Nation - Staat - Stadt: Architektur, Denkmalpflege und visuelle Geschichtskultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 9783412214852, 9783412208196

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Nation - Staat - Stadt: Architektur, Denkmalpflege und visuelle Geschichtskultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert
 9783412214852, 9783412208196

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Nation – Staat – Stadt

Visuelle Geschichtskultur He­raus­ge­ge­ben von Stefan Troebst In Verbindung mit Anders Åman (†), Steven A. Mansbach und László Kontler

Band 9

Arnold Bartetzky

Nation – Staat – Stadt Architektur, Denkmalpflege und visuelle Geschichtskultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert

2012 BÖHL­AU VER­LAG KÖLN WEI­MAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig. Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG0710 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: „Temporary Museum of Modern Marx“, Chemnitz 2008. (Neue Sächsische Galerie)

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20819-6

In h al t

Vorwort .................................................................................................................. 7 Zerstörung, Wiederaufbau, Architektur im Dienst der Geschichtsinszenierung „Wiedergutmachung für historische Verluste.“ Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa als Akt nationaler Selbstbehauptung .......... 17 „Seid von Zeit zu Zeit auch tolerant!“ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler ...................... 33 Mut zur Wunde! Optionen für die Zukunft der kriegszerstörten Schlosskirche in der Marienburg .................................................................................................. 53 Auf der Suche nach der nationalen Form. Zur Architektur der Stalinzeit in der DDR und in Polen .................................................................................................. 59 Stadtplanung und Denkmalpflege im geteilten Europa. Der Wiederaufbau zerstörter Städte in den beiden deutschen Staaten und in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg .................................................................................................. 85 Auf nach Bochum. Das Areal an der Dresdner Frauenkirche und das Prinzip Rekonstruktion ....................................................................................................... 109 Staat und Nation in Bild und Bau Václav Havel und Tomaš G. Masaryk: Präsidentielle Kunstpatronage und visuelle Staatsrepräsentation auf der Prager Burg ................................................. 115 Ceauşescus Rache. Der Volkspalast in Bukarest – ein populäres Monument des Wahnsinns ........................................................................................................ 129 Kontinuität im Wandel. Nationale Geschichte und staatliche Identität auf polnischen Banknoten (1918 bis heute) ................................................................. 133 Trennendes in der Gemeinschaft, Gemeinsames in der Trennung. Nationale Geschichte und staatliche Identität auf tschechoslowakischen und tschechischen Banknoten (1918 bis heute) ............................................................ 156

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Inhalt

Lenins Asyl unter Kaliforniens Himmel. Die Socialistica-Sammlung des „Wende Museums“ in Los Angeles ....................................................................... 179 Postsozialistische Stadt, Postkonfliktstadt Die postsozialistische Stadt als Bild- und Konfliktraum ....................................... 189 Sperriges Erbe. Politische Denkmäler und Staatsbauten der DDR im wiedervereinigten Deutschland .............................................................................. 204 Von der stalinistischen Idealstadt zum postsozialistischen Kultort. Die polnische Arbeiterstadt Nowa Huta hofft auf eine Renaissance ..................... 221 Neue Esten neben alten Russen. Tallinn baut an seiner Zukunft – die sowjetische Vergangenheit steht dabei im Weg ..................................................... 228 Bauen für die Versöhnung. Aufbruch in Belfast .................................................... 237 Pornos auf dem Plasmabildschirm schauen und an bunten Drinks nippen. Polen debattiert über „gated communities“ ........................................................... 242 Keine Belehrungen. Urbanisten staunen über Chinas Stadtentwicklung – und sind ratlos ............................................................................................................... 245 Herausgeputzt für den Frieden. Die Sanierung der georgischen Kleinstadt Signagi ................................................................................................................... 250 Der Stadtkonservator als Alleinherrscher. Kubanische Schule der Denkmalpflege ....................................................................................................... 255 Friede den Wellblechhütten. Das gefährdete koloniale Bauerbe im jamaikanischen Falmouth ...................................................................................... 260 Archäologischer Kriegsvergnügungspark. Die Ruinenstadt Forst-Ost in der Niederlausitz .................................................................................................... 264

Textnachweis .......................................................................................................... 269 Abbildungsnachweis .............................................................................................. 273

Vorw ort

Nationen, Staaten und Städte machen Geschichte. Sie erschaffen sich ein Fundament aus Imaginationen eigener Vergangenheit, das Sinn und Orientierung für die Gegenwart stiften soll. Daran wirken nicht nur Worte, sondern auch Bilder im weitesten Sinne mit: Historiengemälde und Denkmäler, Rituale im öffentlichen Raum und massenmedial vervielfältigte Darstellungen, nicht minder aber auch Bauwerke, Straßenzüge und Plätze. Diese visuelle Dimension der Geschichtskultur ist das Hauptthema des vorliegenden Buches. Im Mittelpunkt der meisten Beiträge steht die gebaute Umwelt. Wie die Metapher „Stein gewordene Geschichte“ suggeriert, ist sie ein Reservoir historischer Zeugnisse. Sie ist aber auch ein wirkungsmächtiges Mittel zur Konstruktion von Geschichtsbildern. Besonders deutlich zeigt sich die geschichtspolitische Funktion von Architektur und Städtebau bei Rekonstruktionen zerstörter, symbolträchtiger Bauten und Ensembles. Eines der zentralen Motive vieler Rekonstruktionsprojekte ist der Wunsch nach nationaler Selbstbehauptung durch bauliche Vergegenwärtigung vermeintlicher Glanzperioden eigener Geschichte. Dafür lassen sich unterschiedlichste Beispiele vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart anführen – angefangen mit der Rekonstruktion der ruinösen Marienburg als nationaler Kultort im damaligen Osten Deutschlands über den für das polnische Selbstbewusstsein eminent wichtigen Wiederaufbau der planmäßig verwüsteten Warschauer Altstadt nach 1945 bis zur jüngst vorgenommenen Nachschöpfung des vor mehr als zwei Jahrhunderten untergegangenen Großfürstlichen Palasts in Vilnius als Hort litauischer Staatlichkeit. Die Rekonstruktion im Dienst der Nation war und ist nicht nur, aber ganz besonders in der östlichen Hälfte Europas eine weit verbreitete Praxis. Die Ursachen dafür wurzeln in den langen Phasen der Fremdherrschaft sowie den vielen Regimewechseln, Grenz- und Völkerverschiebungen, die dieser Teil des Kontinents in den letzten Jahrhunderten erlebte. Zu deren Begleiterscheinungen gehörten Zerstörungen von Baudenkmälern, die von der betroffenen Bevölkerung als symbolpolitische Angriffe auf die eigene nationale Identität empfunden wurden – und vor allem im 20. Jahrhundert oft auch so gemeint waren. Zugleich zogen die Staatsneu- und -wiedergründungen nach 1918, 1945 und 1989 unter jeweils unterschiedlichen Vorzeichen Neubewertungen nationaler Tradition nach sich, die vielfach auch den Ruf nach Rekonstruktion ihrer ausgewählten baulichen Zeugnisse einschlossen. Das Phänomen Rekonstruktion lässt sich aber nicht allein mit nationalpolitischen Intentionen erklären. Bei vielen Projekten spielt die nationale Sache überhaupt keine erkennbare Rolle. Bei anderen verbindet sie sich mit einem ganzen Bündel weiterer politischer, kultureller und ökonomischer Motive. Die Stärkung lokaler und regionaler Identität kann ebenso dazugehören wie die Überwindung von Zerstörungstraumata und, in den letzten Jahrzehnten zunehmend, der Wunsch nach Aufwertung desolater Stadträume der Moderne und nach Steigerung touristischer Attraktivität. Die Frauen-

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Vorwort

kirche in Dresden ist wohl Deutschlands idealtypisches Beispiel für diese Vielschichtigkeit von Motiven. Rekonstruierte Bauten werden häufig als Kopien ihrer Vorgänger bezeichnet. Das ist nicht nur unpräzise, sondern letztlich auch irreführend. Denn völlige Originaltreue ist allenfalls nur theoretisch möglich, und in aller Regel wird sie auch gar nicht angestrebt. Rekonstruktionen beruhen stets auf selektiven und meist idealisierenden Visionen der Vergangenheit, die aktuellen ästhetischen Vorlieben folgen und Interessen der Gegenwart dienen. Sie sind unausweichlich Akte der Inszenierung von Geschichte, die den Anspruch auf deren Deutungshoheit implizieren. Darin liegt ihr Streitwert, der sich nicht erst in unserer Zeit in vielen erbitterten Kontroversen manifestiert. Zu den ältesten Kritikern der Rekonstruktion gehört die um 1900 etablierte, moderne Theorie der Denkmalpflege, die mit ihrem Verdikt „Konservieren, nicht restaurieren“ die Unersetzbarkeit des Originals postuliert. Sobald aber schwerwiegende politische oder massenpsychologische Gründe für die Rekonstruktion sprachen, erwiesen sich selbst die doktrinär gefestigten Denkmalpfleger meist als wenig prinzipientreu. Mehr oder weniger bereitwillig ordneten sie das Postulat der Theorie immer wieder dem Imperativ der Staatsräson, den mutmaßlichen Bedürfnissen der Nation oder auch der Befindlichkeit einer Stadtbevölkerung unter. Verschiedene Spielarten und Aspekte der Rekonstruktion einschließlich der durch sie ausgelösten Debatten, von den frühen, in Romantik und Historismus wurzelnden Beispielen bis zu den jüngsten Projekten zwischen Deutschland und Russland, sind das Thema der meisten Texte, die im ersten, mit „Zerstörung, Wiederaufbau, Architektur im Dienst der Geschichtsinszenierung“ betitelten Abschnitt dieses Buches versammelt sind. Einige exemplarische Projekte und Positionen, etwa die Rekonstruktion der Marienburg und der Warschauer Altstadt samt Stellungnahmen ihrer Protagonisten Conrad Steinbrecht und Jan Zachwatowicz, werden dabei in mehreren Texten, aber jeweils mit unterschiedlicher Fragestellung behandelt. Der Blick richtet sich in diesem Teil des Buches darüber hinaus auch auf andere Formen architektonischer Anknüpfung an die Vergangenheit, namentlich die Anverwandlungen historischer Stile an neu geplanten Bauten. Die Suche nach und die Weiterentwicklung von vermeintlich national- oder regionaltypischen Baustilen der Vergangenheit haben eine lange Vorgeschichte in den Architekturdiskussionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In der sowjetischen Machtsphäre erlangten sie in der Stalinzeit neue Aktualität, als die Architektur zusammen mit allen anderen Segmenten der Kunstproduktion der Forderung des Sozialistischen Realismus nach „sozialistischem Inhalt“ und „nationaler Form“ unterworfen wurde. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Doktrin und die gebauten Ergebnisse werden in diesem Abschnitt am Beispiel der DDR und Polens nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet. Während die Architektur der beiden Satellitenstaaten der stalinistischen Sowjetunion gezwungenermaßen demonstrativ nach der Geschichte griff, hatte der Wiederaufbau in der frühen Bundesrepublik eine andere, nämlich dezidiert modernistische Stoßrichtung. So jedenfalls lautet das gängige, in seiner Vereinfachung ans Klischee



Vorwort

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grenzende Urteil. Ein schlaglichtartiger, vergleichender Blick auf Stadtplanung und Denkmalpflege in beiden Deutschlands und in Polen, der in einem weiteren Text des Abschnitts geworfen wird, zeigt indes, dass es bei allen geschichts- und systembedingten vordergründigen Gegensätzen auch bemerkenswerte Parallelen gab. Ein beträchtlicher Teil der im ersten Buchabschnitt besprochenen rekonstruierten oder neu geplanten Bauten und Ensembles entstand in staatlichem Auftrag und nicht zuletzt zu Zwecken der Staatsrepräsentation. Verschiedene – nicht nur architektonische – Formen und Strategien der visuellen Selbstdarstellung des Staates stehen im Mittelpunkt des zweiten, mit „Staat und Nation in Bild und Bau“ überschriebenen Abschnitts. Die Aufgabe, dem Staat ein Gesicht zu geben, gewann nach 1918 ganz besonders in der östlichen Hälfte Europas wegen der vielen Staatsgründungen im Ergebnis des Ersten Weltkriegs an Bedeutung. Wie eng die Staatsrepräsentation zuweilen mit der individuellen Repräsentation von Staatsmännern verknüpft ist, wird am Beispiel entsprechender Aktivitäten der beiden Staatspräsidenten der Tschechoslowakei sowie der Tschechischen Republik, Tomaš G. Masaryk und Václav Havel gezeigt. Mit seiner Kunstpatronage bei der Umgestaltung der Prager Burg in der Zwischenkriegszeit diente Ersterer als Vorbild für den Letzteren, der sich mit seinem Amtsantritt das Ziel gesetzt hatte, dem in den Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft vernachlässigten Präsidentensitz neues – demokratisches – Leben einzuhauchen. Etwas gänzlich anderes schwebte dem megalomanen rumänischen Diktator Nicolae Ceauşescu vor, als er sich in den 1980er Jahren mit dem Bukarester „Volkspalast“ auf Kosten seines darbenden Volkes ein gigantisches Märchenschloss aus dem Boden stampfen ließ. In einem Kurztext wird der bizarre Bau als ein Monument des Wahnsinns vorgestellt, das sich im heutigen Rumänien erstaunlicher Beliebtheit erfreut. Ein Medium staatlicher Repräsentation, das dem Personenkult um einzelne Staatsmänner ebenso dienen kann wie der Vermittlung offizieller Geschichtsbilder und Deutungen der Gegenwart, sind Banknoten. In zwei Beiträgen wird anhand ausgewählter Beispiele die Entwicklung der Ikonographie polnischer sowie tschechoslowakischer und tschechischer Geldscheine von 1918 bis zur Gegenwart nachgezeichnet. Dabei zeigen sich die erwartbaren, durch Systemwechsel und andere Umwälzungen bedingten Brüche in der staatlichen Selbstdeutung und -darstellung. Zugleich sind aber, vor allem bei der Wahl der abzubildenden historischen Persönlichkeiten, überraschende Kontinuitäten zu beobachten. Sie resultieren aus der Unverzichtbarkeit der Verankerung staatlich generierter Bilderwelten in der nationalen Tradition, belegen aber auch die Wandelbarkeit der Bedeutung, die ein Banknotenmotiv in unterschiedlichen politischen Systemen und historischen Kontexten annehmen kann. Viele Träger staatlicher Selbstdarstellung gehen mit den Regimen unter, die sie repräsentieren. Dazu gehören nicht nur Denkmäler und Bauten, sondern auch Kleinformen wie zum Beispiel die Büsten, Statuetten, Fahnen, Wimpel oder Gedenkteller, die zur obligaten Ausstattung der Amtsstuben und Versammlungsräume politischer Organisationen in sozialistischen Ländern zählten. Einen möglichst großen Teil solcher Relikte vor dem Müllhaufen der Geschichte zu bewahren, hat sich das in Los Angeles ansässige „Wende Museum“ zum Ziel gemacht, das die größte Sammlung von Arte-

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Vorwort

fakten und Archivalien aus der Zeit des Sozialismus außerhalb Europas besitzt. Die von einem jungen Historiker gegründete Institution, die sich im Gegensatz zu manch einem Kommunismusmuseum in Europa nicht als unterhaltsames Kuriositätenkabinett, sondern – und dies mit Recht – als seriöse Forschungsstätte versteht, wird am Ende des zweiten Buchabschnitts vorgestellt. Der Umbruch von 1989–91 setzte einen tiefgreifenden Wandel in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in Gang. Dessen visuelle Folgen sind in den Städten besonders augenfällig. Ein unübersehbares Zeichen des Wechsels waren zunächst die Destruktion von alten und Produktion von neuen Bildern im urbanen Raum. Statuen kommunistischer Helden wurden demontiert, neues historisches Personal betrat die Denkmalsockel. Propagandaplakate verschwanden aus dem Straßenbild, an ihre Stelle traten Reklamebilder, die sie in Anzahl und Dimensionen um ein Vielfaches übertreffen. Etwas zeitverzögert, dafür aber umso ungestümer, setzte in den meisten Städten der bauliche Wandel ein. Hatten im Sozialismus hauptsächlich die Staatsbauten die Stadtzentren dominiert, so breiteten sich fortan mitunter invasionsartig Kommerzbauten aus, die ihren Herrschaftsanspruch oftmals durch Unmaßstäblichkeit und Höhendrang signalisieren. Derweil schreiten die Dezimierung und Überformung der baulichen Hinterlassenschaft des Sozialismus voran. Die Debatten, Konflikte und künstlerischen Reflexionen, die diese Prozesse in verschiedenen Ländern begleiten, sind das Thema eines überblicksartigen Beitrags am Anfang des dritten und letzten Buchabschnitts. Darauf folgt ein Text, der sich auf den Umgang mit Staatsbauten und Denkmälern der DDR im wiedervereinigten Deutschland konzentriert. Trotz einer beträchtlichen Zerstörungsbilanz ist hier die vollständige physische Beseitigung dieser Geschichtszeugnisse entgegen einer weit verbreiteten Einschätzung durchaus nicht die Regel. Das Spektrum der Optionen jenseits totaler Zerstörung reicht von Marginalisierung über Umdeutung, Umgestaltung und Umnutzung bis zur sorgfältigen Restaurierung des Originalzustands. Manche Monumente der DDR können nach wie vor bilderstürmerische Reflexe auslösen, wie unlängst die hitzigen Auseinandersetzungen um das Marx-Relief der Leipziger Universität zeigten. Andere indes, etwa der riesige Marx-Kopf in Chemnitz, erfreuen sich heute nicht nur in trendbewussten Milieus, sondern auch in weiten Teilen der Bevölkerung einer mitunter kultartigen Popularität, die der mittlerweile zum Stereotyp gewordenen, pauschalisierenden Rede vom „ungeliebten Erbe“ widerspricht. Dass dieser Topos auch in anderen Ländern teilweise überholt ist, belegt der Bericht über die in der Nachkriegszeit als urbanistisches Vorzeigeprojekt des Sozialismus errichtete polnische Reißbrettstadt Nowa Huta bei Krakau, wo sich nach einer langen Phase des Niedergangs seit einigen Jahren Vorboten einer Renaissance bemerkbar machen. Einen regelrechten Aufbruch erlebt derweil Estlands Hauptstadt Tallinn, die sich als stolzes althansisches Kleinod und zugleich als smarte, zukunftsfreudige Hauptstadt eines jungen Aufsteigerstaates präsentiert. Zu berichten ist aber auch über Tallinns Probleme mit seiner sowjetischen Vergangenheit und der von ihr geerbten, großen russischen Minderheit, die im Selbstbild der aufstrebenden Stadt keinen Platz hat. Einige Parallelen zur Entwicklung Tallinns lassen sich in einem ganz anderen Teil



Vorwort

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Europas, im nordirischen Belfast beobachten. Nach einem langwierigen Versöhnungsprozess setzte in der zwischen proirischen Katholiken und probritischen Protestanten umkämpften Provinzhauptstadt ein von der Hoffnung auf dauerhaften Frieden und Wohlstand getragener Bauboom ein. Doch die Schatten der Vergangenheit sind im Stadtbild unübersehbar, und die in die Gegenwart getragenen Animositäten lassen sich nicht so leicht abschütteln, wie es die Selbstvermarktung der Stadt glauben machen möchte. Belfast gilt als Inbegriff einer europäischen Postkonfliktstadt. Da auch die Entwicklung einiger anderer in diesem Teil des Buches besprochener Städte, darunter auch Tallinns, durch Postkonfliktsituationen in weiterem Sinne gekennzeichnet ist, wurde für den Abschnitt die Überschrift „Postsozialistische Stadt, Postkonfliktstadt“ gewählt. Ein Merkmal, das die bauliche Entwicklung Belfasts mit anderen Postkonfliktstädten und wohl mit allen postsozialistischen Städten verbindet, ist die fortschreitende soziale Segregation. Als einer ihrer fatalsten Auswüchse gilt die Hochkonjunktur der „gated communities“ – abgeriegelter, rund um die Uhr bewachter Siedlungen der Wohlhabenden, die sich in zahlreichen Städten zu Lasten des öffentlichen Raums und des sozialen Zusammenhalts ausbreiten. Dass dies Kritik und Protest hervorruft, aber auch zu beißender Satire anstiften kann, zeigt ein Blick auf die Debatten im besonders betroffenen Polen. Mag die Stadtentwicklung im postsozialistischen Europa aus unserer Perspektive als rasanter, mitunter brutaler Wandel erscheinen – im Vergleich zu den Verwerfungen, die die Megastädte im offiziell noch sozialistischen, aber längst marktwirtschaftlich entfesselten China erleben, verläuft sie im Schneckentempo. Ein Kurzbericht schildert das atemberaubende Wachstum in der südchinesischen Metropolregion samt seiner schweren Nebenwirkungen. Bekannt und berüchtigt ist Chinas Raubbau an seiner historischen Bausubstanz. Eine Ahnung davon, wie sehr die Denkmallandschaften auch in anderen Regionen der Welt leiden, vermitteln drei Texte, die sich mit denkmalpflegerischen Kampagnen in Georgien, Kuba und Jamaika befassen. Die geschilderten Aktivitäten verfolgen alle das Ziel, den dramatischen Verfall zu stoppen und zugleich die Wirtschaft in den betroffenen Städten durch Mehreinnahmen aus dem Tourismus anzukurbeln. Doch sie setzen dabei auf unterschiedliche Methoden: Während die Fallbeispiele aus Georgien und Kuba für eine staatlich verordnete Denkmalpflege von oben stehen, kommt der Impuls auf Jamaika von einer zivilgesellschaftlichen Initiative. Hier wie dort wurden durchaus bemerkenswerte Erfolge beim Erhalt des Bauerbes erzielt. Von den hochentwickelten Standards deutscher Denkmalpflege im Umgang mit dem Bestand sind jedoch alle drei vorgestellten Kampagnen gleich weit entfernt. Der letzte Text des Buches führt aufs Land. Doch auch hier geht es letztlich um das Geschick einer Stadt und den Umgang mit baulichem Erbe. Denn das aufgesuchte Waldgebiet am polnischen Neißeufer erstreckt sich an Stelle eines infolge des Zweiten Weltkriegs untergegangenen, dicht bevölkerten Wohnquartiers der einst bedeutenden Textilarbeiterstadt Forst und einer nahegelegenen gigantischen Munitionsfabrik. Die weitläufige Kriegsfolgelandschaft lockt heute Hobbyarchäologen, verschiedene

