearly overshadowing her apparently underage son. On this basis the article finally addresses the problem posed by seemingly male titles being used for female persons by showing that fe­ male equivalents such as ducissa had indeed been known since the end of the 8th century. The example of Judith’s daughter Hedwig, childless widow of Duke Burchard of Swabia, who still figured as dux, even dux Alamannorum, after her husband’s death points to a far more flexible contemporary understanding of du­ cal authority than commonly assumed, thus shedding new light on the role and perception of women as ‘regents’ in the 10th century.

Arnulf

Berthold

Arnulf v. Bayern

Kunigunde

Judith

Heinrich II. v. Bayern

Hermann

N.N.

Hadwig

Heinrich I. v. Bayern

Gerberga

Es sind nur Personen aufgeführt, die in der Untersuchung namentlich genannt sind; © Linda Dohmen.

Eberhard v. Bayern

Berthold v. Bayern

Heinrich III. v. Bayern

Biletrud

Luitpold

Anhang 1: Die bayerischen Luitpoldinger im 10. Jahrhundert

Burchard v. Schwaben

50 Linda Dohmen

Otto II.

Theophanu

Gerberga

Adelheid

Heinrich

Giselbert v. Lothringen

Lothar

Ludwig V.

Emma

Adelheid

Mathilde

Hugo Capet

Hugo Magnus

Gisela

Richild (?)

Friedrich v. Oberlothringen

Hadwig

Dietrich v. Oberlothringen

Beatrix

Ludwig IV.

Hadwig

Heinrich I. v. Bayern

Heinrich II. v. Bayern

Brun v. Köln

Arnulf v. Bayern

Burchard v. Schwaben

Judith

N.N.

Es sind nur Personen aufgeführt, die in der Untersuchung eine größere Rolle spielen; auf die Nennung weiterer Kinder/­Geschwister wurde zum Teil verzichtet; für eine detailliertere Darstellung der bayerischen Luitpoldinger siehe Anhang 1; © Linda Dohmen.

Otto III.

Otto I.

Edgith

Heinrich

Anhang 2: Herrschafts- und Verwandtschaftsverhältnisse im 10. Jahrhundert Dux dominaque Iudita – Frauen als Regentinnen und Herzöge im 10. Jahrhundert?

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Marianne Wenzel Sächsische Regentinnen des 12. Jahrhunderts – Kaiserin Richenza und Herzogin Gertrud von Sachsen und Bayern Einleitung Im Frühmittelalter begegnen Regentschaften durch Mütter ausschließlich für ­deren unmündige Königssöhne. Mit der „Erblichkeit der großen Lehen seit dem 11. Jahrhundert“ berichten Quellen zunehmend auch von minderjährigen Herzö­ gen und Grafen, für die ihre Mütter die Regentschaft übergangsweise über­ nahmen.1 Eine weitere Form der Ausübung einer Regentschaft durch eine Frau bestand im Hohen Mittelalter in der Vertretung des abwesenden oder kranken Herrschers durch seine Gemahlin. Beide Formen der weiblichen Regentschaft lassen sich im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts am Beispiel sächsischer Herr­ scherinnen beobachten: Kaiserin Richenza wirkte als Regentin für ihren Gemahl Lothar III.; Gertrud, die gemeinsame Tochter des Kaiserpaares und Herzogin von Sachsen und Bayern, übernahm die Regentschaft für ihren Sohn Heinrich, nach­ dem dessen Vater verschieden war. Im Folgenden sollen die Handlungsspielräume der beiden Frauen vergleichend untersucht werden. Richenza heiratete Graf Lothar von Süpplingenburg. Gemeinsam mit ihm wur­ de sie Herzogin, später Königin und Kaiserin. Zeitgenössische Quellen belegen ihre Rolle an der Seite Lothars. Bischöfe und Päpste richteten Briefe an sie, sie trat als Intervenientin für verschiedene Empfänger auf und saß dem Hofgericht vor. Gertrud ist in den Quellen weniger sichtbar. Die Herzogin überlebte wie ihre Mutter einen Gemahl. Anders als Richenza, die für den abwesenden oder er­ krankten Lothar III. regierte, übte sie die Regentschaft für einen minderjährigen Sohn aus. Für beide Regentinnen dürfte das oberste Ziel gewesen sein, die ­Königsbeziehungsweise Herzogsherrschaft für ihre Nachkommen zu erhalten: Richenza für ihre Tochter Gertrud und ihren Schwiegersohn Heinrich den Stolzen, Gertrud für ihren Sohn Heinrich den Löwen.

1  Bettina

Elpers: Während sie die Markgrafschaft leitete, erzog sie ihren kleinen Sohn. Mütter­ liche Regentschaften als Phänomen adeliger Herrschaftspraxis. In: Jörg Rogge (Hg.): Fürstin und Fürst. Familienbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten von hochadeligen Frauen im Mittel­ alter. Ostfildern 2004, S. 153–165, hier: S. 155. https://doi.org/10.1515/9783111071879-004

54

Marianne Wenzel Gertrud die Jüngere von Braunschweig

Hedwig von Formbach

Richenza

Lothar III.

Petronilla-Gertrud von Holland

Gertrud von Sachsen

Heinrich der Schwarze

Heinrich der Stolze

Sophia von Bayern

Heinrich der Löwe

Abbildung 1: Richenza und Gertrud waren verwandtschaftlich eng mit weiteren Regentinnen verbunden, so mit Hedwig von Formbach, der Mutter Lothars III., sowie Gertrud der Jüngeren von Braunschweig, der Mutter Richenzas. Die Halbschwester Lothars, Petronilla-Gertrud, übernahm die Funktion einer Regentin für einen minderjährigen Sohn ebenso wie die Schwägerin Gertruds von Sachsen, Sophia von Bayern; © für die Darstellung: Marianne Wenzel.

Neben der Analyse von Entscheidungs- und Handlungsspielräumen Richenzas und Gertruds wird geprüft, ob sich in deren unmittelbarem Umfeld weitere ­Regentinnen finden, die eine Vorbildfunktion für die sächsischen Herrscherinnen gehabt haben könnten.2 Unter dieser Fragestellung werden enge, weibliche Ver­ wandte der Sächsinnen betrachtet. Einleitend werden zudem die Ausgangslage und der historische Kontext vorgestellt.3

Ausgangslage und historischer Kontext Richenza, Tochter Gertruds der Jüngeren von Braunschweig und Heinrichs des Fetten von Northeim, wurde durch ihre Eheschließung mit Lothar von Süpplin­ genburg, wohl um 1100, Gemahlin eines Grafen. Selbst aus einer Grafenfamilie stammend, brachte sie unmittelbar und später durch diverse Erbschaften im Laufe der Ehe beachtlichen Besitz in die Verbindung ein. Lothar erhielt 1106 durch König Heinrich V. das Herzogtum Sachsen, nachdem Magnus Billung verstorben war. Die Töchter Magnus’ und deren Ehemänner wurden nicht berücksichtigt. Trotzdem trat Lothar in den folgenden Jahren mehr­ fach als Kontrahent des salischen Herrschers auf und stand an der Spitze der säch­ 2 

Siehe Abbildung 1. Forschungsarbeiten sind maßgeblich für Richenza und Gertrud: Robert Conrad: ­Salus in manu feminae. Herrschaftsteilhabe und Memoria der Kaiserin Richenza (1087/89–1142). Husum 2020; Bettina Elpers: Regieren, Erziehen, Bewahren. Mütterliche Regentschaften im Hochmittelalter. Frankfurt a. M. 2003; Stefan Pätzold: Richenza. In: Amalie Fößel (Hg.): Die Kaiserinnen des Mittelalters. Regensburg 2011, S. 181–196. Die älteren Arbeiten und Beiträge zu Kaiser Lothar III. geben nur wenig Auskunft zu seiner Ehefrau und seiner Tochter; vgl. Gerd Althoff: Lothar III. (1125–1137). In: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hg.): Die deut­ schen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits. München 2003, S. 201–216; Wolfgang ­Petke: Kanzlei, Kapelle und königliche Kurie unter Lothar III. (1125–1137). Köln 1985. 3 Folgende

Sächsische Regentinnen des 12. Jahrhunderts

55

sischen Opposition gegen kaiserliche Eingriffe in Sachsen. Lothar und seinen ­ erbündeten gelang es, Heinrich V. am 11. Februar 1115 in der Schlacht am V Welfes­holz zu schlagen. In dieses Jahr fällt die Geburt der Herzogstochter; das gewiss sehnlich erwartete Kind soll zum Osterfest das Licht der Welt erblickt ha­ ben, berichtet der Annalista Saxo.4 Sicher ist, dass das Mädchen mit „Gertrud“ einen Namen erhielt, der bereits auf mütterlicher und auch auf väterlicher Seite Tradition besaß. Bald darauf verstarben enge Verwandte Richenzas sowie mit Gertrud von Hal­ densleben eine Großmutter Lothars. Das Herzogspaar vergrößerte und konsoli­ dierte in der Folge seinen Besitz und Einfluss durch Erbschaften, aber auch durch Kriegszüge. Immer wieder übte Lothar Widerstand gegen Kaiser Heinrich V., der im Mai 1125 schließlich verstarb. Unter dem Vorsitz des Mainzer Erzbischofs fand im August die Wahl Lothars per compromissum zum König des römischdeutschen Reiches statt. Der Herzog von Sachsen setzte sich gegen die Mitkandi­ daten Friedrich II. von Schwaben, einen Neffen des verstorbenen Kaisers, und Leopold von Österreich durch.5 Hervorzuheben ist die Bedeutung Heinrichs des Schwarzen für den Ausgang der Wahl. Der Herzog von Bayern war der Schwie­ gervater Friedrichs II., der mit seiner Tochter Judith bereits einen gemeinsamen Sohn hatte. Dennoch scheint Heinrich der Schwarze zu Ungunsten seiner Tochter und seines Enkels seine Wahlentscheidung getroffen zu haben. Möglicherweise lässt sich die Entscheidung damit begründen, dass Gertrud, die Tochter von Ri­ chenza und Lothar, bald ins heiratsfähige Alter kommen sollte. Die Quellen schweigen über eine mögliche Nebenabsprache zur Wahl, die ­Lothar die Unterstützung Heinrichs des Schwarzen verschaffte. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass ein Eheschluss zwischen Lothars Tochter und Heinrichs gleichnamigem Sohn, dem prädestinierten Nachfolger im Herzogsamt, vereinbart wurde.6 Mit Bestimmtheit wissen wir, dass Gertrud, nunmehr Königstochter, im Mai 1127 Heinrich den Stolzen tatsächlich heiratete. Gertrud von Sachsen wurde mit dem Eheschluss Herzogin von Bayern.7 Denn kurz vor seinem Tod war Hein­ rich der Schwarze 1126 in das Kloster Weingarten eingetreten, damit war das bay­ erische Herzogtum noch vor der Hochzeit für den Sohn freigeworden. Ob dieser von vornherein als Gemahl für die Königstochter vorgesehen war, bleibt dennoch

4 Annalista

Saxo. Hg. von Klaus Nass (MGH Scriptores 37). Hannover 2006, a. 1115, S. 552: ­Richeza ductrix XV annos sterilis manens duci Liudero filiam in festivitate paschali genuit. 5  Zur Wahl vgl. Petke: Kanzlei (wie Anm. 3), S. 269–273; Lothar Speer: Kaiser Lothar III. und Erzbischof Adalbert I. von Mainz. Eine Untersuchung zur Geschichte des deutschen Reiches im frühen 12. Jahrhundert. Köln/Wien 1983, hier: S. 49–71. 6  Vgl. Joachim Ehlers: Heinrich der Löwe. Der ehrgeizige Welfenfürst. Darmstadt 2021, S. 33–36; Pätzold: Richenza (wie Anm. 3), S. 181–196, hier: S. 184 f. 7  Es ist umstritten, wann Lothar III. das Herzogtum an Heinrich den Stolzen, ab Mai 1127 sein Schwiegersohn, gab; vgl. J. F. Böhmer: Regesta Imperii IV. 1 Lothar III. und Ältere Staufer 1125– 1197. Abt. 1. Die Regesten des Kaiserreiches unter Lothar III. und Konrad III. Teil 1: Lothar III. 1125(1075)–1137 [im Folgenden: RI IV, 1, 1]. Neubearb. von Wolfgang Petke. Köln u. a. 1994, Nr. 115.

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Marianne Wenzel

offen. So vertritt Wolf die These, dass Heinrich der Stolze bereits vor der jungen Sächsin eine andere Ehefrau hatte.8 Unabhängig von den genauen Umständen ist aber zu vermuten, dass Gertrud als Braut für die Welfenfamilie vorgesehen war. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor: Heinrich der Löwe. Verschiedene Herausforderungen prägten die Regierungsjahre Lothars III., so der anhaltende Widerstand der staufischen Brüder Friedrich II. und Konrad. Ebenso wirkte die schismatische Papstwahl 1130 in Rom nachdrücklich in das Reich. Der König folgte dem Votum des Reichsepiskopats und erkannte nach ei­ nigen Monaten andauernden Schismas Innozenz II. als Papst an. Dieser krönte Lothar und Richenza auf deren erstem Zug nach Italien in der Lateranbasilika zu Kaiser und Kaiserin; die Peterskirche war durch den „anderen Papst“ Anaklet II. besetzt. Neben der Kaiserkrone erhielt Lothar gegen einen jährlichen Zins die Mathildischen Güter, nach seinem Tod sollten Heinrich der Stolze und Lothars Tochter die Güter zu gleichen Bedingungen erhalten. An diesem ersten Zug über die Alpen nahmen der Herzog von Bayern und Gertrud nicht teil.9 Nach seiner Rückkehr in das Reich feierte Lothar III. weitere Erfolge: Der 1127 zum (Gegen-) König gewählte Staufer Konrad und sein Bruder wurden 1134 kriegerisch be­ zwungen und unterwarfen sich im März beziehungsweise September 1135.10 Bald darauf brach Lothar ein zweites Mal nach Italien auf, an seiner Seite befanden sich Richenza, Heinrich der Stolze, aber auch der Staufer Konrad. Ob Gertrud an ­diesem zweiten Zug teilnahm, das Kaiserpaar und ihren Gemahl begleitete, ist fraglich.

Richenza als Stellvertreterin Lothars III. und Regentin Im „Codex Udalrici“ ist ein Brief des Straßburger Bischofs Bruno überliefert, den er direkt an die Kaiserin Richenza adressierte. Er dankt ihr darin für die Wieder­ einsetzung in sein Amt und formuliert, dass es Gott war, der sie auf den Thron gesetzt und ihr das Wohlergehen aller in die weibliche Hand gelegt habe.11 Richenza erscheint regelmäßig in den Diplomen Lothars III. als Fürsprecherin. Die Bevorzugung einer Region, eines Zweckes oder einer Personengruppe ist nicht festzustellen. Mit Richenzas Rangerhöhung zur Kaiserin erscheint sie regel­  8  Armin

Wolf: Hatte Heinrich der Löwe eine Schwester? Der Markgraf von Ronsberg und die deutsche Königswahl (1198/99). In: ders.: Verwandtschaft – Erbrecht – Königswahlen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2013, S. 505–537, S. 535 f. et passim.  9  RI IV, 1, 1, Nr. 353. 10  Friedrich unterwarf sich im März, Konrad im September. Nachdem Herzog Friedrich II. ge­ gen das Heer Lothars III. eine letzte Niederlage erlitten hatte, bat er um eine Vermittlung durch Kaiserin Richenza, die mit ihm verwandt war; so berichten die Annales Magdeburgenses. Hg. von Georg Heinrich Pertz (MGH Scriptores 16). Hannover 1859, S. 105–196, a. 1134, S. 185. Vgl. Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 36. 11  Codex Udalrici. Hg. von Klaus Nass (MGH Die Briefe der Deutschen Kaiserzeit 10,2). Wies­ baden 2017, Nr. 383: si forte dominus, qui vos provexit in regnum, qui dedit patrius nostris salutem in manu femine.

Sächsische Regentinnen des 12. Jahrhunderts

57

mäßiger in den Quellen.12 Es sind vier in Italien ausgestellte Placita, Gerichtsur­ kunden, Richenzas überliefert. Sie stammen aus der Zeit zwischen September 1136 und November 1137. Die Editoren von Lothars Urkunden haben auch diese ediert und schreiben: „Die […] [Kaiserin Richenza] hat stets auf die Regierungs­ handlungen ihres kaiserlichen Gemahls einen großen Einfluß ausgeübt. In stei­ gendem Maße war dies während des zweiten Romzuges der Fall, bei dem […] zunehmende Kränklichkeit des Kaisers die Notwendigkeit einer Vertretung gebo­ ten erscheinen lassen mußte[…].“13 In einem Diplom, ausgestellt bald nach der Krönung zur Kaiserin, erscheint Ri­ chenza als Lothars consortis nostre.14 Ihre Bedeutung als Mitregentin trat durch ihre Aktivitäten auf dem zweiten Zug nach Italien noch deutlicher hervor als bei ihrer ersten Teilnahme oder im Reich. In Italien angekommen zog Lothar III. nach Süditalien weiter, während die Kaiserin an seiner statt den Vorsitz des Hof­ gerichts im Norden übernahm, genauer in Reggio d’Emilia und Isola della Scala. Aus dieser Zeit der zumeist räumlichen Trennung stammen die erwähnten Ge­ richtsurkunden, ausgestellt in italienischen Angelegenheiten. In D Ri 3 wird kein Siegel angekündigt, dennoch weisen Siegelreste auf der erhaltenen Urkunde deut­ lich auf eine Besiegelung hin. Diese sollen zu groß für ein Siegel Lothars III. sein, sodass es sich möglicherweise um ein Siegel der Kaiserin gehandelt haben könn­ te.15 Zu den Aufgaben, die Richenza in Italien übernahm, gehörte, wie nördlich der Alpen, die Rolle einer Intervenientin. Der Einzug von Richenza in die Stadt Benevent muss hervorgehoben werden. Die Kaiserin zog im September 1137 in die Stadt ein, hörte eine Messe in der Kathedrale und hinterließ am Altar Silber und ein Pallium. Lothar III. blieb hingegen im Lager vor der Stadt, gewiss aus gesundheitlichen Gründen.16 Der Tod Lothars III. auf dem Rückweg von seinem zweiten Italienzug ver­ änderte die Verhältnisse im Reich grundlegend. Hatte sich drei Jahre zuvor der Staufer Friedrich unterworfen, so war es im März 1138 dessen jüngerer Bruder Konrad, der zum neuen König gewählt wurde. Mehrere Historiker urteilen, dass die Wahl Konrads zum König irregulär war.17 Womöglich beruht diese Bewertung 12 

Amalie Fößel: Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrech­ te, Handlungsspielräume. Stuttgart 2000, hier: S. 126, unterscheidet zwischen Klöstern, Kirchen und Bischöfen sowie sonstigen Empfängern. Vgl. auch Pätzold: Richenza (wie Anm. 3), S. 181– 196, hier: S. 188. 13  Die Urkunden Lothars III. und der Kaiserin Richenza [im Folgenden: DD Lo III ­(Urkunden von Lothar) und DD Ri (Urkunden von Richenza)]. Hg. von Emil von Ottenthal und Hans Hirsch (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 8). Berlin 1927, hier: DD Ri, S. 226. 14  D Lo III, Nr. 53, o. D., Original, nach der Kaiserkrönung am 4. Juni 1133; dazu RI IV, 1, 1, Nr. 370. 15  DD Ri, Nr. 1–4. 16  RI IV, 1, 1, Nr. 617. 17  Ehlers: Heinrich (wie Anm. 6), S. 190, urteilt dazu knapp: „An dieser Wahl war alles irregulär.“ Pätzold: Richenza (wie Anm. 3), S. 189 f., folgt der Wortwahl. Damit beziehen die beiden Autoren sich auf den Ablauf der Wahl, den Pauler allerdings nicht kritisiert. Pauler widerspricht Ehlers und Pätzold und erkennt keine grundlegenden Verstöße im Prozedere; vgl. Roland Pauler: War König Konrads III. Wahl irregulär? In: DA 52 (1996), S. 135–159.

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auch darauf, dass diese Historiker Heinrich den Stolzen retrospektiv zwingend als Nachfolger Lothars III. ansehen. Die Zeitgenossen sahen das offensichtlich an­ ders: Im Mai 1138 erkannten die sächsischen Fürsten Konrad III. als neuen König an. Im Folgemonat übergab Heinrich der Stolze dem Staufer die Reichsinsignien, die ihm Lothar III. zuvor auf dem Sterbebett überantwortet hatte.18 In den bewegten Monaten nach dem Tod Lothars III. ist die Rolle von Richenza kaum zu überschätzen. Der Kaiser wurde am 31. Dezember 1137 in Königslutter beigesetzt. Richenza trug nach dem Tod ihres Mannes für die Memoria Lothars im Rahmen der Beisetzung und darüber hinaus zweifellos Sorge und erfüllte da­ mit die erste Aufgabe einer Witwe, wie sie Foerster in ihrer Forschung identifi­ ziert hat. Die Rolle als Ratgeberin oder Regentin trat hinter die Pflege der Memo­ ria zurück, doch auch in dieser wurde die Kaiserin tätig. So hatte Richenza für den 2. Februar, einen Höhepunkt im christlichen Festkalender, eine Versammlung nach Quedlinburg einberufen. Dies wäre vermutlich ein geeigneter Ort gewesen, um dort als Beraterin aufzutreten. Die Zusammenkunft wurde allerdings durch den askanischen Markgrafen, Albrecht den Bären, verhindert.19 Folgt man Conrad, kann die Kaiserinwitwe Richenza einerseits nach dem Tod Lothars nicht als Regentin bezeichnet werden, da sie weder die Vormundschaft eines minderjährigen Sohnes übernahm noch als Beraterin für einen „volljährigen königlichen Nachfolger“ wirkte. Dennoch kommt er andererseits zu dem Schluss, dass Richenza durch das Abwehren der Ambitionen Albrechts des Bären auf das Herzogtum Sachsen dieses für ihren Enkel bewahrte und somit eine zentrale Re­ gentinnen-Aufgabe erfüllte.20 Ergänzend sollte bedacht werden, dass Heinrich der Stolze in den ersten Monaten des Jahres 1138 durchaus als volljähriger königlicher Nachfolger infrage kam. Mit der Übergabe der Reichsinsignien von Heinrich dem Stolzen an Kon­ rad III. war der Gegensatz zwischen den beiden nicht beendet. Wohl auf dem Würzburger Hoftag im Sommer verhängten die Großen des Reiches die Acht über den Welfen und entzogen ihm zugunsten von Albrecht dem Bären das säch­ sische Herzogtum.21 Im Dezember 1138 musste Heinrich auch Bayern aufgeben. Das Herzogtum ging an den Babenberger Leopold IV., über die gemeinsame Mut­ ter Agnes von Waiblingen war er ein Halbbruder Konrads III.

18  Annalista Saxo (wie Anm. 4), a. 1138, S. 612: Conradus regalia, que Heinricus dux Bauuari e, qui et dux Saxonum, gener Lotharii inperatoris, sub se habuit; RI IV, 1, 1, Nr. 654. 19  Annalista Saxo (wie Anm. 4), a. 1138, S. 611: Inperatrix Richenza indixit conventum principum in festo purificationis sancte Marie apud Quidelingeburh. Qui conventus inpeditus est ab Adelberto marchione […]. Anne Foerster: Die Witwenschaft kinderloser Königinnen im Hochmittelalter. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 26 (2021) 2, S. 393–410, hier: S. 394. 20  Vgl. Conrad: Salus (wie Anm. 3), S. 329–342, S. 377. 21  Vgl. J. F. Böhmer: Regesta Imperii IV. Lothar III. und Ältere Staufer 1125–1197. Abt. 1. Die Regesten des Kaiserreiches unter Lothar III. und Konrad III. Teil 2: Konrad III. 1138(1093/94)– 1152 [im Folgenden: RI IV, 1, 2]. Neubearb. von Jan Paul Niederkorn unter Mitarbeit von Karel Hruza. Wien u. a. 2008, Nr. 108.

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Möglicherweise war der Verzicht auf die Krone hinnehmbar, der Verlust der beiden Herzogtümer war es nicht. Die Gegenwehr Richenzas, Gertruds und Heinrichs des Stolzen und ihrer Verbündeten in Sachsen war so groß, dass Al­ brecht seinen Anspruch auf das Herzogtum nicht durchsetzen konnte.22 Auch nach dem Tod Lothars III. muss Richenza für ihre Zeitgenossen als vom Papst gekrön­ te Kaiserin von höchster Bedeutung geblieben sein. So spricht Petrus Diaconus Richenza in den Kondolenzschreiben zu Lothars III. Tod als imperatrix an.23 Trotz seiner einflussreichen Schwiegermutter wurde Heinrich der Stolze nicht Nachfolger Lothars III. in der Königswürde. Während der Staufer Konrad im März 1138 zum König gewählt worden war, gelang es Heinrich nicht, sich eben­ falls durch eigene Verbündete aufstellen und wählen zu lassen, obwohl ein Dop­ pel- oder Gegenkönigtum in dieser Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches gewesen wäre. Mit Heinrichs Verlust der Krone und der Herzogtümer Sachsen und Bayern verlor zugleich Gertrud ihre Herzoginnen-Titel und der gemeinsame Sohn die An­ wartschaften.24 Gegen diese Verluste versuchten sich die Sachsen zur Wehr zu set­ zen. Auch der plötzliche Tod Heinrichs des Stolzen im Oktober 1139 schwächte diese sächsischen Bemühungen nicht. Spätestens nach dem Tod Heinrichs dürfte Richenza den Widerstand in Sachsen geführt haben. Elpers weist darauf hin, dass die Kaiserin und ihre Tochter von Sachsen aus gegen Albrecht den Bären agierten. Beide blieben in ihrem angestammten Herzogtum, obwohl Gertrud sich in Bayern auf die lange welfische Tradition hätte berufen können. Doch dort standen sich bereits ihr Schwager Welf VI. und der Babenberger Leopold IV. gegenüber.25 Die Babenberger, Söhne der Agnes von Waiblingen, erhielten, nachdem Konrad III. den Welfen das Herzogtum aberkannt hatte, das Herzogtum Bayern. Mit dem Tod Heinrichs war Richenza nicht mehr nur Regentin für den verstor­ benen Lothar III., ihre Rolle veränderte sich, da es in ihrer Familie nun einen minderjährigen, vaterlosen Herzogssohn gab. Die Rolle Gertruds ist in der Zeit der gemeinsamen Regentschaft mit ihrer Mutter unbekannt.26 Die womöglich von zwei Frauen geführte Regentschaft endete mit dem Tod Richenzas im Juni 1141.27

Gertrud und der Frankfurter Ausgleich Die Kaisertochter Gertrud ließ im Kloster Königslutter neben ihrem Vater und ihrem Gemahl auch ihre Mutter beisetzen. Soweit wir wissen, hatte Gertrud keine 22  Pätzold: Richenza (wie Anm. 3), S. 191. In Bayern erfuhr der Babenberger Leopold IV. Gegen­ wehr durch Welf VI., einen Bruder Heinrichs des Stolzen. 23  Anne Foerster: Die Witwe des Königs. Zu Vorstellung, Anspruch und Performanz im engli­ schen und deutschen Hochmittelalter. Ostfildern 2018, hier: S. 186. 24  Vgl. Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 85. 25 Ebd. 26  Conrad: Salus (wie Anm. 3), S. 378 mit Anm. 368. 27  Annales Magdeburgenses (wie Anm. 10), a. 1141, S. 187: Obierunt Richeza imperatrix et Adalbertus Mogontinus archiepiscopus.

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Geschwister,28 ihr engster Verwandter war nach dem Tod Richenzas ihr Sohn Heinrich, zusätzlich hatte sie welfische Angehörige. Für die Dauer ihrer Ehe mit Heinrich dem Stolzen begegnet Gertrud kaum in den Quellen; von Heinrich dem Stolzen sind keine Urkunden überliefert.29 Wäh­ rend ihre Mutter sehr regelmäßig als Intervenientin in Diplomen Lothars III. er­ scheint, fehlt die Tochter in den väterlichen Urkunden, selbst wenn ihr Gemahl eine zentrale Figur ist. In einem Diplom Lothars III., in dem Heinrich der Stolze Güter an die Bamberger Kirche gibt und Richenza als coniugis erscheint, fehlt ebenfalls jeder Hinweis auf Gertrud.30 Aus der quellenarmen Zeit der Ehe mit Heinrich dem Stolzen sticht eine Mel­ dung dennoch besonders hervor: Lothar III. und Richenza bekamen im Jahr 1133 auf Lebenszeit die Mathildischen Güter durch Papst Innozenz II. verliehen. Fest­ gelegt wurde zusätzlich, dass nach dem Ableben des Kaiserpaares Heinrich der Stolze gemeinsam mit Gertrud gegen eine jährliche Zahlung die Verfügungsgewalt erhalten sollte. Die Vereinbarung wurde als so verpflichtend angesehen, dass Welf VI. die Güter noch als Erbe seines Bruders Heinrich erhielt. Erst Anfang der 1170er-Jahre verkaufte Welf die Güter.31 Heinrich der Löwe scheint weder 1133 mitbedacht oder mitgedacht worden zu sein, noch sind spätere Ansprüche über­ liefert. Obwohl sich aufgrund der Quellenlage eine Regierungserfahrung für die 1141 vergleichsweise junge Regentin kaum ableiten und schon gar nicht belegen lässt, kann man davon ausgehen, dass Gertrud von Beginn an eine wichtige Rolle in der Regentschaft für ihren Sohn Heinrich übernahm.32 Es oblag ihr, die Ansprüche des minderjährigen Sohnes durchzusetzen. Das gelang ihr mit dem Frankfurter Ausgleich, dessen genaues Zustandekommen im Dunkeln bleibt, dessen Ergebnis jedoch beeindruckend ist: Im Mai 1142, elf Monate nach dem Tod der Kaiserin Richenza, fand in Frankfurt ein Hoftag statt. Gertrud von Sachsen setzte dort auf die Verständigung sowohl mit der neuen Königsfamilie als auch mit Albrecht dem Bären. Die geschlossenen Kompromisse – der junge Heinrich wurde mit dem Herzogtum Sachsen belehnt und Gertrud heiratete den bayerischen Herzog Heinrich II. Jasomirgott – zeigen, dass sie zum einen ausreichend Verbündete und Macht hinter sich wusste, sodass sie Verhandlungen führen konnte, zum anderen

28  In

Königslutter wurde neben den Gebeinen des Kaiserpaares und Heinrichs des Stolzen ein Kind gefunden. Strittig ist, ob es aus der Ehe des Kaiserpaares oder der Ehe von Gertrud und Heinrich dem Stolzen stammt oder ein Kind Heinrichs des Löwen ist; dazu Gudrun Pischke: Zur Identität des unbekannten Kindes in der Grablege der Stiftskirche Königslutter. In: Tobias ­Henkel/Angelika Burkhardt (Hg.): „Nicht Ruh’ im Grabe ließ man euch…“. Die letzte Heimat Kaiser Lothars III. im Spiegel naturwissenschaftlicher und historischer Forschungen. Braun­ schweig 2012, S. 126–135. 29  Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 83  f. 30  D Lo III, Nr. 66. Weitere Beispiele für Auftritte Heinrichs des Stolzen in den Diplomen des Herrschers ohne Gertrud sind: DD Lo III, Nr. 54 (1133), Nr. 71 (17. 3. 1135). 31  RI IV, 1, 1, Nr. 351–353; Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 84. 32  Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 86.

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aber auch, dass die Ressourcen ihrer Gegner groß genug waren, um die mögliche Maximalforderung – etwa die Krone und das Herzogtum Bayern für Heinrich den Löwen – zurückzuweisen.33 Gertrud hatte bei den Verhandlungen ein ge­ wichtiges Pfund auf ihrer Seite, das sie in die Waagschale legen konnte: Sie war eine Kaisertochter und jung genug, um weitere Kinder zu gebären; ihre Frucht­ barkeit hatte sie bereits bewiesen. Foerster merkt in diesem Zusammenhang je­ doch an, dass für Herrscherinnen ein Interessenskonflikt entstehen konnte, wenn aus mehreren Ehen Kinder hervorgingen; sie vermutet daher, dass hochadelige Witwen mit Kindern nur selten erneut heirateten.34 Die Kaisertochter Gertrud heiratete dennoch den kinderlosen Heinrich II. Ja­ somirgott – einen Konkurrenten ihres Schwagers Welf VI. und vermutlich letzt­ lich auch ihres Sohnes. Abermals ehelichte sie somit einen bayerischen Herzog namens Heinrich. Denn Heinrich II., auch er ein Halbbruder König Konrads III., war seinem kürzlich verstorbenen Bruder Leopold IV. als bayerischer Herzog nachgefolgt.35 Zugleich wurde Heinrich dem Löwen in Frankfurt das Herzogtum Sachsen übertragen. Es hatte seit der Aberkennung von Heinrich dem Stolzen bei Albrecht dem Bären gelegen. Der Askanier hatte sich in Sachsen jedoch nicht durchsetzen können. Spätestens mit dem Tod Richenzas im Juni 1141 war Gertrud, wie bereits er­ wähnt, noch stärker auf sich allein gestellt, über enge Verbündete können nur Mutmaßungen angestellt werden.36 Wer war nun aber die treibende Kraft hinter dem Friedensschluss? Elpers hat darauf hingewiesen, dass Richenza als einfluss­ reiche Kaiserin bewertet wird. Gertrud hingegen wird als passiv beschrieben oder völlig vernachlässigt. Sie wird selten als Akteurin genannt, in den Quellen er­ scheint sie kaum. Wenn sie selbst jedoch für den Frankfurter Ausgleich verant­ wortlich war, muss diese Einschätzung revidiert werden. So sieht neben Elpers auch Brandner die Herzogenwitwe Gertrud als eigenständig handelnde Akteurin und Regentin, die auf eine Einigung mit den salischen Staufern abzielte.37 Als potenzielle Mutter eines noch zu gebärenden, künftigen Herzogs von Bay­ ern ist es Gertrud durch den Frankfurter Ausgleich gelungen, Sachsen für ihren Sohn aus erster Ehe zu bewahren. Das Herzogtum Bayern wäre einem später ge­ borenen Sohn zugefallen. Gertrud war diejenige, die knapp ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter als wichtige Kraft den Frankfurter Ausgleich verhandelt haben muss, sicherlich mit sächsischen Großen an ihrer Seite. Ihre welfische Schwiegerfamilie ist kaum als treibende Kraft hinter den Aushandlungen zu vermuten, verfestigte 33 

Vgl. Conrad: Salus (wie Anm. 3), S. 386 f. Witwenschaft (wie Anm. 19), S. 398, S. 406. Foerster bezieht sich explizit auf Köni­ ginnen. 35  Vgl. Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 87. 36  Ehlers: Heinrich (wie Anm. 6), S. 52  f., macht mehrere Große wahrscheinlich. 37 Laura Brandner: Dimitto filium meum in custodia uxoris mee. Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Regentschaft im Spannungsfeld von ‚sex‘, ‚gender‘ und Generation. In: Hartwin Brandt u. a. (Hg.): Genus & generatio. Rollenerwartungen und Rollenerfüllungen im Spannungs­ feld der Geschlechter und Generationen in Antike und Mittelalter. Bamberg 2011, S. 191–226, hier: S. 209–215; Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 92 f. 34  Foerster:

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doch die Heirat Gertruds mit Heinrich II. Jasomirgott die neuen Verhältnisse in Bayern, die nicht im Sinne der Welfen, namentlich Welfs VI., waren. Es darf nicht übersehen werden, dass der Eheschluss mit der vormaligen Herzogin von Bayern gewiss das Ansehen und den Anspruch des neuen Herzogs stützte. Nach dem Eheschluss Gertruds und Heinrichs II. Jasomirgott im Mai 1142 wäre es für den Babenberger möglich gewesen, die Vormundschaft für den jungen Heinrich zu übernehmen. Es sind jedoch keine Hinweise darauf überliefert, so­ fern man das Ausstellen der Urkunde D HdL 3 nicht als Akt einer Regentschaft ansieht.38 Neben Heinrich II. Jasomirgott und sächsischen Großen kämen Hein­ richs Onkel väterlicherseits, die Welfen, als Regenten infrage. Welf VI. und Kon­ rad von Bayern waren die nächsten männlichen Angehörigen. Letzterer scheidet wohl aufgrund seiner geistlichen Karriere als Regent für Heinrich aus. Welf be­ fand sich nach der Absetzung seines Bruders als Herzog von Bayern innerhalb des Herzogtums im Konflikt mit der neuen Herzogsfamilie, den Babenbergern. Daher ist vorstellbar, dass der Welfe die Vormundschaft zumindest faktisch nicht hätte umsetzen können.39Auch dazu gibt es jedoch keine eindeutigen Belege. Wie lange eine mögliche Regentschaft dauerte, ist ebenfalls offen, denn wann genau der Löwe volljährig wurde und selbst die Regentschaft übernahm, ist nicht klar – sein Geburtsjahr ist unbekannt.40 Wer auch immer als männlicher Vormund die Regentschaft de jure, womöglich auch de facto, für Heinrich übernahm: Gertrud war es, die ihm das bereits verlo­ rene Herzogtum Sachsen sichern konnte und sie ist es, die prominent in seinen Urkunden erscheint; dort findet sich die Herzogin auch nach ihrem Tod noch re­ gelmäßig. Die Einordnung der Urkunden gestaltet sich schwierig, da sie häufig nicht sicher datierbar sind. Als Beispiel kann eine Urkunde vom 3. September 1142 dienen. Sie ist nur in einem Kopialbuch des 14. Jahrhunderts überliefert. In ihr teilten Gertrud und Heinrich gemeinsam mit dem Bremer Erzbischof und ­einem Markgrafen Land zu gleichen Teilen untereinander auf. Gertrud wird als ducissa ohne nähere Nennung des Herzogtums genannt, Heinrich als ihr Sohn (et filius suus) und sächsischer Herzog.41

38 Die

Urkunden Heinrichs des Löwen. Herzogs von Sachsen und Bayern [im Folgenden: D HdL]. Bearb. von Karl Jordan (MGH Laienfürsten und Dynastenurkunden 1). Leipzig 1941, hier: D HdL 3, kopial überliefert, vor 18. 4. 1143. 39  Vgl. Conrad: Salus (wie Anm. 3), S. 378, S. 379 mit Anm. 371. Odilo Engels: Die Restitution des Bayernherzogtums an Heinrich den Löwen. In: Jochen Luckhardt/Franz Niehoff (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Kata­ log der Ausstellung Braunschweig 1995. Bd. 2: Essays. München 1995, S. 159–172, hier: S. 161. Conrad meint mit den Bestimmungen des Sachsenspiegels einen männlichen Regenten wahr­ scheinlich machen zu können; darauf fehlen meiner Ansicht nach jedoch Hinweise. 40  Conrad: Salus (wie Anm. 3), S. 388. Ehlers vermutet die Geburt 1133/1135; vgl. Ehlers: Hein­ rich (wie Anm. 6), S. 47–49. 41  Gertrud erscheint – teils mit weiteren Ahnen Heinrichs des Löwen – u. a. in: DD HdL 1–5, 9 (anime mee et patris et matris), 10, 17, 23 (Gertrud und Heinrich der Stolze mit Richenza und Lothar III. für das Kloster Katlenburg, vor 1154), etc., hier: D HdL 2.

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Von Conrad wird Gertrud – anders als Richenza – nach dem Tod Heinrichs des Stolzen durchaus als Regentin angesehen. Gertrud war es, die den Frankfurter Ausgleich verantwortete.42 Die Sächsin hatte durch die Ehe mit Heinrich II. Jaso­ mirgott die Möglichkeit, Mutter des sächsischen Herzogs zu bleiben und Mutter eines bayerischen Herzogs zu werden. Sie starb jedoch ein Jahr nach der Ehe­ schließung mit dem bayerischen Herzog im Wochenbett.43 Ihre Tochter Richar­ dis/Richenza – gewiss nach der kaiserlichen Großmutter benannt – musste hinter ihrem jüngeren Halbbruder zurücktreten. Dieser stammte aus der zweiten Ehe Heinrichs II. Jasomirgott mit einer Byzantinerin aus kaiserlicher Familie. Gertrud wurde in der Grablege der Familie ihres zweiten Gemahls, in Klosterneuburg (Wien), beigesetzt.44 Die Kaisertochter Gertrud konnte nach ihrem Tod offen­ sichtlich nicht zu ihrer Familie nach Königslutter geholt werden, sondern blieb Babenbergerin. Mit dem Tod Gertruds hatte Heinrich der Löwe nach seiner Großmutter auch seine Mutter als Regentin verloren. Wie alt er im April 1143 war, ist unbekannt. Allerdings geht Elpers davon aus, dass die Regentschaft für Heinrich den Löwen spätestens 1147 endete, in dem Jahr, in dem der junge Herzog von Sachsen An­ spruch auf das Herzogtum Bayern erhob und heiratete.45 Wer die Regentschaft für den Welfen in den dazwischen liegenden Jahren übernahm, bleibt offen. Ob Richenza und Gertrud in ihrem Versuch, Heinrich den Stolzen als den Nachfolger Lothars III. zu installieren, scheiterten, ist unklar. Strebte der Welfe nach der Krone oder wollte er lediglich seine Herzogtümer bewahren? Es ist kaum einzuschätzen, wie Heinrichs des Stolzen Chancen auf eine Wahl zum ­König waren; Tatsachen schuf allein Konrad mit seinen Verbündeten. Hervor­ zuheben ist, dass Richenza und Gertrud Heinrich dem Löwen die sächsische Herzogs­würde bewahren konnten. Das ist als großer Erfolg zu werten, insbeson­ dere da Heinrich dem Stolzen das Herzogtum entzogen worden war. Zusätzlich war es den beiden Sächsinnen gelungen, dem jungen Welfen ein Bewusstsein für seine Ansprüche auf beide Herzogstitel mitzugeben. In Sachsen fest installiert, sollte er im Frühjahr 1147, vor dem Kreuzzug Konrads III. nach Jerusalem, auch die Herzogwürde von Bayern für sich beanspruchen. Die Klärung wurde vertagt. Der junge Welfe und der salisch-staufische Herrscher brachen zu verschiedenen Kreuzzügen auf, Heinrich der Löwe zog gen Osten, Konrad III. nach Süden. 46 Elpers würdigt die Leistungen von Richenza und besonders von Gertrud. Die zweite Heirat Gertruds brachte ihren Sohn und sie wieder in Königsnähe, sodass der junge Löwe das Herzogtum Sachsen unter sich konsolidieren konnte. Als ihm dies gelungen und er gleichzeitig mündig war, zog er im Kreuzzugsjahr 1147 nach Osten. Dort fand er in seinem Begleiter Konrad I. von Zähringen seinen Schwie­ 42 

Vgl. Conrad: Salus (wie Anm. 3), S. 350, Anm. 151. Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 266 mit Anm. 38. 44  Die Gebeine wurden bereits im 13. Jahrhundert in das Stift Heiligenkreuz überführt. 45  Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 88  f. 46  Ebd., S. 96  f. 43 

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gervater, denn nach dem Kreuzzug ehelichte der junge Herzog dessen Tochter Clementia.

Aufgaben als Regentin und Vorbilder für Richenza und Gertrud Elpers nennt bereits im Titel ihrer Dissertation die drei Kernaufgaben von Regen­ tinnen: Regieren, Erziehen und Bewahren. In ihrer Arbeit geht sie ausführlich auf die hier vorgestellten Regentinnen ein.47 Richenza übernahm ab dem Zeitpunkt ihrer Krönung zur Kaiserin verstärkt Aufgaben für ihren Gemahl Lothar III. Ob die höhere Würde ihr mehr Einfluss verlieh oder der Gesundheitszustand Lothars die Entwicklung vorantrieb, ist unklar. Nach dem Tod Lothars III. und der ­anschließenden Wahl Konrads zum neuen König verlor Richenza wohl ihre herr­ scherliche Aufgabe, das Regieren. Auch nach dem Tod ihres Schwiegersohnes Heinrichs des Stolzen blieben dynastische Belange jedoch von größter Bedeutung. Kaiserin und Kaisertochter waren die nächsten Verwandten des minderjährigen Heinrichs, des späteren Heinrichs des Löwen. Conrad kommt zu dem Schluss, dass die „Handlungen der Kaiserin […] formal als gemeinsame Regentschaft mit ihrer Tochter Gertrud für den minderjährigen Heinrich den Löwen betrachtet werden“ müssen. Damit erübrigt sich seine Frage nach den männlichen Verwandten, die möglicherweise die Regentschaft übernah­ men.48 Für ihre Rolle als Königin und Kaiserin hatte Richenza keine Vorbilder im ­näheren Familienkreis. Als Regentin für einen minderjährigen Sohn wirkten hin­ gegen eine Vielzahl an Frauen im Verwandtenkreis Richenzas und Gertruds: ­Gertrud die Jüngere von Braunschweig, Mutter Richenzas, bewahrte ab 1103 die Markgrafschaft Meißen für ihren Sohn aus dritter Ehe. Dieser konnte wohl um ihren Todeszeitpunkt († 1117) als Markgraf die Regierungsgeschäfte übernehmen. Doch nicht nur Richenza war nachweislich Tochter einer Regentin, Lothar III. selbst wuchs ohne seinen Vater auf, übernahm allerdings dennoch dessen Titel, sodass wir auch Lothars Mutter Hedwig von Formbach als ein Vorbild für eine Regentschaft annehmen können. Hedwig heiratete sehr schnell erneut; wo bezie­ hungsweise bei wem Lothar aufwuchs, ist nicht bekannt. In zweiter Ehe bekam Hedwig weitere Kinder. Petronilla-Gertrud war über die gemeinsame Mutter eine jüngere Halbschwester Lothars III., eine Tante Gertruds. Petronilla-Gertrud wie­ derum gelang es über den langen Zeitraum von elf Jahren die Interessen ihres Soh­ nes zu bewahren. Er konnte 1122 die Grafenwürde von Holland übernehmen.49 Zu einer Regentin für einen minderjährigen Sohn wurde auch Sophia von Bayern. 47  Zu Gertrud der Jüngeren von Braunschweig vgl. ebd., S. 35–57; zu Sophia von Bayern, ebd., S. 58–78; zu Richenza und Gertrud gemeinsam, ebd., S. 79–97. 48  Vgl. Conrad: Salus (wie Anm. 3), S. 379 mit Anm. 371. 49 Der Geburtsname lautete wohl Gertrud, Petronilla-Gertrud wird je nach Tradition als von Sachsen oder von Holland bezeichnet.

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Die Schwester Heinrichs des Stolzen übernahm 1129 die Regentschaft für den minderjährigen Ottokar.50 Sie alle – Gertrud die Jüngere von Braunschweig und Hedwig von Formbach, Mütter des Kaiserpaares, aber auch Petronilla-Gertrud von Holland und Sophia von Bayern – übernahmen mehrere Jahre für minderjährige Söhne die Regent­ schaft. Eine solche ist leichter nachweisbar oder wahrscheinlich zu machen als die Vertretung für lebende Gemahle – insbesondere auf der herzoglichen Ebene, die weniger schriftliche Quellen hinterlassen hat. Nicht zuletzt hatte Gertrud in ihrer eigenen Mutter ein weiteres Vorbild. In den knapp umrissenen Fällen von Regentschaften durch Mütter sind zu kei­ nem Zeitpunkt männliche Verwandte oder Ratgeber als Vormund des minderjäh­ rigen Erben wahrscheinlich zu machen,51 sie sind bei weitem unwahrscheinlicher als die Regentschaft der Mutter.

Karrieren sächsischer Regentinnen Der Beginn und die Voraussetzung für eine „Karriere als Regentin“ ist einfach zu umreißen: Eine Frau adeliger Herkunft schließt die Ehe mit einem passenden Partner, bringt einen Sohn zur Welt und überlebt ihren Gemahl zu einem Zeit­ punkt, an dem das genannte Kind noch minderjährig ist. Für einen gewissen Zeit­ raum vertritt sie den Sohn; sobald dieser die Mündigkeit erreicht hat, übernimmt er die Regierung und die Regentin zieht sich zurück. Im besten Fall endete eine Regentschaft folglich durch das Erreichen der Voll­ jährigkeit des Sohnes. Weder Richenza noch Gertrud erlebten diesen Übergang bei Heinrich dem Löwen. Anders verhielt es sich für die vier oben erwähnten weiblichen Verwandten von Richenza und Gertrud. Ausnahmslos erlebten sie den Regierungsantritt ihrer Söhne: Hedwig von Formbach bei Lothar (III.) von Süpplingenburg, Gertrud die Jüngere von Braunschweig bei Heinrich II. von Meißen, Petronilla-Gertrud bei Dietrich VI. von Holland und Sophia von Bayern bei Ottokar III. von der Steiermark. Belassen wir Richenza und Gertrud trotz ihres vorzeitigen Ablebens in der Re­ gentinnen-Gruppe, ergibt sich folgendes Bild: Nach dem Tod eines Gemahls und während der Regentschaft für einen minderjährigen Sohn heirateten drei der sechs Frauen ein weiteres Mal; Hedwig von Formbach nach dem Tod von Lothars Va­ ter, Gertrud die Jüngere von Braunschweig heiratete ein drittes Mal,52 Gertrud von Sachsen nach dem Tod von Heinrichs Vater. Die Stichprobe ist zu klein, um

50 

Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 71. Ebd., S. 71 et passim. 52  Gertrud die Jüngere von Braunschweig hatte vor ihrer dritten Ehe eine Tochter (die spätere Kaiserin Richenza) geboren, jedoch keinen Sohn und somit keine Regentschaft übernommen. Sie war keine Regentin, jedoch als adlige Witwe sicherlich dennoch ein Vorbild für Tochter und En­ keltochter. 51 

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belastbare Aussagen zu treffen. Sie deutet dennoch auf andere Ergebnisse hin, als die Untersuchung von Foerster, die verwitwete Königinnen in den Blick nahm – laut ihr heirateten Witwen mit Kind selten ein weiteres Mal.53 Gründe für einen erneuten Eheschluss oder sein Ausbleiben wären wohl im Einzelnen genauer zu betrachten. Petronilla-Gertrud von Holland und Sophia von Bayern heirateten kein zweites Mal. Jede der sechs Herrscherinnen, die für einen minderjährigen Sohn die Regent­ schaft übernahm, war erfolgreich darin, die Macht für ihn zu erhalten. Vom Ge­ lingen kann man in ihren Fällen sprechen, weil sie die Herrschaft in ihrer Familie bewahren und übergeben konnten. Einigen Regentinnen gelang dies verwitwet, anderen erneut verheiratet. Im Falle Gertruds trug sicherlich nicht zuletzt die Neuverheiratung dazu bei, dass sie die Macht für Heinrich bewahren konnte. Welchen Weg hätten Richenza und Gertrud bei Erreichen der Volljährigkeit Heinrichs des Löwen einschlagen können, wären sie ihren Leitbildern gefolgt? Hier kann der Vergleich mit den eingangs erwähnten weiblichen Familienmitglie­ dern helfen. Sophia von Bayern, Schwägerin Gertruds, trat, nachdem ihr Sohn die Volljährigkeit erlangt hatte, in das Kloster Admont ein.54 Diesen Weg wählte auch Petronilla-Gertrud von Holland. Die Halbschwester Lothars III. ging nach ihrer beendeten Regentschaft in das von ihr gegründete Benediktinerinnen-Kloster Rijnsburg. Gertrud die Jüngere von Braunschweig gründete 1115 das St. Marien­ kloster (heute: St. Aegidien). Sie ist alleinstehend verstorben, ob innerhalb oder außerhalb eines Klosters ist nicht überliefert. Hedwig von Formbach ist die ein­ zige der vier Regentinnen, die während einer Ehe verstarb, der Eintritt in ein Kloster lässt sich somit ausschließen. Den Weg in ein Kloster hätten wohl auch Richenza und ihre Tochter Gertrud wählen können, wenn sie Heinrichs des Löwen Mündigkeit erlebt hätten – doch beide verstarben vor dessen Volljährigkeit. Der Weg in ein Kloster für eine Witwe nach dem Ende ihrer Tätigkeit als Regentin war naheliegend, denn dort ließ sich das Andenken verstorbener Familienmitglieder trefflich pflegen. Im Kloster konnte sich eine Witwe einer ihrer vorrangigsten Aufgaben, der Pflege der Memo­ ria, nahezu uneingeschränkt widmen.55

Fazit Richenza bemühte sich nach Lothars III. Tod sicherlich, die Königsnachfolge im Sinne ihrer Familie zu regeln. Die von ihr einberufene Fürstenversammlung konnte jedoch nicht zusammentreten und bald darauf erkannte Richenza, gemein­ sam mit sächsischen Großen, den neuen König an. Gertrud standen nach dem Tod 53 

Foerster: Witwenschaft (wie Anm. 19), S. 395. Weller: Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. Köln u. a. 2004, hier: S. 240. 55  Foerster: Witwenschaft (wie Anm. 19), S. 394. 54 Tobias

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ihres Gemahls zwei Wege offen: Sie konnte als unverheiratete Regentin für ihren Sohn wirken und anschließend einem Kloster beitreten oder ein weiteres Mal hei­ raten. Sie entschied sich für eine zweite Ehe und zugleich für die wichtige Nähe zur neuen Königsfamilie. Insbesondere Gertrud folgte Vorbildern aus ihrer Fami­ lie. Doch die beiden Frauen befanden sich in sehr unterschiedlichen Situationen. Richenza nahm als Königin und Kaiserin bereits zu Lebzeiten ihres Gemahls Aufgaben einer Regentin wahr. Die Rolle der Herzogin Gertrud scheint in den Quellen weniger deutlich hervor, als es die erschließbaren Umstände vermuten ließen.56 Sie war es, die ohne den Beistand ihrer kaiserlichen Eltern und eines Ge­ mahls im Mai 1142 in Frankfurt einen für ihre Familie hervorragenden Kompro­ miss aushandelte: Ihr Sohn Heinrich der Löwe erhielt das Herzogtum Sachsen und verzichtete auf ihren Rat auf das Herzogtum Bayern. Sie selbst heiratete im gebärfähigen Alter den kinderlosen Herzog von Bayern, Heinrich II. Jasomirgott, und hätte so zur Stammmutter künftiger Herzöge von Bayern werden können. Auch mit aller Vorsicht ist es schwierig einzuschätzen, welche Rollen verwitwete Herrscherinnen im Reich während des Hochmittelalters einnehmen konnten. ­Inwieweit traten sie als Akteurinnen auf, welche Rolle übernahmen männliche Verwandte und Ratgeber? Wenn kein männlicher Vormund oder Berater in den Quellen aufscheint oder wahrscheinlich gemacht werden kann, sollte davon Ab­ stand genommen werden, von ihm auszugehen und nach ihm zu suchen. Vielmehr ist der Herrscherin das Herrschen und Regieren zuzutrauen. Wenn Frauen Ämter in der geistlichen Sphäre versagt blieben, sollte dies nicht dazu verleiten, ihre ­Rolle reflexhaft in der weltlichen Sphäre als gering einzuschätzen. Die Zeit, in der Frauen Anerkennung und Einfluss verweigert worden sind, ist nach dem Hoch­ mittelalter anzusetzen.57 Heinrich der Löwe vergaß seine beiden Regentinnen, Mutter und Großmutter, sowie seine sächsische Herkunft nicht. Beide Frauen erscheinen auch nach ihrem Tod in seinen Urkunden. Er nannte seine Kinder aus erster Ehe zudem Heinrich, Gertrud und Richenza, was ebenfalls auf eine enge Bindung hindeutet.

Abstract Empress Richenza and her daughter Gertrud, the Duchess of Saxony and Bavaria, practiced different forms of regency. Richenza acted for her husband, Emperor Lothar III, during his absence and after his death. Gertrud was regent for her un­ der-aged son Henry. The Saxon rulers could look back on a large number of role models in their immediate family who had acted as regent for their sons. The comparison with closely related contemporaries makes it possible to identify a “career plan” for female regents. After the death of her husband, the widow had several tasks, the first of which was ensure the memoria of the deceased. If a son 56  57 

Elpers: Regieren (wie Anm. 3), S. 92. Mona Chollet: Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen. Hamburg 2020, S. 14–28.

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was born to the relationship who was still a minor, the second main concern was to secure his reign. The mother remained a widow or remarried. The regency end­ ed when the son came of age or another king was elected. Regents who had not remarried usually had to enter a convent. Convents were, in turn, predestined places for the cultivation of memoria.

Julia Becker Weibliche Handlungsspielräume im normannischen Süditalien: Die Regentschaft der Gräfin Adelasia von Kalabrien und Sizilien (1101–1112) „Denn ich, Gräfin Adelasia, habe gemeinsam mit meinem Sohn Roger, dem Grafen von Kalabrien und Sizilien, beschlossen, dieses Privileg hier zu erneuern, wie es bereits der selige Graf festgelegt und bestimmt hat. Weil es zuerst auf Papier ausgefertigt war, haben wir dies hier im Andenken an die ursprüngliche Verfügung für das besagte Kloster erneuert und verfügt, dass das vorliegende Privileg in Ewigkeit unantastbar sei.“1 So lautet ein Zusatz der Gräfin Adelasia, der sich unter der Erneuerung eines ursprünglich auf Papier ausgestellten Privilegs Graf Rogers I. für das griechische Kloster San Filippo di Fragalà von 1099 befindet. Adelasia agiert in diesem Fall zwar gemeinsam mit ihrem Sohn Roger, für den sie nach dem Tod ihres Mannes die Regentschaft führte, aber doch an erster Stelle stehend. Ausgehend von diesem Urkundenbefund soll im folgenden Beitrag die Regentschaft der Adelasia, die sie nach dem Tod Rogers I. (1101) bis zur Volljährigkeit Rogers II. (1112) führte, insbesondere unter dem Aspekt selbstständiger Handlungsspielräume und politischer Einflussmöglichkeiten neu untersucht werden. Nach kurzen biografischen Informationen zu Adelasia und zum historischen Kontext ihrer Herrschaft wird der bisherige Forschungsstand zu ihrer Regentschaft skizziert. Anschließend soll ihre Herrschaftsperiode unter der Fragestellung, inwieweit Adelasia als Regentin eigenständige und aktive Herrschaftsentscheidungen getroffen hat, die über die notwendige Absicherung des erreichten Status quo hinauszielten, beleuchtet werden. Des Weiteren wird gefragt: Wurde ihre Herrschaft von den Zeitgenossen in einem Maß sozial akzeptiert, das für den regionalen und zeitlichen Kontext ungewöhnlich war? Auf welche persönlichen Netzwerke und Instrumente zur Herrschaftsentfaltung griff Adelasia zurück? In 1  Ἐγὼ γὰρ Ἀδελάσια κομητίσσα ἅμα τῶ ἐμῶ υἱῶ Ῥωκερίω κόμητι Καλαβρίας καὶ Σικελίας πεποιήκαμεν τουτὶ τὸ σιγίλλιον τῆδε ἀνακαινῶσαι ὡς εὑρόντες τὸ πρότερον τοῦ μακαριοτάτου κόμητος στερρὸν καὶ βέβαιον, καὶ διὰ τὸ εἶναι τὸ πρῶτον βαμβάκινον τοῦτο ἐνταυθὺ ἐμεθοικήσαμεν μνήμων ὡς ἀνωτέρως τὰ παρ’ἡμῶν ὕστερον ἀφιερωθέντα ἐν τῆ προλεχθήσα μονῆ καὶ εἶναι τὸ παρὸν σιγίλλιον εἰς ἀεὶ ἀμετάτρεπτον. Die Bestätigung dieser Verfügung Rogers I. durch die Gräfin Adelasia muss zwischen 1105 und 1112 zu datieren sein, da sie zusammen mit Roger II. handelt. Documenti latini e greci del conte Ruggero I di Calabria e Sicilia. Edizione critica, a cura di Julia Becker. Rom 2013, S. 249 f., Doc. 66.

https://doi.org/10.1515/9783111071879-005

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welchen Bereichen konnte Adelasia ihre politischen Ideen und Entscheidungen durchsetzen beziehungsweise wo musste sie Kompromisse eingehen? Zur Beantwortung dieser Fragen werden vor allem die urkundlichen Quellen zur Auswertung herangezogen, da die zeitgenössischen erzählenden Quellen die Regentschaft Adelasias weitgehend aussparen.

Adelasia „del Vasto“ Adelasia2 (Adelheid, Adelaide) war die Nichte des Markgrafen Bonifazius von Montferrat aus dem einflussreichen Geschlecht der Aleramiden. Der normannische Chronist und offizielle Hofbiograf Rogers I., Gaufredus Malaterra, berichtet in seiner Chronik von der Hochzeit Adelasias mit dem sizilischen Grafen im Jahr 1089 – Adelasia war zu diesem Zeitpunkt circa 15 Jahre alt3 – und betont dabei ihre Abstammung vom berühmten norditalienischen Markgrafengeschlecht.4 Dass die Verbindung mit den Aleramiden einen Zugewinn an Macht und Prestige für den aufstrebenden sizilischen Grafen versprach, lässt sich auch durch die da­ rauf folgende Information bei Gaufredus Malaterra erahnen: Roger verband sich nicht nur mit der „recht hübschen“ jungen Frau, sondern versprach überdies zwei ihrer Schwestern seinen Söhnen Goffredus und Jordan (Abb. 1). Allerdings konnte nur Jordan dieses Eheversprechen realisieren, da Goffredus erkrankte und verstarb, ehe Adelasias Schwester das heiratsfähige Alter erreicht hatte.5 Außerdem verlieh Roger I. Adelasias Bruder, Heinrich del Vasto, weit­ reichende Gebiete um Paternò, aus denen sich im Hinterland von Catania die ­einflussreiche signoria Aleramica entwickelte, die sich keilförmig zwischen den nordöstlichen, griechisch-christlich (Val Demone) und den südlichen, stark arabisch-muslimisch geprägten Teil (Val di Noto) der Insel schob (Abb. 2).6 Nach 2 

Diese Namensform findet sich fast ausschließlich in den Urkunden und wird daher im Folgenden bevorzugt. 3  Vgl. hierzu ausführlich Hubert Houben: Adelaide „del Vasto“ nella storia del regno di Sicilia. In: Itinerari di ricerca storica. Pubblicazione annuale del Dipartimento di Studi Storici dal Medioevo all’Età Contemporanea dell’Università di Lecce 4 (1990), S. 9–40, hier: S. 15. 4  Anno igitur incarnati Salvatoris MLXXXIX comes Rogerius, uxore Eremburga, filia Guillelmi, comitis Mortonensis, defuncta, aliam duxit: Adelaydem nomine, neptem Bonifacii, famosissimi Italorum marchionis – filiam videlicet fratris eius – iuvenculam honestae admodum faciei. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii Calabriae et Siciliae comitis et Roberti ducis fratris eius. Hg. von Ernesto Pontieri. Bologna 1928, IV, 14, S. 93. Grundsätzlich ist die Ereignisschilderung Malaterras glaubwürdig, allerdings kann sie aufgrund seiner vorwiegend mündlichen Quellen einige zeitliche Ungenauigkeiten enthalten. Vgl. Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 12–14. 5  Duasque sorores eiusdem puellae duobus filiis suis, Gaufredo videlicet, et Iordano, in matrimo­ nium copulavit. Sed Gaufredus, antequam nubiles annos attigisset,– quod dolor est dicere! – morbo prohibente, minime eam cognovit. Iordanus autem solemnibus nuptiis duxit. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii (wie Anm. 4), IV, 14, S. 93. 6  Vgl. außerdem Carlo Alberto Garufi: Gli Aleramici e i Normanni in Sicilia e nelle Puglie. Documenti e ricerche. In: Centenario della nascita di Michele Amari. Bd. 1. Palermo 1910, S. 47–83, hier: S. 48, S. 59 f. Das Privileg von Bischof Robert von Troina/Messina für San Salvatore di Patti

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Abbildung 1: Genealogie der Familie Rogers I. von Sizilien; © Julia Becker.

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dem Tod Rogers I. am 22. Juni 1101 übernahm Adelasia die Regentschaft zunächst für ihren Sohn Simon, der bereits im Jahr 1105 starb, und anschließend für ihren jüngeren Sohn Roger, den späteren Roger II.7 Als Roger II. die Regierung übernahm, schloss Adelasia 1112/1113 ein Ehebündnis mit König Balduin I. von Jerusalem (amt. 1100–1118), von dem sie sich die Sicherung der Königswürde von ­Jerusalem für ihren Sohn Roger II. erhoffte.8 Nach dem Scheitern dieses Planes und der Auflösung ihrer Ehe mit Balduin I. kehrte Adelasia im Jahr 1117 nach Sizilien zurück.9 Dort verstarb sie am 16. April 1118 und wurde in der Benedik­ tinerabtei San Salvatore di Patti (Prov. Messina) bestattet.10

1094 (Archivio Capitolare di Patti, vol. I di Fond., fol. 3; hg. von Rocco Pirri, Sicilia sacra disquisitionibus et notitiis illustrata. In: Petrus Burmann: Thesaurus antiquitatum et historiarum Siciliae. Bd. II. Palermo 1733, S. 771) unterfertigte Heinrich als Anrico fratre comitissae. Als Inter­ venient trat Heinrich in der Urkunde des Cataneser Bischofs Ansgerius 1113 in Erscheinung: Paschalis secundi et ad preces predicti comitis Henrici quondam Manfredi Marchionis filii ob reve­ renciam dei genitricis marie iudicavimus et constituimus […]; Carlo Alberto Garufi: Le donazioni del conte Enrico di Paternò al monastero di S. Maria di Valle Giosafat. In: Revue de l’Orient latin 9 (1902), S. 206–229, hier: S. 219, Nr. 1. Während der Regentschaft Adelasias scheint Heinrich, der sich in einer Urkunde Rogers I. für den Erzbischof Alcherius von Palermo 1095 als frater comi­ tissae und nicht über seinen Herrschaftsbereich definiert, keine politisch einflussreiche Rolle in ihrer Entourage gespielt zu haben. Vgl. Documenti latini e greci (wie Anm. 1), S. 207, Doc. 52 (Ansrico fratre comitisse).  7  Vgl. Annales Cavenses. Hg. von Georg Heinrich Pertz (MGH Scriptores 3). Hannover 1839, S. 185–197, hier: S.  191; Lupus Protospatarius, Annales. Hg. von Georg Heinrich Pertz (MGH Scriptores 5). Hannover 1844, S. 52–63, hier: S. 63: 1101. Hoc anno obiit Arnaldus archi­ episcopus Acherontinus, et Rogerius comes Siciliae in mense Iunii. Vom Tod Simons berichtet der Chronist Romuald von Salerno: Huic autem successit filius eius Symon, qui paucis transactis annis mortuus est. Cui frater eius predicti Roggerii comitis filius, Roggerius comes successit. Romuald von Salerno, Chronicon. Hg. von Carlo Alberto Garufi. Città di Castello 1935, S. 202 f. Vgl. Hubert Houben: Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident. Darmstadt 22010, S. 28.  8  Nach der Schilderung Wilhelms von Tyrus ging die Initiative zu dieser Eheverbindung von Balduin I. aus, der an der Mitgift der sizilischen Gräfin interessiert war: Ad hanc anno proxime preterito quosdam nobiles de regno suo rex direxerat, invitans eam et cum instantia postulans ut cum eo lege coniugali vellet convenire. Que verbum filio communicans, domino videlicet Rogero, qui postea fuit rex Sicilie, cepit cum eodem de verbo illo deliberare, et tandem visum est ambobus quod si dominus rex sub certis conditionibus predictum verbum vellet firmare, ipsi petitioni eius parati erant acquiescere. Forma autem conditionum hec erat, quod si rex ex predicta comitissa pro­ lem susciperet, ei post regis obitum sine contradictione et molestia regnum concederetur, quod si absque herede ex eadem comitissa suscepto defungeretur, comes Rogerus, filius eius, heres existeret et in regno sine contradictione et molestia rex futurus succederet. Wilhelm von Tyrus, Chronicon. Hg. von Robert Burchard Constantijn Huygens. Turnhout 1986, XI, 21, S. 525 f.  9 Zum Scheitern dieses Planes vgl. ebd., XI, 29, S. 541  f. Außerdem Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 35. 10  Anno Domini MCXVIII nonae indictionis, obiit Adelasia, regina Jerosolimitana, mater regis Rogerii. Annales Siculi. Hg. von Ernesto Pontieri. In: Gaufredus Malaterra, De rebus gestis ­Rogerii (wie Anm. 4), S. 109–120, hier: S. 116.

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Abbildung 2: Karte Siziliens und Südkalabriens zur Zeit Adelasias; Karte erstellt von Julia Becker.

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Forschungs- und Quellenlage Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der sizilianische Paläograf und ­Diplomatiker Carlo Alberto Garufi der Regentschaft der Adelasia einen ersten ausführlicheren Beitrag gewidmet.11 Vor allem durch eine Neubewertung des Quellenwerts der Chronik von Gaufredus Malaterra konnte Ernesto Pontieri ein halbes Jahrhundert später einen grundlegenden Artikel über Adelasia del Vasto vorlegen, der die Einschätzung Garufis in einigen Aspekten korrigierte und Adelasia abschließend als „vigorosa tempra di donna di stato“ charakterisierte.12 Ende des 20. Jahrhunderts erfolgte dann eine kritische Neubewertung der Regentschaft Adelasias zunächst durch den Lecceser Mediävisten Hubert Houben13 und schließlich durch die Byzantinistin Vera von Falkenhausen, die vor allem durch die Einbeziehung der urkundlichen Quellen aus der Regierungszeit Adelasias neue und gewinnbringende Akzente setzen konnte.14 Im Folgenden wird ihre Herrschaft nun erstmals unter dem Aspekt der politischen Autonomie und sozialen Akzeptanz sowie ihrer Handlungsspielräume als weibliche Regentin untersucht. Die zeitgenössischen erzählenden Chronisten sparen die Regentschaft der Adelasia beinahe gänzlich aus. Die Hauptquelle für die Zeit Rogers I., die Chronik des Gaufredus Malaterra, endet bereits 1098 mit der Verleihung der apostolischen Legation an den sizilischen Grafen. Die Chronik Alexanders von Telese enthält erst aufschlussreiche Informationen für die Entstehung des normannischen Königreichs von 1127 bis 1135. Für die Zeit Adelasias beschränkt er sich dagegen auf Anekdoten aus der Kindheit Rogers II. und eine sehr allgemeine, wenig aussagekräftige Charakterisierung der Regentin als mulier prudentissima.15 Romuald von Salerno und Falco von Benevent, die Verfasser zweier wichtiger Quellen für die Regierung Rogers II., lassen die sizilischen Verhältnisse während der Regentschaft

11  Carlo

Alberto Garufi: Adelaide nipote di Bonifacio del Vasto e Goffredo figliuolo del gran conte Ruggero. Per la critica di Goffredo Malaterra e per la diplomatica die primi tempi normanni in Sicilia. In: Rendiconti e memorie della Reale Accademia di scienze, lettere ed arti degli Zelanti. Acireale, ser. 3–4 (1904/1905), S. 185–216. 12 Ernesto Pontieri: La madre di re Ruggero. Adelaide del Vasto contessa di Sicilia, regina di Gerusalemme (?–1118). In: Atti del Congresso internazionale di studi Ruggeriani. Bd. 2. Palermo 1955, S. 327–432; im Folgenden verwendet überarbeiteter Nachdruck dieses Beitrages in: ders.: Tra i Normanna nell’Italia meridionale. Neapel 1964, S. 409–509, hier: S. 509. 13  Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 9–40. Houben stellt die Forschungsmeinungen von Garufi und Pontieri in den strittigen Punkten nebeneinander und kann in vielen Fällen durch quellennahe Argumentation zu neuen, überzeugenderen Ergebnissen gelangen. 14  Vera von Falkenhausen: Zur Regentschaft der Gräfin Adelasia del Vasto in Kalabrien und Sizilien (1101–1112). In: Ihor Ševčenko/Irmgard Hutter (Hg.): ΑΕΤΟΣ. Studies in Honour of Cyril Mango Presented to him on April 14, 1998. Stuttgart u. a. 1998, S. 87–115. Diesem Beitrag sind die Regesten der Urkunden Adelasias angehängt. 15 Alexander von Telese, Ystoria Rogerii regis Sicilie Calabrie atque Apulie. Testo a cura di Ludovica de Nava. Commento storico a cura di Dione Clementi, Istituto storico italiano per il Medio Evo. Rom 1991, I, 3, S. 7 f.

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Adelasias völlig außer Acht.16 Romuald von Salerno berichtet lediglich über den Tod Simons und die Herrschaftsnachfolge Rogers.17 Wenig zuverlässig ist der Bericht des Mönchs Ordericus Vitalis, der als einziger die Zeit der Regentschaft mit etwas ausführlicheren, aber nicht immer ganz verlässlichen Nachrichten bedenkt.18 Aufgrund dieser dürftigen Quellenlage hat von Falkenhausen zu Recht die Bedeutung der Urkunden Adelasias betont und die von ihr ausgefertigten ­Privilegien hinsichtlich der Informationen zur politischen Leistung und zum Verhältnis der Regentin gegenüber dem normannischen Adel sowie der griechischen und arabischen Bevölkerung Siziliens untersucht. Auch für die hier zugrunde­ liegende Fragestellung nach dem Handlungsspielraum Adelasias als weibliche ­Regentin sind die Urkunden aufschlussreich.

Regentschaftsregierung (1101–1112) Bereits vor ihrer Funktion als Regentin in Stellvertretung für ihre Söhne Simon und Roger hat sich Adelasia – vergleichbar mit Sichelgaita von Salerno und Margarete von Navarra – aktiv an der Herrschaft ihres Mannes beteiligt.19 Während seine ersten beiden Gemahlinnen, Judith von Evreux und Eremburga de Mortain, nicht als Intervenientinnen in den gräflichen Urkunden genannt werden, tritt Adelasia ab dem Jahr 1091 dort regelmäßig in Erscheinung.20 Ihrer Intervention kann es womöglich auch zugeschrieben werden, dass die Söhne aus ihrer Ehe mit Roger I., Simon und Roger, als Erben eingesetzt wurden und in der Sukzession die Söhne Rogers aus den ersten beiden Ehen verdrängten. Zu welchem Zeitpunkt die Designation Simons, des Erstgeborenen aus ihrer Ehe mit Roger I., zum 16  Romuald

von Salerno, Chronicon (wie Anm. 7); Falcone di Benevento, Chronicon Beneven­ tanum. Città e feudi nell’Italia dei Normanni. Hg. (mit ital. Übers.) von Edoardo D’Angelo. Florenz 1998; neue Edition der Chronik mit italienischer Übersetzung von Raffaele Matarazzo. Neapel 2000. 17  Siehe Anm. 7. 18  Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica. The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis. Hg. und übersetzt von Marjorie Chibnall. 6 Bde. Oxford 1969–1980, hier: Bd. 6, XIII, S. 428, S. 432. Vgl. Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 24–27. 19 Auch Sichelgaita, Herzogin von Apulien und Gattin Robert Guiscards, und Margarete von Navarra, Gemahlin König Wilhelms I. von Sizilien, traten bereits vor ihrer stellvertretenden Herrschaft für ihre minderjährigen Söhne in den Urkunden als Intervenientinnen oder Mitausstellerinnen öffentlich in Erscheinung; vgl. Stefanie Hamm: Regentinnen und minderjährige Herrscher im normannischen Italien. In: Jacqueline Hamesse (Hg.): Roma, magistra mundi. Iti­ neraria culturae medievalis. Mélanges offerts au Père L. E. Boyle à l’occasion de son 75e anniversaire. Bd. 3. Louvain-la-Neuve 1998, S. 123–139, hier: S. 126, S. 133; Annkristin Schlichte: Der „gute“ König. Wilhelm II. von Sizilien (1166–1189). Tübingen 2005, S. 9–16. 20 Vgl. Documenti latini e greci (wie Anm. 1), S. 94, Doc. 17; S. 116, Doc. 23; S. 140, Doc. 31; S. 164, Doc. 39; S. 168, Doc. 40; S. 176, Doc. 42 (Atelayda coniuge mea consiliante et laudante); S. 192, Doc. 47 (Adelaide coniuge mea consiliante et laudante); S. 203, Doc. 51; S. 214, Doc. 54; S. 219, Doc. 55; S. 221, Doc. 56; S. 225, Doc. 57; S. 244, Doc. 63; S. 257, Doc. 67; S. 263, Doc. 69; S. 272, Doc. 72; S. 277, Doc. 74; S. 288, Doc. 77; S. 290, Doc. 78. Die Urkundenproduktion Rogers I. nimmt jedoch erst ab dem Jahr 1090 entscheidend zu, bis dahin sind insgesamt nur zwölf Urkunden und zwei Deperdita überliefert.

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Nachfolger in der Grafschaft von Kalabrien und Sizilien erfolgte, ist nicht eindeutig zu rekonstruieren.21 Für Malaterra scheint die Nachfolge Simons als Graf von Sizilien und Kalabrien direkt nach seiner Geburt festzustehen. Diese besingt er in Versform: „Die Ankündigung, dass ein Junge geboren ist, löst neue Freude aus. […] Am Taufbecken, als seine Stirn mit Chrisam gesalbt wird, erhält er den Namen Simon. Der Graf hat einen Erben: ein künftiger Herzog für Sizilien ist geboren. Die Kalabresen wählen für sich selbst, dass sie seinem Schwert unterworfen werden.“22 Vermutlich hat Malaterra diese Verse aber erst nach der Durchsetzung der Herrschaftsnachfolge Simons verfasst. Eine Urkunde, die Roger I. am 22. Juni 1094 für Santa Maria di Roccella (Prov. Catanzaro) ausgestellt hatte, unter­fertigte Simon als filius Rogerii comitis et heres.23 Im gleichen Jahr wurde in einer Urkunde für die Benediktinerabtei San Bartolomeo di Lipari (Prov. Messina) jedoch auch ein anderer Sohn Rogers I., Goffredus, als heres geführt.24 Nach 1095 erschien Goffredus jedoch nicht mehr als heres in den Quellen. Diese Entwicklung hat Garufi durch eine Intrige Adelasias zu erklären versucht, die angeblich darauf abzielte, Goffredus von der Nachfolge auszuschließen und ihn mit der Grafschaft von Ragusa abzufinden.25 Dagegen haben jedoch Chalandon und Pontieri angeführt, dass Roger I. zwei Söhne hatte, die beide den Namen Goffredus führten.26 Einer von ihnen entstammte wahrscheinlich der Ehe mit Eremburga und wurde mit einer Schwester Adelasias verlobt.27 Dieser ist mit dem in den Urkunden als heres geführten Goffredus zu identifizieren, der wenig später an Lepra erkrankte, woran seine Herrschaftsnachfolge und die Heirat mit Adelasias Schwester scheiterten.28 Wenige Informationen gibt es über den zweiten Goffre21  Simon

wurde wahrscheinlich um 1093/1094 geboren. Gaufredus Malaterra nennt keinen genauen Zeitpunkt für seine Geburt, berichtet aber von ihr nach dem Tod von Rogers Sohn Jordan im Jahr 1092; Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii (wie Anm. 4), IV, 18–19, S. 98. In einer Urkunde Rogers I. für Bruno von Köln von 1098 wird Simon mit dem Hinweis iam quatuor an­ norum existente als Zeuge genannt, was ebenfalls auf eine Geburt um das Jahr 1094 hindeutet; Documenti latini e greci (wie Anm. 1), S. 244, Doc. 63. 22  Nuntiatus puer natus nova praestat gaudia! / […] Simon, fonte pictus fronte inunctione chris­ matis, / Haeredatur: solidatur dux futurus siculus. / Calabrenses suos enses sibi optant adici. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii (wie Anm. 4), IV, 19, S. 98. 23  Ego Simon filius Rogerii comitis et heres. Documenti latini e greci (wie Anm. 1), S. 203, Doc. 51. Außerdem werden in dieser Urkunde auch noch Roger und Goffredus als Söhne und Erben aufgelistet. Die Authentizität dieser Urkunde ist allerdings stark umstritten; vgl. ebd., S. 202. 24 […] concedente filio et herede meo Goffrido […]; ebd., S. 167, Doc. 40. 25  Vgl. Garufi: Adelaide (wie Anm. 11), S. 212–214. Dazu Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 19–22. 26  In einer Urkunde aus dem Jahr 1096 für den Bischof Johannes von Squillace wird die Existenz zweier gleichnamiger Söhne belegt; Documenti latini e greci (wie Anm. 1), S. 215, Doc. 54. Zur Forschungskontroverse vgl. Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 20. 27  Siehe Anm. 5. Goffredus ist bereits ab den 1080er-Jahren in der gräflichen Umgebung nachzuweisen; vgl. Documenti latini e greci (wie Anm. 1), S. 43, Doc. 3; S. 62, Doc. 9: Signum proprie manus Goffredi filii comitis; S. 75, Doc. 11; S. 81, Doc. 13: Gofridus filius comitis Rogerii. 28  Jordanus enim, filius comitis, propter strenuitatem suam omnibus amabilis, quem plures – quia jam Gaufredum, quod dolorem non minuit, morbus elephantinus pervaserat – comitis haeredem futurum suspicabantur – nam neque alium masculum habebat –, apud Syracusam, sui juris urbem, febre synocho percussus est. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii (wie Anm. 4), IV, 18, S. 97. Vgl. Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 20.

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dus, der bis um das Jahr 1120 als Graf von Ragusa belegt ist.29 Sollte dieser ebenfalls als Nachfolger betrachtet und bezeichnet worden sein, könnte die Tatsache, dass er diesen Status nach der Geburt Simons nicht halten konnte, dadurch zu erklären sein, dass er ein illegitimes Kind Rogers I. gewesen ist. Dies ist jedoch nicht nachweisbar.30 Illegitimität muss außerdem nicht notwendigerweise zum Ausschluss von der Herrschaftsnachfolge führen, wie sich am Beispiel Jordans, des ältesten Sohnes Rogers I., zeigt. Diesen sah Gaufredus Malaterra lange Zeit als präsumptiven Nachfolger des Grafen und empfand seinen Tod als großen Verlust.31 Die Designation Simons zum Nachfolger Rogers I. und der Ausschluss von Gof­ fredus und Malgerius von der Herrschaftsnachfolge sind möglicherweise auf Betreiben Adelasias erfolgt, die ja bereits kurz nach der Eheschließung politische Aktivität entfaltete, wie ihre Interventionen in den gräflichen Urkunden belegen. Eventuell stand Adelasia das Vorbild der Sichelgaita von Salerno, der zweiten Ehefrau von Robert Guiscard, vor Augen, die ebenfalls die Sukzession ihres ersten Sohnes, Roger Borsa, gegenüber Bohemund im apulischen Herzogtum durchsetzen konnte.32 Als Roger I. 1101 verstarb, übernahm Adelasia die Regentschaft zunächst für den erstgeborenen Sohn, Simon.33 Der Chronist Alexander von Telese berichtet, dass Adelasia nicht nur die Fürsorge für den jungen Herrscher (tutela matris) getragen, sondern sich auch um die Herrschaftsausübung (cura dominatus) gekümmert sowie die Leitung der Grafschaft (regimen comitatus) übernommen habe.34 In den authentisch überlieferten Urkunden, die Adelasia während ihrer Regentschaft für Simon ausstellte, agierte sie teilweise gemeinsam mit ihrem minderjährigen Sohn,35 wobei sie stets an erster Stelle genannt wird, teilweise sogar alleine.36 Diese Urkundenpraxis Adelasias änderte sich auch nach dem Tod Simons (1105) 29  Vgl. Eugenio Sortino Schininà: Il conte Goffredo di Ragusa (1093–1120). In: Archivio Storico per la Sicilia Orientale 12 (1915), S. 181–185. Darin behauptet Schininà, dass Goffredus ein illegitimer Sohn Rogers gewesen sei. Dafür gibt es jedoch keine Belege. 30  Vgl. Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 21. 31  Vgl. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii (wie Anm. 4), IV, 18, S. 97. Außerdem Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 21, Anm. 57. 32  Vgl. Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 22; Pontieri: Madre (wie Anm. 12), S. 443. 33 Zu den Regentinnen im normannischen Süditalien vgl. Hamm: Regentinnen (wie Anm. 19), S. 123–139. 34  Sed quia adhuc tenera comprimebatur etate, nec poterat hac prepeditus dominatus exercere cu­ ras, genetrix illius Adalesia nomine, mulier prudentissima, quousque ad etatem ipse pertingeret le­ gitimam, regimem sub se peragendum ipsius comitatus accepit. Hic namque dum adhuc puer sub matris tutela degeret […]; Alexander von Telese, Ystoria (wie Anm. 15), I, 3, S. 7 f. 35  Von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 106, Reg. 4. 36 Vgl. das Privileg aus dem Jahr 1101 für Abt Gregor vom griechischen Kloster San Filippo di Fragalà in der Val Demone: Σιγίλλιον γενóμενον παρ’ἐμοῦ κoμητήσσης Ἀδιλασία Καλαβρίας καὶ Σικελίας καὶ ἐπιδωθὲν πρὸς τὴν μονὴν τοῦ ὁσίoυ πατρὸς ἡμῶν Φιλίππου Δεμέννων  […]; übersetzt durch die Verfasserin: „Das Privileg wurde ausgefertigt durch mich Adelasia, Gräfin von Kalabrien und Sizilien, und übergeben an das Kloster unseres heiligen Vaters S. Filippo di Demenna […]“. Als Dank für die Heilung ihres Sohnes Roger von einem Ohrenleiden überträgt die Gräfin dem Kloster darin villani, Weinberge und etwas Land am Fluss Panagia mit dem Recht, dort eine Mühle zu errichten. Salvatore Cusa: I diplomi greci ed arabi di Sicilia. Pubblicati nel testo originale, tradotti ed illustrati. Band I: Teil 1 und 2. ND Köln/Wien 1982, S. 394 f.; von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 105, Reg. 1.

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und dem Beginn ihrer Regentschaft für den zweitgeborenen Sohn, Roger, nicht. Gemeinsam mit ihrem Sohn, dabei aber stets die selbstständige Handlung betonend, verlieh Adelasia eigenständig Privilegien an Klöster und Bistümer.37 Bei den gemeinsamen Schenkungen lautet die Formel im Protokoll oder Eschatokoll der griechischen Urkunden in der Regel: „Gräfin Adelasia zusammen mit meinem Sohn Roger, Graf von Kalabrien und Sizilien […]“.38 Hier wird nicht nur eine Urkundenausstellung gemeinsam mit dem legitimen Herrschaftsnachfolger suggeriert, sondern die Initiative zu den einzelnen Verfügungen scheint sogar von der Regentin selbst ausgegangen zu sein.39 Adelasia führt in den Urkunden durchgehend den Titel comitissa und greift nicht zur maskulinen Form ihres Titels, wie es beispielsweise für Sichelgaita belegt ist.40 In Form eines auf Papier ausgefertigten griechisch-arabischen Mandats befahl Adelasia im März 1109 allen Amtsträgern, die ihrem Befehl im Gebiet um Castrogiovanni (Enna) unterstanden, nicht in die Angelegenheiten des Klosters San Filippo di Fragalà (Prov. Messina) im Tal von San Marco einzugreifen.41 Der Wortlaut des arabischsprachigen Teils zeichnet Adelasia eindeutig als selbstbewusste und eigenständige Herrscherin aus, die zur höheren Autorität ihrer Befehle nicht der Fürsprache ihres Sohnes bedurfte.42 37  An

das Kloster S. Bartolomeo di Lipari verleiht Adelasia im Jahr 1110 die Zehnten der Juden von Termini Imerese: Ego Adalaidis comitissa Sicilię et Calabrię dedi ęcclesię Sancti Bartholomei cum filio meo Rogerio decimas Iudeorum qui sunt ad Termas, pro redemptione animę meę et do­ mini mei comitis Rogerii omniumque parentum meorum. Rogerii II regis Diplomata Latina [im Folgenden: D Ro. II.]. Hg. von Carlrichard Brühl (Codex diplomaticus regni Siciliae. Ser. I, Tomus II, 1). Köln u. a. 1987, Zitat: D Ro. II. 1. Dem Bistum Squillace verleiht sie in demselben Jahr den Besitz der Kirche Santa Maria de Roccella: Signum manus comitissę Adalasię, que hanc cartu­ lam donationis a se facte scribere iussit; D  Ro. II. 3. 38  Ἀδελασίας κομιτήσσης σὺν τῶ ἐμῶ υἱῶ Ῥωκερίω κόμητι Καλαβρίας καὶ Σικελίας […]. Vgl. von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 108–114, Reg. 12, Reg. 13, Reg. 15, Reg. 16, Reg. 20, Reg. 21, Reg. 24, Reg. 27, Reg. 29, Reg. 32. 39  Stefanie Hamm konnte diese Praxis bei Regentschaften für minderjährige Herrscher besonders für den süditalienischen Raum belegen; vgl. Hamm: Regentinnen (wie Anm. 19), S. 124 f. 40  Sichelgaita führt in den beiden Urkunden von 1086 an den Erzbischof Urso von Bari und im Privileg aus demselben Jahr für die Abtei Montecassino jeweils den Titel dux; Léon-Robert ­Ménager: Recueil des actes des ducs normands d’Italie (1046–1127). Bd. I: Les premiers ducs (1046–1087). Bari 1980, S. 169–175, Nr. 46–48. Die Maskulinisierung der Herrschaftstitel hatte im byzantinisch beeinflussten, normannischen Süditalien durchaus Tradition; vgl. hierzu Elke Goez: Mit den Mitteln einer Frau? Zur Bedeutung der Fürstinnen in der späten Salierzeit. In: Claudia Zey (Hg.): Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.– 14.  Jahrhundert). Ostfildern 2015, S.  307–336, hier: S.  310–312; Hamm: Regentinnen (wie Anm. 19), S. 127 f.; Patricia Skinner: „Halt! Be Men!“: Sikelgaita of Salerno, Gender and the ­Norman Conquest of Southern Italy. In: Gender & History 12 (2000) 3, S. 622–641. 41 Faksimile und Übersetzung des griechischen und arabischen Teils jüngst durch das Projekt „Documenting Multiculturalism“; Jeremy Johns: Carta contro pergamena. Il mandato bilingue della contessa Adelaide datato 1109, S. 1–3, online zugänglich unter: https://drive.google.com/ file/d/1NYK3mwQVWlyrBIGL-36rLR7_5nZtKFzv/view (letzter Zugriff am 23. 12. 2021). 42  „Questo è un mandato da parte della gran dama, la sovrana di Sicilia e Calabria, difenditrice della fede cristiana Adelaide. Il nostro ordine è dato a tutti coloro che leggono, o a cui sarà letto, questo nostro documento, tra i governatori e i càidi al nostro servizio, e tra coloro che sono investiti per nostra autorità, oggi e in futuro in Castrogiovanni fino a quando sarà desiderato […]“; ebd., S. 3 f.; von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 108, Reg. 11.

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Vor allem aus den Urkunden erwächst das Bild einer politisch aktiven Regentin, die nicht nur die tutela matris für den minderjährigen Herrscher ausübte, sondern eigenverantwortlich handelte. Die soziale Akzeptanz als Herrscherin hatte sich Adelasia eventuell bereits durch ihre politische Einflussnahme zu Lebzeiten Rogers I. erworben. Die Regentin wurde bei grund- und lehnsrechtlichen Fragen wie auch in Streitfällen als entscheidende Instanz angerufen. Einem treuen Amtsträger Rogers I. gab Adelasia in einer Urkunde aus dem Jahr 1111 die Erlaubnis zur ­Heirat der Witwe des Richard Malet und zur vorübergehenden Verwaltung des Grundbesitzes des verstorbenen Ehemanns der Witwe, bis die Volljährigkeit seiner Kinder eingetreten sei. Der zur Verwaltung übertragene Grundbesitz wurde durch Amtsträger registriert, mit denen Adelasia eng verbunden war.43 Dadurch sicherte sich Adelasia die Kontrolle über und den Zugriff auf die ausgegebenen Ländereien. Auch im Falle von Grenzstreitigkeiten und Entfremdung von Grundbesitz wurde sich an die Regentin als Schlichterin gewandt. Beispielsweise bei einem Streitfall im Jahr 1110 zwischen dem Abt Hubert von Sant’ Eufemia ­ (Prov. Catanzaro) und dem Prior Constancius von Santa Maria di Bagnara (Prov. Reggio Calabria) um missachtete Grenzlinien der Klosterbesitzungen traf Adelasia gemeinsam mit ihrem Sohn Roger eine Entscheidung.44 Aufschlussreich bezüglich der sozialen Akzeptanz ihrer Herrschaft ist der Prozess, der zur Entscheidungsfindung führte: Adelasia beauftragte mit der Schlichtung ein Expertengremium, bestehend aus zwei normannischen Großen ihrer Entourage, Robert Borrell und Josbert de Lucy, sowie ihres Amtsträgers Bonos, der bereits dem ­engen Umfeld Rogers I. angehörte.45 Beide Streitparteien schickten Vertreter und Ortskundige an den umstrittenen Grenzbereich, um vor Ort die Lage zu klären. Dort wurde unter dem Schiedsgericht von Bonos, der die Grenzen noch aus der Zeit Rogers I. kannte, schließlich die Entscheidung zugunsten des Klosters Santa Maria di Bagnara getroffen.46 Dieser Prozess wiederum zeigt ein verantwortungsbewusstes Handeln der Regentin, die für die Lösung des Konfliktes sowohl die Zustimmung der principes curiae einholte als auch die Entscheidungsfindung in die Hände eines unparteiischen Schiedsgerichtes gab. Durch diese konsensuale Vorgehensweise gewann sie sicherlich nicht nur die Achtung der Großen, sondern auch das Vertrauen ihrer Untertanen. Nichtsdestotrotz scheint es auch Spannungen mit den normannischen Adeligen unter ihrer Regentschaft gegeben zu haben. Ein um 1123 entstandenes Streitschlichtungsurteil Rogers II. berichtet von einem Aufstand der Barone, der zur

43  Vgl. von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 112, Reg. 24; Hamm: Regentinnen (wie Anm. 19), S. 131. 44  Vgl. von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 108  f., Reg. 13; Karl Andreas Kehr: Die Urkunden der normannisch-sicilischen Könige. Innsbruck 1902, S. 413–415, Nr. 3. 45  Vgl. hierzu Julia Becker: Graf Roger I. von Sizilien. Wegbereiter des normannischen Königreichs. Tübingen 2008, S. 117. 46  Vgl. von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 108  f., Reg. 13; Kehr: Urkunden (wie Anm. 44), S. 413–415, Nr. 3.

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Zeit der Regentschaft Adelasias stattgefunden haben muss.47 Anhaltende Pro­ bleme hatte Adelasia anscheinend auch mit den Baronen in der im nordöstlichen Teil Siziliens gelegenen Val Demone. Griechische Bewohner aus dem Gebiet um San Marco d’Alunzio und Naso (beide Prov. Messina) vermelden in einem Brief (um 1130/1140) an Roger II. einen Aufstand gegen die Herrschaft Adelasias, sodass das von Roger I. errichtete und befestigte castrum Phokairon zwischen Patti und San Marco d’Alunzio (Prov. Messina) mehrfach von den in der umliegenden Gegend ansässigen Landbesitzern zerstört wurde und von Adelasia wieder aufgebaut werden musste.48 Trotz dieser wohl vorhandenen Auseinandersetzungen mit einigen normannischen Großen ist der Bericht des Chronisten Ordericus Vitalis, der in seiner „Historia ecclesiastica“ die Funktion der Regentschaft auf die Erziehung (educare) des jungen Roger beschränkt, nicht ganz glaubwürdig.49 Ihm zufolge habe Adelasia erkannt, dass sie nicht fähig sei, die Regentschaft für ein so großes Territorium zu führen und habe daher Robert, den Sohn des Herzogs von Burgund, an ihrer Stelle damit beauftragt.50 Robert sei mit einer Tochter Adelasias vermählt worden und habe die Herrschaft für zehn Jahre geführt. In der Zwischenzeit habe Adelasia Roger erzogen und sobald dieser die Volljährigkeit erreicht hatte, habe Adelasia Robert mit einem Gifttrank aus dem Weg geschafft, um Roger den Herrschaftsantritt zu ermöglichen.51 Houben konnte überzeugend herausstellen, dass es sich bei dem hier angesprochenen Robert wohl um Robert 47 […] πρινὶ τοῦ μούρτου τῶν τερρερίων […] (vor dem Aufstand der Barone); Cusa: Diplomi (wie Anm. 36), S. 471. 48  Diese Information können wir einem Brief entnehmen, den griechische Untertanen zwischen 1130 und 1140 an Roger II. richteten: […] καὶ ἐμορτέυε ἐν Καλαβρία καὶ Σικαλία τῆς ἁγίας αὐθεντρίας τῆς μητρός σου καὶ ἀπελύθη τὸ κάστρον τοῦ φωκαιροῦ διὰ σῶν ἀρχόντων οὕς ἐπικράτουσαν τὴν καιρὸν ἐκεῖνον τὴν χώραν, καὶ πάλιν μετὰ θεὸν ἡ ἁγία αὐθέντρια ἡ μητρά σου ἐνίκησεν τοὺς τερρερίους καὶ ἀνοικοδόμησεν πάλιν τὸν φωκαιρὸν β’ ἄχρι εἰς τὰς γ’ φορὰς  […]; übersetzt durch die Verfasserin: „[…] es erhob sich in Kalabrien und Sizilien ein Aufstand gegen die heilige Herrschaft seiner Mutter [= der Adelasia] und es wurde das castrum Phokairon durch ihre Barone, die zu dieser Zeit über jenes Land herrschten, zerstört, und wieder besiegte seine Mutter während ihrer Herrschaft die Barone und ließ die Festung Phokairon zwei- bis dreimal wiedererrichten […]“; ebd., S. 534. 49 Vgl. von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 88; Houben: Adelaide (wie Anm. 3), S. 24 f. 50  Postquam Rogerius senex, Siciliae comes, Tancredi de Altavilla filius, obiit, uxor eius Adeles cum parvulo filio regere se non posse magnas possessiones perspexit et anxia, quid agendum foret, tam secum quam cum familiaribus suis sollerter indagavit. Ingentes enim provincias prefatus con­ sul et XI fratres eius bellica virtute optinuerant et barbaros sub potenti manu excelsi Die fortiter in Apulia et Sicilia subegerant. Tandem prefata mulier Rodbertum, Rodberti ducis Burgundiae ­filium, in amiciciam copulavit eique filiam suam coniugem cum toto Sicaniae principatu tradidit; Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica (wie Anm. 18), Bd. 6, lib. XIII, 15, S. 428. 51  Rodbertus autem Burgundio, ut predictum est, filiam Rogerii Normanni coniugem habuit et principatum contra cunctos per X annos strenue defensavit. Interea socrus eius Rogerium puerum educavit, atque ubi eundem ad arma gerenda et ius patris regendum tironem idoneum agnovit, egregium Francigenam probumque militem, generum suum, venenosa potione – proh dolor – infe­ cit. Extincto itaque feminea fraude nobili marchisio, Rogerius successit […]; ebd., Bd. 6, lib. XIII, 15, S. 432.

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Borell handeln muss, ein enger Vertrauter Adelasias während ihrer Regentschaft, der sich bereits unter Roger I. in der gräflichen Entourage nachweisen lässt.52 Die angebliche Hochzeit Roberts mit einer gräflichen Tochter ist in anderen historiografischen Quellen nicht belegt. Die Kernaussage, die sich aus dieser Passage bei Ordericus Vitalis ableiten lässt, ist die Tatsache, dass Adelasia bei der Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche vor allem im Bereich der Val Demone Zugeständnisse an die dort ansässigen Barone machen musste und auf die Unterstützung durch normannische Große angewiesen war. Hier griff sie – ähnlich wie auch Margarete von Navarra nach dem Tod Wilhelms I. – vor allem auf ein personelles Netzwerk zurück, das bereits vor dem Tod Rogers I. über politischen Einfluss verfügte.53 Dass sich Adelasia während ihrer stellvertretenden Herrschaft weitgehend an die Leitlinien der Politik ihres Mannes hielt und vor allem im personellen Bereich viele Kontinuitäten wahrte, ist bereits mehrfach betont worden.54 Die Gräfin zeigte jedoch durch die enge administrative Einbindung des erstmals unter ihrer Regentschaft in Erscheinung tretenden Emirs Christodulos und durch die Verlegung der gräflichen Residenz zunächst nach Messina und schließlich nach Palermo auch eigene politische Weitsicht, die von der politischen Leitlinie ihres verstorbenen Mannes abwich und über die Wahrung der politischen Kontinuität hi­ nausging. Der rasche Aufstieg des griechischen Westsizilianers Christodulos, der das erste Mal 1107 in einem Privileg der Gräfin für das Kloster San Bartolomeo di Lipari (Prov. Messina) im Amt des amiratus/ἀμηρᾶς belegt und auch noch in den Anfangsjahren Rogers II. bis 1125 als enger Mitarbeiter nachzuweisen ist,55 steht im Kontext der Verlagerung des politischen und wirtschaftlichen Schwerpunktes der normannischen Herrschaft auf die Insel und des Bedeutungsverlustes des einstigen gräflichen Zentrums in Südkalabrien.56 Zu Beginn ihrer Regentschaft verlegte die Gräfin ihre Residenz zunächst in die strategisch günstiger gelegene Stadt Messina, die Gaufredus Malaterra als clavis Siciliae (Schlüssel zu Sizilien) bezeichnet hatte.57 Der Rückzug Adelasias aus Kalabrien ist eventuell auch dadurch zu erklären, dass der apulische Herzog Roger Borsa versuchte, verlorene 52 

Vgl. Becker: Roger I. (wie Anm. 45), S. 96–99. Vgl. Schlichte: Wilhelm II. (wie Anm. 19), S. 9. 54  Vgl. von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 105; Becker: Roger I. (wie Anm. 45), S. 228–235. 55  Vgl. Vera von Falkenhausen: I funzionari greci nel regno normanno. In: Mario Re/Cristina Rognoni (a cura di): Byzantino-Sicula V. Giorgio di Antiochia. L’arte della politica in Sicilia nel XII secolo tra Bisanzio e l’Islam. Atti del convegno internazionale, Palermo 19–20 aprile 2007. Palermo 2009, S. 165–202, hier: S. 180–183; Houben: Roger II. (wie Anm. 7), S. 195–197. 56  Zum Bedeutungsverlust Kalabriens in der Politik der normannischen Grafen vgl. Julia Becker: La politica calabrese dei primi conti normanni dopo la conquista della Sicilia (1080–1130). In: Archivio storico per la Calabria e la Lucania 73 (2006), S. 47–70. 57  Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii (wie Anm. 4), III, 32, S. 77. Vgl. Vera von Falken­ hausen: Die griechischen Gemeinden in Messina und Palermo (11.–13. Jahrhundert). In: Theresa Jäckh/Mona Kirsch (Hg.): Urban Dynamics and Transcultural Communication in Medieval ­Sicily. Paderborn 2017, S. 27–66, hier: S. 27–29. 53 

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Gebiete in Südkalabrien während der Zeit ihrer Regentschaft zurückzuerobern.58 In einer Urkunde für Santa Maria di Palermo aus dem Jahr 1112 ist dann erstmals die gräfliche Residenz in Palermo belegt.59 Hinter dem Umzug des normannischen Hofes von Messina nach Palermo stand vermutlich die Intention, die stark griechisch-arabisch geprägten Gebiete der Insel – auch mithilfe des westsizilianischen Emirs Christodulos – effektiver in die gräfliche Herrschaft einzubinden. Der Tod Roger Borsas im Jahr 1111, mit dem die Herrschaftsrechte über die Stadt Palermo bis dahin geteilt werden mussten, beeinflusste diese Entscheidung sicherlich auch.60

Fazit Grundsätzlich zielte eine Regentschaftsregierung zunächst auf die Wahrung der politischen Kontinuität und des erreichten Status quo bis zur Herrschaftsübernahme durch den Sohn ab, sobald dieser volljährig war.61 Dies sollte berücksichtigt werden, wenn nun abschließend die Frage nach dem Aktionsradius und der eigenständigen Herrschaftsentfaltung Adelasias wieder aufgegriffen wird. Bereits vor dem Beginn ihrer stellvertretenden Herrschaft begegnete Adelasia in den Urkunden Rogers I. als Intervenientin und stand ihrem Gatten bei seinen politischen Entscheidungen beratend zur Seite. Inwiefern es ihrem Drängen zuzuschreiben ist, dass die Herrschaftsnachfolge an den erstgeborenen Sohn Simon aus ihrer Ehe mit Roger I. überging, kann aufgrund der schlechten Quellenlage nur vermutet werden. Die von ihr überlieferten Urkunden belegen einen Handlungsspielraum, der sich weitgehend im Rahmen der Leitlinien der Politik ihres Mannes bewegte und nur in seiner geografischen Erstreckung leicht eingeschränkt war. Ihre Entscheidungen in grund- und lehnsrechtlichen sowie in kloster- und kirchenpolitischen Angelegenheiten zeugen von einer weitreichenden sozialen Akzeptanz ihrer Herrschaft, die für den normannischen Mezzogiorno jedoch nicht ungewöhnlich war, wie Parallelen zu Sichelgaita von Salerno und Margarete von Navarra belegen. Adelasia musste jedoch aufgrund des gespannten Verhältnisses zu den normannischen Baronen, das durch die Aufstände in der Val Demone deutlich wird, ihnen gegenüber politische Kompromisse eingehen. Diesen Spannungen im nordöstlichen Teil der Insel versuchte sich Adelasia eventuell aktiv durch die Verlegung der Residenz in die westsizilische Stadt Palermo zu entziehen. Die Entscheidung, den Verwaltungssitz des normannischen Hofes aus dem südkalabresischen 58 

Vgl. von Falkenhausen: Regentschaft (wie Anm. 14), S. 91 f. Adelasias und Rogers II. für Santa Maria di Palermo von 1112: Talium itaque alio­ rumque preceptorum memores, Dei gratia et superna refecti clementia ego Adelais comitissa et Rogerius, filius meus, Dei gratia iam miles, iam comes Sicilie et Calabrie, Panormi morantes et in thalamo superioris castri nostri cum Gualterio, prefate urbis archiepiscopo, et cum multis nostro­ rum tam clericorum quam baronum quam militum residentes […]; D Ro. II. 3. 60  Vgl. von Falkenhausen: Gemeinden (wie Anm. 57), S. 29  f. 61  Vgl. Hamm: Regentinnen (wie Anm. 19), S. 137. 59  Urkunde

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Mileto nach Messina und schließlich in die spätere Hauptstadt Palermo zu verlegen, wich von der bisherigen politischen Linie ab und hatte durchaus innovativen Charakter. Durch eine weitgehende personelle Kontinuität normannischer und griechischer Berater am gräflichen Hof und eine umsichtige Politik konnte Ade­ lasia ihrem Sohn Roger II. zum Beginn seiner selbstständigen Herrschaft im Jahr 1112 ein in innen- wie in außenpolitischer Hinsicht weitgehend gesichertes Reich übergeben.

Abstract In this chapter, the regency of Adelasia, which she held from the death of Ro­ ger I (1101) until her son Roger II came of age (1112), will be re-examined with an eye towards her specifically female scope of action and influence. The investigation mainly draws upon her own Greek and Latin documents, since the contemporary narrative sources deal with Adelasia’s regency only in passing or not at all. The various testimonies of her reign paint the picture of an active and largely independent regent. Even before the beginning of her deputy reign, Adelasia appears in the charters of Roger I as an intervener and political advisor. The documents that have come down to us from Adelasia attest to a scope of action that largely moved within the guidelines of her husband’s policy and was only slightly limited in its geographical extent. Her decisions in matters of land and feudal law as well as in monastic and ecclesiastical matters testify to broad social acceptance of their rule. There is evidence of tensions, especially with the Norman barons in the Val Demone in north-eastern Sicily. Adelasia probably actively tried to counteract these by moving the political centre to the western Sicilian city of Palermo. Thanks to the largely stable continuity of Norman and Greek advisors at the count’s court and a farsighted policy, Adelasia was able to hand over to her son Roger II, at the beginning of his independent reign in 1112, a largely consolidated realm in terms of both domestic and foreign policy.

Cristina Andenna Stellvertretung im Königreich Sizilien-Neapel und die Stellung der ersten angevinischen Königinnen als Vikarinnen des Königs Am 5. August 1295 starb Karl Martell, der erstgeborene Sohn König Karls II. von Neapel und seiner Gemahlin Maria. Sein unerwarteter Tod – Karl Martell war damals erst 23 Jahre alt – brachte das Königreich in eine riskante Lage: Es war nicht nur seines Thronfolgers beraubt,1 sondern hatte mit Karl Martell auch den Kopf seiner Regierung verloren. Denn sein Vater hatte sechs Jahre zuvor, kurz nach seiner Krönung am 29. Mai 1289, das Königreich verlassen und weilte fortan in Frankreich, um über den Friedensschluss mit König Jakob II. von Aragón zu verhandeln. Vor seiner Abreise hatte der König Karl Martell als seinen erstgeborenen Sohn zum Generalvikar des Königreichs ernannt und ihm somit für die Zeit seiner Abwesenheit die Herrschaft übertragen,2 so wie bereits sein Vater Karl I., der erste Herrscher des süditalienischen Anjou-Königreichs, ihn selbst mit dieser Funktion beauftragt hatte.3 In dieser politischen Konstellation griff Papst Bonifaz VIII. als Lehnsherr des Königreichs direkt in dessen Belange ein. Am 12. August 1295 ernannte er zusam1  Die

Ritterweihe hatte Karl Martell am 8. September 1289 im Rahmen einer öffentlichen Zeremonie in Neapel empfangen und war von Karl II. mit dem Fürstentum Salerno und dem Honor (Lehen, Besitztum) des Monte Santangelo belehnt worden. Beim Honor handelte es sich um ein Territorium, das große Teile des Gargano und die Grafschaft Andria mit dem Castel del Monte umfasste. Diese beiden Akte sicherten ihm gleichzeitig auch die Thronnachfolge; vgl. dazu ­Andreas Kiesewetter: Die Anfänge der Regierung König Karls II. von Anjou (1278–1295). Das Königreich Neapel, die Grafschaft Provence und der Mittelmeerraum zu Ausgang des 13. Jahrhunderts. Husum 1999, S. 217; Michelangelo Schipa: Carlo Martello angioino. Neapel 1890, S. 76. 2  I registri della cancelleria angioina ricostruiti da Riccardo Filangeri con la collaborazione degli Archivisti Napoletani [im Folgenden: RCA]. 50 Bde. Neapel 1950–2010, Bd. 32, S. 142–144, Nr. 80; Schipa: Carlo Martello (wie Anm. 1), S. 71–78; Andreas Kiesewetter: Die Regentschaft des Kardinallegaten Gerhard von Parma und Roberts II. von Artois im Königreich Neapel 1285 bis 1289. In: Karl Borchardt/Enno Bünz (Hg.): Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag von Freunden, Schülern und Kollegen dargebracht. 2 Bde. Stuttgart 1998, Bd. 1, S. 477–522, hier: S. 515. 3  Zum Vikariat Karls II. siehe Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 31 et passim; Cristina Andenna: Zur Herrschaftsstabilisierung und -festigung unter Karl I. und Karl II. von Anjou. Das Generalvikariat als Resilienzressource. In: Lukas Clemens/Janina Krüger (Hg.): Beharrung und Innovation in Süditalien unter den Anjouherrschern im 13. und 14. Jahrhundert / Persistenza e innovazione nell’Italia meridionale sotto le dinastie angioine del Duecento e del Trecento. Trier 2023 [im Druck], S. 29–75. https://doi.org/10.1515/9783111071879-006

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men mit dem Kardinallegaten Landolfo Brancaccio den sechzehnjährigen Königssohn Philipp von Tarent zum gleichberechtigten Generalvikar und Bajulus, und zwar ohne zuvor das Einverständnis des Königs einzuholen.4 Die Beauftragung Philipps überraschte eigentlich nicht. Denn bereits im vorhergehenden Jahr, bevor sich der König gemeinsam mit Karl Martell auf Reisen begeben hatte, war Philipp von ihm für die Dauer seiner Abwesenheit zum Generalvikar ernannt worden. Nach der Rückkehr Karl Martells übte Philipp dann diese Rolle zur Unterstützung seines Bruders gemeinsam mit ihm aus.5 Die Intervention des Papstes in politische Belange war im süditalienischen reich kein Novum. Bereits die Vorgänger Bonifaz’ VIII. sahen sich als König­ Lehnsherren des Königreichs im Recht, Vikare zu ernennen. Vorbild für die Entscheidung des Papstes war vermutlich die Doppelregentschaft von Robert von Artois und dem Kardinallegaten Gerhard von Parma, denen sein unmittelbarer Vorgänger Papst Martin IV. nach dem Tode Karls I. und während der Gefangenschaft des späteren Karls II. kommissarisch die Herrschaft übertragen hatte.6 Achtzehn Tage später jedoch, am 30. August 1295, nahm der Papst seine Entscheidung plötzlich zurück und ernannte statt Philipp die Gattin des Königs, ­Königin Maria, zu dessen alleiniger Vertreterin als vicaria generalis und bajula des Königreichs (te solam dicti regni generalem vicariam et bajulam ordinamus).7 ­Maria war Tochter König Stephans V. von Ungarn und seit 1289 zusammen mit ihrem Mann Karl II., den sie 1270 geheiratet hatte, gekrönte und gesalbte Königin von Neapel.8 Auch vor dieser Entscheidung hatte der Papst den König nicht konsultiert, sondern setzte dessen letztendliche Zustimmung voraus.9 Vor diesem Hintergrund 4  Les registres de Boniface VIII. (1294–1303). Recueil des bulles de ce pape, publiées et analysées d’après les manuscrits originaux des Archives du Vatican. Hg. von Georges Digard u. a. 4 Bde. Paris 1884–1939, hier: Bd. 1, Sp. 274, Nr. 814. Die bereits in normannischer Zeit existierenden ­Bajuli waren Eckpfeiler der peripheren königlichen Verwaltung. Der Bajulus war im Wesentlichen mit der Kontrolle des Finanzapparats und der Ausübung der Rechtsprechung in den Städten betraut. In den Dokumenten der päpstlichen Kurie ist bajulus oft mit dem Terminus vicarius verknüpft und bezeichnet die Stellvertreter des Königs während dessen Abwesenheit in größeren territorialen Einheiten. Zur Funktion des Bajulus siehe Maria Gigliola Di Renzo Villata: Baiulus. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. München 1980, Sp. 1480–1482; zur staufischen Zeit siehe Christian Friedl: Studien zur Beamtenschaft Kaiser Friedrichs II. im Königreich Sizilien (1220– 1250). Wien 2005, S. 128–133. 5  Die Ernennung Philipps zum Vikar geschah am 12. 7. 1294; vgl. RCA, Bd. 47, S. 35, Nr. 128. Zu seiner Person vgl. Andreas Kiesewetter: Filippo I d’Angiò, imperatore nominale di Costantinopoli. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 47. Rom 1997, S. 717–723; Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 402–404. 6  Kiesewetter: Regentschaft (wie Anm. 2). 7  Les registres de Boniface VIII. (wie Anm. 4), hier: Bd. 1, Sp. 277, Nr. 824. Eine Transkription des Dokuments ist abgedruckt in Schipa: Carlo Martello (wie Anm. 1), S. 223, Nr. 4. 8 Zu Maria vgl. Maria d’Ungheria, regina di Sicilia. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 70. Rom 2008, S. 218–221. 9  Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Vat. 47, fol. 198r: credentes et pro firmo tenentes, quo prefatus Rex Sicilie, tamquam devotionis et reverentie filius, se in hac parte apostoli­ cis beneplacitis conformabit, et gratum geret non modicum et acceptum, quod per memorate sedis

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sah sich der Papst veranlasst, seine Rechte über das süditalienische Königreich im Ernennungsbrief zu betonen: Es sei seine Pflicht einzugreifen, wenn absente rege niemand die Lenkung des Königreichs innehabe und die königlichen Aufgaben ausübe, um die Untertanen vor Schaden zu bewahren und vor Gefahren zu beschützen. Der Papst betonte, dass er seine Entscheidung im Einvernehmen mit den beiden Vikaren getroffen habe, die zugestimmt hätten, dass in dieser Situation die Ernennung Marias zur neuen Vikarin an ihrer Stelle die vorteilhafteste (quod statui dicti regni foret utilius) und für die Untertanen akzeptabelste Lösung sei.10 Mit dieser Argumentation griff der Papst auf das klassische Verständnis der Rolle der guten Königin zurück: Die Königin ist Beistand des Königs und zugleich Vermittlerin zwischen dem König (beziehungsweise, im Fall seines Todes, seinem Sohn) und dem Volk.11 Im Ernennungsbrief pries der Papst Marias Tugenden (elegantia morum, affabi­ litatis, prudentiae, ac circumspectionis), die ihre Beliebtheit und ihre Akzeptanz bei den Untertanen begründeten.12 Damit griff er die in den zeitgenössischen Fürstenspiegeln verbreitete Idee der Königin als Garantin für Gerechtigkeit und Zufriedenheit der Untertanen auf.13 circumspectam prudentiam factum et ordinatum noscitur in hac parte. Ein Teil der Urkunde ist transkribiert abgedruckt in Schipa: Carlo Martello (wie Anm. 1), S. 223. Eine vollständige Transkription ist abgedruckt in: Annales ecclesiastici ab anno MCXCVIII ubi desinit Cardinalis Baronius: accedunt in hac editione notae chronologicae, criticae, historicae, quibus Raynaldi annales illustrantur, supplentur, emendantur. Bd. 4. Lucca 1749, S. 176. 10  Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Vat. 47, fol. 198r: nos attente considera­ tionis studio, prout ad nostrum spectat officium, attendentes, quod in regno ipso, Rege absente praefato, non habebatur qui vices exerceret ipsius; ac nolentes, ut predictum regnum in eiusdem Regis absentia tanto turbine circumdatum, tantis expositum fluctibus, gubernationis temone care­ ret, seu defectum regiminis pateretur; cupientes etiam, ut eiusdem regni ac eius incolarum fidelium praecaveatur dispendiis, periculis obvietur; quodque inibi promoveantur utilia, laudabilia pro­ curentur, conquiescant iniuriae, compescantur excessus, reprimantur gravamina, insolentiae refre­ nentur: dilectos filios nostros Landulphum S. Angeli diaconum Cardinalem Apostolice Sedis lega­ tum et nobilem virum Philippum natum eiusdem Regis atque tuum, principem Tarentinum, vica­ rios et baiulos dicti Regni, in quo apostolica sedes directum et altum habet dominium, de fratrum nostrorum consilio diligenti deliberatione cum ipsis super hoc habita, de apostolicae plenitudine postestatis sub certa forma duximus ordinandos, sicut in nostris super hoc confectis litteris plenius continetur. 11 Diese Rolle wurde der Königin noch im 15. Jahrhundert zugeschrieben; vgl. Christine de ­Pisan: Le trésor de la cité des dames de degré en degré et de tous estaz. Hg. von Carlo Traverso und Laurent Vogel. Fairbanks 2008, cap. VII, online zugänglich unter: http://www.gutenberg.org/ files/26608/26608-h/26608-h.htm (letzter Zugriff am 20. 2. 2022): par pure benigne et saincte ­charité advocate et moyenne entre le prince son mary et son enfant se elle est veufve et son peuple. 12 Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Vat. 47, fol. 198r–198v: Nuperrime ­autem fide digno relatu ad nostram perducto notitiam, quod statui dicti Regni foret utilius, ac eius incolis acceptius redderetur, si tu, quam gratiarum omnium elargitor regalium elegantia morum, affabilitatis, prudentiae, ac circumspectionis multae virtutibus decoravit, per quas gratam accep­ tamque redderis plurimum incolis memoratis vicariatus et baiulatus huiusmodi regimen exerceres; de praedictorum fratrum consilio, et eiusdem pleniludine potestatis te solam dicti regni generalem vicariam et baiulam ordinamus. 13  Eine solche Idee findet sich auch im „Speculum dominarum“ des Franziskaners Durandus von Champagne, welcher zu Beginn des 14. Jahrhunderts diese Rolle für Johanna I. von Navarra, die

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Die ausführliche Begründung in der Urkunde legt nahe, dass die Ernennung einer Frau als Vertreterin des Königs, noch dazu anstelle zweier Männer, ein außergewöhnlicher Schritt war, der besonderer Rechtfertigung bedurfte. Es handelt sich um den ersten bekannten Fall im angevinischen Süditalien, in dem einer Königin (a) zu Lebzeiten des Königs und (b) in formalisierter Weise weitreichende politische Verantwortung für das Festland übertragen wurde. Die Ernennung ­Marias zur Generalvikarin dürfte ein Präzedenzfall für die Übertragung von Regierungsverantwortung an die Königinnen in späteren Generationen der Anjou-­ Dynastie, etwa an Sancia von Neapel und Margarethe von Durazzo, gewesen sein. Im Folgenden werde ich zunächst auf die Entwicklung des Generalvikariats im Königreich Sizilien, als Form der Stellvertretung des Herrschers in dessen Abwesenheit, eingehen. Die Position des Generalvikars, die aus einer Notsituation entstanden war und deren Besetzung sich langsam zu einer regulären Praxis entwickelte, übten zunächst enge Vertraute des Königs und Mitglieder der königlichen Familie aus. In der Regel wurde dem Erstgeborenen die Rolle als Stellvertreter anvertraut, und zwar, sobald er die Volljährigkeit erreicht hatte. In einem zweiten Schritt werde ich am Beispiel Marias von Ungarn und Sancias von Majorca zeigen, dass im Königreich Neapel Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts diese Rolle auch der Ehegattin des Königs, insbesondere in Krisenzeiten, zukam. Die Quellenanalyse wird zeigen, dass die Beauftragung als Vikarin oder Stellvertreterin weit über die traditionelle Rolle als consors hinausging und dass der Rückgriff auf die Königin im Königreich Neapel insbesondere in Zeiten dynastischer Unsicherheit selbstverständlich war. Die Königin war ein integraler Bestandteil des Herrschaftssystems und handelte im Falle der Abwesenheit des Königs und seines Sohnes in einem dynamischen Wechselspiel mit den anderen Akteuren im Interesse der Herrschaftssicherung.

Die Entstehung des Generalvikariats im Königreich Sizilien Das Königreich Sizilien zeichnete sich durch große räumliche Distanz zu den anderen Gebieten aus, die seinem Herrscher unterstanden. Denn der angevinische König kontrollierte nicht nur das Regnum Siciliae, das unter päpstlicher Lehns­ hoheit stand, sondern auch die beieinanderliegenden Grafschaften Provence, Forcalquier und Avignon sowie eine Reihe im Osten gelegener Herrschaftsgebiete, wie zum Beispiel Rumänien, das Königreich Albanien, Korfu, das westpeloponnesische Achaia und die verbliebenen Territorien des Königreichs Jerusalem. Die

Gemahlin Philipps des Schönen, reklamierte. Der Text zirkulierte vor allem in verschiedenen französischen Übersetzungen („Miroirs des dames“) im 14. Jahrhundert; Constant J. Mews: The Speculum dominarum (Miroir des dames) and Transformations of the Literature of Instruction for Women in the Early Fourteenth Century. In: Karen Green/Constant J. Mews (Hg.): Virtue Ethics for Women 1250–1500. Dordrecht 2011, S. 13–30; Rina Lahav: A Mirror of Queenship. The Speculum dominarum and the Demands of Justice. In: ebd., S. 31–44.

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Entfernung zwischen seinen Herrschaftsgebieten war nicht der einzige Grund für seine häufige Absenz im Regnum Siciliae. Auch die von der Sizilianischen Vesper, dem Aufstand der sizilianischen Bevölkerung gegen die Herrschaft Karls I., ausgelösten langjährigen Konflikte zwangen die angevinischen Könige wiederholt zu langen Abwesenheiten, die für das junge und noch nicht stabile Königreich eine Herausforderung, wenn nicht gar ein Risiko darstellten. Um ein Machtvakuum zu vermeiden und die Stabilität der Herrschaft zu sichern, ernannten die Anjou-­ Könige einen vicarius generalis regni. Bei diesem Generalvikariat handelt es sich um eine Form zeitlich begrenzter Stellvertretung, die schon im Reich bekannt war und unter den Staufern auch in den Gebieten des sizilischen Königreichs immer wieder angewendet worden war.14 Die Ursprünge Der Begriff vicarius leitete sich aus dem römischen Recht ab, in dem die vicarii die höchsten Amtsträger der Provinzverwaltung waren. Der Einsatz von Vikaren wurde mit dem Fortschreiten der Christianisierung in die Organisation der Kirche übernommen, insbesondere in der Diözesanverwaltung.15 Ab dem 11. Jahrhundert wurden auch Gesandte des Papstes, die die päpstliche Autorität in der christianitas vertraten, als vicarii bezeichnet, wobei in dieser Funktion die Begriffe vicarius und legatus weitgehend synonym verwendet wurden.16 Im Heiligen Römischen Reich wurde die Bezeichnung für drei unterschiedliche Typen von Amtsträgern angewandt: Erstens standen vicarii dem regionalen Verwaltungsapparat sämtlicher peripherer Reichsgebiete vor, wie etwa in Reichsitalien oder im Arelat, und fungierten dabei vor Ort als Repräsentanten der königlichen Herrschaft. Sie verfügten über beschränkte Herrschaftsbefugnisse. Zweitens bezeichnete der Begriff vicarius aber auch denjenigen, der während der Abwesenheit des Kaisers im Reich von ihm bevollmächtigt war, für eine begrenzte Zeit an seiner Stelle und in seinem Namen zu handeln. Drittens ist ein weiterer Typus von vicarius zu nen-

14  Zum

Generalvikariat in staufischer Zeit vgl. Cristina Andenna: In assenza del re. Il vicariato generale nel Regno di Sicilia e nel Regno di Napoli. Continuità e differenze. In: Antonio Antonetti/Antonio Tagliente (Hg.): Il Duecento: un lungo secolo di cambiamento. Atti delle II Giornate di studio (13–1 dicembre 2021). Salerno [im Druck]. Zur Anjou-Zeit vgl. Andenna: Herrschaftsstabilisierung (wie Anm. 3), S. 37–39. 15 Marie-Luise Heckmann: Vicarii. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München/Zürich 1998, Sp. 1663. 16  Zur Stellvertretung des Papstes und dem Legatenwesen vgl. Claudia Zey: Stand und Perspek­ tiven der Erforschung des päpstlichen Legatenwesens im Hochmittelalter. In: Jochen Johrendt/ Harald Müller (Hg.): Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen ­Kirche im Hochmittelalter. Berlin 2012, S. 157–168; Claudia Zey: Handlungsspielräume – Handlungsinitiativen. Aspekte der päpstlichen Legatenpolitik im 12. Jahrhundert. In: Gisela Drossbach/Hans-Joachim Schmidt (Hg.): Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikationen und Raumstrukturen im Mittelalter. Berlin 2008, S. 63–92.

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nen, der im Fall einer Herrschervakanz (vacante imperio) die Regierungsgeschäfte übernahm, bis der neugewählte König seine Herrschaft antrat.17 Im normannischen Königreich Sizilien ist hingegen der Terminus vicarius weder in der peripheren Regionalverwaltung noch als Stellvertreter des Königs bei dessen Abwesenheit (oder im Fall seines Todes) dokumentiert.18 Der Ausdruck vicarius kommt erst in den süditalienischen Dokumenten der staufischen Zeit zur Anwendung, wahrscheinlich durch die Reichsverwaltung und das Papsttum beeinflusst. Die Bezeichnung regni Syciliae vicarius erscheint erstmals in den Dokumenten Heinrichs VI.,19 wobei zu beachten ist, dass allein das Vorkommen des Begriffs noch keine Schlussfolgerungen über die damit verbundenen Funktionen erlaubt. Nach dem Tod Heinrichs VI. und Konstanzes beauftragte Innozenz III., der die Vormundschaft und Regentschaft nach den testamentarischen Bestimmungen der Königin während der Minderjährigkeit Friedrichs ausübte,20 mehrere Kardinallegaten, in sua vice zu handeln und sich um die Belange des Königreichs und das Wohlergehen des jungen Friedrich zu kümmern.21 Innozenz’ Nachfolger ernannten ebenfalls Vikare, eine Aufgabe, für die sie meist päpstliche Legaten vorsahen. Nach der Krönung als deutsch-römischer König und dann als Kaiser verbrachte Friedrich II. den größten Teil seiner Regierungszeit im Königreich Sizilien, wo er nur im Falle seiner Abwesenheit auf Stellvertreter zurückgriff. Die in den Ernennungsurkunden übertragenen Aufgaben sowie die praktische Ausgestaltung der Stellvertretung blieben aber sehr unterschiedlich, und die überlieferten Quellen erlauben sehr wenige Einblicke in die Herrschaftspraxis. Es handelt sich oft um die Ernennung von Legaten, teilweise wird jedoch auch von Vikaren gesprochen, in anderen Fällen erscheinen beide Termini zusammen.22 Auf den deutschen Gebieten des Reichs hingegen, wo Friedrich nur sehr selten anwesend war, ließ er sich kontinuierlich vertreten: Hier bevollmächtigte er zuerst seinen Sohn Hein-

17  Jörg Peltzer: Der Rang der Pfalzgrafen bei Rhein. Die Gestaltung der politisch-sozialen Ordnung des Reichs im 13. und 14. Jahrhundert. Ostfildern 2013, S. 207–229. 18  In einem Einzelfall erscheint die Bezeichnung vicarius generalis in einer Urkunde König Wilhelms II., der Rainer Loffredo am 17. 4. 1171 zum Generalvikar ernannte; siehe Willelmi II regis Siciliae diplomata. Hg. von Horst Enzensberger, Nr. 40, online zugänglich unter: http://www. hist-hh.uni-bamberg.de/WilhelmII/pdf/D.W.II.040+.pdf (letzter Zugriff am 12. 3. 2022). Die Urkunde gehört zu einer Serie von Fälschungen, die mit der Intention entstanden waren, die Rolle der Familie Loffredo zu betonen und ihre Stellung im Königreich zu stärken. 19  Vgl. Andenna: In assenza (wie Anm. 14). 20 Die Urkunden der Kaiserin Konstanze. Hg. von Theo Kölzer (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae / Die Urkunden der Deutschen Könige und Kaiser 11/3). Hannover 1990, Deperdita 71, S. 279–281, hier: S. 279: Constantia imperatrix carissimi in Christo filii nostri Friderici Sicilie regis illustris tutelam et regni balium nobis testamento reliquit, et nos super utro­ que ab omnibus assecurari mandavit. 21  Siehe dazu Friedrich Baethgen: Die Regentschaft Papst Innozenz III. im Königreich Sizilien. Heidelberg 1914; zur Zeit der Minderjährigkeit Friedrichs Wolfgang Stürner: Friedrich II. Teil 1: Die Königsherrschaft in Sizilien und Deutschland 1194–1220. Darmstadt 1992, hier: S. 73–89. 22  Dazu Andenna: In assenza (wie Anm. 14).

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rich (VII.) und dann Konrad IV., an seiner Stelle die Lenkung des Reichs zu übernehmen.23 Auch nach Friedrichs Tod findet sich im spätstaufischen Königreich Sizilien das Vikariat als Vertretung eines noch nicht regierungsfähigen Herrschers: Nach dem Ableben Konrads, des legitimen Thronfolgers Friedrichs II., verlangte Manfred, der uneheliche Sohn des Stauferkaisers, vom Papst die Anerkennung als vicarius regni, um die Vormundschaft für Konrads Sohn Konradin übernehmen und somit die Herrschaft im Regnum ausüben zu können.24 Die andere Form des Vikariats, die bereits im Reich existierte, ist die der Repräsentation königlicher Macht in den peripheren Gebieten. In Italien gab Friedrich II. erhebliche Impulse zur Entwicklung dieser Form der Stellvertretung. Zwischen 1238 und 1243 griff Friedrich II., wie Marie-Luise Heckmann gezeigt hat, systematisch auf diese Funktion zurück, um sich eine bessere Kontrolle über diejenigen Bezirksverwaltungen zu sichern, die er nicht direkt überwachen konnte.25 Dieses engmaschige Netzwerk von Stellvertretern erzeugte jedoch in der Praxis erhebliche Überlappungen mit anderen Formen der Verwaltung innerhalb der Reichsorganisation. Die Generalvikare (vicarii generales) wurden als Stellvertreter in Mittel- und Oberitalien mit der Oberaufsicht über die Rechtsprechung und die Verwaltung betraut. Ihre Ernennung erfolgte durch ein formalisiertes Kanzlei­ schreiben.26 Die Besetzung der Generalvikarspositionen war durch ein Rotationsprinzip charakterisiert, und die beauftragten Beamten verfügten über beschränkte Machtbefugnisse, die zum Beispiel die Ausübung der Zivil- und Strafgerichts­ barkeit, die Auferlegung des Reichsbanns, die Abänderung der Stadtstatuten und die Ernennung von Richtern und Notaren umfassten. Die meisten Stellvertreter wählte der Kaiser aus seiner unmittelbaren Umgebung aus, sodass Friedrich II. deren Fähigkeiten und Loyalitäten vor der Auswahl zum Generalvikar bereits erprobt hatte. Oft waren die wichtigsten Positionen sogar Mitgliedern seiner Familie anvertraut. Beispiele sind das Vikariat seines Sohnes Enzio über die Grafschaft Romagna seit 1239, ein Amt, das dieser bis zu seiner Gefangenschaft 1249 behielt, oder das Vikariat Friedrichs von Antiochien in den Jahren 1244 und 1245 über die Mark von Ancona und von 1246 bis 1250 in Tuszien. Auch die unehelichen Söhne des Kaisers, Simon und Richard von Theate, Grafen von Chieti, wurden mehrfach

23 Zur Stellvertretung im Reich siehe Marie-Luise Heckmann: Stellvertreter, Mit- und Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert. 2 Bde. Warendorf 2002, hier: Bd. 1, S. 329–347. 24  Ebd., Bd. 1, S. 335–343. 25  Die Notwendigkeit einer Machtdelegation durch Stellvertretungsformen ist als Organisationsprinzip auch in den Konstitutionen von Melfi erklärt; vgl. Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien. Hg. von Wolfgang Stürner (MGH Leges. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2. Supplementum). Hannover 1996, Buch 1, 17, S. 168: Iam enim a subiectis nostris non aberit tuitionis nostre licentia, cum per eos, quibus mansuetudinis nostre confertur auc­ toritas ipsorum defensio procuratur, et sic nos etiam, qui prohibente individuitate persone ubique personaliter esse non possumus, ubique potentialiter esse credamur. 26  Heckmann: Stellvertreter (wie Anm. 23), Bd. 1, S. 348–352.

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mit verschiedenen Vikariaten betraut. Die gleiche Anerkennung wurde auch den Schwiegersöhnen des Kaisers, Jacopo Carretto und Ezzelino von Romano, sowie dem Schwager Manfredo Lancia und dessen Bruder Galvano zuteil.27 Im Königreich Sizilien dagegen, und insbesondere in Kalabrien und Apulien, betraute Friedrich II. weiterhin nur Justiziare mit der Verwaltung. Die frühe Anjou-Zeit Die Anjou übernahmen die Form der Verwaltung peripherer Territorien durch vicarii generales nicht nur im italienischen Raum, sondern auch in anderen ihrer Herrschaftsgebiete.28 Gleichzeitig bedienten sie sich für Zeiten, in denen der König abwesend war, eines vicarius generalis regni, welcher den König im Zentrum des Reichs vertrat, also von den Grenzen des Kirchenstaates bis zum Ionischen Meer. Der Generalvikar gewährleistete die Weiterführung der Regierungsgeschäfte und damit die Kontinuität der Herrschaft des Königs: Er war bevollmächtigt an dessen Stelle (locus nostri) zu handeln, und allen Beamten im Königreich war ­befohlen, ihm in allem zu gehorchen und sich in allen Angelegenheiten an ihn zu wenden, als ob er der König selbst wäre (tamquam personae nostrae). Dabei war dem Generalvikar von Anfang an ein capitanus generalis regni zur Seite gestellt, dem die militärische Verteidigung anvertraut war. Die Ausübung beider Funktionen und ihrer jeweiligen Befugnisse war temporär auf die Zeit der Abwesenheit des Königs begrenzt.29 Im Königreich Sizilien setzte Karl I. bei seinen zahlreichen Abwesenheiten zunächst verschiedene Vertraute und enge Verwandte in dieser Aufgabe ein, bevor er auf seinen Sohn, den späteren Karl II., zurückgriff, sobald dieser volljährig geworden war.30 Auf diese Weise zeichnete sich im Königreich Sizilien ein Trend ab, der bereits im Königreich Aragón zu beobachten war, wo im Regelfall ein solcher Stellvertreter für das Zentrum des Reichs aus dem Kreis der Mitglieder der Herr27 

Ebd., Bd. 1, S. 338–342. Ausnahme blieb die Provence, wo die Stellvertretung in der alltäglichen Verwaltung von dem Seneschall übernommen wurde; Thierry Pécout: La construction d’un office. Le sénéchalat des comtés de Provence et Forcalquier entre 1246 et 1343. In: Riccardo Rao (Hg.): Les grands officiers dans les territoires angevins/I grandi ufficiali nei territori angioini. Rom 2016, S. 153–188. Eine ähnlich organisierte Form der Stellvertretung, die dem staufischen und angevinischen Vikariat nahestand, wurde zwischen dem Ende des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Katalonien eingeführt. Die Repräsentation königlicher Autorität durch einen ständig vor Ort anwesenden Stellvertreter zielte hier auf die administrative Integration der neuen Gebiete. Der Veguer (etymolog. von vicarius) wirkte in festen Amtsbezirken und mit einer eigenen ­curia. Vgl. dazu Flocel Sabaté Curull: El veguer a Catalunya: anàlisi del functionament de la juridicció reial al segle XIV. In: Butlletí de la societat catalana d’estudis històrics 6 (1995), S. 147–159; Nikolas Jaspert: Veguer. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München/Zürich 1998, Sp. 1446 f. 29  Andenna: Herrschaftsstabilisierung (wie Anm. 3), S. 40–44; zu den capitani generali vgl. auch Joachim Göbbels: Das Militärwesen im Königreich Sizilien zur Zeit Karls I. von Anjou (1265– 1285). Stuttgart 1984, S. 50–67. 30  Andenna: Herrschaftsstabilisierung (wie Anm. 3), S. 40–50, S. 54–62. 28  Einzige

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scherfamilie gewählt wurde. Häufig handelte es sich um den erstgeborenen Sohn und designierten Thronfolger.31 Anders als beim Amt des Vikars in den peripheren Gebieten, das schon früh ein konstitutives Element des Verwaltungssystems darstellte, entstanden die Kon­ turen der Funktion des vicarius generalis regni im angevinischen Königreich nur langsam und aus den Änderungen der politischen Situation heraus. Von einer Notlösung entwickelte sich das Generalvikariat zu einer regulären Herrschafts­ praxis, die bei jeder Abwesenheit des Königs routinemäßig zum Einsatz kam, ­wobei die übertragenen Machtbefugnisse unterschiedlich und abgestuft waren. War der König nicht zu weit entfernt und nicht mit kriegerischen Auseinander­ setzungen beschäftigt, führte der Generalvikar in der Regel nur die schriftlichen Anweisungen des Königs aus, mit denen dieser die wichtigsten Angelegenheiten weiterhin selbst regelte. Durch die immer häufigere Abwesenheit Karls I. wurden Karl (II.) schrittweise neue Verantwortungsgebiete und Handlungsmöglichkeiten übertragen, die die reibungslose Ausführung der Regierungsgeschäfte auf dem Festland garantieren sollten. Dieser fortlaufende Zuwachs an Verantwortung bot dem Thronfolger gleichzeitig die Chance, sich langsam mit der Herrschaftsausübung vertraut zu machen und nach und nach die „Kunst“ des Regierens in den komplexen Herrschaftsgefügen zu erlernen.32 Drei Phasen waren in dieser Entwicklung von besonderer Relevanz: Die erste Phase umfasste die Zeit von Karls (II.) Statthalterschaft, nicht im Königreich, sondern in der Provence in den Jahren 1278 und 1282. In diesen französischen Gebieten verfügte der Thronfolger über die volle potestas, die ihm erlaubte, frei von den Anweisungen und Befehlen des Vaters zu handeln und sogar Lehen nach eigenem Ermessen zu vergeben. Hier konnte er unterschiedliche politische Strategien erproben, die ihm dazu dienten, die Zustimmung der französischen Gebiete zur Herrschaft der Anjou zu erlangen. Diese Strategien erwiesen sich später auch für das Königreich Neapel als nützlich.33 Eine zweite entscheidende Phase stellte das Generalvikariat der Jahre 1283 und 1284 im Regnum dar, für das Karl (II.) mit deutlich größeren Machtbefugnissen als bei seinen früheren Ernennungen zum Stellvertreter des abwesenden Königs ausgestattet wurde. Der König war zu weit entfernt, um – wie in früheren Zeiten – selbst die politische Kommunikation mit dem Festland weiterzuführen und seine Anordnungen persönlich zu erteilen. 31  Alexandra

Beauchamp: Les lieutenants généraux des rois d’Aragon de la fin du Moyen Âge. Médiateurs de la parole du prince ou voix de la royauté? In: Cahiers d’études hispaniques medievales 31 (2008), S. 45–64. 32  Andenna: Herrschaftsstabilisierung (wie Anm. 3), S. 40–50, S. 54–62; zu den Anfängen Karls II. verweise ich auf die schon zitierte Monografie Andreas Kiesewetters, in der dieser auch die Zeiträume der Generalvikariate mit äußerster dokumentarischer Präzision nachverfolgt; Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1). 33  Andenna: Herrschaftsstabilisierung (wie Anm. 3), S. 50–54; zur Statthalterschaft Karls II. in der Provence vgl. Thierry Pécout: Des lieutenances en Provence, 1278–1328. In: „Quei maledetti Normanni“. Studi offerti a Errico Cuozzo per i suoi settant’anni. 2 Bde. Ariano Irpino 2016, hier: Bd. 2, S. 799–844.