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Abenteurer und nicht zuletzt aus Deutschland anreisende, zahlende Kunden eines kommerziellen Kriegsspielplatzes. Die makabre Nachnutzung gehört zu den Kuriosa, die in der postsozialistischen – und vielfach auch: posturbanen – Gegenwart des deutsch-polnischen Grenzstreifens als Normalität wahrgenommen werden. Bei aller thematischen Vielfalt kreisen die Texte dieses Bandes fast durchweg um die Rolle, die Architektur, Denkmalpflege und die Produktion von Geschichtsbildern im weitesten Sinne für die Entwicklung, Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung von Nation, Staat und Stadt spielen. Damit untrennbar verbunden, werden immer wieder auch verschiedene Facetten des Umgangs mit baulichen und visuellen Relikten der Vergangenheit betrachtet. Die Texte lassen sich – einander überschneidenden – Themenblöcken zuordnen, denen die drei Abschnitte des Buches entsprechen. Den Anspruch einer systematischen Bearbeitung des Themenkomplexes kann dieser Band allerdings auf keinen Fall erheben. Nicht alle der hier versammelten Texte verfolgen einen wissenschaftlichen Anspruch. Aufwendig recherchierte Aufsätze mit teils umfangreichen Angaben zur bisherigen Forschung wechseln mit essayistischen Momentaufnahmen ab, die vorwiegend aus Streifzügen durch die beschriebenen Städte und Bauten hervorgegangen sind. Der eine oder andere Text schwankt freilich zwischen diesen beiden Gattungen, die sich ohnehin nicht so trennscharf voneinander abgrenzen lassen, wie der häufig postulierte Gegensatz Wissenschaft – Feuilleton suggeriert. Auch in den Aufsätzen augenscheinlich wissenschaftlichen Charakters entspringt manch eine Behauptung eher der Intuition als gründlicher Analyse, und die Auswahl der Beispiele spiegelt die zum Teil zufälligen Kenntnisse oder auch Vorlieben des Autors wider. Umgekehrt können aber auch feuilletonistische Artikel Impulse für die Forschung setzen, indem sie etwa ein breiteres Publikumsinteresse für unterbelichtete Arbeitsgebiete wecken. Die vorliegenden Texte sind im Laufe der letzten Jahre im Rahmen, wenn auch zum Teil als Nebenprodukte meiner Tätigkeit als Kunsthistoriker am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) entstanden. Aus dem Arbeitsauftrag des GWZO ergibt sich die Konzentration auf die Länder in der östlichen Hälfte Europas, wenn auch unter Einschluss Deutschlands. Punktuell konnten aber auch andere Teile der Welt einbezogen werden. Die meist aus Vorträgen hervorgegangenen, längeren Aufsätze erscheinen hier vorwiegend zum ersten Mal, einige von ihnen sind bisher entlegen oder in fremdsprachigen Versionen publiziert. Bei den dazwischen eingestreuten, kürzeren Essays handelt es sich meist um leicht überarbeitete und großzügiger illustrierte Fassungen von Artikeln, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen sind. Angaben zum Entstehungsanlass und gegebenenfalls zum Ort der Erstpublikation finden sich im Textnachweis am Ende des Bandes. Das Buch wäre nicht zustande gekommen, wenn ich bei den Vorarbeiten nicht vielfältige Unterstützung erfahren hätte. Mein Dank gilt allen voran dem GWZO, das es mir unter schlichtweg optimalen Arbeitsbedingungen ermöglicht hat, das hier behan-



Vorwort

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delte breite Themenspektrum zu verfolgen, und seinen Hauptfördermittelgebern – der Deutschen Forschungsgemeinschaft (bis 2007) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (seit 2008), das auch diese Publikation mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert hat. Für anhaltende Unterstützung meiner Vorhaben mit all ihren Nebenwegen – und gelegentlichen Sackgassen – danke ich den Direktoren des GWZO, Winfried Eberhard (bis 2007) und Christian Lübke (seit 2007), dem Stellvertretenden Direktor des GWZO, Stefan Troebst, und Alfrun Kliems, der Leiterin des 2010 abgeschlossenen GWZO-Projekts „Imaginationen des Urbanen in Ostmitteleuropa. Stadtplanung – Visuelle Kultur – Dichtung im 20. Jahrhundert“, aus dem dieses Buchprojekt hervorgegangen ist. Zu den großartigen Arbeitsbedingungen am GWZO gehört nicht zuletzt der inspirierende Ideenaustausch mit Kollegen, Gastwissenschaftlern und Kooperationspartnern. Dafür bin ich insbesondere Marina Dmitrieva, Jacek Friedrich, Małgorzata Omilanowska und Tomasz Torbus dankbar. Für unermüdliches Korrekturlesen und sachkundige Hilfe bei der Bildbearbeitung danke ich Jochen Krüger und Johanna Noske. Zdeněk Hojda bewahrte mich dankenswerterweise vor einigen Fehlern und gab mir wertvolle Hinweise zum Beitrag über die nationale und staatliche Identität auf tschechischen und tschechoslowakischen Banknoten. Wenn die Texte dieses Buches auch für eine fachfremde Leserschaft halbwegs verständlich sind, so hat daran Dieter Bartetzko, der Ressortleiter für Architektur und Denkmalpflege bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, großen Anteil, der mich den – von mir sicher nicht durchgehend eingelösten – Vorsatz fassen ließ, möglichst anschaulich zu schreiben. Für die engagierte und professionelle administrative Betreuung der Publikation seitens des GWZO danke ich dessen Verwaltungsleiterin Antje Schneegaß. Die ansprechende Gestaltung des Buches ist das Verdienst von Sandra Hartmann, Peter Kniesche und anderen Mitwirkenden im Böhlau Verlag in Weimar und Köln. Für unerschütterliche Geduld und gute Ideen bei dessen Konzipierung habe ich Harald S. Liehr, dem Leiter der Weimarer Niederlassung, zu danken. Für vielfältigen Rat und verschiedene Hilfestellungen geht mein Dank auch an Katharina Arnold, Dalius Avižinis, Joachim Bahlcke, Peter Bartetzky, Christian Dietz, Thomas Fichtner, Christian Fuhrmeister, Stefan Ghenciulescu, Christine Gölz, Frank Hadler, Felix Heckhausen, Petr Hlaváček, Wolfgang Hocquél, Roman Hollenstein, Dietlind Hüchtker, Wilfried Jilge, Hans Lemberg (†), Michaela Marek, Georg Michels, Heidemarie Petersen, Paul Sigel, Ewa Tomicka-Krumrey, Thomas Topfstedt und Ulrike Wendland. Meiner Frau Annette Steiger danke ich für das Verständnis und die Liebe, die mich bisher immer und überall, so auch bei der Entstehung dieses Buches begleitet haben.

„ W i e d e rg u t mac h u n g f ü r h i storische Ve rluste “ Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa als Akt nationaler Selbstbehauptung Die Flut von Projekten zum mehr oder weniger originalgetreuen Wiederaufbau zerstörter Baudenkmäler, die Deutschland seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten erlebt, wird in der Öffentlichkeit immer wieder als ein spezifisch und exklusiv deutsches Phänomen wahrgenommen. Das ist sie aber mitnichten. Ein Blick in das östliche Europa zeigt, dass architektonische Rekonstruktion dort seit dem Untergang des Staatssozialismus eine mindestens ebenso starke Konjunktur hat. Eines der erstaunlichsten Rekonstruktionsprojekte der jüngeren Zeit wird seit 2002 in Litauens Hauptstadt Vilnius realisiert. Dort ist mehr als zwei Jahrhunderte nach seinem Untergang der Großfürstliche Palast der Unteren Burg wiedererstanden (Abb. 1).1 Da die ursprüngliche Gestalt des auf einen mittelalterlichen Vorgänger zurückgehenden Renaissancebaus aus dem 16. Jahrhundert nur lückenhaft überliefert ist, waren die Rekonstrukteure vielfach auf Analogieschlüsse und Mutmaßungen angewiesen. Was sie aber nicht davon abhielt, in dem inzwischen weitestgehend fertiggestellten Nachbau aus Stahlbeton selbst einen Teil der Interieurs, für die es weder Bildquellen noch ausführliche Beschreibungen gibt, in vermeintlich historischen Formen auszuführen (Abb. 2). Das Mobiliar wird durch Ankäufe auf dem internationalen Antiquitätenmarkt zusammengetragen. Dass der Wille zur Rekonstruktion sich hier über alle Bedenken und über manchen Spott seitens der Fachwelt hinwegsetzt, hat geschichtspolitische Gründe. Die auf Beschluss des litauischen Parlaments wiedererstandene einstige Herrscherresidenz soll die bis in das Mittelalter zurückreichende Geschichte litauischer Staatlichkeit veranschaulichen und damit die 1991 errungene Unabhängigkeit des Landes historisch begründen. Den Fürsprechern der aus der Staatskasse finanzierten Rekonstruktion gilt der Palast dementsprechend als „Rückgewinn eines für das nationale Selbstbewusstsein und die geschichtliche Erinnerung gleichermaßen wichtigen Symbols“, ja schlechthin als „Ausdruck der staatlichen Souveränität Litauens“2 – einer Souveränität, die angesichts jahrhundertlanger Vormachtstellung Polens und Russlands in 1 Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmai ir jų atkūrimas europinės patirties kontekste / The Palace of the Grand Dukes of Lithuania and its Restoration within the Context of the European Experience [zweisprachig]. Hg. von Vydas Dolinskas und Daiva Steponavičienė. Vilnius 2009; Dolinskas, Vydas: Der Palast der Großfürsten von Litauen in Vilnius: Wiederaufbau und Nutzung. In: Wege für das Berliner Schloss / Humboldt-Forum. Wiederaufbau und Rekonstruktion zerstörter Residenzschlösser in Deutschland und Europa (1945–2007). Hg. von Guido Hinterkeuser. Regensburg 2008, S. 169–196; Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės Valdovų rūmų Atkūrimo Byla. Vieno požiūrio likimas [Der Prozess der Wiederherstellung des Palasts der Großfürsten von Litauen. Schicksal eines Konzepts]. Hg. von Alfredas Bumblauskas. Vilnius 2006. 2 Dolinskas 2008 (wie Anm. 1), S. 181.

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Zerstörung, Wiederaufbau, Architektur im Dienst der Geschichtsinszenierung

Abb. 1  Vilnius, Großfürstlicher Palast, Rekonstruktion. Aufnahme 2009.

Litauen tatsächlich nur ein sehr brüchiges historisches Fundament hat. Ein wichtiger Impuls für den Rekonstruktionsbeschluss waren aber auch die Umstände der Zerstörung des Bauwerks: Der Großfürstliche Palast war nach der Dritten Teilung des polnisch-litauischen Reichs von 1795, bei der Vilnius an Russland gefallen war, unter der neuen Abb. 2  Vilnius, Großfürstlicher Palast, Thronsaal, Rekonsrussischen Administration truktion. Aufnahme 2009. bis auf die Fundamente abgebrochen worden, die Ziegel wurden als Baumaterial verkauft. Der Bau, der seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr als Herrscherresidenz gedient hatte, war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits längst kaum mehr als eine Ruine (Abb. 3). Dessen ungeachtet sieht die litauische Forschung in dem 1799–1801 erfolgten Abbruch mit Nachdruck einen bewussten, symbolpolitisch motivierten Akt der Zerstörung von Erinnerungszeichen an Litauens



Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa

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Staatlichkeit durch die russische Besatzungsmacht.3 Folgerichtig wird der Wiederaufbau ausdrücklich als „Wiedergutmachung für historische Verluste“ gepriesen.4 War die Damnatio Memoriae, die Verdammnis der Erinnerungen an die Staatsgeschichte des einverleibten Litauen, wirklich das Motiv für den AbAbb. 3  Vilnius, Großfürstlicher Palast. Aquarellierte riss des Vilniusser Palasts? Zeichnung von Franciszek Smuglewicz, um 1797. Ich bin mit den Hintergründen zu wenig vertraut, um mir darüber ein endgültiges Urteil anzumaßen. Ein ungewöhnlicher oder gar – für die Maßstäbe der Zeit – skandalöser Vorgang war dieser Abriss jedenfalls nicht. Er entspricht vielmehr dem damaligen Standard im Umgang mit nutzlos gewordenen Baudenkmälern. Die Beseitigung von noch so altehrwürdigen Ruinen, selbst von halbwegs intakten, aus heutiger Sicht historisch und kunsthistorisch höchst bedeutenden Bauten war in der Zeit nicht nur im zaristischen Russland gängige Praxis. Die Stadt Hamburg etwa ließ 1804–07 ihren gotischen Mariendom niederlegen, nachdem er infolge des Reichsdeputationshauptschlusses seine Funktion verloren hatte.5 Der Abbruch hatte durchaus nicht nur praktische und finanzielle, sondern wohl vor allem politische Gründe. Die Öffentlichkeit sah aber in der Zerstörung eines der größten mittelalterlichen Baudenkmäler Norddeutschlands und zugleich des bedeutendsten sakralen Zeugnisses der hamburgischen Geschichte keineswegs einen empörenden Vorgang und zeigte kein Interesse an der Rettung des Doms. Selbst seine kostbare Ausstattung wurde größtenteils entsorgt. Nur um Haaresbreite entging an der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert die Marienburg, das einstige Machtzentrum des Deutschen Ordens, der Totalzerstörung, nachdem sie vom preußischen Staat zu einer Kaserne degradiert und als Steinbruch ausgeschlachtet worden war (Abb. 4). Die aufkommende romantische Mittelalterbegeisterung rettete schließlich die Reste der größten Backsteinburg Europas. Im Jahr 1817, kurz nach den Befreiungskriegen 3 Dolinskas 2008 (wie Anm. 1), S. 197. Dazu ausführlicher und im selben Sinne: Jučas, Mečislovas: Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmų vilniuje sunykimas ir nugriovimas / The Decline and Demolition of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania in Vilnius [zweisprachig]. In: Lietuvos Didžiosios... 2009 (wie Anm. 1), S. 116–124, hier S. 122–124. 4 Dolinskas 2008 (wie Anm. 1), S. 181. 5 Matthieu, Kai: Der Hamburger Dom. Untersuchungen zur Baugeschichte im 13. und 14. Jahrhundert (1245–1329) und eine Dokumentation zum Abbruch in den Jahren 1804–1807. Hamburg 1973, S. 127–131.

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Zerstörung, Wiederaufbau, Architektur im Dienst der Geschichtsinszenierung

gegen Napoleon, begann eine umfassende Restaurierungsund Rekonstruktionskampagne.6 Aus der Rückschau betrachtet, läutete die Erhaltung der Marienburg bereits eine Wende im Umgang mit herausragenden baulichen Zeugnissen der Vergangenheit ein. Dennoch blieben Zerstörungen hochkarätiger und symbolträchtiger Bauten noch bis weit in das 19. Jahrhundert an der Tagesordnung. So fielen beispielsweise um 1820 die spätmittelalterlich-renaissancezeitlichen Rathäuser von Krakau und Warschau der Spitzhacke zum Opfer. Noch 1897 wurde in Leipzig der Renaissancebau der Pleißenburg trotz seiner historischen und kunsthistorischen Bedeutung abgerissen, um Platz für Abb. 4  Marienburg, Schlosskirche. Aquatinta von Friedrich Frick nach einer Zeichnung von Friedrich Gilly, um das Neue Rathaus zu schaffen. 1799. Vgl. auch Abb. 8–10 auf S. 39–41 und Abb. 1–4 Auch wenn der Denkmalauf S. 54–57. sturz als politisches Kampfmittel bereits eine lange vormoderne Tradition gehabt und seit der Französischen Revolution neue Aktualität erlangt hatte7, lagen den Zerstörungen von Baudenkmälern im 19. Jahrhundert in den 6 Rząd, Ryszard: Zamek w Malborku 1882–1945. Dni powszednie odbudowy / Die Marienburg 1882– 1945. Der Alltag des Wiederaufbaus [zweisprachig]. Malbork 1996; Knapp, Heinrich: Das Schloss Marienburg in Preussen. Quellen und Materialien zur Baugeschichte nach 1456. Lüneburg 1990; Boockmann, Hartmut: Die Marienburg im 19. Jahrhundert. 2. Aufl., Frankfurt am Main – Berlin 1992; Boockmann, Hartmut: Das ehemalige Deutschordensschloß Marienburg 1772–1945. Die Geschichte eines politischen Denkmals. In: Boockmann, Hartmut; Esch, Arnold; Heimpel, Hermann; Nipperdey, Thomas; Schmidt, Heinrich: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972, S. 99–162. Vgl. auch die Beiträge „,Seid von Zeit zu Zeit auch tolerant!‘ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler“ und „Mut zur Wunde! Optionen für die Zukunft der kriegszerstörten Schlosskirche in der Marienburg“ in diesem Band. 7 Tauber, Christine: Bilderstürme der Französischen Revolution. Die Vandalismusberichte des Abbé Grégoire. Freiburg i. Br. – Berlin – Wien 2009; Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Hg. von Winfried Speitkamp. Göttingen 1997.



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meisten Fällen weniger bilderstürmerische als funktionale, wirtschaftliche oder städtebauliche und stadthygienische Motive zugrunde. Ob die Einebnung des Vilniusser Großfürstlichen Palasts auf die Ersteren oder die Letzteren, oder auch eine Verbindung von beiden zurückgeht, bleibe dahingestellt. Wichtiger für die hier verfolgte Fragestellung ist die Beobachtung, dass die Annahme einer symbolpolitisch diktierten Zerstörungsabsicht seitens einer fremden Macht zwei Jahrhunderte später die Entschlossenheit zum Wiederaufbau des Palasts durch den heutigen litauischen Staat ganz offenkundig verstärkt hat. Der Wunsch nach Überwindung einer Demütigung und nach nationaler Selbstbehauptung, so meine These, ist in der östlichen Hälfte Europas eines der zentralen Argumentationsmuster für die Rekonstruktion und zugleich eine der Ursachen für ihre besondere Popularität. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte der Länder zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer, in der es durch Regimewechsel, Grenzund Völkerverschiebungen besonders häufig zu Denkmalzerstörungen oder Denkmalüberformungen gekommen ist, die als Angriff auf die eigene nationale Identität empfunden wurden. Und, so muss man hinzufügen, vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts nur allzu oft durchaus auch so gemeint waren. Die Idee der nationalen Selbstbehauptung spielte auch bereits beim erwähnten Wiederaufbau der Marienburg als zunächst preußisches, später zunehmend gesamtdeutsches Nationaldenkmal eine wichtige Rolle. Die nationale Symbolik des mehr als ein Jahrhundert lang rekonstruierten Bauwerks gewann in demselben Maß an Bedeutung, in dem die Spannungen zwischen der deutschen und der polnischen Bevölkerung im preußischen Teilungsgebiet Polens anwuchsen. Und sie nahm immer aggressivere Züge an, je mehr sich der Nationalismus der deutschen Politik bemächtigte. Nach der Reichsgründung von 1871 galt die Marienburg verstärkt als Trutzburg des Deutschtums im Osten. Preußens Historiker Heinrich von Treitschke etwa pries den Wiederaufbau als „ein Siegesdenkmal für das alte Ordensland, das sich so gern rühmte die anderen Deutschen zum heiligen Kampfe erweckt zu haben“.8 Conrad Steinbrecht, der Leiter der Rekonstruktionsarbeiten, erklärte die Marienburg denn auch zu einem „Schöpfungsbau“, den es „mit allen Mitteln“ wiederherzustellen gelte, „damit das Deutschthum auf dem strittigen Boden an der Weichsel sich seines älteren Heimathsrechtes und seiner höheren Culturaufgaben bewußt bleibt“.9 Anders als beim Vilniusser Palast ließ sich die weitgehende Zerstörung der Marienburg allerdings nicht wirklich einer fremden Macht anlasten. Zwar hatte der Niedergang der gigantischen Anlage bereits begonnen, nachdem sie in der Mitte des 15. Jahrhunderts an die polnische Krone gefallen war. Die größten Schäden, wie brachiale Umbauten und Teilabbrüche, erlitt sie aber erst unter der preußischen Verwaltung nach der Ersten Polnischen Teilung von 1772. Dessen ungeachtet prangerte Treitschke neben „dem prosaischen Kaltsinn des fridericianischen Beamtenthums“ vor allem die „Roheit der Polen“ an und machte Letztere – vermutlich wider besseres 8 Zit. nach: Boockmann 1992 (wie Anm. 6), S. 164. Interpunktionsfehler im Original. 9 Zit. nach: Boockmann 1992 (wie Anm. 6), S. 166.

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Wissen – für einige der größten Entstellungen der „so schändlich verstümmelte[n] Marienburg“ verantwortlich, die tatsächlich erst in preußischer Zeit vorgenommen worden waren.10 Der kampfrhetorisch deutlich zurückhaltendere Steinbrecht gab, soweit mir bekannt, zwar nicht direkt den Polen die Schuld für die Zerstörung, aber er betonte ebenfalls den Aspekt Abb. 5  Kalisz, Josephplatz (Plac św. Józefa) nach der nationalen Demütigung. Der der Zerstörung. Aufnahme 1914. Anblick der „zum Kornspeicher erniedrigt[en]“ Marienburg war für ihn „verbunden mit der drückenden Empfindung, daß hier arge Vernachlässigung an dem Bau und an der deutschen Sache gut zu machen sei!“11

Abb. 6  Warschau, Palais Staszic. Aufnahme vor 1892.

10 Zit. nach: Boockmann 1992 (wie Anm. 6), S. 163–164. 11 Zit. nach: Boockmann 1992 (wie Anm. 6), S. 165.



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Abb. 7  Warschau, Palais Staszic nach der Umgestaltung. Aufnahme um 1900.

Abb. 8  Warschau, Palais Staszic nach der Rekonstruktion. Aufnahme nach 1926.