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Außer­dem bestand die Gefahr, dass der König in den militärischen Auseinandersetzungen sterben könnte. Die Erfahrungen seiner früheren Vikariate und des Aufenthalts in der Provence erlaubten dem Thronfolger in dieser Situation, die Regierung des Königreichs zu übernehmen. Der Umfang seiner Handlungsmöglichkeiten zeigt sich auch darin, dass er sowohl strategische Entscheidungen in den militärischen Auseinandersetzungen mit Aragón auf Sizilien traf, als auch das politische Reformprogramm seines Vaters weiter vorantreiben konnte. Wie er selbst aber zu einem späteren Zeitpunkt rückblickend feststellte, hatte er in der Ausübung dieser Aufgaben und insbesondere beim Erlass eines mit dem König nicht abgestimmten Reformgesetzes (Capitula di San Martino) die Kompetenzen überschritten, die ihm sein Vater erteilt hatte.34 Die Zeit der Doppelregentschaft (1285–1289) kann als dritte Phase der Entwicklung der Stellvertretung betrachtet werden. Nach dem Tod Karls I. und während der Gefangenschaft des Thronfolgers, Karls (II.), übertrug der Papst die ­Regentschaft Robert von Artois, dem Neffen des Königs, in der Funktion eines generalis bajulus und Gerhard Bianchi von Parma als legatus und bajulus. Die Sorge für das Königreich sowie dessen Lenkung und Regierung war ihnen ­„gemeinsam und gleichzeitig“ (communiter et simul) anvertraut. Sie mussten die ­ihnen übertragenen Aufgaben (bajulatus, cura, regimen, gubernatio, administratio predicti regni) in gegenseitiger Übereinstimmung ausüben und alle politischen Entscheidungen im Konsens treffen, wie zum Beispiel die Besetzung der wichtigsten Ämter oder die Vergabe von Lehen.35 Bei der Ernennung der beiden bajuli handelte es sich um die erste direkte päpstliche Intervention in die Belange des Königreichs, die einige Parallelen zur Einsetzung Marias im Jahr 1295 aufweist. Seine volle Ausprägung erreichte das Generalvikariat unter den Anjou kurz nach der Thronbesteigung Karls II. Nach seiner Freilassung befand sich der neu gekrönte König am 12. September 1289 auf dem Weg zur römischen Kurie in Rieti, von wo aus er nach Frankreich weiterreisen wollte, um seine Verhandlungen mit dem König von Aragón fortzusetzen. Der König benötigte zur Sicherung seiner Herrschaft in der Zeit seiner Abwesenheit wieder einen Generalvikar. Die langjährige Erfahrung, die Karl II. vor der Thronbesteigung selbst als vicarius gene­ ralis regni gemacht hatte, prägte nun seine Ausgestaltung dieser Funktion. In der Ernennungsurkunde, die das erste vollständig erhaltene Dokument der Einsetzung eines Generalvikars darstellt, begründet Karl II. die Wahl seines Sohnes Karl Martell für dieses Amt: Der Sohn repräsentiere mit seiner Person das Abbild des Vaters (per quem in persona filii patris representetur imago) und sei deswegen am besten geeignet, anstelle des Vaters (locus nostri) zu handeln.36 Karl II. greift hier 34 

De revelatione gravamina et presurarum huiusmodi ultra paternam nobis traditam potestatem certa capitula ededimus; zitiert nach Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 112; August Nietsch­ ke: Karl II. als Fürst von Salerno. In: QFIAB 36 (1956), S. 188–204. 35  Ausführlich Kiesewetter: Regentschaft (wie Anm. 2), S. 477–522. 36  RCA,  Bd. 32, S. 142–144, Nr. 79: Volentes tamen pacifico statui regni nostri fidelium ipso­ rumque regimini quod est nobis ab eterni Regis dispositione commissum ante prosperum et felicem recessum nostrum opportuno vicario providere te per quem in persona filii patris representetur

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auf ein Argument zurück, das auch die aragonesischen Könige später, im Laufe des 14. Jahrhunderts, in den Urkunden zur Ernennung ihrer Stellvertreter verwenden sollten.37 In der Urkunde zählt der König die Machtbefugnisse auf, mit denen er seinen Sohn als Generalvikar ausstattete. Diese umfassten die plena et integra meri et mixti imperii ac gladii potestas, das heißt die vollständige Gerichtsbarkeit sowie eine umfassende Befehlsgewalt. Darüber hinaus wurde ihm auch das Recht zugestanden, Urkunden zu verfassen. Karl II. setzte dabei seinem Sohn aber genauere Grenzen, als er früher selbst als Generalvikar zu beachten hatte. So war es Karl Martell untersagt, Lehen ohne das Einverständnis des Vaters zu vergeben oder zu entziehen.38 Es war ihm auch verboten, die von ordentlichen Richtern verhängten und von Appellationsrichtern bestätigten Urteile aufzuheben oder zu ändern.39 Diese Befugnisse blieben exklusiv dem König vorbehalten. Wie in allen früheren, das Generalvikariat betreffenden Urkunden der Anjou-Zeit ermahnte der König seine Beamten, Karl Martell in allem, was ad officium vicarie gehöre, tamque ­persone nostre zu gehorchen. Darüber hinaus wissen wir, dass Karl Martell alle in seiner Funktion als Generalvikar ausgestellten Dokumente mit seinem eigenen Siegel beurkundete. Analog zu seinem eigenen Vikariat der Jahre 1283 und 1284 stellte der König seinem Sohn zudem ein Beratergremium zur Seite, das aus den wichtigsten Amtsträgern des Königreichs und aus Vertrauten Karl Martells bestand und diesen in der Ausübung seiner Herrschaft unterstützen und vielleicht auch kontrollieren sollte.40 In der folgenden Zeit lenkte Karl Martell fast ununterbrochen die Geschicke des Königreichs, in einigen Phasen alleine, in anderen zusammen mit Robert von Artois, zuletzt wohl auch mit seinem Bruder Philipp, der jedoch erst kurz zuvor volljährig geworden war. Karl Martells Tod hinterließ im Königreich ein Machtvakuum, sodass der Papst sich veranlasst sah zu intervenieren.41 Die Wahl des Papstes fiel letztendlich, wie eingangs dargestellt, auf die Gemahlin des Königs. imago, loco nostri vicarium duximus statuendum et etiam dimictendum. Eine frühere Beauftragung zum Generalvikar beinhaltet das Dokument vom 12. 1. 1283, in dem Karl II. das plenum vicarie officium übertragen wurde, ohne jedoch genauere Anweisungen zu den Befugnissen zu geben; RCA, Bd. 26, S. 74, Nr. 143; Saggio di codice diplomatico formato sulle antiche scritture dell’Archivio di Stato di Napoli. Hg. von Camillo Minieri Riccio. 2 Bde. und ein Supplementum. Neapel 1878–1882, hier: Bd. 1, S. 201, Nr. 199. 37  Andenna: Herrschaftsstabilisierung (wie Anm. 3), S. 68. Zu den Ernennungen der aragonesischen Könige vgl. Beauchamp: Lieutenants généraux (wie Anm. 31), S. 47, Anm. 3. 38  Karl (II.) hatte während des Vikariats im Jahre 1283 die Befugnis erhalten, Lehen zu verleihen; vgl. Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 399, Anm. 3. 39  Solche detaillierten Einschränkungen sind in den früheren Urkunden nicht zu finden. Meiner Meinung nach war die genauere Bestimmung der Befugnisse das Ergebnis der Erfahrungen, die Karl II. selbst während des Vikariats der Jahre 1283 und 1284 gemacht hatte; vgl. Anm. 34. Inte­ ressanterweise enthalten die Ernennungsurkunden in Aragon ebenfalls keine Einschränkung der Machtbefugnisse; vgl. den Aufsatz von Sebastian Roebert in diesem Band. 40  Andenna: Herrschaftsstabilisierung (wie Anm. 3), S. 69–71; zu Karl Martell siehe Schipa: Carlo Martello (wie Anm. 1). 41  Siehe oben, S. 85–88.

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Consors und Vikarin: Zwei angevinische Königinnen als politische Akteurinnen Maria von Ungarn Maria hatte mit ihren vierzehn Kindern die ihr zugedachte Rolle als Mutter erfüllt und die Kontinuität der Dynastie gesichert.42 Als consors des zukünftigen Königs des Regnum Siciliae hatte sie schon in früheren Jahren in der europäischen Politik eine aktive Rolle eingenommen und große Verantwortung für das gesamte Königreich getragen; dabei hatte sie auch die besondere Wertschätzung des Papstes gewonnen. Während der Zeit der Gefangenschaft ihres Mannes in Aragón führte sie die diplomatischen Verhandlungen mit dem Papst und den Königen von England und Frankreich über seine Befreiung. Ihr Geschick und ihre gute Vernetzung ermöglichten ihr, von der florentinischen Bankiersfamilie Bonaccorsi eine große Geldsumme für das Lösegeld zu erhalten.43 Darüber hinaus lassen auch päpstliche Briefe in anderen Angelegenheiten die Rolle Marias als eine vom Papst geschätzte Akteurin auf der politischen Bühne erkennen.44 Sowohl Martin IV. als auch ­Honorius IV. forderten in ihren Briefen den Vikar Robert von Artois auf, die zukünftige Königin zu unterstützen und zu beraten, um die Interessen des Königreichs zu wahren.45 Die Quellen legen nahe, dass Maria in den Jahren 1285 bis 42  Zur

Bedeutung der Fruchtbarkeit beziehungsweise Unfruchtbarkeit für eine Königin innerhalb der angevinischen Dynastie siehe Cristina Andenna: Kinderlosigkeit als Ausgangspunkt neuer Konzepte von ‚Mutterschaft‘ am Beispiel des Hofes von Neapel in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 26 (2021) 2, S. 412– 438 [Themenheft: Kinderlosigkeit im Mittelalter], online zugänglich unter: https://heiup.uniheidelberg.de/journals/index.php/mial/article/view/24450/18343 (letzter Zugriff am 28. 4. 2022). 43  Matthew J. Clear: Maria of Hungary as a Queen, Patron and Exemplar. In: Janis Elliott/Cornelia Warr (Hg.): The Church of Santa Maria Donna Regina. Art, Iconography, and Patronage in Fourteenth-Century Naples. London 2004, S. 45–60, hier: S. 46. Vgl. dazu auch Cristina Andenna: Consorti, collaboratrici e vicarie. Il ruolo delle regine nelle questioni amministrative e poli­ tiche del Regno. In: Thierry Pécout (Hg.): Les officiers et la chose publique dans les territoires ­angevins (XIIIe –XVe siècle). Vers une culture politique? Rom 2020, S. 569–600, hier: S. 584 f., ­online zugänglich unter: https://books.openedition.org/efr/6774 (letzter Zugriff am 16. 2. 2022); Mario Gaglione: Donne e potere a Napoli. Le sovrane angioine. Consorti, vicarie e regnanti (1266–1442). Soveria Mannelli (Catanzaro) 2009, S. 77. Zu den Verhandlungen für die sogenannte Guerra del Vespro vgl. Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 160–240. 44  Honoré Bouche: La Chorographie ou description de Provence et l’Histoire chronologique du mesme pays. 2 Bde. Aix 1664, hier: Bd. 2, S. 314. Für die Briefe Papstes Nicolaus IV. in Bezug auf die Bemühungen zur Befreiung Karls II. vgl. Les registres de Nicolas IV. Recueil des bulles de ce pape, publiées et analysées d’après les manuscrits originaux des Archives du Vatican. 2 Bde. Paris 1887–1905, hier: Bd. 1, S. 20, Nr. 109; Bd. 1, S. 113, Nr. 563 und Bd. 1, S. 114, Nr. 569. Zu speziellen kirchlichen Erlaubnissen und dem Empfang von indulgentiae vgl. ebd., Bd. 1, S. 202 f., Nr. 928–931 und Nr. 935. 45  Zwei Urkunden der Jahre 1295 und 1296 zeigen, dass Maria in der Zeit der Gefangenschaft des Königs im Einverständnis mit Robert von Artois einige Entscheidungen getroffen hatte: […] tempore quo, de mandato regine Jerusalem et Sicilie, consortis nostre, ac magnifici viri Roberti, comitis Atrebatensis, consanguinei nostri carissimi […]; vgl. Actes relatifs à la principauté de ­Morée 1289–1300. Hg. von Charles Perrat und Jean Longnon. Paris 1967, S. 138 f., Nr. 150; S. 153–155,

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1288, während die beiden Vikare im Königreich Sizilien an der Stelle des Herrschers handelten, als Gemahlin eines noch nicht gekrönten Königs die politische Verantwortung für die Grafschaften Provence und Forcalquier sowie für die Stadt Avignon trug, wo sie die Politik weiterführte, die ihr Mann während seiner Zeit als Statthalter in der Provence begonnen hatte. In einem Brief wies sie den Seneschall Isnard d’Entreuenes an, von einigen Hochadligen, kirchlichen Amtsträgern und den Städten der Provence Treueeide gegenüber ihrem Mann und ihren gemeinsamen Kindern einzuholen.46 Darüber hinaus pflegte sie die schon existierenden engen Beziehungen zwischen der Krone und den Städten der Provence, wie ihr Brief an die Stadt Marseille vom 3. April 1286 attestiert. Maria wandte sich als filia Illustris Regis Ungarie et principissa [sic] Salernitana et honoris Montis Sancti Angeli domina an den viguier, das heißt den Vertreter des Königs in der Stadtverwaltung, sowie an den Rat der Stadt Marseille: In einem Prolog erinnerte sie an die starke Verbindung zur Krone, die auf Zuneigung, Loyalität, Beständigkeit und Aufmerksamkeit beruhe, und drückte die Hoffnung auf eine bessere Zeit aus (re­ floreat in presentis turbationis temporibus). Sie informierte beide Adressaten, dass sie den Seneschall der Provence angewiesen habe, die strikte Einhaltung der Vereinbarungen zwischen der Stadt und dem verstorbenen König sicherzustellen und gewährte der universitas eine Befreiung von allen Steuern auf Lebensmittel, die aus der Provence nach Marseille eingeführt wurden.47 Da keine weiteren urkundlichen Belege erhalten sind, lässt sich leider nicht ermitteln, ob sie hier als formell beauftragte Vikarin oder schlicht im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten als consors eines künftigen Königs handelte. Aus dem Brief geht aber deutlich hervor, dass sie nicht nur im Namen des Königs, sondern auch in ihrem eigenen sprach.48 Die Entscheidungen im dispositiven Teil des Dokuments sind erkennbar das Ergebnis eines unabhängigen Wirkens und zeigen, dass sie die vollständige Verantwortung für die Provence innehatte.49 Auch wenn sie noch nicht über eine auto­ Nr. 175. Aus dieser Information, die nicht genauer zeitlich zuzuordnen ist, lässt sich schließen, dass Maria an der Seite Roberts von Artois als consors des zukünftigen Königs eine aktive Rolle bei politischen Entscheidungen übernommen hatte. 46  Bouche: Chorographie (wie Anm. 44), S. 314; Clear: Maria of Hungary (wie Anm. 43), S. 46, Anm. 6. 47  Marseille, Archives Municipales, AA 37, Nr. 4; zu der Urkunde auch Pécout: Lieutenances (wie Anm. 33), S. 812, Anm. 48 f. 48  Marseille, Archives Municipales, AA 37, Nr. 4: […] negocia serenissimi domini principis viri/ nostri et nostra […]; […] quanta fuerit et sit circa prefati domini viri nostri fastigia nostrique ho­ noris […]; […] erga honorem carissimi domini viri nostri et nostrum […]; […] non lenta profusio dicti domini viri nostri et nostro fulta suffragio […]; […] vos amplissime dexteram ipsius domini viri / nostri et nostram liberalitatis […]. 49 Ebd.: Ex hiis igitur et aliis que litterarum descripcione non indigent nos iam vobis quasi per debitum ad comoda que/libet amplianda benivole. Nuncios providos et sollempnes ex parte Uni­ versitatis vestre nuper ad nostram presenciam destinatos gratanter recepimus, qui dum sue legacio­ nis officium / solliciter diligenter ac provide coram nostre serenitatis aspectibus implevissent, aut super capitulis omnibus que ipsorum relacio pacifica […] expedit graciose per nos ad propria remit­ tuntur. Cumque tam nuncii quam cetera que ex parte Universitatis vestre nobis successu temporis offerentur, immo que tamquam negocia propria gerimus gratissima sensibus nostris attendant, fi­ delitatem et devocionem vestram de qua toto corde confidimus, requirimus et hortamur quatenus

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nome reginale Kanzlei verfügte, ist aus dieser Zeit bekannt, dass sie die Briefe und Urkunden nicht nur in ihrem eigenen Namen verfasste, sondern auch mit e­ inem persönlichen Siegel versah. In diesen Jahren ist auch das persönliche Siegel zu verorten, das Honoré Bouche im 17. Jahrhundert in seiner „Chorographie ou de­ scription de Provence“ abbildete. Darin ist die Königin vor einem gotischen Architekturhintergrund dargestellt. Links und rechts von ihr sind die Wappen ­ihrer beiden Familien zu erkennen. Maria trägt ein einfaches Kleid und offenes Haar; in den Händen hält sie die französische Lilie und den Reichsapfel. Die Aufschrift, wie schon die Titulatur der Urkunde für Marseille, verweist auf ihre k ­ öniglichen Identitäten: Auf der einen Seite ist sie als filia regis Hungariae bezeichnet, ein Verweis auf ihre königliche Abstammung; auf der anderen Seite als principissa Saler­ nitana et Honoris Montis Sancti Angeli domina, ein Titel, der ihre Rolle als consors eines zukünftigen Königs markiert (Abb. 1).50 Es ist davon auszugehen, dass Maria in der Krisensituation, die durch die Inhaftierung Karls II. und den Tod Karls I. entstanden war, im Interesse ihres Mannes und des Königreichs selbstständig in der Provence handelte, um so ein Macht­ vakuum zu verhindern. Dies würde bedeuten, dass Maria ohne förmliche Ernennung Befugnisse ausübte, die ihr aus ihrer Stellung als Gemahlin des Souveräns erwuchsen. Wenn wir zudem berücksichtigen, dass Karl I. kurz vor seinem Tod Robert von Artois, seinen Neffen, mit dem Argument von dessen Zugehörigkeit zum Herrschergeschlecht als Generalvikar im Königreich Sizilien eingesetzt hatte (was der Papst dann bestätigte, wenn auch in der Form der Doppelregentschaft), sehen wir hier nicht das sich gegenseitig ergänzende Zusammenwirken eines königlichen „Arbeitspaars“, um den Begriff Raphaela Averkorns und Theresa ­ ­Earenfights zu verwenden,51 oder einer trinité capetienne, wie Achille Luchaire firmam fabricantes in nostre munificentie liberalitatis fiduciam sit strenuos actus vestros erga ho­ norem carissimi domini viri nostri et nostrum prudenter accomodare curetis; seu industrie lau­ dande principium laudabilem semper in antea continuacionis ordine prosequi studeatis. Ut procu­ ratorum vestrorum non lenta profusio dicti domini viri nostri et nostro fulta suffragio, erga vos amplissime dexteram ipsius domini viri nostri et nostram liberalitatis invitent. Nos enim et vestris affectibus integre satisfiat cum intendamus quibus opere quam verbo vestras peticiones efficaciter adimplere. Senescallo provincie nostris scribimus litteras ut pacta et convenctiones dudum nunc habita inter quondam dive memorie dominum Karolum Jerusalem et Sicilie Regem illustrem et Universitatem Massilie et […] maxime de extractione victualium de partibus provincie versus Massiliam deferendarum sine jure aliquo exiture inviolabiliter debeat observare. 50  Bouche: Chorographie (wie Anm. 44), S. 336. In der Abbildung sieht man principassa sulmenta­ na; Bouche, S. 335, weist darauf hin, dass es sich hier um einen Lesefehler handelt, den er korrigiert. 51  Raphaela Averkorn: Das Arbeitspaar als Regelfall. Hochadlige Frauen in den Außenbeziehungen iberischer Frontier-Gesellschaften des Spätmittelalters. In: Corina Bastian u. a. (Hg.): Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 15–32; Raphaela Averkorn: La participation des femmes au pouvoir au Bas Moyen Âge. L’exemple des reines et princesses de Castille et d’Aragón. In: Marcel Faure (Hg.): Reines et princesses au Moyen Age. Actes du cinquième colloque international de Montpellier (Université Paul-Valéry, 24–27 novembre 1999). 2 Bde. Montpellier 2001, hier: Bd. 1, S. 215–232; Theresa Earenfight: Without the Persona of the Prince. Kings, Queens and the Idea of Monarchy in Late Medieval Europe. In: Gender & History 19 (2007), S. 1–21, hier: S. 8; dies.: The King’s Other Body. María of Castile and the Crown of Aragon. Phila­ delphia 2010, S. 142–144.

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Abbildung 1: Siegel der ­Königin; aus: Honoré ­Bouche: La Chorographie ou description de Provence et l’Histoire chronologique du mesme pays. 2 Bde. Aix 1664, hier: Bd. 2, S. 336. Die Seite mit der Umschrift ­„filia regis Hungariae“ ist hier nicht abgebildet.

für die Kapetinger behauptet hat.52 Vielmehr zeigt sich Herrschaftsausübung hier als eine diskursive Praxis, die einen dynamischen und funktionalen Einsatz aller Angehörigen der Dynastie (nicht nur die der königlichen Kernfamilie) vorsieht, um die Interessen der Dynastie und somit auch des Königreichs zu schützen. Maria als consors des designierten Thronfolgers war ein wesentlicher Teil dieser Praxis, gerade weil sich ihre Rolle nicht nur aus dem Bezug zum König, sondern auch aus dem dynamischen Wechselspiel mit den anderen Akteuren erklären lässt. Die Monarchie erscheint hier als eine kooperative Institution, die das Königspaar, dessen Nachkommen sowie weitere Verwandte und ihnen zugehörige Klientelverbände umfasste.53 52 Achille Luchaire bezieht sich auf die Triade „König-Königin-Thronfolger“, die auf die Salbung und Krönung beider Monarchen als Voraussetzung für die Ausübung von Herrschaft gründete und die sakral-rechtliche Kontinuität der Monarchie sicherte; Achille Luchaire: Histoire des institutions monarchiques de la France sous les premiers Capétiens (987–1180). 2 Bde. Paris 1883, hier: Bd. 1, S. 133 f. 53  Der Ansatz, die Monarchie als „kooperative und komplementäre Institution“ zu betrachten, stammt von Raphaela Averkorn (siehe Anm. 51); vgl. dazu ausführlich mit Bezug zur Stellung der Königin und zu ihrer Rolle und Mitbeteiligung Sebastian Roebert: Die Königin im Zentrum der Macht. Reginale Herrschaft in der Krone Aragón am Beispiel Eleonores von Sizilien (1349–1375). Berlin 2020, S. 17–23.

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Die bereits für die Zeit von Karls (II.) Gefangenschaft belegte enge Zusammenarbeit Marias mit dem Papst intensivierte sich in den folgenden Jahren aus Gründen, die über die Belange des Königreichs Sizilien hinausgingen. Als einzige überlebende Nachkommin ihrer Dynastie war Maria 1290 nach der Ermordung ihres Bruders Ladislaus IV. in die politischen Auseinandersetzungen in ihrer Heimat hineingezogen worden. Mit der Unterstützung Papst Bonifaz’ VIII. und unter Mitwirkung ihres Ehemanns regelte sie die Nachfolge im Königreich Ungarn. Nach langen diplomatischen Verhandlungen wurden ihr die Erbfolgerechte im Jahr 1291 zuerkannt. Ein Jahr später gelang es ihr, mit dem Einverständnis des Papstes ihrem ältesten Sohn Karl Martell die königliche Titulatur zu übertragen.54 Nach dem Tod Karl Martells sicherte sie dank ihres diplomatischen Einsatzes, auch mit päpstlicher Unterstützung, die Erbrechte für ihren Enkel Karl Robert, den Sohn Karl Martells, an dessen Stelle sie formell die Regentschaft übernahm.55 Bis 1306, bevor Karl Robert sich mitsamt seines Regentschaftsrats nach Ungarn begab, gibt es zahlreiche Urkunden, die ihr Siegel als Maria Dei gracia regina ­Ungarie tragen und ihre Verfügungsgewalt bezeugen.56 Gleichzeitig war Maria aber auch nach der Befreiung ihres Mannes weiterhin für die Interessen des Königreichs Sizilien tätig. Unmittelbar nach der gemeinsamen Krönung begleitete sie ihren Gemahl nach Frankreich, während ihr erstgeborener Sohn Karl Martell das Generalvikariat im Königreich Neapel ausübte.57 Um seine Herrschaft in den französischen Gebieten zu sichern, vertraute der König, der sich auf dem Weg zur Unterzeichnung der Friedensverträge befand, Maria nun formell das Vikariat in der Grafschaft Provence, in Forcalquier und in der Stadt Avignon an, wo sie schon in der Zeit seiner Gefangenschaft – wohl ohne förmliche Ernennung – als Vertreterin der Dynastie gewirkt hatte. Wie oft im Fall der Generalvikariate besitzen wir leider nicht die Ernennungsurkunde Marias, aber ein Schreiben, datiert auf den 13. Juni 1291, in dem der König die wichtigsten Beamten über die Einsetzung der Königin an seiner Stelle benachrichtigte. Aus dem Brief entnehmen wir, dass Karl II. seine „liebste Gemahlin“ als seine Stell­ vertreterin (locus nostri) für diese Gebiete ernannt und ihr vollständige Handlungsfreiheit übertragen hatte (dantes et concedentes eidem in Comitatibus ipsis et 54 

Zu den Beziehungen zwischen Maria, Carlo Martello und Ungarn vgl. Walter Ingeborg: Carlo Martello d’Angiò, re d’Ungheria. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 20. Rom 1977, S. 379–382. Während viele Urkunden für das Königreich Ungarn von Karl II. allein oder von Karl II. gemeinsam mit Maria verfasst sind, ist das Dokument vom 6. 1. 1292, mit dem die Kronrechte an Karl Martell übertragen werden, von Maria als Jerusalem, Sicilie et Ungarie regina und Folchalquerii Comitissa verfasst. Gesiegelt ist die Urkunde aber sowohl mit dem Siegel der ­Königin als auch mit dem Siegel Karls II.; vgl. Saggio di codice diplomatico. Supplementum (wie Anm. 36), S. 58 f., Nr. 45. 55 Vgl. Andenna: Consorti (wie Anm. 43) mit weiterführender Bibliografie. Zum komplexen Thema der Verwicklungen mit dem Königreich Ungarn vgl. Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 371–383; zur Rolle Marias siehe außerdem Vilmos Fraknói: Mária, V. István király leánya, ­Nápolyi királyne [Maria, Tochter König Stefans V. und Königin von Neapel]. Budapest 1906. 56  Clear: Maria of Hungary (wie Anm. 43), S. 50. 57  Siehe die entsprechenden Ausführungen im Vorstehenden sowie Anm. 36 bis Anm. 41.

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Civitate plenarias vices nostras). In einer Klausel, die wir in allen Verkündungsschreiben einer Vikarsernennung wiederfinden, verpflichtet der König die Beamten, der Königin so zu gehorchen, als ob ihre Anweisungen vom König selbst stammten.58 Darüber hinaus ist auch bekannt, dass Maria schon im März 1293 während einer Reise des Königs nach Pontoise als Übermittlerin seiner Anweisungen in den französischen Territorien wirkte. Sie leitete dem Vikar und den Justiziaren der Stadt Marseille Verfügungen weiter, die der König in einem mit dem sigillo secreto versehenen Brief dem Protonotar und dem Kanzler des Königreichs übersandt hatte. Beide Amtsträger hatten es unterlassen, die königliche Entscheidung an die Stadt weiterzuleiten, weshalb Maria die Aufgabe übernahm. Das diesbezügliche Dokument liefert aber nicht den Beweis ihrer Tätigkeit als Vikarin, anders als häufig in der Literatur dargestellt.59 Vielmehr handelte sie hier in ihrer Rolle als Königin und als Gemahlin des Königs. Wie das Schreiben belegt, war sie als solche gut über die administrativen Abläufe am Hof informiert und kannte sich im System des Kanzleiwesens aus. Die Tatsache, dass dem Schreiben das ­Siegel fehlt, zeigt, dass ihre Worte als autoritative Beglaubigung des königlichen Willens galten. Die Entscheidung des Papstes, Maria im Jahr 1295 als Generalvikarin des sizilianischen Königreichs einzusetzen, fiel also vor dem Hintergrund, dass sich Maria bereits seit Jahren als geschickte politische Akteurin erwiesen hatte, die verstand, die Interessen des Königreichs ebenso wie ihre eigenen durchzusetzen. Maria hatte sicherlich mehr Erfahrung in der Leitung des Königreichs als ihr sechzehnjähriger Sohn Philipp. Sie hatte bereits mehrfach den König als Vikarin oder als Gemahlin in den französischen Gebieten des Königreichs vertreten und war sich der Gefahren bewusst, die die Abwesenheit des Herrschers mit sich bringen konnte, zumal der Tod von Karl Martell die Frage der Nachfolge im Königreich neu gestellt hatte und die beiden nächsten Söhne in der Thronfolge, Ludwig und Robert, sich noch in Gefangenschaft in Aragón befanden. Am Ende seines Briefes, in dem er sie als Generalvikarin einsetzte, forderte Bonifaz VIII. Maria, die eine starke, erfahrene und tugendhafte Frau sei, auf, ihre Rolle als bajula und Vikarin mit

58  RCA, Bd. 35, S. 284, Nr. 28; Saggio di codice diplomatico. Supplementum (wie Anm. 36), S. 57, Nr. 42: Tenore presentium notum facimus universis quod nos Reginam consortem nostram carissi­ mam in Comitatibus nostris provincie et forchalquerii et Civitatis Avinionis usque ad felicem ­redditum nostrum de Francia statuimus loco nostri dantes et concedentes eidem in Comitatibus ipsis et Civitate plenarias vices nostras. Mandantes nichilominus universis et singulis presentes ­litteras inspecturis ut eidem Regine in omnibus et singulis devote pareant et intendant et obediant tamquam nobis. 59  Marseille, Archives Municipales, AA 133, Nr. 6; zu diesem Dokument auch Clear: Maria of Hungary (wie Anm. 43), S. 46, Anm. 12. Diese Anweisung ist Teil einer Serie von Interventionen des angevinischen Königs zur Schlichtung von Streitigkeiten im Rahmen einer wachsenden Handels­konkurrenz zwischen den italienischen Seerepubliken und der Provence; siehe dazu insbesondere Andreas Kiesewetter: Karl II. von Anjou, Marseille und Neapel. In: Isabelle Bonnot (Hg.): Marseille et ses rois de Naples. La diagonale angevine, 1265–1382. Marseille 1988, S. 60–75, hier: S. 63.

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Weisheit und Entschlossenheit auszuüben.60 In seiner Ernennung hatte der Papst Maria curam, administrationem, gubernationem, potestatem et regimen, ac omnem plenamque iurisdictionem im sizilischen Königreich übertragen, sodass sie so handeln dürfe, als ob der Papst oder der König selbst alle diese Aufgaben ausführten. Es war ihr jedoch ausdrücklich untersagt, bewegliche und unbewegliche Kron­ güter zu veräußern. Diese Befugnis stehe ausschließlich dem König zu. Mit der non-obstante-Klausel erinnerte Bonifaz VIII. daran, dass er zuvor anders entschieden hatte, als er Philipp und dem päpstlichen Legaten das Generalvikariat übertragen hatte, und bekräftigte jetzt seine Entscheidung für Maria.61 Einige Tage später, am 5. September 1295, sandte der Papst Landolfo Brancaccio und Philipp ein Schreiben, in dem er beide über die Entscheidung bezüglich Maria ­informierte und sie aufforderte, der Königin in weiser und fürsorglicher Weise auxilio et consilio in ihrer neuen Funktion beizustehen.62 Nicht gewillt, die Eingriffe des Papstes in die Verwaltung des Königreichs zu dulden, hatte Karl II. am 16. September 1295 erneut seinen Sohn Philipp zum General­vikar eingesetzt. Andreas Kiesewetter nahm an, dass ab diesem Moment Mutter und Sohn gemeinsam diese Rolle bis zur Rückkehr des Königs im ­Januar 1296 bekleideten.63 Aus den wenigen überlieferten, von Maria ausgestellten Akten ist es schwierig, etwas über ihre Befugnisse und Handlungen und auch den genaueren Zeitraum, in dem sie ihre Funktion ausübte, zu erfahren. Die Analyse der spärlich erhaltenen Quellen ermöglicht leider kaum, ihren Aktionsradius im Feld der Innenpolitik zu rekonstruieren. Die vorhandenen Informationen lassen erkennen, dass die Fortführung der Verwaltung64 und die Entscheidung über Gesuche religiöser Institutionen in die Zuständigkeit Marias fielen und sie in diesen Fällen allein beurkundete. Auch ein Dokument Karls II. vom 1. April 1296, in dem er nach seiner Rückkehr eine zuvor von Maria getroffene Anordnung bezüg60 Città

del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Vat. 47, fol. 198v: tamquam mulier fortis animo, in agendis experta, et multimode virtuosa bajulatum et vicariatum hujusmodi sich prudenter et strenue, sicque solicite gerere studeas, et laudabiliter exercere, quod a Deo praemium, et ab hominibus laudem exinde tamquam benedictionis filia digne consequi merearis. 61 Ebd.: curam, administrationem, gubernationem, potestatem et regimen, ac omnem plenamque jurisdictionem in regno praedicto tenore tibi presentium committentes, donec per eadem sedem aut per Regem ipsum aliud in hac parte ordinari contigerit vel disponi: non obstante, quod super hoc de predictis legato et principe per nos fuerat, ut praemittitur, ordinatum; omnes genere alienationis bonorum seu rerum immobilium in dicto regno, ad Regem ipsum spectantium, tibi primitus inter­ dicto. 62  Ebd., fol. 198r: […] in huismodi vicariatus et baiulatus excutere regiminis sic prudenter fideliter et sollicite oportunis consiliis et auxi/liis assistatis et eius studia efficatius domino auxiliante fructi­ ficent […]. 63  Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 404 ; ders.: „Princeps est imperator in principatu suo“. Intitulatio e datatio nei diplomi dei principi angioini di Taranto (1294–1373). In: Gemma Teresa Colesanti (Hg.): „Il re cominciò a conoscere che il principe era un altro re“. Il Principato di ­Taranto e il contesto Mediterraneo (secc. XII–XV). Rom 2014, S. 65–102, hier: S. 69, Anm. 16. 64  Sie ordnete zum Beispiel einige verspätete Auszahlungen an Botschafter aus Konstantinopel und Gesandte in Achaia an; vgl. Actes relatifs à la principauté de Morée 1289–1300 (wie Anm. 45), S. 144 f., Nr. 159, 1. 11. 1295 und S. 147 f., Nr. 164, 11. 10. 1295.

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lich eines Klosters bestätigte, unterstützt diese Schlussfolgerung (quod pridem, nobis de regno absentibus, iniunctum extitit per licteras regine, consortis nostre).65 Daraus lässt sich schließen, dass sie als Generalvikarin über dieselben Handlungsspielräume wie ihr verstorbener Sohn Karl Martell verfügte, wie auch Andreas Kiesewetter meinte.66 In einer auf den 27. August 1295 datierten Urkunde erfahren wir, dass sie den Vertretern des Templerordens den Lehnsbesitz des alten benediktinischen Klosters von San Benedetto di Torremaggiore bestätigte. Dem Ritterorden war das Kloster vom Papst übertragen worden, und der Prior der neuen Gemeinschaft hatte an den König appelliert, die alten Rechte des Klosters zu bestätigen.67 Neben ihren Aufgaben als Vikarin verwaltete Maria auch das Erbe und die Besitzungen ihres Sohnes Karl Martell, Titularkönig von Ungarn, und dessen kurz vor oder nach ihm verstorbener Gattin, Klementia von Habsburg.68 Einige der im September 1295 erlassenen Urkunden, die im „Codice diplomatico saler­ nitano“ in Form von Regesten transkribiert und vom Herausgeber Carlo Carucci dem König zugeschrieben werden, dürften jedoch im Auftrag Marias oder ihres Sohnes Philipp oder von beiden zusammen ausgestellt worden sein, auch wenn die in den Regesten fehlende intitulatio keinen definitiven Schluss zulässt. Allerdings deuten Datum, Ortsangabe und Aussteller darauf hin, dass die Anordnung zur Ausstellung kaum durch den König erfolgt sein konnte. Dieser befand sich zur fraglichen Zeit noch auf französischem Gebiet, wie eine Beurkundung durch ihn vom 6. Oktober aus Perpignan beweist.69 Auch die Aussteller sind eher dem Umfeld des Vikariats als dem des Königs selbst zuzurechnen. Schließlich sind alle genannten Schriftstücke, mit einer Ausnahme, in Neapel verfasst, wo Maria sich im August und am 11. Oktober 1295 aufhielt. Die Urkunden dieser Zeit sind fast alle durch die magistri rationales oder durch den professor in iuris civilibus Andrea Acconciaiocco verfasst, der schon das Dokument Marias für das Kloster San Benedetto di Torremaggiore geschrieben hatte.70 Andrea Acconciaiocco war bereits 65  Codice

diplomatico salernitano del secolo 13. Hg. von Carlo Carucci. 3 Bde. Salerno 1931– 1946, hier: Bd. 3, S. 294 f., Nr. 261. 66  Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 404. 67  Codice diplomatico del regno di Carlo I e II d’Angiò dal 1265 al 1309. Hg. von Giuseppe Del Giudice. 3 Bde. Neapel 1863–1902, hier: Bd. 1, S. 171 f. im Anmerkungsapparat. 68 Monumenta Hungariae Historica. Acta extera. Hg. von Gusztáv Wenzel. 5 Bde. Budapest 1874, hier: Bd. 1, S. 129 f., Nr. 156; Antonio de Aprea; Syllabus membranarum ad regiae Siclae ­archivum pertinentium. 2 Bde. Neapel 1824–1845, hier: Bd. 2, Tomus 1, S. 160, Nr. 2. Vgl. Schipa: Carlo Martello (wie Anm. 1), S. 205, insbes. Anm. 2 und Anm. 3. Maria kümmerte sich auch um ihre verwaisten Enkelkinder, deren Ausbildung sie aus ihren eigenen Mitteln finanzierte; Clear: Maria of Hungary (wie Anm. 43), S. 49. 69  Actes relatifs à la principauté de Morée 1289–1300 (wie Anm. 45), S. 145  f., Nr. 160. 70  Für Torremaggiore siehe Anm. 67. Andrea Acconciaiocco ist als Stellvertreter des Protonotars (locum tenens prothonotarii regni Sicilie) schon im Januar 1295 in einer Urkunde zu finden, in der Philipp von Tarent als Generalvikar handelte. Andrea Acconciaiocco beurkundete dann wieder in Neapel in den Monaten September und Oktober 1295; vgl. Codice diplomatico salernitano (wie Anm. 65), hier: Bd. 2, S. 408 f., Nr. 297 (Philipp); S. 426 f., Nr. 317 (die Zeit von Marias und Phi­ lipps Vikariat) sowie Bd. 3, S. 272–276, Nr. 239–242. Noch im Dezember 1295 ist er aktiv in der Kanzlei Roberts, welcher als Generalvikar eine Urkunde ausstellte; ebd., Bd. 2, S. 431 f., Nr. 320.

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im Sommer des Jahres 1294 als stellvertretender Protonotar im Königreich vom späteren Logotheten Bartholomeus von Capua ernannt worden.71 Er gehörte dem Kreis der magistri rationales und der königlichen Berater an. Im Februar 1295 hatte ihn Karl II. zu einem Mitglied des Regentschaftsrats erhoben, welcher Karl Martell während seines Generalvikariats begleiten sollte. Daraus lässt sich mit ­einer gewissen Sicherheit schließen, dass Andrea Acconciaiocco der Gruppe der engsten Mitarbeiter angehörte, die der Königin und Philipp in deren Vikariatszeit nahestand.72 Im Februar 1302, anlässlich einer Reise Karls II. zur päpstlichen Kurie, wurde Maria, hier als consors carissima bezeichnet, von ihrem Mann erneut die offizielle commissio vicariatus et regiminis regni nostri Sicilie übertragen.73 Noch im Jahr 1309 sandte Maria den Bischof von Neapel und den Adligen Landolfo Pig­ natello als ihre Vermittler zur päpstlichen Kurie.74 Marias Ernennungen sind möglicherweise auch ein Vorbild für die Regentschaft von Marias Urenkelin, Margarethe von Durazzo, welche fast ein Jahrhundert später, während der Abwesenheit ihres Gatten Karl III., diese Rolle übernahm.75 Die politische Bedeutung Marias würdigte Papst Johannes XXII. im Kondolenzschreiben, das er am 13. Juni 1323 anlässlich ihres Todes an Karl von Kalabrien, den ältesten Sohn König Roberts, sandte. Der Papst drückte darin sein Beileid für das Ableben Marias aus, die für ihn wie eine Mutter gewesen sei. Nicht nur Karl sei der mütterlichen Zuneigung und Unterstützung beraubt, sondern auch dem ganzen Königreich fehle jetzt seine Hausherrin (matrona), die „von großer Kraft der Beredsamkeit, von herrlicher Fruchtbarkeit, von reiner Keuschheit, von ehrlicher Heiligkeit und von bewährter Demut“ gekennzeichnet gewesen sei. Während Fruchtbarkeit, Keuschheit, Heiligkeit und Demut zu den traditionellen Attributen einer Königin gehörten, ist die bemerkenswerte Erwähnung der Beredsamkeit (facundia) als einer der Tugenden Marias als Anerkennung ihrer Rolle 71  Bartolomeo da Capua wurde 1290, nachdem er als Ratgeber und familiaris Karls I. tätig war, von Karl II. zum Protonotar des Königreichs Sizilien ernannt. Ab 1296 vereinigte er die Funktion des Protonotars mit der des Logotheten in seiner Person. Diese Rolle bekleidete er noch unter Robert von Anjou. Aus der byzantinischen Verwaltung hergeleitet, war der Logothet im Königreich Sizilien in der königlichen Kanzlei aktiv. Seine Aufgaben waren eng mit denen des Protonotars verknüpft, können aber nicht genauer rekonstruiert werden, da keine Amtsvorschriften überliefert sind. Zu Bartholomeus von Capua vgl. Ingeborg Walter: Bartolomeo da Capua. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 6. Rom 1964, S. 687–704; Paola Maffei: Bartolomeo da Capua. In: Federico II. Enciclopedia fridericiana. 3 Bde. Rom 2005–2008, hier: Bd. 1, S. 147–149. Zum Logotheten im Königreich Sizilien vgl. Kiesewetter: Anfänge (wie Anm. 1), S. 422. 72 Camillo Minieri Riccio: Cenni storici intorno i grandi uffizii del regno di Sicilia durante il ­regno di Carlo I. d’Angiò. Neapel 1872, S. 138, S. 243 f. 73 Ders.: Studi storici fatti sopra 84 registri angioini dell’Archivio di Stato di Napoli. Neapel 1876, S. 115; Clear: Maria of Hungary (wie Anm. 43), S. 46, bes. Anm. 14 mit folgendem Wortlaut: Marie consorti nostre carissime Hierusalem, Sicilie et Hungarie Regine, commissio vicariatus et regiminis Regni nostri Sicilie stante accessu nostro ad Romanam Curiam faciendo. 74  Minieri Riccio: Studi (wie Anm. 73), S. 115. 75 Valente Angela: Margherita di Durazzo vicaria di Carlo III e tutrice di re Ladislao. [o. O.] 1919.

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einer aktiven politischen Akteurin zu werten, wie auch Matthew Clear betont hat.76 Wegen der besonderen politischen Umstände war es ihr möglich, nicht nur in den Funktionen zu handeln, die einer Ehefrau und Mutter zugestanden wurden, sondern auch als Vikarin, Vermittlerin und Friedensstifterin, die immer bereit war, ihr Königreich zu schützen und die Interessen der Dynastie zu fördern. Sancia von Majorca Eine Generation später findet sich in Marias Schwiegertochter Sancia, Gemahlin Roberts von Neapel und Tochter des Königs von Majorca, Jakobs II., eine ähnlich aktive politische Akteurin.77 Genauso wie Maria übte Sancia, auch wenn sie selbst keine Kinder geboren hatte, nicht nur Einfluss in ihrer Rolle als consors aus, sondern übernahm sowohl zu Lebzeiten ihres Gatten als auch nach dessen Tod in formalisierter Form Verantwortung für das Königreich. Darüber hinaus war sie auf der politischen Bühne in unterschiedliche diplomatische Verhandlungen involviert. Sie trat mehrfach als Vermittlerin zwischen dem König und ihrer aragonesischen Verwandtschaft auf und wird auch in den erzählenden Quellen als weise Beraterin des Königs dargestellt.78 Wie Maria arbeitete Sancia nicht nur informell mit dem Herrscher bei einer Reihe gemeinsamer Interventionen und bei Friedensverhandlungen zusammen, sondern nahm bereits ab 1325 in formalisierter Weise eine zentrale Rolle in Regierungsangelegenheiten ein. Als Karl, Herzog von Kalabrien und Generalvikar des Königreichs, mit dem Kommando über die angevinischen Truppen in Sizilien betraut wurde, musste nach einer Verfügung des nun abwesenden Generalvikars der Regentschaftsrat vor allen Entscheidungen Sancias Zustimmung einholen. Mindestens zweimal pro Woche traf sich der Rat beim Kanzler des Königsreichs und viel öfter im Haus des Logotheten, weil dieser eine größere Verantwortung, insbesondere pro audiendis et expediendi petitionibus, besaß. Durch ihre Beteiligung an 76  Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. Vat. 111, fol. 262r: poderosa facundia, gloriosa facunditas, candida castitas, honesta religio et humilitas comprobata; Clear: Maria of Hungary (wie Anm. 43), S. 56. Gemäß dem Mittellateinischen Wörterbuch hat der Begriff facun­ dia sowohl die Bedeutung „Beredsamkeit“ als auch „Beschlagenheit“. Beide Dimensionen schwingen im „Speculum dominarum“ von Durandus von Champagne mit, wenn über die Königin gesagt wird, dass sie durch die Verwendung von nützlichen Dokumenten und Mahnungen überzeugend in ihren Ratschlägen sein soll (Item sit suasibilis in consiliis, documentis et monicio­ nibus utilibus acquiescens); Durand de Champagne: Speculum dominarum. Hg. von Anne Flottès-Dubrulle. Bearb. von Constant J. Mews/Rina Lahav/Tomas Zahora. Paris 2018, Traktatus I, III Pars, Distinctio II, cap. 13, S. 131. 77  Zu Sancia (mit Nachweis der aktuellen Literatur) vgl. Cristina Andenna: Women at the Angevin Court between Naples and Provence. In: Nikolas Jaspert/Imke Just (Hg.): Queens, Princesses and Mendicants. Close Relations in a European Perspective. Münster/Berlin 2019, S. 29–51. Vgl. auch Mario Gaglione: Sancia d’Aragona-Majorca. Da regina di Sicilia e Gerusalemme a ­monaca di Santa Croce. In: Archivio per la storia delle donne 1 (2004), S. 27–54; ders.: Sancia ­d’Aragona-Maiorca tra impegno di governo e „attivismo“ francescano. In: Studi storici. Rivista trimestrale 49 (2008), S. 931–984. 78  Dazu Andenna: Consorti (wie Anm. 43), S. 569–578.

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allen Entscheidungen und die benötigte Zustimmung nahm Sancia in Vertretung Karls die Funktion einer Generalvikarin wahr.79 Sie wirkte so zusammen mit dem König an der Spitze der Regierung an den komplexesten Prozessen der zentralen Verwaltung mit. Nach Karls plötzlichem Tod wurde die Königin immer stärker in die Regierung des Königreichs einbezogen, auch wenn aufgrund fehlender Dokumente nicht klar ist, ob sie zu diesem Zeitpunkt auch formal die Funktion einer Vikarin innehatte. Ihre führende politische Rolle wurde jedenfalls von Papst Johannes XXII. anerkannt, als er ihr empfahl, nicht nur ihren Gemahl zu trösten, sondern ihm, zum Wohle und zur Sicherheit des Königreichs, auch beizustehen.80 Wie im Falle Marias war der Tod des Thronfolgers ohne gesicherte Sukzession der ausschlaggebende Grund für die Beauftragung der Königin mit Regierungsaufgaben. Wie Jean-Paul Boyer gezeigt hat, wirkte die Königin schon ab diesem Zeitpunkt und dann stärker noch zwischen 1338 und 1343 in der Regierung eng mit dem König zusammen und kümmerte sich um ihre persönlichen Güter, die sie in Fragen der Justiz, der Verwaltung und der Einforderung von Feudalrechten wie einen alternativen Hof führte.81 Sie verfügte über einen Apparat von Beamten, der zwar untergeordnet, aber von dem des Souveräns unabhängig war. Diese Beamten übten die hohe Gerichtsbarkeit über die Ländereien unter ihrer Kontrolle mit den Befugnissen des merum et mixtum imperium auf dieselbe Weise aus, wie es die Beamten des Souveräns in den Territorien taten, die dem Souverän direkt unterstellt waren. Um Sancia scharte sich ein eigener Hofstaat von Beamten und Familienangehörigen, der ihr gegenüber loyal und von jenem des Herrschers unabhängig war. Die Königin übernahm das Verwaltungssystem, das für Karl von Kalabrien als Thronfolger, der häufig als Vikar wirkte, zur Verfügung stand. Dieses unterschied sich in seiner Struktur und seinen Aufgaben von jenem, das in den größeren peripheren Gebieten zum Einsatz kam, war jedoch dem des Königs – wenn auch in der Praxis getrennt – sehr ähnlich.82 Ihre Dokumente waren mit einem „kleinen Siegel“ oder mit dem sigillo secreto beglaubigt, und sie hatte einige Sekretäre zur Verfügung, die ihre Urkunden redigierten. Die Beglaubigungsregeln, die ihre Administratoren anwandten, glichen denen, die die Kanzlei für Briefe mit 79 Minieri Riccio: Cenni (wie Anm.  72), S. 142 f.; vgl. dazu auch Andenna: Consorti (wie Anm. 43), S. 590 f. 80  Mario Gaglione: Converà ti que aptengas la flor. Profili di sovrani angioini, da Carlo I a Renato (1266–1442). Mailand 2009, S. 278. Jacques Duèse, der spätere Papst Johannes XXII., war als Kleriker zunächst in das Gefolge Ludwigs von Toulouse eingetreten, gewann dann am Hof Karls II. immer mehr Bedeutung als familiaris und königlicher Berater und wurde am 30. 11. 1307 zum Kanzler des Königreichs ernannt. Diese Funktion übte er dann auch in den ersten Jahren der Regierung Roberts aus; Melanie Brunner: Zwischen Kurie und Königsho f. Jacques Duèse, ­Bischof von Fréjus, sizilianischer Kanzler und künftiger Papst. In: Andreas Speer/David Wirmer (Hg.): 1308. Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit. Berlin 2010, S. 439–457, bes. S. 449–456. 81 Jean-Paul Boyer: Sancia par la grâce de Dieu reine de Jérusalem et de Sicile. In: MEFRM 129 (2017) 2, S. 301–344, online zugänglich unter: http://journals.openedition.org/ ­ mefrm/3655 (letzter Zugriff am 20. 2. 2022). 82  Andenna: Consorti (wie Anm. 43), S. 596  f.

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wirtschaftlichen und fiskalischen Inhalten zur Zeit Johannas I. ausstellte.83 Die von ihr durchgeführten Interventionen waren häufig durch vom König bestätigte Privilegien gestützt. Sancia verfügte über eine detaillierte Kenntnis der Mecha­ nismen und Prozesse des Verwaltungsapparats und hatte gleichzeitig einen aus­ reichenden Erfahrungsschatz, der sich aus der intensiven Kooperation mit der Magna Curia der magistri rationales und dem gesamten Verwaltungsapparat seit dem Jahr 1325 erklären lässt. Außerdem erfahren wir aus einem Brief Roberts an König Alfons IV. von Aragón, dass ihr die oberste Finanzkontrolle unterlag.84 Ein Dokument aus dem Jahr 1338, das Sancia mit ihrem sigillo secreto unterzeichnete, zeigt uns die große Verantwortung und den weiten Handlungsspielraum der ­Königin. An sie hatte der König die Reform des Amtes der magistri rationales und die Reorganisation von deren Finanzarchiv übertragen. Sie arbeitete daran, die Zahl der Beamten zu reduzieren und den gesamten Apparat nach objektiven Gesichtspunkten wie Erfahrung, Fähigkeiten, Effizienz und Nutzen (utilitas) zu organisieren. Die Bemühungen Sancias zielten also auf eine „Rationalisierung“ ab, mit dem Ziel, ein System zu schaffen, das sich so weit wie möglich am Kriterium der Effizienz orientierte. Wie so oft bestätigte der König ein Jahr später Sancias organisatorische Innovationen und bekräftigte damit deren Bedeutung.85 Ein Beleg der Hochschätzung der politischen Fähigkeiten der Königin ist, dass Robert sie kurz vor seinem Tod zu seiner Testamentsvollstreckerin ernannte. Grundlage für diese Entscheidung war die enge Zusammenarbeit, die ihre eheliche Beziehung auch in Regierungsangelegenheiten geprägt hatte. Dabei war sie viel mehr als nur die Garantin seines künftigen Andenkens, denn der König hatte ihr die Verantwortung für das gesamte Königreich anvertraut. Robert übertrug ihr die Leitung des Regentschaftsrates, der Johanna bis zu ihrer Volljährigkeit bei der Verwaltung des Königreichs unterstützen sollte und außerdem auch die Verantwortung über Andrea, den Ehemann von Johanna, und über Maria, die Schwester der neuen Königin, bis zum Erreichen ihrer Volljährigkeit, für die das fünfundzwanzigste Lebensjahr festgesetzt wurde.86 Die Ernennung war nur von kurzer 83  Boyer:

Sancia (wie Anm. 81), S. 323; Stefano Palmieri: La cancelleria del regno di Sicilia in età angioina. Neapel 2006, S. 182. 84  Heinrich Finke (Hg.): Acta Aragonensia. Quellen zur deutschen, italienischen, französischen, spanischen, zur Kirchen- und Kulturgeschichte aus der diplomatischen Korrespondenz Jaymes II. (1291–1327). 3 Bde. Berlin/Leipzig 1908–1922, hier: Bd. 3: Quellen aus der Diplomatischen Korrespondenz Jaymes II. (1291–1327). Berlin/Leipzig 1922, S. 656: Novit et hoc regina carissima consors nostra, per cuius conscienciam omnes nostre pecunie introytus et exitus transeunt. 85  Ausführlicher zur Reform Andenna: Consorti (wie Anm. 43), S. 569–574, S. 593–596. 86  Codex Italiae diplomaticus. Hg. von Johann Christian Lünig. 2 Bde. Frankfurt/Leipzig 1726, sectio 2, doc. 82, Sp. 1102–1109, bes. Sp. 1105 und Sp. 1107 f., hier: Sp. 1107: Item statuit et manda­ vit, quod praefata Domina Regina principaliter […] sint et esse debeant gubernatores, dispensa­ tores, rectores et andministratores, vel quocumque alio modo et nomine melius censeri possunt, de iure dicti Andreae Regis Ducis Calabriae, ac praefatarum Dominarum Dominae Ducissae et ­Dominae Mariae sororum, et Regni Comitatum, et aliorum omnium praedictorum, quousque ­Domini Dux et Ducissa et Domina Maria compleverint vicesimum quintum annum. Vgl. dazu Émile G. Léonard: Histoire de Jeanne Ire, reine de Naples et comptesse de Provence (1343–1382).

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Dauer, weil der Papst, dem römischen Recht folgend, ihrem Wunsch zum Klostereintritt zustimmte und an ihrer Stelle den Kardinallegaten Aimery de Châtelus einsetzte, dennoch zeugt sie von der Wertschätzung und dem Vertrauen, welches die Königin beim Herrscher und seinen engsten Mitarbeitern genoss.87 Die Bemerkungen Jean-Paul Boyers zu einer von Cristoforo Oriminas gestalteten Illustration der Anjou-Bibel, die Robert und Sancia bei einer Schachpartie zeigt, können als Abschluss meiner Überlegungen zur Rolle der Königinnen am angevinischen Hof dienen. Das Schachspiel galt als moralisierende Metapher des Politischen, so schon bei Jacobus de Cessolis in seinem Traktat „Liber de moribus et officiis nobilium“. Der genuesische Dominikaner stellte in seinem Werk den König dar, als denjenigen, der die Regeln einer guten Regierung kennt und daher die Lenkung des Königreichs in seinen Händen hält. Neben ihm, auf der linken Seite, ist die Königin, die in dem Spiel ebenso ihre Rolle hat.88 Auf der Abbildung nimmt Sancia am Spiel teil und sitzt dem König gegenüber (Abb. 2). Die Darstellung hebt ihre Rolle als gleichberechtigte Akteurin und integraler Bestandteil des politischen Systems hervor, auch wenn ihr diese Position, der Argumentation des Jacobus de Cessolis folgend, nur durch die Ehe zukomme, anders als im Falle des Königs, der seine zentrale Rolle im monarchischen System durch seine Herkunft herleite.89 Die Rolle Marias und Sancias ging weit über die traditionelle Auffassung der consors hinaus. Sie waren daher prädestiniert, an der Regierung mitzuwirken und je nach Bedarf eine große Spannbreite an politischen Aufgaben auszuüben. Bei der Abwesenheit des Herrschers und in Momenten dynastischer Unsicherheit

3 Bde. Monaco/Paris 1932–1936, hier: Bd. 1, S. 214–217. Zur entscheidenden Rolle Sancias an Mutters statt in der Erziehung Johannas und ihrer Schwester Maria sowie in der Verwaltung von deren Gütern vgl. Andenna: Kinderlosigkeit (wie Anm. 42). 87 Vgl. Andenna: Consorti (wie Anm. 43), S. 598  f.; dies.: „Francescanesimo di corte“ e santità francescana a corte. L’esempio di due regine angioine fra XIII e XIV. In: Monasticum regnum. Religione e politica nelle pratiche di legittimazione e di governo. Rom 2015, S. 139–180, hier: S. 172; Gaglione: Sancia d’Aragona-Majorca. Da regina (wie Anm. 77), S. 39 f. Zur Legation des Kardinals Aimery de Châtelus vgl. Serena Morelli: Equilibri in bilico. Note sulla legazione di Aimery de Chatelus nell’Italia meridionale. In: Patrizia Sardina/Daniela Santoro/Maria Antonietta Russo (Hg.): Medioevo e Mediterraneo. Incontri, scambi e confronti. Studi per Salvatore Fodale. Palermo 2020, S. 473–490. 88  Jacobus de Cessolis, Liber de moribus et officiis nobilium. Hg. von Ernst Köpke. Brandenburg 1879, S. 5: A sinistris collocatur regina propter maritales amplexu, unde in canticis: Laeva eius sub capite meo et dextra illius amplexabitur me. Est autem a sinistris regis collocata per gratiam, quod regi donatum est per naturam. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Sebastian Roebert in diesem Band. 89  KU Leuven Libraries, Maurits Sabbe Library, GSM Cod. 1, fol. 257r. Vgl. dazu Boyer: Sancia (wie Anm. 81), S. 318. Ich stimme Boyer zu, dass die Illustration Sancia und nicht, wie teils vertreten, Johanna darstellt, und zwar unter anderem, weil die weibliche Figur in derselben Kleidung dargestellt ist, die eine eindeutig als Sancia zu identifizierende Figur in der Darstellung der angevinischen Genealogie (fol. 4r) in der Anjou-Bibel trägt. Die Handschrift ist digitalisiert und ­online zugänglich unter: https://repository.teneo.libis.be/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_ pid=IE3562253 (letzter Zugriff am 28. 4. 22).

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Abbildung 2: König Robert und Sancia beim Schachspielen; aus: Anjou-Bibel, Neapel (um 1340), KU Leuven, Maurits Sabbe Library, GSM Cod. 1, fol. 257r.

übernahmen sie sogar die formal delegierte Aufgabe als Stellvertreterinnen, und zwar in der Regel gerade dann, wenn das eigentliche „Abbild und [der] Spiegel des Vaters“, der designierte Thronfolger, nicht in der Lage war, diese Funktion auszuüben.

Abstract The political constellation of the southern Italian kingdom of Sicily-Naples ­between the end of the 13th and the first half of the 14th century offers a particularly suitable field of inquiry when it comes to the question of the representation of rule. It was not only the spatial separation of the dominions – the Regnum Si­ ciliae, which was under papal feudal sovereignty, and the counties of Provence, Forcalquier, and Avignon – that made the exercise of royal rule difficult. The ­political situation, including the long-standing conflicts of the War of the Sicilian Vespers, repeatedly forced the kings into long absences, which posed a challenge, if not an outright danger to their power. To bridge these periods of power vacuum, ensure the stability of rule, and guarantee a functional administration, the Angevin kings adopted the instrument of the vicariate, a form of temporary political representation that was already known in the Empire. Despite sparse documentation, the first part of this chapter focuses on the emergence of this little-­ noticed instrument, its scope of action, and its powers of decision-making. This function, which developed out of an emergency situation into a regular practice, was initially exercised by close advisors of the king and members of the royal

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family, usually the firstborn son as soon as he reached the age of majority. In a second section, the article focuses on two Neapolitan queens, Mary of Hungary (1257–1323), wife of Charles II, and Sancia of Majorca (1285–1345), wife of ­Robert the Wise. Both queens exercised this function several times in the absence of the king at the end of the 13th and beginning of the 14th centuries, especially in times of crisis. Mary assumed the role of vicar even before her husband’s coronation and appeared in this capacity both in the French territories and in southern Italy. Sancia exercised the vicariate several times after the death of the heir to the throne. Analysis of the available documentation shows that assignment as vicar or deputy went far beyond the traditional role of the spouse as consors and that recourse to the queen was taken for granted in the Kingdom of Naples, especially in times of dynastic uncertainty. The queen was an integral part of the ruling system and, in the absence of the king and his son, acted in a dynamic interplay with other actors in the interest of securing rule.

Sebastian Roebert Die weibliche Stellvertretung in der Krone Aragón (13.–15. Jahrhundert) Ein Modellfall? Einleitung In seinem zu Beginn des 14. Jahrhunderts verfassten, allegorisch konzipierten ­„Liber de moribus hominum et de officiis nobilium super ludo scaccorum“ er­ klärt der dominikanische Prediger Jacobus de Cessolis die Gesellschaft anhand der einzelnen Figuren im Schachspiel und attribuiert diesen individuelle Eigen­ schaften.1 So stellt er die Königin als Begleiterin ihres Gemahls vor. Ihre Aufgabe sei es, an der Seite des Herrschers zu weilen und diesen nicht zu verlassen. Dem­ gegenüber fungierten Jacobus zufolge der alphilus, also der Läufer, als Richter und der rochus (Turm) als Vertreter des abwesenden Souveräns.2 Der Zusammen­ hang zwischen dem Herrscherpaar verstärkt sich, wenn man die Züge der Figuren einbezieht. Vor dem Ende des 15. Jahrhunderts war die Königin die schwächste unter den Offizieren, da sie lediglich ein Feld diagonal ziehen konnte und auf die­ se Weise potenziell mit dem König verbunden blieb. Der genuesische Dominika­ ner und andere Kommentatoren verbanden mit der diagonalen Bewegung nega­ tive Eigenschaften und begründeten die beschränkte Reichweite mit einer Sub­ ordination der Frauen.3 Allerdings darf diese Beschränkung nicht übermäßig stark im Hinblick auf eine geschlechtsspezifische Zurücksetzung gewichtet werden, denn der Zusammenhalt zwischen dem Herrscherpaar wurde in einigen Spiel­ varianten wie den assises lombardes betont, indem beide Figuren den ersten Schritt gemeinsam durchführen durften, was dann nur als ein Zug gewertet wurde.4 Die 1  Ferdinand

Vetter: Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, Mönchs und Leutepries­ ter zu Stein am Rhein. Nebst den Schachbüchern des Jakob von Cessole und des Jakob Mennel. Frauenfeld 1892. 2  Ebd., Sp. 119–156 zur Königin (Text des Jacobus de Cessolis in den Anmerkungen zu den ange­ gebenen Spalten); Sp. 165–176, Sp. 189–208 zu den Läufern, die ad modum iudicum assessorum in cathedra magistrali cum libro aperto ante oculos saßen; Sp. 301–360 zu den Türmen. 3  Maren Jönsson: Von tugendhaften Königinnen und neugierigen Ehefrauen. Weibliche Genderent­ würfe in deutsch- und schwedischsprachigen Schachzabelbüchern. In: Olle Ferm/Volker Hone­ mann (Hg.): Chess and Allegory in the Middle Ages. Stockholm 2005, S. 217–279, hier: S. 246–252. 4  Harold J. R. Murray: A History of Chess. ND Oxford 1969 [ND der Ausgabe Oxford 1913], S. 462. https://doi.org/10.1515/9783111071879-007

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Mobilisierung der Türme als stärkste Figuren im mittelalterlichen Schach war (und ist auch heute noch) demgegenüber vergleichsweise kompliziert. Darin ­sahen mittelalterliche Kommentatoren eine Beharrungskraft des königlichen Vertreters im ­Palast als Machtzentrum, während sich das Herrscherpaar leichter von seiner Ausgangsposition fortbewegen konnte. Die Rolle des Turms wird in Jacobus’ Traktat als die eines vicarius seu legatus regis umschrieben, also als die eines ­Stellvertreters, der die königliche Autorität verkörperte, und steht damit im Wi­ derspruch zur vorgenannten Verortung im Zentrum der Monarchie, also in un­ mittelbarer räumlicher Nähe zum Herrscherpaar.5 Diese populäre zeitgenössische Gesellschaftsdeutung kann plastisch die moder­ ne Interpretation vom Herrscherpaar als Einheit und in dessen Rahmen die Ver­ ortung der Königin als zentrale politische Akteurin illustrieren. Freilich zeigt sich auch die Grenze der Analogie, indem der Herrscherin im „Liber de moribus“ zwar verschiedene Tugenden, aber keine eigenen Aufgaben zugewiesen werden, sondern sie ohne besondere Konturierung der politischen Funktionen an der Seite ihres Gemahls verbleibt. Ganz besonders betrifft dies die Stellvertretung, die einer anderen Figur zugewiesen wurde, nämlich dem Turm. Als einzige Figuren stehen somit rochus und alphilus für die Administration und die Jurisdiktion.6 Der in Genua wirkende Dominikaner mag vielleicht kein entsprechendes Beispiel vor Augen gehabt haben, nicht zuletzt weil man in der Seerepublik vermutlich wenig mit den Gepflogenheiten der königlichen Vertretung vertraut gewesen sein dürfte. Gleichwohl bildete für Jacobus die Delegation der Herrschaft ein zentrales und unverzichtbares Element der politischen Struktur. Reine Spekulation, wenn auch eine verlockende, ist es demzufolge, darüber nachzudenken, ob die Interpretation der Figuren anders ausgefallen wäre, wenn der Autor des Traktats in Frankreich oder eben der Krone Aragón gewirkt hätte. In letzterer – und damit kommt das eigentliche Fallbeispiel in den Blick – stellte die Vertretung der königlichen Regie­ rung durch Herrscherinnen – und nicht nur durch sie – im späten Mittelalter ein vertrautes Phänomen dar.7 Die Forschung ist sich im Anschluss an Theresa Earenfight weitgehend einig, dass die Herrscherinnen der iberischen Reiche und ihre Regierungsbeteiligung ei­ 5 

Jean-Michel Mehl: Justice et administration d’après le Liber de moribus de Jacques de Cessoles. In: Ferm/Honemann (Hg.): Chess (wie Anm. 3), S. 161–172, bes. S. 168. 6  Über Gerechtigkeit und Verwaltung sowie die Funktionen der beiden Figuren bei Jacobus de Cessolis Mehl: Justice (wie Anm. 5). 7 Allgemein zur Repräsentation als Schlüsselbegriff der Sozialwissenschaften Carlo Ginzburg: Representation: le mot, l’idée, la chose. In: Annales ESC 46 (1991), S. 1219–1234. Zur Statthalter­ schaft in der Krone Aragón Theresa Earenfight: Preface. Partners in Politics. In: dies. (Hg.): Queenship and Political Power in Medieval and Early Modern Spain. Aldershot 2005, S. XIII– XXVIII, hier: S. XIX–XX; Alexandra Beauchamp: Les lieutenants généraux des rois d’Aragon de la fin du Moyen Âge. Médiateurs de la parole du prince ou voix de la royauté? In: Cahiers d’Études Hispaniques Médiévales 31 (2008), S. 45–64; Claire Ponsich: Les notions de conseil et de lieutenance chez Violant de Bar, duchesse de Gérone, puis reine d’Aragon à la fin du XIVe siècle. In: Armel Nayt-Dubois/Emmanuelle Santinelli-Foltz (Hg.): Femmes de pouvoir et pouvoir des femmes dans l’Occident médiéval et moderne. Valenciennes 2009, S. 195–222, hier: S. 206–208.