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Die Interpretation des Zustands der Marienburg als nationale Erniedrigung war natürlich den Denkkategorien des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts geschuldet, und die lautstarke Empörung darüber diente der Stärkung der Wiederaufbaumoral. Wahrscheinlich war aber auch Treitschke und Steinbrecht klar, dass bei der Teilzerstörung des Baus im 18. Jahrhundert nicht ernsthaft von einer auf Erniedrigung bedachten symbolpolitischen Motivation gesprochen werden kann. Ganz anders verhielt es sich mit vielen Zerstörungen, die die Baudenkmäler und Städte in der östlichen Hälfte Europas im Laufe des 20. Jahrhunderts erlitten. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der polnischen Stadt Kalisz, die im August 1914, wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, von den deutschen Truppen ohne militärische Notwendigkeit planmäßig verwüstet wurde (Abb. 5).12 Bereits einige Monate später gründete sich in Warschau ein „Komitee für den Wiederaufbau von Kalisz“ (Komitet Odbudowy Kalisza). In den folgenden Jahren fanden mehrere Architekturwettbewerbe statt, unzählige Entwürfe wurden zum Gegenstand lebhafter Diskussionen. Nach dem Ende des Kriegs und der Gründung der Zweiten Polnischen Republik wurden zentralstaatliche polnische Institutionen in das Projekt eingebunden. In den 1920er Jahren erstand Kalisz wieder, zwar nicht als originalgetreue Rekonstruktion, aber in enger Anlehnung an den mittelalterlichen Stadtgrundriss und in historisierenden Formen des Neoklassizismus, der damals als polnischer Nationalstil lanciert wurde. Obwohl Kalisz zum Zeitpunkt der Zerstörung nur rund 70 000 Einwohner hatte, war der Wiederaufbau nicht nur von lokalem Interesse – er wurde als patriotische Pflicht aller Polen gegenüber der nationalen Kultur propagiert. Das lag zum einen an der Bedeutung der Stadt für das nationale Geschichtsbewusstsein – bereits im 2. Jahrhundert nach Christus war Kalisz als erste polnische Siedlung in der „Geographia“ des Ptolemäus erwähnt worden. Der besondere Stellenwert des Wiederaufbaus war zum anderen aber auch eine Folge der Umstände der Zerstörung, die in der polnischen Öffentlichkeit als ein barbarischer antipolnischer Akt der deutschen Besatzer Empörung ausgelöst hatte. „Kalisz, die uralte Siedlung aus der Zeit Mieszkos, fiel in Schutt und Asche. Doch es wird wiedererstehen, denn unzerstörbar und unbezwinglich ist der Geist unserer Nation“, heißt es in der Ausschreibung des Architekturwettbewerbs von 1915.13 12 Dettloff, Paweł: Odbudowa i restauracja zabytków architektury w Polsce w latach 1918–1939. Teoria i praktyka [Wiederaufbau und Restaurierung von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1918–1939. Theorie und Praxis]. Kraków 2006, 183–187; Omilanowska, Małgorzata: „Wie der märchenhafte Phönix aus der Asche werden sie auferstehen.“ Haltungen zum Wiederaufbau und zur Restaurierung von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1915–1925. In: Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert. Hg. von Andrea Langer, Warszawa 2004, S. 79–91, hier S.  82–86; Zarębska, Teresa: Problemy prekursorskiej odbudowy Kalisza [Die Probleme des wegweisenden Wiederaufbaus von Kalisz]. In: Odbudowa miast historycznych. Dokonania przeszłości – potrzeby i możliwości współczesne – wyzwania przyszłości [Der Wiederaufbau historischer Städte. Leistungen der Vergangenheit, Bedürfnisse und Möglichkeiten der Gegenwart, Herausforderungen der Zukunft]. Hg. von Maria Lubocka-Hoffmann. Elbląg 1998, S. 12–24; Dzieje Kalisza [Die Geschichte von Kalisz]. Hg. von Władysław Rusiński. Poznań 1977, S. 547–555. 13 „Kalisz, prastary Mieszkowy gród, legł w gruzach, lecz odrodzi się, bo niespożytym in niezmożnym jest duch naszego narodu.“ Zit. nach: Dettloff 2006 (wie Anm. 12), S. 184.



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Als Akt der Erniedrigung der Nation wurden im östlichen Europa des fortgeschrittenen 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht nur Zerstörungen, sondern vielfach auch Überformungen von Baudenkmälern wahrgenommen. Dies gilt ganz besonders für Umbauten im eklektischen altrussisch-byzantinischen Stil, mit denen das Zarenreich die von ihm einverleibten polnischen oder auch baltischen Territorien russifizierte. Beispielhaft dafür steht die Umgestaltung des Warschauer Palais Staszic zu einer orthodoxen Kirche für die russische Jugend Warschaus in den Jahren 1892–93 (Abb. 6, 7).14 Der Klassizismus des 1820–23 errichteten Repräsentationsbaus des für die polnische Kultur sehr bedeutenden, von der russischen Teilungsmacht verbotenen Vereins der Freunde der Wissenschaften (Towarzystwo Przyjaciół Nauk) verschwand damals unter dem zuckerigen Dekor des russischen Historismus. Die Mutation stand für den Triumph der russischen Herrschaft und der orthodoxen Kirche im eroberten, katholischen Polen und damit, aus der Sicht der Polen, für nationale Unterdrückung. Nach der Wiedergeburt des polnischen Staates wurde der brachiale russische Umbau in den Jahren 1925–26 rückgängig gemacht (Abb. 8). Bereits 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, hatte sich zu diesem Zweck ein „Komitee für den Wiederaufbau des Palais Staszic“ gegründet, denn die Rekonstruktion des entstellten Baus in klassizistischen Formen galt, wie es einer ihrer Fürsprecher formulierte, als Gebot des „nationalen Gewissens“.15 Das Palais Staszic war eines von unzähligen Beispielen für die symbolisch aufgeladene Russifizierung der polnischen Architekturlandschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert. So waren auch viele katholische Kirchen in russisch orthodoxe Kirchen umgewandelt und mit entsprechenden Signalmotiven wie Zwiebeltürme und Kuppeln umgestaltet worden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese Veränderungen unter Hochdruck wieder rückgängig gemacht.16 Dabei zeigte sich einmal mehr, dass Rekonstruktion und Zerstörung oftmals zwei Seiten einer Medaille sind. Denn die Wiederherstellung des Vorzustands implizierte hier die Beseitigung der Überformung. Aber auch neuerrichtete russisch-orthodoxe Kirchen wurden im Polen der Zwischenkriegszeit systematisch abgeräumt.17 Die Vernichtung von als fremd und demütigend empfundenen Bauten hatte als Akt nationaler Selbstbehauptung einen ebenso hohen Rang wie der Wiederaufbau der von fremden Mächten zerstörten oder entstellten eigenen Baudenkmäler. Als prominentester und provokantester Herrschaftsbau des Zarenreiches in Polen wurde 1924–26 die erst 1912 fertiggestellte Alexander-Newskij-Kathedrale, das höchste Gebäude des 14 Dettloff 2006 (wie Anm. 12), S. 226–234. 15 „[...] domaga się jej sumienie narodowe [...]“ Zit. nach: Dettloff 2006 (wie Anm. 12), S. 230. 16 Dettloff, Paweł: „Wiedererweckung des nationalen Kulturerbes“ – Rekonstruktion von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1900–1939. In: Der Umgang mit dem kulturellen Erbe (wie Anm. 12), S. 65–78, hier S. 69–71. 17 Paszkiewicz, Piotr: Spór o cerkwie prawosławne w II Rzeczypospolitej. „Odmoskwianie“ czy „polonizacja“? [Der Streit um russisch-orthodoxe Kirchen in der Zweiten Polnischen Republik. „Entrussifizierung“ oder „Polonisierung“?]. In: Nacjonalizm w sztuce i historii sztuki 1789–1950 [Der Nationalismus in der Kunst und Kunstgeschichte 1789–1950]. Hg. von Dariusz Konstantynów, Robert Pasieczny und Piotr Paszkiewicz. Warszawa 1998, S. 227–233.

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Abb. 9  Warschau, Alexander-Newskij-Kathedrale. Aufnahme um 1910.

Abb. 10  Prag, Mariensäule auf dem Altstädter Ring, im Hintergrund die Teynkirche. Stahlstich nach Ludwig Richter, 1841.



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damaligen Warschau, demontiert (Abb. 9). Doch nicht nur in Polen fielen nach dem Ersten Weltkrieg steinerne Relikte der überwundenen Fremdherrschaft. In Prag zum Beispiel wurde wenige Tage nach Ausrufung der unabhängigen Tschechoslowakei die um 1650 errichtete barocke Mariensäule von tschechischen Bürgern gestürzt, die in ihr ein Symbol der Unterdrü- Abb. 11  Prag, Mariensäule nach der Zerstörung.   ckung durch die Habsburger Aufnahme 1918. sahen (Abb. 10, 11).18 Seit 1990 fordert eine Bürgerinitiative, ohne große Erfolgsaussichten, ihren Wiederaufbau. Hatten die Zerstörungen des Ersten Weltkriegs in Ost und West eine Welle von Rekonstruktionsprojekten ausgelöst, so gilt dies umso mehr für die Verwüstungen, die der Zweite Weltkrieg hinterließ. Eine besonders dramatische Bedeutung erhielt die Rekonstruktion in Polen, dem Land, das zum Opfer eines bis dahin beispiellosen Vernichtungsfeldzugs geworden war. Vor allem die Rekonstruktion der von den deutschen Besatzern planmäßig dem Erdboden gleichgemachten Altstadt von Warschau (Abb. 12, 13) galt gleichsam als kulturelle Notwehr einer in ihrem Bestand gefährdeten Nation. „Wir können uns mit der Vernichtung unserer Kulturdenkmäler nicht abfinden. Wir werden sie rekonstruieren, wir werden sie von den Fundamenten an wiederaufbauen“, verkündete 1946 in trotzigem Pathos Polens Generalkonservator Jan Zachwatowicz.19 Die Unumgänglichkeit der Rekonstruktion resultierte für ihn auch daraus, wie er später schrieb, dass „eine ganze Reihe von Baudenkmälern nicht zufällig, in direkten Kampfhandlungen, sondern als bewusster Akt der Auslöschung der polnischen Kulturleistungen durch die Nazis zerstört“ worden war.20

18 Paces, Cynthia: The Battle for Public Space on Prague’s Old Town Square. In: Composing Urban History and the Constitution of Civic Identities. Hg. von John J. Czaplicka und Blair A. Ruble. Washington, D.C. – Baltimore – London 2003, S. 165–191. 19 „Nie mogąc zgodzić się na wydarcie nam pomników kultury będziemy je rekonstruowali, będziemy je odubowywali od fundamentów […]“ – Zachwatowicz, Jan: Program i zasady konserwacji zabytków [Das Programm und die Prinzipien der Denkmalpflege]. In: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury 8 (1946), Nr. 1–2, S. 48–52, hier S. 48. 20 „[…] że cały szereg obiektów został zniszczony nie przypadkowo, w bezpośrednich działaniach wojennych, lecz jako świadomy akt likwidacji dorobku kultury polskiej, dokonany przez hitlerowców.“ – Zachwatowicz, Jan: Ochrona zabytków w Polsce [Denkmalpflege in Polen]. Warszawa 1965, S. 44. Vgl. dazu auch die Beiträge „,Seid von Zeit zu Zeit auch tolerant!‘ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler“ und „Stadtplanung

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Abb. 12  Warschau, Marktplatz der Altstadt. Aufnahme 1944.

Um sich vor Augen zu führen, wie stark die Gründe der Zerstörung die späteren Haltungen zur Rekonstruktion bestimmten, lohnt sich die Gegenüberstellung mit einer Stellungnahme der frühen Nachkriegszeit aus dem ebenso verwüsteten Deutschland. Dass die Zerstörung „nicht zufällig“ gewesen war, galt auch hier. Allerdings hatte diese Feststellung im „Land der Täter“ eine ganz andere Bedeutung und andere Konsequenzen. So protestierte der Publizist Walter Dirks 1947 gegen die Rekonstruktion des Frankfurter Goethehauses mit den Worten: „Das Haus [...] ist nicht durch einen Bügeleisenbrand oder durch einen Blitzschlag [...] zerstört worden; es ist nicht ‚zufällig‘ zerstört worden [...] Es war kein Versehen, das man zu berichtigen hätte, keine Panne, die der Geschichte unterlaufen wäre: Es hat seine Richtigkeit mit diesem Untergang. Deshalb soll man ihn anerkennen. [...] Wir müssen ohnehin den Mut aufbringen, vielerlei Abschied zu nehund Denkmalpflege im geteilten Europa. Der Wiederaufbau zerstörter Städte in den beiden deutschen Staaten und in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg“ in diesem Band.



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Abb. 13  Warschau, Marktplatz der Altstadt. Aufnahme um 1965. Vgl. auch Abb. 18 auf S. 81 und Abb. 18 auf S. 100.

men, nicht nur vom Hause Goethes.“21 Zwar wurde das Goethehaus dennoch rekonstruiert. Doch der von Dirks geforderte „Mut zum Abschied“ war zumindest im westlichen Teil Deutschlands eine prägende Haltung beim nachkriegszeitlichen Wiederaufbau. Ganz anders in Polen, das nicht nur wegen des Ausmaßes der Zerstörungen, sondern auch wegen seines unbestreitbaren Opferstatus nicht nur unzählige Einzelbauten, sondern in einigen Fällen sogar ganze Stadtzentren rekonstruierte. Aber auch in anderen sozialistischen Ländern fanden in der Nachkriegszeit aufwendige Rekonstruktionskampagnen statt. Die Sowjetunion etwa baute die von deutschen Truppen weitgehend zerstörten Zarenresidenzen in Peterhof (Abb. 14, 15) und Carskoje Selo bei St. Petersburg wieder auf.22 In Nowgorod sind weite Teile der Altstadt und sogar etliche 21 Zit. nach: Rekonstruktion in der Denkmalpflege. Texte aus Geschichte und Gegenwart. Hg. von Jan Friedrich Hanselmann. 2. Aufl., Stuttgart 2009, S. 94–95. Hervorhebung im Original. 22 Peterhof. Das russische Versailles. Bad Homburg – Frankfurt am Main 1994.

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Kirchen wiedererstanden. Bereits 1944, als die Stadt noch in Frontnähe lag, wurde auf Beschluss der Sowjetregierung mit dem Wiederaufbau begonnen. Dieser Rekonstruktionseifer ist schon deswegen bemerkenswert, weil die stalinzeitliche Sowjetunion nicht gerade eine ideologische Vorliebe für Zarenresidenzen hatte und vermutlich sogar Abb. 14  Peterhof bei St. Petersburg,   der Weltmeister in der Vernichtung von Zarenschloss nach der Zerstörung. Aufnahme Kirchen war. Einer der Gründe, wenn nach 1944. nicht der Hauptgrund für die Sonderbehandlung der Baudenkmäler bei Petersburg und Nowgorod waren die Urheber ihrer Zerstörung: „Während des Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945“, ist in einem sowjetzeitlichen Reiseführer für Nowgorod zu lesen, „hatten die faschistischen Barbaren die Absicht, Nowgorod dem Erdboden gleichzumachen. […] Die Außerordentliche Staatliche Kommission zur Untersuchung der Greueltaten der faschistischen OkkuAbb. 15  Peterhof bei St. Petersburg,   panten stellte fest, daß der von der Stadt Zarenschloss nach der Rekonstruktion.   erlittene Schaden über 1 Mrd. Rubel Aufnahme 2004. betrug.“23 Der umgehende Wiederaufbau wurde zum propagandistisch wirksamen Zeichen der Unbesiegbarkeit der Sowjetunion und ihres Triumphs über NaziDeutschland. Ein halbes Jahrhundert später, nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, wurde Rekonstruktion vielfach erneut zu einem Triumphzeichen. Nun stand sie allerdings für die Überwindung der kommunistischen Diktatur. Dies gilt besonders für Bauten, die von dem Regime mutwillig und aus symbolpolitischen Gründen vernichtet worden waren. Etwa für die Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau, die im 19. Jahrhundert errichtete zentrale Kultstätte der russisch-orthodoxen Kirche, die 1931 nach Stalins Willen gesprengt wurde, um Platz für die Kathedrale des Kommunismus – den geplanten, aber nie ausgeführten Sowjetpalast – zu schaffen.24 Die 1994–99 durchgeführte Rekonstruktion wurde als Symbol der Renaissance Russlands gefeiert. 23 Nowgorod. Architekturführer. Kunsthistorisches Museum. Leningrad 1984, S. 5–6. 24 Akinsha, Konstantin; Kozlov, Grigorij; Hochfield, Sylvia: The Holy Place. Architecture, Ideology, and History in Russia, New Haven und London 2007; de Keghel, Isabelle: Der Wiederaufbau der Moskauer Erlöserkathedrale. Überlegungen zur Konstruktion und Repräsentation nationaler Identität



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Abb. 16  Kiew, Michaelskloster, Rekonstruktion. Aufnahme 2004.

Unübersehbare Parallelen zur Moskauer Erlöserkathedrale zeigt sowohl in der Zerstörungs- als auch in der Rekonstruktionsgeschichte das Michaelskloster in Kiew (Abb. 16).25 Das im 12. Jahrhundert errichtete, im 17. und 18. Jahrhundert ausgebaute Nationalheiligtum wurde 1935–37 auf Geheiß der sowjetukrainischen Führung gesprengt. An seiner Stelle sollte ein Regierungszentrum entstehen, das ebenfalls unausgeführt blieb. Die Zerstörung war nicht nur ein Angriff auf das ukrainische Christenin Russland. In: Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Hg. von Beate Binder, Wolfgang Kaschuba und Peter Niedermüller. Köln – Weimar – Wien 2001, S. 211–232; Dmitrieva, Marina: Christus-Erlöser-Kathedrale versus Palast der Sowjets. Zur Semantik zeitgenössischer Architektur in Moskau. In: Kultur und Krise. Rußland 1987–1997. Hg. von Elisabeth Cheauré. Berlin 1997, S. 121–135; Razrušenije Chrama Christa Spasitelja [Die Zerstörung der Christus-Erlöser-Kathedrale]. London 1988. 25 Jilge, Wilfried: Staatssymbolik, Geschichtskultur und Nationsbildung in der postsozialistischen Ukraine, Dissertationsvorhaben (erscheint voraussichtlich 2012); Naukovyj zbirnyk prysvjačenyj 900-littju Svjato-Michajlivs’koho Zolotoverchoho Monastyrja [Wissenschaftlicher Sammelband anlässlich des 900-jährigen Jubiläums des Goldkuppelklosters des Heiligen Michael]. Hg. von Dymytrij Rudjuk. Kyiv 2008; Schäfer, Günther, Kiev entdecken. Rundgänge durch die Metropole am Dnepr. 2. Aufl., Berlin 2007; Dehtjar’ov, M. H.; Reutov, A. V.: Mychajlivs’kyj Zoloverchyj Monastyr [Das Goldkuppelkloster des Heiligen Michael]. Kyiv 1999.

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tum. Sie setzte zugleich ein Zeichen der stalinistischen Herrschaft über das Land, das nach dem Ersten Weltkrieg auf die Erlangung dauerhafter staatlicher Unabhängigkeit gehofft hatte. Im Bewusstsein der Ukrainer stand sie sinnbildlich für die Unterdrückung der ukrainischen Nationalkultur in der Zeit des Stalinismus. Die 1997–2000 ausgeführte Rekonstruktion signalisiert dementsprechend nicht nur die Überwindung der kommunistischen Diktatur, sondern auch die nationale Emanzipation von der russischen Vormacht. Letzteres verbindet sie mit der eingangs vorgestellten Rekonstruktion des unter ganz anderen Umständen zerstörten Großfürstlichen Palasts in Vilnius. Es ließen sich weitere Beispiele für Rekonstruktionen im Dienst nationaler Selbstbehauptung im postkommunistischen Osteuropa anfügen. Bei den aktuellen Rekonstruktionsprojekten in Deutschland spielt dieser Aspekt zwar keine so herausragende Rolle. In einigen Fällen ist aber die argumentative Figur der Wiedergutmachung einer politisch motivierten Kulturbarbarei ebenso wirksam, nämlich bei Projekten zur Rekonstruktion von Bauten in Ostdeutschland, die vom DDR-Regime vernichtet wurden. So hätte allein schon das Projekt der Teilrekonstruktion des Berliner Schlosses, um nur das eine Beispiel zu nennen, wohl von Anfang an deutlich schlechtere Chancen gehabt, wenn sich die Vernichtung des Bauwerks nicht der destruktiven Energie einer überwundenen Diktatur anlasten und damit als ein wiedergutzumachender Akt des Unrechts darstellen ließe. Das Bedürfnis nach symbolpolitischer Wiedergutmachung und Geschichtskorrektur ist hier wie bei anderen Rekonstruktionsprojekten natürlich nicht das einzige Motiv. In vielen Fällen spielt es auch gar keine Rolle. In Osteuropa aber ist es infolge der vielen historischen Brüche ein besonders wichtiger Faktor. Manch eines der hier vorgestellten Baudenkmäler wäre wohl kaum wiedererstanden, wenn es unter anderen Umständen und von anderen Akteuren zerstört worden wäre. Die absichtliche, den Gegner demütigende Zerstörung – oder zumindest eine, die sich später so interpretieren lässt – erweist sich im Nachhinein, gelegentlich über Jahrhunderte hinweg, als ein besonders produktiver Zerstörungsmodus. Produktiv, wohlgemerkt, und nicht reproduktiv – weil Rekonstruktionen immer etwas anderes sind als Originale, in ihrer Substanz und meist auch Form, aber vor allem in ihrer Funktion und in ihrem sozialen Kontext.

„S e id von Zei t z u Zei t a uch tole ra nt!“ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler In den deutschen Debatten über aktuelle Rekonstruktionsprojekte stehen sich zwei Positionen bezüglich des Verhältnisses der Denkmalpflege zur Rekonstruktion gegenüber. Die Rekonstruktionsbefürworter, darunter gelegentlich auch Denkmalpfleger, sehen in der Rekonstruktion eine unter mehreren Methoden der Denkmalpflege und damit ein auch aus denkmalpflegerischer Sicht legitimes Vorgehen. Rekonstruktionskritische Denkmalpfleger, und das ist wohl die große Mehrheit, stellen dagegen die moderne, wissenschaftlich fundierte Denkmalpflege einerseits und die Rekonstruktionstätigkeit andererseits als Antipoden dar. Sie weisen mit Nachdruck darauf hin, dass in der Prinzipienbildung der Denkmalpflege seit mehr als einem Jahrhundert die grundsätzliche Ablehnung der Rekonstruktion dominiere.

Abb. 1    Heidelberg, Schlossruine, Gesamt-  ansicht. Aufnahme 2005.

Gleichsam als Geburtsstunde dieser modernen, wissenschaftlichen Denkmalpflege gilt in Deutschland der Heidelberger Schlossstreit. Der Pfälzische Erbfolgekrieg von 1689–93 und ein späterer Brand hatten das größtenteils aus der Spätrenaissance stammende Schloss in eine Ruine verwandelt (Abb. 1). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit des Historismus, setzten verstärkt Bestrebungen zum Wiederaufbau nach den damaligen Imaginationen des Originalzustands ein. Am Friedrichsbau

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Abb. 2    Heidelberg, Schlossruine,   Ottheinrichsbau. Aufnahme 1894.

wurden sie in den Jahren 1897–1900 in die Tat umgesetzt, danach sollte dieses Vorgehen auf den Ottheinrichsbau (Abb. 2) ausgeweitet werden. Doch nach den folgenden heftigen Diskussionen erwirkten fortschrittliche Denkmalpfleger schließlich den Verzicht auf weiteren Wiederaufbau. Das von Georg Dehio popularisierte Motto „Konservieren, nicht restaurieren“ – mit dem letzteren Begriff meinte er etwa das, was heute als „rekonstruieren“ bezeichnet wird – wurde zum obersten Prinzip der neuen, substanzorientierten Denkmalpflege, die sich gegen die bis dahin übliche Praxis des historisierenden Ergänzens, Überbauens und Rückbauens im Sinne einer gewünschten Stileinheit richtete. Der Heidelberger Schlossstreit wurde zum Ausgangspunkt für eine intellektuell hochentwickelte, rekonstruktionskritische Textproduktion, die bis in unsere Tage anhält. Eine Auswahl von zum Teil kanonischen, zum Teil weniger bekannten Texten gegen Rekonstruktion stellte kürzlich Achim Hubel in dem als Antirekonstruktionsstreitschrift konzipierten Buch „Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie“ zusammen.1 Der Befund ist hier eindeutig: Moderne Denkmalpflege und Rekonstruktion seien unvereinbar. 1 Hubel, Achim: Denkmalpflege zwischen Restaurieren und Rekonstruieren. Ein Blick zurück in ihre Geschichte. In: Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie. Hg. von Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel und Georg Mörsch. Gütersloh – Berlin – Basel 2011, S. 42–87. Vgl. auch Hubels früheren Aufsatz: Hubel, Achim: Denkmalpflege zwischen Restaurieren und Rekonstruieren. In: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Hg. von Achim Hubel. Bamberg 1993, S. 81–105. Weitere Sammlungen historischer Texte zum Thema Rekonstruktion: Das



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Doch die Texte, von den Klassikern Georg Dehio und Alois Riegl bis zu einigen Positionen aus der jüngsten Zeit, sind vorwiegend theoretisch-grundsätzlicher Natur – und nur in der Theorie liegen die Dinge so eindeutig. Blickt man auf die Praxis, auf den Umgang mit konkreten Fällen, zeigt sich, dass die Denkmalpflege gegenüber Wünschen nach Rekonstruktion zerstörter Bauten beileibe nicht immer so prinzipientreu war wie beim Heidelberger Schloss. Dies gilt wohlgemerkt nicht nur für ihre rückwärtsgewandten, noch in den Traditionen von Romantik und Historismus wurzelnden Strömungen, wie sie im Deutschland des 20. Jahrhunderts etwa durch Bodo Ebhardt oder Rudolf Esterer vertreten wurden. Es gilt auch für die moderne Substanzdenkmalpflege, die erklärtermaßen auf der Prinzipienbildung eines Dehio und Riegl, eines Cornelius Gurlitt oder Max Dvořák fußt. Sobald, so meine These, starke massenpsychologische, emotionale und vor allem politische Gründe für die Rekonstruktion sprachen, nahm die Denkmalpflege in der Regel, mal mehr, mal weniger bereitwillig, Abstand von ihrem Antirekonstruktionsverdikt. Im Folgenden sei dies an einigen Beispielen gezeigt. Das Postulat „Konservieren, nicht restaurieren“ erlebte bekanntlich noch in der Zeit seiner Etablierung erste Bewährungsproben – und es bestand sie nicht. So haben Denkmalpfleger nach dem Einsturz des aus 10.–12. Jahrhundert stammenden Campanile von San Marco in Venedig im Jahr 1902 (Abb. 3, 4) über die Idee eines Wiederaufbaus in modernen Formen diskutiert, diese aber angesichts des eindeutigen Wunsches der Bevölkerung nach Rekonstruktion rasch zurückgezogen. Bis 1912 ist der Campanile in seiner alten Form wiedererstanden (Abb. 5).2 Wohl bekannter noch ist in Deutschland das Beispiel der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Der Brand des in der Mitte des 18. Jahrhunderts errichteten städtischen Wahrzeichens im Jahr 1906 (Abb. 6) und der rasche politische Beschluss zu seiner Rekonstruktion lösten in der Denkmalpflege lautstarke Kontroversen aus.3 Die meisten Denkmalpfleger sprachen sich dagegen aus. Noch auf dem Tag für Denkmalpflege von 1909, als die RekonstrukPrinzip Rekonstruktion. Hg. von Uta Hassler und Winfried Nerdinger. Zürich 2010; Rekonstruktion in der Denkmalpflege. Texte aus Geschichte und Gegenwart. Hg. von Friedrich Hanselmann. 2. Aufl., Stuttgart 2009; Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten. Hg. von Norbert Huse. 3. Aufl., München 2006; Dehio, Georg; Riegl, Alois: Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege. Mit einem Kommentar von Marion Wohlleben und einem Nachwort von Georg Mörsch. Braunschweig 1988. 2 Fischer, Manfred: Campanile von San Marco, Venedig, Italien. In: Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte. Hg. von Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl. München – Berlin – London – New York 2010, S. 342–344; Fischer, Manfred F.: Das Original und seine Reproduktion. Ist Geschichte wiederholbar? In: Zeitschichten. Erkennen und Erhalten – Denkmalpflege in Deutschland. 100 Jahre Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler von Georg Dehio. Hg. von Ingrid Scheurmann. München – Berlin 2005, S. 36–45, hier S. 39–40. 3 Rekonstruktion in der Denkmalpflege… 2009 (wie Anm. 1), S. 38–64; Frank, Joachim W.; Groschek, Iris; Hering, Rainer; Reissmann, Volker: Der Michel brennt! Die Geschichte des Hamburger Wahrzeichens. Bremen 2006; Konerding, Volker: Der Wiederaufbau von St. Michaelis in Hamburg. In: Zeitschichten… 2005 (wie Anm. 2), S. 115–117; Fischer, Manfred F: Brand und Wiederaufbau von St. Michaelis (1906–1912). Ein Symbol setzt sich durch. In: Der Turm. Hamburgs Michel. Gestalt und Geschichte. Hg. von Diether Haas. Hamburg 1986, S. 68–78; Klée Gobert, Renata: Der Wie-

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tion (Abb. 7) längst in vollem Gange war, plädierte etwa Emil Högg leidenschaftlich für eine moderne Lösung. Doch ausgerechnet derselbe Dehio, der noch in seiner berühmten „Kaiserrede“ von 1905 das „Restaurationswesen“ – nach heutigem Sprachgebrauch: die Rekonstruktion – als „illegitimes Kind“ des Historismus gebrandmarkt hatte4, zeigte sich in der Debatte bemerkenswert konziliant. In seiner Antwort auf Högg appellierte er unter dem Eindruck der Entschlossenheit der Bürgerschaft zum Wiederaufbau ihres „Michel“ an seine Gesinnungsgenossen: „Seid von Zeit zu Zeit einmal auch tolerant!“ Der Fall Michaeliskirche, erkannte nun Dehio, „hat Abb. 3  Venedig, Einsturz uns wieder einmal genau aufgeklärt über die psychodes Campanile von San logischen Faktoren, die in jeder praktischen Frage der Marco. Aufnahme 1902. Denkmalpflege mitspielen, über die Dilemmata, in die wir hineinkommen […].“ Der Fall zeige zugleich, dass „die Ideenkreise“ der auf das Prinzip der Unersetzbarkeit des Originals eingeschworenen Denkmalpflege und der auf die Wiederherstellung eines identitätsstiftenden Baus beharrenden Stadt „völlig verschieden“ seien, wobei beide Seiten Recht hätten. Die Motive für die Rekonstruktion seien „spezifisch hamburgerischer Natur“, man könne sie teilen oder nicht, aber sie hätten „zum mindesten ihre Daseinsberechtigung“. „Es wird vorkommen“, so Dehio, „– hoffentlich nicht allzu oft –, daß den Erwägungen, die der Künstler, der Denkmalpfleger aufzustellen hat, andere, gemütliche Faktoren und Erwägungen besonderer lokaler Art entgegentreten. Sie werden aus der Welt nicht verschwinden, meine Herren, und wenn sie auch nicht in Abb. 4  Venedig, Campanile von San Marco nach dem Einsturz. Aufnahme 1902/03.

deraufbau der Großen St. Michaeliskirche in Hamburg nach der Brandzerstörung von 1906 und die zeitgenössische Kritik. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 31 (1973), S. 131–139. 4 Dehio, Georg: Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert. Festrede an der KaiserWilhelms-Universität zu Straßburg, den 27. Januar 1905. In: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München – Berlin 1914, S. 261–282. Zit. nach: Dehio/Riegl 1988 (wie Anm. 1), S. 88–103, hier S. 97.



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unseren Gedankenkreis gehören, so werden wir sie doch achten müssen.“5 Dehios Hoffnung, dass schmerzliche Denkmalverluste, die Rekonstruktionen wegen „gemütlicher Faktoren“ – in heutiger Diktion: aus emotionalen oder identitätspolitischen Gründen – nach sich ziehen, nicht oft vorkommen mögen, wurde durch die Kriege und ideologisch motivierten Zerstörungskampagnen des 20. Jahrhunderts gründlichst enttäuscht. Dem haben viele Denkmalpfleger – weniger in ihren grundsätzlichen Verlautbarungen als in ihren praktischen Entscheidungen – Rechnung getragen. Denn es wurde ihnen bewusst, wie es Michael Petzet formuliert, „dass die einst von Dehio im Streit um das Heidelberger Schloss formulierte DeAbb. 5  Venedig,   Campanile von San Marco. vise ‚Konservieren, nicht restaurieren‘ – ein Grundsatz, Aufnahme 2006. mit dem sich die Väter des ‚modernen Denkmalkultus‘ der Jahrhundertwende unter ganz anderen Voraussetzungen zurecht gegen das ‚Restaurationswesen‘ des 19. Jahrhunderts gestellt hatten – angesichts der in Trümmern liegenden Baudenkmäler reichlich abwegig erschien. Denn sie widersprach einer seit Jahrhunderten selbstverständlichen Reaktion: dem Wunsch, die vertraute Umwelt nach einer Katastrophe ‚wiederherzustellen‘ […] Fragen von Rekonstruktion“, so Petzet, „stellten und stellen sich nun vor allem im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau von Baudenkmälern nach Katastrophen und kriegerischen Ereignissen […] Dabei hat Wiederaufbau andere Dimensionen als ein blosses Rekonstruieren auf sozusagen wissenschaftlich-intellektueller Basis. Wiederaufbau der ganz oder halbzerstörten Abb. 6  Hamburg,   Abb. 7  Hamburg,   Denkmäler, vor allem der Brand der Hauptkirche   Hauptkirche St. Michaelis ‚Monumentalbauten‘, in St. Michaelis. Aufnahme nach dem Wiederaufbau. 1906. denen die Geschichte eiAufnahme 1912/13. 5 Dehio, Georg: Diskussionsbeitrag zum Thema „Die Stilfrage bei der Wiederherstellung alter Baulichkeiten“. In: Zehnter Tag für Denkmalpflege, Trier, 23.–24.09.1909. Stenographischer Bericht. Berlin o. J., S. 166–167. Zit. nach: Rekonstruktion in der Denkmalpflege… 2009 (wie Anm. 1), S. 63–64.

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ner Stadt oder einer Nation sichtbar verkörpert ist, kann ein Akt der politischen Selbstbehauptung sein, für die Bewohner in gewissem Sinne genauso lebensnotwendig wie ‚das Dach über dem Kopf‘. Voraussetzung eines Wiederaufbaus ist natürlich der ‚Wiederaufbauwille‘ der Generation, die die Verluste noch schmerzlich empfindet.“6 Nur in solchen „besonders begründeten Fällen“ allerdings sieht Petzet in der Rekonstruktion eine legitime denkmalpflegerische Methode, die zumindest „eine Möglichkeit unter anderen darstellt“.7 Mit der Postulierung der unmittelbaren, emotionalen Betroffenheit der Bevölkerung über den Verlust des Bauwerks als Voraussetzung für dessen Wiederaufbau macht Petzet einen Vorbehalt, der die Instrumentalisierung der Rekonstruktion für andere Motive, wie sie heute vielfach zu beobachten ist, abwehren soll. Genau besehen hat aber selbst die moderne, die freizügigen Rekonstruktionspraktiken der Romantik und des Historismus ablehnende Denkmalpflege immer wieder nicht nur der Befindlichkeit der Bevölkerung, sondern auch anderen Rekonstruktionsmotiven stattgegeben. Ein frühes Beispiel dafür bietet die zweite Phase der rekonstruktiven Restaurierung der Marienburg in den Jahrzehnten um 1900 (Abb. 8).8 Zum Verständnis ihrer Ausgangsbedingungen sei zunächst ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte geworfen. Die südöstlich von Danzig gelegene, zwischen dem 13. und dem frühen 15. Jahrhundert errichtete größte Backsteinburg Europas galt als einzigartiges Relikt deutscher Ritterkultur und als der prominenteste Erinnerungsort an den Deutschen Orden, der durch seine Eroberungen in Nordosteuropa zu einer regionalen Großmacht des Spätmittelalters aufgestiegen war. Auf den Triumph, den die so wehrhafte wie prachtvolle Hochmeisterresidenz verkörperte, war rasch der Niedergang gefolgt. Seit der verheerenden Niederlage gegen die Truppen des polnisch-litauischen Doppelreichs in der Schlacht bei Tannenberg von 1410 deutlich geschwächt, musste der Deutsche Orden im 1454 ausgebrochenen Dreizehnjährigen Krieg seine Burgen an Söldner verpfänden. Letztere verkauften die Marienburg an den polnischen König, der hier 1457 einen triumphalen Einzug hielt. Gut drei Jahrhunderte lang diente sie fortan unter anderem als Nebenresidenz polnischer Könige, was ihren allmählichen Verfall aber nicht aufhalten konnte. Dieser beschleunigte sich dramatisch, nachdem die Marien6 Petzet, Michael: Rekonstruktion als denkmalpflegerische Aufgabe. In: Das Prinzip Rekonstruktion… 2010 (wie Anm. 1), S. 76–81, hier S. 78–79. 7 Petzet 2010 (wie Anm. 6), S. 79. 8 Rząd, Ryszard: Zamek w Malborku 1882–1945. Dni powszednie odbudowy / Die Marienburg 1882– 1945. Der Alltag des Wiederaufbaus [zweisprachig]. Malbork 1996; Knapp, Heinrich: Das Schloss Marienburg in Preussen. Quellen und Materialien zur Baugeschichte nach 1456. Lüneburg 1990; Boockmann, Hartmut: Die Marienburg im 19. Jahrhundert. 2. Aufl., Frankfurt am Main – Berlin 1992; Boockmann, Hartmut: Das ehemalige Deutschordensschloß Marienburg 1772–1945. Die Geschichte eines politischen Denkmals. In: Boockmann, Hartmut; Esch, Arnold; Heimpel, Hermann; Nipperdey, Thomas; Schmidt, Heinrich: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972, S. 99–162; Steinbrecht, Conrad: Die Wiederherstellung des Marienburger Schlosses. In: Centralblatt der Bauverwaltung 16 (1896), Nr. 36–37, S. 397–399, 405–406, 411–413; Steinbrecht, Conrad: Die Hohenzollern und die Marienburg in Preußen. In: Hohenzollern-Jahrbuch 6 (1902), S. 1–11.



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Abb. 8  Marienburg, Gesamtansicht. Aufnahme 2010.

burg mit der Ersten Polnischen Teilung von 1772 an das Königreich Preußen gefallen war. Die neuen Hausherren nutzten sie vorwiegend als Kaserne. Fenster wurden vermauert, Gewölbe abgebrochen, von der Innenausstattung blieb wenig übrig. Bauteile, für die sich keine Verwendung fand, dienten als Steinbruch. Um die Wende vom 18. in das 19. Jahrhundert formierte sich aber allmählich ein aus romantischer Mittelalterbegeisterung und aufkommendem Nationalbewusstsein gespeister Widerstand gegen den Raubbau. Bald darauf verbot Preußens König Friedrich Wilhelm III. weitere Abrissarbeiten. Nach dem Sieg über Napoleon in den Befreiungskriegen begann 1817 die rekonstruktive Restaurierung der Marienburg als zunächst preußisches, später zunehmend gesamtdeutsches Nationaldenkmal. Die Arbeiten unter Aufsicht des Leiters der preußischen Provinzialverwaltung, Theodor von Schön, konzentrierten sich auf den Hochmeisterpalast und das Mittelschloss. Fehlende Partien der Gebäude wurden freizügig ergänzt, nachmittelalterliche Einbauten entfernt, neue Fußböden gelegt, die Eingänge erhielten Türen nach Entwürfen Karl Friedrich Schinkels, neue Glasfenster glorifizierten die Ordensgeschichte. Diese sogenannte „romantische Phase“ der Rekonstruktion, in der es weniger um eine originalgetreue Wiederherstellung als um eine bauliche Umsetzung zeitgenössischer Idealvorstellungen von der mittelalterlichen Burg ging, dauerte bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Danach folgten einige weitere Arbeiten, bis ein gutes Jahrzehnt nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs eine neue, großangelegte Rekonstruktionskampagne begann, die bis in die 1930er Jahre dauerte. Ihr Leiter war von 1882 bis 1922 Conrad Stein-

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Abb. 9  Marienburg, Hochschloss von Südosten. Aufnahme 1885. Vgl. auch Abb. 4 auf S. 20 und Abb. 1–4 auf S. 54–57.

brecht, ein für seine Zeit ausgesprochen methodenbewusster und durchaus modern gesonnener Denkmalpfleger. Er lehnte die romantisch-historistische Praxis der phantasierend-ergänzenden Wiederherstellung idealisierter früherer Erscheinungsbilder von Baudenkmälern entschieden ab. Frühzeitig beklagte er „die häufigen Mißerfolge bei Denkmal-Erneuerungen“ und ließ das „Wiederherstellen nur als nothwendiges Uebel“ gelten. So unterzog er auch einen Großteil der Ergebnisse der romantischen Rekonstruktionsphase der Marienburg einer scharfen Kritik, die in ihrem Kern auch von einem Dehio, Riegl, Gurlitt oder einem Denkmalpfleger unserer Tage stammen könnte. „Am wenigsten in baulicher Hinsicht ist die Art zu vertheidigen,“ spottete Steinbrecht, „wie man außen Meisters großen Remter, ferner den Nord- und Ostflügel des Mittelschlosses mit Zinnen, Thürmchen, Balconen und Thoranlagen ausstaffirte, welche ganz vertheidigungswidrig sind, nie vorhanden waren, vielmehr nur eine unwürdige Theatergothik genannt werden können.“9 Steinbrecht machte die meisten dieser Eingriffe rückgängig und bemühte sich bei den von ihm geleiteten Maßnahmen um eine solide wissenschaftliche Basis und Originaltreue durch gründliches Studium archivalischer Quellen und minutiöse bauarchäologische Untersuchungen. 9 Steinbrecht 1906 (wie Anm. 8), S. 405.



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Abb. 10  Marienburg, Hochschloss von Südosten. Aufnahme um 1900.

Als Denkmalpfleger zeigte sich Steinbrecht auch auf der Höhe der Zeit, oder gar seiner Zeit voraus, indem er sich schon 1896, fünf Jahre vor Dehios berühmter Streitschrift „Was wird aus dem Heidelberger Schloss werden?“10 klar gegen dessen Rekonstruktion positionierte und für die Beschränkung „ausschließlich auf ein Erhalten des Bestandes“ der Ruine plädierte.11 Im Falle der Marienburg aber hielt er bei aller Kritik der Phantasterei seiner Vorgänger und bei aller kritischen Reflexion auch seiner eigenen Arbeit am Prinzip der Totalrekonstruktion fest. Dabei schreckte er auch, wie der Vergleich von Ansichten des Hochschlosses vor (Abb. 9) und nach der von ihm geleiteten Wiederherstellung (Abb. 10) zeigt, nicht vor erheblichen Eingriffen in den Baubestand und großzügigen Ergänzungen zurück. Er begründete die Sonderbehandlung der Marienburg mit „grundverschiedenen Bedingungen dort und hier“: „Die eigenartige Schönheit des Heidelberger Schlosses beruht wesentlich in der malerischen Wirkung der Ruinen und in deren landschaftlich bevorzugter Lage. Eine völlige oder theilweise Wiederherstellung des Schlosses würde diese Reize vernichten. […] Die Marienburg dagegen war, 10 Dehio, Georg: Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden? Straßburg 1901. Wiederabgedruckt u.a. in: Dehio/Riegl 1988 (wie Anm. 1), S. 34–42. 11 Steinbrecht 1896 (wie Anm. 8), S. 405.