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nen Sonderfall im mittelalterlichen Europa bildeten. Ein entscheidendes Element in dieser Sichtweise ist die gleichsam institutionalisierte Form der Statthalterschaft in der Krone Aragón.8 Earenfight etablierte eine Reihe von sieben Herrscherin­ nen, die zwischen dem frühen 14. Jahrhundert und der zweiten Hälfte des 15. Jahr­ hunderts die Herrschaft für ihre abwesenden oder verhinderten Gemahle geführt hätten.9 Dieser Befund ist jedoch zu nuancieren, worauf Lledó Ruiz Domingo jüngst hingewiesen hat.10 Dabei hilft die umfangreiche administrative Dokumen­ tation im Kronarchiv zu Barcelona, die das hier behandelte Fallbeispiel der Krone Aragón als entscheidenden Vorteil gegenüber anderen europäischen Reichen auf­ weist. Diese bildet einerseits das konkrete Regierungshandeln der Statthalterinnen und andererseits ihre Ernennung sowie damit die de jure erteilten Vollmachten ab. Durch die Kontrastierung dieser beiden Kategorien lässt sich ein vergleichsweise realistisches Bild von den Handlungsspielräumen der Königinnen gewinnen. Eine Vorstellung beider Komplexe ist im Rahmen dieses Beitrags aufgrund des unter­ schiedlichen Forschungsstandes und der überwältigenden Quellendichte jedoch nicht möglich. Vielmehr sollen die Ernennungen ausgewählter Herrscherinnen zur Statthalterin und deren Charakteristika im Zentrum der folgenden Ausfüh­ rungen stehen. In einem ersten Schritt werden die sechs Herrscherinnen, die im Untersuchungszeitraum nachweislich als Statthalterinnen agierten, und ihre Amtszeit kurz vorgestellt. Daran anschließend werden die bis jetzt bekannten Er­ nennungen und ihre Charakteristika ausgewertet. Der erste Abschnitt dieses Teils nimmt die diplomatischen Eigenschaften der Ernennungen in den Blick, also die Typologie und Struktur der Dokumente. Wichtig sind ebenso die Benennungen der Statthalterinnen sowie die Verzeichnung in den Registern, die Aufschluss über die zeitgenössischen Vorstellungen der Statthalterschaft geben. Dieser Aspekt wird im zweiten Abschnitt behandelt. Die inhaltliche Zusammensetzung der Ur­ kunden steht im dritten Abschnitt im Mittelpunkt. Ein vollständiges Panorama der Bevollmächtigungen ist momentan leider noch nicht möglich, da dafür weite­ re Archivrecherchen notwendig sind. Dessen ungeachtet bietet die vorliegende Auswahl eine solide Grundlage, um die diplomatischen und inhaltlichen Charak­ teristika der Ernennungen zu untersuchen. Wenngleich die Herangehensweise vergleichsweise simpel erscheint, sind doch verschiedene Begriffe beziehungsweise Aspekte zu klären. An erster Stelle ist die Statthalterschaft zu definieren. Diese Funktion garantierte ihrem Inhaber die Aus­  8 

Earenfight: Preface (wie Anm. 7), S. XVIII. Earenfight: Absent Kings: Queens as Political Partners in the Medieval Crown of Aragon. In: dies. (Hg.): Queenship (wie Anm. 7), S. 33–51. 10  Berechtigterweise warf die Autorin diese Frage auf (Lledó Ruiz Domingo: „Del qual tenim loch“. Leonor de Sicilia y el origen de la lugartenencia femenina en la Corona de Aragón. In: Medievalismo 27 [2017], S. 303–326), ihr Beitrag ist aber insgesamt aufgrund erheblicher methodi­ scher Schwächen und einer mangelhaften Quellenerfassung für die Erforschung der weiblichen Statthalterschaft zu vernachlässigen; siehe dazu Sebastian Roebert: The Nominations of Elionor of Sicily as Queen-Lieutenant in the Crown of Aragon. Edition and Commentary. In: Mediaeval Studies 80 (2018), S. 171–229, hier: S. 176, Anm. 14.  9 Theresa

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übung der königlichen Rechte, während der lebende Monarch abwesend war. Im Unterschied zu den Herrschaftsrechten des Monarchen selbst waren die Vorrang­ stellung eines Statthalters, vor allem aber seine Herrschaftsrechte, explizit zu be­ gründen. Eine Absicherung in Form einer formellen Ernennung war meist not­ wendig beziehungsweise scheint notwendig gewesen zu sein. Wenn diese Anfor­ derung nur vage formuliert ist, so darf dies jedoch nicht überraschen, denn eine absolut notwendige Grundlage für die Ausübung der höchsten Gewalt scheint die Ernennung nicht in allen Fällen oder zu jeder Zeit gewesen zu sein. Demzufolge gälte es an zweiter Stelle zu bestimmen, wann respektive ab wann und ob eine formale, schriftlich fixierte Beauftragung notwendig war oder ob auch andere, informellere Arten der Übertragung von Regierungsvollmachten möglich und ­ ­akzeptiert waren. Allerdings müssen die folgenden Ausführungen sich auf die Er­ nennungen begrenzen und auch in dieser Hinsicht als provisorisch gelten, da der Forschungsstand – wie bereits betont – sehr heterogen ist.

Weibliche Statthalterschaften im 13. bis 15. Jahrhundert Der Untersuchungszeitraum fällt mit einer Phase außenpolitischer Ambitionen vonseiten der aragonesischen Herrscher zusammen, die neben anderen Faktoren den Hintergrund der weiblichen Statthalterschaften bilden. Im 13. Jahrhundert er­ oberte König Jakob I. València und die Balearen, die ab diesem Zeitpunkt eigene Königreiche im Reichsverband bildeten.11 Seit der Regierungszeit Jakobs II. ge­ sellten sich noch Sardinien, das der Thronfolger Alfons in den 1320er-Jahren er­ oberte, und – dem Anspruch nach – Korsika hinzu. Während letzteres nie dem Reichsverband eingegliedert werden konnte, blieb die aragonesische Stellung auf Sardinien bis ins 15. Jahrhundert durch die autochthone und genuesische Opposi­ tion prekär. Ab der Mitte und verstärkt ab dem Ende des 14. Jahrhunderts griffen die aragonesischen Herrscher erneut nach Sizilien aus, das der Infant Martin unter seine Kontrolle bringen konnte. Nach dem Dynastiewechsel zu den Trastámara setzte sich die Expansion fort und richtete sich auf den Süden der Apenninenhalb­ insel. Alfons V. „der Großmütige“ entriss das Königreich Neapel den Anjou und verließ dafür die Iberische Halbinsel für mehr als 30 Jahre. Der Zeitraum vom 13. 11  Nach

wie vor ist die Darstellung von Thomas Bisson die bislang konziseste Abhandlung zur Geschichte der Krone Aragón; Thomas N. Bisson: The Medieval Crown of Aragon. A Short History. Oxford 1986. Zu den im Text behandelten Phasen siehe ebd., S. 58–147; ausführlicher sind die Beiträge in Antoni Furió (Hg.): Història de la Corona d’Aragó. Bd. I: L’època medieval. Barcelona 2007, hier: S. 83–414. Allgemein zu den Herrscherinnen auf der Iberischen Halbinsel siehe Nikolas Jaspert: Indirekte und direkte Macht iberischer Königinnen im Mittelalter. „Regi­ nale“ Herrschaft, Verwaltung und Frömmigkeit. In: Claudia Zey (Hg.): Mächtige Frauen? ­Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert). Ostfildern 2015, S. 73–130, zu den Statthalterschaften: S. 94–97. Als Vergleich zur Situation in Frankreich siehe Marie-Luise Heckmann: Stellvertreter, Mit- und Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert. 2 Bde. Warendorf 2002, hier: Bd. 1, S. 65–74, S. 301–307.

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bis ins 15. Jahrhundert kann insgesamt gesehen also als Phase betrachtet werden, in der die Krone Aragón expandierte. Allerdings handelte es sich dabei keines­ wegs um einen linearen Prozess, sondern die konkreten Rahmenbedingungen und Konstellationen unterschieden sich in jedem Fall beträchtlich voneinander. Zu­ dem ist die bis zum Tod Jakobs II. erreichte Position bestenfalls als prekär einzu­ schätzen, worauf John Hillgarth bereits 1975 hingewiesen hatte.12 Nicht zuletzt die militärischen Unternehmungen, die für die Eroberung der neuen Territorien und Reiche notwendig waren, bedingten den Einsatz der delegierten Autorität auf der höchsten Ebene. Besonders während der Regierungszeit Alfons V. stellte sich die Frage danach, wer sie ausüben sollte und welche Kompetenzen der Vertreter oder die Vertreterin innehaben sollte. Eine der Grundlagen für die genannten Erwerbungen durch die Krone Aragón stellte möglicherweise die außerordentliche dynastische Stabilität dar, in der Regent­ schaften nicht notwendig waren. Seit der Vereinigung des Königreichs Aragón mit dem Prinzipat Katalonien im 12. Jahrhundert regierte die von den Grafen von Barcelona abstammende Dynastie die Union. Erst mit dem Tod Mar­ tins I. im Jahr 1410 kam es nach einem kurzen Interregnum zu einem Dynastie­ wechsel. Mit Ferdinand I. übernahm das aus Kastilien stammende und dort seit 1369 regierende Geschlecht der Trastámara die Macht. In kognatischer Linie frei­ lich entstammten auch sie dem Haus Barcelona. Da die iberischen Monarchen ­bevorzugt untereinander Eheverbindungen eingingen und damit gewissermaßen ­einen Heiratskreis bildeten, entstammten die Ehepartnerinnen der aragonesischen Monarchen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den anderen iberischen Reichen sowie Sizilien und gelegentlich auch den adeligen Familien der Krone selbst.13 Dieser Umstand wirkte sich möglicherweise auch auf die Regierungsführung durch Frauen aus. Es kann davon ausgegangen werden, dass in den eng miteinan­ der verflochtenen Geschlechtern ein Wissen um die Beteiligung der königlichen Damen an der Herrschaft zirkulierte und ihr Agieren bei der Führung der Regie­ rungsgeschäfte als Vertreterinnen ihrer Gemahle beeinflusste. Die Reihe der bis dato bekannten Statthalterinnen in der Krone Aragón setzt mit Blanche von Anjou ein.14 Ihre 1295 geschlossene Ehe mit Jakob II. war ein Bestandteil der Verhandlungen nach den Auseinandersetzungen, die auf die soge­ nannte Sizilianische Vesper folgten. Mit der Verbindung sollte die Kluft zwischen den Anjou und dem Haus Barcelona geschlossen werden. Vor dem Hintergrund der nach wie vor gespannten diplomatischen Situation reiste Jakob II. im Spät­ 12  Jocelyn N. Hillgarth:

The Problem of a Catalan Mediterranean Empire 1229–1327. In: ders.: Spain and the Mediterranean in the Later Middle Ages. Studies in Political and Intellectual His­ tory. Aldershot 2003, Nr. II, S. III–IV, S. 1–54 (ND aus The English Historical Review. Supplement, 8. London 1975, S. III–IV, S. 1–54). 13 Zu den Heiratsverbindungen der iberischen Herrscher Karl-Heinz Spieß: Europa heiratet. Kommunikation und Kulturtransfer im Kontext europäischer Königsheiraten des Spätmittelal­ ters. In: Rainer C. Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hg.): Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur. München 2006, S. 435–464, hier: S. 438, S. 454–457. 14  Übersicht über Regierungszeiten der Herrscherinnen und ihrer Gemahle in Anhang 1.

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herbst 1296 nach Rom und ernannte seine Gemahlin zur Statthalterin. Die zu die­ sem Zeitpunkt erst 13-jährige Königin dürfte nicht ernsthaft für eine aktive Rolle in Betracht gezogen worden sein, da Jakob kurz nach ihr vier Prokuratoren für die einzelnen Reiche ernannte, die vermutlich die eigentliche Regierungstätigkeit ausüben sollten. Damit ist nicht gesagt, dass die Herrscherin nicht wirklich in ­dieser Funktion agieren konnte, allerdings finden sich keinerlei Belege für ein dies­ bezügliches Handeln. Sie könnte zwar tatsächlich in Kooperation mit den vor Ort verbliebenen Beratern agiert haben, ohne davon schriftliche Zeugnisse zu hinter­ lassen, jedoch erscheint dies angesichts der notorischen Neigung der Katalanen als schreibseligste Nation der Welt, in ihren Urkunden alle Handlungen wortreich festzuhalten (über die sich bereits Paul Kehr amüsiert hatte),15 unwahrscheinlich. Demzufolge stellt sich die Frage, welches Ziel Jakob mit dieser Ernennung verfolgt haben könnte, da eine rein formale Erhebung kaum anzunehmen ist. Die Ernen­ nung der Blanche während der als peregrinacio deklarierten Reise nach Rom könn­ te als Signal gen Rom und Neapel zu verstehen sein und sollte vielleicht die Ver­ handlungen über die ambitionierten politischen Ziele Jakobs, also die Erringung Sardiniens und Korsikas, erleichtern. Damit dürfte nicht die eigentliche Bevoll­ mächtigung im Vordergrund gestanden haben, sondern die Übertragung könnte eher als Mittel zum diplomatischen Zweck zu verstehen sein.16 Eindeutiger präsentiert sich die Lage bei Eleonore von Sizilien, die zwischen 1358 und 1374 immerhin sechsmal zur königlichen Statthalterin in der Krone Aragón beziehungsweise im Prinzipat Katalonien ernannt wurde. Durch ihre Ehe mit Peter IV. „dem Zeremoniösen“ wurden die Verbindungen nach Sizilien neuer­ lich gestärkt. Als wichtigstes Resultat dieser Verbindung in der Mittelmeerpolitik konnten die aragonesischen Herrscher Eleonores Erbansprüche gegenüber dem Inselkönigreich mit Zwang durchsetzen. In der Krone Aragón selbst konnte die Herrscherin im Zuge eines zehn Jahre währenden Krieges gegen Kastilien für neun kurze Phasen als Vertreterin ihres Gemahls agieren.17 Ein substanzieller Bei­ trag der Statthalterin zur Regierung war die Koordination und logistische Unter­ stützung der Kriegführung, einschließlich der Verhandlungsführung mit den Corts (Ständeversammlung), die diese garantieren sollte. Dieser Fall zeigt beson­ ders deutlich die flexible Übergabe der Regierung zwischen dem König und der 15  Paul Fridolin Kehr: Das Papsttum und der katalanische Prinzipat bis zur Vereinigung mit Ara­ gon. Berlin 1926, S. 17. 16  Die spätere, von Theresa Earenfight für das Jahr 1310 postulierte Ernennung, bei der sie ihren Gemahl während dessen Aufenthalt in Almería im Frühjahr 1310 vertreten habe, ist nicht von den Quellen gedeckt; Earenfight: Absent Kings (wie Anm. 9), S. 38. Vgl. dazu Ruiz Domingo: Leonor de Sicilia (wie Anm. 10), S. 318–322. 17  Zum Agieren Eleonores als Statthalterin zuerst Ulla Deibel: La reyna Elionor de Sicília. In: Memorias de la Real Academia de Buenas Letras de Barcelona 10 (1928), S. 349–453, hier: S. 380– 384; jüngst Sebastian Roebert: Die Königin im Zentrum der Macht. Reginale Herrschaft in der Krone Aragón am Beispiel Eleonores von Sizilien (1349–1375). Berlin 2020, S. 303–408. Mit sehr unsystematischer Erfassung der Quellen Donald Kagay: Elionor of Sicily, 1325–1375. A Mediter­ ranean Queen of Two Worlds. Cham 2021. Die Ernennungen sind ediert in Roebert: Nomina­ tions (wie Anm. 10), S. 190–195.

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Königin; in einem weiteren Fall wurde die höchste Autorität sogar durch die ­ önigin an einen Onkel Peters IV., den Infanten Ramon Berenguer, übertragen. K Eleonore konnte also eine Art Sub-Delegation ihrer Kompetenzen vornehmen.18 Die häufigen und fließenden Übergänge bei der Machtübernahme setzen voraus, dass auch die Herrscherin gut mit den Mechanismen der Regierung und ihren zentralen Einrichtungen wie der Kanzlei vertraut und in diese eingebunden war. Gerade diese häufigen Wechsel verdeutlichen die Kooperation zwischen den bei­ den Partnern, sodass man im Fall Eleonores von Sizilien und Peters IV. tatsächlich von einer Co-Herrschaft sprechen könnte, in der auch die Herrscherin eigene ­Akzente setzen konnte. Auch unter ihren unmittelbaren Nachfolgern hatte die Königin nicht selten eine starke Position, und zwar nicht nur, weil Violante von Bar als Vertreterin für ihren Gemahl Johann I. agierte.19 In diesem Fall stand nicht allein die Notwendig­ keit einer Vertretung bei Abwesenheit im Vordergrund, vielmehr zeigte der mit dem Beinamen „der Jäger“ („el Caçador“) benannte Monarch offenbar nur wenig Interesse an der Regierung und überließ diese im Wesentlichen seiner Frau sowie verschiedenen Ratgebern. Eine Ernennung ließ sich bislang nicht nachweisen, al­ lerdings führte Violante dennoch den Titel locum tenens und dies über den Zeit­ raum von drei Jahren (1393–1396).20 Demzufolge dürften weitere Archivrecher­ chen auch für sie eine Ernennung ans Licht bringen. Das mangelnde Engagement des Herrschers führte bereits während seiner Regierungszeit zu Spannungen mit den Ständen, die insbesondere den Räten vorwarfen, königliche Güter zu verun­ treuen. Nach dem unerwarteten Tod Johanns wurden verschiedene Räte aus ­diesem Grund inhaftiert, während die offenbar unpopuläre Violante von Bar sich einer Anklage entziehen konnte. Auch als Königinwitwe versuchte sie noch bis zu ihrem Tod mehr oder minder aktiv Einfluss auf die aragonesische Politik – und nicht nur diese21 – zu nehmen, etwa im Zuge der Verhandlungen nach dem Tod 18  Roebert:

Nominations (wie Anm. 10), Nr. 6, S. 221–224; vgl. Alexandra Beauchamp: Gouver­ ner la couronne d’Aragon en l’absence du roi. La lieutenance générale de l’infant Pierre d’Aragon (1354–1355). Phil. Diss. masch. Bordeaux 2005, S. 139 sowie Annexe IV-17, S. 584–587. 19  Eine grundlegende Untersuchung der Herrschaft von Violante von Bar fehlt bislang, dazu ist bald die Dissertation „Réseaux et gouvernement d’une femme de pouvoir: l’exemple de Yolande de Bar (1365–1431)“ von Claire Ponsich (Université Paris 8 Vincennes-St. Dénis) zu erwarten. Vor allem auf die umfangreiche Korrespondenz bezieht sich das Büchlein Dawn Bratsch-Prince: Violante de Bar (1365–1431). Madrid 2002. Zur Statthalterschaft Violantes siehe Ponsich: Notions (wie Anm. 7). 20 ACA, Canc., Registre 2040 beinhaltet eine Reihe von Dokumenten, die zwischen dem 12. 9. 1393 (fol. 3v–4r) und dem 8. 4. 1396 (fol. 94v) durch Violante als Statthalterin ausgestellt wurden. Der entsprechende Registerband beinhaltet Dokumente verschiedener Art, das heißt auch solche, die nicht mit der Erweiterung der Intitulatio locum tenens beziehungsweise lochtinent versehen sind. Da dieser Formelbestandteil aber als einziger in den aragonesischen Re­ gistern gekürzt wurde, ist nicht auszuschließen, dass auch die Dokumente ohne diesen Passus durch Violante in der Funktion als Statthalterin ausgestellt wurden. 21  Zum Wirken im Umfeld des Konzils von Konstanz siehe Johannes Vincke: Die Königin-Wit­ we Violant von Aragon im Wirkungsbereich des Konstanzer Konzils. In: Remigius Bäumer (Hg.): Von Konstanz nach Trient. Beiträge zur Geschichte der Kirche von den Reformkonzilien bis zum Tridentinum. Festgabe für August Franzen. München/Paderborn/Wien 1972, S. 27–46.

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ihres Schwagers Martin in Caspe. Als zwischen 1410 und 1412 dort die Stände tagten, um über Martins Nachfolge zu befinden, vertrat Violante auf der Ver­ sammlung die Rechte ihres Schwiegersohns Ludwigs II. von Anjou beziehungs­ weise ihres Enkels Ludwigs von Kalabrien. Sie blieb mit ihrer Position zwar ­letztlich erfolglos, schlussendlich entschieden sich die Stände für das kastilische Geschlecht der Trastámara als Nachfolger.22 Aber das Beispiel Violantes belegt trotzdem eindrucksvoll die Handlungsmöglichkeiten, nicht nur einer Gemahlin, sondern auch einer Königinwitwe. Ihre Schwägerin Maria de Luna sicherte in der unklaren Situation nach dem Tod Johanns I. für dessen Bruder und ihren Gemahl Martin I. die Nachfolge.23 Allerdings agierte sie in diesem Moment nicht aufgrund einer Ernennung ihres in Sizilien weilenden Gemahls, sondern in Abstimmung mit den katalanischen Corts und den maßgeblichen Ratgebern auch offiziell als Statthalterin.24 Dabei betonte die Herrscherin, dass diese Funktion aufgrund der Abwesenheit Martins ihr ge­ bühre.25 Diese Erklärung erfolgte im Palau Menor – vermutlich in der de consells, also Ratsstube, genannten Kammer – zu Barcelona, den ihre Vorgängerin Eleono­ re von Sizilien hatte errichten lassen und der den Königinnen der Krone Aragón als Residenz diente.26 Damit schuf Maria de Luna in Kooperation mit den wich­ tigsten politischen Akteuren vor Ort Fakten. Zudem unterstrich sie durch die ­Beratung im reginalen Palast auch auf einer symbolischen Ebene ihre Position als Königin. Nach der Rückkehr Martins nahm sie weiterhin eine bedeutende Rolle in der Regierung ein und fünf Jahre später wurde sie tatsächlich formell zur Statt­ halterin im Königreich València ernannt.27 Anlass dafür waren die dort grassieren­ den Auseinandersetzungen zwischen lokalen adeligen Faktionen, die sogenannten bandositats, die sie beilegen sollte.28 Trotz der kontinuierlichen Bemühungen von­ 22  Francisca Vendrell Gallostra: Violante de Bar y el Compromiso de Caspe. Barcelona 1992, bes. S. 26–34, S. 41–46. 23  Zu dieser verwickelten Transition, in der sowohl Violante von Bar als auch Johanna, die Toch­ ter Johanns I., gemeinsam mit ihrem Gemahl Graf Mathieu von Foix Ansprüche auf den Thron erhoben, siehe Núria Silleras-Fernández: Power, Piety, and Patronage in Late Medieval Queen­ ship. Maria de Luna. New York 2008, S. 37–61. 24  Cortes de los antiguos reinos de Aragón y de Valencia y Principado de Cataluña. Cortes de Cataluña. IV Comprende desde el año 1377 al 1401. Madrid 1901, Belege für Maria de Luna als Statthalterin: S. 261, S. 275, S. 293, S. 301, S. 340 (öffentliche Ausrufung), S. 346; Beleg für die Er­ nennung von Räten: S. 248. 25  Cortes de los antiguos reinos de Aragón y de Valencia y principado de Cataluña. Cortes de Cataluña V (Comprende la primera parte de las de 1405 a 1410). Madrid 1901, S. 249: com lo dit senyor Rey marit e senyor seu sia en lo Regne de Sicilia e per sa absencia se pertanga a ella lo ­carrech del regiment del Regne Darago […]. 26  Anna Maria Adroer i Tassis: El Palau de la reina Elionor. Un monument desaparegut. In: Lam­ bard. Estudis d’art medieval 6 (1991–1993), S. 247–264; zum (öffentlichen, privaten und ideellen) Raum der Herrscherinnen in der Krone Aragón zentral Claire Ponsich: L’espace d’une reine dans le palais. L’exemple de la Confédération catalano-aragonaise (fin XIVe–début XVe siècles). In: ­Marie-France Auzépy/Joël Cornette (Hg.): Palais et pouvoir. De Constantinople à Versailles. ­Paris 2003, S. 183–227; zum Palau Menor: S. 185 f., S. 189, S. 199 f., S. 211, S. 218, S. 223. 27  Anhang 2, Nr. 9. 28  Silleras-Fernández: Power (wie Anm. 23), S. 99–107.

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seiten der Statthalterin bis zu ihrem Tod im Jahr 1406 und der zusätzlichen ­ rnennung ihres Halbbruders Ferran López zum ihr beigeordneten Vizekönig E gelang jedoch keine Befriedung der Region. Erschwerend bei diesen Versuchen wirkte sich sicherlich die Tatsache aus, dass die Herrscherin selbst in die regio­ nalen Adelsnetzwerke eingebunden war und parteiisch agierte, also etwa das ­Geschlecht Centelles bevorzugte.29 Besonders ist die differenzierte Delegation der königlichen Macht hervorzuheben, die eine Art der Co-Delegation an Mitglieder der königlichen beziehungsweise einer mit ihr verschwägerten Dynastie zur Folge hatte. Im Vergleich mit den vorangehenden Fällen stellt das Beispiel Marias von Kas­ tilien eine Ausnahmeerscheinung dar, denn sie übernahm für insgesamt mehr als 30 Jahre die Vertretung ihres Gemahls Alfons, der ab 1430 von Sizilien aus Neapel eroberte und schließlich auch dort Hof hielt.30 Dennoch lassen sich Parallelen zwischen Maria und ihren Vorgängerinnen beobachten. Ähnlich wie Eleonore von Sizilien sah sich die Statthalterin vor allem mit der Aufgabe konfrontiert, Mittel für die Unternehmung in Süditalien bereitzustellen und diese logistisch zu unterstützen. Die personelle Konfiguration wiederum erinnert an Maria de Luna, denn ­neben Maria von Kastilien amtierte als bestallter Statthalter auch der Bruder Alfons’ V., König Johann von Navarra, der nach dessen Tod die Macht als Jo­ hann II. übernahm. Doch Johann agierte während Alfons’ Abwesenheit nicht un­ eigennützig, sondern verfolgte auch in der Krone Aragón eine eigene Agenda, wes­ halb sich der abwesende Herrscher gezwungen sah, die Balance zwischen den Kompetenzen seiner Gemahlin und denen seines Bruders zu erhalten. Doch nicht nur die Monarchen selbst beeinflussten das Kräfteverhältnis, auch vonseiten der Stände kam es wiederholt zu Forderungen nach der Rückkehr des Herrschers, der jedoch nicht auf dieses Ansinnen einging, sondern die Regierung in den Händen seiner Vertreter beließ. Die Statthalterschaft Marias war somit trotz des schwierigen Verlaufs die am längsten währende im Untersuchungszeitraum, allerdings justierte Alfons aufgrund der komplizierten Situation auf der Iberischen Halbinsel die Kompetenzen seiner Gemahlin und seines Bruders nach. Zugunsten Johanns wi­ derrief der Herrscher 1436 sogar die Vollmachten seiner Gemahlin; dieser Zustand währte freilich nur kurze Zeit.31 Wenngleich die Monarchen in ständigem Kon­ takt standen und Alfons V. überdies versuchte, Einfluss auf die überseeischen Ge­ schehnisse zu nehmen, so war das Verhältnis anders gelagert als im Fall Peters IV. und Eleonores von Sizilien, da die Statthalterin aufgrund der dauerhaften Abwe­ senheit ihres Gemahls wesentlich größere Handlungsspielräume hatte. Zwischen 29 

Ebd., S. 101. Ferran Soldevila: La Reyna Maria, muller del Magnànim. In: Memorias de la Real Academia de Buenas Letras de Barcelona 10 (1928), S. 213–347; Theresa Earenfight: The King’s Other Body. María of Castile and the Crown of Aragon. Philadelphia 2010, S. 41–130; Montserrat Toldrà ­Parés: La reina Maria, dona d’Alfons V el Magnànim: vida i obra de govern (1401–1458). Phil. Diss. masch. Barcelona 2013, online zugänglich unter: https://www.tdx.cat/handle/10803/131131 (letzter Zugriff am 10. 10. 2021). 31  Soldevila: Reyna (wie Anm. 30), S. 250. 30 

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Alfons und Maria entstanden jedoch über den konkreten politischen Problemen so starke Spannungen, dass diese letztendlich zum Verzicht der Statthalterin auf ihr Amt führten.32 Anders als ihre Vorgängerin Violante konnte Maria nicht als Witwe Einfluss auf die Politik nehmen, da sie nur wenige Monate nach ihrem Ge­ mahl verstarb. Als letzte hier zu behandelnde Königin führte Juana Enríquez für ihren Ge­ mahl Johann II. die Regierungsgeschäfte im 1462 ausgebrochenen Katalanischen Bürgerkrieg und während des Gegenkönigtums der Prätendenten Heinrich IV. von Kastilien (verzichtet 1463) und Peter von Portugal († 1466) sowie kurzzeitig René von Anjou (nur 1466).33 Dieser Konflikt entsprang im Wesentlichen den so­ genannten mals usos, den Missbräuchen der Grundherren gegenüber den Bauern (wie unter anderem der Remença, also dem Freikauf von Verpflichtungen), deren Annullierung schon während der Regierungszeit Alfons’ V. zwar intensiv, aber erfolglos verhandelt worden war und bereits zu diesem Zeitpunkt zu handfesten Konflikten geführt hatte.34 Juana Enríquez verstarb noch während des Konfliktes im Jahr 1468 und konnte somit nicht zu dessen Lösung beitragen.

Ernennungen Statthalterschaften lassen sich in der Krone Aragón ab dem 13. Jahrhundert nach­ weisen, wobei die königlichen Statthalter keineswegs die einzigen Inhaber dele­ gierter Autorität waren.35 Ähnlich wie in anderen Reichen stellte die Übertragung spezieller oder allgemeiner Kompetenzen auch hier ein grundlegendes Charakte­ ristikum der königlichen Verwaltung dar. Eine Besonderheit bildet allerdings die umfangreiche Quellenbasis, die es gestattet, die Attribuierung dieser Funktionen und eventuell zu beobachtende Entwicklungen detailliert nachzuvollziehen. Dazu gehört nicht zuletzt die formale Übertragung der Kompetenzen an die Statthalte­ rinnen und Statthalter. Die Kenntnis von deren diplomatischen und inhaltlichen Charakteristika sind für das Verständnis des Phänomens notwendig und sollen daher im Folgenden in drei Punkten – diplomatische Charakteristika der Ernen­ nungen, verwendete Terminologie und Registrierung sowie die verliehenen Kom­ petenzen – umrissen werden.36 32 

Earenfight: Body (wie Anm. 30), S. 123–130. zu ihr nach wie vor Nuria Coll-Julià: Doña Juana Enríquez. Lugarteniente Real en Cataluña (1461–1468). 2 Bde. Madrid 1953. 34 Dazu Santiago Sobrequés i Vidal/Jaume Sobrequés i Callicó: La guerra civil catalana del segle XV. 2 Bde. Barcelona 1973, hier: Bd. 1, S. 11–37; Earenfight: Body (wie Anm. 30), S. 102–130. 35  Die nach wie vor detaillierteste Untersuchung zu den Mechanismen und zur Reichweite einer Statthalterschaft am Beispiel des Infanten Peter (Onkel König Peters IV. und Graf von Prades) in der Krone Aragón ist die leider unpublizierte Untersuchung Beauchamp: Gouverner (wie Anm. 18); siehe auch Roebert: Königin (wie Anm. 17), S. 303–408, zum Fallbeispiel Eleonore von Sizilien. 36 Zum Inhalt der Ernennungen frühneuzeitlicher, institutionalisierter Statthalterschaften siehe Jesús Lalinde Abadía: La institución virreinal en Cataluña (1471–1716). Barcelona 1964, S. 61–63. 33  Grundlegend

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Diplomatische Charakteristika Das hier zu betrachtende Korpus umfasst insgesamt 13 Ernennungen für fünf Herrscherinnen sowie zwei Privilegien, die jeweils eine der Vollmachten ergänz­ ten oder präzisierten.37 Im Wesentlichen setzt sich die Überlieferung aus Register­ abschriften zusammen, lediglich zwei der Urkunden sind als mundierte Exemplare überliefert.38 Damit stützt sich die Überlieferung auf Abschriften, die vermutlich seit der Regierungszeit Peters IV. auf die ausgefertigten und daher vollständigen Fassungen der Privilegien zurückgehen.39 Typologisch handelt es sich bei den Ernennungen entweder um einfache, das heißt zeitlich befristete Privilegien sowie in einem Fall um ein Mandat (An­ hang 2, Nr. 8), deren Formular dem üblichen Schema der aragonesischen Urkun­ den folgt.40 Im ersten Fall waren die Herrscherinnen selbst die Empfängerinnen, während das Mandat die aragonesischen Beamten und Untertanen adressiert und über die Kompetenzen der jüngst ernannten Statthalterin informiert.41 Eine abs­ trakte Begründung der Regierungsbeteiligung erfolgte lediglich in zwei Fällen, womit sich die Tendenz zur seltenen Aufnahme der Arenga als theoretisch re­ flektierender Passus in den aragonesischen Herrscherurkunden  – auch in grund­ legenden Dokumenten – an diesem Beispiel bestätigt.42 Umfang­reicher ist die Narratio mit der Begründung für die Übertragung der Vollmachten gestaltet, die lediglich in zwei Fällen fehlt.43 Bisweilen fällt diese sehr konkret aus und spezifi­ ziert das Regierungsgeschäft, das die Ernennung motivierte. In drei Fällen wird jedoch nur allgemein auf die Abwesenheit des Herrschers verwiesen, die seine Vertretung vor Ort notwendig machte.44 Auf die Narratio folgt die Bevollmäch­ 37  Siehe

Anhang 2. Im Folgenden werden die Ernennungen unter Angabe der Nummern gemäß der Auflistung im Anhang zitiert. 38  Anhang 2, Nr. 6 und Nr. 7. 39 Festlegung in der Hofordnung Peters IV.; siehe Ordinacions de la Casa i Cort de Pere el ­Cerimoniós. Hg. von Francisco M. Gimeno Blay/Daniel Gozalbo/Josep Trenchs. Valencia 2009, S. 123; siehe dazu auch Acta Aragonensia. Quellen zur deutschen, italienischen, französischen, spanischen, zur Kirchen- und Kulturgeschichte aus der diplomatischen Korrespondenz Jay­ mes II. (1291–1327). Hg. von Heinrich Finke. 3 Bde. Berlin/Leipzig 1908–1922, hier: Bd. 1, S. CXX–CXXII. 40  José Trenchs/Antonio María Aragó: Las cancillerías de la Corona de Aragón y Mallorca desde Jaime I a la muerte de Juan II. Zaragoza 1982, S. 62. 41  Das aragonesische Formelbuch aus dem späten 14. Jahrhundert führt ein Beispiel zur Ernen­ nung des Thronfolgers zum allgemeinen Prokurator (der nicht deckungsgleich mit dem Statthal­ ter war) an, in dem ebenfalls die Beamten als Empfänger des Privilegs genannt werden; Mariano Usón Sesé: Un formulario latino de la Cancillería real aragonesa (siglo XIV). In: Anuario de His­ toria del Derecho Español 6 (1929), S. 329–407, hier: Nr. LIII, S. 375. 42  Anhang 2, Nr. 5 und Nr. 14. Vgl. dazu Beauchamp: Gouverner (wie Anm. 18), S. 516  f. mit den Hinweisen in Anm. 2086 zum Forschungsstand über die Arengen in den aragonesischen Herr­ scherurkunden, die grosso modo nach wie vor gelten können. Das aragonesische Formelbuch beinhaltet in der Ernennung des Thronfolgers zum allgemeinen Prokurator ebenfalls eine A ­ renga; Usón Sesé: Formulario (wie Anm. 41), Nr. LIII, S. 375. 43  Übersicht in Anhang 3. 44  Anhang 3, Nr. 4, Nr. 8, Nr. 14.

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tigung mit der Auflistung der konkreten Kompetenzen, die im dritten Schritt diskutiert werden. Daran schließen sich verschiedene Klauseln an, mit denen die Gültigkeit von durch die Statthalterin getroffenen Entscheidungen garantiert werden sollte. Zu­ nächst sicherte der Aussteller zu, alle Maßnahmen zu respektieren, wobei hier in vielen Fällen die königlichen Güter als Sicherheit gestellt wurden; außerdem konnte ein Schwur auf die Evangelien geleistet werden. Zusätzlich erging in den meisten Fällen ein expliziter Befehl an verschiedene Beamte (einschließlich des Rates und der Kanzlei), die Anordnungen der Statthalterin genauso zu befolgen, als ob sie vom König selbst kämen.45 Dieser Passus differiert in der hierarchisch geordneten Aufzählung der Beamten beträchtlich, lässt aber eine Tendenz zur ­Erweiterung der erwähnten Funktionen erkennen, ohne dass diese stringent wäre. In diesem Passus wird wenigstens teilweise die aktuelle Lage zum Zeitpunkt der Ausstellung reflektiert, wenn etwa in zwei Fällen der Text explizit den Thron­ folger erwähnt, der ebenfalls an der Regierungstätigkeit beteiligt war und daher in das soziale Gefüge der Monarchie, die als kooperative Institution aus Herrscher und Herrscherin zu verstehen ist, eingebettet werden musste.46 Die Unterschrift am Ende des Kontexts trugen entweder der Herrscher selbst oder der Kanzler re­ spektive der Regens der Kanzlei ein.47 Der Beurkundungsbefehl erging, soweit er in den Registern erfasst wurde, im­ mer durch den König direkt.48 In einigen Fällen wurden zudem Würdenträger aus der unmittelbaren Umgebung des Herrscherpaares genannt, die an der Abfassung der Dokumente beteiligt waren und diese teilweise korrigierten oder sichteten.49 Im Fall von Maria de Luna bestanden offenbar rechtliche Vorbehalte gegen die Ernennung, ungeachtet derer der Vizekanzler ihre Expedition befahl.50 Der direk­ te Befehl belegt die Entscheidungsfindung durch die Monarchen selbst, die aber im Zusammenspiel mit den Räten erfolgte, die offenbar im Vorfeld mit ihnen über die zu übertragenden Kompetenzen diskutieren und über diese mit entscheiden 45 

Die Anweisung fehlt in Anhang 2, Nr. 4, Nr. 7, Nr. 8, Nr. 14. Anhang 2, Nr. 5, Nr. 15. 47  König: Anhang 2, Nr. 2, Nr. 7, Nr. 8, Nr. 10–14; Kanzler: Anhang 2, Nr. 4–6; Regens der Kanz­ lei: Anhang 2, Nr. 9. In den übrigen Ernennungen fehlt die Unterschrift (Anhang 2, Nr. 1, Nr. 3, Nr. 15). Zur Unterschriftspraxis gemäß der Hofordnung siehe Ordinacions (wie Anm. 39), S. 123. 48 In Anhang 2, Nr. 1 und Nr. 8 fehlt der Beurkundungsbefehl, die Editionen von Anhang 2, Nr. 10 und Nr. 12 verzeichnen ihn nicht; Cortes de los antiguos reinos de Aragón y de Valencia y Principado de Cataluña. Cortes de Cataluña XIII (Comprende las Cortes de Tortosa y Barcelona de 1421–1423). Madrid 1909, S. 88; Cortes de los antiguos reinos de Aragón y de Valencia y Prin­ cipado de Cataluña. Cortes de Cataluña XX (Comprende las Cortes de Barcelona de 1436–37. Apéndice. Parlamento de Barcelona de 1438. Cortes de Tortosa de 1439, y de Lérida de 1440). Madrid 1914, S. 434. Zum Beurkundungsbefehl mit weiterer Literatur Roebert: Königin (wie Anm. 17), S. 95–106; zur Übermittlung Trenchs/Aragó: Cancillerías (wie Anm. 40), S. 83–99. 49  Anhang 2, Nr. 5 und Nr. 6 mit Verweis auf das Diktat durch den königlichen Kanzler, Vize­ kanzler, Protonotar sowie den reginalen Schatzmeister; Anhang 2, Nr. 14 mit Verweis auf Vorlage vor dem königlichen Generalprokurator, dem Mestre Racional sowie dem Schatzmeister. 50  Anhang 2, Nr. 9. 46 

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konnten. Hervorzuheben ist, dass die Besiegelung unterschiedlich war: Es lassen sich insgesamt drei verschiedene Typen finden. Das üblicherweise verwendete Sie­ gel war das anhängende, das heißt das sigillum commune.51 In einigen Fällen kam aber auch entweder das Sekretsiegel52 oder das Majestätssiegel53 zum Einsatz. Be­ sonders exzeptionell scheint die Lage zum Zeitpunkt der alleinigen Bevollmächti­ gung Marias von Kastilien im Jahr 1438 gewesen zu sein, denn in diesem Moment war nur das gemeine sizilianische Siegel zur Hand, das dann in Ermangelung eines besser passenden zum Einsatz kam.54 Dieser Befund ist frappierend, da in der stark formalisierten aragonesischen Kanzlei üblicherweise die Siegel nur für ­bestimmte Urkundentypen verwendet wurden. Alles in allem lässt sich bei den Ernennungen zwar eine gewisse Präferenz für das königliche „Standardsiegel“ konstatieren, es kam aber keineswegs exklusiv zum Einsatz. Weitere Differenzen betreffen ebenfalls die Beglaubigung. Aragonesische Herrscherurkunden bezie­ hungsweise konkreter formuliert die Privilegien wiesen als Beglaubigungsmittel zusätzlich zu den Siegeln ein Monogramm des Ausstellers oder der Ausstellerin, eine Nennung von Zeugen sowie eine notarielle Beglaubigung, die in ihrer Ge­ samtheit auf den feierlicheren Charakter der Urkunden verweisen, auf. Von allen hier vorgestellten Dokumenten zeigen lediglich sechs alle drei zusätzlichen Beglaubigungsmittel,55 während ein weiteres zwar Monogramm und Notarssignet aufweist, für seine Ausstellung aber keine Zeugen herangezogen wurden.56 Die diplomatischen Charakteristika lassen somit keine einheitliche Gestaltung erken­ nen, obwohl entsprechende Modelle für die Ernennungen von königlichen Ver­ tretern zweifellos vorlagen. Die Verwendung des sizilianischen Siegels könnte für eine teilweise hastige Ausstellung sprechen, wenngleich die Beurkundungsbefehle einiger Ernennungen die sorgfältige Erwägung der Kompetenzen im unmittelba­ ren Umkreis der Herrscher bezeugen. Terminologie und Registerserien Um die Ernennungen beurteilen zu können, ist überdies ein Blick auf die in ihnen verwendete Terminologie für die Bezeichnung der Statthalterschaft sowie die Re­ gisterserien, in denen sie verzeichnet wurden, zu werfen. Die Bevollmächtigungen benennen die Statthalterin an mindestens zwei Stellen, wobei auch in einzelnen 51  Anhang 2, Nr. 6, Nr. 9, Nr. 12, Nr. 14, Nr. 15; das sizilianische Anhang 2, Nr. 13; anhängendes Siegel Anhang 2, Nr. 3 und Nr. 10; ohne Angabe die Ernennung aus dem Jahr 1296. Zu den in der aragonesischen Kanzlei verwendeten Siegeltypen Trenchs/Aragó: Cancillerías (wie Anm. 40), S. 24, S. 36, S. 49 f., S. 63 f., S. 72. 52  Anhang 2, Nr. 2, Nr. 8, Nr. 11. 53  Anhang 2, Nr. 4–6. 54  Anhang 2, Nr. 13: In cuius rei testimonium hanc fieri iussimus nostro sigillo comuni negociorum Sicilie ultra farum cum alia sigilla impresenciarum non habeamus impromptu inpendenti muni­ tam. 55  Anhang 2, Nr. 3–6, Nr. 9, Nr. 10, Nr. 12, Nr. 15. 56  Anhang 2, Nr. 14.

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Dokumenten unterschiedliche Begrifflichkeiten zum Einsatz kamen. Zum einen werden bei der Verfügung der Übertragung selbst in Verbindung mit einem dis­ positiven Verb die entsprechenden Termini genannt; zum anderen werden die Vollmachten in späteren Passagen wiederholt beziehungsweise dem bestehenden Katalog weitere Punkte hinzugefügt. Einheitlich denominieren die Ernennungen die königlichen Vertreterinnen neutral als locum tenens generalis, wenngleich das Attribut in der Mitte des 14. Jahrhunderts noch nicht konsequent Eingang fand. Die einzige wirklich abweichende Formulierung weist das in Anhang 2 genannte Dokument Nr. 1 auf, in dem Jakob II. festlegte, Blanche von Anjou solle über ­seine Vollmachten in der höchsten Appellationsinstanz verfügen und seinen Platz in dieser Funktion einnehmen – gerat vices nostras et teneat locum nostrum. Die Formulierung als grammatisches Objekt im Sinne von „sie soll unseren Platz ein­ nehmen“ findet sich auch in folgenden Texten, wenngleich nicht direkt in dem Passus, der die Übertragung formuliert, sondern in den konkreten Vollmachten. Zudem beinhalten die Urkunden noch weitere Bezeichnungen, mit denen die Funktion der Herrscherin als Vertreterin bezeichnet wurde. Besonders üppig fällt die Ernennung Eleonores von Sizilien aus dem Jahr 1364 aus, die neben locum ­tenens mit weiteren Funktionen versehen wurde.57 Die verschiedenen Termini be­ zeichnen keine Synonyme, sondern unterschiedliche Aspekte in der Verwaltung.58 So stellte der gubernator in der Krone Aragón einen in der regionalen Verwaltung tätigen Funktionär dar. Demgegenüber erfüllte ein Prokurator einen konkreten Auftrag, wie noch zu zeigen sein wird. Der letzte genannte Terminus administra­ trix wurde hingegen für jemanden verwendet, der in der Funk­tion als Vormund für den Erstgeborenen (teilweise auch nachgeborene Söhne) agierte, in der auch Pe­ ter IV. selbst in diesem Dokument auftrat. Später findet sich diese Vielfalt nicht mehr, sondern nur noch die Formulierung locum tenens. Besonders ist hervorzu­ heben, dass ­Peter IV. hier den Vorrang der Empfängerin vor allen anderen königli­ chen Funk­tionsträgern betonte. An erster Stelle der Hierarchie sollte sie pre aliis nostris loca tenentibus stehen.59 Demzufolge war die Statthalterin in ihrer Funk­ tion nicht a­ llein, sondern teilte sich die königliche Vertretung, rangierte aber vor allen anderen an der Regierung beteiligten Akteuren.60 Eine interessante Formu­ lierung ­bietet auch die Ernennung Marias von Kastilien aus dem Jahr 1438, die explizit die direkte Verkörperung des Herrschers durch die Gemahlin hervor­ hebt.61 Nicht nur diese Ernennung weist der Statthalterin somit eindeutig die Ver­ tretung im Sinne der Repräsentation zu, also eine persönliche Vergegenwärtigung 57  Anhang 2, Nr. 5: locum tenentem nostrum, gubernatricem et procuratricem generalem sowie ut generalem locum tenentem nostram sive ut generalem gubernatricem, procuratricem et adminis­ tratricem; zu diesem Fallbeispiel Roebert: Nominations (wie Anm. 10), S. 188 f. 58  Zu den verschiedenen Funktionen Roebert: Königin (wie Anm. 17), S. 303–305 mit bibliografi­ schen Hinweisen auf die verschiedenen Ämter. 59 Anhang 2, Nr.  5, wiederholt in Anhang 2, Nr. 6; siehe dazu Roebert: Nominations (wie Anm. 10), S. 192. 60  Heckmann: Stellvertreter (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 655  f. 61  Anhang 2, Nr. 13: generalem locumtenentem nostram nos ipsum inmediate representantem.

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der Figur des Königs und dessen Inkarnation in alltäglichen Situationen.62 Von den übrigen Dokumenten weicht die Ernennung der Juana Enríquez aus dem Jahr 1462 ab, da Johann II. seine Gemahlin nicht zur Statthalterin, sondern zur Prokuratorin für die Verhandlungen mit Kastilien ernannte.63 Ungeachtet der klar umrissenen Vollmacht, nach der Juana Enríquez nicht als Statthalterin agierte, verweist die Urkunde ebenfalls auf die Repräsentation des Herrschers als alter nos und seiner Person. Neben der Untersuchung der Terminologie ist danach zu fragen, ob die zeitge­ nössische Einordnung der Texte in die Register beziehungsweise deren Serien et­ was über die Vorstellungen von der Statthalterschaft aussagt. Die zeitgenössische Sortierung der Register bildete sich spätestens ab der Mitte des 14. Jahrhunderts heraus, da zu diesem Zeitpunkt ein Archivar für das königliche Archiv berufen und dieses wenig später mit einer Ordnung versehen wurde.64 Schon in diesem Moment pflegte man die in der Kanzlei erstellten Register in verschiedene Serien zu gruppieren, die im Vergleich mit der Ordnung des Vatikanischen Archivs we­ sentlich komplexer ausfiel. Während der Regierungszeit Peters IV. gliederte sich der Registerbestand in immerhin 45 Serien, deren Aufbau eine effizientere Ver­ waltung beziehungsweise einen effizienteren Zugriff auf deren Dokumentation garantieren sollte.65 Bei der Untersuchung der Register ist neben der inhaltlichen Zuordnung zu beachten, ob die Einträge in den Registern des Ausstellers oder der Empfängerin verzeichnet wurden. Am häufigsten begegnet unter den Ernennungen die Serie „Curiae“ mit vier Einträgen.66 In dieser Serie wurden alle Aspekte erfasst, die mit der Organisation des Hofes in Verbindung standen. Eine der Ernennungen, die mit dem Sekretsie­ gel beglaubigt wurde, lässt sich dieser ebenfalls thematisch zuordnen, wenngleich für diese eine eigene Serie „Curiae sigilli secreti“ existiert.67 Der inhaltlichen Ver­ zeichnung nach der Besiegelung ist in diesem Fall aber der Vorzug vor der forma­ 62  Alexandra Beauchamp definiert dies als zentrales Element der Vertretung; Beauchamp: Lieute­ nants (wie Anm. 7), S. 46 f.: „En droit, suivant la double acception du terme ‚lieutenant‘, ils sont individuellement un autre lui-même, tiennent le lieu du roi, mais tiennent aussi lieu de roi, durant son séjour hors de la couronne d’Aragon, dans ses lointaines périphéries ou lorsque la maladie l’empêche de gouverner. Ils sont en outre les représentants de sa personne et, par leur présence et leur action, ils doivent incarner la royauté dans le quotidien du pouvoir royal, c’est-à-dire la rendre vivante, visible et même audible“; siehe auch ebd., S. 57. 63  Anhang 2, Nr. 14 (Coll-Julià: Doña Juana Enríquez [wie Anm. 33], Bd. 2, S. 388): procuratri­ cem certam specialem et ad infrascripta generalem et alteram nos ac personam nostram represen­ tantem. 64  Trenchs/Aragó: Cancillerías (wie Anm. 40), S. 66  f. 65  Zu den Serien ebd., S. 32  f., S. 46 f., S. 62, S. 72; Federico Udina Martorell: Guía histórica y de­ scriptiva del Archivo de la Corona de Aragón. Madrid 1986, zur Entwicklung der Registerbestän­ de, S. 184–187, detaillierte Übersicht der Registerserien auf S. 187–205. Die hier verzeichnete Sor­ tierung geht auf das 19. Jahrhundert zurück und ist zumindest in Teilen zu korrigieren; vgl. dazu am Beispiel Eleonores von Sizilien Roebert: Königin (wie Anm. 17), S. 84–90. Im maschinen­ schriftlichen Inventar im Kronarchiv Barcelona wurden diese bereits verzeichnet. 66  Anhang 2, Nr. 3, Nr. 4, Nr. 14, Nr. 15; siehe dazu auch Anhang 4. 67  Anhang 2, Nr. 11.

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len Zuordnung zu geben. Zwei der Eintragungen wurden in „Officialium“ vorge­ nommen, in die die Ernennungen von Beamten Eingang fanden.68 Die Ernennung der Blanche von Anjou findet sich in einem Register, das die Vorbereitung und Durchführung der Reise Jakobs II. nach Rom dokumentiert und daher inhaltlich direkt mit diesem Band – der freilich im Archiv als eigene Serie klassifiziert wur­ de – verbunden ist.69 Eine vierte hier auftretende Kategorie „Sigilli secreti“ ver­ zeichnet üblicherweise die mit dem Sekretsiegel beglaubigte Korrespondenz der Herrscher, die durch die Sekretäre und damit nicht regulär in der Kanzlei erfasst wurde. Insgesamt finden sich zwei Dokumente dieses Typs, für die ein Zusam­ menhang zwischen der Registerserie und dem Inhalt des Dokuments nicht sofort ersichtlich ist.70 Doch auch die übrigen Ernennungen bilden eine Gruppierung, aus der der inhaltliche Zusammenhang zwischen Serie und Dokument nicht unmittel­bar deutlich wird.71 Einen Sonderfall stellt abermals das Mandat von 1374 dar.72 Im Gegensatz zu den übrigen Dokumenten ist es nicht nur ein-, sondern zweimal verzeichnet. Einer der beiden Einträge wurde nachträglich vorgenom­ men, was daraus ersichtlich wird, dass der entsprechende Text die übliche chrono­ logische Reihung des Bandes durchbricht.73 Dies ist umso erstaunlicher, als dieses Register als Novum ausschließlich Dokumente verzeichnet, die durch eine Köni­ gin – in diesem Fall Eleonore von Sizilien – als Statthalterin ausgestellt wurden. Demzufolge könnte man erwarten, dass dieses Mandat dem Band prominent vo­ rangestellt worden wäre, um die Legitimation der Vertreterin zu bekräftigen und dessen thematische Ausrichtung zu betonen. Offenbar erachtete man die Eintra­ gung im korrespondierenden Register aber dennoch für notwendig, ohne dies bei dessen Anlage für unverzichtbar zu erachten. Drei der Dokumente finden sich nicht in den Registern des Ausstellers, sondern in denen der Empfängerinnen.74 Möglicherweise erfolgte die Verzeichnung in diesen Fällen aufgrund der schnellen Expedition oder aber auch, um die Legitimität der Amtsträgerin zu erhöhen. Al­ les in allem ist lediglich in gut der Hälfte der Fälle eine Registrierung gegeben, die inhaltlich auf die Delegation hindeutet. Damit ergeben diese beiden Indikatoren 68  Anhang 2,

Nr. 5 und Nr. 9. Damit kann Luis de Puig nicht als erster allgemeiner Statthalter gelten, der in der Serie „Officialium“ verzeichnet war; siehe Jesús Lalinde Abadía: Virreyes y lugartenientes medievales en la Corona de Aragón. In: Cuadernos de la Historia de España 31– 32 (1960), S. 98–172, hier: S. 163. 69  Anhang 2, Nr. 1. 70  Anhang 2, Nr. 2 und Nr. 8. 71  Anhang 2, Nr. 12 und Nr. 13. Eine Sonderstellung nimmt Anhang 2, Nr. 6 ein, da hier nicht die Delegation zentral ist, sondern die Bevollmächtigung für den Verkauf beziehungsweise die Ver­ pfändung von Krongütern. Daher ist die Registrierung inhaltlich kohärent. 72  Anhang 2, Nr. 8. 73 ACA, Canc., Registre 1584, fol. 70v. Die Eintragungen davor und danach datieren vom 30. beziehungsweise 31. 1. 1375 und wurden damit jeweils anderthalb Monate nach der Ernennung ausgestellt. Eine gelegentliche chronologische Abweichung von wenigen Tagen stellt keine Be­ sonderheit dar, aber in diesem Fall lässt sich die Reihung nur mit einem Nachtrag erklären. Der zweite Registereintrag in ebd., Registre 1582, fol. 110r, fügt sich demgegenüber in die chronologi­ sche Reihung des Bandes ein. 74  Anhang 2, Nr. 7 Nr. 8 (dazu oben zu Anm. 70 und Anm. 71), Nr. 10.

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einen uneinheitlichen Befund. Die Denomination der Herrscherin als Statthalterin in der lateinischen und volkssprachlichen Form etablierte sich rasch und blieb sta­ bil, wenngleich einige der Ernennungen zusätzliche Bezeichnungen inkorporier­ ten. Damit weisen die Ernennungen der Herrscherinnen im Vergleich mit männ­ lichen Vertretern in dieser Hinsicht keine Besonderheit auf. Anders verhält es sich bei der Registrierung, denn hier zeigen sich große Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Ernennungen; somit waren für die Zeitgenossen die Statthalter­ schaften von Herrscherinnen konzeptionell beziehungsweise typologisch mögli­ cherweise nicht eindeutig einzuordnen. Vollmachten Die größten Unterschiede zeigen sich nicht bei den formalen Kriterien der Er­ nennungen, sondern in inhaltlicher Hinsicht, denn der Umfang der verliehenen Kompetenzen wich beträchtlich voneinander ab, wodurch der Umfang der Regis­ tereinträge zwischen nur wenigen Zeilen bis hin zu neun Folioseiten schwankt. Zunächst werden die Gründe der Abwesenheit des Herrschers dargelegt und da­ ran schließt sich die konkrete Aufzählung der an die Vertreterin übertragenen Kompetenzen an. Sie reichen von einer Übertragung der Autorität, ohne dabei konkrete Aspekte zu nennen, bis hin zu einem Katalog mit detaillierter Auflis­ tung der einzelnen Vollmachten. Der Umfang der übertragenen Kompetenzen wuchs im Verlauf der Zeit tendenziell an, wenngleich dieser Trend nicht linear verlief. Im Dokument lassen sich diese einfach identifizieren, da sie mit Possitis eingeleitet werden und auf diese Weise die Dispositio wesentlich strukturieren,75 was auch in anderen Statthalterschaften der Krone Aragón in dieser oder ähn­ licher Weise zu beobachten ist.76 Jeder der genannten Punkte definiert zwar ein ­eigenes Kriterium, allerdings überschneiden sich deren Inhalte gelegentlich. Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte kurz umrissen, ohne dass dabei auf­ grund der komplexen Struktur auf jeden einzelnen eingegangen werden kann. 75 

Als Beispiel möge die Vollmacht zur Übernahme von Lehen aus der ersten Ernennung Marias von Kastilien dienen (Anhang 2, Nr. 11, Cortes XIII [wie Anm. 48], S. 85): possitis eciam potesta­ tes castrorum et locorum aliorum quorumlibet que pro nobis tenentur in feudum petere, recipere et habere ac peti et recipi facere et tenere et illas restituere jure Nostro servato et de ac super feudis et juribus nostris ipsorum feudorum inquirere et inquiri facere et ad hec judices delegare et subdele­ gare quociens vobis videbitur faciendum. Dieses Recht findet sich in ähnlicher Form bereits in der Ernennung von Maria de Luna und zudem in der letzten Ernennung Marias von Kastilien (Anhang 2, Nr. 9, Nr. 13). Damit weisen die Bevollmächtigungen der Herrscherinnen eine be­ grenztere lexikalische Breite auf als andere vergleichbare Texte; vgl. etwa die Vikariatsurkunde Karls II. zugunsten von Galeazzo II. Visconti, in der ebenfalls dispositive Verben den Text struk­ turieren, aber in einer größeren Vielfalt zum Einsatz kommen; siehe Heckmann: Stellvertreter (wie Anm. 11), Bd. 2, Nr. 2, S. 839–844. 76  Die Ernennung des Infanten Peter im Jahr 1345 (Beauchamp: Gouverner [wie Anm. 18], An­ nexe IV-4, S. 554 f.) verwendet die gleiche Form, während die Ernennung des Jahres 1354 (ebd., Annexe IV-10, S. 571–577) mit der Verwendung der 3. Person Singular grammatisch leicht davon abweicht, aber strukturell gleich gegliedert ist.

128

Sebastian Roebert

In den ersten Ernennungen standen die juristischen Kompetenzen im Vorder­ grund, die allerdings schnell um weitere Aspekte erweitert wurden. Blanche von Anjou sollte konkret als oberste Appellationsinstanz fungieren, wobei sich ­Jakob II. die Entscheidung in Streitigkeiten zwischen dritten Parteien und der Krone selbst vorbehielt.77 Da die Herrscherin hier nicht mit einer umfassenden, sondern einer ganz konkreten Vollmacht versehen wurde, lässt sich diese Er­ nennung inhaltlich eher als Prokuration denn als Statthalterschaft klassifizieren, ähnlich wie die ausdrückliche Beauftragung von Juana Enríquez, mit Kastilien zu verhandeln.78 Einen rapiden Umbruch brachten die Ernennungen Eleonores von Sizilien mit sich. In der ersten aus dem Jahr 1358 waren ebenfalls die jurisdiktio­ nellen Kompetenzen zentral,79 während die folgenden diese signifikant erweiter­ ten. Dabei wurden die Vollmachten in den beiden nächsten Privilegien formuliert, ohne konkrete Punkte zu benennen, während sich ab 1364 die oben skizzierte Form, die einen detaillierten Katalog beinhaltete und die möglicherweise modell­ haft für die späteren Ernennungen war, etablierte. Die Anzahl der genannten Punkte bewegt sich zwischen 2 und 33.80 Zentral war nicht nur in den ersten, sondern auch später in den meisten Fällen die Rechtsprechung, deren Pflege bisweilen auch als Motivation für die Delega­ tion benannt wurde. Entscheidend für die Organisation der Unternehmungen des abwesenden Herrschers war die Verfügungsgewalt über die Besitzungen der Krondomäne, in denen die Statthalterinnen freie Hand für deren Verwaltung und – wichtiger noch – für deren Verpfändung oder sogar deren Verkauf erhielten. Die Bereitstellung der Mittel aus diesen beiden Quellen leistete einen grundlegenden Beitrag für die Finanzierung der kriegerischen Anstrengungen und kann daher neben der Ausübung der Gerichtsbarkeit als Kernelement der statthalterlichen Kompetenzen gelten. In beiden Feldern erhielten die Vertreterinnen zudem die komplette Verfügungsgewalt über die jeweiligen Amtsträger. Darüber hinaus stellte die Möglichkeit, die Corts einzuberufen und durchzuführen und dort alle möglichen Entscheidungen auszuhandeln, eine wichtige Kompetenz dar. Zudem wurde in einigen Fällen das Recht auf die Einberufung des Heeresaufgebots ver­ liehen. Im 15. Jahrhundert erhielten die Herrscherinnen zudem die Vollmacht, eigen­händig von der Kanzlei ausgestellte Schreiben zu unterfertigen beziehungs­ weise alle Urkunden wie der Herrscher selbst auszustellen.81 Besonders diese Be­ stimmung überrascht, da die Regierungstätigkeit doch eigentlich die Handhabung der Kanzlei implizieren sollte. Singulär ist das Recht, Maßnahmen gegen andere 77 

Anhang 2, Nr. 1, siehe auch oben. Anhang 2, Nr. 14. 79  Anhang 2, Nr. 2. 80  Anhang 2, Nr. 2 mit 2 Berechtigungen; Anhang 2, Nr. 4, Nr. 8: 3; Anhang 2, Nr. 3, Nr. 5: 5; Anhang 2, Nr. 18: 12; Anhang 2, Nr. 11: 24; Anhang 2, Nr. 15: 32; Anhang 2, Nr. 9: 33. 81 Anhang 2, Nr. 9, Nr. 10, Nr. 12, Nr. 13. Beispielhaft in Anhang 2, Nr. 10 (Cortes XIII [wie Anm. 48], S. 84): possitis eciam propria manu vestra subscribere in cartis et litteris in quibus Nos fuimus scribere assueti et firmare racione dominii in instrumentis quibus expediverit Nostris juri­ bus semper salvis. Der Vorbehalt der Rechte fehlt in Anhang 2, Nr. 12. 78 

Die weibliche Stellvertretung in der Krone Aragón (13.–15. Jahrhundert)

129

Herrscher ergreifen sowie mit diesen Verträge schließen zu können, das allein Maria de Luna zugesprochen wurde.82 Da die Verleihung der Kompetenzen auf das Königreich València beschränkt war, transzendiert diese für die gesamte Kro­ ne gültige Bestimmung diese Begrenzung. Ebenfalls nur ein einziges Mal findet sich das Recht zur Errichtung von Märkten und Mühlen sowie Backöfen, das Maria von Kastilien zugesprochen wurde.83 Insgesamt zeigt die Struktur und ­ ­Verwendung dieses Passus, dass es sich bei den konkreteren Formulierungen, die besonders in den späteren Ernennungen umfangreicher ausgeführt wurden, viel­ leicht eher um Klarstellungen handelte denn um prinzipielle Vollmachten, die man auch unspezifischer hätte formulieren können, wie dies in früheren Ernen­ nungen der Fall gewesen war. Weitere der genannten Rahmenbedingungen betreffen die zeitliche und räum­ liche Eingrenzung der Vollmachten. Die Gültigkeitsdauer der Statthalterschaft wurde nur in sechs Fällen eingeschränkt, während in allen anderen Ernennungen keine zeitliche Begrenzung vorgenommen wurde. Dreimal wird im Text die Dauer der Abwesenheit des Herrschers genannt,84 wobei allerdings unklar ist, warum diese ausdrücklich hervorgehoben werden musste, da sie als Voraussetzung für die Delegation unabdingbar erscheint. In zwei weiteren Fällen sollte die Statthalterin bis auf Widerruf durch den Aussteller und in einem anderen für die Dauer der von den Corts bewilligten Kontributionen im Amt bleiben,85 womit sich mit Blick auf die zeitliche Eingrenzung eine vergleichsweise große Spannbreite fin­ det.86 Der geografische Geltungsbereich wurde in fünf Fällen eingegrenzt,87 wäh­ rend in drei weiteren Ernennungen sämtliche Territorien der Krone Aragón be­ nannt wurden.88 Damit handelt es sich bei letzteren um eine Bekräftigung und nicht um eine Begrenzung. Alle übrigen Ernennungen nahmen in dieser Hinsicht 82  Anhang 2,

Nr. 9 (ACA, Canc., Registre 2223, fol. 74r): Possitis preterea quoscumque reges et principes communia et tirannos et alios quoslibet presidentes et iuridictionem exercentes quas­ cumque pro actibus tam iustitie quam aliis quibuscumque requirere et in eorum deffectus[?] re­ presalias atque marchas concedere contra eos et subditos eorundem coniunctim vel divisim cum de iure, foro vel consuetudine firmiter concedende [sic] mandare et concedere quod tales represalie sive marche executorie[?] mandentur. Possitis ulterius si opus fuerit cum regibus aut aliis princibi­ bus et domini tam christianis quam saracenis de guerris factis aut motis, faciendis vel movendis concordiam atque pacem facere et firmare et treugas inire ad certum tempus et sub illis pactis, penis spiritualibus et temporalibus quantumcumque magnis gravibus vel affectivis et condicionibus, ­obligacionibus et submissionibus quibuscumque nulla excepta de quibus et prout vos volueritis aut vobis fuerit bene visum. 83  Anhang 2, Nr. 11. 84  Anhang 2, Nr. 1, Nr. 3, Nr. 10. 85  Anhang 2, Nr. 2 (Dauer der Kontributionen) sowie Anhang 2, Nr. 5 und Nr. 6 (bis auf Wider­ ruf). 86  Dies steht im Gegensatz zu den späteren Statthalterschaften, die permanent, 3 oder 5 Jahre gültig waren; siehe Lalinde Abadía: Institución (wie Anm. 36), S. 91–94. 87 Anhang 2, Nr. 3: cismarine Territorien der Krone; Anhang 2, Nr. 7: Katalonien; Anhang 2, Nr. 9: València; Anhang 2, Nr. 10: Katalonien und Mallorca; Anhang 2, Nr. 11: València und Mal­ lorca. Vgl. dazu Lalinde Abadía: Institución (wie Anm. 36), S. 98. 88  Anhang 2, Nr. 12 und Nr. 13; Anhang 2, Nr. 15 einschließlich Siziliens.

130

Sebastian Roebert

keine Einschränkung vor und dürften demzufolge ebenfalls in allen Gebieten der Krone gültig gewesen sein. In einem letzten Passus garantierte der Aussteller die Gültigkeit der durch die königliche Vertreterin getroffenen Entscheidungen expli­ zit. Ab der Ernennung des Jahres 1359 wurden dafür zusätzlich die königlichen Güter als Sicherheit gestellt.89 Resümierend lässt sich festhalten, dass die heterogenen diplomatischen Charak­ teristika nicht auf einen exklusiven Stellenwert der Ernennungen hindeuten. Das betrifft freilich nicht allein die Ernennung von Herrscherinnen, deren Status in dieser Funktion sich ausweislich des diplomatischen Befunds nicht von dem ande­ rer königlicher Vertreter unterscheidet. Auch inhaltlich zeigen die Ernennungen starke Diskrepanzen, die keine stringente Entwicklung im Verlauf des Untersu­ chungszeitraums erkennen lassen. Zwar erweitert sich der Katalog an Kompeten­ zen von seinem Umfang her, aber darin ist nicht a priori ein Zuwachs an Macht für die Vertreterin zu erkennen, sondern es handelt sich vielmehr um eine genauere Beschreibung und Erfassung der Vollmachten, die möglicherweise im Zuge einer stärker verrechtlichten Regierungsführung notwendig wurden. Im Gegensatz zu anderen Quellen, wie etwa Entscheidungen der Ständeversammlungen, in denen Präzedenzfälle angeführt wurden, beziehen sich die Ernennungen nicht aufei­ nander.