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wie wir gesehen, zum Kornspeicher erniedrigt, zum nüchternen überputzten Steinkasten, an dem das schärfste Auge, die kühnste Phantasie machtlos abglitten. Ringsum starrte das Bauwerk vom Schmutz der Verwahrlosung und ragte schwer über Aecker und Triften der Niederung hervor: ein packender Eindruck, aber verbunden mit einer drückenden Empfindung, daß hier arge Vernachlässigung an dem Bau und an der deutschen Sache gut zu machen sei! Ohne Frage ist der geschichtliche Hintergrund der Marienburg ein wichtigerer und wuchtigerer als der Heidelbergs. Am Heidelberger Schlosse kommen (neben dem Geschichtsvorgange der Zerstörung) Geschichte und Kunstbestrebungen der Glieder einer erlauchten Herrscherfamilie zum Ausdruck, aber immerhin nur innerhalb einer engeren Zeitgrenze. [...] Wir würden also mit dem hergestellten Heidelberger Schloß nichts für Belehrung und Genuß gerade unentbehrliches eintauschen. In der Marienburg dagegen verkörpert sich das Wesen des aus ganz Deutschland hervorgegangenen Ordensstaates, die Geschichte des deutschen Ostens überhaupt.“12 Ein schmerzhaftes Empfinden des Verlusts des Bauwerks durch die lokale Bevölkerung – nach Petzet die unabdingbare Voraussetzung für die Legitimation der Rekonstruktion – kann Steinbrecht ebenso wenig geltend machen wie die Befürworter des Wiederaufbaus des Heidelberger Schlosses. Entscheidend sind aber für ihn das symbolische Potential und die aktuelle politische Funktion der rekonstruierten Marienburg. Die politische Aufladung des Projekts lässt sich nur vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Entwicklung der Rezeption der Marienburg verstehen. War es anfangs eine, bei allem vaterländischen Impetus, politisch noch recht diffuse, schwärmerischromantische Mittelalterbegeisterung gewesen, der das Baudenkmal seine Rettung verdankte, hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dessen zunehmend aggressive Deutung als antipolnisches Monument um sich gegriffen.13 So interpretierte der preußische Historiker Heinrich von Treitschke die Marienburg 1862 nicht nur als das „edelste weltliche Bauwerk des deutschen Mittelalters“, sondern auch als gebauten Beweis deutscher Kulturüberlegenheit über die Slawen und als steinernen Zeugen eines jahrhundertelangen Kampfes um die Vorherrschaft zwischen Deutschen und Polen. Auf die von der Marienburg bezeugte mittelalterliche Blüte des Preußenlandes war in Treitschkes Sicht seit Mitte des 15. Jahrhunderts die Demütigung unter polnischer Herrschaft gefolgt – ein langer „widernatürliche[r] Zustand, daß Slaven über Deutsche herrschten“. Schwer habe „die klägliche politische Unfähigkeit der Polen“ dem Land zugesetzt. „Untergraben wurden die Grundlagen reinerer Menschensitte, die deutscher Fleiß gelegt […] Ein Ziel lockte nur die neuen Herrscher, die Vernichtung deutscher Sprache und Sitte.“ Den „Kern dieses wüsten Regiments“ erblickte Treitschke „in den Schicksalen der Meisterburg“. Er wies den Polen die Hauptverantwortung für ihren Verfall zu und lastete ihnen im Eifer des Gefechts auch einige entstellende Eingriffe an, die tatsächlich erst unter der preußischen Verwaltung ab 1772 12 Steinbrecht 1896, (wie Anm. 8), S. 405–406. 13 Boockmann 1992 (wie Anm. 8), S. 34–38; Boockmann 1972 (wie Anm. 8), 143–147.



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vorgenommen worden waren: „Zwischen den Pfeilern der Remter zog der Pole dünne Wände, weil er der Kühnheit der deutschen Gewölbe nicht traute, und die ernste Wahrhaftigkeit des Ziegelrohbaus ward bedeckt mit der lügenhaften Hülle des Gipses.“14 Der Wiederaufbau galt Treitschke denn auch, wie er 1882 schrieb, als „ein Siegesdenkmal für das alte Ordensland, das sich so gern rühmte die anderen Deutschen zum heiligen Kampfe erweckt zu haben“.15 Deutlicher noch formulierte die politische Botschaft des Wiederaufbaus der Marienburger Landrat Döhring in einer Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses im Jahr 1886: „Diese Ordensburg war im Mittelalter der Hort des Deutschthums im Osten. Ihre Wiederherstellung und Erhaltung wird auch in Zukunft das Deutschthum, deutsches Nationalbewußtsein und deutsche Gesinnung gegenüber einem etwaigen Ansturm anderer Nationalitäten in unserer Ostmark stärken.“16 Es war vor allem diese symbolisch-missionarische Bedeutung der Marienburg als Bollwerk des Deutschtums im national umkämpften Osten, die für Steinbrecht ihre Totalrekonstruktion rechtfertigte: „In dieser Stätte vereinigen sich viel wichtige Erinnerungen vaterländischer Geschichte und zahllose Fäden cultureller Arbeit; von hier gehen stete Anregungen für patriotischen Sinn, für Bethätigung in Kunst und Technik wieder aus. Es ist mit einem Wort ein Schöpfungsbau, und den müssen wir uns mit allen Mitteln handgreiflich wiederherstellen: nicht bloß verständlich für den Kenner, sondern anschaulich für das Volk, damit das Deutschthum auf dem strittigen Boden an der Weichsel sich seines älteren Heimathsrechtes und seiner höheren Culturaufgaben bewußt bleibt.“17 Ein weiterer Grund, der für Steinbrecht die Totalrekonstruktion unwiderstehlich machte, war die starke Förderung, die der Wiederaufbau seitens des Kaiserhauses genoss.18 Wilhelm II. bekundete seine Unterstützung mit rund fünfzig Besuchen, bei denen er auch häufig in der Marienburg wohnte, und zeigte damit zugleich auch Präsenz des deutschen Herrschers auf dem „strittigen Boden“ der Ostmark. Von der Anteilnahme des Kaisers am Baugeschehen ermutigt, hoffte Steinbrecht sogar, den Hochmeisterpalast „getreu in alter Gestalt, erhoben aber zu neuen, monumentalen Würden als Kaiserliches Schloß“ wiedererstehen zu lassen.19 Diese Hoffnung blieb zwar unerfüllt. Die volkspädagogische Bedeutung der Marienburg, verbunden mit der Perspektive, als Baumeister eines Kaiserschlosses in die Geschichte einzugehen, war

14 Treitschke, Heinrich von: Das deutsche Ordensland Preußen. In: Preußische Jahrbücher 10 (1862), S. 128–129, 146–147. Zit. nach: Boockmann 1992 (wie Anm. 8), S. 161–163. Zur preußischen Urheberschaft dieser Eingriffe: Boockmann 1992 (wie Anm. 8), S. 177. 15 Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2, Leipzig 1882, S. 45–46. Zit. nach: Boockmann 1992 (wie Anm. 8), S. 163–164. Interpunktionsfehler im Original. 16 Zit. nach: Boockmann 1972 (wie Anm. 8), S. 145–146. 17 Steinbrecht 1896 (wie Anm. 8), S. 405–406. 18 Boockmann 1992 (wie Anm. 8), S. 38; Boockmann 1972 (wie Anm. 8), S. 142–143; Steinbrecht 1902 (wie Anm. 8). 19 Steinbrecht 1896 (wie Anm. 8), S. 413. Dazu auch: Knapp 1990 (wie Anm. 8), S. 108.

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für Steinbrecht aber wichtiger als die aufkommenden Prinzipien moderner Denkmalpflege, denen er sonst bereitwillig huldigte. Während die Marienburg als Symbolbau deutschen Überlegenheitsanspruchs im Osten wiedererstand, bemühte sich die damals zu Österreich gehörende einstige polnische Hauptstadt Krakau um die rekonstruktive Restaurierung des dortigen WawelSchlosses, das als wichtigstes architektonisches Symbol der bis in das 10. Jahrhundert zurückreichenden polnischen Staatstradition galt (Abb. 11). Die frühere Königsresidenz befand sich in einem beklagenswerten Zustand. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts niedergebrannt, anschließend notdürftig wiederaufgebaut, war sie kurz nach der Dritten Polnischen Teilung von 1795, mit der Polen für mehr als ein Jahrhundert seine staatliche Unabhängigkeit verloren hatte, vom österreichischen Militär zu einer Kaserne umfunktioniert worden. Das auffälligste Zeichen des Niedergangs war das Erscheinungsbild der zu den Meisterwerken der Renaissancearchitektur in Mitteleuropa zählenden Laubengangarkaden im Innenhof, die von den Kasernennutzern zwecks Stabilisierung ummauert und damit ihrer grazilen Eleganz beraubt worden waren (Abb. 12).20 Im Zuge der Liberalisierung der Nationalitätenpolitik unter Kaiser Franz Joseph gelang es im Jahr 1905 der teilautonomen polnischen Selbstverwaltung nach langwierigen Verhandlungen, das Wawel-Schloss vom österreichischen Militär zu übernehmen. Bald darauf begann die erste umfassende Restaurierungskampagne.21 Das vom polnischen Architekten Zygmunt Hendel erarbeitete Restaurierungsprojekt zielte auf eine Wiederherstellung des Renaissancecharakters des Bauwerks durch Freilegung der Arkaden und eine zum Teil hypothetische Rekonstruktion der früheren Dächer, Turmhelme und zerstörter oder überbauter Fassadenelemente. Mit diesen Eingriffen sollte das Schloss sein Aussehen aus der Blütezeit Polens im 16. Jahrhundert zurückerhalten und damit der nationalen Erbauung unter den Bedingungen staatlicher Nichtexistenz dienen. Das Projekt stand aber, unnötig zu sagen, im Widerspruch zur neuen Substanzdenkmalpflege des „Konservieren, nicht restaurieren“, die auch in Polen rasch viele Anhänger gefunden hatte.22 Dennoch unterstützten es die Begleitgremien polnischer Denkmalpfleger bei aller Detailkritik mit der prinzipiellen Haltung, dass der Wawel ein 20 Für die Bereitstellung der Fotografie danke ich Tomasz Torbus. 21 Dettloff, Paweł: Odbudowa i restauracja zabytków architektury w Polsce w latach 1918–1939. Teoria i praktyka [Wiederaufbau und Restaurierung von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1918– 1939. Theorie und Praxis]. Kraków 2006, S. 188–211; Dettloff, Paweł; Fabiański, Marcin; Fischinger, Andrzej: Zamek królewski na Wawelu. Sto lat odbudowy (1905–2005) [Das Königsschloss auf dem Wawel. Hundert Jahre Wiederaufbau (1905–2005)]. Kraków 2005; Majewski, Alfred: The Wawel. Its History and Conservation. Warsaw 1997, S. 49–61 [polnische Orginalfassung: Majewski, Alfred: Wawel, dzieje i konserwacja. Warszawa 1993]; Fuchs, Franciszek: Z historii odnowienia Wawelskiego Zamku 1905–1939 [Zur Geschichte der Erneuerung des Wawel-Schlosses 1905–1939]. Kraków 1962, S. 43–76; Terlecki, Władysław: Zamek Królewski na Wawelu i jego restauracja [Das Königsschloss auf dem Wawel und seine Restaurierung]. Kraków 1933, S. 20–62. 22 Dettloff/Fabiański/Fischinger 2005 (wie Anm. 21), S. 22; Dettloff, Paweł: „Wiedererweckung des nationalen Kulturerbes“ – Rekonstruktion von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1900–1939. In: Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert. Hg. von Andrea Langer. Warszawa 2004, S. 65–78, hier S. 65–68.



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„lebendes Denkmal“ sei und seine Restaurierung deshalb „auch das allgemeine Gefühl der Bevölkerung in Rechnung stellen muss, die danach verlangt, dass diese mit einer Wiederherstellung zumindest seiner früheren architektonischen Pracht einhergeht.“23 Da das Restaurierungsziel darin bestehe, dem nunmehr zu einer kaiserlichen Nebenresidenz Abb. 11  Krakau, Wawel-Schloss, Gesamtansicht.   bestimmten Schloss seine Aufnahme 2007. frühere „Bedeutung und Würde einer Monarchenresidenz zurückzugeben“, argumentierten die polnischen Denkmalpfleger, solle man bei der Instandsetzung „etwas weiter gehen als im Falle anderer Baudenkmäler. Das Königsschloss muss nicht nur gegen weitere Zerstörung gesichert werden, es soll auch [...] einen ästhetischen Eindruck machen. Daraus folgt, dass gewisse störende und entstellende spätere Zutaten, vor allem solche aus der letzten Epoche, entfernt werden dürfen [...], desgleichen dürfen gewisse Details wiederhergestellt werden [...].“24 Weniger flexibel zeigte sich Österreichs Generalkonservator Max Dvořák, ein strikter Gegner purifizierender Restaurierungen, der nicht nur in der geplanten Rekonstruktion zerstörter Elemente, sondern selbst in der Freilegung der Arkaden und den damit verbundenen Eingriffen in die Bausubstanz einen authentizitätszerstörenden Fälschungsakt sah. Als Schüler und seit 1905 Nachfolger von Alois Riegl gehörte er zu den Substanzdenkmalpflegern strengster Observanz. „Es ist […] ein Irrtum“, schreibt er später in seinem Buch „Katechismus der Denkmalpflege“ apodiktisch, „wenn man glaubt, daß durch sogenannte stilgetreue Umbauten und Rekonstruktionen den Bauten ihre ursprüngliche Form gegeben werden kann.“25 So musste Hendel nach Dvořáks Intervention auf einige geplante rekonstruktive Ergänzungen verzichten. Letzterer bildete das abgelehnte Projekt später sogar 23 „[...] zamek jest zabytkiem żyjącym, a restauracja jego musi się też liczyć z ogólnym uczuciem społeczeństwa, które domaga się, aby była połączoną z przywróceniem przynajmniej architektonicznej jego dawnej świetności“. Zit. nach: Dettloff/Fabiański/Fischinger 2005 (wie Anm. 21), S. 35. 24 „Dążeniem całej [...] akcji jest przywrócenie zamkowi znaczenia i powagi rezydencji monarszej. W konserwowaniu należy zatem pójść cokolwiek dalej, aniżeli przy innych zabytkach. Zamek królewski winien być nie tylko zabezpieczony od dalszej zagłady, ale ma [...] sprawiać wrażenie estetyczne. Stąd wynika, że wolno usuwać pewne rażące i szpecące naleciałości epoki, zwłaszcza ostatniej [...] wolno dalej przywracać pewne szczegóły [...].“ Zit. nach: Dettloff/Fabiański/Fischinger 2005 (wie Anm. 21), S. 29. 25 Dvořák, Max: Katechismus der Denkmalpflege. Wien 1918, S. 29.

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Zerstörung, Wiederaufbau, Architektur im Dienst der Geschichtsinszenierung

Abb. 12  Krakau, Wawel-Schloss, Innenhof. Aufnahme 1905/06.

im „Katechismus der Denkmalpflege“ als abschreckendes Beispiel ab. Nach seiner Auffassung hätte es „all das, was Jahrhunderte geschaffen haben, einer angeblichen Rekonstruktion der Burg des XVI. Jhs. oder mit anderen Worten das wirklich Historisch- und Künstlerisch-Ursprüngliche einer falschen historischen Architektur der Gegenwart geopfert“.26 Auf einer Sitzung der zuständigen K. K. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale in Wien im Jahr 1909 wies Dvořák auch das Argument der symbolischen Bedeutung des Wawel zurück: „Man könnte einwenden, daß beim Wawelschlosse noch andere Momente in Betracht zu ziehen sind als jene der Denkmalpflege, nämlich die nationale Bedeutung des Denkmales, welche gewisse Konzessionen an die allgemeinen Wünsche und Anschauungen erfordert. Ich glaube jedoch, daß man gerade von diesem Gesichtspunkte aus noch weit rigoroser sein sollte, als man sonst wäre. Es ist möglich, daß man momentan an der geplanten Rekonstruktion in der polnischen Öffentlichkeit nicht nur vielfach Gefallen findet, sondern sie sogar als die Verwirklichung der längst ersehnten Auferstehung der alten Burg im ganzen Lande freudigst begrüßen würde.“ Schon in naher Zukunft aber würde man nach Dvořáks Überzeugung den Wiederaufbau als eine „historische Lüge“ bereuen, „die man, je mehr sich das historische und künstlerische Empfinden der Nation vertieft und verfeinert, um so schmerzlicher nicht nur als eine müßige Spielerei, sondern auch als einen Akt der Pietätlosigkeit ansehen 26 Dvořák 1918 (wie Anm. 25), S. 91.



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Abb. 13  Krakau, Wawel-Schloss, Innenhof. Aufnahme um 1925.

wird, des alten Denkmales so unwürdig, wie wenn man einem Greise durch Perücke, Schminke und bunte Kleider die Jugenderscheinung wiedergeben wollte. Sobald man sich aber dessen allgemein bewußt würde, wäre es auch um die nationale Bedeutung des Schlosses geschehen.“27 Dennoch gab Dvořák damals schließlich wohl nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Befindlichkeit der Polen, die im Zusammenhang mit der Toleranzhaltung des Kaisers zur Pflege nationaler Kulturen in seinem Vielvölkerreich auch politisch indiziert war, seinen Widerstand gegen die für das Erscheinungsbild des Schlosses besonders wichtige Beseitigung der Arkadenummauerungen auf.28 Noch unter österreichischer Herrschaft konnte ein Großteil der Restaurierungsarbeiten am Außenbau abgeschlossen werden (Abb. 13)29, wobei man sich in Detailfragen zunehmend über die rekonstruktionsfeindliche Haltung der Wiener Zentral-Kommission hinwegsetzte.

27 Mitteilungen der K. K. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale 3 (1909), Nr. 8, S. 262–278, hier S. 268. 28 Torbus, Tomasz: Das Wawel-Schloss in Krakau und andere jagiellonische Königssitze in Polen und Litauen. Habilitationsschrift Leipzig 2010, Kapitel „Max Dvořák und die polnische Denkmalpflege“, ohne Paginierung (im Druck, erscheint voraussichtlich 2012). Ich danke dem Autor für die Bereitstellung des Manuskripts. Dazu siehe auch: Dettloff/Fabiański/Fischinger 2005 (wie Anm. 21), S. 31–35; Majewski 1997 (wie Anm. 21), S. 53–61; Terlecki 1933 (wie Anm. 21), S. 48–57. 29 Für die Bereitstellung der Fotografie danke ich Tomasz Torbus.

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Bei den nach dem Ersten Weltkrieg, in der Zeit der polnischen Republik folgenden Arbeiten, die nunmehr ohne die strenge Wiener Aufsicht vonstatten gingen, ist die Hemmschwelle gegenüber Rekonstruktion und freier Nachahmung noch weiter gesunken. Dies gilt besonders für die Restaurierung der Innenräume, die fast vollständig zerstört und schlecht dokumentiert waren. Kreiskonservator Tadeusz Szydłowski erklärte nun ganz unumwunden, dass sich die Maßnahmen nicht auf die „Sicherung des exakten authentischen Zustands“ beschränken dürften, sondern dem Schloss als einem „Monument der Größe und Kultur der Nation“ ein „prachtvolles und würdiges Aussehen“ zurückgeben müssten.30 Eine ausgesprochene Freizügigkeit herrschte im Polen der Zwischenkriegszeit auch bei anderen symbolträchtigen Restaurierungsprojekten. Dazu gehört etwa, um nur das eine Beispiel zu nennen, das Warschauer Palais Staszic, ein für den polnischen „Verein der Freunde der Wissenschaften“ errichteter klassizistischer Repräsentationsbau, der Ende des 19. Jahrhunderts von der russischen Teilungsmacht zu einer orthodoxen Kirche im historistischen byzantinisch-altrussischen Stil umgestaltet worden war. Nach der Wiedergründung des im Zuge der zaristischen antipolnischen Repressionen aufgelösten Vereins im Jahr 1924 erhielt das Palais Staszic durch einen rekonstruktiven Umbau seinen klassizistischen Charakter zurück, samt einiger Korrekturen des Originalzustands zugunsten mutmaßlicher Stilreinheit (Abb. 6–8 auf S. 22–23).31 Angesichts solcher Praktiken erstaunt die Schilderung des berufsethischen Dilemmas polnischer Denkmalpfleger nach dem Zweiten Weltkrieg durch Generalkonservator Jan Zachwatowicz, der den von ihm betriebenen rekonstruktiven Wiederaufbau zerstörter historischer Stadtzentren als „tragische Ausnahme“ bezeichnete.32 „Im Angesicht der furchtbaren Ruinen, der verbrannten und zerstörten altstädtischen Viertel [...]“, schrieb er rückblickend, „stürzten die grundlegenden denkmalpflegerischen Thesen der Vorkriegszeit in sich zusammen.“33 In einer programmatischen Schrift von 1946 hatte er für die Situation folgende Worte gefunden: „Mit Vorsatz hat man ganze Seiten aus dem Buch unserer Geschichte herausgerissen, Seiten, die mit den steinernen Buchstaben der Architektur beschrieben waren. Wir können uns damit nicht abfinden. Das Verantwortungsgefühl gegenüber den künftigen Generationen verlangt von uns den Wiederaufbau dessen, was man uns zerstört hat, den vollständigen Wiederaufbau, im Bewusstsein der Tragödie der begangenen denkmalpflegerischen Fälschung. Denn 30 „Nie można poprzestać na utrwaleniu ściśle autentycznego stanu zabytku, gdyż ma on spełniać funkcję monumentu wielkości i kultury narodu i dlatego musi przybrać okazały i dostojny wygląd“. Zit. nach: Dettloff/Fabiański/Fischinger 2005 (wie Anm. 21), S. 75. 31 Dazu ausführlicher im Beitrag „ ,Wiedergutmachung für historische Verluste.‘ Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa als Akt nationaler Selbstbehauptung“ in diesem Band. 32 Zit. nach: Störtkuhl, Beate: Geschichte der Baudenkmalpflege: Zwischen Wissenschaft und Ideologie. In: Architekturgeschichte und kulturelles Erbe – Aspekte der Baudenkmalpflege in Ostmitteleuropa. Hg. von Beate Störtkuhl. Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 9–56, hier S. 35. 33 „W obliczu straszliwych ruin, spalonych i zburzonych dzielnic staromiejskich [...] załamywały się podstawowe tezy konserwatorskie okresu przedwojennego.“ – Zachwatowicz, Jan: Ochrona Zabytków w Polsce [Denkmalschutz in Polen]. Warszawa 1965, S. 44.