Schlussbetrachtungen Mit den hier vorgestellten Ernennungen wird nur ein Element in der Erforschung der Statthalterschaften in der Krone Aragón genauer beleuchtet, das keine Aus­ kunft über das konkrete Agieren der Königinnen geben kann. Dennoch ist es nicht zu vermessen anzunehmen, dass die Könige auf das erfolgreiche Handeln ihrer Vertreterinnen angewiesen waren, zumal sich dies auch in der zeitgenössi­ schen Wahrnehmung spiegelt. Die Ausübung der Statthalterschaft war aus Per­ spektive der Akteure nicht allein ein Privileg, sondern vielmehr eine Verpflichtung. Ausdrücklich formuliert dies die Ernennung von 1364. Aufgrund der Erschaffung Evas aus der Rippe Adams sei sie als Gefährtin (Genesis 2, 18 und 2, 23) ver­ pflichtet, die Lasten dieser Welt gemeinsam mit ihm zu tragen.90 Eine derart ex­ 89 

In Anhang 2, Nr. 11 so formuliert (ACA, Canc., Registre 2669, fol. 160v): promittentes in nostra bona fide regia rata et firma semper habere quecumque per vos acta fuerint sive gesta prout in dicta carta nostra promissimus et nullo tempore contrafacere vel venire sub bonorum nostrorum omnium ypotheca. Anhang 2, Nr. 4–7, Nr. 9–13, Nr. 15 (als Terminus wurden entweder obligacio oder ypotheca verwendet). Ohne Verpfändung der Güter findet sich dieser Passus nur in An­ hang 2, Nr. 3; Anhang 2, Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 14 beinhalten keine derartige Bestimmung. 90 Roebert: Nominations (wie Anm. 10), S. 206: Animadvertentesque quod Deus Omnipotens creans Adam ipsum in paradiso deliciarum posuit et tanquam cuncta providens ab eterno sciens ipsum huius inconstantis mundi curis, sollicitudinibus et oneribus subditurum, extracta costa ab eius latere, illi fecit et dedit adiutorium et consortem, que a latere sumpta suarum partem solicitu­ dinum supportaret et ipsos duos fore unam carnem huiusmodi consortii constituit vinculo coniugali. In der Hofordnung Peters IV. wird explizit auf die einschlägigen Bibelstellen verwiesen; Ordi­

Die weibliche Stellvertretung in der Krone Aragón (13.–15. Jahrhundert)

131

plizite Aussage in Bezug auf das Geschlechterverhältnis zwischen König und ­ önigin findet sich nur noch in der Ernennung von Juana Enríquez, allerdings in K vereinfachter Form, das heißt ohne die Rippe wortwörtlich zu erwähnen.91 Beide Formulierungen bringen das Paarverhältnis der Monarchen und die Notwendig­ keit ihres gemeinsamen, wenigstens aber gemeinsam abgestimmten Agierens auf den Punkt. Als Verpflichtung gegenüber ihrem Gemahl, die aus der Übertragung der Regierungsführung resultiere, resümierte Maria de Luna in einem Brief an diesen ihre Anstrengungen.92 Aus dieser Verpflichtung lässt sich nun durchaus eine Subordination ablesen.93 Allerdings kann man sie auch als gegenseitige Ab­ hängigkeit verstehen, in der der Herrscher auf das erfolgreiche Wirken seiner ­Gemahlin angewiesen war.94 Um abschließend den Bogen zurück zum Ausgangspunkt, also zur Deutung des Jacobus de Cessolis zu schlagen: Es waren oft die Königinnen und nicht an­ dere vicarii seu legati, die im Palast als zentralem Knotenpunkt (zumeist direkt in Barcelona), salopp formuliert, die Stellung hielten. Darauf drangen die Herrscher, die auch gegenüber Dritten die Bedeutung dieser Maßnahme, also der Ernennung einer Statthalterin, betonten.95 Verschiedene Quellenbelege zeigen, mehr noch, sie betonen die Kooperation zwischen der Herrscherin und der Kanzlei sowie an­ deren zentralen Regierungsinstitutionen und politischen Akteuren. Für die Aus­ übung dieser Funktion dienten die Ernennungen als rechtliche Grundlage. Es ist verführerisch, aus der Quellenfülle und der Suggestivität der Ernennungen heraus die Stellung der Statthalterin als zu stark einzuschätzen. Vielmehr ist zu konstatie­ ren, dass diese Dokumente in erster Linie Informationen über die Mechanismen sowie Möglichkeiten und Grenzen der Institution „Königtum“ insgesamt und weniger über die Königinnen selbst liefern. Zudem könnte mit einzelnen Erhe­ bungen durchaus eine Strategie verfolgt worden sein, die nicht auf die tatsächliche Partizipation der Empfängerin an der Regierung abzielte, sondern eine Signalwir­ kung über den eigentlichen Rechtsinhalt hinaus aussenden sollte. Keinesfalls kann dieser Einwand die Rolle der Herrscherin minimieren, denn die Ernennungen be­ legen die integrale Einbeziehung der Herrscherinnen in das Gefüge der Monar­ nacions (wie Anm. 39), S. 266. Siehe dazu auch Jaspert: Macht (wie Anm. 11), S. 83; Roebert: ­Königin (wie Anm. 17), S. 315 f. 91  Coll-Julià: Doña Juana Enríquez (wie Anm. 33), Bd. 2, S. 396: ex latere nostro dextero sumptam sowie ex ipso nostro latere dextero solemniter delegamus. 92  Silleras-Fernández: Power (wie Anm. 23), S. 100. 93  Besonders akzentuiert erscheint dies bei Jacobus de Cessolis’ Schachzabelbuch: Est a sinistris regis collocata per graciam: quod regi donatum est per naturam, ipsa optinet per graciam; Vetter: Schachzabelbuch (wie Anm. 1), Sp. 119 f. 94  Roebert: Königin (wie Anm. 17), S. 439  f. Besonders deutlich wird diese gegenseitige Depen­ denz in der Kommunikation des Königspaares untereinander; dazu ebd., S. 519–521. 95  Peter IV. etwa teilte namentlich nicht genannten Empfängern die Ernennung seiner Gemahlin zur Statthalterin mit. Zugleich informierte er darüber, dass sowohl die Kanzlei als auch die Siegel zu ihrer Verfügung verblieben und forderte den Empfänger auf, die Anordnungen seiner Vertrete­ rin zu befolgen; ACA, Cartes Reials Diplomàtiques, Caixa 49, Nr. 6013 und Nr. 6014, Barcelona, 19. 6. 1359.

132

Sebastian Roebert

chie sowie anderer an der Regierung beteiligter Akteure und stellen daher grund­ legende Quellen für die Analyse ihrer Regierungstätigkeit dar. Eine erschöpfende Analyse dieses komplexen Geflechtes aber kann nur im Zusammenspiel mit der­ jenigen Kanzleidokumentation erfolgen, die durch die Herrscherinnen in ihrer Funktion als Vertreterinnen ausgestellt wurde. Zudem wäre es wünschenswert, die möglicherweise einzigartigen Befunde der Krone Aragón durch einen Ver­ gleich mit anderen Reichen zu qualifizieren, um festzustellen, ob und welche Ge­ meinsamkeiten beziehungsweise signifikanten Unterschiede in den Kompetenzen sowie der reginalen Agency existierten. Schwierig ist der Versuch, aus dem diachronen Vergleich der Ernennungen eine stringente Entwicklung abzulesen, wie es die frühneuzeitlichen Juristen und auch die rechtshistorische Forschung oft insinuierten. Vielmehr sind die Dokumente im jeweiligen politischen Kontext zu interpretieren und die konkreten Motive für ihre Ausstellung zu identifizieren. Eine Zusammenstellung der Rechte erfolgte je nach den Erfordernissen des Moments und nicht nach einer prinzipiellen Strategie mit dem Ziel, die Vertreterin mit einem maximalen Paket an Kompetenzen auszu­ statten. Dabei standen die verschiedenen Vollmachten nicht von vornherein fest, sondern kristallisierten sich bisweilen in einem Prozess heraus96 und wurden ge­ gebenenfalls nachjustiert. Ausschlaggebend dafür waren vermutlich Erwägungen, die Statthalterin mit einer Position zu versehen, die für andere politische Akteure wie die Corts möglichst wenig angreifbar war. Unter anderem diese sukzessive Genese erklärt die eminenten Unterschiede zwischen den Charakteristika und dem Umfang der einzelnen Ernennungen, die weniger ein Amt einleiteten, son­ dern vielmehr eher ad hoc eine Funktion zuwiesen. Gleichwohl transformierte sich diese Funktion später in ein klarer definiertes Amt, das dann in veränderter Gestalt sogar in die spanischen Kolonien in Amerika „exportiert“ wurde. Im Vergleich mit männlichen Statthaltern zeichnen sich die Ernennungen der Königinnen nicht durch ihnen eigene diplomatische oder inhaltliche Merkmale aus, abgesehen von der zitierten Passage über die Erschaffung Evas. Zu fragen ist also danach, bis zu welchem Punkt die administrativen Quellen „geschlechtsblind“ waren, um es drastisch zu formulieren. Sie spiegeln zweifellos die patri­archal ge­ prägte Gesellschaft, aus der sie hervorgingen, wider, und dennoch fokussieren die Ernennungen einen anderen Punkt: Sie thematisieren das Agieren der Königinnen als Spitzen der ständischen Gesellschaft, in deren Handlungslogiken und -zwänge sie eingebettet waren. Demzufolge liefern uns die Bestimmungen einen Anhalts­ punkt, um das Agieren als consors und bevollmächtigte Vertreterinnen ihrer ­Gemahle miteinander zu vergleichen, wobei dieser Aspekt einer gesonderten Be­ handlung bedarf. Darin dürfte auch die Exzeptionalität liegen:97 Es ist weniger die außergewöhnliche Macht oder eine außergewöhnliche, weil institutionell abgesi­ 96 

Beauchamp: Gouverner (wie Anm. 18), S. 135–145 am Beispiel des Infanten Peter. Frage nach der Exzeptionalität weiblicher Herrschaft siehe die Beiträge in: Heather Tan­ ner (Hg.): Medieval Elite Women and the Exercise of Power, 1100–1400. Moving beyond the ­Exceptionalist Debate. Cham 2019. 97  Zur

Die weibliche Stellvertretung in der Krone Aragón (13.–15. Jahrhundert)

133

cherte Rolle der Herrscherinnen, die die Krone Aragón auszeichnete, als vielmehr die Präzision, mit der das reginale Agieren und dessen Mechanismen nachvollzo­ gen werden können. Zudem können sie ein Modell oder eine Vergleichsgrundlage für andere Reiche liefern,98 besonders wenn wir die Begründungen und die Fälle beziehungsweise Momente in Betracht ziehen, in denen die Ernennung vorgenom­ men wurde, wie etwa im Hinblick auf die Kompetenzen und Handlungsspiel­ räume der Herrscherinnen in der Krone Aragón und im Königreich Neapel,99 die durchaus ähnlich gelagert gewesen sein dürften. Für einen solchen Ansatz könnten die Ernennungen als Grundlage des Vergleichs einen zentralen Baustein liefern.

Abstract The Crown of Aragon is considered to be among the most amply documented medieval monarchies, with sources allowing scholars to study, many different as­ pects, including the queens and their agency, a topic that has recently garnered increased attention. According to predominant opinion, Iberian queens held ­special status compared to other medieval European queens, especially due to the institutionalised form of lieutenancy which the queens of the Crown of Aragon exercised in the Later Middle Ages. Nevertheless, the development of their roles has not yet been studied in a diachronic perspective, nor has a census of the queens formally appointed as lieutenant for their absent spouses during the 14th and 15th centuries been established. This chapter studies the known nominations of the queens of the Crown of Aragon, from Blanche d’Anjou (1297) to Juana Enríquez (1465), and the formal status of the queen-lieutenants. It asks 1.) whether the competences of the female lieutenants differed from those of their male counter­ parts, and 2.) whether the nominations reflect the lieutenancy’s tendency towards becoming an institutionalised position of the queen as royal substitute. It is there­ by possible to trace the genesis of this function and to re-examine the supposedly exceptional status of the Iberian queens.

Anhänge Anhang 1: Die behandelten Königinnen und ihre Gemahle Blanche von Anjou (1296–1310) ∞ Jakob II. von Aragón (1291–1327) Eleonore von Sizilien (1349–1375) ∞ Peter IV. von Aragón (1336–1387) Violante von Bar (1387–1396) ∞ Johann I. von Aragón (1387–1396) Maria de Luna (1396–1406) ∞ Martin I. von Aragón (1396–1410) Maria von Kastilien (1416–1458) ∞ Alfons V. von Aragón (1416–1458) Juana Enríquez (1458–1468) ∞ Johann II. von Aragón (1458–1479) 98  99 

Jaspert: Macht (wie Anm. 11), S. 123. Vgl. dazu den Beitrag von Cristina Andenna in diesem Band.

1359 Juni 19 1362 Sep. 12

1364 Jan. 22

1364 Jan. 22

1372 Feb. 3

1374 Nov. 17

1401 Dez. 1 1420 Mai 2 1420 Mai 9

1432 Mai 24

1438 Nov. 24

1462 Nov. 23

1465 März 6

 3  4

 5

 6

 7

 8

 9 10 11

12

13

14

15

Juana Enríquez

Maria von Kastilien

Maria de Luna

Eleonore von ­Sizilien

Statthalterin Blanche von Anjou

ACA, Canc., Registre 3412, fol. 37v–40v

ACA, Canc., Registre 3410, fol. 196r–197r

ACA, Canc., Registre 1071, fol. 40v–41r ACA, Canc., Registre 1075, fol. 29v–30r ACA, Canc., Registre 970, fol. 186r–189v; AHCB, CC.Corts, 1B.XVI-19, fol. 17r–21v; AHCB, CC.Corts, 1B.XVI-8, fol. 53r–60v; ACA, Canc., Pergamins, Pere III [IV], ­Carpeta 283, Nr. 2364 (Mundum); ACA, Canc., Registre 995, fol. 105r–107v ACA, Col·leccions, Consell de Cent, ­Carpeta 389, Nr. 368 (Mundum); ACA, Canc., Registre 1537, fol. 122r–v ACA, Canc., Registre 1584, fol. 70v; ACA, Canc., Registre 1582, fol. 110r ACA, Canc., Registre 2223, fol. 73r–76r – ACA, Canc., Registre 2669, fol. 160v–161r ACA, Canc., Registre 3276, fol. 139v–141v; ARV, MR, 9050, fol. 3v–4v ARV, MR, 9050, fol. 9v–11v

ACA, Canc., Registre 1137, fol. 40r–41r

Überlieferung ACA, Canc., Registre 321, fol. 6v–7r

nicht ediert Coll-Julià: Doña Juana Enríquez (wie Anm. 33), Bd. 2, Nr. 65, S. 388–390 Ebd., Bd. 2, Nr. 68, S. 395–402

nicht ediert

nicht ediert Cortes XIII (wie Anm. 48), S. 83–881 nicht ediert

Ebd., Nr. 8, S. 227–229

Ebd., Nr. 7, S. 225–227

Ebd., Nr. 5, S. 214–221

Ebd., Nr. 4, S. 203-213

Edition Beauchamp: Gouverner (wie Anm. 18), S. 549 Roebert: Nominations (wie Anm. 10), Nr. 1, S. 199f. Ebd., Nr. 2, S. 200–202 Ebd., Nr. 3, S. 202f.

Soldevila zufolge findet sich diese Ernennung in ACA, Canc., Registre 3165, fol. 156 (Soldevila: Reyna [wie Anm. 30], S. 239); Toldrà Parés: Reina (wie Anm. 30), S. 162, nennt nur die Edition, nicht die Registerüberlieferung; auch eine Sichtung des Bandes hat ergeben, dass die Angabe von Ferran Soldevila offensichtlich nicht korrekt ist, da dieses Register die Ernennung nicht beinhaltet. Ich danke Stefano Cingolani und Eduard Juncosa Bonet für ihre Unterstützung.

1  Ferran

1358 Nov. 6

 2

Nr. Datum  1 1296 Nov. 18

Anhang 2: Die Ernennungen zur Statthalterin

134 Sebastian Roebert

Datum

1296 Nov. 18

1358 Nov. 6

1359 Juni 19

1362 Sep. 12

1364 Jan. 22

1364 Jan. 22

1372 Feb. 3

1374 Nov. 17

1401 Dez. 1

1420 Mai 2

1420 Mai 9

1432 Mai 24

1438 Nov. 24

1462 Nov. 23

1465 März 6

Nr.

 1

 2

 3

 4

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 6

 7

 8

 9

10

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12

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14

15

Juana Enríquez

Maria von Kastilien

Maria de Luna

Eleonore von Sizilien

Blanche von Anjou

Statthalterin

Anhang 3: Begründung der Ernennung Grund

Rebellion in Katalonien und Erhebung von Peter von Portugal als Gegenkönig

Abwesenheit des Königs, der nicht zu bestimmten Geschäften anwesend sein kann

aufgrund des Aufenthalts in Süditalien Regierung an Maria und Johann von Navarra über­ tragen; dieser ist jedoch in Kastilien beschäftigt, daher alleinige Beauftragung von Maria

k. A.

k. A.

Wiedererlangung von Sardinien

Reise zum König von Navarra, um die Eheschließung Martins von Sizilien mit einer der Töchter des Königs von Navarra zu verhandeln

notwendige Geschäfte in Cervera und daraus resultierende Abwesenheit in Barcelona

notwendige Geschäfte in Aragón

siehe Nr. 5

Kampf gegen Kastilien und die Wiedererringung der im Krieg verlorenen Gebiete in Aragón und València

Reise nach Perpignan zu dringenden Geschäften

Expedition nach Mallorca, um die kastilische Flotte zu bekämpfen

Zug an die Grenzen, um den kastilischen König zu bekämpfen

Reise (peregrinacio) nach Rom Die weibliche Stellvertretung in der Krone Aragón (13.–15. Jahrhundert)

135

1401 Dez. 1

1420 Mai 2

1420 Mai 9

1432 Mai 24

 9

10

11

12

1465 März 6

1374 Nov. 17

 8

15

Itinerum

1372 Feb. 3

 7

1438 Nov. 24

1364 Jan. 22

 6

1462 Nov. 23

1364 Jan. 22

 5

13

1362 Sep. 12

 4

14

Varia: Speciale 1

1359 Juni 19

 3

Juana Enríquez

Maria von Kastilien

Maria de Luna

Eleonore von Sizilien

Curiae

Curiae

Curiae sigilli secreti

ACA, Canc., Registre 3412, fol. 37v–40v

ACA, Canc., Registre 3410, fol. 196r–197r

ARV, MR, 9050, fol. 9v–10

ACA, Canc., Registre 3276, fol. 139v–141v; ARV, MR, 9050, fol. 3v–4v

ACA, Canc., Registre 2669, fol. 160v–161r



Curiae [Maria von ­Kastilien]

ACA, Canc., Registre 1584, fol. 70v; ACA, Canc., Registre 1582, fol. 110r

Sigilli secreti/Registrum sextumdecimum

ACA, Canc., Registre 2223, fol. 73r–76r

ACA, Col·leccions, Consell de Cent, Carpeta 389, Nr. 368 (Mundum); ACA, Canc., Registre 1537, fol. 122r–v

.IIm. domine Regine

Officialium

ACA, Canc., Pergamins, Pere III [IV], Carpeta 283, Nr. 2364 (Mundum); ACA, Canc., Registre 995, fol. 105r–107v

ACA, Canc., Registre 970, fol. 186r–189v; AHCB, CC.Corts, 1B.XVI-19, fol. 17r–21v; AHCB, CC.Corts, 1B.XVI-8, fol. 53r–60v

ACA, Canc., Registre 1075, fol. 29v–30r

ACA, Canc., Registre 1071, fol. 40v–41r

ACA, Canc., Registre 1137, fol. 40r–41r

ACA, Canc., Registre 321, fol. 6v–7r

Überlieferung

Venditionum

Officialium

Curiae

Curiae

Sigilli secreti

Super viatico Rome

1358 Nov. 6

Blanche von Anjou

1296 Nov. 18

 2

Registerserie

 1

Statthalterin

Datum

Nr.

Anhang 4: Charakteristika der Ernennungen im Überblick

136 Sebastian Roebert

Eric Böhme Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay und ihr Einfluss auf die ­Königsherrschaft Balduins IV. von Jerusalem „Es war aber die Absicht der genannten Verführer, in Abwesenheit des Grafen, der ein tatkräftiger und in allem umsichtiger Mann war, die Geschäfte des Reichs nach eigener Willkür zu führen und die Krankheit des Königs zu ihrem Vorteil nutzen zu können. Unter diesen trieben die Mutter des Königs, eine Gott ­gänzlich verhasste und im Erpressen rücksichtslose Frau, sowie deren Bruder, der Seneschall des Königs, zusammen mit einigen ihrer Anhänger, gottlosen Männern, den König schamlos dazu an.“1 Mit diesen drastischen Worten versuchte Erzbischof Wilhelm von Tyrus zu rechtfertigen, warum König Balduin IV. von Jerusalem dem Grafen Raimund III. von Tripolis, seinem Großcousin, einstigem Regenten und Herrscher über eine der drei verbliebenen fränkischen Herrschaften in Outremer, im Frühjahr 1182 völlig überraschend den Zugang zu seinen Lehen im Königreich Jerusalem verweigert hatte. Für diesen politisch hochbrisanten Affront, der nur den jüngsten in einer ganzen Reihe von mehr oder weniger offen geführten Auseinandersetzungen darstellte, machte Wilhelm eine Gruppe von Würdenträgern im Umfeld des jungen und kranken Königs verantwortlich, die von dessen leiblicher Mutter Agnes von Courtenay und ihrem Bruder Joscelin III. angeführt wurde. Mit den Verhältnissen am Hof kannte sich der Geistliche und Hofchronist der Jerusalemer Könige bestens aus, hatte er doch schon Balduins Vater und Vorgänger Amalrich (1163–1174) als enger ­Berater gedient, als Tutor dessen Sohn erzogen und nach Balduins Thronfolge das Amt des königlichen Kanzlers übernommen. An den Auseinandersetzungen, die verschiedene Interessengruppen um die größtmögliche Einflussnahme auf den König führten, war aber auch Wilhelm selbst beteiligt und gehörte als ­Anhänger des Tripolitaner Grafen zu den politischen Gegnern der Courtenay-

1 Wilhelm von Tyrus, Chronicon. Hg. von Robert B. C. Huygens. 2 Bde. Turnhout 1986, (Buch) XXII, (Kapitel) 10 (9), S. 1019: Erat autem predictorum ea intentio seductorum, ut absente comite, qui vir industrius erat et ad omnia circumspectus, ipsi regia negocia pro libero tractarent arbitrio et regis infirmitatem ad suum traherent compendium, inter quos regis mater, mulier plane deo odibilis et in extorquendo importuna, et eiusdem frater, regius senescalcus, cum paucis eorum sequacibus, viris impiis, regem ad hoc protervius impellebant.

https://doi.org/10.1515/9783111071879-008

138

Eric Böhme

Geschwister, weshalb sein Urteil über letztere mit großer Vorsicht zu bewerten ist.2 Abseits des überaus negativen Bildes, das Wilhelm von der Königsmutter zeichnet, soll im vorliegenden Beitrag die Rolle der Agnes von Courtenay im Umfeld Balduins IV. genauer in den Blick genommen werden. Dafür müssen zunächst die Ereignisse um die Thronfolgekrise des Jahres 1163 thematisiert werden, im Zuge derer Agnes die Krönung zur Königin verwehrt und damit bereits ein Teil der Rahmenbedingungen für die Zeit nach 1174 geschaffen wurde. Im Hauptteil des Beitrages soll anschließend Agnes’ Einflussnahme auf die politischen Entscheidungen Balduins IV. nach 1174 untersucht werden, wobei einerseits zu fragen ist, inwieweit sich diese Einflussnahme in den Quellen nachweisen lässt, anderseits hingegen, welche Umstände und politischen Entwicklungen ihre Handlungsmöglichkeiten maßgeblich bestimmt haben könnten. Dabei wird letztlich zu zeigen sein, inwieweit die Königsmutter es auch ohne den durch die bestehenden Rechtsgewohnheiten abgesicherten Status einer Königinwitwe oder das Amt einer Regentin vermochte, Einfluss am Hof ihres Sohnes auszuüben. Auf diese Weise soll die bisherige Forschungsdiskussion um einige neue Akzente ergänzt werden.3

Agnes und die Thronfolge Amalrichs 1163 Nachdem König Balduin III. am 10. Februar 1163 kinderlos verstorben war,4 bot sich für seinen etwa siebenundzwanzigjährigen Bruder Amalrich die beste Chance zur Thronfolge. Im Zuge der gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen um 2  Klassisch

dazu Peter W. Edbury: Propaganda and Faction in the Kingdom of Jerusalem. The Background to Hattin. In: Maya Shatzmiller (Hg.): Crusaders and Muslims in Twelfth-Century Syria. Leiden u. a. 1993, S. 173–189; Bernard F. Hamilton: The Leper King and his Heirs. Baldwin IV and the Crusader Kingdom of Jerusalem. Cambridge u. a. 2000; zu den Rückwirkungen der innenpolitischen Auseinandersetzungen auf die Außenbeziehungen Eric Böhme: Die Außenbeziehungen des Königreiches Jerusalem im 12. Jahrhundert. Kontinuität und Wandel im Herrscherwechsel zwischen König Amalrich und Balduin IV. Berlin/Boston 2019. Zu Wilhelm von Tyrus gleichfalls klassisch Peter W. Edbury/John G. Rowe: William of Tyre. Historian of the ­Latin East. Cambridge u. a. 1988; neuer etwa Marie-Luise Favreau-Lilie: Machtstrukturen und Historiographie im Königreich Jerusalem. Die Chronik Wilhelms von Tyrus. In: Norbert Kersken/Grischa Vercamer (Hg.): Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik. Wiesbaden 2013, S. 447–462. 3  Vgl. neben den in Anm. 2 genannten Beiträgen Bernard F. Hamilton: Women in the Crusader States. The Queens of Jerusalem (1100–1190). In: ders. (Hg.): Crusaders, Cathars and the Holy Places. Aldershot 1999, S. 143–174, hier: S. 159–170; ders.: The Titular Nobility of the Latin East: The Case of Agnes of Courtenay. In: ebd., S. 197–203; Hans E. Mayer: Die Legitimität Balduins IV. von Jerusalem und das Testament der Agnes von Courtenay. In: ders. (Hg.): Kings and Lords in the Latin Kingdom of Jerusalem. Aldershot 1994, S. 63–89; zudem ders.: The Beginnings of King Amalric of Jerusalem. In: Benjamin Z. Kedar (Hg.): The Horns of H . at.t.īn. Jerusalem 1992, S. 121–135. 4  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XVIII, 34, S. 860; zum korrekten Datum Thomas Vogtherr: Die Regierungsdaten der lateinischen Könige von Jerusalem. In: ZDPV 110 (1994) 1, S. 51–81, hier: S. 61 f.

1

2

Alice = Boemund II., Fürst v. Antiochia

2. Isabella, Königin v. Jerusalem = 1. Humfred IV. v. Toron = 2. Konrad I. v. Montferrat = 3. Heinrich II. v. Champagne = 4. Aimerich v. Lusignan

Kaiser Alexios II. Komnenos

1. Boemund III., 1. Maria Fürst v. Antiochia = Kaiser Manuel I. = 1. Orgueilleuse v. Ḥārim Komnenos = 2. Theodora Komnena = 3. Sibylle

= 2. Stefanie v. Milly

2. Agnes (Anna)    2. Balduin = Béla III. v. Ungarn

Raimund III., Graf v. Tripolis Melisendis = Eschiva II. v. Galiläa

Iveta, Äbtissin v. St. Lazarus (Bethanien)

= Morphia v. Melitene

Hodierna = Raimund II., Graf v. Tripolis

Balduin II., König v. Jerusalem

Melisendis = Hugo I. v. Rethel (Le Bourcq)

Balduin III., Konstanze, Fürstin v. Antiochia König v. Jerusalem = 1. Raimund v. Poitiers = Theodora Komnena = 2. Rainald v. Châtillon

= 2. Balian v. Ibelin

Maria Komnena

1. Sibylle, Königin v. Jerusalem = 1. Wilhelm v. Montferrat = 2. Guido v. Lusignan

Amalrich, König v. Jerusalem

Melisendis, Königin v. Jerusalem = Fulko V. v. Anjou

Abbildung 1: Das Jerusalemer Königshaus und seine Verwandtschaft in Outremer, © Eric Böhme.

1. Balduin V., König v. Jerusalem

1. Balduin IV., König v. Jerusalem

= 2. Rainald v. Maraş = 3. Hugo v. Ibelin = 4. Rainald v. Sidon

Joscelin III. Agnes v. v. Courtenay Courtenay

Joscelin II., = Beatrix v. Saône (Ṣahyūn) Graf v. Edessa

Joscelin I., Graf v. Edessa = Tochter Konstantins I. v. Armenien

Joscelin v. Courtenay = Elisabeth (Isabella)

Guido I. v. Montlhéry = Hodierna v. Gometz

Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay

139

140

Eric Böhme

die Alleinherrschaft Balduins III. im Jahr 1152 hatte er sich zwar aufseiten der ­gemeinsamen Mutter Melisendis gegen seinen Bruder gestellt,5 war aber nach deren Ende und der Befriedung der Parteien 1154 Herr über die neu geschaffene Doppel­grafschaft Jaffa-Askalon geworden.6 Wohl im Jahr 1157 hatte er Agnes von Courtenay aus dem Hause der (Titular-)Grafen von Edessa geheiratet, deren erste Ehe mit dem 1149 verstorbenen Raimund von Maraş kinderlos geblieben war.7 Mit dem im Frühsommer 1161 geborenen Sohn Balduin und seiner zu ­einem unbekannten Zeitpunkt davor geborenen Schwester Sibylle hatten Agnes und Amalrich bereits zwei Nachkommen.8 Die weitere Herrschaftsfolge erschien damit vorerst gesichert, doch kam es zu einer kurzen, aber heftigen Thronfolgekrise: Angeführt durch Amalrich von Nesle, den lateinischen Patriarchen Jerusalems (1157–1180), weigerten sich der hohe Klerus und die Mitglieder der Haute Cour,9 Amalrich zum König zu erheben, wenn er nicht zuvor die Ehe mit Agnes lösen würde. Zur Begründung führte man eine angeblich zu enge Blutsverwandtschaft des Paares an, aufgrund derer der Patriarch Fulko von Angoulême (1146–1157) die Verbindung bereits vor der Eheschließung – wenn auch vergeblich – angefochten hatte. Tatsächlich waren die Eheleute über ihren gemeinsamen Ururgroßvater Guido I. von Montlhéry im vierten Grad miteinander verwandt, doch löste man auf dieser Grundlage zumeist keine bestehenden Ehen auf.10 Eine andere, aber nicht weiterbringende Begründung bietet die später entstandene „Chronique  5 Klassisch

Hans E. Mayer: Studies in the History of Queen Melisende of Jerusalem. In: DOP 26 (1972), S. 94–182; jüngst Danielle E. A. Park: Wax Kings and Apron Strings. William of Tyres Gendering of King Baldwin III and Queen Melisende and the 1152 Civil War. In: Amalie Fößel (Hg.): Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter. Berlin 2020, S. 215–236.  6  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XIX, 1, S. 864.  7  Ebd., XIX, 4, S. 868  f., datiert die Hochzeit nur unbestimmt vor den Tod Balduins III.; das Jahr 1157 findet sich bei Robert von Torigni, Chronique. Hg. von Léopold V. Delisle. 2 Bde. Rouen 1872–1873, hier: Bd. 1, S. 309. Siehe auch Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 24; Mayer: Beginnings (wie Anm. 3), S. 125 f.  8  Balduin war bei seiner eigenen Thronfolge im Juli 1174 etwa 13 Jahre alt, seine Schwester älter; siehe Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XVIII, 29, S. 854, XXI, 2, S. 962; vgl. Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 23 f. Ausführlich zum Leben Sibylles Giuseppe Ligato: Sibilla, regina crociata. Guerra, amore e diplomazia per il trono di Gerusalemme. Mailand 2005.  9  Bei der Haute Cour handelte es sich um eine in unregelmäßigen Abständen einberufene Zusammenkunft des Königs bzw. seines Stellvertreters mit den Vasallen der Krone. Im 12. Jahrhundert hatte diese komplexe und nicht konkret fassbare Institution mehrere Funktionen: Im Kern stellte sie das Lehnsgericht des Königs innerhalb seiner Krondomäne dar; auf Reichsebene diente sie als Feudalgericht im Falle von Konflikten zwischen Vasallen mit eigenen Seigneurien. Im Bedarfsfall konnte ihr Teilnehmerkreis auch auf den hohen Klerus und die Meister der Ritterorden ausgeweitet werden, um über Fragen von reichsweiter Bedeutung zu beraten. Sie stellte den wichtigsten Begegnungsort zwischen dem König und den weltlichen bzw. geistlichen Großen dar und eröffnete letzteren einen Rahmen zur kollektiven Einflussnahme auf die königliche Politik. Dazu einführend Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 32. 10  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XIX, 1, S. 864; XIX, 4, S. 869; XXI, 1, S. 961. Wie er selbst betont, war der Chronist kein Augenzeuge der Ereignisse, da er seinerzeit noch zum Studium in Europa weilte; zur Kontextualisierung Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 23 f.

Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay

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d’Ernoul“, nach der man Agnes in der Haute Cour für unwürdig gehalten habe, als Königin in der Heiligen Stadt zu amtieren.11 Wie in der Forschungsliteratur schon häufiger argumentiert wurde, wogen ­beide Vorwürfe kaum schwer genug, um als glaubhafte Begründungen für die ­entschiedene Opposition der Adelsfraktion durchzugehen. Für die tatsächlichen ­Motive wurden verschiedene Erklärungsansätze lanciert: Bernard F. Hamilton hat vermutet, der Reichsadel könne befürchtet haben, dass Agnes nach ihrer Thronbesteigung die aus ihrer untergegangenen Heimatgrafschaft Edessa geflüchteten und nun landlosen Adelsfamilien auf Kosten der bereits etablierten Familien begünstigen werde.12 Hans Eberhard Mayer hat diese These als zu unsicher abgelehnt und stattdessen auf Grundlage der im späten 13. Jahrhundert entstandenen Stammbäume der „Lignages d’Outremer“ argumentiert, Agnes sei 1157 schon mit dem einflussreichen Seigneur Hugo von Ibelin verheiratet, ihre Verbindung mit Amalrich mithin bigamistisch gewesen.13 Hamilton hat dies mit dem nicht unberechtigten Einwand zurückgewiesen, dass in diesem Fall bereits damals eine Exkommunikation des Paares hätte erfolgen müssen.14 Darin ist ihm in jüngerer Zeit auch Alan V. Murray gefolgt, der außerdem auf zahlreiche Unsicherheiten in den „Lignages“ hingewiesen hat.15 Ungeachtet dessen erscheint jedoch die Vermutung Mayers plausibel, die Adelsopposition habe als Gegenkandidaten zu Amalrich seinen Cousin, den schon erwähnten Raimund III. von Tripolis, unterstützt.16 Die Fortführung dieser Debatten soll hier aber nicht im Mittelpunkt stehen. In jedem Falle blieb Amalrich, wenn er den Thron besteigen wollte, wenig anderes übrig, als der opponierenden Partei entgegenzukommen. Schließlich einigten sich beide Seiten darauf, die Ehe auf Grundlage der Verwandtschaftsverhältnisse zu annullieren. Ein von Papst Alexander III. auf Betreiben Amalrichs erteilter Dispens legitimierte gleichwohl die beiden gemeinsamen Nachkommen als recht­ mäßige Erben und sollte wohl auch Agnes ein Stück weit moralisch entlasten.17 11  Chronique d’Ernoul et de Bernard le Trésorier. Hg. von Louis de Mas Latrie. Paris 1871, S. 17: Car telle n’est que roine doie iestre, de si haute cité comme de Jherusalem; übersetzt: Da jene nicht Königin einer so erhabenen Stadt wie Jerusalem sein dürfe. 12  Hamilton: Titular Nobility (wie Anm. 3), S. 197–199. 13  Lignages d’Outremer. Hg. von Marie-Adélaïde Nielen. Paris 2003, Kap. 332, S. 87  f.; Mayer: Beginnings (wie Anm. 3). 14  Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 23–26; vgl. Natascha R. Hodgson: Women, Crusading and the Holy Land in Historical Narrative. Woodbridge 2007, S. 77, S. 144 f. 15  Alan V. Murray: Women in the Royal Succession of the Latin Kingdom of Jerusalem (1099– 1291). In: Claudia Zey (Hg.): Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert). Ostfildern 2015, S. 131–162, hier: S. 145. 16  Mayer: Beginnings (wie Anm. 3), S. 135. 17  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XIX, 4, S. 869: […] hoc addito tamen, ut qui ex ambobus nati erant legitimi haberentur et in bona paterna successionis plenum ius obtinerent; übersetzt durch den Verfasser: […] doch wurde hinzugefügt, dass die von beiden stammenden Kinder als legitim betrachtet werden sollten und das Erbrecht für die väterlichen Besitzungen voll erhalten sollten. Mayer: Legitimität (wie Anm. 3) hat vermutet, dass trotz des Dispenses die ­Legitimität Balduins IV. bei dessen eigener Krönung 1174 angefochten worden sein könnte, doch steht und fällt diese Vermutung mit dem umstrittenen Vorwurf der Bigamie; siehe dazu Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 26, Anm. 20.

142

Eric Böhme

Für Amalrich war der Weg auf den Königsthron damit frei, sodass er bereits eine Woche nach dem Tod seines Bruders, am 18. Februar 1163, zum fünften lateinischen König Jerusalems erhoben wurde.18 Im Rahmen seiner diplomatischen Annährung an das Byzantinische Reich heiratete er nach dem Vorbild seines Bruders im August 1167 Maria Komnena, eine Nichte Kaiser Manuels I. Sie gebar ihm zwischen November 1171 und September 1172 zwei Töchter, von denen aber nur die Zweitgeborene, Isabella, das Erwachsenenalter erreichte.19 Agnes selbst erhielt keinen Ausgleich für die Scheidung und hatte zunächst wohl kaum Kontakt zu ihren zeitlebens einzigen beiden Kindern. Den Titel comitissa führte sie jedoch für den Rest ihres Lebens.20 Schon bald nach der Trennung ehelichte sie Hugo von Ibelin und nach dessen Tod 1169 den ebenfalls einfluss­ reichen Seigneur Rainald von Sidon, dessen Vater Gerard seinerzeit ihre enge Verwandtschaft mit Amalrich mit bezeugt hatte. Bemerkenswerterweise weiß ­ Wilhelm von Tyrus auch für diese letzte Ehe vom kursierenden Vorwurf einer zu engen Blutsverwandtschaft zu berichten, doch scheint dieser nicht mit letzter Konsequenz verfolgt worden zu sein. Zu einer weiteren Scheidung scheint es jedenfalls nicht gekommen zu sein.21

Regis mater statt regis vidua – Agnes’ Einfluss im Umfeld Balduins IV. Als König Amalrich am 11. Juli 1174 verstarb,22 befand sich sein Reich sowohl hinsichtlich seiner äußeren als auch seiner inneren Angelegenheiten in einer schwierigen Lage: Fünf fränkische Feldzüge nach Ägypten hatten keine bleibenden Gebietsgewinne gebracht; im Gegenteil saßen die neuen Machthaber um Saladin dort fester denn je im Sattel und drohten nun, den ayyūbidischen Herrschaftsund Einflussbereich nach Syrien auszudehnen.23 Mit Amalrichs Sohn Balduin 18  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XIX, 1, S. 864, aber erneut mit problematischer Datumsangabe; siehe Vogtherr: Regierungsdaten (wie Anm. 4), S. 63. 19 Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm.  1), XX, 1, S. 913; Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 17 f.; dazu im Überblick Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 280 f., S. 300; Murray: Women (wie Anm. 15), S. 145–147; zum Geburtsdatum Isabellas Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 31, Anm. 47. 20  Vgl. etwa Regesta regni Hierosolymitani (1097–1291) [im Folgenden: RRH]. Hg. von Reinhold Röhricht. 2 Bde. Innsbruck 1893/1904, 410a, 433, 472, 589; Die Urkunden der lateinischen Könige von Jerusalem [im Folgenden: D/DD Jerus.]. Hg. von Hans E. Mayer (MGH Diplomata regum Latinorum Hierosolymitanorum 1–4). 4 Bde. Hannover 2010, D Jerus. *441 und noch posthum D Jerus. 474. Auch Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 10 (11), S. 976, bezeichnet sie für das Jahr 1176 so. 21  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XIX, 4, S. 870. Diese ambivalent zu deutende Stelle hat Rudolf Hiestand: Die Herren von Sidon und die Thronfolgekrise des Jahres 1163 im Königreich Jerusalem. In: Benjamin Z. Kedar u. a. (Hg.): Montjoie. Studies in Crusade History in Honour of Hans Eberhard Mayer. Aldershot 1997, S. 77–90, entgegen der älteren Opinio communis neu bewertet, worin ihm auch Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 26, S. 33 f., folgt. 22  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XX, 31, S. 956  f., mit Vogtherr: Regierungsdaten (wie Anm. 4), S. 63 f. 23  Zur Ägyptenpolitik Amalrichs jüngst Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 72–141.

Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay

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­ atte man einen Nachfolger auf dem Königsthron parat, doch hätten opponierenh de Kräfte gleich mehrere Argumente gehabt, seine Idoneität anzuzweifeln: Nicht nur hing seine Herrschaftslegitimation am erwähnten Dispens Alexanders III., sondern er war außerdem erst 13 Jahre alt und zeigte bereits erste Anzeichen einer fortschreitenden, chronischen Erkrankung, die sich in den folgenden Jahren ­immer deutlicher als Lepra herausstellen sollte. Trotz dieser zumindest unsicheren Aussichten wissen wir nichts Konkretes über mögliche Auseinandersetzungen in der Haute Cour. Gemäß der Entscheidung der anwesenden Großen wurde der junge Thronfolger, der gegenüber seiner noch unverheirateten Schwester Sibylle und seiner kleinen Halbschwester Isabella als der geeignetste Kandidat erschienen sein mag, bereits am 15. Juli zum König gekrönt.24 Die Regierungsgeschäfte führte für ihn zunächst der königliche Seneschall Milo von Plancy. Sein nicht von den bisherigen Usancen im Reich gedecktes Regiment provozierte jedoch den Unmut seiner politischen Gegner und fand bereits im Oktober 1174 mit seiner Ermordung ein jähes Ende. Erst zum Jahresende vermochte es Raimund III. von Tripolis, seinen Anspruch auf die Regentschaft vor der Haute Cour durchzusetzen. Dazu legitimierte ihn zwar sein Status als nächster männlicher Verwandter des Kindkönigs, doch war er erst wenige Monate zuvor aus nahezu zehnjähriger Gefangen­schaft bei den in Damaskus und Aleppo herrschenden, muslimischen Zengīden freigekommen und an der Haute Cour noch nicht wieder etabliert.25 Zu einem unbekannten Zeitpunkt, wohl während seiner Regentschaft, kehrte ­Agnes von Courtenay in das engere Umfeld ihres Sohnes zurück, ohne dass die Quellen über die genauen Umstände Auskunft geben. Ebenso ist unbekannt, ob sie nach dem Tod Amalrichs eigene Aspirationen auf die Regentschaft hegte, doch standen ihre Chancen dafür wohl ohnehin schlecht: Zum einen war die in gewaltsamen Auseinandersetzungen innerhalb der Königsfamilie mündende Regentschaft Melisendis’ für Balduin III. (1143–1145/1152) sicher noch vielen Mitgliedern der Haute Cour in unguter Erinnerung, zumal es in den Jahren 1161–1164 ähnliche Konflikte im Fürstentum Antiochia gegeben hatte.26 Zum anderen könnten die Rechtsgewohnheiten schon damals vorgegeben haben, dass die oder der engste Verwandte auf der für den Thronanspruch ausschlaggebenden Familienseite die Regentschaft übernehmen sollte, was Agnes’ Ansprüche ausgeschlossen hätte.27 24 

Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 2, S. 962, betont, die Erhebung zum König sei auf einstimmigen Wunsch (consonante omnium desiderio) aller geistlichen und weltlichen Großen erfolgt, doch ist hier Vorsicht geboten; vgl. Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 31–43. 25  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 3–5, S. 963–966; vgl. Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 45 f., S. 364–368; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 32 f., S. 84–94. 26  Siehe neben den Angaben in Anm. 5 auch Andrew D. Buck: William of Tyre, Femininity, and the Problem of the Antiochene Princesses. In: The Journal of Ecclesiastical History 70 (2019), S. 731–749, hier: S. 744–747. 27  Festgeschrieben findet sich diese Regelung zuerst im zwischen 1198–1205 entstandenen Livre au roi. Hg. von Myriam Greilsammer. Paris 1995, Kap. 5, S. 146: Et deit remaindre le baillage de la terre en la main dou plus prochein parent ou parente que les anfans aient de par leur mere de par qui la reauté meut, ou as plus procheins parents des anfans de par leur pere, se li reaumes meut de par luy, […]; übersetzt durch den Verfasser: Die Regentschaft über das Land soll in der Hand

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Eric Böhme

Zwar hatte diese Regel zumindest in den Seigneurien keinen Bestand,28 doch handelte es sich bei der Thronfolge Balduins um einen Sonderfall, da seiner Mutter 1163 die Königinnenwürde ja mit Nachdruck verwehrt worden und die rechtmäßige Königinwitwe Maria Komnena noch am Leben war. Stattdessen unterstützten Agnes, ihr Ehemann Rainald von Sidon und ihre früheren Schwager aus der Familie Ibelin zunächst die Regentschaftsansprüche Graf Raimunds.29 Als Gegenleistung könnten sie nach seinem Amtsantritt Zugang zum Herrscherhof gefordert und erhalten haben, um auf diese Weise von Agnes’ potenziell gewichtiger Stellung als Mutter des Kindkönigs und der nach ihm thronfolgeberechtigten Sibylle zu profitieren.30 Auch über konkrete Funktionen und Aufgaben Agnes’ am Hof ­wissen wir nichts; wahrscheinlich hatte sie überhaupt keine klar umrissenen oder ­explizit ausgewiesenen Ämter inne und war in hohem Maße vom Wohlwollen des Regenten abhängig. Raimund scheint ihr allerdings in kirchenpolitischen Fragen Mitspracherecht zugestanden zu haben, denn ihr wird die Erhebung des Jerusalemer Erzdiakons Eraclius zum Erzbischof von Caesarea zugeschrieben.31 Als mit der Volljährigkeit des Königs im Frühsommer  1176 die Regentschaft Raimunds endete,32 konnte Agnes sich am Herrscherhof halten und ihren maßgeblich auf personelle Verbindungen gestützten Einfluss ausbauen. In der ersten Jahreshälfte war ihr Bruder Joscelin III. aus fast zwölfjähriger Gefangenschaft in Aleppo freigekommen, wobei sich Agnes um die Begleichung des hohen Löse­ geldes bemüht hatte.33 Nur kurze Zeit später überzeugte sie Balduin IV. davon, seinen ihm nahezu völlig unbekannten Onkel zum Seneschall zu erheben; zu den Kompetenzen, die mit diesem seit dem Tod Milos nicht mehr besetzten hohen des oder der nächsten Verwandten verbleiben, den oder die die Kinder mütterlicherseits haben, wenn die Königswürde von ihrer Seite stammt, oder aber den nächsten Verwandten der Kinder väterlicherseits zufallen, wenn die Königswürde durch ihn kommt, […]. Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 84 f., hat mit guten Argumenten für die Rückdatierung dieser Bestimmung auf frühere Jahrzehnte plädiert. 28  Vgl. etwa Johann von Ibelin, Le Livre des Assises. Hg. von Peter W. Edbury. Leiden/Boston 2003, Kap. 161, S. 396. 29  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 3, S. 964. Dass er die Königsmutter selbst nicht erwähnt, lässt sich gut mit dem von ihm perpetuierten Narrativ ihrer späteren Gegnerschaft zu Raimund erklären. 30  Vgl. ähnlich bereits Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 89, S. 95  f.; ders.: Titular Nobility (wie Anm. 3), S. 200; Mayer: Legitimität (wie Anm. 3), S. 66–68. 31 Die Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 82, dichtet beiden gleichwohl eine Affäre an: Et pour sa biauté l’ama li mère le roi, et si le fisc arcevesque de Cesaire; übersetzt durch den Ver­ fasser: Und wegen seiner Schönheit liebte ihn die Mutter des Königs und machte ihn daher zum Erzbischof von Caesarea. Das kann nicht weiter verifiziert werden, erscheint vor dem Hintergrund des damals nicht unüblichen Klerikerkonkubinats aber nicht gänzlich undenkbar; siehe dazu schon Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 96 f. 32 Zu den rechtlichen Grundlagen Johann von Ibelin, Livre (wie Anm.  28), Kap. 58, S. 167; Kap. 153, S. 377 f. Zum Zeitpunkt Hans E. Mayer: Die Kanzlei der lateinischen Könige von Jerusalem. 2 Bde. Hannover 1996, hier: Bd. 1, S. 210, Anm. 128; dagegen Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 105. 33 Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, (10) 11, S. 976. Zu den diplomatischen Umständen Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 152–154.

Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay

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Hofamt verbunden waren, gehörte nicht nur die Kontrolle der Kronfinanzen und königlichen Burgen, sondern auch die Stellvertretung des Herrschers im Fall seiner Abwesenheit.34 Zur selben Zeit wurde der königliche Konstabler Humfred II. von Toron möglicherweise von der politischen Einflussnahme am Königshof ausgeschlossen, jedoch nur vorübergehend, denn absetzen konnte man ihn nicht.35 Eine unmittelbare Folge dieses Besetzungswechsels im engen Umfeld des Königs könnte die Entscheidung gewesen sein, einen auslaufenden Waffenstillstand mit Saladin nicht zu verlängern und stattdessen einen Angriff auf das schlecht verteidigte Südsyrien zu unternehmen.36 Eine weitere bedeutende Kursänderung bestand in der 1176/1177 wieder verstärkt betriebenen Wiederbelebung der Allianz mit Byzanz. Eine gemeinsam geplante Kampagne gegen Saladins Machtbasis in Ägypten fiel mit einem neuerlichen, aber eher kurzen Krankheitsschub Balduins im August 1177 zusammen, während dem man die Regentschaft zunächst erfolglos dem als Kreuzfahrer nach Outremer gekommenen Graf Philipp von Flandern – einem Cousin des Königs – und dann Rainald von Châtillon antrug. Das Militär­ unternehmen kam aufgrund unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten zwischen den neuen Kreuzfahrern und bedeutenden Teilen der Haute Cour letztlich nicht zustande, doch lassen sich auf die Rolle der Königsmutter in diesen Entwicklungen keine belastbaren Rückschlüsse ziehen.37 Viel wichtiger mögen ihr andere Angelegenheiten erschienen sein, allen voran die Sicherung der Thronfolge ihrer beiden Kinder. Da Balduins chronische Erkrankung alle Aussichten auf Ehe und Nachkommen offensichtlich unmöglich machte, wurde die Verheiratung seiner Schwester Sibylle zu einem Projekt allerhöchster Wichtigkeit. Über das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter wissen wir quasi nichts. Vor 1174 scheint kaum Kontakt bestanden zu haben, doch ­änderte sich das bald: Ende 1179 weilten Agnes und Rainald von Sidon am Hof Sibylles in Askalon.38 Noch zu Lebzeiten Amalrichs hatte man versucht, Sibylle an einen Kandidaten aus dem am französischen Königshof gut vernetzten Adelshaus 34  In diesem Amt begegnet er bereits in D Jerus. 390 vom Sommer 1176; im etwas früher ausgestellten RRH 539 war er noch ohne Amt. Vgl. Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 103–106. 35 Obwohl er regelmäßig in den Königsurkunden greifbar ist, klafft zwischen Mitte 1176 (D Jerus. 390) und Februar 1179 (D Jerus. 407) eine längere Lücke, die nicht vollständig mit ­seiner von Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, (12) 13, S. 979 und XXI, (19) 20, S. 988, ­bezeugten schweren Krankheit in der zweiten Jahreshälfte 1177 erklärt werden kann; so bereits Hans E. Mayer: Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart 102005, S. 159. 36  Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 156  f., S. 368 f. 37 Zur Frage der Regentschaft Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 13 (14), S. 979 f.; zum Kontext jüngst Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 163–165, S. 303–310, S. 338–341, S. 368 f., S. 502–510. 38  Sibylle war nach 1163 bei ihrer Großtante väterlicherseits, der Äbtissin Iveta, im Nonnenkonvent St. Lazarus in Bethanien bei Jerusalem aufgewachsen; Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 2, S. 962. Der Besuch im Jahr 1179 ergibt sich aus RRH 589. Dass Agnes damals dauerhaft bei ihrer Tochter lebte (siehe etwa die Vorbemerkung zu D Jerus. 499) geht aber zu weit, zumal ihr Gatte mit ihr genannt wird.

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Blois zu verheiraten, doch war das Projekt 1171 gescheitert.39 Während des Re­ giments Milos oder der Regentschaft Raimunds hatte man sie einem Spross der piemontesischen Markgrafenfamilie Montferrat versprochen, die über beste Verbindungen sowohl zum französischen König Ludwig VII. als auch in das Stauferreich Friedrich I. Barbarossas verfügte. Wilhelm „Langschwert“ von Montferrat war im Oktober 1176 tatsächlich nach Outremer gekommen, hatte Sibylle geehelicht und die Herrschaft über die bedeutende Grenzgrafschaft Jaffa-Askalon übernommen. Bereits im Juli 1177 war er jedoch einer schweren Krankheit erlegen und hatte seine Frau schwanger zurückgelassen.40 Kurz darauf hatte ihr Cousin Philipp von Flandern Kandidaten aus seinem flämischen Umfeld ins Spiel gebracht, doch war sein Anliegen mit Verweis auf das Trauerjahr zunächst zurückgewiesen worden.41 Nach dessen Ende 1178 blickten der König und sein Beraterkreis erneut ins Umfeld des französischen Königshofes, an den auch Agnes weitläufige dynastische Verbindungen hatte. Der als Kandidat auserkorene Herzog Hugo III. von Burgund willigte im Frühjahr 1179 in die Eheschließung ein und entsandte für die weitere Vorbereitung der Hochzeit einige Vertraute nach Outremer, denen mit Peter I. von Courtenay, einem Bruder Ludwigs VII., der Verbindungsmann zwischen den französischen Courtenays und dem Kapetingerhof angehörte. Hugo selbst brach jedoch sein Versprechen, innerhalb eines Jahres selbst nach Outremer zu kommen. Vermutlich hinderten ihn die innerfranzösischen Konflikte während und nach der Thronfolge des minderjährigen Philipp II. daran und zwangen auch seine französischen Vertrauten im Frühjahr 1180 zur Heim­ reise.42 Im Königreich Jerusalem bewirkte dieser erneute Rückschlag eine deutliche Verschärfung der Parteienkonflikte: Der ehemalige Regent Raimund III. von Tripolis und sein Verbündeter Boemund III. von Antiochia witterten eine günstige Gelegenheit, sich als paternale Verwandte des Königs wieder in die Auswahl der Ehekandidaten einzuschalten. Über die einstweilige Absage Herzog Hugos waren sie möglicherweise alles andere als unglücklich, hätte seine Präsenz doch die ohnehin schon starke Stellung der Courtenays am Hof konsolidiert, wie der Besuch Peters I. bereits hatte befürchten lassen. Als Alternative schwebte ihnen nun wahrscheinlich Balduin von Ramla vor, der als Vertreter des einheimischen Adels und Parteigänger Raimunds ihren Einfluss am Hof wieder zu stärken vermochte. Wohl um diese Absichten durchzusetzen, kamen sie Ostern 1180 mit bewaffneten Begleitern (cum militia) ins Reich.43 Der König befürchtete einen Putsch und ver39 

Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XX, 25, S. 947; zur Einordnung Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 473 f., S. 480–482. 40  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 12 (13), S. 977  f.; DD Jerus. 447–*450; dazu Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 159 f., S. 424 f., S. 451–455. 41  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 13  f. (14 f.), S. 980 f.; Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 33; Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 505–507, S. 522. 42  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 25 (26), S. 996  f. und XXI, 29 (30), S. 1003 f.; Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 485–489. 43  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXII, 1, S. 1007.

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suchte eilig, ein Fait accompli zu schaffen, indem er Sibylle mit dem erst kurz z­ uvor aus dem angevinischen Westfrankreich nach Outremer gekommenen und dort nahezu unbekannten Guido von Lusignan verheiratete. Die „Chronique d’Ernoul“ verfremdet die Ereignisse zu einer höfischen Liebesgeschichte, in der Sibylle die Rolle der naiven Prinzessin, ihrer Mutter hingegen die der machtbesessenen und gegen Balduin von Ramla intrigierenden Königsmutter zugeteilt wird.44 Da Wilhelm von Tyrus nichts dergleichen berichtet, muss Agnes’ tatsächliche Rolle in den Ereignissen im Dunkeln bleiben, obwohl auch sie sich dem Coup d’État gegen ihren Sohn entgegengestellt haben wird.45 Es kann allerdings mit gutem Grund davon ausgegangen werden, dass die „Hofkamarilla“46 um Agnes und ihren Bruder Joscelin damals weiterhin großen Einfluss auf die Entscheidungen Balduins IV. hatte. Im Oktober 1180 bereitete man die Verheiratung seiner achtjährigen Halbschwester Isabella vor, die bisher zusammen mit ihrer Mutter Maria Komnena auf deren Wittum in Nablus gelebt hatte. Maria Komnena selbst hatte bereits im Oktober 1177 mit königlichem Konsens Balian von Ibelin geheiratet, wodurch sie ihre Stellung als ehemalige ­Königin verloren hatte. Wenn sie überhaupt nennenswerte Ambitionen am Hof ihres Stiefsohnes hatte, konnte sie diese augenscheinlich nicht durchsetzen.47 Die nach 1186 ausgespielten Ansprüche ihrer Tochter Isabella auf die Thronfolge stellten aber schon damals ein gewichtiges Argument für potenzielle weitere Putschversuche dar, weswegen sie nun mit Humfred IV. von Toron, dem Erben des 1179 verstorbenen Konstablers Humfred II., verlobt und aus der Reichweite ihrer Mutter zu dessen Familie nach Kerak in Transjordanien gebracht wurde. Als Preis für die Aufnahme in die Königsfamilie musste der junge Mann allerdings einen für ihn unvorteilhaften Lehnstausch eingehen, der nicht nur die Stellung des Paares als potenzielle Thronfolger schwächte, sondern kurzzeitig auch die Schaffung eines an die östlichen und westlichen Reichsgrenzen reichenden „Sperrriegels“ aus Lehen der Königsfamilie beförderte, durch den wiederum der Putschist ­Raimund III. von seinen Reichslehen in Galiläa abgeschnitten werden konnte.48 Zu diesen Besitzungen zählten nicht nur die Ländereien der Krondomäne, sondern vor allem jene Joscelins III., die der Seneschall vorrangig in den Jahren 1179–1183

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Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 56–60. von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXII, 1, S. 1007; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 150–158; Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 186, S. 343 f., S. 525 f. 46  Mayer: Geschichte (wie Anm. 35), S. 159. 47  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXI, 14 (15), S. 980  f. und XXI, 17 (18), S. 986; siehe auch DD Jerus. 375–378. Zu ihrem Leben nach 1174 vgl. Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 27, S. 84, S. 95, S. 113, S. 139; Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 306, S. 312. 48  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXII, 5, S. 1012; einer seiner altfranzösischen Fortsetzer berichtet gar von einem Besuchsverbot Maria Komnenas in Kerak; siehe La continuation de Guillaume de Tyr (1184–1197). Hg. von Margaret Ruth Morgan. Paris 1982, Kap. 104, S. 106. Zum Lehnstausch siehe das aus dem Chronicon abgeleitete Deperditum D Jerus. *422; zur Interpretation vgl. die Vorbemerkung des Editors, ebd.; zudem Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 160–162; Murray: Women (wie Anm. 15), S. 150–153. 45  Wilhelm

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um Akkon akkumulierte.49 Agnes selbst ließ sich wohl im Frühjahr 1183 Toron übertragen und kaufte im gleichen Jahr ebenfalls Besitzungen im Umland von Akkon an, wo sich auch ihr Sohn aufgrund des angenehmen Meeresklimas gerne aufhielt.50 Die Konsolidierung des Courtenay’schen Einflusses baute aber weiterhin auf Personennetzwerken auf. Der zukünftige Thronfolger und neue Graf von JaffaAskalon, Guido von Lusignan, war spätestens seit dem Frühjahr 1181 häufiger in Begleitung Sibylles am Königshof präsent und wurde nun auch in offiziellen Schriftstücken als Mitglied der Königsfamilie präsentiert.51 Von seinem Status profitierte ebenso sein Bruder Aimerich von Lusignan, der in jenem Zeitraum zum Konstabler aufstieg. Eine ihm in der „Chronique d’Ernoul“ angedichtete ­Liaison mit Agnes von Courtenay ist aber wahrscheinlich als fiktiv anzusehen, zumal er schon seit 1174 verheiratet war.52 Gleiches gilt für die Umstände, unter denen Eraclius von Caesarea im Oktober 1180 zum lateinischen Patriarchen von Jerusalem aufrückte. Sein dem König ungleich vertrauterer Gegenkandidat Wilhelm von Tyrus, der als Parteigänger Raimunds III. die Wahl vermutlich aus politischen Gründen verloren hatte, bleibt hier auffällig wortkarg.53 Die Chroniken des 13. Jahrhunderts schreiben auch diesen Karriereschritt des Eraclius dem Einfluss der Königsmutter zu, der der kranke König letztlich die Entscheidung überlassen habe. Ganz unglaubwürdig erscheint das nicht, war doch auch die letzte Patriarchenwahl 1157 unter maßgeblicher Beteiligung (interventum) der Königsmutter Melisendis entschieden worden.54 In jedem Fall gehörte das neue Kirchen­ 49 Siehe etwa DD Jerus. 410, 413, 415, 427, 430, 437  f.; vgl. Mayer: Legitimität (wie Anm. 3), S. 69–77, S. 83–89; ders.: Die Seigneurie de Joscelin und der Deutsche Orden. In: Josef Fleckenstein/Manfred Hellmann (Hg.): Die geistlichen Ritterorden Europas. Sigmaringen 1980, S. 171– 216, hier: S. 171–188. 50  Als Herrin von Toron erwähnt sie 1184 der andalusische Reisende Ibn Ğubair: The Travels of Ibn Jubayr. Hg. von William Wright und Michael J. de Goeje. Leiden/London 1907, S. 301 (Übers.: The Travels of Ibn Jubayr. Hg. von Ronald J. C. Broadhurst. London 1952, S. 315 f.); die zweite Transaktion ist als Deperditum überliefert: D Jerus. *441. Siehe zu den Vorgängen auch die Vorbemerkung Mayers zu D Jerus. *422 und ders.: Legitimität (wie Anm. 3), S. 70–77. Die Vorliebe Balduins IV. für die Region bezeugen etwa die Ausstellungsorte von DD Jerus. 412–415, 417, 423, 425–427, 429 f., 432, *434 f., 437 f. 51  Siehe seine Erwähnungen als Zeuge in DD Jerus. 423, 429, 432, 435, 437  f., in denen er jeweils den ersten oder zumindest einen sehr hohen Rang einnimmt; als Konsensgeber neben seiner Frau tritt er in DD Jerus. 424, 430, 437 auf. 52  Siehe die Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 59  f., die ihn zudem schon zu Beginn des Jahres 1180 im Amt nennt. Der gesicherte Terminus post quem ist gemäß D Jerus. 423 der 1. 3. 1181; in den folgenden zwei Jahren begegnet er als Amtsträger auch in DD Jerus. 429 f., 432, 435, 437 f. Vgl. Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 97 f., S. 146 mit Anm. 86, S. 167. 53  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXII, 4, S. 1012: In cuius loco dominus Eraclius Cesariensis archiepiscopus infra dies decem substitutus est; übersetzt durch den Verfasser: In seine Stelle wurde nach zehn Tagen Eraclius, der Erzbischof von Caesarea, eingesetzt. 54  Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 82–84: Si furent presenté li doi archevesque au roi, et li rois prist Eracle l’archevesque de Cesaire, pour ce que sa mere l’en avoit proiié, il l’en avoit donné le don qu’il seroit patriarces; übersetzt durch den Verfasser: So wurden die beiden Erzbischöfe dem König präsentiert, und der König wählte Eraclius, den Erzbischof von Caesarea, aus, da seine

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oberhaupt nachfolgend zu den wichtigsten Parteigängern der Courtenays und Lusignans.55 Spätestens seit der umstrittenen Erhebung Guidos zum Ehemann Sibylles und damit zum Aspiranten auf den Thron durch ihr dynastisches Recht verschärften sich die Konflikte, die die verschiedenen Interessengruppen um die Einflussnahme am Königshof führten, immer mehr, zumal der zunehmend schlechter werdende Gesundheitszustand Balduins IV. einen baldigen Herrscherwechsel immer wahrscheinlicher werden ließ.56 Einen neuen Tiefpunkt erreichte man wie bereits erwähnt im Frühjahr 1182, als der König dem Grafen von Tripolis überraschend den Zugang zu seinen Lehen im Reich verwehrte. Der Bericht des parteiischen Wilhelm von Tyrus ist mit Vorsicht zu betrachten, doch erscheint es vor dem Hintergrund der vorherigen Ereignisse gut denkbar, dass man ein erneutes arg­ listiges Vorgehen Raimunds III. befürchtete oder Balduin IV. dies zumindest einflüsterte. Was auch immer die Gründe gewesen waren – die neuerliche, ebenso rasch getroffene wie unabgesprochene Entscheidung der Hofkamarilla brüskierte die Raimund zugeneigten Mitglieder der Haute Cour derart, dass sie es als zwingend notwendig erachteten, einen Ausgleich zwischen den beiden Seiten zu forcieren, um weitere Konflikte zu vermeiden. Dies gelang, auch wenn er von den streitenden Parteien nur widerwillig akzeptiert wurde.57 Einigkeit erforderte zuallererst der immer schwieriger werdende Abwehrkampf aller fränkischen Herrschaftskomplexe gegen Saladins aggressiv expandierendes Ayyūbidenreich,58 doch gingen die Parteienkonflikte weiter. Im Spätsommer 1183 ernannte der geschwächte König, der im Feldlager in Nablus von seiner Mutter betreut wurde, Guido von Lusignan dauerhaft zum Regenten, wies die anwesenden Großen an, diesem den Lehnseid zu leisten und kündigte an, sich in Jerusalem zur Ruhe setzen zu wollen. Obwohl Guidos Stellung ihn gemäß den bisher üblichen Rechtsgewohnheiten quasi alternativlos machte, untergrub die Partei Graf Raimunds gezielt seine Autorität als Heerführer, verweigerte sich einer Zusammenarbeit mit ihm und ließ ihn so letztlich als restlos unfähigen Befehlshaber da-

Mutter ihn darum gebeten hatte und er ihr das Geschenk gemacht hatte, dass jener Patriarch ­werden würde. Vgl. ganz ähnlich Continuation de Guillaume de Tyr (wie Anm. 48), Kap. 37 f., S. 49–51; zum Präzedenzfall 1157 Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XVIII, 20, S. 840 f. 55  Vgl. ausführlich Peter W. Edbury: William of Tyre and the Patriarchal Election of 1180. In: EHR 93 (1978), S. 1–25; zudem Benjamin Z. Kedar: The Patriarch Eraclius. In: ders. (Hg.): The Franks in the Levant, 11th–14th Centuries. Aldershot/Brookfield 1993, Kap. VIII, S. 177–204, hier: S. 187–189; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 162 f. 56  Zur Entwicklung der Erkrankung im Überblick Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 240– 244. 57  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXII, 10 (9), S. 1019  f.; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 167–169. Möglicherweise hatte sich der Graf durch einen neuerlichen Waffenstillstand mit Saladin verdächtig gemacht; dazu jüngst Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 197 f., S. 372 f. 58  Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 141–237.

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stehen.59 Wenig später zeitigte dies für die anti-Lusignan’sche Partei vermutlich alles andere als unerwünschte Folgen. Brüskiert durch die Weigerung Guidos, ihm nun doch das klimatisch günstigere Tyrus als Ruhesitz zu überlassen, berief Balduin IV. im November eine Reichsversammlung in Jerusalem ein, um nochmals über Guidos Status als Regent und künftiger Thronfolger zu beraten. Dort kippte die Stimmung entgegen der bisherigen Konfliktfronten gegen den anwesenden Regenten: „Auf gemeinsamen Beschluss der Großen“ (de communi principum consilio), unter denen nicht nur Agnes’ Ehemann Rainald von Sidon, sondern mit Raimund III., Boemund III. und den Ibelinbrüdern Balian und Balduin von Ramla auch die Führungsriege der tripolitanischen Partei anwesend war, entschied man sich nun, Guido als Regenten zu entlassen. Der zu Kräften gekommene ­Balduin IV. übernahm wieder selbst die Herrschaft und erhob zudem mit Zu­ stimmung der Anwesenden sowie „auf Vorschlag und eindringliches Betreiben der Königsmutter“ (suggerente hoc et ad id penitus hortante regis matre) seinen gerade fünfjährigen Neffen, Sibylles Sohn aus erster Ehe, als Balduin V. zum Mitkönig.60 Für so gewichtige Entscheidungen wie die letztere hatte man eigentlich keine Zeit, war doch gerade bekannt geworden, dass Saladin die Festung K ­ erak belagerte, wo zahlreiche Große, darunter Maria Komnena, Rainald von Châtillon und Joscelin III. von Courtenay, die Hochzeit Humfreds IV. und I­sabellas be­ gehen wollten. Doch war es vielleicht gerade die Abwesenheit Rainalds und Joscelins als wichtige Wortführer der Courtenay’schen Partei gewesen, die ­ ­Raimund III. und seine Anhänger genutzt hatten, um Guido noch vor Beginn des Entsatz-Feldzuges aus dem Amt zu drängen. Der Vorschlag Agnes’, ihren ­Enkelsohn Balduin V. als Thronfolger in Position zu bringen, scheint gleichwohl für alle Seiten ein akzeptabler Kompromiss gewesen zu sein.61 Doch kehrte auch jetzt kein dauerhafter Frieden in den Konflikten am Königshof ein. Die wohl noch zum Jahresende 1183 begonnenen Versuche Balduins IV., die Ehe des geschassten Regenten mit seiner Schwester Sibylle vom lateinischen Patriarchen annullieren zu lassen, um ihn so endgültig von der Thronfolge aus­ zuschließen, brachten nicht den gewünschten Erfolg, da Eraclius ebenso wie die Meister des Johanniter- und Templerordens zu den Unterstützern Guidos zählten. Letztere brachen im Frühsommer 1184 auf eine lange Reise in den lateinischen Westen auf, um im Namen des Königs nochmals um Unterstützung für die bedrohte Terra Sancta zu werben.62 Guido trat hingegen – wohl mit Unterstützung Sibyl59  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXII, 26 (25), S. 1048–1050 und XXII, 28 (27), S. 1054; Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 216–219, S. 350, S. 375; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 188–192; Raymond C. Smail: The Predicaments of Guy of Lusignan, 1183– 87. In: Benjamin Z. Kedar u. a. (Hg.): Outremer. Studies in the History of the Crusading Kingdom of Jerusalem Presented to Joshua Prawer. Jerusalem 1982, S. 159–176, hier: S. 164–173. 60  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXII, 30 (29), S. 1057–1059; vgl. Vogtherr: Regierungsdaten (wie Anm. 4), S. 67. 61  Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 192–195. 62  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXIII, 1, S. 1063; Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 435–438, S. 457 f., S. 492–494, S. 529–532.

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les – in offene Opposition zum König, verweigerte die Herausgabe seiner Lehen, verschanzte sich in Askalon und unterminierte mit Raubzügen gegen unter dem Schutz der Krone stehende Beduinengruppen die königliche Autorität weiter.63 In etwa zur gleichen Zeit wurde Balduin IV. durch seine immer unerträglicher werdende Krankheit zunehmend zum Rückzug aus der Tagespolitik gezwungen. Über die Verhältnisse am Hof sind wir für den Zeitraum 1184/1185 noch schlechter informiert, da mit dem Abbruch der Chronik Wilhelms von Tyrus unsere wichtigste Informationsquelle versiegt. Vielleicht war der Erzbischof schon zu Ostern 1184 vom Patriarchen Eraclius aus dem Amt gedrängt und exkommuniziert worden, doch sicher ist das nicht.64 Wir wissen, dass Balduin IV. das letzte Jahresdrittel 1184 in Akkon verbrachte, wo er sich bereits nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigte und die Regierungsgeschäfte vor allem seinem Onkel Joscelin überließ.65 Agnes selbst starb zu einem unbekannten Zeitpunkt, wohl zwischen September 1184 und Februar 1185.66 In ihrem von Joscelin III. zu vollstreckenden Testament vermachte sie ihren Landbesitz ihrer Tochter Sibylle in der Annahme, dass diese ihren Bruder ohnehin überleben würde.67 Es ist nicht bekannt, ob die Königsmutter noch miterlebte, dass Balduin IV. irgendwann zwischen dem Jahresende 1184 und dem Jahresbeginn 1185 erneut Raimund III. von Tripolis zum Regenten für sich und seinen Mitkönig berief.68 Als einige Wochen später deutlich wurde, dass Balduin IV. im Sterben lag und die formale Alleinherrschaft Balduins V. unmittelbar bevorstand, einigte man sich auf eine Regelung, die die Ansprüche sowohl seiner paternalen als auch maternalen Verwandtschaft miteinbezog: Raimund sollte die Regentschaft für die nächsten zehn Jahre ausüben, während Joscelin III. zum persönlichen Vormund des Kindes bestellt wurde. Für den Fall, dass auch Balduin V. vor dem Erreichen der Volljährigkeit sterben sollte, vereinbarte man, die Nachfolge durch den Papst, den römisch-deutschen Kaiser sowie die Könige Englands und Frankreichs bestimmen zu lassen.69 Balduin IV. selbst 63  Wilhelm

von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXIII, 1, S. 1062–1064; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 195–198, S. 204. 64 Die einzige Quelle ist eine chronologisch verkehrte Stelle in einem Manuskript der Estoire d’Eracles: Continuation de Guillaume de Tyr (wie Anm. 48), Kap. 39, S. 51 f. Ohnehin sind seine letzten Lebensjahre nach dem Abbruch seines Werkes in der Forschung umstritten; wahrscheinlich ist jedoch, dass er am 29. September 1186 verstarb; siehe Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 199–201. 65 Ibn Ğubair, Travels (wie Anm. 50), S. 309, übersetzt: Travels (wie Anm. 50), S. 324. 66  Lebend erwähnt wird sie zuletzt bei Ibn Ğubair, Travels (wie Anm. 50), S. 301, übersetzt: Travels (wie Anm. 50), S. 315 f.; der Terminus ante quem 1. 2. 1185 ergibt sich aus D Jerus. *471. 67  Das ergibt sich aus den 1185/1186 in DD Jerus. *471, 473  f. beurkundeten Vorgängen, wohingegen das Testament selbst verloren ist. 68  Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XXIII, 1, S. 1064; Continuation de Guillaume de Tyr (wie Anm. 48), Kap. 1, S. 18; L’Estoire d’Eracles Empereur et la conqueste de la Terre d’Outremer. Hg. von Arthur Beugnot (Recueil des historiens des croisades. Historiens occidentaux 2). Paris 1859, S. 1–481, hier: S. 3; zur Datierung Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 198 f., S. 203–205; siehe zudem Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 226 f., S. 376 f. 69 Chronique d’Ernoul (wie Anm.  11), S. 115–119; Continuation de Guillaume de Tyr (wie Anm. 48), Kap. 2–6, S. 19–22; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 205–209; Böhme: Außenbeziehungen (wie Anm. 2), S. 227, S. 377 f., S. 438, S. 458, S. 494, S. 532.

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starb nur wenige Wochen später, zu einem unbekannten Zeitpunkt wohl vor dem 16. Mai  1185.70 Trotz und zum Teil ungeachtet der an seinem Lebensende getroffenen Nachfolgeregelungen rangen auch in den folgenden zwei Jahren verschiedene Interessengruppen erbittert um Einfluss am Königshof. Damit trugen sie nicht unerheblich zur inneren Schwächung des Königreiches Jerusalem bei, das die Eroberungszüge Saladins 1187 an den Rand des Zusammenbruchs brachten.71

Zusammenfassung – Lenken im Hintergrund? Vor dem Hintergrund der hier umrissenen Ereignisse in den Jahren 1163 und 1174–1185 ist zu konstatieren, dass die Rolle der Agnes von Courtenay am Hof Balduins IV. schwer zu greifen bleibt. Sie lässt sich nicht ohne Weiteres klassi­ fizieren oder rechtsgeschichtlich einordnen, stellt sie für die Geschichte des König­reiches Jerusalem im 12. Jahrhundert doch einen Sonderfall dar. Da Agnes 1163 nicht Königin geworden, sondern im Gegenteil zur maßgeblichen Hürde für Amalrichs Thronbesteigung erklärt worden war, die rechtmäßige Königinwitwe Maria Komnena zudem noch lebte, blieben ihr die Würden einer ordentlich bestellten Regentin beim Regierungsantritt ihres Sohnes 1174 verwehrt. Dennoch gelang es ihr, unter der Regentschaft Raimunds III. an den Hof ihres Sohnes zurückzukehren und sich in bemerkenswert kurzer Zeit als zentrale Bezugsperson zu etablieren. Ihre Stellung am Hof konnte sie nur durch ihren Status als leibliche Mutter des erst minderjährigen, später politisch unerfahrenen und immer kränker werdenden Königs rechtfertigen. Ein ordentliches Amt mit festgelegten Befugnissen scheint sie nie bekleidet zu haben, wofür auch der Befund der wenigen erhaltenen Quellen spricht: Für ihr Verhältnis zu Balduin IV. lassen sich keine definierten Begrifflichkeiten wie tutela72 nachweisen; sie wird mit dem auch von ihr selbst geführten Gräfinnentitel (comitissa, contesse) oder einfach als Mutter (mater, mère) des Königs bezeichnet – die „Chronique d’Ernoul“ spricht bisweilen von le mere le ­contesse.73 Eine bemerkenswerte, aber isolierte Alternativperspektive bietet Ibn Ğubair, nach dem die Herrin (ṣāḥiba) Torons „als die Königin bekannt“ (tu‘rafu bi-l-malika) sei. Wer sie so bezeichnete, führt der durchreisende Pilger, der aus

70  Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 118  f.; Continuation de Guillaume de Tyr (wie Anm. 48), Kap. 5, S. 21; Vogtherr: Regierungsdaten (wie Anm. 4), S. 64–67; Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 209 f. 71  Ein Überblick findet sich bei Hamilton: Leper King (wie Anm. 2), S. 214–234. 72 Diesen Begriff wählte Wilhelm von Tyrus etwa für das Vormundschaftsverhältnis zwischen Königin Melisendis und Balduin III. sowie zwischen der byzantinischen Kaiserin Maria von ­Antiochia und Alexios II. (1180–1182); vgl. Wilhelm von Tyrus, Chronicon (wie Anm. 1), XVI, 3, S. 717 sowie XXII, 11 (10), S. 1020. 73  Chronique d’Ernoul (wie Anm. 11), S. 59  f.; siehe zudem nochmals Anm. 20.

Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay

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seiner Verachtung für die Lateinerherrschaft bekanntlich keinen Hehl machte, freilich nicht aus.74 Einschränkend ist zu erwähnen, dass wir auch im Falle Maria Komnenas weder für die Regierungszeit Amalrichs noch für die Jahre nach 1174 wissen, welche konkreten Aufgaben- und Kompetenzbereiche ihr zugedacht waren. Da Gleiches auch für die Gemahlin Balduins III., Theodora Komnena (1158–1163), gilt, hat die Forschung vielleicht nicht ganz grundlos vermutet, dass beide Herrscher aufgrund der Erfahrungen mit der gemeinsamen Mutter Melisendis ihren eigenen Ehefrauen nur wenig Befugnisse einräumten.75 Stattdessen scheinen – wie gerade der Fall Agnes’ von Courtenay zeigt – das Selbstverständnis der einzelnen Würdenträgerinnen und ihre Fähigkeiten zur Einflussnahme ausschlaggebend für ihre Rolle am riere­ Hof gewesen zu sein. Dass zumindest die Agnes zugeschriebene Kar­ förderung für den Kleriker Eraclius zu einer breiteren Einflussnahme in kirchen­ politischen Fragen verallgemeinert werden kann, erscheint denkbar, kann aber nicht belegt werden.76 Entscheidender mögen hier machtpolitische Überlegungen gewesen sein, denn da Agnes ihre Stellung nicht durch klar umrissene Amtsbefugnisse legitimieren konnte, griff sie wiederholt auf ihre personellen Verbindungen zurück, um sich gegen konkurrierende Interessengruppen am Hof behaupten zu können. Ihre Parteigänger konnten im Gegenzug darauf hoffen, von ihrem Einfluss auf den kranken König zu profitieren. Als wichtigste Verbündete lassen sich ihr Mann Rainald von Sidon, ihr Bruder Joscelin III., der genannte Eraclius von Caesarea und ebenso Rainald von Châtillon greifen; 1180–1183 gehörten auch die Lusignanbrüder zu ihren Günstlingen. Obwohl diese Akteure gerade ab 1180 immer wieder in teils erbitterter Konkurrenz zur Partei Raimunds III. von Tripolis standen, sollten die Konflikte keinesfalls als Auseinandersetzung zwischen zwei unveränderlichen und unvereinbaren Fronten betrachtet werden. Insbesondere für die Jahre 1174/1175 und 1183–1185 wird deutlich, dass die einzelnen Akteure, unabhängig davon, ob sie Ansprüche von Balduins maternalen oder paternalen Verwandten unterstützten, immer wieder zu Zweckbündnissen bereit waren, wenn es ihren jeweiligen Interessen dienlich war. Obgleich für viele der oben kurz umrissenen Ereignisse nicht klar ist, welchen Anteil der junge König selbst, sein Onkel Joscelin III. oder andere Akteure an den Entscheidungsfindungsprozessen hatten, kann kaum bestritten werden, dass die 74 Ibn Ğubair, Travels (wie Anm.  50), S. 301, übersetzt: Travels (wie Anm. 50), S. 316: […] ­ a-ṣāḥibatuhu ḫinzīra tu‘rafu bi-l-malika hiya umm al-ḫinzīr ṣāḥib ‘Akka dammarahu Allāh w […]; übersetzt: […] und seine Herrin ist die als Königin bekannte Sau, die die Mutter des Schweins, des Herren von Akkon – möge Gott es zerstören – ist […]. 75 Siehe dazu etwa Hamilton: Women (wie Anm. 3), S. 157–159, S. 161–163; Böhme: Außenbe­ ziehungen (wie Anm. 2), S. 32 f., S. 270 mit Anm. 10, S. 280 mit Anm. 43, S. 582. 76  Siehe in diesem Zusammenhang auch Philippe Goridis: Rex factus est uxorius. Weibliche und männliche Herrschaftsrollen in Outremer. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 21 (2016) 1, S. 22–39, der die komplexe Situation in den Jahren 1174–1185 allerdings nicht thematisiert.

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Eric Böhme

Königsmutter es durch geschickte Politik vermochte, sich im schwierigen und bisweilen kaum berechenbaren Ränkespiel am Hof bis zu ihrem Tod zu halten und die politischen Entscheidungen ihres Sohnes auch in Angelegenheiten von reichsweiter Bedeutung maßgeblich mit zu beeinflussen. Die zeitweilige Bestellung von ordentlichen Regenten musste sie akzeptieren, deren Machtbefugnisse nach 1176 wohl aber nur wenig fürchten. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Amtsträger, wenn sie nicht sogar durch den Einfluss der Courtenays ins Amt gekommen waren, maßgeblich auf ihre Unterstützung angewiesen waren, wenn sie handlungsfähig sein wollten. Genauere Rückschlüsse auf die Verteilung der Befugnisse lassen sich allerdings kaum ziehen, schon weil die Bestellung der Amtsträger ein mündliches, möglicherweise in der Haute Cour abgehaltenes Verfahren gewesen zu sein scheint und daher keinen nennenswerten Niederschlag in der diplo­matischen Überlieferung gefunden hat.77 Agnes benötigte offenbar kein Regentinnenamt, um Einfluss am Hof auszuüben. Durch ihr Durchsetzungsvermögen zog sie freilich die Missgunst, bisweilen sogar die offene Feindschaft ihrer Konkurrenten und von deren Parteigängern auf sich. Zu letzteren zählten eben auch Chronisten wie Wilhelm von Tyrus und später der Verfasser der „Chronique d’Ernoul“. Gerade weil sie zu den wenigen Autoren gehören, die überhaupt Hinweise auf Agnes’ Anwesenheit im Umfeld ihres Sohnes geben, haben ihre bewusst pejorativ gestalteten Darstellungen das negative Bild einer ebenso machtbesessenen wie unmoralisch handelnden Königsmutter für die Nachwelt maßgeblich geprägt. In einem nuancierten Urteil über den Einfluss der Agnes von Courtenay am Hof Balduins IV. darf dagegen nicht vergessen werden, dass die ihr zuzuschreibenden politischen Entscheidungen maßgeblich dazu beitrugen, die Herrschaftsrechte ihrer beiden leiblichen Kinder sowie die Thronfolge ihres Enkels Balduin V. zu sichern. Nach dessen frühem Tod 1186 und vollends nach dem Ableben Sibylles 1190 gingen die Ansprüche auf den Jerusa­ lemer Königsthron bekanntlich auf Isabella, Amalrichs Tochter aus zweiter Ehe, über. Bis ins 13. Jahrhundert gehörten sie und ihre Kinder zu den wichtigsten Trägerinnen der dynastischen Thronwürde im Königreich Jerusalem.78

Abstract The reign of King Baldwin IV (1174–1185) is generally regarded as a particularly conflict-ridden phase in the history of the Kingdom of Jerusalem. Saladin’s rapid rise to power in Egypt and Syria put the Frankish states of Outremer in an increasingly precarious position while the comparatively low authority of the young and chronically ill king invited various interest groups to vie for influence at his 77 

Die Urkunden der lateinischen Könige von Jerusalem (wie Anm. 20), Bd. 1, S. 73 f. Women (wie Anm. 15), S. 148–158; Philippe Goridis: Gefährten, Regenten, Witwer. Männliche Herrschaft im Heiligen Land der Erbköniginnen. In: Zey (Hg.): Frauen (wie Anm. 15), S. 163–194, hier: S. 170–192. 78  Murray:

Lenken im Hintergrund – Agnes von Courtenay

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court. Agnes of Courtenay, Baldwin’s biological mother, played an important role in these struggles for power. She had never been crowned queen and was barely acquainted with her son, but nevertheless became one of his closest confidants from 1175 onwards. Although she did not assume regency nor any other clearly defined offices, her skilfully spun personal networks enabled her to not only consolidate her influence at court but also to expand it steadily. Her desire to participate in political decision making, however, put her into conflict not only with the claims of the king’s other close relatives but also with those of other acting regents and the legitimate queen dowager. By critically evaluating the meagre surviving sources, this article examines the concrete moments in which Agnes’s elusive influence on political decisions can be inferred and tries to trace the circumstances and political developments which determined her ability to act.

Julia Burkhardt Selbstverständnis und Herrschaftspraxis schlesischer Regentinnen im 13. Jahrhundert Der Tod des Herzogs markierte eine Zäsur in Oppeln-Ratibor: Seit 1211 hatte Kasimir  I. in der Nachfolge seines Vaters Mieszko I. (genannt „Humpelbein“) über das schlesische Herzogtum geherrscht. Als nun 1229 oder 1230 Herzog ­Kasimir I. verstarb, schien die bisherige Kontinuität infrage gestellt:1 Zwar hinterließ Kasimir I. seine Ehefrau Viola und die gemeinsamen Kinder Mieszko II. und Władysław, die Söhne indes waren – soweit sich rekonstruieren lässt – erst knapp zehn beziehungsweise sechs Jahre alt und somit nicht fähig, eigenständig die Regierungsgeschäfte zu führen. In dieser Situation übernahm Viola die Regentschaft für ihre Söhne. Mehrere Urkunden, die in Violas Namen ausgestellt wurden, legen nahe, dass die Herzogin ihre Position primär aus den Ansprüchen ihres Mannes sowie ihrer Söhne ableitete: So bezeichnete sie sich entweder als „Herzoginwitwe“ (vidua ducissa) oder als „Herzogin mit Sohn“ (ducissa … cum filio …).2 Aus diesen variierenden Bezeichnungen ergeben sich gleich mehrere Fragen zum Selbstverständnis und zur Herrschaftspraxis der Fürstin: Agierte die Herzogin temporär als Sachwalterin ihrer Familie? Wie wurde Violas Regentschaft geregelt und praktisch ausgestaltet? Wie wurden die von Viola für die Söhne verfochtenen Rechtsansprüche gegenüber konkurrierenden männlichen Familienmitgliedern modelliert und wie wurden sie rezipiert? Fürstinnen, die Regentschaftsaufgaben für ihre minderjährigen Kinder oder Geschwister übernahmen, waren im hochmittelalterlichen Polen ebenso wenig eine Seltenheit wie in anderen Regionen Europas. War ein männlicher Herrscher abwesend, minderjährig oder gesundheitlich angeschlagen, konnte seine Ehefrau als Regentin fungieren – mal vornehmlich informell, mal pragmatisch offiziell ­ernannt oder mit politischer Autorität betraut.3 Lange Zeit hat die Forschung der 1  Für einen Überblick vgl. Tomasz Sadowski: Książęta opolscy i ich państwo [= Die Herzöge von Oppeln und ihr Herrschaftsgebiet]. Wrocław 2001, bes. S. 21–38 (zu Mieszko I.), S. 39–48 (zu Kasimir I.); vgl. zudem Clemens Vinkelau (Hg.): Die Piasten. Eine polnisch-schlesische Fürstenfamilie. Frankfurt a. M. 2011, S. 228–230. Das Todesdatum Kasimirs I. ist aufgrund divergierender Quellenangaben nicht zweifelsfrei belegt. 2  Sébastien Rossignol: The Authority and Charter Usage of Female Rulers in Medieval Silesia, ca. 1200–c. 1330. In: JMH 40 (2014) 1, S. 63–84. 3  Vgl. für einen Überblick Bettina Elpers: Regieren, Erziehen, Bewahren. Mütterliche Regentschaften im Hochmittelalter. Frankfurt a. M. 2003; vgl. auch die Beiträge in: Franca Varallo (Hg.):

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Julia Burkhardt

Regentschaft polnischer Fürstinnen jedoch kaum oder nur in ausgewählten Fallstudien Aufmerksamkeit geschenkt.4 Grundlegend änderte sich das durch neuere Untersuchungen, allen voran die Studien von Gregorz Pac zu den Vertreterinnen der Piasten-Dynastie bis zum 12. Jahrhundert, von Sébastien Rossignol zu Urkunden von Herzogen und Herzoginnen sowie von Agnieszka Teterycz-Puzio zu piastischen Regentinnen.5 In ihrer vergleichenden monografischen Studie identifizierte Teterycz-Puzio für den Zeitraum vom 12. bis zum 14. Jahrhundert mehr als ein Dutzend Fürstinnen, die ausweislich urkundlicher Quellen, Siegeln, chronikalischer oder hagiografischer Beschreibungen als Regentinnen wirkten. Teterycz-Puzio, die Regentschaft als Form der Machtausübung durch eine zweite Person im Falle der Unmündigkeit, Krankheit oder Absenz einer ersten Person definiert, führt diesen quantitativ ­signifikanten Umstand strukturell auf die politischen Entwicklungen Polens im 12. und 13. Jahrhundert zurück. So habe die 1138 von Herzog Bolesław III. eta­ blierte „Senioratsordnung“ zur Aufgliederung Polens in verschiedene Teilfürstentümer und damit zu einem erhöhten Maß an politischer Konkurrenz und Instabilität geführt. In diesem Zusammenhang konnte sich, so vermutet Teterycz-Puzio, die Regentschaft von Fürstinnen als alternative Herrschaftsform entwickeln und in der Langzeitperspektive auch dauerhaft im mittelalterlichen Polen etablieren.6 In assenza del re: le reggenti dal XIV al XVII secolo (Piemonte ed Europa). Florenz 2008; für Beispiele aus dem spätmittelalterlichen Frankreich vgl. Tracy Adams: Christine de Pizan, Isabeau of Bavaria, and Female Regency. In: French Historical Studies 32 (2009), S. 1–32; Earl Jeffrey Richards: Political Thought as Improvisation: Female Regency and Mariology in Late Medieval French Thought. In: Jacqueline Broad (Hg.): Virtue, Liberty, and Toleration. Political Ideas of European Women, 1400–1800. Dordrecht 2007, S. 1–22; mit einem instruktiven ikonografischen Zugriff auf byzantinische Beispiele vgl. zudem Branislav Cvetković: Iconography of Female Regency: An Issue of Methodology. In: Niš & Byzantium 10 (2012), S. 405–414. 4 Grundlegende Überlegungen bei Władysław Sobociński: Historia rządów opiekuńczych w Polsce [= Geschichte der Vormundschaftsregierungen in Polen]. In: CPH 2 (1949), S. 227–353. Für die Handlungsspielräume von Witwen vgl. außerdem Witold Brzeziński: Wdowieństwo i powtórne zamążpójście kobiet wśród możniejszej szlachty polskiej późnego średniowiecza [= Witwenschaft und Wiederverheiratung von Frauen des polnischen Adels im Spätmittelalter]. In: Roczniki Historyczne 75 (2009), S. 105–122. 5  Gregorz Pac: Kobiety w dynastii Piastów [= Frauen in der Dynastie der Piasten]. Toruń 2013; siehe neuerdings auch die englische Übersetzung: ders.: Women in the Piast Dynasty. A Comparative Study of Piast Wives and Daughters (c. 965–c. 1144). Leiden/Boston 2022; Sébastien Ros­­ signol: Maiestas principum. Herzogsurkunden als Medien der Herrschaftsrepräsentation in ­Schle­sien, Pommern und Pommerellen (1200–1325). Wiesbaden 2019; Agnieszka Teterycz-Puzio: ­Piastowskie księżne regentki o utrzymanie władzy dla synów koniec XII w. – początek XIV w. [= Piastische Regentinnen und der Machterhalt für ihre Söhne vom 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert]. Kraków 2016. 6  Agnieszka Teterycz-Puzio: Regency of Piast Duchesses – Mother’s Government on Their Behalf. In: Agnieszka Teterycz-Puzio/Wanda Kamińska/Patrycja Osińska (Hg.): Prawa kobiet dawniej i dziś. W 100-lecie nadania praw wyborczych kobietom w Polsce [= Frauenrechte damals und heute. Zum 100-jährigen Jahrestag der Gewährung des Frauenwahlrechts in Polen]. Słupsk 2020, S. 9–18, hier beispielsweise: S. 10: „Hence, the continuity of government was ­menaced and a fear of removing minor sons from power as a follow-up of their father’s sudden death aroused. Consequently, a system was introduced, which prescribed that in the case of a

Selbstverständnis und Herrschaftspraxis schlesischer Regentinnen

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Führt man diese Hypothese mit den Überlegungen der Herausgeberinnen dieses Bandes zusammen, so stellt sich die Frage, inwiefern sich das 13. Jahrhundert auch mit Blick auf polnische Fallbeispiele als Umbruchszeit für die Ausbildung neuer Herrschaftsformen deuten lässt. Damit ist ein breites Spektrum an Untersuchungsaspekten verbunden: War die Regentschaft von Fürstinnen ein temporäres Modell, um die durch Erbfolge begründete fürstliche Herrschaft in Zeiten erhöhter Konkurrenz zu stabilisieren? Wie veränderten sich die Position, Befugnisse und Kompetenzen von Fürstinnen, die als Regentinnen agierten? Ging es den ­Regentinnen um die situative Bewahrung von Herrschaftsansprüchen der eigenen Kinder oder um langfristige dynastische Perspektiven? Wie brachten Regentinnen das Selbstverständnis ihrer Position zum Ausdruck und wie verorteten sie sich im Spannungsfeld von situativer Kontingenz und langfristiger Traditionsbildung? Ausgehend von diesen Fragen werden in diesem Beitrag Selbstverständnis und Herrschaftspraxis schlesischer Regentinnen im 13. Jahrhundert diskutiert. Während es im ersten Abschnitt um methodische Fragen zur Erforschung mittelalterlicher Fürstinnenherrschaft geht, werden im zweiten Abschnitt die Rahmenbedingungen zeitgenössischer Sukzessionsordnungen im hochmittelalterlichen Polen und Schlesien erörtert. Abschließend werden mit Viola von Oppeln-Ratibor und Anna von Böhmen zwei ausgewählte Beispiele im Hinblick auf das entwickelte Fragentableau untersucht,7 die in der jüngeren Forschung immer wieder – wenngleich unter variierenden Gesichtspunkten – Beachtung gefunden haben.8

Die Macht der Frauen: Methodische Überlegungen Studien zu mittelalterlicher Herrschaft konzentrierten sich lange Zeit vorrangig auf männliche Vertreter von Monarchien und Dynastien – und trugen damit zu einem unvollständigen und unzureichenden Bild bei, bei dem Herrscherinnen und duke’s premature death and the minority of his successor, power would be transferred to the mother, who would sometimes rule with the help of her husband’s cousins.“ 7  Erste knappe Überlegungen dazu bei Sébastien Rossignol: Femmes et pouvoir en Silésie polonaise. Veuvage, régence et succession (vers 1200–vers 1330). In: Laurent Jegou u. a. (Hg.): Splendor Reginae. Passions, genre et famille. Mélanges en l’honneur de Régine Le Jan. Turnhout 2015, S. 197–204. 8  Vgl. insbesondere Rossignol: Maiestas (wie Anm. 5); Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5). Vgl. überdies Agnieszka Teterycz-Puzio: Więzy krwi czy żądza władzy? Postawa piastowskich książąt okresu rozbicia dzielnicowego wobec księżnych-wdówsprawujących rządy opiekuńcze [= Blutsbande oder Machtgier? Die Haltung der Piastenfürsten der Teilfürstentümer gegenüber verwitweten Herzoginnen, die Vormundschaften ausübten]. In: Beata Możejko/Anna Paner (Hg.): Ojcowie i synowie – o tron, władzę, dziedzictwo: w 700. rocznicę narodzin Karola IV Luksemburskiego króla czeskiego i cesarza 1316–1378 [= Väter und Söhne – über den Thron, die Herrschaft und das Erbe: Anlässlich des 700. Geburtstags von Karl IV. von Luxemburg, König von Böhmen und Kaiser]. Gdańsk 2018, S. 41–64; Marek Smoliński: Mirosława, księżna pomorska, regentka i dyplomatka [= Mirosława, Herzogin von Pommern, Regentin, Diplomatin]. In: Bożena Czwojdrak/Agata A. Kluczek (Hg.): Kobiety i władza w czasach dawnych. Katowice 2015, S. 135–162.

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Julia Burkhardt

ihrem Einfluss wenig oder keine Beachtung geschenkt wurde.9 In den letzten Jahrzehnten haben jedoch mehrere Studien zu verschiedenen europäischen Dynastien oder Herrschaftsgebieten institutionalisierte sowie informelle Ausdrucksformen von Herrscherinnen in Politik, Religion und kultureller Patronage in den Blick genommen.10 Dies bedeutete eine erhebliche Bereicherung bisheriger Diskussionen, wurde doch die Erforschung individueller männlicher Herrscher und ihres Umfelds aus (männlichen) Ratgebern durch Analysen der Wirkmacht von Kaiserinnen, Königinnen, Fürstinnen und adeligen Damen ergänzt. Neuere Studien, die sich auf die Geschlechterforschung und ihre Beziehungsperspektiven bezogen, entwickelten noch genauere Analyseansätze.11 Erfolgreich wurden allzu vereinfachende Kategorien wie „weibliche“ oder „männliche“ Macht durch differenzierte Bewertungen individueller Verhaltensmotive, den Einfluss mehrdimensionaler sozialer Beziehungen, kulturelle Traditionen und Darstellungen mittelalterlicher Geschlechterrollen ersetzt12 und sogar eigene Terminologien sowie Analysemodelle für die  9  Für

instruktive methodische Überlegungen vgl. Theresa Earenfight: Without the Persona of the Prince: Kings, Queens and the Idea of Monarchy in Late Medieval Europe. In: Gender & History 19 (2007) 1, S. 1–21; dies.: Highly Visible, Often Obscured: The Difficulty of Seeing Queens and Noble Women. In: MFF 44 (2008) 1, S. 86–90; Elena Woodacre/Cathleen Sarti: What is Royal Studies? In: Royal Studies Journal 2 (2015) 1, S. 13–20, online zugänglich unter: http://www.rsj. winchester.ac.uk/index.php/rsj/article/view/42/70 (letzter Zugriff am 15. 3. 2022). 10 Vgl. aus der Fülle der Literatur Nikolas Jaspert/Imke Just (Hg.): Queens, Princesses and Mendicants. Close Relations in a European Perspective. Wien/Zürich/Münster 2019; Elena ­ ­Woodacre (Hg.): A Companion to Global Queenship. Leeds 2018; François Chausson/Sylvain Destephen (Hg.): Augusta, Regina, Basilissa. La souveraine de l’Empire romain au Moyen Âge. Paris 2018; Claudia Zey (Hg.): Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert). Ostfildern 2015; Murielle Gaude-Ferragu: La Reine au Moyen Âge. Le pouvoir au féminin XIVe–XVe siècle. Paris 2014; Theresa Earenfight: Queenship in Me­ dieval Europe. Basingstoke 2013; Amalie Fößel: The Political Traditions of Female Rulership in Medieval Europe. In: Judith Bennett/Ruth Karras (Hg.): The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe. Oxford 2013, S. 68–83; Edward William Monter: The Rise of Female Kings in Europe, 1300–1800. New Haven 2012; Éric Bousmar u. a. (Hg.): Femmes de pouvoir, femmes politiques durant les derniers siècles du Moyen Âge et au cours de la première Renaissance. Brüssel 2012; Amalie Fößel (Hg.): Die Kaiserinnen des Mittelalters. Regensburg 2011; Martina Hartmann: Die Königin im frühen Mittelalter. Stuttgart 2009; Marcel Faure (Hg.): ­Reines et princesses au Moyen Âge: actes du cinquième colloque international de Montpellier, Université Paul-Valéry (24–27 novembre 1999). 2 Bde. Montpellier 2001; Amalie Fößel: Die Königin im ­mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume. Stuttgart 2000. 11 Matthias Becher/Achim Fischelmanns/Katharina Gahbler (Hg.): Vormoderne Macht und Herrschaft: Geschlechterdimensionen und Spannungsfelder. Göttingen 2021, darin insbesondere die methodischen Studien von Claudia Opitz-Belakhal: Macht und Geschlecht in der Vormoderne. Forschungsergebnisse und -desiderate einer Geschlechtergeschichte des Politischen, S. 13–32, sowie Kerstin Palm: Die Analysekategorie ‚Gender‘ in den Geschichtswissenschaften. Theoretische Grundlegungen und zentrale Forschungsergebnisse am Beispiel ‚Wissenschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte‘, S. 33–50. 12  Vgl. den knappen Überblick bei Julia Burkhardt/Imke Just: Ladies’ Choice. Ausdrucksformen weiblicher Macht im Mittelalter. In: Ruperto Carola 10 (2017), S. 122–129, online zugänglich unter: http://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/rupertocarola/article/viewFile/23684/17401

Selbstverständnis und Herrschaftspraxis schlesischer Regentinnen

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Herrschaft von Frauen („reginale Herrschaft“) entwickelt.13 Solche multirelationalen Ansätze beziehen sozialstrukturelle Aspekte wie das persönliche Milieu von Herrscherinnen, ihre Kontaktnetzwerke oder räumliche Bedingungen ihrer Herrschaft mit ein, aber auch politische Aspekte wie die Interaktionen der Frauen mit ihren Ehemännern oder anderen (männlichen) Angehörigen der Familie, Interventionen beziehungsweise Engagement in politischen Angelegenheiten sowie symbolhafte Handlungen.14 Um die Herrschaftspraxis von Fürstinnen und ihren Anteil an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen zu bestimmen, ist folglich ein breites Spektrum an Quellen auszuwerten. Allerdings stellt die schwierige Überlieferung relevanter Quellen eine gewisse Herausforderung dar – und das gilt, wie neuere Studien verdeutlichen, im Falle der schlesischen Herzogtümer schon für die Untersuchung der Handlungsspielräume schlesischer Fürsten im 13. Jahrhundert: Neben Urkunden sowie Siegeln, für die erst seit etwa 1200 ein markanter quantitativer Anstieg zu verzeichnen ist,15 wurden in den letzten Jahren vermehrt Herrschaftstopogra­ fien mittels archäologischer und bauhistorischer Quellen untersucht.16 Zu den (letzter Zugriff am 15. 3. 2022). Vgl. zudem die profunde Studie von Christina Lutter: Zur Repräsentation von Geschlechterverhältnissen im höfischen Umfeld Maximilians I. In: J­ ohannes Helmrath/Ursula Kocher/Andrea Sieber (Hg.): Maximilians Welt. Kaiser Maximi­lian I. im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition. Göttingen 2018, S. 41–60. Christina Antenhofer: Gonzaga Sisters Married into German Courts: Biographies, Correspondences, M ­ aterial Culture and Spheres of Action. In: Chiara Continisio/Raffaele Tamalio (Hg.): Donne Gonzaga a corte. Reti istituzionali, pratiche culturali e affari di governo. Rom 2018, S. 123–144. 13  Nikolas Jaspert: Indirekte und direkte Macht iberischer Königinnen im Mittelalter. „Reginale“ Herrschaft, Verwaltung und Frömmigkeit. In: Zey (Hg.): Frauen (wie Anm. 10), S. 73–130; Sebastian Roebert: Die Königin im Zentrum der Macht. Reginale Herrschaft in der Krone Aragón am Beispiel Eleonores von Sizilien (1349–1375). Berlin/Boston 2020. 14  Grundlegend: Christina Lutter: Herrschaft und Geschlecht. Relationale Kategorien fürstlicher Handlungsspielräume. In: Becher/Fischelmanns/Gahbler (Hg.): Vormoderne Macht (wie Anm. 11), S. 199–234. 15  Grundlegend zu Urkunden und Siegeln im hochmittelalterlichen Schlesien: Winfried Irgang: Urkundenforschung. In: Joachim Bahlcke (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Göttingen 2005, S. 53–68; Sébastien Rossignol: Preambles and Politics: Ducal and Princely Charters in Silesia, Western Pomerania, and Rügen (ca. 1200–ca. 1325). In: Sébastien Rossignol/Anna Adamska (Hg.): Urkundenformeln im Kontext. Formen der Schriftkultur im Ostmitteleuropa des Mittelalters (13.–14. Jahrhundert). Wien 2016, S. 95–118; Tomasz Jurek: Język średniowiecznych dokumentów śląskich [= Die Sprache mittelalterlicher schlesischer ­Dokumente]. In: Kwartalnik historyczny 111 (2004) 4, S. 29–45; Marek L. Wójcik: Dokumenty i kancelarie książąt opolsko-raciborskich do początków XIV wieku [= Urkunden und Kanzleien der Herzöge von Oppeln-Ratibor bis zum frühen 14. Jahrhundert]. Wrocław 1999. Zu Siegeln vgl. Zenon Piech: Studia nad legendą pieczęci Piastów [= Untersuchungen zu den Siegeln der ­Piasten]. In: Sfragisticznij Soricznik 6 (2016), S. 205–264; ders.: O średniowiecznej sfragistyce i heraldyce książęcej na Śląsku [= Zur mittelalterlichen Sphragistik und fürstlichen Heraldik in Schlesien]. In: Kwartalnik Historyczny 99 (1992), S. 3–25. 16  Vgl. exemplarisch Dominik Nowakowski: Grundherrschaft und Sozialstrukturen im mittel­ alterlichen Schlesien. Adlige Eigenwirtschaft im Fürstentum Glogau am Beispiel der Karriere der Ritterfamilie von Rechenberg. In: Aleksander Paroń u. a. (Hg.): Potestas et communitas. Interdis-

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­ edeutendsten Quellen gehören jedoch fraglos die großen historiografischen Werb ke der Zeit.17 Noch markanter offenbart sich die Überlieferungsproblematik bei der Analyse der Handlungsspielräume polnischer Fürstinnen um 1200: Zahlreiche Chronisten etwa erwähnen Fürstinnen, ihre Rolle in Sukzessionskonflikten oder ihr Agieren als Regentinnen nur am Rande oder aber in negativem Licht; bisweilen unterliegt auch die Forschung, die sich maßgeblich auf narrative oder hagiografische Quellen stützt, zeitgenössischen Stereotypen.18 Gerade deshalb lohnt sich ein Blick auf die etwas breiter dokumentierten Fälle, um die Dynamiken und Kontinuitäten der Herrschaftspraxis schlesischer Fürstinnen zu konturieren.

Der Umgang mit dynastischer Kontingenz: Sukzessionsmodelle in Polen um 1200 Vor der Analyse ausgewählter Fallbeispiele ist zunächst ein eingehender Blick auf die politischen Rahmenbedingungen fürstlicher Handlungsspielräume erforderlich, allen voran auf die zeitgenössischen Sukzessionsordnungen und die sich da­ ran entfachenden Streitigkeiten um Ansprüche auf Macht, Vorrang und Einfluss. Als Wendepunkt in der Geschichte Polens gilt gemeinhin das sogenannte Testament des polnischen Herzogs Bolesław III. (genannt „Schiefmund“) aus dem Jahr 1138. Anders als es die Bezeichnung vermuten lässt, bezieht sich der Ter­minus „Testament“ nicht auf die Form, sondern auf den Inhalt des Dokuments. Er beziplinäre Beiträge zu Wesen und Darstellung von Herrschaftsverhältnissen im Mittelalter östlich der Elbe. Wrocław 2010, S. 227–244; Dominik Nowakowski: Siedziby książęce i rycerskie księstwa głogowskiego w średniowieczu [= Die mittelalterlichen Ritter- und Herzogsburgen des Herzogtums Glogau]. Wrocław 2008. Grundlegend zudem Sebastian Brather: Siedlungsarchäologie. In: Bahlcke (Hg.): Historische Schlesienforschung (wie Anm. 15), S. 1–28; Andreas Rüther: Höfe- und Residenzenforschung. In: ebd., S. 407–430. 17  Zu verweisen ist vor allem auf die Chronik des Gallus Anonymus sowie die „Chronica Polonorum“ des Vincentius Kadłubek. Vgl. aus der Fülle der Literatur exemplarisch: Gallus Anonymus, Polens Anfänge. Chronik und Taten der Herzöge und Fürsten von Polen. Übers., eingel. und erkl. von Josef Bujnoch. Graz 1978; Anna Aurast: Fremde, Freunde, Feinde. Wahrnehmung und Bewertung von Fremden in den Chroniken des Gallus Anonymus und des Cosmas von Prag. Bochum 2019; Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius. Übers., eingel. und hg. von Eduard Mühle. Darmstadt 2014; Darius Güttner-Sporzyński (Hg.): Writing History in Medieval Poland: Bishop Vincentius of Cracow and the ‚Chronica Polonorum‘. Turnhout 2017; Norbert Kersken/Grsicha Vercamer (Hg.): Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik. Wiesbaden 2013. 18  Tracy Adams: Powerful Women and Misogynistic Subplots: Some Comments on the Neces­ sity of Checking the Primary Sources. In: MFF 51 (2016) 2, S. 69–81, online zugänglich unter: https://scholarworks.wmich.edu/mff/vol51/iss2/8/ (letzter Zugriff am 15. 3. 2022); Katherine Louise French: Medieval Women’s History: Sources and Issues. In: Joel Rosenthal (Hg.): Understanding Medieval Primary Sources. Using Historical Sources to Discover Medieval Europe. London 2012, S. 196–209; Martina Hartmann: Sage – Klischee – Fiktion? Zum Bild der merowingischen Königinnen in den frühmittelalterlichen erzählenden Quellen. In: Ewa Dewes/Sandra Duhem (Hg.): Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext. Berlin 2008, S. 23–32.

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zeichnet die von Bolesław III. verfügte Nachfolgeregelung, wie sie in der um 1200 entstandenen „Chronik der Polen“ des Krakauer Bischofs Vincentius Kadłubek beschrieben ist.19 So verfügte Bolesław III. zur verbindlichen Sukzes­sionsregelung eine „Senioratsordnung“ und koppelte sie mit dem Prinzip intergenerationeller Hierarchie: Künftig sollte der älteste männliche Verwandte die fürstliche Oberherrschaft über Polen haben, während die Jüngeren ihm als Junioren unterstellt waren, gleichzeitig aber über eigene Territorien verfügten.20 Dieser Bestimmung waren – im Grunde schon seit Beginn der piastischen Herrschaftsbildung im 10. Jahrhundert – stetige innerfamiliäre Konflikte um die Vorherrschaft oder gar die Gesamtherrschaft in Polen vorangegangen. Diese wurden zusätzlich dadurch befeuert, dass keine verbindlichen Regeln zu Herrschaftsübergabe existierten und in Sukzessionskonflikten deshalb immer wieder unterschiedliche Argumente zum Einsatz kamen (Primogenitur, rechtmäßige Abstammung, Idoneität etc.).21 Das „Testament“ Bolesławs III. ist vor diesem Hintergrund als Maßnahme zur Bewältigung von dynastischer Kontingenz zu verstehen: Sys­ tematische Bestimmungen zur Sukzession sollten künftige Erb­folgestreitigkeiten vermeiden und ein allgemein gültiges Modell etablieren. Seine Umsetzung führte auch zur Aufgliederung Polens in mehrere Teilfürstentümer (namentlich die Herzogtümer Schlesien, Krakau-Sandomierz, Großpolen sowie Masowien).22 19  Zur

zeitgenössischen Terminologie vgl. Marek Derwich: Testament Bolesława Krzywoustego w polskiej historiografii średniowiecznej [= Das Testament Bolesław III. in der mittelalterlichen polnischen Historiografie]. In: Acta Universitatis Wratislaviensis 499. Historia 33 (1980), S. 113– 153. Vgl. aus der umfangreichen Forschungsliteratur außerdem die klassische Studie von Gerard Labuda: Testament Bolesława Krzywoustego [= Das Testament Bolesław III. „Schiefmund“]. In: Antoni Horst (Hg.): Opuscula Tymienecki septuagenario dedicata. Poznań 1959, S. 171–194. 20  Chronik der Polen (wie Anm. 17), Buch III., Kap. 26, 19–22, S. 278–281, hier: S. 278: Qui dum fatale munus a se iam exigi sentiret, testamentales mandat conscribi codicillos, in quibus et auita­ rum uices uirtutum et regni successionem quattuor legat fi liis, certos tetrarchiarum limites dister­ minans, eatenus ut penes maiorem natu et Cracouiensis prouincie principatus et auctoritas reside­ ret principandi. De quo si quid humanitus obtigisset, semper etatis maioritas et primogeniture ratio litem successionis decideret. Siehe dazu (in regional vergleichender Perspektive) auch Dániel Bagi: Divisio Regni. The Territorial Divisions, Power Struggles, and Dynastic Historiography of the Árpáds of 11th- and Early 12th-Century Hungary, with Comparative Studies of the Piasts of Poland and the Přemyslids of Bohemia. Budapest 2020, bes. S. 48–76. 21  Maike Sach: Reale und gedachte Ordnung. Regnum als Ordnungskonfiguration in Prozessen der Integration, der Dekomposition und Reintegration im früh- und hochmittelalterlichen Polen. In: Paroń u. a. (Hg.): Potestas et communitas (wie Anm. 16), S. 143–161; Zbigniew Dalewski: Was Herrscher taten, wenn sie viele Söhne hatten – zum Beispiel im Osten Europas. In: Bernhard Jussen (Hg.): Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit. München 2005, S. 125–137; Eduard Mühle: Die Piasten. Polen im Mittelalter. München 2011, bes. S. 63–73. 22 In der älteren Forschung wurde diese Phase wiederholt als „Zersplitterung“ oder „Niedergang“ apostrophiert, in jüngeren Studien dagegen stärker als Ausweis für Prozesse der Herrschaftsverdichtung und Stabilisierung gedeutet. Für einen Überblick über ältere Debatten vgl. Sławomir Gawlas: Das Erb- und Wahlrecht des Herrschers in Polen im 14. Jahrhundert. In: Ulrike Hohensee u. a. (Hg.): Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption. 2 Bde. Berlin 2009, hier: Bd. 2, S. 665–712. Für neuere Interpretationen siehe Bagi: Divisio regni (wie Anm. 20).

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Schon bald wurden die Grundprinzipien dieser Ordnung (Interessenausgleich und die Integration mehrerer Akteure) jedoch auf den Prüfstand gestellt. So bemühte sich Herzog Władysław als neuer senior von Polen und zugleich als Herzog von Schlesien um die Alleinherrschaft über ganz Polen – und handelte damit gegen die Interessen seiner jüngeren Brüder (Bolesław IV., genannt „Kraushaar“, Mieszko III., genannt „der Alte“, Kasimir II., genannt „der Gerechte“, und Heinrich von Sandomir). Der Anführer in dieser Konstellation war der nächstgeborene Bruder Bolesław IV. „Kraushaar“, der auch im Namen seiner jüngeren Brüder agierte.23 Beide Streitparteien suchten in dieser Auseinandersetzung Unterstützung im eigenen Land oder bei den Nachbarn (so im Falle Władysławs, der mit Konrad III. über seine Gemahlin Agnes von Babenberg verwandt war),24 eine Eini­gung gelang jedoch nicht. Vielmehr vereinnahmte Bolesław IV. „Kraushaar“ in Missachtung der väterlichen Sukzessionsordnung (wohl aber in Anerkennung des Senioratsprinzips) das Seniorat; der schlesische Herzog Władysław musste endgültig ins Reich fliehen, wo er 1159 verstarb. Freilich beanspruchten nun Władysławs Söhne das väterliche Erbe im Herzogtum Schlesien.25 1163 lenkte Bolesław IV. „Kraushaar“ (mutmaßlich auf den militärischen und politischen Druck Friedrich Barbarossas hin) ein und gab seinen Neffen Schlesien zurück. Der nun regierende Sohn Władysławs des „Vertriebenen“, Bolesław (genannt „der Lange“), war – wie Siegel und Intitulationen (dux Slezie) belegen – bestrebt, die eigene herzogliche Position von der seines Onkels als pol­ nischem senior abzugrenzen.26 Als er sich in den 1170er-Jahren jedoch mit den eigenen Brüdern sowie seinem Sohn aus erster Ehe überwarf, fand man eine pragmatische Lösung zur innerfamiliären Befriedung: Schlesien wurde zwischen Bolesław 23  Das

ist insofern bemerkenswert, als er seinem älteren Bruder ja gerade die Senioren-Stellung streitig machte, die er selbst gegenüber den jüngeren beanspruchte. In der „Chronik der Polen“ wird der Streit übrigens (in leicht misogyner Sichtweise) auf das Betreiben von Władysławs „auswärtiger“ Ehefrau Agnes von Babenberg zurückgeführt und mit unterschiedlichen Vorstellungen von erblichen Rechten begründet; Chronik der Polen (wie Anm. 17), Buch III, Kap. 26/23, S. 280 f. Zu Agnes und ihrer polemischen Beurteilung in zeitgenössischen Chroniken vgl. zudem Eduard Mühle: The Real and Perceived Influence of Minority Groups in Poland in the Twelfth and Thirteenth Centuries. In: JMH 45 (2019) 3, S. 389–404, bes. S. 392–396. 24  Vgl. dazu Zbigniew Dalewski: Polnische Herzöge und das Reich im 12. Jahrhundert. In: Knut Görich/Martin Wihoda (Hg.): Verwandtschaft – Freundschaft – Feindschaft. Politische Bindungen zwischen dem Reich und Ostmitteleuropa in der Zeit Friedrich Barbarossas. Wien/Köln/ Weimar 2019, S. 149–176, hier: bes. S. 156–158; Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. München 2011, bes. S. 262–264; Magdalena Biniaś-Szkopek: Mid-twelfth-century Poland between East and West – Conflicts, Alliances, Marriages. In: Historia Slavorum Occidentis 2 (2015), S. 15–35. 25  Magdalena Biniaś-Szkopek: Dla kogo Śląsk? Konflikty Piastów w drugiej połowie XII wieku [= Wem gehört Schlesien? Konflikte der Piasten in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts]. In: Opolskie Studia Administracyjno-Prawne XIV (2016) 4, S. 25–36. 26  Sébastien Rossignol hat jüngst gezeigt, dass sich der Titelgebrauch in herzoglichen Urkunden bereits im 12. Jahrhundert ausdifferenzierte und je nach Adressatenkreis und Situation gezielt auf regionale Zugehörigkeiten verwiesen wurde. Rossignol: Maiestas (wie Anm. 5), S. 99–102; außerdem Tomasz Jurek: Die Entwicklung eines schlesischen Regionalbewußtseins im Mittelalter. In: ZfO 47 (1998), S. 21–48.

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„dem Langen“ (Gebiet rund um Breslau: Schlesien-Breslau oder „Niederschle­ sien“) und seinem Bruder sowie seinem Sohn (Gebiete um Ratibor sowie Oppeln: Oppeln-Ratibor oder „Oberschlesien“) in drei separate Entitäten aufgeteilt.27 In der Region bewegte sich der Umgang mit der fürstlichen Sukzession zu dieser Zeit im Spannungsfeld zwischen Einheitsstreben und Kompensationsver­suchen. Die schlesische Dreiteilung hatte jedoch nur rund 20 Jahre Bestand, bis es 1201 Mieszko I. „Humpelbein“ gelang, die Gebiete in Oppeln und Ratibor zu einem Territorium zusammenzuführen. Um die Etablierung des neuen Herzogtums Oppeln-Ratibor auch langfristig abzusichern, einigte sich Mieszko mit Herzog Heinrich I., dem Oberhaupt der konkurrierenden Linie von Schlesien-Breslau, vertraglich: Die Herzöge erkannten gegenseitig den aktuellen Territorial- sowie Besitzstand an und schlossen zudem prospektiv etwaige Erbansprüche zwischen den beiden Familienlinien aus. Damit sollte die Souveränität der beiden Territorien, ihrer Herzöge sowie deren Familien gestärkt werden – eine umsichtige Regelung, deren ausgleichendes Potenzial auch Papst Innozenz III. anerkannte.28 Sowohl bei den Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen dem senior und den Teilfürsten in Polen als auch bei den Konflikten innerhalb Schlesiens ging es somit nicht allein darum, wem die Nachfolge unter welchen Bedingungen und aus ­welchen Rechten zukommen sollte, sondern stets auch um die Frage, wie mit konkurrierenden Kräften umzugehen war. Dies lenkt den Blick nicht nur auf den Kreis der unmittelbar beteiligten Personen, sondern auch auf vermittelnde oder entscheidende Autoritäten und eröffnet damit schließlich die Frage nach genderspezifischen Handlungsspielräumen bei Nachfolgestreitigkeiten.29

Regentschaft mit Brief und Siegel: Viola von Oppeln-Ratibor Vor diesem Hintergrund erweist sich das eingangs bereits genannte Beispiel Herzogin Violas von Oppeln-Ratibor als besonders interessant. Über die Herkunft Violas und ihren Werdegang vor ihrer Ehe mit Herzog Kasimir I. von Oppeln27 Sadowski: Książęta opolscy (wie Anm. 1), S. 24  f.; Biniaś-Szkopek: Dla kogo (wie Anm. 25), S. 29–33. 28  Der Vertrag zwischen Heinrich I. und Mieszko durch Innozenz III. wurde am 25. 11. 1202 bestätigt; Schlesisches Urkundenbuch. Bd. 1: 971–1230 [im Folgenden: SUB I]. Hg. von Heinrich Appelt und Josef Joachim Menzel. Köln 1963, Nr. 80, S. 52 f., hier: S. 52: Sane in audientia nostra fuit ex tu aparte propositum, quod inter te ac nobilem virum Mesconem patruum tuum talis compositio intervenit, quod acceptis mille marcis argenti, quas ipsi solvisti, contentus esset castris et terra, que compositionis tempore detinebat, nec ullo tempore ad aliquam partem terre vel castra, que titulo successionis paterne tenebas, aspiraret ullatenus aut te vel filium tuum in posterum molestaret; siehe auch das päpstliche Mandat an den Erzbischof von Gnesen sowie weitere Bischöfe zur Einhaltung dieses Vertrags ebd., Nr. 81, S. 53. Für den Kontext der Verhandlungen vgl. außerdem Benedykt Zientara: Heinrich der Bärtige und seine Zeit. Politik und Gesellschaft im mittelalter­ lichen Schlesien. München 2002. 29 Vgl. dazu die Überlegungen bei Teterycz-Puzio: Regency (wie Anm.  6) sowie Rossignol: Femmes (wie Anm. 7).

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Ratibor ist wenig bekannt – die Vermutung, Viola sei eine bulgarische Prinzessin gewesen, möglicherweise die Tochter des bulgarischen Zaren, basiert allein auf ­einer Bemerkung des spätmittelalterlichen Chronisten Jan Długosz (1415–1480).30 Der Mangel an aussagekräftigen Quellen über Violas Hintergrund hat in der einschlägigen Forschung zu intensiven Debatten geführt, die neben der fürstlichen Außenpolitik der Piasten vor allem Migrationsprozesse infolge fürstlicher Heiraten thematisierten.31 Größere Gewissheit als über Anbahnung und Schließung der Ehe zwischen Viola und Kasimir besteht über ihre Familienverhältnisse: Gemeinsam hatte das Paar zwei Kinder, die Söhne Mieszko II. (genannt „der Dicke“) und Władysław I., die beide in den 1220er-Jahren geboren wurden und mithin beim Tod des Vaters noch minderjährig waren.32 Angesichts der bisherigen Sukzessionsprinzipien (Primogenitur, zugleich kompensatorischer Ausgleich mit anderen Familienlinien) schien eine Handhabung der Vormundschaft durch den ältesten männlichen Verwandten der anderen schlesischen Familienlinie denkbar. In diesem Fall war das Heinrich I. (genannt „der Bärtige“), seit 1201 Herzog von Schlesien-Breslau.33 30  Alexander Przezdziecki (Hg.): Joannis Dlugossi seu Longini canonici Cracoviensis Historiae Polonicae Libri XII. Tomus II: Libri V, VI, VII, VIII. Cracoviae 1873, hier: Liber VII, S. 327: Vi­ ola genere et natione Bulgara, Ducissa de Opol, moritur. Zur Biografie Violas vgl. Władysław Dziewulski: Bułgarka księżną opolską [= Eine Bulgarin als Herzogin von Oppeln]. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 24 (1969), S.  159–170; Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), bes. S. 137–152. Zur politischen Relevanz ihrer Abstammung zudem Gábor Barabás: Prinz Koloman und Herzogin Viola von Oppeln. Beitrag zu einem historiografischen Disput. In: Ungarn-Jahrbuch 32 (2014/2015), S. 1–24 sowie ders.: Viola opolei hercegnő és Kálmán szlavón herceg. Egy historiográfiai vita margójára [= Herzogin Viola von Oppeln und Prinz Kalman von Slawonien. Anmerkung zu einer historiografischen Debatte]. In: Világtörténet 5 (2015), S. 5–28, online zugänglich unter: https://tti.abtk.hu/images/kiadvanyok/folyoiratok/vilagtortenet/vt_ 2015_1/Barabas.pdf (letzter Zugriff am 15. 3. 2022). Vgl. zudem Renata Schumann: Viola, księżna opolsko-raciborska i jej otoczenie [= Viola, Herzogin von Oppeln-Ratibor und ihr ­Umfeld]. In: Zeszyty Eichendorffa 2 (2003), S. 34–50, online zugänglich unter: https://www.eichendorff.pl/ resources/zeszyty_eichendorff/ze002.pdf (letzter Zugriff am 15. 3. 2022) sowie knapp Rossignol: Maiestas (wie Anm. 5), S. 41 f. Zur literarischen Verarbeitung vgl. Галя Cимеонова-Конах: За „българските мозайки“ и княгиня Венцислава-Виола в полската литературна и културна памет [= Über die „Bulgarischen Mosaike“ und Fürstin Ventsislava-Viola im polnischen literarischen und kulturellen Gedächtnis]. In: Slavica Lodziensia 2 (2019), S. 233–244, online zugänglich unter: https://doi.org/10.18778/2544-1795.02.23 (letzter Zugriff am 15. 3. 2022). 31 Anna Pobóg-Lenartowicz: Viola, Bułgarka, Księżną Opolską. Przyczynek do migracji małżeńskich w średniowieczu [= Viola, die Bulgarin, Herzogin von Oppeln. Anmerkungen zur Migration durch Heirat im Mittelalter]. In: Anna Chlebowska/Katarzyna Sierakowska (Hg.): Kobiety i procesy migracyjne. Warszawa 2010, S. 11–17. 32  Sadowski: Książęta opolscy (wie Anm. 1), S. 49–60 (Mieszko II.) sowie S. 61–80 (Władysław I.); Jerzy Rajman: Mieszko II., der Dicke, Herzog von Oppeln und Ratibor (1239–1246). In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 53 (1995), S. 241 f.; ders.: Mieszko II Otyły książę opolsko-raciborski (1239–1246) [= Mieszko II. der Dicke, Herzog von Oppeln-Ratibor (1239–1246)]. In: Kwartalnik historyczny 100 (1993) 3, S. 19–41. 33  Zu Heinrich vgl. Zientara: Heinrich der Bärtige (wie Anm. 28). Bereits in anderen Fällen hatte Heinrich der Bärtige versucht, die Vormundschaft über unmündige Söhne zu erlangen – so etwa gegenüber Herzogin Grzymisława von Krakau-Sandomierz nach dem Tod ihres Ehemanns ­Leszeks „des Weißen“ 1227. Vgl. dazu Chronicon Polono-Silesiacarum. Hg. von Wilhelm Arndt

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Unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes scheint jedoch Viola die Regentschaft für die Söhne übernommen zu haben. Dafür sprechen zumindest gleich mehrere Urkunden. Wie Marek Wójcik ermittelt hat, wurden im Zeitraum von 1211 bis 1281 (also dem Zeitraum, in dem Kasimir, Viola sowie ihre Söhne Mieszko und Władysław herrschten) insgesamt 61 herzogliche Urkunden ausgestellt, von denen vier auf Viola entfallen.34 Neben diesen Urkunden, die die Herzogin in ihrem eigenen Namen und dem ihrer Söhne ausstellte (dei gracia ducissa de Opol),35 gibt es auch Dokumente, in denen die ducissa de Oppol gemeinsam mit ihren Söhnen unter den Zeugen aufgeführt wurde.36 Deutlich markierte vor allem die Doppelnennung von Herzogin und Söhnen (ducissa …cum filio …), dass Viola sich als rechtmäßige Herrscherin in der Nachfolge ihres Mannes verstand, ihre Position aber dezidiert an die Ansprüche ihrer Söhne band. Zu diesem Ausdruck politischer Kontinuität passt auch, dass sie das Siegel ihres Mannes verwendete.37 Zur Absicherung ihrer Position ergriff die Herzogin aber noch weitere Maßnahmen: 1233 wandte sich Viola an Papst Gregor IX., bat diesen um Schutz und vor allem um päpstliche Bestätigung ihrer Ansprüche als Vormund für die Söhne.38 Die Reaktion auf diese Supplik, deren Wortlaut nicht überliefert ist, folgte wenig später: Am 3. Dezember 1233 erklärte Gregor IX., dass er als Beschützer aller Witwen Viola und ihre Söhne mitsamt ihrem Besitz in seinen Schutz nehme.39 Drei Wochen später folgte ein päpstliches Schreiben an die regional zustän(MGH Scriptores 19). Hannover 1866, S. 553–570, hier: S. 564: sed relicta Lestkonis, tyrannide i­llius considerate, cum consilio ac consensus procerum pium principem Henricum ducem Slesie, ­dictum cum barba, maritum sancte Hedwigis, advocans se suosque parvulos duos illius tutele con­ misit […]. Zum Kontext Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 65–95; Teterycz-Puzio: Więzy (wie Anm. 8), S. 48–52 sowie Barabás: Prinz Koloman (wie Anm. 30), S. 6. 34 Marek L. Wójcik: Diploma Opoliense. Das Formular der Oppelner Herzogsurkunden im 13. Jahrhundert. In: Rossignol/Adamska (Hg.): Urkundenformeln (wie Anm. 15), S. 119–147. 35  SUB I, Nr. 319 (1230), S. 234: Viola von Oppeln befreit gemeinsam mit ihren noch minderjährigen Söhnen ein Dorf von Zahlungen und gewährt ihm die ritterliche Güterfreiheit (ego Uiola dei gratia ducissa de Opol cum meis Mescone et Vlodizlao pueris usa baronum consilio pro anima domini mei, cum nature concessisset). 36  Schlesisches Urkundenbuch. Bd. 2: 1231–1250 [im Folgenden: SUB II]. Hg. von Heinrich Appelt und Josef Joachim Menzel. Wien 1977, Nr. 1, S. 1: Erwähnung Violas und ihres Sohnes Mieszko (ducissa de Oppol cum filio Mesechone) in einer Schenkungsurkunde zugunsten des Breslauer Heiliggeistspitals. Eine Übersicht der in Violas Namen oder mit ihrer Erwähnung ausgestellten Urkunden findet sich bei Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 151 f.; vgl. zudem den ­Vergleich mit Urkunden aus der bischöflichen Kanzlei bei Wójcik: Dokumenty (wie Anm. 15), S. 55–57. 37 Rossignol: Authority (wie Anm. 2), S. 68  f. Vgl. zudem Wójcik: Dokumenty (wie Anm. 15), S. 56 f. 38 Einen Überblick gibt Barabás: Prinz Koloman (wie Anm. 30). Zur Entwicklung päpstlicher Schutzurkunden zugunsten europäischer Fürsten (hier: polnischer Fürsten) Johannes Fried: Der päpstliche Schutz für Laienfürsten. Die politische Geschichte des päpstlichen Schutzprivilegs für Laien (11.–13. Jh.). Heidelberg 1980, S. 289–306. 39  SUB II, Nr. 50 (1233), S. 33  f., hier: S. 34: Tuis igitur, dilecta in Christo filia, devotionis precibus inclinati tuam ac filiorum tuorum personas in devotione ecclesie persistentes cum omnibus bonis, que impresentiarum iuste ac rationabiliter possidetis etc. in modum protectionis usque communi­ mus.

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digen geistlichen Amtsträger, den Erzbischof von Gnesen sowie die Bischöfe von Breslau und Olmütz: Sie sollten die vidua ducissa de Oppol mitsamt ihren Söhnen in ihren Schutz nehmen, wie es bereits der Papst getan hatte; auch der ungarische Prinz Koloman wurde mit einem solchen Schreiben zum Protektor von Violas Angelegenheit gemacht.40 Damit war zwar noch nichts über die Vormundschaftsrechte oder die Ausgestaltung der Regentschaft gesagt – immerhin aber wurden die Ansprüche Violas und die ihrer Söhne von einer externen Instanz anerkannt und weitere Akteure aktiv zu deren Anerkennung sowie Verteidigung aufgefordert. Inhaltlich wie zeitlich in engem Zusammenhang damit steht das Siegel, das Viola ab 1234 verwendete. Es handelt sich um ein Majestätssiegel, das die Herzogin auf einem Thron sitzend zeigt. Zu ihrer rechten und linken Seite befinden sich – deutlich kleiner figuriert – die beiden Söhne. Die Umschrift weist Namen und Posi­ tion der Herzogin aus (SIGILLUM VIOLE DUCISSE IN OPOLE), die Söhne werden dagegen nicht erwähnt. Zenon Piech hat in diesem Zusammenhang zwar von einer „Dissonanz“ zwischen bildlicher und textlicher Darstellung gesprochen, zugleich aber darauf verwiesen, dass sich die Aussagen von Umschrift und Bild komplementieren sollten. Diese Deutung korrespondiert mit Violas kontinuierlichen Verweisen auf ihre Doppelfunktion als Herzogin und Vormund auch in anderen Dokumenten.41 Nach Ansicht Piechs ist Violas Majestätssiegel für diese Zeit dennoch außer­ gewöhnlich – vergleichbare Darstellungen sind für polnische Fürstinnen nicht ­bekannt.42 Möglicherweise wollte die Herzogin mit ihm ikonografisch ihre exklusive Rolle als legitimer Vormund und rechtmäßige Regentin zum Ausdruck bringen; gleichzeitig betonte sie auf diese Weise, dass ihre Herrschaftsansprüche auf der dynastischen Sukzessionslinie von ihrem Mann zu ihren Söhnen beruhten. Dieses doppelte Selbstverständnis spiegelt sich auch in der Intitulatio Violas als „Herzogin von Oppeln und Witwe des Herrn Kasimir“ wider, die sich in einer Urkunde aus dem Jahr 1235 (erneut mit Violas Siegel) findet.43 40  Ebd., Nr. 52 (1233), S. 34: Cum igitur dilectam in Christo filiam V(iolam) viduam ducissam de Opol ac filios eius in devotione ecclesie persistentes cum omnibus bonis, que impresentiarum iuste ac rationabiliter possident, sub apostolice sedis protectione receperimus speciali, mandamus, quati­ nus eos contra huiusmodi protectionis nostre tenorem non permittatis ab aliquibus indebite mole­ stari, molestatores huiusmodi etc. usque compescendo. Vgl. zudem Barabás: Prinz Koloman (wie Anm. 30). 41 Piech: Studia (wie Anm.  15), S. 22. Vgl. zudem ders.: O średniowiecznej sfragistyce (wie Anm. 15), S. 22. Für einen Überblick über die Gestaltung herzoglicher Siegel vgl. Marian ­Gumowski: Handbuch der Polnischen Siegelkunde. Graz 1966, S. 44–68 (zu Schlesien: S. 52–54). 42  Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 60, verweist jedoch auf zwei Siegel Mirosławas von Pommern aus den Jahren 1224 und 1229, die die Herzogin mit einer Kindergestalt an der Seite zeigen. 43  SUB II, Nr. 105 (1235), S. 72: Ego Viola dei miseracione ducissa Opoliensis relicta dominis ducis Casimiri. Ob Viola in derselben Urkunde mit dem Dank an den Empfänger, Bischof Thomas von Breslau, für seine Treue ihr und den Söhnen gegenüber auf dessen Position in der Vormundschaftsfrage anspielte, bleibt unklar; vgl. ebd.: [Thomas Wratizlauiensis episcopus] qui michi et

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Doch auch der Kontext, in dem das programmatische Siegel erstmals verwendet wurde, lässt sich als Argument für eine Machtdemonstration Violas oder für ein symbolisches Korrektiv zu Heinrichs Anspruch werten.44 Violas Majestätssiegel befindet sich nämlich an einer Urkunde aus dem Jahr 1234, in der auch Herzog Heinrich der Bärtige von Schlesien-Breslau Ansprüche auf die Vormundschaft über Violas Söhne geltend machte. In der Urkunde bestätigte Heinrich die Rechte und Freiheiten des von seinem verstorbenen Bruder (und mithin Violas Ehemann) Kasimir geförderten Klosters Czarnowanz.45 Neben zahlreichen Verweisen auf das fromme Wirken Kasimirs und seiner Witwe Viola findet sich darin auch ein Passus, der Aufschluss über Heinrichs Selbstverständnis in der Vormundschaftsfrage gibt: Offenbar verstand Heinrich seine Verantwortung in einem doppelten Sinne als Obhut beziehungsweise Schutz (tutela) sowie Lenkung (gubernatio) ­seiner beiden Mündel.46 Dabei schien er Unterstützung von einigen Amtsleuten seines verstorbenen Bruders zu erhalten. Gegen Ende der 1230er-Jahre scheint das Spannungsverhältnis zwischen Viola von Oppeln und Heinrich von Schlesien, die sich beide als rechtmäßige Vertreter der Kinder verstanden, durch einen Kompromiss gelöst worden zu sein. Dafür sprechen zunächst Hinweise auf die gemeinsame Teilnahme Heinrichs und Violas sowie ihrer Gefolgsleute an politischen Versammlungen.47 Überdies erhielt Viola mit ihren Söhnen 1238 von Heinrich (oder von dessen gleichnamigem Sohn) die Gebiete von Ruda und Kalisch.48 Dabei scheint es sich um einen situativen Auspueris meis intepide [sic!] semper suum exhibuit obsequium negocia nostra diligenter et utiliter gerendo, volens ei pro beneficiis suis grata vicissitudine respondere et cupiens ipsum obligatiorem pueris meis reddere […]. Vgl. dazu Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 143 f. 44  Rossignol: Authority (wie Anm. 2), S. 70: „Through symbolic representation, the seal denoted that it was through her position as duchess and mother that Viola could express legal authority – even though Henry the Bearded insisted on being the legal guardian of her children.“ 45  Zur Klosterpolitik der Herzöge von Oppeln-Ratibor vgl. Anna Grabowska: Donacje książąt opolskich na rzecz klasztorów. Między pobożnością a polityką [= Schenkungen der Herzöge von Oppeln zugunsten von Klöstern. Zwischen Frömmigkeit und Politik]. In: Acta historica Universitatis Silesianae Opaviensis 5 (2012), S. 11–32. 46  SUB II, Nr. 80 (1234), S. 52: Eapropter nos Henricus dei gracia dux Zlesie et Cracouię presenti documento notum facimus pesentibus et futuris, quod, cum tutelam et gubernationem filiorum dilecti fratris nostri ducis Casimiri, Mesconis scilicet et Wlodislaui, gerentes essemus […]. Für den Kontext Zientara: Heinrich der Bärtige (wie Anm. 28), bes. S. 279–297. 47  SUB II, Nr. 120 (1236), S. 78  f., hier: S. 79: Actum est hoc anno dominice incarnationis millesimo ducentesimo tricesimo sexto in Grossouiz, in presentia domini ducis Henrici senioris, cum rediret de Cracouia, et domine mee V(iole) illustris ducisse de Opol et domicelli mei Meseconis […] et multorum aliorum nobilium tam de terra ducis Henrici quam ducatu Opoliensi. Vgl. dazu Dziewulski: Bułgarka (wie Anm. 30), S. 174. Wieso Rajman: Mieszko II Otyły (wie Anm. 32), S. 26–28, die Bezeichnung domicellus meus in der Urkunde des Kastellans von Oppeln als Beleg für den Erbanspruch des so titulierten Mieszko versteht, erschließt sich mir nicht. 48  So bezeichnete sich Viola in einer Urkunde aus dem Jahr 1238 bereits als „Herzogin von Kalisch und Ruda“; SUB II, Nr. 156 (1238), S. 100 f., hier: S. 100: Hinc est, quod aetati, quae praesens et quae ventura est, notum esse cupimus, quod nos Viola dei gratia ducissa de Kalisz et de Ruda cum filio nostro duce Vladislao […] contulimus […]. Vgl. dazu Dziewulski: Bułgarka (wie Anm. 30), S. 174 f.