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Baudenkmäler sind nicht nur für Feinschmecker da“, rechtfertigte Zachwatowicz ganz im Geiste und fast in der Wortwahl Steinbrechts das Vorgehen, „sie sind suggestive Geschichtszeugnisse im Dienst der Massen. Auch ihres Alterswerts beraubt, werden sie einen didaktischen und emotional-architektonischen Dienst erfüllen. Die Aussage der architektonischen Form hängt nicht davon ab, wann diese ausgeführt wurde. [...] Die Frage der Denkmäler ist eine gesellschaftliche Grundsatzfrage – eine Frage der Nationalkultur. Wir können ihnen gegenüber nicht einseitig eine abstrakte Theorie anwenden, wir müssen die Bedürfnisse der Gegenwart berücksichtigen.“34 Angesichts der immensen emotionalen und politischen Bedeutung des Wiederaufbaus vor allem der systematisch vernichteten Altstadt von Warschau ließen sich Polens Denkmalpfleger rasch auf den Rekonstruktionskurs einschwören. Aber auch deswegen, weil sie bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg die mutmaßlichen Bedürfnisse der Nation über die berufsethische Selbstverpflichtung „Konservieren, nicht restaurieren“ gestellt hatten. Natürlich konnten Polens Denkmalpfleger, zumindest seit der verstärkten Stalinisierung ab 1949, nicht vollends frei diskutieren. Aber auch bei den vermeintlich prinzipienfesteren Denkmalpflegern in der Bundesrepublik gab es, angesichts der besonderen Situation des knapp der totalen Vernichtung entgangenen Polen, viel Verständnis für die dortigen Rekonstruktionskampagnen. So schrieb etwa Torsten Gebhard, sonst nicht gerade ein glühender Verfechter der Rekonstruktion, 1958 über den Wiederaufbau der Warschauer Altstadt: „Vom historisch-antiquarischen Standpunkt ist der Substanzverlust in Warschau so groß […], daß die Altstadt unwiederbringlich für eine Wiederherstellung des Originalen verloren ist. Polen hat es aber für erforderlich gehalten, den Gesamtkörper gerade im Hinblick auf seinen Erlebniswert – wiederaufzubauen, d. h. zu rekonstruieren. Man hätte natürlich theoretisch gesprochen einen vollständigen Neubau der Altstadt in den Bauformen unserer Zeit durchsetzen können […]. Es gehört aber zur geistigen Gesamtstruktur unserer Zeit, daß wir nicht ohne weiteres auf derartige Werte verzichten können, wie sie diese ungemein differenzierten Gesamtgebilde unserer berühmten Altstädte darstellen. […] Es geht hier […] um letzte seelische Bindungen an die Welt der Vorfahren.“ Der Mangel an Originaltreue einzelner wiederhergestellter Waschauer Bauten war Gebhard durchaus bewusst. Aber: „Der Raumcharakter der Altstadt ist auf jeden Fall wiedergewonnen und vermittelt je nach der Veranlagung des einzelnen Besuchers oder Bewohners bewußte 34 „Z premedytacją wydarto całe stronice naszej historii, pisane kamiennymi zgłoskami architektury. Nie możemy się na to zgodzić. Poczucie odpowiedzialności wobec przyszłych pokoleń domaga się odbudowy tego, co nam zniszczono, odbudowy pełnej, świadomej tragizmu popełnianego fałszu konserwatorskiego. Zabytki bowiem nie są potrzebne wyłącznie dla smakoszów, ale są to sugestywne dokumenty historii w służbie mas. Wyzbyte wartości starożytniczych, będą nadal pełniły służbę dydaktyczną i emocjonalno-architektoniczną. Wymowa kształtu architektonicznego jest niazależna od tego, kiedy go wykonano. […] Sprawa zabytków jest podstawowym zagadnieniem społecznym – zagadnieniem kultury narodu. Nie możemy wobec nich stosować jednostronnie abstrakcyjnej teorii, musimy umzględnić potrzeby dnia dzisiejszego.“ – Zachwatowicz, Jan: Program i zasady konserwacji zabytków [Das Programm und die Prinzipien der Denkmalpflege]. In: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury 8 (1946), Nr. 1–2, S. 48–52, hier S. 52.

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oder unbewußte seelische Erlebnisse. […] Es kündigt sich bei einem solchen Entschluß zum Wiederaufbau eine Wandlung in der Auffassung von den Zielen der Denkmalpflege an: Wir haben uns bisher immer mehr auf das Einzelwerk konzentriert. Hier aber wird eine klare Entscheidung gefällt, daß das Ganze mehr ist als das Einzelwerk, daß es also wichtiger ist, das Gesamtwesen Altstadt in etwa wiedererstehen zu lassen, als daß das einzelne Bauwerk in seiner historiAbb. 14  Mostar, Alte Brücke. Aufnahme um 1975. schen Substanz möglichst werkgetreu wieder zu erkennen ist. Selbst der Historiker kann angesichts dieser Verhältnisse nicht erklären, das, was der Wiederaufbau zustande gebracht habe, sei für ihn unergiebig, da nur ein verschwindender Prozentsatz an originaler Substanz mit hinübergerettet wurde. Er muß zugeben, daß die Idee Altstadt in dem Wesentlichen ihrer schmalbrüstigen Wohnhäuser, in dem Wechsel ihres Fassadendekors Abb. 15  Mostar, provisorische Hängebrücke und in der Raumstimmung der Straan Stelle der zerstörten Alten Brücke. Aufnahme ßenzüge und Platzwände wiederer1997. standen ist.“35 Gewiss, Gebhard und andere mögen gefühlt haben, dass es einem deutschen Denkmalpfleger der Nachkriegszeit nicht anstand, die Wiederaufbauleistung seiner polnischen Kollegen zu kritisieren. Aber auch die durchaus zahlreichen Rekonstruktionen total oder weitgehend zerstörter Baudenkmäler in Deutschland selbst, zum Teil verbunden mit starken Purifikationen, stießen keineswegs auf einhellige Ablehnung seitens der Denkmalpflege. Angesichts der Ruinen wurden auch hierzulande die denkmalpflegerischen Prinzipien immer wieder zurückgestellt. Was Hiltrud Kier später über den Wiederaufbau des Vierungsturms von Kölns Groß Sankt Martin sagte – „Es war klar, theoretisch durfte man den Turm nicht wiederaufbauen, und es war klar, daß er praktisch wiederaufgebaut wurde.“36, – traf auch auf viele andere Bauten zu: die 35 Gebhard, Torsten: Zum Wiederaufbau von Warschau. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 1958, Nr. 1, S. 79–81. 36 Zit. nach: Hocquél, Wolfgang: Der Wiederaufbau zerstörter Baudenkmale. Beispiel Leipzig. In: Das Prinzip Rekonstruktion… 2010 (wie Anm. 1), S. 327–328. Zum Wiederaufbau der Kölner Kirchen:



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Abb. 16  Mostar, Alte Brücke nach dem Wiederaufbau. Aufnahme 2004.

übrigen romanischen Kirchen Kölns, das Frankfurter Goethehaus, das Münsteraner Rathaus, Sankt Michael in Hildesheim, um nur wenige zu nennen. Nicht nur das Ausmaß der Zerstörungen sowie der architekturhistorische und symbolische Wert des Zerstörten sind es, die der Theorie den Boden unter den Füßen wegziehen, sondern immer wieder auch und gerade die symbolische Bedeutung des Akts der Rekonstruktion. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist der Wiederaufbau der im 16. Jahrhundert errichteten, 1993 im Bosnienkrieg vernichteten Alten Brücke im herzegowinischen Mostar (Abb. 14, 15). Der zerstörerische Beschuss des städtischen Wahrzeichens durch die kroatische Artillerie wurde von der Weltöffentlichkeit nicht nur als kulturbarbarischer Akt, sondern auch als Symbol des Einreißens der Brücken zwischen beiden Bevölkerungsgruppen angesehen, verband doch das Bauwerk den kroatischen mit dem muslimisch-bosniakischen Teil der Stadt. Dementsprechend galt

Krings, Ulrich: Zerstörung und Aufbau. Erneuerte Leitbauten in neuer Umgebung: Das Beispiel Köln. In: Echt – alt – schön – wahr. Zeitschichten der Denkmalpflege. Hg. von Ingrid Scheurmann und Hans-Rudolf Meier. München – Berlin 2006, S. 145–157; Machat, Christoph: Der Wiederaufbau der Kölner Kirchen. Köln 1987; Köln: Die romanischen Kirchen in der Diskussion 1946/47 und 1985. Hg. von Hiltrud Kier und Ulrich Krings. Köln 1986.

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die in den Jahren 1998–2004 durchgeführte, von der internationalen Staatengemeinschaft finanzierte Rekonstruktion (Abb. 16) als Signal für die erhoffte Versöhnung und den Aufbruch in eine friedliche Zukunft. Bereits 2005 wurde die neue Alte Brücke sogar auf die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Hier auf die Unersetzbarkeit des Originals zu pochen, hätten wohl selbst die rigidesten Vertreter der Substanzdenkmalpflege als unpassend empfunden. Die Beispiele aus der Nachkriegszeit und aus der jüngsten Vergangenheit müssen hier nicht weiterverfolgt werden. Denn das Prinzip „Konservieren, nicht restaurieren“ stürzte als allgemein verbindliche Regel nicht erst, wie oft behauptet wird, angesichts der Kriegstrümmer des 20. Jahrhunderts in sich zusammen. Es war auch bereits in der doktrinär stärksten Zeit der Denkmalpflege am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht standfest genug, wenn es frontal mit emotionalen Befindlichkeiten der Massen oder Ansprüchen der Symbolpolitik kollidierte. Auch die der Substanz verpflichtete Denkmalpflege war in der Praxis kaum je wirklich immun gegen „gemütliche Faktoren“. Es gab immer ein Spannungsverhältnis, aber niemals eine starre Frontstellung zwischen moderner Denkmalpflege einerseits und Emotion, Politik und populärem Schönheitssinn andererseits. Das Fazit, das daraus folgt, ist nicht ein Laissez-faire nach der Devise: Wenn sich ihre antirekonstruktiven Grundsätze im Ernstfall immer wieder als flexibel erwiesen haben, sollte die Denkmalpflege unwidersprochen jeder Rekonstruktionsbegehrlichkeit nachgeben. Aber die Denkmalpflege täte gut daran, ihre Lebenslüge aufzugeben, sie sei jemals eine ausschließlich auf reiner Lehre beruhende, autonome Wissenschaft gewesen, die sich außerfachlichen Gesichtspunkten entziehen könne.37 Ihre Position in den gegenwärtigen Debatten würde durch diese Korrektur des Selbstbilds eher gestärkt als geschwächt.

37 Zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen Denkmalpflege und Politik unlängst: Falser, Michael S.: Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland. Dresden 2008.

M u t z u r W unde ! Optionen für die Zukunft der kriegszerstörten Schlosskirche in der Marienburg Als Westpreußen im 19. Jahrhundert sein Eisenbahnnetz erhielt, wurde die fünfzig Kilometer südöstlich von Danzig gelegene Marienburg zu einer Festung mit Gleisanschluss. Denn die Bahnlinie durchschnitt die Vorburg mit ihren Wirtschaftsgebäuden, Wehrmauern und Türmen. Den Zugreisenden schenkte dieser brutale Eingriff einen atemberaubenden Blick auf die sich auftürmenden Massen der größten Backsteinburg der Welt. Das Erlebnis lässt sich nur durch einen Spaziergang am Ufer des NogatFlusses übertreffen, wo sich das überwältigende Panorama von Hochschloss, Mittelschloss und Hochmeisterpalast als ein von den Zeitläuften scheinbar verschontes Großrelikt mittelalterlicher Ritterwelt darbietet. Die Besichtigung der Innenräume indes ist ein Sturz in die Massenkultur der Gegenwart. Denn neben dem Krakauer Wawel-Hügel, der Warschauer Altstadt und der Danziger Rechtstadt gehört die Marienburg nicht nur zu den kostbarsten Denkmalensembles, sondern auch zu den größten Touristenattraktionen Polens. Hektisch werden die Besucherscharen unter Dauerbeschallung durch anekdotenreiches Palaver der Touristenführer durch die gigantische Anlage geschleust. Dafür entschädigt das reiche Innenleben der einstigen Hauptburg des Deutschen Ordens, in dem sich trutzige Monumentalität mit baukünstlerischer Erlesenheit verbindet. Vor allem in den lichtdurchfluteten Repräsentationsräumen des Hochmeisterpalasts mit ihren filigranen Maßwerkfenstern und feinrippigen Gewölben wird anschaulich, dass die Marienburg nicht nur ein Kloster, sondern auch das Zentrum eines mächtigen Staates war, dessen Eliten der weltlichen Hofkultur Westeuropas nacheiferten. Von seltener Raffinesse ist auch das auf drei Granitsäulen schwebende Sterngewölbe im Großen Remter des Mittelschlosses, dem größten Profanraum der Deutschordensarchitektur, der Vielen als einer der schönsten des gesamten Mittelalters gilt. Einer der grandiosesten Innenräume existiert heute aber nur noch als Ruine: die im Nordflügel des Hochschlosses situierte Schlosskirche. Im Zweiten Weltkrieg zerstört (Abb. 1), danach notdürftig mit einer Betondecke gesichert, blieb das sakrale Zentrum der Marienburg bis zum Jahr 2000 für das Publikum unzugänglich. Seinerzeit hatte man geplant, es erst nach abgeschlossener Wiederherstellung zu öffnen. Doch dann besann man sich eines Besseren und richtete in der Kirche mit ihrem durch die Kriegsverwüstungen offengelegten Mauerwerk eine instruktive bauarchäologische Ausstellung ein. Der Direktion mag diese Entscheidung nicht leicht gefallen sein, brach sie doch mit der Gewohnheit, der Öffentlichkeit einzig die heile Welt des Unversehrten oder den schönen Schein vollendeter Rekonstruktion vorzuführen. Didaktisch ist sie aber ein Glücksfall, denn spätestens in der Schlosskirche wird auch der bauarchäologisch ungeschulte Besucher gewahr, dass die Marienburg entgegen dem ersten Anschein alles andere als ein intakt erhaltenes Denkmal des Mittelalters ist.

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Abb. 1  Diesem Krieg war die Festung nicht gewachsen: die Marienburg von Südosten, in   der Mitte die aufgerissene Schlosskirche. Aufnahme nach 1945.

In ihrer heutigen Bausubstanz ist sie sogar vornehmlich ein Denkmal der Denkmalpflege des 19. und 20. Jahrhunderts und ihrer Visionen des Mittelalters. Dass sie überhaupt noch existiert, verdankt sie einigen glücklichen Wendungen der Geschichte, die sich ihr gegenüber mehrmals als unerwartet gnädig erwies. Zuletzt in dem nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstandenen und nach Westen verschobenen polnischen Staat, der trotz seines oktroyierten politischen Systems und heiklen Verhältnisses zur Geschichte weiter Teile seines neuen Territoriums im Umgang mit unliebsamen Kunstdenkmälern meist auf der Seite der Zivilisation stand – im Unterschied etwa zur Sowjetunion und zur DDR, die ihre preußischen Schlösser in Königsberg und Berlin ohne Federlesens in die Luft jagten, um an ihrer Stelle Monumentalbauten des Sozialismus zu errichten. Der Erhalt des einstigen Machtzentrums des Deutschen Ordens erforderte im Nachkriegspolen allerdings die Überwindung besonderer ideologischer und emotionaler Widerstände. Galten doch die Ordensritter im polnischen Geschichtsbild seit jeher als Inbegriff der Brutalität und Verschlagenheit des deutschen Erbfeindes. Nach 1945 wurde von ihren blutigen Eroberungen eine Linie zur Barbarei der Nazis gezogen. Solche brachialen Geschichtskonstruktionen haben heute dank der deutsch-polnischen Verständigung und dem Dialog der Historiker beider Seiten keine Konjunktur mehr. Nach wie vor wecken aber die „Kreuzritter“, wie die Ordensritter in Polen bezeichnet werden, im historischen Gedächtnis vieler Polen denkbar unangenehme Assoziationen. Die Erfahrungen, die das Land mit ihnen gemacht hatte, waren in der Tat bitter. Als Herzog Konrad von Masowien 1226 dem Deutschen Orden das am rechten Weichselufer gelegene Kulmer Land schenkte, erhoffte er sich dessen Hilfe bei der Unterwerfung und Christianisierung des heidnischen Baltenvolks der Pruzzen, das an den Grenzen seines Herrschaftsgebiets anhaltend für Ungemach gesorgt hatte. Erst einige Jahrzehnte



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zuvor zur Unterstützung der Kreuzfahrer gegründet, blickte der Deutsche Orden auf einen rasanten Aufstieg zurück und hielt Ausschau nach neuen Aufgaben. Als schlagkräftige, kreuzzugserprobte Truppe schienen die Ordensritter für die militärische Hilfeleistung bestens geeignet. Doch Konrad von Masowien hatte nicht geahnt, dass er sich mit seiner Schenkung die Natter an die Brust holte. So jedenfalls sah es später die polnische Geschichtsschreibung, während die Ordensritter in Deutschland als Kulturträger und Exporteure deutscher Tugenden bei der Kolonisierung der Ostgebiete gefeiert wurden. Tatsächlich hatten die Ordensritter nichts weniger Abb. 2  Wunder an der Nogat: der Chor der Schlosskirche im Sinn, als sich mit der ihmit giganteskem Standbild der Muttergottes. Aufnahme nen zugewiesenen Aufgabe um 1900. Vgl. auch Abb. 4 auf S. 20 und Abb. 9–10 auf im Dienste des Polenfürsten S. 40–41 zu bescheiden, und gründeten einen eigenen, stramm organisierten Staat, dem sie die im Laufe eines halben Jahrhunderts eroberten Gebiete der Pruzzen – von denen das spätere Preußen seinen Namen erhielt – schrittweise einverleibten. Unaufhaltsam breitete sich ihr Herrschaftsgebiet nach Norden, bis ins Baltikum aus. Als der Orden 1308 auch noch Danzig und Pommerellen an sich riss, war der Aufstieg zur Großmacht besiegelt – und damit die dauerhafte Feindschaft zu Polen. Um seine Macht zu sichern und eine effiziente Verwaltung seiner Territorien aufzubauen, errichtete der Orden ein Netz von Wehrburgen, von denen sich viele bis heute erhalten haben. Anfangs waren es einfache Holzfestungen, später setzte sich die dreioder vierflügelige Backsteinburg mit einem quadratischen Innenhof durch, die als charakteristischer Bautyp der Deutschordensarchitektur in die Kunstgeschichte einging. Diesem Typus folgte auch die seit den 1270er Jahren errichtete Marienburg, die zunächst nicht mehr als eine unter vielen Burgen des Ordens war: Ein Komtur und

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zwölf Ordensbrüder übten von hier aus die Herrschaft über einen Bezirk des Staates aus. Dies änderte sich erst, als Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen 1309 seinen Sitz von Venedig hierher verlegte. Zum Machtzentrum des gesamten Ordens erhoben, verwandelte sich die Marienburg für fast ein Jahrhundert in eine Riesenbaustelle. Die noch unvollendete Vierflügelanlage wurde zum Hochschloss ausgebaut, an Stelle der früheren Vorburg entstanden das Mittelschloss und der in Flussrichtung heraustretende Hochmeisterpalast, eine neue Vorburg nahm die Wirtschaftsgebäude auf. Die Burgkapelle im Hochschloss wurde nun zu einer veritablen Schlosskirche vom Typus der PariAbb. 3  Pracht der Gotik, historistisch gesteigert: das ser Sainte-Chapelle erweiInnere der Schlosskirche. Aufnahme 1913. tert (Abb. 2, 3). Sie erhielt eine reiche Innenausstattung aus Skulpturen und Malereien, deren Dekorfreude im Kontrast zur asketischen Strenge der meisten Sakralbauten im Ordensland steht. Im Untergeschoss des Chors entstand die Annenkapelle als Grablege für die Hochmeister, an seiner Außenseite wurde in einer Nische eine über acht Meter hohe Figur der Muttergottes aus Kunststein angebracht. Mit farbigem Mosaik verkleidet, kündete das einzigartige Standbild weithin sichtbar vom Triumph des Deutschen Ordens unter dem Schutz seiner Patronin. Als die Bauarbeiten um 1400 abgeschlossen waren, gehörte die Marienburg zu den prächtigsten Residenzen Europas. Doch der Deutsche Orden hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Zenit bereits überschritten. Nachdem Litauen 1385 durch die Vereinigung mit Polen endlich christianisiert worden war, büßte er seine Missionsaufgabe ein. Vor allem aber erwuchs dem theokratischen Staat in dem neuen polnisch-litauischen Großreich erstmals ein Feind, der es mit ihm aufnehmen konnte. Bereits 1410 erlitten die Ordensritter eine vernichtende Niederlage in der Schlacht bei Tannenberg. Wie durch ein Wunder gelang anschließend die Verteidigung der Marienburg. Aber der Nieder-



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gang war unaufhaltsam. Zur Bedrohung von außen gesellten sich Spannungen mit den Ständen und Städten, die die rigide Herrschaft der Ordensbrüder zunehmend als Joch empfanden. Der Konflikt mündete 1454 in einen Aufstand, der den Dreizehnjährigen Krieg mit Polen nach sich zog. Der finanziell ausgeblutete Orden konnte seine Söldnertruppen nicht mehr auszahlen und verpfändete ihnen seine Burgen. Als die Auslösung des Pfandes ausblieb, ließen sich die böhmischen Söldner, die die Marienburg besetzt hielten, nicht länger hinhalten. Sie verkauften sie kurzerhand an den polnischen König, der hier 1457 triumphierend einzog – ein Abb. 4  Fenster zur Geschichte: das teilzerstörte, aber schmachvolles Ende einer konservierte Innere der Schlosskirche. Aufnahme um 2000. glorreichen Geschichte. Einige Jahre später musste der Orden einen Großteil seiner Gebiete an Polen abtreten. Der Hochmeistersitz wurde nach Königsberg verlegt, die Marienburg wurde für drei Jahrhunderte zu einer Nebenresidenz des polnischen Königs. Im 17. Jahrhundert setzten ihr die polnisch-schwedischen Kriege zu. Noch schlechter erging es ihr nach der Ersten Polnischen Teilung von 1772, als sie von den neuen preußischen Hausherren zu einer Kaserne umgebaut und als unerschöpfliche Quelle zur Baumaterialgewinnung missbraucht wurde. Die Rettung brachte die romantische Mittelalterbegeisterung. Nachdem der preußische König zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf öffentlichen Druck einen Abrissstopp verfügt hatte, begann 1817 die Wiederherstellung der Burg, die unbeschwert den damaligen Visionen mittelalterlicher Architektur frönte und als „romantische Phase“ in ihre Restaurierungsgeschichte einging. Im ausgehenden 19. Jahrhundert folgte eine umfassende, diesmal durch sorgfältige baugeschichtliche Untersuchungen fundierte Wiederaufbaukampagne unter Conrad Steinbrecht und Bernhard Schmid, die bis in die Zwischenkriegszeit dauerte. Zum Symbol deutscher Kulturüberlegenheit erklärt, musste die Marienburg, die am Ende des Zweiten Weltkriegs nochmals als Festung diente, einen hohen Preis für