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gleich gehandelt zu haben, weil Heinrich II. von Schlesien („der Fromme“) eigene Herrschaftsrechte in Oppeln-Ratibor geltend machte.49 Obgleich Viola fortan als „Herzogin von Kalisch und Ruda“ urkundete, setzte die Praxis der Doppelnennung mit ihren Söhnen Maßstäbe: Auch diese sollten sich noch Jahre später in ­ihren Urkunden auf den Rat und die Autorität Violas berufen.50 Unterstützt von seiner Mutter und anderen fürstlichen Verwandten gelang es Violas ältestem Sohn Mieszko II. letztlich, sich durchzusetzen. Er regierte bis zu seinem Tod (1246) als Herzog von Oppeln-Ratibor; ihm folgte sein jüngerer Bruder Władysław  I. als Herzog von Oppeln-Ratibor nach.51 Das entsprach den Wünschen des Verstor­ benen: In seinen (undatierten) testamentarischen Verfügungen hatte Mieszko II. seinen Bruder zu seinem Nachfolger bestimmt und zudem seine Mutter mit den strategisch bedeutsamen Territorien Ratibor und Teschen bedacht.52 Auf die Regierung ihres zweitgeborenen Sohnes Władysław scheint Viola keinen nennenswerten Einfluss mehr genommen zu haben – zumindest legt das der Abbruch der Quellenüberlieferung nahe. Der Nekrolog des von ihrem Mann Kasimir geförderten Klosters Czarnowanz dokumentiert ihren Tod für einen 7. September (vermutlich 1251).53

Vermittlung und familiäre Integration: Anna von Böhmen Das Herzogtum Oppeln-Ratibor hatte nur bis zum Ende des 13. Jahrhunderts Bestand, dann wurde es ein weiteres Mal geteilt. Bei solchen Teilungen wurden, wie Andreas Rüther betont, Ansprüche aus der Primogenitur gegen den dynastischen 49 Vgl. Zbigniew Bereszyński: Opolscy władcy ziemi rudzkiej i ich dziedzictwo historyczne [= Die Oppelner Herrscher von Ruda und ihr historisches Erbe]. In: Rocznik Wieluński 12 (2012), S. 81–87, bes. S. 82. 50 Vgl. beispielsweise die Schenkung Mieszkos II. an das Heiliggeistspital in Breslau; SUB II, Nr. 166 (1239), S. 106 f., hier: S. 107: Nos vero paternae iussioni, sicut decet, obedientes dictam ­hereditatem cum suis pertinentiis de consensu et praecepto dilectae matris nostrae dominae Violae et dilecti fratris nostri iunioris ducis Vladislai dicto hospitali contulimus […]. 51  Joesef Emler (Hg.): Fontes rerum Bohemicarum. Bd. II: Cosmae Chronicon Boemorum cum continuatoribus. Bd. 2. Praha 1874, S. 286: Mortuo etiam tunc Meskone, duce Poloniae, sine libe­ ris, primates eiusdem ducatus Wladislaum praedictum sibi in ducem accipiunt, se et sua iurisdictioni suae omnino subdendo. Zum Kontext Sadowski: Książęta opolscy (wie Anm. 1), S. 64 f. 52  SUB II, Nr. 295 (1245?), S. 176  f., hier: S. 177: Quibus conpletis dilecto fratri meo duci Wladiz­ lao committo totam terram, si uxor mea prole carebit […]. Matri mee vero dilecte satisfaciendo de commissis conferob) duo castra Tessin et Rathibor cum suis attineneiis excepto censu istius anni terre tocius partís mee, quem pro debitis et elemosinis domino episcopo Wratislauiensi T(home) et priori fratrum ordinis Predicatorum cum fratribus predicte domus committo, quos executores ­tocius mei testamenti, ne, quod absit, per aliquem possit vel debeat irritali, constituo. Vgl. auch Rajman: Mieszko II Otyły (wie Anm. 32), S. 35. 53  Wilhelm Wattenbach (Hg.): Necrolog des Klosters Czarnowanz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856), S. 226–228, hier: S. 228: Sept. 7. Woyla Ducissa ­Oppoliensis. Vgl. zudem Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 150; ausführlich zum Ne­ krolog und seiner Funktion auch Przemysław Wiszewski: Herzogliche Stifter und Frauenklöster in Schlesien (13.–Mitte 14. Jahrhundert). In: Monarchische und adlige Sakralstiftungen im mittelalterlichen Polen. Hg. von Eduard Mühle. Berlin 2012, S. 455–481, bes. S. 465–474.

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Ausgleich abgewogen: „Ein Verzicht auf Teilungen festigte zwar die Herrschaft von Erstgeborenen, doch minderte er die innerfamiliäre Gerechtigkeit.“54 Ab circa 1250 kam es auch andernorts zu Teilungen: In Großpolen ebenso wie in Masowien, und interessanterweise auch im Oppeln benachbarten Schlesien-Breslau. In den meisten Fällen war das auf dynastische Kontingenz zurückzuführen. In Schlesien-Breslau fiel 1241 Herzog Heinrich II. „der Fromme“ in der Schlacht bei Liegnitz (Legnica) und hinterließ neben seiner Witwe Anna von Böhmen fünf Söhne.55 Es passt zur außergewöhnlichen Konstellation der schlesischen Herzogsfamilie, dass der Tod des Herzogs einer Legende nach prophetisch vorhergesagt worden war: Heinrichs Eltern waren Heinrich I. „der Bärtige“ sowie die heilige Hedwig. In deren Lebensbeschreibung findet sich eine Mirakelerzählung, nach der Hedwig den Tod des Sohnes im Kampf gegen die Mongolen drei Jahre zuvor vorhergesagt und dann ihrer Schwiegertochter Anna in der Nacht seines Todes verkündet habe.56 Diese Episode gehört zum Kanon legendarischer Erzählungen, die zum Nachweis der exzeptionellen Frömmigkeit und Heiligkeit der schlesischen Herzogin verfasst wurden. Mit diesen Attribuierungen war Hedwig keine Ausnahme, sondern vielmehr in guter Gesellschaft: Es darf zweifellos als eine Besonderheit der Geschichte Ostmitteleuropas im 13. Jahrhundert gelten, dass gleich mehrere Repräsentantinnen aus herrschenden Dynastien als heilig verehrt wurden – das gilt für Polen ebenso wie für Böhmen und Ungarn. Weil sie alle aus den obersten Kreisen stammten, sich aber für ein Leben im Dienst der Ärmsten entschieden, hat Gábor Klaniczay diese freiwillige soziale Selbsterniedrigung markant als „Cinderella-Effekt“ bezeichnet. Ebenso bemerkenswert wie der quantitative Befund ist der Umstand, dass diese „heiligen Frauen“ durch verwandtschaftliche, freundschaftliche oder spirituelle Verbindungen miteinander in Kontakt und regelmäßigem Austausch standen: Hedwig von Schlesien und ihre Schwiegertochter Anna von Böhmen sind nur ein Beispiel für solche Konstellationen.57 54 Andreas

Rüther: Die schlesischen Fürsten und das spätmittelalterliche Reich. In: Cordula Nolte/Karl-Heinz Spieß/Ralf-Gunnar Werlich (Hg.): Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter. Stuttgart 2002, S. 33–62, Zitat: S. 39. Niederschlesien wurde zunächst in Breslau, Liegnitz und Glogau geteilt, Oberschlesien dagegen in Oppeln, Ratibor, Cosel-Beuthen und Teschen. Vgl. zudem Andreas Rüther: Region und Identität. Schlesien und das Reich im späten Mittelalter. Köln/Weimar/Wien 2010. 55  Aus der Fülle der Literatur zur Schlacht von Liegnitz vgl. die Beiträge in: Wacław Korta (Hg.): Bitwa legnicka: historia i tradycja [= Die Schlacht von Liegnitz. Geschichte und Tradition]. Wrocław 1994. 56  Peter Moraw (Hg.): Vita beatae Hedwigis. In: Wolfgang Braunfels (Hg.): Der Hedwigs-Codex von 1353. Sammlung Ludwig. Bd. 2: Texte und Kommentare. Berlin 1972, S. 71–155, hier: Kap. VIII,  4, S. 108 f. 57  Gábor Klaniczay: The Cinderella Effect: Late Medieval Female Sainthood in Central Europe and in Italy. In: East Central Europe 20–23 (1993–1996), S. 51–68; Gábor Klaniczay: Holy Rulers and Blessed Princesses. Dynastic Cults in Medieval Central Europe. Cambridge 2002, S. 207; neuerdings auch Kirsty Day: Royal Women, the Franciscan Order, and Ecclesiastical Authority in Late Medieval Bohemia and the Polish Duchies. In: Thomas W. Smith (Hg.): Authority and Power in the Medieval Church, c. 1000–c. 1500. Turnhout 2020, S. 269–284.

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Hagiografische Beschreibungen wie das paraphrasierte Mirakel zu Hedwig und Anna lassen sich als Spiegel zeitgenössischer Ordnungsvorstellungen und Ordnungserwartungen ebenso wie als paradigmatische, normtypisierende Deutungsangebote lesen. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Beschreibungen der fürstlichen Sukzession und zeitgenössischer Handlungsstrate­ gien. So beschreibt die Hedwigs-Vita den verstorbenen Heinrich II. als „Nachfolger des ­Vaters im Herzogtum“ und verweist damit eher beiläufig auf die Praxis der patrilinearen Sukzession.58 Auch in der Lebensbeschreibung Annas von Böh­ men,59 die zwischen dem ausgehenden 13. und dem frühen 14. Jahrhundert zur Erinnerung an Annas frommes Leben und ihre Förderung geistlicher Einrichtungen verfasst wurde, wird der Tod Heinrichs II. beschrieben  – allerdings mit bemerkenswerter Knappheit: So habe Anna „nach dem Tod ihres Mannes […] ein Jahr dem Lande vor[gestanden]“. Dies legt eine temporäre Übernahme der Regierungsgeschäfte im Herzogtum Schlesien nahe – in welcher Funktion, wird indes nicht expliziert. Zu Recht hat Eduard Mühle darauf hingewiesen, dass Annas um 1224 oder 1230 geborener ältester Sohn Bolesław II. Rogatka (genannt „der Kahle“) beim Tod seines Vaters bereits in regierungsfähigem Alter war, sodass eine Regentschaft der Witwe respektive Mutter nicht sofort plausibel erscheint.60 Tatsächlich ist es schwierig, die Regierungsfunktion Annas nach dem Tod ihres Mannes genau zu bestimmen. So offenbart die urkundliche Überlieferung, dass Anna gemeinsam mit ihrem Erstgeborenen Bolesław II. oder unter Verweis auf dessen Zustimmung als Herzogin von Schlesien Besitzungen verlieh sowie bestätigte.61 Ein weiteres Indiz für Annas politische Funktion ist ihr Siegel, das seit 1242 an mehreren Urkunden überliefert ist – wenngleich auch aufgrund der Ausgestaltung intensiv diskutiert wurde, ob es als belastbarer Beleg für eine eigenständige Regierung Annas gelten kann. Es handelt sich um ein spitzovales Siegel, auf dem eine stehende Frauengestalt zu sehen ist, die in der rechten Hand eine

58  Moraw (Hg.): Vita (wie Anm. 56), S. 109: Collecto namque exercitu idem filius, qui patris suc­ cessor in dominio erat […]. Zudem Eduard Mühle: Einleitung. In: ders. (Hg.): Heilige Fürstinnen und Kleriker. Lebensbeschreibungen und Wunderberichte von polnischen Heiligen des 13. und 14. Jahrhunderts. Darmstadt 2021, S. 9–22. 59  Zu Anna von Böhmen Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 111–136; Maciej Michalski: Kobiety i świętość w żywotach trzynastowiecznych księżnych polskich [= Frauen und Heiligkeit in den Viten polnischer Herzoginnen des 13. Jahrhunderts]. Poznań 2004, S. 77–79. 60  Vita Annae ducissae Silesiae. In: Mühle (Hg.): Heilige Fürstinnen (wie Anm. 58), S. 290–309, hier: S. 300: Post mortem mariti sui uno anno terre prefuit […]; vgl. auch ebd., Anm. 48. Mit abweichender Bewertung Teterycz-Puzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 128. 61  Vgl. beispielsweise SUB II, Nr. 230 (1242), S. 139: Schenkung an die Benediktiner von Opatowitz durch Anna dei gratia ducissa Slesie et Polonie de voluntate et consensu filii nostri Bolezlaui; ebd., Nr. 234 (1242), S. 141 f.: Übertragung des Besitzes von Herzogin Hedwig an das Kloster Leubus mit Verweis auf Zustimmung Annas und ihres Sohnes (Ut hoc autem factum stabile et impermutabile permaneat, sigilli nostri munimine, filie ac nurus nostre Anne ducisse necnonb) filii sui Bolezlay, qui et suum adhibuerunt consensum, dignum duximus roborandum). Vgl. auch die Zusammenstellung der von Anna oder mit Bezug auf sie ausgestellten Urkunden bei TeteryczPuzio: Piastowskie (wie Anm. 5), S. 134–136.

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Blume (vermutlich eine Lilie) hält. Die Umschrift weist sie als „jüngere Herzogin von Schlesien“ aus (+ ANNA: DI GRA: IVNIOR: ZLESIE: DVCISSA).62 Jagna Rita Sobel vermutet aufgrund der hierarchischen Abgrenzung Annas als „jüngere“ Herzogin (gegenüber der Schwiegermutter Hedwig) und der Darstellung der Herzogin mit einer Lilie, dass Anna von Böhmen dieses Siegel bereits vor dem Tod ihres Mannes besessen habe. Anstelle einer eigenständigen Machtposition solle das Siegel ikonografisch vielmehr die Frömmigkeit und Reinheit der Herzogin repräsentieren und sei später, während Annas Funktion als Regentin, nicht mehr umgestaltet oder angepasst worden.63 Sowohl der regelmäßige Gebrauch des Siegels als auch die Zahl der im Namen Annas von Böhmen oder unter Bezugnahme auf ihre Autorität ausgestellten Urkunden sprechen für einen nicht nur temporär, sondern auch dauerhaft maßgeblichen Einfluss in den Entscheidungsprozessen und Rechtsgeschäften des Herzogtums. Sébastien Rossignol sieht dies jedoch nicht in der individuellen Herrschaftsausgestaltung Annas von Böhmen, sondern in einer wachsenden Akzeptanz der schlesischen Herzoginnen begründet.64 Diese Sichtweise greift angesichts der ­dynastischen Turbulenzen der 1240er-Jahre vielleicht etwas zu kurz: So kam es schon bald zu einem Konflikt zwischen Annas erstgeborenem Sohn Bolesław II. Rogatka und seinen Brüdern, Heinrich III. „dem Weißen“ und Konrad von Glogau. Es folgten politische Diskussionen um territoriale Zugriffsrechte, militärische Interventionen sowie Phasen der Kooperation von Bolesław II. Rogatka und Heinrich III.65 Dass 1248 eine pragmatische Entscheidung diese konfliktive Periode beendete, war der „Polnisch-Schlesischen Chronik“ zufolge wesentlich der ­Intervention Herzogin Annas sowie Thomas’  I., des Bischofs von Breslau, zu­ zuschreiben (wobei sich nicht rekonstruieren lässt, wie genau das Engagement Herzogin Annas in diesem Einigungsprozess aussah): So habe man vereinbart, Schlesien zwischen den Brüdern Bolesław II. Rogatka und Heinrich III. aufzu­ teilen und zugleich für etwaige Todesfälle durch Gebietsübergabe an den lebenden Bruder eine Wiedervereinigung zu perspektivieren. Dazu sollte es freilich nicht 62  Abb.

bei Anna Michalska: Księżna, fundatorka, „błogosławiona“. Przedstawienia Anny Cze­ skiej w sztuce od XIII do początku XX wieku [= Herzogin, Stifterin, „Gesegnete“. Darstellungen Annas von Böhmen in der Kunst vom 13. bis zum frühen 20. Jahrhundert]. In: Quart 40 (2016), S. 3–19. 63 Jagna Rita Sobel: Proroctwo legnickiej tragedii? Głos w dyskusji nad symboliką pieczęci księżnej Anny Przemyślidki [= Eine Prophezeiung der Tragödie von Liegnitz? Bemerkungen zur Diskussion über die Symbolik des Siegels Herzogin Annas von Böhmen]. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 76 (2021), S. 31–57, mit einem Katalog aller erhaltenen Siegel Annas auf S. 46–57. 64  Rossignol: Authority (wie Anm. 2), S. 72–75, bes. S. 75: „There is no indication that this was due to her personality or to her own initiative; it seems more likely that this was primarily the result of the growing acceptance of the authority of the duchesses.“ 65 Zu dieser Phase und zur problematischen Überlieferung Jerzy Mularczyk: Podziały Śląska między synów Henryka II Pobożnego w połowie XIII wieku [= Die Teilung Schlesiens unter den Söhnen Heinrichs II. des „Frommen“ im 13. Jahrhundert]. In: Przegląd Historyczny 76 (1985) 3, S. 481–504; Rossignol: Maiestas (wie Anm. 5), S. 33–35.

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kommen: Schlesien wurde in drei eigenständige Fürstentümer geteilt (Breslau, Liegnitz, Glogau).66 In einer Phase erhöhter Konkurrenz und Auseinandersetzungen innerhalb der Familie fungierte die schlesische Herzogin Anna von Böhmen somit als Mediatorin und integrative Kraft (zumindest, wenn man der chronikalischen Beschreibung Glauben schenkt). Diese ausgleichende und zugleich wegweisende Funktion war nicht untypisch für schlesische Regentinnen im 13. Jahrhundert. Wie urkundliche Quellen, Siegel, chronikalische oder hagiografische Beschreibungen belegen, übten zahlreiche Herzoginnen nach dem Tod ihres Mannes die Herrschaft für ihre Söhne aus. Die Fallbeispiele Violas von Oppeln-Ratibor und Annas von Böhmen zeigen, dass es sich dabei zunächst um temporäre Modelle der Herrschaftsausübung handelte, die bis zur Mündigkeit und/oder Akzeptanz der Söhne Geltung hatten (wobei keine formalen Akte zur Eingrenzung dieser Kompetenzen bekannt sind). Aus diesem Grund erwiesen sich Legitimationsstrategien, die eine Kontinuitätslinie von dem verstorbenen Ehemann zu den eigenen Kindern zogen, als besonders wirkmächtig. Ein eindrückliches Beispiel für ein solch programmatisches Selbstbild im Spannungsfeld von dynastischer Kontingenz und dauerhaften Herrschaftsansprüchen ist das Siegel Violas von Oppeln-Ratibor. Gleichzeitig legt die kontinuierliche Bezugnahme auf die Herzoginnen auch nach dem „Ende“ ihrer Regentschaft offen, wie bedeutsam ihre Autorität in zeitgenössischen Rechts- und Ordnungsvorstellungen war.

Abstract The chapter discusses the self-image and rule of Silesian regents in the 13th century. Between the 12th and the 14th century, more than a dozen Polish princesses acted as regents for their male relatives, as is attested by documentary sources, seals, chronicles and hagiographic descriptions. This model was by no means new: whenever a monarch was absent, underage, or in bad health, female rulers – the monarch’s mother or the monarch’s wife for example – could act as regents, sometimes merely in a pragmatic, informal sort of way, at other times as official appointees entrusted with full political authority. In the Polish case, the significant 66  Chronicon Polono-Silesiacarum (wie Anm. 33), S. 569: Quod cum privilegiis ratificatum fuis­ set, Boleslaus Conradum in consortem assumens, qui iam tunc in subdiaconatus gradum promotos et Babembergensis presulatus electus Parisius degebat, Wratislaviam elegit, cumque matre et ­episcopo Thoma primo pergens in Legnicz, ut Henrico Legnicz et Glogoviam presentaret, castro se recipiens, Legnicz et Glogaw iterato elegit sibi et Conrado, sperans Conradum per episcopatum evadere, et privilegia consorcium inmutari fecits, resignans Henrico et Vlodislao Wratizlaviam; Wojciech Mrozowicz: Die Polnische Chronik (Polnisch-Schlesische Chronik) und die Chronik der Fürsten Polens (Chronica principum Poloniae) als Mittel zur dynastischen Identitätsstiftung der schlesischen Piasten. In: Grischa Vercamer/Ewa Wółkiewicz (Hg.): Legitimation von Fürstendynastien in Polen und dem Reich. Identitätsbildung im Spiegel schriftlicher Quellen (12.– 15. Jahrhundert). Wiesbaden 2016, S. 249–262.

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number of regents can be explained by the political developments of the 12th and 13th centuries. When Duke Bolesław III. introduced the “seniority order” in 1138, Poland was divided into various principalities. The consequence was an increased level of political competition and instability. Succession conflicts revolved around who should be the successor and how his position could be justified, but also around how to deal with competing forces. Against this background, the chapter discusses the role of duchess Viola of Opole and Racibórz and duchess Anna of Silesia as regents for their children.

Heinrich von Sandomir, gest. 1166

Kasimir II. („der Gerechte“), gest. 1194

Mieszko III. („der Alte“), gest. 1202

Mieszko I. („Humpelbein“) von Ratibor und Oppeln, gest. 1211

Bolesław („der Lange“) von Schlesien, gest. 1201

Kasimir I. von Oppeln und Ratibor, gest. 1229/30 ∞ Viola von Bulgarien (?), gest. um 1251

∞ (Hl.) Hedwig von Andechs, gest. 1243

Heinrich I. („der Bärtige“) von Schlesien, gest. 1238

Jaroslaw von Oppeln, Bischof von Breslau, gest. 1201

Władysław von Oppeln (gest. 1281)

Mieszko II. („der Dicke“) von Oppeln, gest. 1246

∞ Anna von Böhmen

Heinrich II. („der Fromme“) von Schlesien, gest. 1241

Heinrich III. („der Weiße"), gest. 1266

Bolesław II. Rogatka („der Kahle"), gest. 1278

Verzeichnet sind nur die im Aufsatz genannten Personen, hervorgehoben sind die untersuchten Herzoginnen. Für die Datengrundlage vgl. Jerzy Strzelczyk: Piasten. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6. München/Zürich 1993, Sp. 2125–2126.

Bolesław III. („Schiefmund“), gest. 1138

Bolesław IV. („Kraushaar“), gest. 1173

Władysław II. (der „Vertriebene“) von Schlesien und ­Polen, gest. 1159

Anhang 1: Stammtafel der Piasten (Auszug)

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Maike Sach Regentschaft im Zeichen des Widerstreits von Seniorat und Primogenitur Die Moskauer Großfürstin Sofija Vitovtovna als Regentin für Vasilij II. Weibliche Regentschaft, sei es in Stellvertretung des infolge von Feldzügen oder diplomatischen Reisen abwesenden fürstlichen Ehemanns, sei es im Falle seines Todes als Sachwalterin der Interessen minderjähriger Nachkommen, findet sich in der Geschichte der Kiever Rusʹ und der später auf ihrem Gebiet entstandenen Fürstentümer ebenso wie in den anderen Teilen des mittelalterlichen Europa.1 Ur­ bild einer Regentin im ostslawischen Raum war die aus einer warägischen Familie stammende Fürstin Olʹga († 969), die für ihren minderjährigen Sohn Svjatos­ lav (942–972) die Regentschaft übernahm, nachdem Fürst Igorʹ (um 878–945) beim Einziehen von Tribut erschlagen worden war. Idealtypisch zeigte sich in ih­ rem Wirken die herrschaftsstabilisierende und herrschaftssystematisierende Funk­ tion dieser Stellvertreterfigur: Nachdem sie den Tod ihres Mannes gerächt und den Herrschaftsanspruch ihres Sohnes durchgesetzt hatte, schaffte sie erste ad­ ministrative Strukturen in einer auf Fernhandel beruhenden Tributherrschaft. Sie führte diplomatische Verhandlungen und reiste an den byzantinischen Hof. Bis heute hat sie tiefe Spuren im historischen Gedächtnis der Nationen hinterlassen, die sich in der historischen Nachfolge des Kiever Reichs sehen. Die besondere Wertschätzung der Person Olʹgas, die in der historischen Überlieferung zum Aus­ druck kommt, ist neben ihrer Bedeutung als Fürstin des jungen Kiever Reichs vor allem ihrer Taufe geschuldet.2 Ihr Sohn Svjatoslav blieb gentil-religiösen Vorstel­ 1 Einen Überblick über das Wirken von Fürstinnen vermittelt Natalia Pushkareva: Women in Russian History from the Tenth to the Twentieth Century. Armonk/NY 1997, S. 7–28; dies. [Natalʹja L. Puškareva]: Ženščiny Drevnej Rusi i Moskovskogo carstva X–XVII vv. St. Peters­ burg 2017, S. 18–80. 2  Die genauen Umstände werden sich angesichts der komplizierten Quellenlage wohl nicht mehr völlig erhellen lassen; vgl. Ludolf Müller: Die Taufe Rußlands. Die Frühgeschichte des russischen Christentums bis zum Jahre 988. München 1987, S. 72–86; Gennadij G. Litavrin: O datirovke posolʹstva knjagini Olʹgi v Konstantinopolʹ. In: Istorija SSSR 25 (1981) 5, S. 173–183; Franz ­Tinnefeld: Zum Stand der Olga-Diskussion. In: Lars M. Hoffmann (Hg.): Zwischen Polis, Pro­ vinz und Peripherie. Beiträge zur byzantinischen Geschichte und Kultur. Wiesbaden 2005, S. 531– 563.

https://doi.org/10.1515/9783111071879-010

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Maike Sach

Abbildung 1: Olʹga bei Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos in Konstantinopel und ihre Taufe in der Darstellung der Radziwiłł-Chronik. Die Chronik gibt den Text der bis 1116 berichtenden Povestʹ vremennch let in der Redaktion Silʹvestrs wieder und schildert weitere Ereignisse bis 1206. Die reich illuminierte Handschrift stammt vom Ende des 15. Jahrhunderts und wird heute in der Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg aufbewahrt; hier entnommen aus: Radzivilovskaja ili Kenigsbergskaja letopisʹ. Bd. 1. St. Petersburg 1902, Bl. 31v.

lungen treu. Erst Olʹgas Enkel Vladimir (um 958–1015) führte 988 das Christen­ tum offiziell ein. Mit ihm zusammen wurde sie früh als apostelgleiche Heilige ver­ ehrt.3 Nach der Darstellung der Nestorchronik oder auch Povestʹ vremennych let4 vom Beginn des 12. Jahrhunderts trat Olʹga während der Minderjährigkeit ihres Sohnes de facto als Herrscherin in Erscheinung. Ihre Funktion als Regentin wur­ de dabei mit keinem eigenen Begriff bezeichnet. In der Chronik wird Olʹga stets 3  Die

Gedenktage Olʹgas und Vladimirs sind am 11. beziehungsweise 15. Juli; Joannes Martinov: Annus ecclesiasticus graeco-slavicus […]. Brüssel 1866, S. 175, S. 177 f. 4  Der letztgenannte Name, der die ersten Worte der Chronik aufgreift, hat sich in der Wissen­ schaft durchgesetzt. Der Text findet sich in verschiedenen regionalen Annalen als gemeinsame Geschichte bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts im Wesentlichen übereinstimmend überliefert; in einigen Handschriftengruppen unterscheiden sich die Schlussteile. Überblickshaft: Oleg V. Tvorogov: Povestʹ vremennych let. In: Dmitrij S. Lichačev (Hg.): Slovarʹ knižnikov i knižnosti drevnej Rusi. Bd. 1 (XI–pervaja polovina XIV v.). Leningrad 1987, S. 337–343. Der Text der Povestʹ vremennych let wird hier zitiert nach: Polnoe sobranie russkich letopisej [im Folgenden: PSRL]. Bd. 1: Lavrentevʹskaja letopisʹ. Povestʹ vremennych let. ND Moskau 1997.

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als Fürstin oder Mutter präsentiert, die ihren Sohn, den jungen Fürsten, aufzuzie­ hen hatte, und zwar bis zu seinem Mannes- und Erwachsenenalter (do mužestva ėgo i do vzrastva ėgo).5 Ihre Herrschaftsrechte ergaben sich für die Zeitgenossen aus ihrer Rolle als Fürstenmutter, ohne dass dies näher in den Quellen begründet wurde. Voraussetzung einer solchen stellvertretenden Herrschaft war die Nach­ folge des eigenen Kindes auf den fürstlichen Vater. Diese war nicht zwangsläufig unumstrittene Norm, wie gerade die Entwicklung in der Kiever Rusʹ und in den aus ihr hervorgegangenen Fürstentümern zeigt: Über einen langen Zeitraum wur­ de in der Rusʹ das Seniorat praktiziert. In diesem Fall folgte der nächstjüngere, erwachsene Bruder eines verstorbenen Fürsten in der Herrschaft nach, was oft­ mals zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Brüdern und Söhnen des Ver­ storbenen führte. In Moskau waren die für das Seniorat typischen Onkel-Neffen-Konflikte, die andere Fürstentümer schwer erschüttert hatten, aus biologischen Zufällen ausge­ blieben: Während des 14. Jahrhunderts hatten angesichts hoher Kindersterblich­ keit und der auch in der Rusʹ wiederholt schwer grassierenden Pest relativ wenig männliche Nachkommen des regierenden Hauses das Erwachsenenalter erreicht.6 Die Nachfolge blieb zwar stets gesichert, die klassische Konfliktsituation war ­jedoch nicht eingetreten. De facto war oft die Primogenitur praktiziert worden, ohne dass sie das Seniorat offiziell abgelöst hätte. Am Ende des ersten Viertels des 15. Jahrhunderts kam es mit dem Tod des Moskauer Großfürsten Vasilij I. (1371– 1425) zu der brisanten Konstellation, dass ein Herrscher gleichzeitig Söhne und jüngere Brüder hinterließ und beide Parteien ihren Anspruch jeweils auf ein Testa­ment stützen konnten. Dem minderjährigen Vasilij II. (1415–1462) stand in dieser Situation eine Regentschaft zur Seite, der unter anderem seine Mutter Sofija von Litauen (1371–1453) angehörte. Ihr vornehmstes Ziel war die Sicherung des Großfürstenthrons für ihren Sohn gegen die Ansprüche des Onkels. Im Folgenden soll die Rolle der Regentin näher betrachtet werden: Wie sah sie konkret aus, wie wurde sie begründet und welche Handlungsspielräume der ­großfürstlichen Witwe und Mutter minderjähriger Kinder lassen sich rekonstruie­ ren? Nach einem Blick auf die Quellenlage werden zunächst das Seniorat und seine Auswirkungen auf weibliche Herrschaft vorgestellt. Die Großfürstin Sofija ver­ folgte die Interessen ihrer Nachkommen unter sehr komplexen politischen Rah­ menbedingungen, wobei nicht zuletzt die Beziehungen zu den unmittelbaren 5  PSRL,

Bd. 1 (wie Anm. 4), Sp. 64; komplett übersetzt wurde die Chronik zuletzt von Ludolf Müller: Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Silʹvestr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrentʹevskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipatʹevskaja und Chlebnikovskaja. München 2001, hier: S. 78. 6  In Moskau starben 1353 unter anderem der Großfürst Semen Ivanovič, seine beiden Söhne und sein Bruder Andrej. Zu den Folgen für breite Teile der Bevölkerung vgl. Carsten Goehrke: Die Wüstungen in der Moskauer Rusʹ. Studien zur Siedlungs-, Bevölkerungs- und Sozialgeschichte. Wiesbaden 1968, S. 65 f.

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Nachbarn unbedingt zu berücksichtigen waren. Diese Entwicklungen werden ebenfalls einführend ausgeleuchtet, um anschließend die relevanten Regelungen in den Testamenten der Moskauer Großfürsten zu analysieren.

Zur Quellenlage Die Quellenbasis zur altostslawischen Geschichte und mittelalterlichen Geschich­ te Russlands ist anders strukturiert als die in West- und Mitteleuropa: Nicht ­Urkunden, von denen die älteste, im Original erhaltene aus dem 12. Jahrhundert stammt, sind das grundlegende Material, das zur Beantwortung der unterschied­ lichsten Fragestellungen herangezogen werden kann, sondern vor allem erzählen­ de Quellen.7 Hinsichtlich ihrer Genese, inneren Struktur und Fragen bezüglich ihrer Überlieferung unterscheiden sich altostslawische Chroniken und Annalen von narrativen Quellen westlicher Tradition. Sie sind in der Regel nicht das Werk eines einzelnen Verfassers, sondern stellen Kompilationen, sogenannte svody,8 mehrerer unterschiedlicher, oft bearbeiteter Vorlagen dar. Der sich aus diesem Entstehungsprozess ergebende charakteristische, genetische Zusammenhang rus­ sischer Chroniken hat bereits im 19. Jahrhundert zur Ausbildung der Archäogra­ fie als einer eigenen historischen Grundwissenschaft zur Erforschung der kom­ plizierten Abstammungs- und Abhängigkeitsverhältnisse sowie der inneren und äußeren Quellenkritik geführt.9 Aleksej A. Šachmatov hat beispielsweise im Jahr 1900 in seinen Forschungen über allgemeinrussische Chroniken die These vorgebracht, dass gegen Ende des 15. Jahrhunderts ein bis dato unbekannter Mos­ kauer letopisnyj svod zusammengestellt worden sein müsse.10 Der Text dieser zu­ nächst hypothetisch erschlossenen Quelle wurde schließlich in zwei Abschriften im Laufe des 20. Jahrhundert gefunden und ediert. Er stellt heute eine der wich­ tigsten Quellen der Geschichte des Großfürstentums Moskaus und für das Thema  7  Zu

Quellen, Quellenpublikationen und Hilfsmitteln vgl. Hartmut Rüß: Das Reich von Kiev. In: Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd. 1, 1. Stuttgart 1981, S. 199–429, hier: S. 207–237; Pe­ ter Nitsche: Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus (1240–1538). In: ebd., S. 534–715, hier: S. 542–557.  8 Singular: svod von russ. svesti – svoditʹ (zusammenstellen, vereinigen, zusammenfügen).  9  Grundsätzliches zur russischen Chronistik bei Hans-Jürgen Grabmüller: Die Pskover Chroni­ ken. Untersuchungen zur russischen Regionalchronistik im 13.–15. Jahrhundert. Wiesbaden 1975, S. 11–27; ders.: Die russischen Chroniken des 11.–18. Jahrhunderts im Spiegel der Sowjetfor­ schung (1917–1975). In: JGO 24 (1976), S. 394–416. Für die Arbeit mit dieser Quellengruppe kann auf eine große Zahl von Handschriften zurückgegriffen werden. Arsenij N. Nasonov hat allein in drei Moskauer Archiven mehr als 1000 Abschriften ermittelt; vgl. Arsenij N. Nasonov: Letopis­ nye pamjatniki chranilišč Moskvy. In: Problemy istočnikovedenija 4 (1955), S. 243–285. 10  Aleksej A. Šachmatov: Obščerusskie letopisnye svody XIV i XV vekov. In: Žurnal ministerst­ va narodnogo prosveščenija (1900) 9, S. 90–176, hier: S. 152–159; ferner ders.: O tak nazyvaemoj rostovskoj letopisi. Moskau 1904, S. 15, S. 17–50. Zur Überlieferung vgl. auch Jakov S. Lurʹe: Dve istorii Rusi XV veka. Rannie i pozdnie, nezavisimye i oficialʹnye letopisi ob obrazovanii Mos­ kovskogo gosudarstva. St. Petersburg 1994.

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des vorliegenden Beitrags dar.11 Die Überlieferung von Urkunden und Akten setzte erst ab der Mitte des 15. Jahrhunderts in größerem Umfang ein. Hingegen haben die Testamente der Moskauer Groß- und Teilfürsten aus der Zeit zuvor neben einigen anderen Verträgen aus dem Moskauer Archiv die Zeitläufte über­ dauert und liegen ediert vor.12

Das Seniorat und seine Folgen für weibliche Herrschaftsformen Zu einer Regentschaft für einen minderjährigen Sohn, wie sie Olʹga geführt hatte, kam es in den nachfolgenden Generationen nicht. Zahlreiche männliche Nach­ kommen erreichten das Erwachsenenalter vor dem Tod der Väter. Diese Situation führte zu Nachfolgekämpfen, auf die Jaroslav Mudryj (der Weise, ca. 978–1054) aus leidvoller Erfahrung reagierte: Für seine fünf Söhne führte er eine Thronfolge­ regelung ein, das Seniorat, russisch staršinstvo, altostslawisch auch starejšinstvo.13 Gemäß seinem in der Povestʹ vremennych let überlieferten Testament sollte die Rusʹ als gemeinsame Herrschaft der Dynastie erhalten bleiben und das Reich nicht aufgeteilt werden. Den Söhnen wurde abgestuft nach Alter und Rang jeweils eine Stadt mit Herrschaftsgebiet zugewiesen. Der älteste fungierte als Oberhaupt, herrschte an des Vaters Stelle (da to budetʹʹ vy v mene město – „er sei euch an ­meiner statt“14) und war als Schlichter bei Streit vorgesehen. Er erhielt auch Kiev zusammen mit dem Titel eines Großfürsten. Nach seinem Tod sollte allerdings nicht der älteste Sohn des Verstorbenen, sondern sein nächstälterer Bruder und so weiter nachfolgen. Verbunden war dies mit dem Wechsel der Fürsten in den Fürsten­tümern gemäß dem jeweiligen neuen Rang in der Thronfolge.15 Doch schon bald erwies sich diese Erbregelung trotz versuchter Reformen als recht störanfällig. Auf dem Fürstentag in Ljubeč (1097) verabredeten die Fürsten, auf die Wechsel zwischen den Fürstentümern zu verzichten. Infolgedessen behiel­ ten die mittlerweile entstandenen Linien der Dynastie der Rjurikiden ihre zu ­diesem Zeitpunkt erlangten jeweiligen Fürstentümer als votčina (Vatererbe). Auch 11  PSRL,

Bd. 25: Moskovskij letopisnyj svod konca XV veka. Moskau/Leningrad 1949; in Teilen übersetzt von Peter Nitsche: Der Aufstieg Moskaus. Auszüge einer russischen Chronik. 2 Bde. Graz/Wien/Köln 1966/1967. 12  Duchovnye i dogovornye gramoty velikich i udelnych knjazej XIV–XVI vv. ND Düsseldorf/ Vaduz 1970. Hierzu grundsätzlich Lev V. Čerepnin: Russkie feodalʹnye archivy XIV–XV vekov. Bd. 1. Moskau/Leningrad 1948. 13 Zu Bedeutung und Wortfeld vgl. den Eintrag in Slovarʹ russkogo jazyka XI–XVII, Bd. 27 (2006), S. 207 f. 14  PSRL, Bd. 1 (wie Anm. 4), Sp. 161; Müller: Nestorchronik (wie Anm. 5), S. 197. 15  PSRL, Bd. 1 (wie Anm. 4), Sp. 161  f.; Müller: Nestorchronik (wie Anm. 5), S. 197 f. In klassi­ scher Form haben Sergej M. Solovʹev (1820–1879) und Vasilij O. Ključevskij (1841–1911) das ­Seniorat und seine Folgen für das Verhältnis der Fürsten untereinander behandelt: Sergej M. Solovʹev: Istorija Rossii s drevnejšich vremen. 2 Bde. Moskau 1988, hier: Bd. 2, S. 333–339; Vasilij O. Ključevskij: Russkaja istorija. Polnyj kurs lekcij v trech knigach. Bd. 1. Moskau 1995, S. 147– 158. Ferner Rüß: Reich von Kiev (wie Anm. 7), S. 323 f.

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einigten sie sich darauf, dass die Nachkommen derjenigen Fürsten, die gestorben waren, bevor sie selbst Großfürst geworden waren, aus der Reihe der Prätenden­ ten ausscheiden sollten, sie wurden zu izgoi.16 Mit votčina hatten die Fürsten und ihre Ratgeber einen zentralen Begriff im Fürstenrecht etabliert: Der Terminus bezeichnete nicht nur ein Territorium als vom Vater ererbtes Gut, sondern auch die herrschaftliche Position mit der Ge­ samtheit der ihr zugeordneten Herrschaftsrechte, über die der aktuelle Inhaber erbrechtlich verfügen konnte.17 Der Begriff wurde damit zu einer zentralen Kate­ gorie des Fürstenrechts. Der Wechsel von Fürsten zwischen den Fürstentümern blieb allerdings möglich und verhinderte so auch die Ausbildung von Landesherr­ schaften.18 Durch Erbteilungen in allen Fürstentümern kam es zur Bildung von Teilfürstentümern, den sogenannten udely, was zu einer zunehmenden territoria­ len und politischen Zersplitterung und schließlich zum Niedergang der Kiever Rusʹ im 12. Jahrhundert führte.19 Unter diesen Umständen boten sich Großfürstinnen/Fürstinnen zwar immer wieder Gelegenheiten, ihre jeweiligen Ehemänner in deren Abwesenheit zu­ sammen mit weiteren Ratgebern und Mitgliedern des jeweiligen Hofes befristet zu vertreten. Ein Formalisierungsgrad, der sich in einer Begriffsbildung für ein ­solches Gremium niedergeschlagen hätte, lässt sich in den Chroniken aber nicht erkennen. Wichtige Aufgabe fürstlicher Witwen blieb die Sorge um minderjährige Kinder und deren Interessen. Überall dort jedoch, wo das Seniorat praktiziert wurde, war an eine Herrschaft im Namen eines minderjährigen Sohnes angesichts von Präten­ denten nicht zu denken, die die Nachfolge nach den Regeln des Seniorats für sich beanspruchten. Dies wirkte sich auch hemmend auf die Ausbildung einer weibli­ chen Erbfolge aus. Nur ganz allmählich sollte sich in der Rusʹ eine Thronfolge nach den Regeln der Primogenitur entwickeln, und zwar dort, wo herrschende Familien als izgoi nicht mehr zum Kreis potenzieller Anwärter auf die Großfürs­ tenwürde gehörten und in denen die Herrschaft in Ermangelung eines männlichen Erben über eine Tochter weitergegeben wurde. In ihrem Namen herrschte aber im Falle der Minderjährigkeit meist ein Regentschaftsrat unter Einschluss der Mutter. Nach der Heirat war es der Ehemann, der die Regierung führte.20 Was jedoch die 16  Vgl.

Solovʹev: Istorija (wie Anm. 15), S. 337–339; Ključevskij: Russkaja istorija (wie Anm. 15), S. 159 f.; Rüß: Reich von Kiev (wie Anm. 7), S. 330–332; mit dem Begriff izgoj konnten alle Perso­ nen bezeichnet werden, die aus einer Personengruppe, zu der sie zuvor gehört hatten, ausgeschie­ den waren: Slovarʹ russkogo jazyka (wie Anm. 13), Bd. 6 (1979), S. 138; siehe auch Karla GüntherHielscher/Victor Glötzner/Helmut Wilhelm Schaller: Real- und Sachwörterbuch zum Altrussi­ schen. Neuried 1985, S. 90. 17 Ključevskij: Russkaja istorija (wie Anm. 15), S. 158–160. Ferner: Slovarʹ russkogo jazyka (wie Anm. 13), Bd. 3 (1976), S. 74; Günther-Hielscher/Glötzner/Schaller: Real- und Sachwörterbuch (wie Anm. 16), S. 349–351. 18  Rüß: Reich von Kiev (wie Anm. 7), S. 332. 19  Ebd., S. 339–349. 20  Dies war der Fall bei Marija, der Tochter des Fürsten Vasilij von Jaroslavlʹ († 1249): Zunächst führte offenbar ein Regentschaftsrat bestehend aus ihrer Mutter Ksenija und Jaroslavler Bojaren

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Nachfolge im Großfürstentum betraf, so blieb dort noch lange das Seniorat als starina, das gewohnheitsrechtliche „alte Herkommen“, bestehen.21

Moskau, Litauen und die Tataren Moskau war ursprünglich ein unbedeutendes Fürstentum unter vielen, die wäh­ rend des Niedergangs der Kiever Rusʹ entstanden waren.22 Sein allmählicher Auf­ stieg zur vorherrschenden Macht im Nordosten der Rusʹ war keineswegs zwangs­ läufig gewesen und vollzog sich unter den spezifischen Bedingungen der mongo­ lisch-tatarischen Oberherrschaft, derer die Rusʹ nach der Eroberung und schweren Verwüstung durch die Mongolen in den Jahren 1237–1242 unterworfen worden war.23 Die neuen Herren ließen die politischen, rechtlichen und kirchlichen Struk­ turen, die sie in den eroberten Gebieten vorfanden, zwar unangetastet. Sie nah­ men allerdings regelmäßig Einfluss auf die lokalen Verhältnisse durch das Einund Absetzen von Fürsten, wobei sie sich von der starina und dem Prinzip des divide et impera leiten ließen. Mit jeder Einsetzung und dem damit verbundenen Empfang der Einsetzungsurkunde, dem jarlyk, waren in der Regel Reisen des je­ weiligen Fürsten an den Sitz des Khans verbunden. Das politische Interesse der Khane richtete sich auf den Erhalt ihrer Oberherrschaft und vor allem auf die ­damit verbundenen hohen, regelmäßigen Tributzahlungen. Von den Zahlungen waren nur die Geistlichkeit und die kirchlichen Bediensteten ausgenommen. Auf das Ausbleiben von Tributen oder offenen Widerstand reagierten die Tataren mit verheerenden Strafexpeditionen.24 die Regierung, die nach der Heirat ihrem Ehemann Fedor von Smolensk (um 1233 oder 1240– 1299) übertragen wurde. Als drittgeborener Sohn hatte er nur das kleine Fürstentum Možajsk erhalten. Fedor agierte nach seiner Heirat mit Marija offiziell als Fürst von Jaroslavlʹ und wurde als solcher auch in den Chroniken tituliert; vgl. zum Jahr 6785 (1277): PSRL, Bd. 10: Letopisnyj sbornik, imenuemyj Patriaršeju ili Nikonovskoju letopisʹju, St. Petersburg 1885, S. 153 f. Schnell kamen jedoch Spannungen auf, offenbar wegen einer Beziehung Fedors zu einer Tatarenprinzes­ sin, die später seine zweite Ehefrau wurde. Durchsetzen konnte Fedor seine Herrschaft erst, nachdem seine Schwiegermutter, seine Ehefrau und der gemeinsame Sohn verstorben waren; Puškareva: Ženščiny (wie Anm. 1), S. 49–51; dies.: Women (wie Anm. 1), S. 21; Aleksandr Širokorad: Alʹternativa Moskve. Velikie knjažestva smolenskoe, rjazanskoe, tverskoe. Moskau 2010, S. 68–76; Gail Lenhoff: Rusʹ-Tatar Princely Marriages in the Horde: The Literary Sources. In: Russian History 42 (2015) 1, S. 16–31, hier: S. 25, S. 29. 21  Vgl. Slovarʹ russkogo jazyka (wie Anm. 13), Bd. 27 (2006), S. 210  f. 22  Erstmals schriftlich erwähnt wurde die Stadt als Ort eines Fürstentreffens um die Mitte des 12. Jahrhunderts; sie war damals noch eine Grenzfestung des Fürstentums Vladimir-Suzdalʹ; Wolfgang Knackstedt: Moskau. Studien zur Geschichte einer mittelalterlichen Stadt. Wiesbaden 1975, S. 18 f. 23  Zur Eroberung vgl. Rüß: Reich von Kiev (wie Anm. 7), S. 352–357. 24  Nitsche: Mongolenzeit (wie Anm. 7), S. 558–568; Vadim V. Kargalov: Vnešnepolitičeskie faktory razvitija feodalʹnoj Rusi. Feodalʹnaja Rusʹ i kočevniki. Moskau 1967; Charles J. Halperin: The Tatar Yoke. Columbus/OH 1986; ders.: Russia and the Golden Horde. The Mongol Impact on Medieval Russian History. Bloomington 1985, hier vor allem Kapitel 4 und Kapitel 5; Donald

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Frauen erschienen unter diesen Umständen in der Überlieferung eher als Opfer von Verschleppungen und Vergewaltigungen, die öffentliche Sichtbarkeit von Fürstinnen und ihre Repräsentation in der Annalistik ging zurück.25 Darüber hi­ naus geriet die Rusʹ zunehmend in matrimoniale Isolation: Hatte es unter Jaroslav Mudryj und seinen direkten Nachfolgern eine aktive Heiratspolitik gegeben, die die Kiever Rjurikiden unter anderem mit nord-, west- und mitteleuropäischen Dy­ nastien verbunden hatte,26 so war sie nach dem Schisma von 1054 bereits seltener geworden. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts kam es noch zu Eheschließungen zwischen den Rjurikiden in Galizien-Wolhynien und Angehörigen der polnischen Piasten.27 Nach dem Mongolensturm rissen allerdings auch diese dynastischen Kontakte ab.28 Die Reduktion der Außenkontakte vor allem auf Litauen und die Goldene Horde spiegelte sich auch in den dynastischen Verbindungen: So kam es zu einer Reihe von Heiraten zwischen Angehörigen der Rjurikiden und der Gedi­ miniden.29 Aus politischen Gründen wurden vereinzelt auch Ehen zwischen rus­ sischen Fürsten und tatarischen Prinzessinnen geschlossen, die zuvor orthodox ­getauft worden waren und so auch von der russischen Kirche akzeptiert wurden.30

Ostrowski: Muscovy and the Mongols. Cross-Cultural Influences on the Steppe Frontier. ­Cambridge 1998; zur Goldenen Horde vgl. Michael Weiers: Die Goldene Horde oder das Khanat Qyptschaq. In: ders. (Hg.): Die Mongolen. Beiträge zu ihrer Geschichte und Kultur. Darmstadt 1986, S. 345–378; zu den Tributzahlungen vgl. ferner Michel Roublev: Le tribut aux Mongols d’après les testaments et accords des princes russes. In: Cahiers du Monde russe et soviétique 7 (1966), S. 487–530; ders.: The Periodicity of the Mongol Tribute as Paid by the Russian Princes during the Fourteenth and Fifteenth Centuries. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 15 (1970), S. 7–13. 25  Pushkareva: Women (wie Anm. 1), S. 20. 26  Raissa Bloch: Verwandtschaftliche Beziehungen des sächsischen Adels zum russischen Fürs­ tenhause im XI. Jahrhundert. In: Leo Santifaller (Hg.): Festschrift Albert Brackmann. Darge­ bracht von Freunden, Kollegen und Schülern. Weimar 1931, S. 185–206; Manfred Hellmann: Die Heiratspolitik Jaroslavs des Weisen. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 8 (1962), S. 7–25; Julius Forssman: Die Beziehungen altrussischer Fürstengeschlechter zu Westeuropa. Ein Beitrag zur Geschichte Ost- und Nordeuropas im Mittelalter. 2. Bde. Bern 1970; Christian Lüb­ ke: Ottonen, Rjurikiden, Piasten. Ergänzende Bemerkungen zum Verwandtenkreis Kunos „von Öhningen“. In: JGO 37 (1989), S. 1–20; Hartmut Rüß: Eupraxia – Adelheid. Eine biographische Annäherung. In: JGO 54 (2006), S. 481–518. 27  Dariusz Dąbrowski: Piasten und Rjurikiden vom 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. In: Dariusz Adamczyk/Norbert Kersken (Hg.): Fernhändler, Dynasten, Kleriker. Die piastische Herrschaft in kontinentalen Beziehungsgeflechten vom 10. bis zum frühen 13. Jahrhundert. Wies­ baden 2015, S. 155–189. 28  Vgl. hier exemplarisch die genealogischen Übersichten zur Moskauer Linie der Rjurikiden bei Forssman: Beziehungen (wie Anm. 26), hier: Bd. 2, Tafel 9–10. 29 Manfred Hellmann: Das Großfürstentum Litauen bis 1569. In: Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd. 1, 2. Stuttgart 1989, S. 717–851, hier: S. 745; Stephen C. Rowell: Pious Princesses or the Daughters of Belial: Pagan Lithuanian Dynastic Diplomacy, 1279–1423. In: Medieval Proso­ pography 15 (1994) 1, S. 3–77, hier: S. 38–44. 30  Lenhoff: Rusʹ-Tatar Princely Marriages (wie Anm. 20), S. 21–24. Eine Ehe unter umgekehrten Vorzeichen, also eine Verheiratung von russischen Prinzessinnen an tatarische Fürsten, ist mir bislang nicht bekannt.

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Ansonsten wurden Ehepartner in den russischen Fürstentümern oder in den Rei­ hen des nichtfürstlichen Adels gesucht.31 Nachdem die Tataren zunächst selbst in der Rusʹ Tribute eingezogen hatten, delegierten sie die Erhebung und Abrechnung der Zahlungen gegen Ende des 13. Jahrhunderts an den jeweiligen Inhaber der Großfürstenwürde. Diese Aufgabe wertete den Titel auf, dessen Träger nun ein Instrument in der Hand hielt, um die übrigen Fürsten unter Druck zu setzen und bei Bedarf nebenher die eigene Kasse zu füllen.32 Vor diesem Hintergrund wurde die Auseinandersetzung um die Vor­ herrschaft in der nordöstlichen Rusʹ seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts als Kampf um die Würde des Großfürsten von Vladimir geführt. Der Moskauer Fürst hatte dabei ohne jeglichen gültigen Anspruch den Fürsten von Tverʹ als ein­ zig ernsthaften Konkurrenten um die Hegemonie herausgefordert. Den wechsel­ vollen, mit allen erdenklichen Mitteln geführten Kampf sollte schließlich Moskau für sich entscheiden. In entscheidenden Momenten war es Moskauer Fürsten im­ mer wieder gelungen, andere russische Fürsten auf ihre Seite zu ziehen.33 Auch die Unterstützung der Kirche und ihres Metropoliten hatte sich der jeweilige Moskauer Fürst immer wieder sichern können.34 Ausschlaggebend für den Moskauer Erfolg war das besondere Geschick seiner Fürsten, sich auf die Spielregeln der tatarischen Oberherren einzustellen. In ihrem Bestreben, die schwankenden Machtverhältnisse in der Rusʹ zu ihren Gunsten zu entscheiden, konnten die Moskauer Fürsten den Tataren suggerieren, eine Unter­ stützung Moskaus im Kampf gegen Tverʹ sei gerade auch im tatarischen Interesse. Das politische Taktieren gestaltete sich aber unter dem Eindruck litauischer Ex­ pansion und Herrschaftsbildung zusehends komplizierter. Das litauische Vordringen nach Osten und Südosten in ostslawisches Siedlungs­ gebiet hatte schon vor der tatarischen Eroberung der Rusʹ eingesetzt und war auch eine Reaktion auf die Festsetzung des Deutschen Ordens in Preußen und Livland.35 Mongolensturm und tatarische Oberherrschaft hatten die ostslawischen 31  Zur

Bedeutung solcher Ehen zwischen Adeligen und Angehörigen herrschender Häuser, ins­ besondere Moskaus, vgl. Nancy Shields: Kinship and Politics. The Making of the Muscovite ­Political System, 1345–1547. Stanford 1987. 32  Nitsche: Mongolenzeit (wie Anm. 7), S. 581. 33  Ebd., S. 582–594; aus Tverʹer Perspektive: Ekkehard Klug: Das Fürstentum Tverʹ (1247–1485). Aufstieg, Selbstbehauptung und Niedergang. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschich­ te 37 (1985), S. 7–355; zuletzt Širokorad: Alʹternativa Moskve (wie Anm. 20), S. 293–787. 34 Klug: Fürstentum Tverʹ (wie Anm. 33), S. 82–84, S. 180; Günther Stökl: Staat und Kirche im Moskauer Rußland. Die vier Moskauer Wundertäter. In: JGO 29 (1981) 4, S. 481–493, hier: S. 486 f. 35 Die frühe litauische Geschichte ist eng verzahnt mit der der Ostslawen, sodass ein eigener Beitrag in das Standardwerk „Handbuch der Geschichte Rußlands“ aufgenommen wurde: Hell­ mann: Großfürstentum Litauen (wie Anm. 29); ferner Stephen C. Rowell: Lithuania Ascending. A Pagan Empire within East-Central Europe, 1295–1345. Cambridge 1994. Zu den Feldzügen gegen Litauen vgl. vor allem Werner Paravicini: Die Preußenreisen des europäischen Adels. 2 Bde. Sigmaringen 1989/1995, zu den sogenannten Litauerreisen siehe vor allem Bd. 2; Alan V. Murray: The Saracens of the Baltic: Pagan and Christian Lithuanians in the Perception of English and French Crusaders to Late Medieval Prussia. In: Journal of Baltic Studies 41 (2010) 4, S. 413– 429.

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Fürstentümer deutlich geschwächt, wodurch die litauische Expansion noch ­zusätzlich gefördert wurde. Im Südosten rivalisierte Litauen zunächst noch mit Ungarn und Polen um ein Ausgreifen auf ostslawische Siedlungsgebiete.36 Ebenso wie die Tataren tasteten die schließlich siegreichen Litauer die vorgefundenen ­politischen Strukturen nicht an und tolerierten – selbst noch überwiegend unge­ tauft – den orthodoxen Glauben ihrer neuen ostslawischen Untertanen.37 Das litauische Ausgreifen in die Rusʹ hatte sich nicht allein militärisch, sondern auch auf dem Wege einer allmählichen Verstärkung litauischen Einflusses vollzo­ gen, was die Litauer für die Tataren zu einem wenig greifbaren Feind gemacht hat­ te. Eine erste längere Phase politischer Instabilität in der Horde, die durch h ­ eftige Nachfolgekämpfe ausgelöst worden war, nutzte der litauische Großfürst Algir­ das (1296–1377) um Podolien und Kiev dem tatarischen Machtbereich zu entzie­ hen.38 Diese Entwicklung wurde von den Tataren als Bedrohung wahrgenommen. Dies galt ebenfalls für Moskau, das seine Stellung gegenüber den anderen Fürsten im Nordosten der Rusʹ hatte ausbauen können und dessen Anspruch auf Hegemo­ nie im Nordosten der Rusʹ durch das litauische Vordringen infrage gestellt wurde. Doch der Ausbruch von Wirren in der Goldenen Horde führte auch zu Verän­ derungen im moskauisch-tatarischen Verhältnis: Als der Emir Mamāi (um 1335– 1380) versuchte, im Bündnis mit dem litauischen Großfürsten und späteren pol­ nischen König Jogaila/Władysław II. Jagiełło (vor 1362–1434) neue Tribute ­einzufordern, widersetzte sich der Moskauer Großfürst Dmitrij (1350–1389). Im September 1380 erkämpfte er in offener Feldschlacht in der Nähe des Dons erst­ mals einen Sieg, der den Nimbus tatarischer Unbesiegbarkeit zerstörte und ihm selbst den Ehrennamen Donskoj eintrug. Die psychologische Wirkung dieses Sie­ ges kann kaum überschätzt werden.39 Doch zwei Jahre später kam es unter dem Khan Toḫtamyš († 1406/1407) zu einem verheerenden militärischen Gegenschlag. Der Großfürst konnte nur durch hohe Zahlungen seinen Titel bewahren und musste seinen ältesten Sohn Vasilij (I.) 1383 als Geisel in die Horde ziehen lassen.40 1386 gelang dem jungen Fürsten allerdings die Flucht über die Moldau nach Li­ 36  John L. I. Fennell: The Emergence of Moscow, 1304–1359. London 1968, S. 207; Gertrud Pick­ han: Kiewer Rusʹ und Galizien-Wolhynien. In: Frank Golczewski (Hg.): Geschichte der Ukraine. Göttingen 1993, S. 18–36, hier: S. 35; zu den allgemeinen Rahmenbedingungen Rimvydas Petraus­ kas: Die Außenwelt der Gediminiden: Formen und Möglichkeiten internationaler Politik der heidnischen Großfürsten Litauens in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Stephan Flem­ ming/Norbert Kersken (Hg.): Akteure mittelalterlicher Außenpolitik: Das Beispiel Ostmitteleu­ ropas. Marburg 2017, S. 53–67. 37  Hellmann: Großfürstentum Litauen (wie Anm. 29), S. 44. 38  Weiers: Goldene Horde (wie Anm. 24), S. 365; Jaroslaw Pelenski: The Contest between Lithu­ ania and the Golden Horde in the Fourteenth Century for Supremacy over Eastern Europe (Spe­ cifically for All the Lands of the Rus). In: ders.: The Contest for the Legacy of Kievan Rusʹ. New York 1998, S. 135 f. 39  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 201–205; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 149–163. 40  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 206–211; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 164–174.

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tauen.41 Dort hielt er sich eine Weile im Umfeld des Großfürsten Vytautas (1354/ 1355–1430), eines Vetters des Großfürsten Jogaila, auf. Es kam offenbar zu Ge­ sprächen über ein Bündnis und zur Verlobung des jungen Moskauer Fürsten mit Sofija, dem einzigen Kind des litauischen Großfürsten Vytautas, eines der ­mächtigsten Herrscher des damaligen östlichen Europas, und seiner Frau Ona/ Anna († 1418).42

Machtpolitischer und familiärer Hintergrund der zukünftigen Großfürstin von Moskau Über die Kindheit der um 1371 geborenen Sofija ist im Detail wenig bekannt. Aus den Quellen geht aber deutlich hervor, dass sie von erbitterten Machtkämpfen ­innerhalb der eigenen Familie überschattet war. Bis zu seinem Tod im Jahr 1377 hatte Großfürst Algirdas zusammen mit seinem in der Burg Trakai residierenden jüngeren Bruder Kęstutis (um 1297–1382), Sofijas Großvater, die Geschicke des litauischen Großfürstentums geleitet, nachdem es ihnen gemeinschaftlich gelun­ gen war, die übrigen Brüder zur Anerkennung von Algirdas’ Oberherrschaft zu bringen. Obwohl Kęstutis seinen Neffen Jogaila, den Algirdas zu seinem Nach­ folger bestimmt hatte, gegen dessen ältere Halbbrüder unterstützte, kamen als­ bald Spannungen und Misstrauen auf. Schließlich brach der Machtkampf offen aus, in dessen Verlauf Kęstutis, seine Frau Birutė († 1382) und beider Sohn Vytau­ tas auf der Burg Krėva festgesetzt wurden.43 Kęstutis fand zusammen mit seiner Frau den Tod auf der Burg des Neffen.44 Vytautas gelang die Flucht in den Klei­ dern seiner Frau Ona, was bei den Zeitgenossen großes Aufsehen erregte und vielfach in Chroniken ganz unterschiedlicher Provenienz vermerkt wurde.45 Ona stammte aus einer vornehmen litauischen Familie, die Namen ihrer Eltern sind allerdings nicht überliefert. Auf eine herausgehobene Stellung und hinrei­ chendes Vermögen lässt sich aber durch den Umstand schließen, dass die Eltern in 41  PSRL,

Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 213; PSRL, Bd. 11: Letopisnyj sbornik, imenuemyj Patriaršeju ili Nikonovskoju letopisʹju. St. Petersburg 1897, S. 90. 42 PSRL, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 90; in der litauischen Bychovec-Chronik, in diesem Abschnitt ohne genaue Jahresangaben: PSRL, Bd. 32: Chroniki: Litovskaja i Žmojtckaja, i Bychovca. Leto­ pisi: Barkulabovskaja, Averki i Pancyrnogo. Moskau 1975, S. 146. 43  Ausführlich Hellmann: Großfürstentum Litauen (wie Anm. 29), S. 746–749; zu den Verwandt­ schaftsverhältnissen vgl. Abbildung 2. 44  Von Suizid ist die Rede in: Die ältere Hochmeisterchronik. Bearb. von Max Toeppen (Scripto­ res rerum Prussicarum 3). Leipzig 1866, S. 603; von Tötung durch fremde Hand liest man bei: Die Chronik Wigands von Marburg. Hg. von Theodor Hirsch (Scriptores rerum Prussicarum 2). Leipzig 1863, S. 621; ferner Rowell: Pious Princesses (wie Anm. 29), S. 20, S. 25, vgl. auch ebd., Anm. 44. 45 Die ältere Hochmeisterchronik (wie Anm. 44), S. 603; Die Chronik Wigands von Marburg (wie Anm. 44), S. 621; Annalista Thoruniensis. Hg. von Ernst Strehlke (Scriptores rerum Prussi­ carum 3). Leipzig 1866, S. 123; Chronika Bychovca. In: PSRL, Bd. 32 (wie Anm. 42), S. 143; Jan Długosz: Annales seu Cronicae inclitit regni Poloniae. Bd. X: 1370–1405. Warschau 1985, S. 100.

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Maike Sach

Gedimin

Algirdas († 1377) oo 1. Marija von Vitebsk († 1346), 2. Uljana von Tver‘ († 1392)

Kęstutis († 1382) oo 1. NN, 2. Birutė († 1382)

Jogaila, als polnischer König Władysław II. († 1443) oo 1. Hedwig von Polen († 1399), 2. Anna von Chilli († 1416), 3. Elisabeth von Pilica († 1420), 4. Sophia Holszany (Alšėnai, † 1461)

Vytautas († 1430) oo 1. Ona/Anna, 2. Uljana

Švitrigaila († 1452), Großfürst von Litauen 1430-1432 oo Anna von Tver‘

Sofija († 1453) oo Vasilij I. von Moskau († 1425)

weitere zahlreiche Töchter und Söhne

weitere Töchter und Söhne

s. dynastische Übersicht Moskau (Abb. 4)

Abbildung 2: Die Gediminiden; Entwurf: Maike Sach.

der Lage waren, für drei Töchter jeweils große Mitgiften zu finanzieren, als diese hochstehende Männer heirateten.46 Sowohl Sofijas Großvater als auch Vater hat­ ten Litauerinnen aus mächtigen Familien geheiratet, um ihre Position im Land selbst durch verwandtschaftliche Netzwerke zu stärken und auszubauen.47 Ihre eigenen Töchter verheirateten die Großfürsten während des 14. Jahrhunderts da­ gegen aus politisch-dynastischen Gründen oft nach auswärts, um ihre Allianzen gegen Krakau und Moskau abzusichern.48 46 

Rowell: Pious Princesses (wie Anm. 29), S. 30–33. Ebd., S. 36. 48  Hellmann: Großfürstentum Litauen (wie Anm. 29), S. 745; mit einer Reihe von Beispielen Ro­ well: Pious Princesses (wie Anm. 29), S. 36–55; ferner ders.: Unexpected Contacts: Lithuanians at Western Courts, c. 1316–c. 1400. In: EHR 111 (1996), S. 557–577, hier: S. 563–565. 47 

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Die Verlobung Sofijas mit Vasilij von Moskau passte somit in das matrimoniale Muster und diente den väterlichen Plänen: Nach der Union Litauens mit Polen versuchte Vytautas sich der polnischen Oberherrschaft zu entziehen und seine ei­ gene Herrschaft nach Osten und Südosten auszudehnen.49 Eine dynastische Ver­ bindung mit Moskau harmonierte daher bestens mit diesen Bestrebungen. Für die Verwirklichung seiner ehrgeizigen Ziele setzte Vytautas außerdem den zwischen­ zeitlich abgesetzten Khan Toḫtamyš in der Goldenen Horde wieder ein und er­ wartete als Gegenleistung militärische Unterstützung.50 Dies konnte durchaus als Bedrohung der Herrschaft des Moskauer Großfürsten verstanden werden. Vasi­ lij I., der 1389 seinem Vater auf den Moskauer Thron nachgefolgt war, stand je­ doch zu seinem Heiratsversprechen und ging mit Sofija im Dezember 1390 in Moskau die Ehe ein.51 Hatte Vytautas gehofft, dass seine Tochter Sofija – wie andere ins Ausland ver­ heiratete litauische Prinzessinnen – Anwältin litauischer Interessen in Moskau werden würde, so wurde er enttäuscht: Die energische und intelligente Sofija ent­ wickelte sich zur loyalen Beraterin ihres Mannes und stellte die Interessen ihrer Kinder – und in der Folge auch die Moskaus – an die erste Stelle. Vasilij I. bemüh­ te sich wegen des gespannten Verhältnisses zu den Tataren um ein freundschaft­ liches Verhältnis zu seinem Schwiegervater.52 Fürsten in der westlichen Rusʹ, die von Litauen bedrängt wurden, ließ er auch auf ihre Hilfegesuche hin keine Unter­ stützung zuteilwerden.53 Zur Frage, ob Vasilij I. in dieser Frage auf seine Frau ge­ hört hat, schweigen die Quellen. Auf jeden Fall aber trug er den Kräfteverhältnis­ sen Rechnung, ohne zur Aufgabe von Ansprüchen bereit zu sein.54 Schließlich entluden sich die Spannungen zwischen 1406 und 1408 in einem Krieg zwischen Litauen und Moskau um Einflusszonen in der nordöstlichen Rusʹ. Die litauische Expansion in östlicher Richtung sollte damit zum Stehen kommen. Den familiä­ ren Beziehungen kam das zugute: 1414 traf der burgundische Adlige und Reisen­ de Ghillebert de Lannoy bei seiner Visite am Hofe Vytautas’, den dieser zur Herr­ schaftsrepräsentation nach dem Vorbild europäischer Höfe neu organisiert hatte,55

49 

Hellmann: Großfürstentum Litauen (wie Anm. 29), S. 756–759. Weiers: Goldene Horde (wie Anm. 24), S. 370 f. 51 PSRL, Bd. 11 (wie Anm. 41), S. 123; PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 219; PSRL, Bd. 32 (wie Anm. 42), S. 146. 52 Vgl. den undatierten, wohl dem Zeitraum um 1395 zuzuordnenden Bericht der BychovecChronik über ein Treffen zwischen den beiden Fürsten in Smolensk: PSRL, Bd. 32 (wie Anm. 42), S. 148. 53 PSRL, Bd. 8: Prodolženie letopisi po Voskresenskomu spisku. St. Petersburg 1859, S. 69  f.; PSRL, Bd. 11 (wie Anm. 41), S. 166; PSRL, Bd. 17: Zapadnorusskie letopisi. St. Petersburg 1907, Sp. 71–83 (Letopisec velikich knjazej Litovskich. Supralʹskij spisok). 54  Man kann dies an seiner Münzpolitik ablesen; Thomas Noonan: Forging a National Identity: Monetary Politics during the Reign of Vasilii I (1389–1425). In: Ann M. Kleimola/Gail D. Len­ hoff (Hg.): Culture and Identity in Muscovy, 1359–1584. Moskau 1997, S. 495–529, hier: S. 502. 55  Rymvidas Petrauskas: Kszałtowanie się instytucji dworu wielkoksiążęcego w wielkim księst­ wie litewskim (koniec XIV–połowa XV wieku). In: Politeja 16 (2011) 2, S. 155–185. 50 

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Maike Sach

Abbildung 3: Vasilij I. und Großfürstin Sofija. Einzige zeitgenössische Darstellung des Großfürstenpaares, Goldstickerei mit Perlen auf dem Großen Sakkos des Metropoliten Fotij. Das vermutlich zwischen 1414 und 1417 entstandene Stück befindet sich in der Rüstkammer des Moskauer Kremlʹ; hier entnommen aus: Medieval Pictorial Embroidery. Byzantium, Balkans, Russia. Catalogue of the Exhibition, XVIIIth International Congress of Byzantinists, Moscow, August 8–15, 1991. Moskau 1991, S. 49.

nicht nur auf dessen Frau und ihre Schwestern, sondern auch auf die Moskauer Großfürstin Sofija, die ihre Eltern in Begleitung einer Tochter besuchte.56 56  Ghillebert de Lannoy: Œuvres. Louvain 1878, S. 40, S. 42. Die ungenannte Tochter wird im Kommentar als Anna (1400–1417) identifiziert, die mit Johannes VIII. Palaiologos (1392–1448) verheiratet und seit 1414 Mitkaiserin war; vgl. Erich Trapp/Rainer Walther/Hans-Veit Beyer: Prosopographisches Lexikon der Palaiologenzeit. Bd. 1. Wien 2001, Nr. 21349. Gemäß der rus­ sischen Überlieferung reiste Anna jedoch bereits 1411 nach Konstantinopel: PSRL, Bd. 11 (wie Anm. 41), S. 217 f.; PSRL, Bd. 23: Ermolinskaja letopisʹ. St. Petersburg 1910, S. 143 f.; PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 240. Mutmaßlich handelt es sich bei der von Ghillebert de Lannoy er­ wähnten Tochter um eine der jüngeren Schwestern.