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deutsche Hybris zahlen: Nach wochenlangem Artilleriebeschuss lag ihre Ostfront in Schutt und Asche. Besonders schwer traf es die Schlosskirche: Der Chor war völlig zertrümmert und mit ihm auch die mosaikverkleidete Marienfigur. Nach 1945 wurde die Marienburg jahrzehntelang durch polnische Denkmalpfleger gesichert und wiederaufgebaut. Die Spuren des Krieges sind inzwischen beseitigt – bis auf die Schlosskirche (Abb. 4). Über deren Zukunft sollen die Direktion des in der Marienburg befindlichen Museums und polnische Konservatoren nach Beratungen mit einem internationalen wissenschaftlichen Beirat entscheiden. Bis dahin bleibt die Kirche ein Fenster zur Geschichte der Marienburg und eine Fundgrube für Bauforscher. Nur an wenigen Stellen hat sich der Putz mit Resten von Wandmalereien erhalten, so dass das offene Mauerwerk ungewohnt bereitwillig Auskunft über die Baugeschichte gibt. Im Westteil können Partien der Sängerempore mit ihrem zierlichen Maßwerkdekor bewundert werden. Unter der Betondecke spreizen sich die Dienstbündel des zerstörten Sterngewölbes zum Rippenwerk auf. Darunter standen zwanzig fast lebensgroße Kunststeinfiguren von Aposteln und anderen biblischen Gestalten. Einige von ihnen haben sich, samt Konsolen und Baldachinen, in situ erhalten. Viele weitere Fragmente des Baudekors und der skulpturalen Ausstattung sind, zum Teil bereits konserviert, im benachbarten Dormitorium ausgestellt. Für das künftige denkmalpflegerische Vorgehen stehen mehrere Varianten zur Debatte. Eine von ihnen, die wohl verführerischste, sieht die totale Rekonstruktion des Kirchenraums und sämtlicher fehlender Ausstattungselemente vor. Eine andere beschränkt sich auf die Wiederherstellung des Gewölbes und die Anbringung aller erhaltenen Fragmente an ihrem ursprünglichen Ort. Die dritte Variante schließlich besteht in der Konservierung der Kirche und ihrer Ausstattung in ihrem heutigen, teilzerstörten Zustand. In Zeiten des neuen Rekonstruktionsenthusiasmus, von dem Polen ebenso erfasst ist wie Deutschland, hat diese Status-quo-Variante wohl die schlechtesten Chancen. Das Offenhalten von Wunden und das Zeigen der Zerstörung als einer historischen Schicht sind längst als Ausdruck unzeitgemäßer Flagellantenmentalität in Verruf geraten. Für die Marienburger Schlosskirche, den einstigen Sakralraum, der auch künftig in erster Linie ein musealer Raum bleiben wird, scheint dies aber die angemessenste Lösung. Besteht doch die Aufgabe musealer Präsentation gerade nicht in der Erzeugung von Schein, sondern in der Veranschaulichung von Geschichte. Und dies leistet die Schlosskirche in ihrem jetzigen Zustand am besten. Die Entscheidung, diesen Zustand zu bewahren, wäre über jeden Verdacht der Kasteiungslust erhaben. Denn der gesunde, kraftstrotzende Großorganismus der Marienburg kann seine einzige verbliebene Kriegswunde gut verkraften. Nachtrag: Den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegungen zur Zukunft der Marienburger Schlosskirche bildet der Diskussionsstand von 2001. Entgegen den damaligen Erwartungen wurde die Schlosskirche bis heute in ihrem teilzerstörten Zustand konserviert.

A uf d er Su c h e n ac h d er na tiona le n Form Zur Architektur der Stalinzeit in der DDR und in Polen Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den Ländern Ostmitteleuropas die stalinistische Architekturdoktrin zwangsimportiert: Die Baukunst sollte, getreu der für alle Kunstgattungen verbindlichen Formel des Sozialistischen Realismus, „sozialistisch im Inhalt und national in der Form“ sein. Der sozialistische Inhalt – Gebäude für die Werktätigen – war eine Konstante, die nationale Form eine Variable. Damit waren die Architekten in den einzelnen Staaten aufgefordert, der geächteten internationalen Moderne eine landesspezifische „Baukunst nationaler Traditionen“ entgegenzusetzen. Das Modell für diese äußere Vielfalt in der erzwungenen Einheit war die seit den frühen 1930er Jahren entwickelte allsowjetische Architekturpolitik, wie sie beispielhaft in der 1939 eröffneten Allunions-Landwirtschaftsausstellung in Moskau einen Niederschlag fand.1 Dort waren für die einzelnen Sowjetrepubliken Pavillons errichtet worden, deren Formensprache an die jeweiligen nationalen bzw. regionalen Bautraditionen anknüpfen sollte (Abb. 1, 2). Das Konzept war in die stalinistische Kulturpolitik eingebettet, die den politisch gleichgeschalteten Republiken vordergründig ein gewisses Maß an kultureller Eigenständigkeit einräumte. Nach der Ausweitung der sowjetischen Machtsphäre auf Ostmitteleuropa wurde dieses Konzept auf die hinzugekommenen Satellitenstaaten übertragen.2 Die verordnete Konstruktion eines eigenen Nationalstils bereitete von Land zu Land ganz unterschiedliche Probleme. Als Beispiele werden im Folgenden zwei Staaten mit denkbar gegensätzlichen historischen Voraussetzungen betrachtet: die DDR und die Volksrepublik Polen. In Deutschland war das nationale Paradigma durch die nationalsozialistische Vergangenheit kontaminiert. Ungeachtet dieser schlechten Ausgangslage wurde in der DDR 1 Grundlegende Arbeiten zur Architektur der Stalinzeit in der Sowjetunion (Auswahl): Chmelnizki, Dmitrij: Die Architektur Stalins. Studien zu Ideologie und Stil. 2. Bde, Stuttgart 2007; Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935. Hg. von Harald Bodenschatz und Christiane Post. Berlin 2003; Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit. Hg. von Peter Noever. München – New York 1994; Tarchanow, Alexej; Kawtaradse, Sergej: Stalinistische Architektur. München 1992; Kopp, Anatole: L’architecture de la période stalinienne. 2. Aufl., Grenoble 1985. Opulenter Bildband: Dreissig Jahre sowjetische Architektur in der RSFSR. Hg. von der Deutschen Bauakademie. Leipzig 1951. 2 Vergleichende Untersuchung zur Architektur der Stalinzeit in den Ländern Ostmitteleuropas: Åman, Anders: Architecture and Ideology in Eastern Europe during the Stalin Era. An Aspect of Cold War History. New York 1992. Aufsatzsammlungen zur stalinistischen Architektur in verschiedenen Ländern: Centropa. A Journal of Central European Architecture and Related Arts 1 (2001), Nr. 2; Stalinistische Architektur unter Denkmalschutz? Eine Tagung des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz in der Architektenkammer Berlin 6.–9. IX. 1995. München 1996.

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im Zuge der zu Beginn der 1950er entfachten Antikosmopolitismus-Kampagne in allen Bereichen der Kultur kategorisch eine Besinnung auf nationale Traditionen eingefordert.3 In diesem Sinne sah bereits die „Kulturverordnung“ vom März 1950 Maßnahmen zur „Pflege und Entwicklung einer neuen fortschrittlichen deutschen Kultur“ vor, die Abb. 1  Moskau, Allunions-Landwirtschaftsausstellung, „auf dem großen nationalen eröffnet 1939, georgischer Pavillon. Kulturerbe des deutschen Volkes“ aufbauen sollte.4 In Bezug auf die Architektur wurde in den „Grundsätzen des Städtebaues“ vom Juli 1950 angeordnet: „Die Architektur muß [...] der Form nach national sein.“5 In einem Entwurf zu den „Grundsätzen der Architektur“ vom Februar 1951 schließlich erging an die Bauschaffenden die Forderung: „Vor allem müssen die nationalen Traditionen berücksichtigt werden, die der Eigenart des deutschen Volkes entsprechen.“6 Als im Dezember 1951 in Berlin die Deutsche Bauakademie offiziell gegründet wurde, war der neue Kurs bei den maßgebenden Architekten bereits verinnerlicht. So konnte Kurt Liebknecht, der erste Akademiepräsident, der den Zweiten Weltkrieg in Mos3 Grundlegende Arbeiten zur Architektur der Stalinzeit in der DDR (Auswahl): Hain, Simone: Die Architekturdoktrin der „Nationalen Traditionen“ in der frühen DDR: ein Versuch der symbolischen Konstruktion von Heimat, Distinktion und Dignität gegen die „internationale Bahnhofhaftigkeit“. In: Die Architektur, die Tradition und der Ort: Regionalismen in der europäischen Stadt. Hg. von Vittorio Magnago Lampugnani. Stuttgart – München 2000, S. 237–271; Palutzki, Joachim: Architektur in der DDR. Berlin 2000; Durth, Werner; Düwel, Jörn; Gutschow, Niels: Architektur und Städtebau der DDR. Bd. 1: Ostkreuz. Personen, Pläne, Perspektiven, Bd. 2: Aufbau. Städte, Themen, Dokumente. Frankfurt am Main – New York 1998; 1945. Krieg – Zerstörung – Aufbau. Architektur und Stadtplanung 1940–1960. Hg. von Jörn Düwel. Berlin 1995; Hoscislawski, Thomas: Bauen zwischen Macht und Ohnmacht: Architektur und Städtebau in der DDR. Berlin 1991; Schätzke, Andreas: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945–1955. Braunschweig – Wiesbaden 1991; Topfstedt, Thomas: Grundlinien der Entwicklung von Städtebau und Architektur in der Deutschen Demokratischen Republik 1949 bis 1955. 2 Bde, Dissertation Universität Leipzig 1980 (Typoskript). Elektronische Publikation: Kirchner, Jörg: Architektur der nationalen Tradition in der frühen DDR (1950–1955). Zwischen ideologischen Vorgaben und künstlerischer Eigenständigkeit. Dissertation Universität Hamburg 2010. Abrufbar unter: ediss.sub.uni-hamburg.de/voll texte/2010/4774/pdf/eDissertation.pdf (Aufruf 4. August 2011). Die Ergebnisse dieser Arbeit konnten im vorliegenden Aufsatz nicht mehr berücksichtigt werden. 4 Auszugsweise abgedruckt in: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 136–137. 5 Für einen fortschrittlichen Städtebau, für eine neue deutsche Architektur. Grundsätze und Beiträge zu einer Diskussion. Hg. von der Deutschen Bauakademie. Leipzig 1951, S. 28. 6 Abgedruckt in: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 114–115.



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kau verbracht hatte und nun bei der Transformation der DDR-Architektur nach den Prinzipien des Sozialistischen Realismus ein zentrale Rolle spielte, in seiner Rede zum Gründungsakt versichern: „Als Hauptaufgabe der bisherigen Arbeit wurde, entsprechend den Hinweisen und der helfenden Kritik der SED über Fragen der Kunst, der Kampf für eine deutsche Architektur, für Abb. 2  Moskau, Allunions-Landwirtschaftsausstellung, die kritische Aneignung der eröffnet 1939, armenischer Pavillon. nationalen Traditionen gegen den Kosmopolitismus und den Formalismus geführt.“7 Ein Zeichen für den besonderen Eifer des Akademiepräsidenten bei der Durchsetzung der Doktrin war die damals geläufige Abkürzung „KULINATRA“ („Kurt Liebknechts Nationale Tradition“). So kategorisch die Forderung nach Aufnahme der nationalen Traditionen vorgetragen wurde, so drastisch wurde auch das Feindbild gezeichnet: der „Formalismus“ und der „Kosmopolitismus“. Gemeint war die funktionalistische Architektur der Moderne, die nicht nur im Westen ihre Triumphe feierte, sondern in den ersten Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch eine Reihe von Zeugnissen auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der frühen DDR hinterlassen hatte. Diese wurden nun als „freudlose und häßliche Kästen“, die der Bevölkerung als Wohnungen nicht zumutbar seien, einer geharnischten Kritik unterzogen.8 Die Gefahren des Formalismus und Kosmopolitismus wurden beispielhaft in einer Entschließung des Zentralkomitees der SED vom März 1951 beschworen: „Das wichtigste Merkmal des Formalismus besteht in dem Bestreben, unter dem Vorwand oder auch der irrigen Absicht, etwas ‚vollkommen Neues‘ zu entwickeln, den völligen Bruch mit dem klassischen Kulturerbe zu vollziehen. Das führt zur Entwurzelung der nationalen Kultur, zur Zerstörung des Nationalbewusstseins, fördert den Kosmopolitismus und bedeutet damit eine direkte Unterstützung der Kriegspolitik des amerikanischen Imperialismus.“9 Sympathien für den Formalismus erfüllten somit den Tatbestand des Landesverrats.

7 Zit. nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 115. 8 Henselmann, Hermann: Einige kritische Bemerkungen zum Wohnungsbau. In: Deutsche Architektur 1 (1952), Nr. 3, S. 106–113, hier S. 113. 9 Zit. nach: Topfstedt 1980 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 44.

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In den Stellungnahmen gegen Formalismus und Kosmopolitismus sind immer wieder Anleihen bei der nationalsozialistischen Propaganda gegen die „Entartete Kunst“ unübersehbar. So heißt es etwa in einem Artikel in der „Täglichen Rundschau“ vom Januar 1951 unter dem Titel „Wege und Irrwege der modernen Kunst“: „Eine Kunst [...], die sich Entartung und Zersetzung zum Vorbild nimmt, ist pathologisch und antiästhetisch.“10 Der Autor des unter dem Pseudonym N. Orlow publizierten Artikels war Wladimir Semjonow, ein ranghoher Vertreter der Sowjetunion in der DDR.11 Aber auch Repräsentanten der DDR zeigten kaum Berührungsängste gegenüber der Nazi-Rhetorik. Der SED-Kulturfunktionär Ernst Hoffmann etwa warf 1952 in der Zeitschrift „Deutsche Architektur“ den Kritikern „der schöpferischen Übernahme der Errungenschaften der Sowjetarchitektur“ vor, dass sie sich unter dem Einfluss des „formalistischen Giftes“ vom „gesunden Kunstempfinden des Volkes“ entfernt hätten, und diagnostizierte bei ihnen eine „Gehirnverrenkung“.12 In einem im Februar 1951 erschienenen Artikel des „Neuen Deutschland“, um ein letztes Beispiel zu nennen, wurden unter dem Titel „Wo stehen die Feinde der deutschen Kunst?“ in erprobter Manier Werke der „deutschen Kunst“ solchen der internationalen Moderne gegenübergestellt.13 Zur Charakterisierung der letzteren wurde zwar der Nazi-Begriff „entartet“ durch „kosmopolitisch“ ersetzt. Ansonsten erinnert aber nicht nur das Prinzip, sondern auch die Auswahl der Beispiele – die „deutsche Kunst“ wird durch Bildnisse von Holbein und Dürer, eine Plastik von Peter Vischer und das backsteingotische Rathaus von Tangermünde vertreten – an die Nazi-Propaganda. Bei der Lektüre der Quellen zur Antikosmopolitismus-Kampagne kann einem auch heute noch das Blut in den Adern gerinnen. Doch soll an dieser Stelle weder moralisiert noch einer dümmlichen Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus das Wort geredet werden. Vielmehr gilt es, der Frage nachzugehen, welche ideologischen und politischen Voraussetzungen dazu geführt haben, dass die Kulturpolitik der frühen DDR ein halbes Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs – zu einer Zeit, als der Missbrauch der Nationalkultur durch die Nazis und deren Hasstiraden noch in frischer Erinnerung waren – nicht nur so vorbehaltlos und aggressiv für die nationalen Traditionen focht, sondern sich bei der Hetze gegen die Moderne und der Brandmarkung ihrer Vertreter auch die propagandistischen Mittel des NS-Regimes aneignete. Werner Durth, Jörn Düwel und Niels Gutschow, die Autoren des 1998 erschienenen monumentalen Grundlagenwerks über Städtebau und Architektur der DDR, verweisen überzeugend auf den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR, die sich per definitionem als das andere, von der Schuld der jüngsten Vergangenheit un10 Abgedruckt in: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 138–139. 11 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 111. 12 Hoffmann, Ernst: Ideologische Probleme in der Architektur. In: Deutsche Architektur 1 (1952), Nr. 1, S. 20–23; Nr. 2, S. 73–75; Nr. 3, S. 131–138, hier S. 74–75. Dazu ausführlicher: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 71–72. 13 Abgedruckt in: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 140, 143.



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befleckte Deutschland verstand.14 Die DDR begriff sich bekanntlich als Erbin und zugleich Krone der „fortschrittlichen Traditionen“ des deutschen Volkes. Die übrigen Traditionsstränge, namentlich diejenigen, die als Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus galten, schob sie der Bundesrepublik zu. Dieses Selbstverständnis erlaubte es, die Wurzeln des Nationalsozialismus nicht in der eigenen Geschichte, sondern in der Einwirkung fremder Mächte, des „Kapitalismus“ und des „Imperialismus“, zu sehen. So wurde es auch möglich, voller Pathos ein Lob des nationalen Erbes anzustimmen, ohne darin ein politisches Minenfeld zu erblicken. Dass der Sozialistische Realismus in allen Kunstgattungen im Wesentlichen aus denselben Quellen schöpfte wie die Nazi-Kunst, wurde dementsprechend in der DDR kaum, und schon gar nicht als Problem, thematisiert. So fand denn auch im Rahmen der Antikosmopolitismus-Kampagne keine intensive Auseinandersetzung mit der Architektur des Dritten Reichs statt. Symptomatisch für diesen Scheuklappenblick sind Stellungnahmen Walter Ulbrichts, der sich wiederholt dazu verstieg, gegen jede Evidenz eine Parallele zwischen den „hitlerischen Kasernenbauten“ und den neuen „seelenlosen Kästen des amerikanischen Imperialismus“ in Westdeutschland zu ziehen.15 Folgerichtig sah er denn auch ausgerechnet in den funktionalistischen Bauten der Weimarer Republik, die nach seiner – ebenso wie Hitlers – Meinung „nicht der nationalen Eigenart unseres Volkes entsprachen“, ein Vorbild für die Architektur der NS-Zeit.16 Ähnlich undifferenziert, aber im Kern etwas kompetenter, äußerte sich über die NS-Architektur Kurt Liebknecht: Mit ihrer „ausgesprochene[n] Gigantomanie“ sei diese „ein Ausdruck der unmenschlichen Repräsentationssucht der faschistischen Kulturbarbaren“. Dabei hätten „historische Formen“ herhalten müssen, „die vergewaltigt wurden entweder durch eine schematisch erdrückende Massierung oder durch Verwendung maßstabloser Bauglieder mit klotzigen, starren, leblosen Profilen.“ Diese Architektur sei deshalb eine „Schändung des klassischen Erbes und eine Diffamierung unserer nationalen Bautraditionen.“17 Nach einem solchen Verdammungsurteil über den Umgang der NS-Architektur mit dem Bauerbe durch den Staatsarchitekten der DDR konnte es natürlich niemand wagen, öffentlich nach einer möglichen konzeptionellen und formalen Verwandtschaft zwischen der neuen Baukunst nationaler Traditionen und der des Dritten Reichs zu fragen. Dass es gleichwohl ohne jeden Zweifel ein gewisses Bewusstsein für die prekäre Nähe zur NS-Architektur gab, belegt eine Bemerkung Hermann Henselmanns, eines anderen führenden DDR-Architekten. Be14 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 108–109. Zum antifaschistischen Gründungsmythos: Flacke, Monika; Schmiegelt, Ulrike: Deutsche Demokratische Republik. Aus dem Dunkel zu den Sternen: Ein Staat im Geiste des Antifaschismus. In: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Hg. von Monika Flacke. Bd. 1, Mainz 2004, S. 173–189; Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken. Hg. von Manfred Agethen, Eckhard Jesse und Ehrhart Neubert. Freiburg – Basel – Wien 2002. 15 Zit. nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 116. 16 Zit. nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 83. 17 Zit. nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 116.