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Die Regelungen im Testament Dmitrij Donskojs Vasilij I. hatte seinem Vater nach dessen Tod am 19. Mai 1389 ohne Probleme auf den Moskauer Thron und in der Großfürstenwürde nachfolgen können, kein Bruder des verstorbenen Großfürsten lebte noch, der Vasilijs Anspruch mit Ver­ weis auf das Seniorat hätte infrage stellen können. Seine Thronfolge war außer­ dem eindeutig in Dmitrij Donskojs Testament niedergelegt.57 Außerdem finden sich im Testament grundlegende Bestimmungen, die Rückschlüsse auf die Positi­ on von verwitweten Großfürstinnen im Allgemeinen und die Handlungsspielräu­ me von Dmitrij Donskojs Witwe im Besonderen zulassen. In seinem im Zeitraum von Mitte April bis Mitte Mai 1389 entstandenen Testa­ ment berücksichtigte Dmitrij Donskoj nur seine Söhne, mit Ausnahme des erst wenige Tage vor dem Tod des Vaters geborenen Konstantin († 1433).58 Die zu diesem Zeitpunkt lebenden vier Töchter blieben unerwähnt. Ein Novum war die Behandlung der Großfürstenwürde, die Dmitrij Donskoj wie sein eigenes Fürs­ tentum Moskau als votčina, als Vatererbe, vererbte.59 Schon um die Mitte der 1370er-Jahre hatte Dmitrij den Anspruch auf das Großfürstentum für seine eige­ nen Kinder in einem Vertrag mit dem Fürsten Vladimir von Serpuchov-Bo­ rovsk (1353–1410), einem Moskauer Teilfürsten und Nachkommen von Ivan I. Kalita in männlicher Linie, absichern wollen und die Großfürstenwürde mit sei­ ner votčina gleichgesetzt.60 Der hier zum Ausdruck kommende Gedanke eines Verfügungsrechts über die Großfürstenwürde korrelierte mit der durch den Sieg Dmitrij Donskojs auf dem Kulikovo pole genährten, lange Zeit undenkbaren Hoffnung, dass die tatarische Oberherrschaft enden könne. Sie findet sich auch in dem Testament angedeutet.61 Die Nachfolge sollte sich perspektivisch also vor al­ lem auf Fürstenrecht und nicht auf einen tatarischen jarlyk gründen. Dmitrij Donskoj selbst hatte die Großfürstenwürde noch erwerben müssen: Seinen Vater, den Großfürsten Ivan II. Krasnyj (der Schöne, 1326–1359), hatte er im Kindesalter verloren. Seine aus der prominenten Moskauer Bojarenfamilie der Velʹjaminovy62 stammende Mutter Aleksandra († 1364) hatte zusammen mit dem Metropoliten Aleksij († 1378) die Regentschaft für den minderjährigen Dmitrij und seine jüngeren Geschwister übernommen.63 Somit war Dmitrij mit dieser Re­ gierungsform und einer herausgehobenen Stellung der Großfürstenwitwe aus der eigenen Kindheit vertraut. Mangels weiterer Berechtigter folgte Dmitrij seinem 57 

Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 12. PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 215. 59  Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 12, S. 34. 60  Ebd., Nr. 7, S. 23; vgl. hier auch Peter Nitsche: Großfürst und Thronfolger. Die Nachfolge­ politik der Moskauer Herrscher bis zum Ende des Rjurikidenhauses. Köln/Wien 1972, S. 15. 61  Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 12, S. 36. 62  Nancy Shields Kollmann: Kinship and Politics. The Making of the Muscovite Political System, 1345–1547. Stanford 1987, S. 128–130. 63 Nitsche: Großfürst und Thronfolger (wie Anm.  60), S. 11; Stökl: Staat und Kirche (wie Anm. 34), S. 484. 58 

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Abbildung 4: Die Moskauer großfürstliche Familie von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des Großen Dynastischen Krieges; Entwurf: Maike Sach.

Vater im Moskauer Fürstentum direkt nach. Anders sah es mit der Großfürsten­ würde aus: Die Regentschaftsregierung hatte diese zunächst nicht in Moskau ­halten können und an Dmitrij von Suzdalʹ und Nižnij Novgorod (1322–1383)

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v­erloren. Mit diplomatischem Geschick und mit der Verheiratung des jungen Dmitrij mit Evdokija (1353–1407), der Tochter des Suzdalʹer Rivalen, gelang es, die Großfürstenwürde jedoch nach Moskau zurückzuholen, diesmal für immer.64 Um die großfürstliche Position zu stärken, teilte Dmitrij Donskoj sein Fürsten­ tum – anders als seine Vorgänger – nicht mehr in gleichen Teilen unter seine Söh­ ne auf, sondern übergab Vasilij den größeren Teil. Dieser sollte später auch nicht weiter geteilt werden. Die jüngeren Brüder wurden mit kleineren, allerdings teil­ baren udely abgefunden. Für den Fall, dass einer dieser jüngeren Söhne vor der Zeit sterben würde, war die Aufteilung seines udel unter die übrigen Brüder vor­ gesehen, was ausdrücklich nicht für den Anteil Vasilijs galt.65 Da Vasilij I. als der älteste Sohn und Erbe im Großfürstentum beim Tod seines Vaters bereits 18 Jahre alt war, findet sich keine Verfügung über eine Vormund­ schaftsregierung in dem Testament. Vielmehr rückte Vasilij hierarchisch in die Po­ sition seines verstorbenen Vaters auch innerhalb der Familie. Die jüngeren Brüder wurden angehalten, den älteren „an seiner, an des Vaters Stelle“ zu ehren (v moe město, svoego o[t]cja).66 Dies ist die einzige Stelle, in der eine Stellvertreterfigur verbalisiert und ausschließlich auf Vasilij, den direkten Thronfolger, bezogen wird. Andere Bezeichnungen, die von město (Platz, Stelle) abgeleitet wurden, wie beispielsweise namestnik, bezeichneten einen in der Regel für eine bestimmte zeitliche Frist eingesetzten (männlichen) Inhaber einer Statthalterschaft in admi­ nistrativen Zusammenhängen, der durch korm, das heißt Naturalabgaben der ­lokalen Bevölkerung, und aus den durch ihn eingezogenen Gerichtsgebühren be­ soldet wurde.67 Die Kompetenzen und Rechte der Witwe wurden ausschließlich aus ihrer Mut­ terrolle abgeleitet und bestätigt. Zu Beginn des Testaments wurden die Kin­ der (děti) zur Eintracht ermahnt und angehalten, stets in allen Belangen auf die Mutter zu hören.68 Diese Aufforderung wurde mehrfach wiederholt und hinter Verfügungen gesetzt, deren genaue Ausgestaltung der Entscheidung der Groß­ fürstin anheimgestellt wurde, wie die Erbabfindung des zum Zeitpunkt der Nieder­schrift der betreffenden Passage noch ungeborenen Konstantins: Sollte ein Sohn geboren werden, dann war seine Abfindung von der Mutter festzulegen und aus den Teilen der älteren Brüder zu nehmen. Diese wiederum hatten die mütter­ liche Entscheidung widerspruchslos zu akzeptieren.69

64  Vgl. PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 182  f.; teilweise übersetzt in Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 123–125; ferner ders.: Mongolenzeit (wie Anm. 7), S. 601; ders.: Großfürst und Thronfolger (wie Anm. 60), S. 11 f., zu dieser Hochzeit beziehungsweise Doppelhochzeit von 1366; Näheres weiter unten. 65 Vgl. dazu Nitsche: Großfürst und Thronfolger (wie Anm. 60), S. 18  f.; Aleksandr A. Zimin: Vitʹjazʹ na Rasputʹe. Feodalʹnaja vojna v Rossii XV v. Moskau 1991, S. 7 f. 66  Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 12, S. 36. 67  Günther-Hielscher/Glötzner/Schaller: Real- und Sachwörterbuch (wie Anm. 16), S. 149  f. 68  Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 12, S. 33. 69  Ebd., Nr. 12, S. 35.

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Maike Sach

Dmitrij Donskoj, der seine Mutter als Witwe und Regentin erlebt hatte, über­ trug seiner Frau ferner weitläufige Ländereien und regelmäßige Einkünfte aus be­ stimmten Zöllen und Steuern. Über diese konnte sie uneingeschränkt verfügen, sie machten sie in jeder Hinsicht von ihrem volljährigen Sohn, dem neuen Groß­ fürsten, unabhängig. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Dmitrij Dons­ koj die Stellung seiner Witwe als Großfürstin auch gegenüber seinem Nachfolger durch den Verweis auf ihre Mutterrolle untermauerte: In ihren Händen blieben alle Entscheidungen, die die Familie und ihre Mitglieder – und damit unter Um­ ständen auch politisch relevante Fragen – betrafen, zudem sollte ihr Rat vom ­regierenden Großfürsten eingeholt werden. Besonders unterstrichen wurde dieser Aspekt im žitie des Großfürsten – hier ein weltliches Gegenstück einer Vita –, welches in die annalistische Struktur des Moskauer letopisnyj svod vom Ende des 15. Jahrhunderts eingeschoben wurde. Die Formeln aus dem Testament wurden als literarisch gestaltete Ermahnung des sterbenden Großfürsten an seine Söhne eingeführt, gleichzeitig erläutert und explizit auf christliche Überlieferung und Normen gestützt: Ihr aber, meine Söhne, Frucht meines Leibes, fürchtet Gott, denkt daran, was geschrieben steht: „Ehrt eure Eltern, damit es euch wohl ergehe“ [Ex 20, 12], lebt in Frieden und ­Liebe miteinander; ich aber befehle euch dem Herrn, meinem Gott, und eurer Mutter, damit ihr in Furcht vor ihr lebt. Bindet euch mein Gebot auf den Nacken, legt meine Worte in eure Herzen; wenn ihr euren Eltern nicht gehorcht, dann habt ihr gehört, wie die Schrift sagt: „Des Vaters Fluch reißt den Kindern das Haus ein, der Mutter Seufzen aber richtet völlig zugrunde.“ [Sir 3, 9] Wenn ihr aber gehorcht, dann werdet ihr lange Jahre leben auf Erden, und eure Seele wird unter den Guten weilen, der Ruhm eurer Herrschaft wird sich mehren; eure Feinde werden fallen unter euren Füßen, und die Fremdstämmigen werden fliehen vor eurem Angesicht, die Bürde eures Landes wird erleichtert werden, und der Reichtum in ihm wird sich mehren. Eure Bojaren aber liebt und erweist ihnen geziemende Ehre, jedem nach seiner Tätigkeit; tut nichts ohne ihren Rat. Seid freundlich zu allen euren Dienern. Tut alles mit Überlegung, wie es sich ziemt, und nachdem ihr eure Mutter gefragt habt.70

Die erwähnten Bojaren, von denen einige als Zeugen des Testaments fungierten, verpflichtete Dmitrij Donskoj in seinem Testament zu Schutz und Treue gegen­ über der Großfürstin und den gemeinsamen Kindern, unter denen nicht weiter

70 Nitsche:

Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 179. Im Original PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 216: Vy že, synove moi, plod čreva moego, boga boitesja, pominaite pisanie: čestite roditelja svoja, da blago vy budetʹ; mirʹʹ že i ljubovʹ iměite meži soboju, az že predaju vas gospodu bogu moemu i materi vašei, da pod strachom eja chodete. Obʹʹvjažite že sobě zapovědʹ moju na vyjachʹʹ vašichʹʹ, vlagaite slovesa moja vʹʹ serdca svoja, ašče li ne poslušaete roditelʹ svoich, to slyšaste li, kako glagoletʹ pisanie: „kljatva otča dom čadom razdrušitʹʹ, materne že vʹʹzychanie do konca iskorenit“. Ašče li že poslušaete, to dolgolětnii budete na zemli i vʹʹ blagych prebudetʹ duša vaša i umnožitsja slava deržavy vašeja i vrazi vaši padutʹ pod nogami vašimi i inoplemenʹnici poběgnytʹʹ ot lica vašego i oblegčitsja tjagota zemli vašei i umnožitsja obilʹe na nei. Bojarʹʹ že svoich ljubite i čestʹ imʹʹ dostoinuju vʹʹzdavaite, protivu dělu koeždo, bez ichʹʹ dumy ničto že tvorite. Privětlivi budete kʹʹ vsěmʹʹ služaščimʹʹ vamʹʹ. Vse že tvorite s razsuženiemʹʹ, jako že dostoitʹʹ, i so vosprošeniemʹʹ materi vašeja.

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unterschieden wurde.71 Gemäß der Darstellung des žitie bat er sie den einst ihm geleisteten Treueschwur nun gegenüber seiner Frau und den Kindern zu wieder­ holen.72 In diesem Zusammenhang erinnerte der Großfürst darüber hinaus an sei­ ne Verwandtschaft mit Bojarengeschlechtern, die über seine Mutter bestand und geeignet war, ein über den traditionellen Treueschwur hinausgehendes Band zu knüpfen.73 Um destabilisierende Auseinandersetzungen um den Großfürstenthron auch für die Zeit nach dem Tod seines direkten Nachfolgers zu vermeiden, hatte Dmi­ trij Donskoj weitere Anordnungen getroffen: Er bestimmte Jurij, den nächstjünge­ ren Bruder Vasilijs I. und Fürsten von Galič und Zvenigorod, zum Thronfolger, sollte Vasilij I. sterben.74 Gleichzeitig wies er ihm im Testament im Verhältnis zu den jüngeren Brüdern Andrej, Petr und Ivan eine herausgehobene Stellung zu. Dies korrelierte mit einer protokollarischen Aufwertung Jurijs noch zu Lebzeiten des Vaters, aus der man eine Designation zum Nachfolger Vasilijs I. herauslesen konnte.75 Dmitrij Donskoj gab dabei explizit dem Seniorat den Vorzug, auch wenn die Nachfolge in Moskau schon mehrfach direkt vom Vater auf dessen äl­ testen Sohn erfolgt war. Lev V. Čerepnin hat in dieser Verfügung angesichts der Verlobung Vasilijs mit Sofija von Litauen und der Erwartbarkeit von Nachkom­ men aus dieser Verbindung den Versuch gesehen, litauischem Einfluss über die Witwe und Mutter eines womöglich noch minderjährigen Sohns vorzubeugen.76 Peter Nitsche hat dagegen darauf aufmerksam gemacht, dass für den Fall, dass sich das Nachfolgeprinzip der Primogenitur bereits völlig durchgesetzt hätte, ein Ausschluss der Nachkommenschaft Sofijas von der Nachfolge dem litauischen Großfürsten gerade einen Grund zur Intervention zugunsten eines Enkels hätte bieten können. Nitsche bezweifelt deswegen im Gegensatz zu Čerepnin, dass die Primogenitur bereits vollständig etabliert war. Seiner Meinung nach sei sich Dmitrij Donskoj des Problems zweier widerstreitender Nachfolgeprinzipien sehr bewusst gewesen und habe sich klar für das den Zeitgenossen geläufigere und nä­ herliegende, das Seniorat, entschieden. Diese Entscheidung sei im Testament zur Vermeidung eines zukünftigen Konflikts fixiert worden.77 71 

Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 12, S. 36 f. Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 216; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 179 f. 73  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 216; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 179. 74  Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 12, S. 35  f., dort auch die explizite Auf­ forderung an Vasilij und Jurij sich gegeneinander wie auch gegenüber den namentlich nicht eigens genannten Brüdern vʹʹ bratstvě, bezʹʹ obidy – „in Brüderlichkeit, ohne Kränkung“ – zu verhalten. 75 Vgl. den Vertrag mit Vladimir von Serpuchov-Borovsk vom 25. 3. 1389, dessen protokolla­ risches Verhältnis unter Rekurs auf ein Familiensystem ohne Rücksicht auf die tatsächlichen ­genealogischen Verhältnisse oder Lebensalter folgendermaßen festgelegt wurde: Vasilij hatte er als älteren Bruder, Jurij als Bruder und die nachfolgenden Brüder als jüngere Brüder anzuerkennen: ebd., Nr. 11, S. 31. Dazu auch Nitsche: Großfürst und Thronfolger (wie Anm. 60), S. 19. 76  Čerepnin: Russkie feodalʹnye archivy (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 61  f. 77  Vgl. die Diskussion bei Nitsche: Großfürst und Thronfolger (wie Anm. 60), S. 22–24. 72  PSRL,

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Versuche zur vertraglichen Etablierung und Absicherung der Primogenitur Der Ehe Sofijas und Vasilijs I. entstammten insgesamt vier Töchter und fünf Söh­ ne, von denen nicht alle das Kindesalter überlebten. Spätestens seit 1395, als mit Jurij (1395–1400) das erste Kind des Paares geboren wurde, musste die Nachfolge­ frage zum Thema werden. Quellen, die über Sofijas Haltung Auskunft geben, sind nicht überliefert. Aber man wird wohl davon ausgehen dürfen, dass sie als Mutter der Nachfolge eigener Kinder gegenüber der des Schwagers den Vorzug gab. Sollten männliche Nachkommen aus der Ehe Vasilijs mit Sofija direkt auf den Groß­fürstenthron folgen, so musste man versuchen, die in dieser Frage eindeuti­ gen Regelungen im Testament Dmitrij Donskojs auszuhebeln. Diesem Ziel dienten undatierte Verträge, die kurz nach der Heirat von Vasilijs nächstjüngerem Bruder Jurij im Jahr 140078 geschlossen wurden: Darin erkannten der Fürst Vladimir von Serpuchov-Borovsk79 und vor allem die beiden jüngeren großfürstlichen Brüder Andrej und Petr ausdrücklich die Nachfolgerechte von Vasilijs Söhnen an.80 Im Vertrag mit den Brüdern werden auch die Großfürstin Evdokija, die gemeinsame Mutter und Witwe Dmitrij Donskojs, sowie der Me­ tropolit Kiprian (um 1330–1406) erwähnt. Sie waren um ihr Einverständnis in ­dieser Sache ersucht worden und hatten den Vorgang gebilligt.81 Als Vasilij I. 1419/1420 seinen jüngsten Bruder Konstantin dazu bringen wollte, sich seinem 1415 geborenen, jüngsten Sohn Vasilij II., der nach dem Tod zweier älterer Brüder zum Thronfolger avanciert war, protokollarisch unterzuordnen, kam es zum Zer­ würfnis: Konstantin verlor daraufhin sein Erbteil und floh nach Novgorod.82 ­Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Vasilij I. seinen Bruder Jurij in der Familie und im näheren Umfeld zu isolieren suchte, wobei sich die alte Großfürs­ tin ­Evdokija bei diesen ersten Schritten offenbar auf die Seite ihres ältesten Sohnes stellte. Trotzdem war Vasilij I. nur teilweise darin erfolgreich, die Nachfolge in seinem Sinne und gegen die Regelungen des Seniorats und des Testaments seines Vaters vertraglich innerhalb der Moskauer Dynastie zu regeln. Weitere Handlungsmöglichkeiten bot das eigene Testament. Vasilij I. setzte im Zeitraum von 1406–1423 drei Fassungen seines letzten Willens auf. In allen drei wurde der Großfürstin Sofija eine bedeutende Stellung eingeräumt, ihrer Sorge wurden die Kinder und insbesondere der älteste Sohn anvertraut. Wie bei ihrer 78 

PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 229. Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 16, S. 43–45. 80  Ebd., Nr. 18, S. 52. Ihr jüngerer Bruder Ivan war bereits 1393 verstorben: PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 221. Konstantin war zum Zeitpunkt des Vertrages noch im Kindesalter. 81  Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 18, S. 51. 82  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 244; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 23. Etwas ausführlicher in der Novgoroder Überlieferung: Arsenij N. Nasonov (Hg.): Novo­ gorodskaja pervaja letopisʹ staršego i mladšego izvodov. Moskau/Leningrad 1950, S. 412 (seiten­ gleich nachgedruckt als PSRL, Bd. 3, Moskau 2000; in der älteren Ausgabe von PSRL, Bd. 3, Moskau 1841, S. 109). 79 

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Schwiegermutter Evdokija im Testament Dmitrij Donskojs war es ihre Rolle als Mutter, die ihre Rechtsstellung definierte und eine andere Konstruktion oder Be­ griffsprägung offenbar unnötig machte. So heißt es im ersten Testament, welches im Zeitraum zwischen September 1406 und Juni 1407 verfasst wurde, dass sie als Mutter „und in der Mutterschaft“  (i v materstvĕ) besonders zu ehren sei.83 Im Testament von 1417, welches nach dem Tod des zwanzigjährigen Thronfolgers Ivan im gleichen Jahr erforderlich und mit Blick auf den zu diesem Zeitpunkt ­gerade einmal zwei Jahre alten Vasilij (II.) ausgestellt wurde, wurde die Position Sofijas mit einer neuartigen, auf das Familiensystem bezogenen Stellvertreterkon­ struktion gestärkt: Der kleine Vasilij wurde im väterlichen Testament aufgefor­ dert, Sofija als die Stellvertreterin des Vaters anzusehen, wörtlich: „seine Mutter an meiner Stelle, [der] seines Vaters“ (svoie [sic] materi v moe město svoego otca) zu ehren.84 Diese spezielle Konstruktion, die die Rolle des Vaters auf die Mutter übertrug, blieb auch im Testament von 1423 erhalten.85 Neben der Bekräftigung ihrer herausgehobenen Stellung verfügte Vasilij I. in allen Testamenten die Über­ tragung ausgedehnter Ländereien an die Großfürstin Sofija zur alleinigen Verfü­ gung. Ihr Umfang war – wie es schon bei ihrer Schwiegermutter der Fall gewesen war – geeignet, ihr nach dem Tod des Gatten völlige Unabhängigkeit zu sichern. Dass sie den Besitz gut verwaltete und ihn aus den Erträgen durch Zukäufe erwei­ tern konnte, zeigt ein Vergleich der übertragenen Besitztümer aus dem letzten Willen Vasilijs von 1423 mit ihrem eigenen Testament aus dem Jahr 1451.86 Hatte Dmitrij Donskoj selbstbewusst über die Großfürstenwürde als votčina verfügt, so spiegelte sich eine schlechtere Rechtsposition Vasilijs I. in den Formu­ lierungen seines ersten und dritten Testaments, in denen diese Bezeichnung gerade nicht auf die Großfürstenwürde angewandt wurde. Vielmehr heißt es im dritten Testament, ähnlich wie im ersten: A dastʹʹ bogʹʹ s[y]nu moemu velikoe knjaženʹe, ino i jaz s[y]na svoego bla[go]slovljaju, knjazja Vasilʹja („und gibt Gott das Groß­ fürstentum an meinen Sohn, dann segne auch ich meinen Sohn, den Fürsten Vasi­ lij, damit“).87 Nur im Testament von 1417 bezeichnete Vasilij I. die Großfürsten­ würde wieder als votčina und übertrug sie mit Verweis auf den parallelen Vorgang unter seinem eigenen Vater auf Vasilij II.88 In allen Testamenten Vasilijs I. gibt es eine Klausel, in der der Schutz der Groß­ fürstin und der Kinder an vertrauenswürdige Personen übertragen wurde. Die Zusammensetzung dieser Personengruppe war dabei politisch bedingten Ände­ rungen unterworfen. So erstaunt es nicht, dass sich Vasilijs nächstjüngerer Bruder 83  Duchovnye

i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 20, S. 55, S. 57. Zum Begriff materstvo vgl. hier Slovarʹ russkogo jazyka (wie Anm. 13), Bd. 9 (1982), S. 43. 84 Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 21, S. 57  f., Zitat: S. 58; Übersetzung durch die Verfasserin. 85  Ebd., Nr. 22, S. 60. 86  Ebd., Nr. 22, S. 60–62 und Nr. 57, S. 175–178. 87  Ebd., Nr. 22, S. 61, vgl. auch ebd., Nr. 20, S. 56. Im älteren Testament ist noch vom Fürsten Ivan die Rede; Übersetzung durch die Verfasserin. 88  Ebd., Nr. 21, S. 58.

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Jurij, dessen Ansprüche denen der Söhne Vasilijs diametral entgegenstanden, nicht unter denjenigen fand, die den Schutz der Großfürstin und ihrer Kinder gewähr­ leisten sollten. Der Name von Vasilijs mächtigem Schwiegervater Vytautas fehlte im ersten Testament, was dem Krieg zwischen Litauen und Moskau 1406–1408 geschuldet war. In beiden späteren Testamenten wurde der litauische Großfürst namentlich genannt und mit dem Schutz Sofijas und ihrer Kinder betraut. Es ist wahrscheinlich, dass bestimmte Fragen von Thronfolge und etwaiger Regent­ schaft mit ihm eingehender besprochen wurden: Kurz vor der Ausstellung des letzten Testaments reiste die Großfürstin ohne ihren Mann, aber in Begleitung des kleinen Vasilij an den Hof ihres Vaters. Der Metropolit Fotij (Photios, † 1431) war dorthin vorausgereist;89 die beiden letzten Testamente tragen jeweils auch ­seine (griechische) Unterschrift. Von Vasilijs Brüdern genossen offenbar nur die Fürsten Andrej und Petr, die die Thronfolgerechte ihrer Neffen bereits anerkannt hatten, das uneingeschränkte Vertrauen des Großfürstenpaars. Ihre Namen finden sich in allen drei Testamen­ ten als Personen, die für den Schutz der Großfürstin und ihrer Kinder einstehen sollten. Fürst Konstantin erscheint in dieser Funktion nur vor dem bereits er­ wähnten Zerwürfnis im zweiten Testament von 1417.90 Im Jahr 1421 kam es of­ fenbar zu einer Versöhnung zwischen Konstantin und seinem älteren Bruder,91 die allerdings nicht dazu führte, dass er im Testament von 1423 wieder in die alte Vertrauensstellung eingesetzt wurde. Daneben wurden mit dem Schutz noch eini­ ge andere (Teil-)Fürsten betraut, mit denen zuvor, wie einige Formulierungen ver­ muten lassen, vertragliche Vereinbarungen getroffen worden waren. Die gemeinsame Stoßrichtung aller Testamente des Großfürsten Vasilij I. rich­ tete sich gegen die Ansprüche, die sein Bruder Jurij beim Tod Vasilijs nach wie vor gemäß dem Seniorat und auf Grundlage des Testaments Dmitrij Donskojs geltend machen konnte. Auch hier wurde der Versuch unternommen, ihn klar von den anderen Familienmitgliedern zu isolieren und von jeglicher Funktion innerhalb der Regentschaft, die testamentarisch klar an die Mutter delegiert wurde, fernzu­ halten.

Die Zeit der Minderjährigkeit des Großfürsten Vasilij II. Hatte sich Jurij den Nachfolgeplänen seines älteren Bruders vor seinem Tod nicht untergeordnet, so geschah dies auch nicht, als Vasilij 1425 verstarb. Der umge­ hend erfolgten Aufforderung durch den Metropoliten Fotij, sich nach Moskau zu begeben, um seinem Neffen als neuem Großfürsten die Treue zu schwören, kam Jurij nicht nach.92 Gemäß der Schilderung des Moskauer letopisnyj svod vom 89 

PSRL, Bd. 11 (wie Anm. 41), S. 238 f.; PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 245 f. Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 21, S. 59. 91  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 245. 92  Ebd., S. 246; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 24. 90 

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Ende des 15. Jahrhunderts standen die Zeichen auf Krieg, für den sich auf Seiten Vasilijs II. offenbar die Fürsten Petr, Andrej und Konstantin, der mächtige litaui­ sche Großfürst sowie weitere Moskauer Teilfürsten und Bojaren bereit machten.93 Dem Metro­politen Fotij gelang jedoch die Vermittlung eines vorläufigen Friedens und der Vereinbarung, die Angelegenheit am Hof des Khans in Sarāi klären zu lassen. Doch Jurij ließ es zunächst dabei bewenden und erkannte 1428 in einem Vertrag seinen Neffen als Großfürsten an.94 Die ersten Jahre der Regentschaft verliefen nach dieser Klärung vergleichsweise ruhig. Die Position des jungen Großfürsten und seiner Mutter wurde durch die Macht des litauischen Großvaters garantiert und konnte von seinem Onkel Jurij von Galič und Zvenigorod zunächst nicht ohne Gefahr für ihn selbst infrage ge­ stellt werden. Gemäß der Darstellung der Chronistik herrschte der junge Groß­ fürst Vasilij II. in eigener Person.95 Dies war allerdings eine Fiktion, hinter den Kulissen sah der Regierungsalltag anders aus: Es war die Großfürstin Sofija, die sich der Verwaltung des Fürstentums widmete. Sie stützte sich dabei auf den Metro­politen Fotij und auf die Bojaren am Moskauer Hof. Die einflussreichste Person unter den Bojaren war Ivan Dmitrievič Vsevoložskij, der schon einige Jah­ re am Hof diente und in die wichtige Bojarenfamilie der Velʹjaminovy eingeheira­ tet hatte.96 Mit seiner Unterstützung nahm die Großfürstin Reformen im Mos­ kauer Gerichtswesen vor; eine Aktennotiz aus der zweiten Hälfte des 15. Jahr­ hunderts erwähnt zudem Sofijas – alleinige – gesetzgeberische Tätigkeit: a učinila to Knjagini ­Sofija („und dies erließ die Fürstin Sofija“).97 Auch in das Moskauer Münzwesen, einen hoheitlichen Bereich, griff sie ein:98 Auf Münzen ließ sie den Namen ihres Sohnes und auf die Rückseiten die derjenigen Moskauer Teilfürsten und Onkel prägen, die ihren Schutz und den ihrer Kinder garantierten und die Nachfolge ­ihres Sohnes anerkannt hatten.99 Eine Veränderung der Lage trat allerdings mit dem Tod Vytautas’ im Okto­ ber 1430 ein. Der polnische König Jogaila/Władysław Jagiełło nutzte die Situation, um seinen Bruder Švitrigaila (um 1373–1452) zum Nachfolger des Verstorbenen 93  PSRL,

Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 246; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 24. 94  Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 24a, S. 63–65. Die beiden Ausfertigun­ gen des Vertrages tragen ebenfalls die Unterschrift des Metropoliten. Vgl. dazu auch Nitsche: Mongolenzeit (wie Anm. 7), S. 620. 95  Gemäß einem Moskauer Bericht sammelte der junge Großfürst seine loyalen Onkel und Trup­ pen um sich und scheint Befehle für einen Feldzug gegen Jurij von Galič gegeben zu haben; PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 246; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 24. 96  Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 31, S. 49  f. Für Vsevoložskij ließen sich die Lebensdaten nicht genau ermitteln; zu den Verbindungen vgl. Kollmann: Kinship and Politics (wie Anm. 62), S. 131. 97  Akty, sobrannye v bibliotekach i archivach Rossijskoj Imperii archeografičeskoj ėkspedicieju Imperatorskoj Akademii nauk. Bd. 1: 1294–1598. St. Petersburg 1836, Nr. 115, S. 87; Übersetzung durch die Verfasserin; ferner Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 54 f. 98  Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 55  f. 99  Gustave Alef: The Political Significance of the Inscriptions on Muscovite Coinage in the Reign of Vasilij II. In: Speculum 34 (1959) 1, S. 1–19, hier: S. 4 f.

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zu machen.100 Jurij sah nun die Gelegenheit gekommen, um endlich seine Ansprü­ che auf die Großfürstenwürde durchzusetzen und kündigte den Vertrag von 1428 auf. Nun wurde der Streit tatsächlich vor den Khan in Sarāi gebracht.101 Im Moskauer letopisnyj svod wird ausführlich über die Verhandlung am Hofe des Khans, die 1431 stattfand, berichtet, sodass die Argumentationen beider ­Seiten überliefert sind. Fürst Jurij erschien persönlich in der Horde. Aus Moskau reiste der mittlerweile sechzehnjährige Vasilij II. an, begleitet wurde er von Vsevoložskij, „der“ – wie es in diesem Zusammenhang im Chronikbericht heißt –  „für den Großfürsten überlegte“ (toi zduma velikomu knjazu).102 Vsevoložskij verhandelte anstelle des Großfürsten und führte Gespräche mit tatarischen Würdenträgern, um die Moskauer Position durchzusetzen.103 Die Großfürstin blieb in Moskau: Hatten in der vormongolischen Zeit Fürstinnen auch Gesandtschaften durch­ geführt,104 so unternahmen sie nun allenfalls Verwandtenbesuche, zu denen S­ ofijas Reisen an den Hof des Vaters formal zählten, und Pilgerreisen.105 Wie zu erwarten war, argumentierte Jurij in den Verhandlungen mit dem Testa­ ment seines Vaters Dmitrij Donskoj von 1389 und brachte Urkunden und Chro­ niken ins Spiel, um die Rechtmäßigkeit seines Anspruches gemäß der starina, zu belegen.106 Angesichts der juristischen Ausgangslage war der Kampf um die Großfürstenwürde von der Seite Vasilijs bislang mit juristischen Konstruktionen geführt worden, die eben nicht der Linie der starina folgten. Vsevoložskij, der für den jungen Moskauer Großfürsten sprach, blieb auf diesem Weg: Zwar verwies er darauf, dass Vasilij das Großfürstentum ebenfalls von Vater und Großvater erhal­ ten hatte. Vsevoložskij ließ aber zusätzlich vor den Augen der Tataren eine gegen sie gerichtete litauische Bedrohung entstehen, die das Ergebnis eines vermeint­ lichen Bündnisses zwischen dem litauischen Großfürsten Švitrigaila und Jurij, ­seinem angeblichen Schwager, sei. Angesichts innerer Instabilität innerhalb der Horde war dies ein manipulativer Schachzug, um den Tataren zu suggerieren, dass sie selbst von der Unterstützung Moskaus am meisten profitieren würden.107 Das 100  PSRL,

Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 248; zu den Hintergründen vgl. Hellmann: Großfürstentum Litauen (wie Anm. 29), S. 763 f. 101  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 248; die Aufkündigung erfolgte durch die Übersendung der Gegenurkunde: Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 24b, S. 65–67; der zeitge­ nössische Vermerk, dass die Sache in der Horde weiterverhandelt werde, ebd., S. 67. 102  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 249; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 28. 103  Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 45  f. 104  Puškareva: Ženščiny (wie Anm. 1), S. 32  f.; dies.: Women (wie Anm. 1), S. 15. 105  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 249; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 28 f. 106  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 249; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 29. 107  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 249; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 28; ausführlich Nitsche: Großfürst und Thronfolger (wie Anm. 60), S. 44–49. Jurij hatte 1400 Anastasija von Smolensk geheiratet, der litauische Großfürst war allerdings im Begriff, sich mit dem Tverʹer Fürstenhaus durch eine Heirat mit Anna von Tverʹ zu verbinden; vgl. Klug: Fürsten­ tum Tverʹ (wie Anm. 33), S. 237; zur unübersichtlichen Lage am tatarischen Hof in Sarāi, an dem

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von Fürst Jurij aus Dmitrij Donskojs Testament abgeleitete juristische Argument wurde von Vsevoložskij zunichte gemacht, indem er die erst jüngst gewonnene Verfügungsgewalt der Moskauer Herrscher über die Großfürstenwürde preisgab und mit gespielter Unterwürfigkeit gegenüber dem Khan diesem das Entschei­ dungsrecht in der strittigen Frage zusprach. So lautete die in schmeichelnde Worte gekleidete Kernaussage von Vsevoložskijs Vortrag vor dem Khan: Unser Herrscher, Großfürst Vasilij, erstrebt seinen Thron, das Großfürstentum, deinen, Ulus, aufgrund deiner, des Chans, Gnade und aufgrund deiner Schriftstücke und Jarlyks, und da ist deine Gnade vor dir. Unser Herr, Fürst Jurij Dmitrievič, will das Großfürstentum nehmen auf Grund einer toten Urkunde seines Vaters, nicht jedoch auf Grund deiner, des freien Chans, Gnade; du aber bist in deinem Ulus frei, wen du willst, nach deinem Willen zu belehnen.108

Der Plan ging auf, die sicher im Vorfeld in Moskau abgesprochene Strategie hatte Erfolg und die Großfürstenwürde blieb Vasilij II. erhalten. Fürst Jurij erhielt nur einen jarlyk für das vakante, kleine Moskauer Teilfürstentum Dmitrov, aus dem er allerdings durch die siegreiche Partei alsbald vertrieben wurde.109 Bis zu diesem Zeitpunkt kann man die Regentschaft Sofijas mit Blick auf ihr wichtigstes Ziel als erfolgreich bezeichnen: Die Großfürstin hatte ihrem Sohn die Großfürstenwürde sichern und die Ansprüche des Schwagers zunächst erneut ab­ wehren können. Allerdings ergaben sich zum Ende der formalen Regentschaft, die durch das Erreichen der Volljährigkeit und die anstehende Heirat des Groß­ fürsten markiert wurde, wichtige Änderungen in den personalen Beziehungs­ strukturen und adligen Netzwerken. Aus ihnen sollten sich in Verbindung mit dem trotz der Entscheidung des Khans weiter schwelenden Konflikt um die Großfürstenwürde fatale Eigendynamiken entwickeln. Auslöser für die Reaktivierung dieses Konflikts und den Ausbruch offener Ge­ walt waren Handlungen der Großfürstin Sofija und ihres damit zum Ausdruck gebrachten Verständnisses von Macht und Prestige der Moskauer Fürstenlinie: Kurz nachdem er die Verhandlungen in der Horde so erfolgreich für Vasilij II. geführt hatte, fiel Vsevoložskij in Ungnade, wurde geblendet und lief, nachdem er sich zunächst zum Fürsten Konstantin geflüchtet hatte, zu Jurij über. Der Mos­ kauer letopisnyj svod verzeichnet das bloße Faktum des „Seitenwechsels“, ver­

verschiedene Parteien um die Macht rangen und von unterschiedlichen litauischen Fürsten unter­ stützt wurden, vgl. Weiers: Goldene Horde (wie Anm. 24), S. 372. 108 Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 29. In dieser Übersetzung steht noch „Testament“ für wörtlich „tote Urkunde“. Die Übersetzung hat Nitsche später selbst korrigiert; ders.: Mongolenzeit (wie Anm. 7), S. 621. Im Original PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 249: Našʹ gosudarʹ veliky knjazʹ Vasilei iščetʹʹ stola svoego velikogo knjaženija, a tvoego ulusu, po tvoemu carevu žalovaniju i po tvoim devterem i jarlykom, a se tvoe žalovanie pered toboju. A gospodinʹʹ našʹ knjazʹ Jurʹi Dmitreevič chočet vzjati velikoe knjaženie po mertvoi gramotě otca svoego, a ne po tvoemu žalovaniju volnogo carja, a ty volenʹʹ vo svoemʹʹ ulusě, kogo vʹʹschoščešʹ žalovati na tvoei volě. 109  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 250; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 30; Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 48.

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schweigt aber die Blendung und die näheren Gründe des Zerwürfnisses.110 Diese sind jedoch andernorts überliefert: Vsevoložskij, der ambitioniert bereits zwei sei­ ner Töchter an Fürsten verheiratet hatte,111 hoffte offenbar auf die Verheiratung seiner Enkelin mit dem jungen Vasilij. Doch die Großfürstin Sofija war dagegen und sprach sich für eine Heirat mit Marija (um 1420–1485) aus, der Tochter des Fürsten Jaroslav von Borovsk (1388/1389–1426).112 Nach den Worten des Mos­ kauer letopisnyj svod „begann“ Vsevoložskij nach seinem tiefen Fall in Moskau nun in Galič, seinen neuen Herrn Jurij „wegen des Großfürstentums aufzuhet­ zen“ (načat podgovarivati ego na velikoe knjaženʹe).113 Die Situation eskalierte zu Beginn des Jahres 1433, als die Söhne des Fürsten Jurij, Vasilij Kosoj (der Schieler, um 1403–1448) und Dmitrij Šemjaka († 1453), die Hochzeit von Vasilij II. mit Marija von Borovsk in Moskau besuchten: […] und da erkannte Petr Konstantinovič [Dobrynskij] am Fürsten Vasilij [Kosoj] den goldenen Gürtel aus Ketten mit Edelsteinen, der ein Hochzeitsgeschenk des Großfürsten Dmitrij Ivanovič [Donskoj] vom Fürsten Dmitrij Konstantinovič von Suzdalʹ gewesen war. Und dies schreibe ich deswegen, weil viel Unheil daraus entstanden ist, denn Vasilij der Tausendschaftsmann [Vasilij Vasilʹevič Velʹjaminov] vertauschte diesen Gürtel bei der Hochzeit des Großfürsten Dmitrij Ivanovič und gab dem Großfürsten den geringeren Gürtel, und diesen Gürtel [den goldenen] gab er seinem Sohn Mikula [Velʹjaminov]. Und Mikula heiratete Marija, die ältere Tochter des Dmitrij von Suzdalʹ. Und Mikula gab diesen Gürtel als Hochzeitsgeschenk an Ivan Dmitrievič [Vsevoložskij], und Ivan gab ihn mit seiner Tochter an Fürst Andrej Vladimirovič [von Radonež]. Und dann, nach dem Tode des Fürsten Andrej auf einem Feldzug gegen die Horde, verlobte Ivan [Vsevoložskij] die Tochter Andrejs, seine Enkelin, mit Fürst Vasilij Jurʹevič, und er gab ihm diesen Gürtel, und er trug ihn bei der Hochzeit des Großfürsten, die Großfürstin Sofija aber nahm ihn ihm damals ab. Und deshalb flohen Fürst Vasilij und Fürst Dmitrij zornentbrannt aus Moskau zu ihrem Vater nach Galič und plünderten Jaroslavlʹ und raubten die Kassen aller Fürsten aus.114

110  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 250; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 30. Ebenfalls verknappt ist der Bericht in der Ermolinskaja letopisʹ: PSRL, Bd. 23 (wie Anm. 56), S. 148. 111  Kollmann: Kinship and Politics (wie Anm. 62), S. 132; Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 49  f. 112  PSRL, Bd. 12: Letopisnyj sbornik, imenuemyj Patriaršeju ili Nikonovskoju letopisʹju. St. Pe­ tersburg 1901, S. 17. Recht ausführlich ist der Bericht im Medovarcevskij letopisec, den Jakov Lurʹe mitgeteilt hat: Jakov S. Lurʹe: Rasskaz o bojarine I. D. Vsevolžskom v Medovarcevskom letopisce. In: Pamjatniki kulʹtury. Novye otkrytija. Ežegodnik. Moskau 1977, S. 7–11, hier S. 9 f.; Kollmann: Kinship and Politics (wie Anm. 62), S. 133. 113  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 250; deutsch: Nitsche: Aufstieg Moskaus (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 30. 114  PSRL, Bd. 25 (wie Anm. 11), S. 250: […] i togda poznalʹʹ Petrʹʹ Kostjantinovič na knjazě Vasilʹe pojasʹʹ zolot na čepech s kamenʹem, čto bylo pridanoi knjazja velikogo Dmitreja Ivanovič [sic] ot knjazja Dmitreja Kostjantinoviča Suzdalʹskogo. Se že pišem togo radi, pone že mnogo zla s togo sja počalo, tot bo pojasʹʹ o svadʹbě velikogo knjazja Dmitreja Ivanoviča podmenil Vasilei tysjackij, knjazju velikomu dalʹʹ menšoi, a tot dal synu svoemu Mikulě, a za Mikuloju togo že byla knjazja Dmitreja doči Suzdalʹskogo Marʹa bolʹšaa. I Mikula tot pojas dal v pridanye že Ivanu Dmitreevičju, a Ivan dalʹʹ ego za svoeju dočerʹju knjazju Andrěju Volodimeričju. Po tomʹʹ že po smerti knjaže Andrěevě i po Ordinʹskom prichodě Ivanʹʹ Dmitreevič knjažu Andrěevu dščʹrʹ, a svoju vnuku, obručalʹʹ za knjazja Vasilʹa Jurʹeviča, i tot pojasʹʹ dalʹʹ emu, i na svadʹbě velikogo

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Bisweilen ist dieser goldene Gürtel in der Literatur als Teil der Moskauer Regalien bezeichnet worden, wohl um den besonderen symbolischen Wert des Streitob­ jekts herauszustreichen.115 Als Hochzeitsgeschenk, welches bei der Verheiratung einer Tochter an den Schwiegersohn weitergegeben wurde, blieb ein solches Stück allerdings nur für eine Generation in der Familie, worauf Cherie Woodworth zu Recht hingewiesen hat.116 Es konnte somit kaum eine Tradition begründen, die solche Preziosen zu Kronjuwelen einer über männliche Erbfolge konstituierten Linie aufwerteten. Hochzeitsgürtel, die in der Moskauer Überlieferung erwähnt werden, dürften auf byzantinische Vorbilder und Vermittlung entsprechender Ge­ bräuche zurückgehen117 und waren ein Erbe, das nur über die weibliche Linie weitergeben werden konnte.118 Die in der zitierten Passage herausgestellte Rela­ tion zwischen Schwiegervätern und -söhnen spiegelt gleichwohl die herrschende patriarchale Gesellschaftsstruktur wider. Der hohe symbolische Wert wurde vom Chronisten durch eine Rekonstruktion des Weges unterstrichen, den der goldene Gürtel von der Doppelhochzeit des Großfürsten Dmitrij Donskoj mit Evdokija von Suzdalʹ einerseits und ihrer älteren Schwester Marija mit dem Bojaren Mikula Velʹjaminov im Jahr 1366 andererseits durch die Generationen genommen hat­ te.119 Die Herleitung dokumentiert außerdem den sozialen Aufstieg durch fürst­ liche Eheschließungen von Mitgliedern der miteinander verschwägerten Bojaren­ familien der Velʹjaminovy und Vsevoložskie, in deren Händen der goldene Gürtel auf diese Weise landete. Diese Entwicklung rief jedoch bei anderen Bojarenfamilien am Moskauer Hof wie den Koškiny Unzufriedenheit hervor, die mit Marija von Borovsk eine

knjazja byl na nem, knjagini že velikaa Sofʹa snjat s nego togdy. I s togo knjazʹ Vasilei i knjazʹ Dmitrei razzlobivʹʹšesja poběgoša s Moskvy kʹʹ otcu v Galič i pograbiša Jaroslavlʹ i kazny vsěch knjazei razgrabiša. Übersetzung durch die Verfasserin. 115  Lev V. Čerepnin: Obrazovanie russkogo centralizovannogo gosudarstva v XIV–XV vekach. Očerki socialʹno-ėkonomičeskoj i političeskoj istorii Rusi. Moskau 1960, S. 756; Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 53. 116  Cherie K. Woodworth: Sophia and the Golden Belt: What Caused Moscow’s Civil Wars of 1425–50. In: The Russian Review 68 (2009) 2, S. 187–198. 117  Ernst Kantorowicz: On the Golden Marriage Belt and the Marriage Rings of the Dumbarton Oaks Collection. In: DOP 14 (1960), S. 1–16; Woodworth: Sophia (wie Anm. 116), S. 192. 118  Woodworth: Sophia (wie Anm. 116) S. 192. 119 Im Licevoj letopisnyj svod, einer monumentalen Bilderhandschrift aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit etwa 17 000 Buchmalereien in zehn Codices, die in der Bibliothek der Russi­ schen Akademie der Wissenschaften und der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg so­ wie im Russischen Historischen Museum in Moskau aufbewahrt werden, ist diesem Weg eine Abfolge von Bildern gewidmet; vgl. hier die erste Gesamtedition: Licevoj letopisnyj svod XVI veka. Russkaja letopisnaja istorija. Bd. 13: 1425–1443 gg. Moskau 2014, S. 137–141. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde offenbar ein eigenes Inventar für die Verzeichnung von Hoch­ zeitsgeschenken angelegt, was deren symbolischen Wert unterstreicht; vgl. Russell E. Martin: Gift for Kith and Kin: Gift Exchanges and Social Integration in Muscovite Royal Weddings. In: Ches­ ter L. Dunning/Russel E. Martin/Daniel Rowland (Hg.): Rude & Barbarous Kingdom Revisted. Essays in Russian History and Culture in Honor of Robert E. Crummey. Bloomington 2008, S. 89–108, hier: S. 93.

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­ assende Braut für den jungen Großfürsten Vasilij II. aus ihrem engeren Ver­ p wandtenkreis erfolgreich ins Spiel gebracht hatten.120 Petr Dobrynskij, der Sofija gemäß des Chronikberichtes auf den Gürtel hinwies, gehörte auch zu dieser Gruppe der Unzufriedenen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass er die Aufmerk­ samkeit der Großfürstin auf den goldenen Gürtel lenkte.121 Ursprünglich war das wertvolle Stück Teil dessen, was – konform zum Senio­ rat – der älteren Tochter Marija zugestanden hätte. Nach der Tipografskaja letopisʹ hatte Dmitrij Donskoj aber Evdokija, die jüngere Tochter, heiraten und trotzdem den goldenen Gürtel als Hochzeitsgeschenk erhalten wollen. Dies hatte Vasilij Velʹjaminov offenbar auch ausgehandelt, um dann die Gürtel den Paaren dem je­ weiligen Alter der Bräute entsprechend wieder zuzuordnen, das heißt auszutau­ schen.122 Der Griff der Großfürstin nach dem goldenen Gürtel war eine direkte Reaktion auf die provozierende Demonstration Vasilij Kosojs zugunsten seines in Ungnade gefallenen Schwiegervaters Vsevoložskij, der das hochsymbolische Stück sicher nicht zufällig zu diesem Anlass angelegt hatte. Gleichzeitig handelte es sich ausgerechnet um den Gürtel, den der allseits verehrte Dmitrij Donskoj sich zu seiner Hochzeit gewünscht hatte: Da Sofija ihren Sohn als rechtmäßigen Nachfolger und wahren Erben ihres Schwiegervaters sah, beanspruchte sie ihn für Vasilij.

Fazit Der Affront auf der Hochzeit des Großfürsten führte zum Ausbruch offener ­Gewalt zwischen den Vertretern der Moskauer Fürstenlinien, mündete in den Großen Dynastischen Krieg, ließ die Rusʹ über Jahrzehnte nicht zur Ruhe kom­ men und ruinierte sie wirtschaftlich. Viele Fürsten, die mit der engeren Auseinan­ dersetzung zunächst nichts zu tun hatten, wurden in schnell wechselnden, aus opportunistischen Gründen geschlossenen Koalitionen in diese Fehde hinein­ gezogen.123 Entscheidend für den Ausgang des Dynastischen Krieges wurden unter ande­ rem Beziehungen und Netzwerke, die die Großfürstin Sofija während der Zeit der Regentschaft aufgebaut und nach der Volljährigkeit ihres Sohnes weiter ge­ pflegt hatte. Wie sie ihre testamentarisch von ihrem Mann übertragenen Rechte und Ländereien nutzte, um sich als verwitwete Großfürstin und Mutter eines (er­

120 Kollmann: Kinship and Politics (wie Anm. 62), S. 131–133; Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 53 f. 121  Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65), S. 53  f. 122  PSRL, Bd. 24: Letopisʹ po Tipografskomu spisku. St. Petersburg 1921, S. 232. 123  Die wirtschaftlichen Folgen in Zeiten, in denen außerdem die Pest in der Rusʹ wütete, lassen sich an der Zunahme von Wüstungen ablesen; vgl. die Daten bei Goehrke: Wüstungen (wie Anm. 6), S. 66–76 f.; ferner Janet Martin: Medieval Russia, 980–1584. Cambridge 1995, S. 240–244; Nitsche: Mongolenzeit (wie Anm. 7), S. 622–625; ausführlich Zimin: Vitʹjazʹ (wie Anm. 65).

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Abbildung 5: Die Großfürstin Sofija entreißt auf der Hochzeit ihres Sohnes Fürst Vasilij von Galič den gol­denen Gürtel. Vasilij verlässt anschließend das Fest zusammen mit seinem ­Bruder (unterer Bildteil); die Darstellung ­findet sich im Golicynskij tom, Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek, St. Petersburg; hier zitiert nach: Licevoj letopisnyj svod XVI veka, Bd. 13  (wie Anm. 119), S. 141.

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wachsenen) Großfürsten weiterhin stark in der Auseinandersetzung zu engagie­ ren, ist noch in manchen Punkten ungeklärt. Diese offenen Fragen stehen allerdings in Zusammenhang mit dem spezifischen Regentschaftsmodell, welches sich im altostslawischen Kontext und in Moskau entwickelt hatte: Das Referenzsystem war von Anbeginn an die Familie, deren Mitglieder in ihren Rollen – später durch Verweis auf christliche Vorbilder – fest­ gelegt wurden. Regentinnen agierten stets als Mütter und (Groß-)Fürstinnen in Wahrnehmung der Interessen minderjähriger Kinder. Eine eigene Terminologie, die stärker die zeitliche Befristung einer Stellvertretung akzentuierte, entwickelte sich im altostslawischen und Moskauer Kontext nicht. Daraus folgt, dass sich das Ende einer Regentschaft, nicht immer ganz eindeutig bestimmen lässt, ließ sich doch die Mutterrolle, die als Ausgangspunkt für die Konstruktion diente, eben­ falls nicht zeitlich befristen. Was eine Regentin dann aus diesen Rahmenbedingun­ gen machte, hing sehr von der jeweiligen historisch-politischen und familiären Konstellation sowie den persönlichen Fähigkeiten der Protagonistinnen ab. Selbst in einer Zeit von Machtkämpfen sozialisiert, hatte die Großfürstin Sofija den Kampf um den Großfürstenthron sofort als das verstanden, wofür er um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert stand – als Kampf um Macht und Vorherr­ schaft. In diesen Kampf trat zunächst der Großfürst und nach seinem Tod die Großfürstin im Namen ihres minderjährigen Sohnes als Regentin ein. Unmittel­ bare Vorausetzung war die Etablierung Vasilijs II. als rechtmäßiger Thronfolger gegen die starina und die Regelungen im Testament Dmitrij Donskojs, das heißt die Durchsetzung der Primogenitur gegenüber dem gewohnheitsrechtlichen Seni­ orat. Diesem Ziel dienten Verabredungen und Verträge, mit denen der Großfürst den Schutz seiner Familie nach seinem Tod durch andere fürstliche Akteure aus dem Familienumfeld sicherstellen wollte. Zentral war auch die Ausstattung der Witwe mit Rechten und Vermögen, wie ein Blick in die Testamente zeigt. Sofija Vitovtovna konnte als Witwe zeitweilig sogar „an des Vaters Stelle“ agieren.124 Sie blieb aber auch für ihre erwachsenen Kinder – wie zuvor ihre Schwiegermut­ ter – der Mutterrolle verhaftet und damit über den Zeitpunkt von deren Volljäh­ rigkeit hinaus zuständig für viele Fragen, die die Familie betrafen: Dies galt für den Bereich von Heiraten und insbesondere für die Bildung von Netzwerken, die die politische Kultur Moskaus nachhaltig prägten und schließlich ihrem Sohn den Großfürstenthron sicherten.

Abstract In Old Eastern Slavic history, as in other parts of Europe, there are several cases of princesses acting as substitutes for absent husbands. If the princely husband died, the widow could usually dispose of whatever was freely available in accor­ dance with the deceased’s last will and act as guardian for underage children. This 124 

Duchovnye i dogovornye gramoty (wie Anm. 12), Nr. 21, S. 58 und Nr. 22, S. 60.

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available paternal inheritance, the votchina, did not necessarily have to include the prestigious title of Grand Prince and succession to the Grand Principality associ­ ated with it (first in Kiev, later in Vladimir-Suzdalʹ, then Moscow). The prevailing order of succession to the throne was the seniorate, a characteristic of Rusʹ histo­ ry. In the absence of further heirs, primogeniture had often been practiced in the Grand Principality of Moscow as a de facto succession arrangement, which, how­ ever, had not yet officially replaced seniority as an established customary law. In their wills, the grand princes tried to organize a framework for a smooth transfer of power to the successor. Dmitrii Donskoi strengthened the position of his first son as grand prince, but also the position of his widow, as his son would later do as well. Vasilii I was married to Sofia Vitovtovna, the daughter of the powerful Lithuanian grand prince Vytautas. Socialized in a time of power struggles, Sofia immediately saw the struggle for the grand princely throne for what it was: a struggle for power and supremacy. She and her husband, whose next younger brother Jurii had already been designated by his father Dmitrii Donskoi to suc­ ceed him, attempted to secure the succession to the throne for their own children as soon as the first sons were born. To this end, Vasilii I concluded treaties with other princes from the family circle to ensure the protection of his family after his own death. The endowment of Sofia, the widow, with rights and assets was also central, as a glance at the wills shows. Sofia was installed as regent for the minor heir to the throne. Usually the widowed grand princesses derived their rights from their role as mothers. The regent’s rights of rule were derived from the son’s rights to rule, so from the new grand prince under her guardianship. In the last wills of the grand prince’s new terminology or legal frameworks were created for the functions that widows were to assume on behalf of their deceased spouses. But Sofia’s role went a little beyond that. Her husband stipulated in his will that, as a widow, she could temporarily act ‘at the father’s place’ in the family system. Moreover, terminological reference to the mother and the family system had fur­ ther consequences: a temporal limitation of the deputyship is not to be found in the terms that developed in Old Eastern Slavic and Muscovite contexts. As a re­ sult, the end of a regency cannot always be determined clearly, since the starting point for the construction, role of mother, could not be limited in time either. As a widow, Sofia Vitovtovna was able to act temporarily in her deceased husband’s and her underaged son’s place. But like her mother-in-law before her, she natu­ rally remained the mother even of her adult children and thus continued to be ­responsible for many issues concerning the family even once they were of age: This applied marriage arrangements and, in particular, to the formation of ­networks that had a lasting impact on Moscow’s political culture and ultimately secured her son the grand princely throne.

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Cristina Andenna, vormals Universitätsprofessorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität Graz (Österreich), lehrt seit Oktober 2022 als Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität des Saarlandes. Ihre Forschungen konzentrierten sich besonders auf die Geschichte religiöser Orden (Prozesse der Institutionalisierung, Bildung kollektiver Identitäten, Konstruktion von Erinnerung). In den letzten Jahren hat sie sich zudem intensiv mit Institutionalisierungsprozessen und Legitimationsstrategien im süditalienischen Königreich Neapel befasst und unter anderem die Rolle der Königinnen und deren politischen Einfluss untersucht. E-Mail: [email protected] Dr. Julia Becker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Projekt „Klöster im Hochmittelalter“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Monastische Kultur, Wissensgeschichte, Normannische Herrschaftsbildung in Süditalien im Hochmittelalter, lateinische und griechische Di­ plomatik und Paläographie. E-Mail: [email protected] Dr. Eric Böhme arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Religionen an der Universität Konstanz. Er forscht zu Interaktionsprozessen zwischen Muslimen, Juden und Christen auf der Iberischen Halbinsel, in Süditalien sowie im Nahen Osten (11.–13. Jahrhundert). E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Julia Burkhardt ist Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Kultur- und Geschlechtergeschichte des Politischen, die Wirkmacht religiöser Gemeinschaften sowie Überlieferung und Edition von ExempelTexten im Mittelalter. E-Mail: [email protected] Dr. Linda Dohmen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Mittelalterliche Geschichte der Universität Bonn und verfolgt derzeit ein Forschungsprojekt zu Wahlversprechen im Umfeld der römisch-deutschen Königswahlen (12.–14. Jahrhundert), das von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wird. Ihr besonderes Forschungsinteresse gilt der politischen sowie gender-Geschichte des Mittelalters, insbesondere auch in transkultureller Perspektive. E-Mail: [email protected]

https://doi.org/10.1515/9783111071879-011

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Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Dr. Anne Foerster ist seit 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn tätig. Sie forscht zur Herrschaft im Früh- und Hochmittelalter, zu Königinnen, zur Geschlechtergeschichte sowie zur mittelalterlichen Historiografie und wurde 2016 mit der Arbeit „Die Witwe des Königs. Zu Vorstellung, Anspruch und Performanz im englischen und deutschen Hochmittelalter“ promoviert. E-Mail: [email protected] Juniorprof. Dr. Sebastian Roebert hat in Leipzig eine Juniorprofessur für Historische Grundwissenschaften (Kooperation zwischen der Universität Leipzig und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Leipzig) inne. Seine Forschungs­ interessen liegen insbesondere im Bereich der mittelalterlichen Diplomatik, der Herrschaft von Königinnen, besonders auf der Iberischen Halbinsel, und den ­Dynamiken sozialer Klientelverbände. E-Mail: [email protected] Dr. Maike Sach ist nach Stationen am DHI Warschau, den Historischen Seminaren der Universitäten Kiel und Mainz sowie der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden erneut wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der Universität Mainz. Ihre Arbeitsgebiete sind die Geschichte Russlands und Altrusslands, Polens und des Deutschen ­Ordens, Kultur- und Diplomatiegeschichte, Kartographiegeschichte, Historische Bildforschung und Historiographiegeschichte. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Gabriela Signori hat an der Universität Konstanz den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte inne. Sie hat zahlreiche Publikationen zur Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsgeschichte der spätmittelalterlichen Stadt, zum mittelalterlichen Mönchtum sowie zur Frömmigkeitsgeschichte und zur mittelalter­ lichen Hagiographie verfasst. E-Mail: [email protected] Marianne Wenzel, M.A. war als wissenschaftliche Volontärin am Zentrum für Mittelalter­ausstellungen, Magdeburg und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Museum Schloss Lübben tätig. Sie arbeitet derzeit an einem Promotionsvor­ haben über den Einfluss erzbischöflicher Politik während der Regierungszeit Lothars III. und ist Mitglied im DFG-Netzwerk „Krise und Aufbruch. Das Zeitalter des Investiturstreits abseits des Investiturstreits“. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Claudia Zey hat an der Universität Zürich den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte des Mittelalters mit Schwerpunkt auf der hochmittelalterlichen Geschichte inne. Im Kollegjahr 2020/2021 war sie Senior Fellow des Historischen Kollegs, wo sie an einer Arbeit zu „Stellvertretung im Mittelalter – Konzeption und Funktionalität repräsentativer Herrschaft“ gearbeitet hat. Sie forscht und lehrt zur (kirchen-)politischen Geschichte, besonders zum Investiturstreit, zum Gesandtschaftswesen, besonders zum päpstlichen Legatenwesen, sowie zur ­Frauen- und Geschlechtergeschichte. E-Mail: [email protected]

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 108 2022. XI, 219 S., 4 Abb. ISBN 978-3-11-074268-8

Narrative und Darstellungsweisen der Globalgeschichte Herausgegeben von Gabriele Lingelbach Während sich Globalhistorikerinnen und -historiker bereits intensiv damit aus­ einandergesetzt haben, welche Themen und Fragestellungen in ihrem Ansatz ­behandelt werden sowie welche Theorien und Methoden Anwendung finden ­sollten, gibt es bislang nur wenige Überlegungen zu Darstellungsformen und Er­ zählweisen von globalgeschichtlichen Texten. Diese Lücke möchte der vorliegende Band schließen: Zum einen fragt er danach, welche Meister- und Metaerzählungen existieren und welche Kritik an diesen geübt wurde. Zum anderen werden unterschiedliche Darstellungsweisen vorgestellt, mit denen sich die Geschichte des Kolonialis­ mus, der Migrationen sowie des globalen Waren- und Wissensaustauschs erzählen lassen. Darüber hinaus werden exemplarisch einige häufig in ­globalgeschichtlichen Darstellungen zu findende Begriffe und Visualisierungen analysiert. Im Mittelpunkt des Bandes steht die Frage, welchen spezifischen ­narrativen Herausforderungen sich Globalhistorikerinnen und -historiker stellen müssen.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 107 2021. VIII, 354 S., 150 Abb. ISBN 978-3-11-073479-9

Körper-Bilder in der Frühen Neuzeit Kunst-, medizin- und mediengeschichtliche Perspektiven Herausgegeben von Michael Stolberg Zahlreiche Abbildungen von gesunden und kranken, von wohlgestalteten und missgebildeten menschlichen Körpern sind aus der Frühen Neuzeit überliefert. Kunst-, medizin- und kulturgeschichtliche Perspektiven in einem dezidiert interdisziplinär angelegten Unterfangen verknüpfend, bietet dieses Buch faszinierende Einblicke in zeitgenössische Formen und Strategien der Visualisierung des Körpers im zeitlichen Wandel. Das Themenspektrum, das die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen abhandeln, ist breit. Es reicht von anatomischen Tafeln und dem Vergleich von westlichen und chinesischen anatomischen Illustrationen über medizinische und künstlerische Darstellungen von Pest und Syphilis bis hin zu Bildern von Kastraten, Hinkenden, Buckligen, „siamesischen Zwillingen“ und anderen abnormen Körpern. Zahlreiche farbige Abbildungen – von denen etliche hier erstmals veröffentlicht werden – lassen die Lektüre zugleich zu einem eindrucksvollen visuellen Erlebnis werden.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 106 2021. XII, 255 S., 15 Abb. ISBN 978-3-11-073076-0

Gute Erinnerungen an schlechte Zeiten? Wie nach 1945 und nach 1989 rückblickend über ­glückliche Momente in Diktaturen gesprochen wurde Herausgegeben von Monica Rüthers Dem Wissen um den amoralischen Charakter der nationalsozialistischen und kommunistischen Herrschaft stand nach 1945/1989 das Bedürfnis der Menschen gegenüber, sich auch an die schönen Momente im eigenen Leben während der Diktatur zu erinnern. Daraus ergab sich ein moralisches Dilemma: Wie konnte die problematische Vergangenheit in die eigene Lebenserzählung integriert werden? Möglich war das vor allem in „Erzählgemeinschaften“ der Zeitzeugen, aber auch in nonverbalen Formen des Erinnerns – etwa durch das Einrichten privater Museen und Sammlungen obsolet gewordener Alltagsgegenstände, entlang derer sich wiederum Narrative herausbildeten. Der Band geht der Frage nach den wechselnden Rahmenbedingungen des positiven Erzählens über Diktaturen des 20. Jahrhunderts nach. Hierbei werden West- und Ostdeutschland, die ehemalige Sowjetunion und die Tschechoslowakei in den Blick genommen.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 105 2021. VIII, 275 S., 3 Abb. ISBN 978-3-11-070964-3

Der Siebenjährige Krieg 1756–1763 Mikro- und Makroperspektiven Herausgegeben von Marian Füssel Der Siebenjährige Krieg (1756–1763) war ein globaler Konflikt mit Schauplätzen in Europa, Afrika, Amerika und Südasien. Ein Szenario, das nicht nur die Frage nach Formen globaler Verflechtungen aufwirft, sondern zu einer grundsätzlichen Reflexion über das Verhältnis von Mikro- und Makrogeschichten frühmoderner Kriege Anlass bietet. Wie verhielten sich Gewalt und Leid vor Ort zu den geopolitischen Strategien der europäischen Monarchien? Ausgewiesene, internationale Expertinnen und Experten widmen sich dem großen Krieg aus der Nähe aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit neuen Forschungsansätzen. Die Beiträge des Bandes handeln u.a. von diplomatischem Kalkül und weltweiten Kommunikationsnetzwerken, von der Praxis militärischer Gewalt in Belagerungen, von der Finanzierung und Zählung von Streitkräften oder den Erfahrungen von Okkupationen vor Ort. Besondere Aufmerksamkeit gilt der bislang weniger gewürdigten Verwicklung des spanischen Imperiums in den Konflikt.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 104 2020. XVI, 430 S. ISBN 978-3-11-067954-0

Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg Herausgegeben von Hélène Miard-Delacroix und Andreas Wirsching Die Erforschung von Emotionen, „emotional regimes“ und „emotional communities“ hat in den vergangenen Jahren große Aufmerksamkeit erfahren. Zugrunde liegt unter anderem die Einsicht, dass Rationalität und Gefühlswelt keine starren Gegensätze sind, wie es eine ältere Auffassung lange Zeit glaubte. Vielmehr fließen Emotionen regelmäßig in die Konstruktion von Bildern des anderen, Wahrnehmungen und Interpretationsmustern ein und stehen in einem komplexen Zusammenhang mit „rational“ vermittelten Handlungen. Dies gilt in besonderem Maße für die Geschichte der internationalen Beziehungen, die dieser Band erstmals systematisch unter einer emotionsgeschichtlichen Perspektive in den Blick nimmt. Mit ihr untersuchen renommierte Historikerinnen und Historiker zentrale Phasen und Schauplätze des Kalten Krieges. Damit eröffnet der Band einen wichtigen Dialog zwischen unterschiedlichen methodischen Traditionen der Geschichtswissenschaft.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 103 2021. XII, 194 S., 10 Abb. in Farbe ISBN 978-3-11-065927-6

Identities and Representations in Georgia from the 19th Century to the Present Edited by Hubertus Jahn This interdisciplinary volume explores various identities and their expressions in Georgia from the early 19th century to the present. It focuses on memory culture, the politics of history, and the relations between imperial and national traditions. It also addresses political, social, cultural, personal, religious, and gender identities. Individual contributions address the imperial scenarios of Russia’s tsars visiting the Caucasus, Georgian political romanticism, specific aspects of the feminist movement and of pedagogical reform projects before 1917. Others discuss the personality cult of Stalin, the role of the museum built for the Soviet dictator in his hometown Gori, and Georgian nationalism in the uprising of 1956. Essays about the Abkhaz independence movement, the political role of national saints, post-Soviet identity crises, atheist sub-cultures, and current perceptions of citizenship take the volume into the contemporary period.