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zeichnenderweise stammt sie aber aus etwas späterer Zeit, nämlich vom Juni 1955. Im Rahmen einer „Selbstkritik in der Bauakademie“ begründete Henselmann damals in gewundenen Worten die kurz zuvor eingeleitete, ebenfalls durch die sowjetische Politik diktierte Abkehr von der Baukunst nationaler Traditionen. „Ich bin der Meinung“, sagte er über die nun zu überwindende stalinistische Architektur, „daß der Eklektizismus Ausdruck der Unfähigkeit ist, die großen bewegenden Ideen unserer Gegenwart mit künstlerischen Mitteln zu lösen, und daß eine formalistische Überbewertung der ideellen Seite der Baukunst erfolgt, die uns – noch dazu unter unseren deutschen Verhältnissen – hart in die Nähe der Nazi-Architektur bringt.“18 Doch zurück zu den spezifischen Voraussetzungen für den Import der „Baukunst der nationalen Traditionen“ in der DDR. Durth, Düwel und Gutschow führen als einen weiteren Grund für den Eifer der DDR-Führung bei der Umsetzung der Doktrin eine innenpolitische Intention an: Es sei darum gegangen, „die Ostintegration der DDR intellektuell und emotional zu vermitteln. Die Betonung des Nationalen, etwa einer eigenen Formensprache der Architektur, diente als Verschleierung der stalinistischen Transformationspolitik.“19 In der vordergründigen Pflege des nationalen Erbes wurde zweifellos, wie bereits beim Zusammenschweißen der Sowjetrepubliken, ein geeignetes Instrument gesehen, die Bevölkerung über das Maß der politischen und kulturellen Gleichschaltung hinwegzutäuschen. Es handelte sich hier allerdings nicht um eine selbst entwickelte Verschleierungsstrategie des deutschen Satellitenstaates, sondern um ein bewährtes Mittel der sowjetischen Kulturpolitik, das nun auf die DDR übertragen wurde. Die DDR-Führung tat nichts anderes, als die Postulate Punkt für Punkt zu erfüllen, die ihr von sowjetischen Kulturfunktionären diktiert worden waren. Bezeichnenderweise war am Anfang der Antikosmopolitismus-Kampagne die „Tägliche Rundschau“, das Sprachrohr der Sowjetischen Kontrollkommission, tonangebend. Damit ist der dritte und wichtigste Grund für die rasche Aneignung der Baudoktrin angesprochen, der ganz simpel und keineswegs DDR-spezifisch ist: Weder die Führung noch die Architektenschaft der DDR hatten eine andere Wahl. Die auf den Ostblock ausgedehnte sowjetische Kulturpolitik erlaubte in der Stalinzeit keinen Sonderweg, sei er noch so dringend geboten aufgrund der historischen Voraussetzungen des betreffenden Landes. So stand es den Architekten allenfalls frei, über die Auswahl der nationalen Zutaten zum allgemeingültigen, neoklassizistischen Formenkanon des stalinistischen Bauens zu entscheiden – freilich unter Ausschluss des als dekadent angesehenen Historismus des 19. Jahrhunderts und des verfemten Neuen Bauens. Ein Verzicht auf die Aufnahme des nationalen Erbes war jedoch nicht möglich. Wie gleichgeschaltet die Architekturpolitik des Ostblocks in der Stalinzeit war, wird deutlich, wenn man die antikosmopolitistischen Suaden von Politikern und Architekten in den einzelnen Ländern zusammenstellt, die nicht nur im Inhalt, sondern sogar in 18 Überarbeitete, in einem Zeitungsartikel publizierte Fassung der Rede, abgedruckt in: Durth/Düwel/ Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 154. 19 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 111.



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den Formulierungen nahezu identisch sind. Als Beispiel sei eine Rede des polnischen Staatschefs Bolesław Bierut vom Juli 1949 zitiert: „Ähnlich wie bei der Durchführung von Bauarbeiten müssen wir auch auf dem Gebiete der architektonischen Formen die Vernachlässigungen unseres Bauwesens ausgleichen. In diesen Formen stecken noch die Überbleibsel des bourgeoisen Kosmopolitismus, dessen leerer Formalismus in der Architektur in Gestalt von farblosen, kastenartigen Bauten zum Ausdruck kommt. Unsere Architekten müssen in größerem Maße an die gesunden Traditionen unserer nationalen Architektur anknüpfen, sie den neuen Aufgaben und den neuen Möglichkeiten anpassen und ihnen einen neuen sozialistischen Inhalt geben.“20 Es ließe sich eine Fülle ähnlicher Zitate aus Polen, der DDR und anderen Ostblockländern anführen. In ihrer Austauschbarkeit belegen sie einen Sachverhalt, der allgemein bekannt ist, aber mitunter in den Hintergrund geraten kann, wenn das Bauen in einem der Länder isoliert betrachtet wird: dass die Staaten der sowjetischen Machtsphäre keine Hoheit über die eigene Architekturpolitik hatten. Wie wurde nun die Forderung nach Wiederbelebung des nationalen Bauerbes in der DDR-Architektur umgesetzt? Wann immer in den Verlautbarungen von nationalen Traditionen die Rede war, fehlte nicht der einschränkende Zusatz „fortschrittliche Traditionen“. Nur diese sollten die deutschen Architekten weiterentwickeln, und zwar „kritisch“ und „schöpferisch“ – auch dies wurde stets betont, galt doch der „kritischschöpferische“ Umgang mit der baulichen Überlieferung als Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Eklektizismus. Was aber waren die „fortschrittlichen Traditionen“, zu denen ja die Moderne, die sich den Fortschritt wie keine andere Epoche auf die Fahnen geschrieben hatte, nicht gezählt werden durfte? Im Prinzip kamen alle Epochen der deutschen Baukunst von der Romanik bis zum Klassizismus in Frage. Dies belegt zum Beispiel das 1952 von der Deutschen Bauakademie herausgegebene auflagenstarke Bilderbuch „Deutsche Baukunst in zehn Jahrhunderten“, das nicht zuletzt als Stilfibel für Architekten konzipiert war.21 Im knappen Einführungstext wurden als fortschrittlich angesehene Elemente der einzelnen Epochen herausgestellt – mit Ausnahme natürlich der unter der Überschrift „Verfall der Baukunst“ behandelten Perioden des späten 19. Jahrhunderts und der Moderne.22 Der Romanik hielten die Autoren etwa zugute, dass ihre Kaiserdome von der Macht der Kaiser kündeten, die im 12. Jahrhundert mit Unterstützung des Bürgertums „den ersten Versuch zur Errichtung einer Deutschland zusammenfassenden Zentralgewalt machten, der sich auch die Kirche noch fügte“. Bei der Gotik wurde „die Eroberung der Wirklichkeit“ durch die Bauplastik hervorgehoben, die so „großartige realistische Bildwerke“ wie den Bamberger Reiter und die Naumburger Stifterfiguren ermöglicht habe. Nicht unerwähnt blieben erwartungsgemäß auch die gotischen Rathäuser mit ihrer 20 Bierut, Bolesław: Der Sechsjahrplan des Wiederaufbaus von Warschau. Warszawa 1951, S. 329. 21 Deutsche Baukunst in zehn Jahrhunderten. Hg. vom Institut für Theorie und Geschichte der Baukunst der Deutschen Bauakademie. Dresden 1952. Zur Publikation des Buches: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 100–101. 22 Deutsche Baukunst… 1952 (wie Anm. 21), S. 5–15. Die folgenden Zitate ebenda.

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„Verbundenheit mit der Volkskultur“, welche „die fortschrittlichen Ideen des Bürgertums“ widerspiegelten. Gleiches wurde auch dem als Hauptbeispiel für die Renaissance angeführten Augsburger Rathaus bescheinigt, diesmal allerdings aufgrund seiner „inneren und äußeren Klarheit“, die sich besonders bei einem Vergleich mit den „in verzerrte gotische Stilformen zurückfallenden, teils ein übertriebenes Pathos aufbietenden Kirchen der reaktionären Gegenreformation“ zeige. Mit der Baukunst des Barock, die „Ausdruck absolutistischer Macht“ sei, taten es sich die Autoren etwas schwer. Dennoch fanden einige Bauten lobende Erwähnung, darunter der Zwinger, die Hofkirche und die Frauenkirche Abb. 3  Hermann Henselmann mit Kapitellmodellen in Dresden oder die Berliner für die Hochhäuser am Strausberger Platz. Aufnahme und Potsdamer Bauten Knobels1953. dorffs. Im Klassizismus schließlich habe die „fortschrittliche Bourgeoisie wieder direkten Einfluß auf die Architektur“ ausgeübt. Seine Formensprache sei „realistischer Art“. Als Beispiele wurden unter anderen Langhans‘ Brandenburger Tor und Schinkels Neue Wache, Schauspielhaus und Altes Museum angeführt. Der Klassizismus sei zwar „die letzte einheitliche und umfassende baukünstlerische Leistung des Bürgertums“, enthalte aber trotz seiner „vorwärtsweisenden Haltung“ nicht mehr „den großen revolutionären Schwung, der dreihundert Jahre früher die Renaissance entstehen ließ“. Zum Leitstil des stalinistischen Bauens in der DDR wurde dennoch nicht die Renaissance, sondern, dem sowjetischen Vorbild folgend, der Klassizismus. Dafür hatte sich vor allem Kurt Liebknecht, der Präsident der Deutschen Bauakademie, stark gemacht. Denn der Klassizismus sei, so verkündete er, „die letzte große realistische Bauepoche, die aus den humanistischen Ideen der französischen Revolution entstand“. Dieser Epoche verdanken wir Liebknecht zufolge „eigentlich zum ersten Male öffentliche Bauten [...], die schon einer größeren Schicht des Volkes [...] zugänglich waren im Gegensatz zu den Bauten des Absolutismus“. Er favorisierte den Klassizismus aber nicht allein wegen dieses selektiv wahrgenommenen historischen Kontextes, sondern auch wegen seiner formalen Qualitäten und Gestaltungsprinzipien: Sein „entscheidende[s] Kennzeichen“



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sei nämlich „das Bemühen um die Erfassung der für die Baukunst entscheidenden Gesetzmäßigkeiten“.23 Die Betonung dieses Aspekts war symptomatisch, passte doch das Streben nach dem Gesetzmäßigen vorzüglich zum wissenschaftsgläubigen marxistisch-leninistischen Weltbild, das alle Phänomene aus Gesetzen abzuleiten suchte. Eine deutliche Grenze zwischen Klassizismus, Antike und Renaissance wurde allerdings nicht gezogen. Es ging weniger um eine direkte Orientierung an konkreten klassizistischen Bauten als um die Aneignung des in ihnen verarbeiteten „klassischen Erbes“. Abb. 4  Berlin, Hochhaus an der Weberwiese, erbaut 1951. Dementsprechend forderte Liebknecht die „Zusammenstellung einer Architekturgrammatik über die Lehre von der Harmonie der Proportionen und des Maßstabes“ sowie die „Herausgabe der klassischen Architekturwerke von Palladio, Alberti, Vignola“.24 Auch dafür war die sowjetische Architekturpolitik richtungsweisend geweAbb. 5  Berlin, Deutsche Sporthalle, erbaut 1951. sen. So hatte der Präsident der Russischen Architekturakademie, A. Alexandrow, 1935 klargestellt: „Unter klassischer Architektur verstehe ich grundsätzlich die antike Architektur des fünften Jahrhunderts, Roms und der 23 Zit. nach: Topfstedt 1980 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 45. 24 Für einen fortschrittlichen Städtebau… 1951 (wie Anm. 5), S. 39.

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Abb. 6    Rostock, Lange Straße, erbaut 1953–59.

Renaissance“.25 Die Hinwendung zum klassischen Erbe zog in den 1930er Jahren in der Sowjetunion und in den 1950er Jahren auch in ihren Satellitenstaaten eine Flut von Editionen der Klassiker der Architekturtheorie, von Vitruv bis Palladio, nach sich.26 Für die meisten DDR-Architekten, die im Geiste des Neuen Bauens ausgebildet worden waren, hatte die neue Doktrin zur Folge, dass sie schlagartig ihre Überzeugungen über Bord zu werfen hatten, wollten sie weiterhin in ihrem Beruf tätig sein. Zu den zur Baukunst der nationalen Traditionen zwangsbekehrten Ex-Modernisten 25 Zit. nach: Tarchanow/Kawtaradse 1992 (wie Anm. 1), S. 54. 26 Åman 1992 (wie Anm. 2), S. 261–262.



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gehörte auch Hermann Henselmann (Abb. 3), der sich bereits mit dem Entwurf für das Wohnhochhaus an der Weberwiese in Berlin von 1951 (Abb. 4) als höchst lernfähig erwies. Mit seinen kräftigen Eckrisaliten, dem rustizierten Sockelgeschoss und der dekorativen Attika zeigt das Hochhaus zwar nur verhaltene Anklänge an das klassische Bauerbe. Dafür hatte Henselmann bei der Präsentation des Projekts rhetorisch überzeugt, indem er sich emphatisch auf Schinkel als sein Vorbild berief. Der Entwurf wurde als Gegenbild zu den zuvor entstandenen, als formalistisch geschmähten funktionalistischen Wohnbauten an der künftigen Stalinallee gefeiert und avancierte damit zum Symbolbau des architekturpolitischen Kurswechsels.27 Ein stärkeres neoklassizistisches Gepräge zeigten Abb. 7  Rostock, Kerkhoffhaus, erbaut um 1470, später vor allem die „Gesellschaftsverändert. bauten“ für öffentliche Einrichtungen, etwa Richard Paulicks Deutsche Sporthalle an der Stalinallee von 1951 (Abb. 5), der ebenfalls von höchster Stelle eine Signalwirkung als „Schritt in die richtige Richtung“ attestiert wurde.28 Für die in den Folgejahren entstandenen Bauten der Stalinallee war ein Pasticcio aus mitunter sehr frei interpretierten klassischen Motiven wie Säulen und Pilastern, Gesimsen, Ornamentfriesen, Giebeln und Balustraden typisch. Die Abweichungen dieser Bauten von ihren Moskauer Vorbildern beschränken sich im Wesentlichen 27 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 118, 310–312. 28 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 99, 122.

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Abb. 8  Dresden, Altmarkt, Ostseite, erbaut 1953–56.

auf einige Anleihen bei der Berliner Architekturgeschichte und den etwas schwächer ausgeprägten Mut zur Monumentalität. Wenn man indes nach Sonderleistungen der damaligen DDR-Architektur sucht, muss man einen Blick in die Provinz werfen. Dort sollten nämlich regionale Traditionen weiterentwickelt werden. Zu einem vehementen Verfechter dieses Regionalismus wurde Henselmann. In einem Heft der Zeitschrift „Deutsche Architektur“ von 1952 konstatierte er, dass sich die „Vorstellungen von der architektonischen Schönheit“ bei den Menschen „mit der Landschaft, die sie lieben“, also mit ihrer Heimat, verbänden. Dementsprechend bezeichnete er „die Berücksichtigung der historischen Eigenarten unserer Städte“ als „eine der wesentlichsten Aufgaben, die sich aus unserer veränderten Grundeinstellung zu der Architektur des Wohnungsbaus ergeben. [...] Wem stünden nicht“, fuhr er fort, „bei der Erwähnung Dresdens die Schöpfungen unserer großen Baumeister von Pöppelmann bis Semper vor Augen? Wer erinnert sich nicht bei der Nennung Dessaus an Erdmannsdorf [...]? An den Reichtum dieser Traditionen gilt es anzuknüpfen, um eine Aussage zu leisten, die von den Menschen unserer Tage begriffen wird [...]“29

29 Henselmann 1952 (wie Anm. 8), S. 107, 113.



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Zu diesem Zweck wurden bei den Planungen für Dresden, Leipzig, Magdeburg und Rostock renommierte Architekten von der Bauakademie als „Konsultanten“ berufen, die die Anwendung der regionalen Traditionen durch die örtlichen Architekten überwachen sollten.30 In dieser Funktion verschrieb Henselmann den Rostocker Architekten die Rezeption der Backsteingotik. Das Ergebnis ist die Bebauung der Langen Straße (Abb. 6), zu deren Inspirationsquellen spätgotische Bürgerhäuser wie zum Beispiel das um 1470 errichtete, später mehrmals veränderte Kerkhoffhaus (Abb. 7) gehörten. Während sich in Rostock die Spätgotik anbot, führte in Dresden kein Abb. 9  Dresden, Dinglingerhaus, erbaut Weg an dem – unter ideologischen Geum 1711–16. sichtspunkten eigentlich nicht übermäßig geschätzten – Barock vorbei. So erhielt die Neubebauung des Altmarkts ein barockisierendes Gewand (Abb. 8). Als eines der Vorbilder diente Pöppelmanns im frühen 18. Jahrhundert erbautes, im Krieg zerstörtes Dinglingerhaus am Jüdenhof (Abb. 9). Sowohl in Rostock als auch in dem für seinen monarchischen Glanz berühmten Dresden wurden keine kirchlichen oder fürstlichen Bauten, sondern Werke der bürgerlichen Architektur zum Vorbild erkoren, denn nur diese ließ sich den geforderten fortschrittlichen Traditionen zurechnen.31 Die Rostocker Lange Straße und der Dresdner Altmarkt sind die prominentesten Beispiele für die Rezeption regionaler Traditionen in DDR-Architektur der 1950er Jahre. In Städten wie Leipzig oder Magdeburg, in denen es keine so eindeutig herausragende Epoche der Architekturgeschichte gab, wurde, dem Berliner Modell folgend, vornehmlich auf den Klassizismus als Universalstil zurückgegriffen.32 Gleichwohl nahm man es mit den regionalen Traditionen sehr ernst. Ihre systematische Entwicklung galt als dringendes Desiderat. Die Deutsche Bauakademie legte 1953 sogar ein Thesenpapier mit dem Titel „Zur Klärung des Begriffes Bautradition: Eine Methodik zur Ermittlung der fortschrittlichen örtlichen bzw. bezirklichen Traditionen“ vor. Darin wurde den Architekten empfohlen, „durch eigene Studien die fortschrittlichen historischen Positionen und ihren gestalterischen Ausdruck zu suchen und zu erkennen.“ Die Schrift sollte dafür eine Anleitung liefern. So wurde etwa eine Untersuchung der „Stellung und Herkunft des Architekten“ der als Vorbild in Frage 30 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 118–119. 31 Åman 1992 (wie Anm. 2), S. 101–102. 32 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 119.

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kommenden Bauten sowie seiner Beziehung zum Bauherrn für unerlässlich erklärt, um die „fortschrittliche historische Position“ und die „demokratischen und sozialistischen Elemente“ der analysierten Bauten herauszustellen.33 Diese fundamentalideologische Voruntersuchung des regionalen Bauerbes sollte das Entwerfen erleichtern. In einer Ergänzung zu der Schrift wurde die DDR in vier Regionen mit jeweils charakteristischen Stilepochen unterteilt: Der Ostseeküste wurde die Gotik zugewiesen, Sachsen der Barock, Brandenburg und Anhalt der Klassizismus und der Barock, schließlich Thüringen und dem Harzgebiet nicht näher charakterisierte „regionalistische Bezüge“.34 Einen ähnlichen Versuch zur Charakterisierung regionaler Eigenheiten – allerdings unter Verzicht auf die Zuweisung herausragender Stilepochen – unternahm Theodor Oehme in seinem 1955 publizierten Buch „Kunst und Tradition im deutschen Bauen“.35 Es blieb jedoch nicht bei der Theorie: Die Bauakademie erarbeitete auch entsprechende Wohnhaustypen für die einzelnen Regionen. Die lokalen Bezüge wurden dabei allerdings aus Kostengründen auf ein Minimum reduziert, wie die 1953 in der Zeitschrift „Deutsche Architektur“ publizierten Beispiele (Abb. 10) zeigen.36 Die beiden oberen Musterfassaden repräsentieren den Typ für die Ostseeküste, der sich entgegen dem Postulat des Thesenpapiers nicht an die Gotik, sondern an Klassizismus und Barock anlehnt. In der Bildunterschrift heißt es: „Typisch ist die geringe Bewegung der Fassaden und der Architekturdetails, nur flache Risalite (Schwedischer Einfluß unverkennbar).“ Unten schließen sich Fassadenansichten des Brandenburger Typs an. Die Charakterisierung lautet: „Stärkere Risalite und Gesimse, stärkere Gliederung der Fassaden“. Dass die systematische Suche nach den regionalen Traditionen nur eine Episode blieb, liegt an der Kürze der Zeit, die ihr beschieden war. Denn bereits 1955 wurde nach einem Gesinnungswandel in der Sowjetunion die rigorose Industrialisierung des Bauwesens eingeleitet, die sowohl die nationalen als auch die regionalen Traditionen mit derselben Entschiedenheit aus der Architektur verbannte, mit der sie ein halbes Jahrzehnt zuvor eingeführt worden waren. In Polen hätte die Ausgangslage für den Import der Baukunst nationaler Traditionen unterschiedlicher nicht sein können.37 In dem Land, dessen Nation in der Geschichte 33 Zit. nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 124. 34 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 124–125, 130. 35 Oehme, Theodor: Kunst und Tradition im deutschen Bauen, Leipzig 1955, S. 21–27. Dazu ausführlicher: Topfstedt 1980 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 45–46; Bd. 2, S. 21–22. Zur Tradition von Baufibeln für verschiedene Regionen vor 1945: Kirchner, Jörg: Traditionalismus in der frühen DDR. In: Architektur und Städtebau im südlichen Ostseeraum zwischen 1936 und 1980. Hg. von Bernfried Lichtnau. Berlin 2002, S. 284–301. 36 Paulick, Richard: Typus und Norm in der Wohnhausarchitektur. In: Deutsche Architektur 2 (1953), Nr. 5, S. 218–225. 37 Grundlegende Arbeiten zur Architektur der Stalinzeit in Polen (Auswahl): Majewski, Piotr: Ideologia i konserwacja. Architektura zabytkowa w Polsce w czasach socrealizmu [Ideologie und Denkmalpflege. Architekturdenkmäler in Polen in der Zeit des Sozialistischen Realismus]. Warszawa 2009; Stefański, Krzysztof: Architektura polska 1949–1956 [Polnische Architektur 1949–1956]. In: Kwartalnik

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Abb. 10    Wohnhausentwürfe der Deutschen Bauakademie für das „Gebiet der Ostseeküste“ und das „Gebiet Brandenburg“, 1953.

immer wieder um ihren Fortbestand fürchten musste und sich dementsprechend als Opfer verstand, war die Kategorie des Nationalen von keiner Bürde der Geschichte belastet. Im Gegenteil: Nach der über ein Jahrhundert währenden Zeit der staatlichen Nichtexistenz bis 1918 und vor allem dem Vernichtungsfeldzug Nazi-Deutschlands galt die Pflege des nationalen Bewusstseins nicht nur innerhalb der kommunistischen Staatsführung, sondern auch in allen Teilen der Bevölkerung unbestritten als kulturelles und politisches Gebot der Stunde. Eine besondere Schwierigkeit bei der Entwicklung einer polnischen Architektur nationaler Traditionen resultierte aber aus der Westverschiebung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn in mehreren Regionen des neuen Staatsterritoriums – in Schlesien, in Pommern, in Ost- und Westpreußen – ließen sich weite Teile des Bauerbes allenfalls Architektury i Urbanistyki 27 (1982), Nr. 1–2, S. 13–108; Kotarbiński, Adam: Rozwój urbanistyki i architektury polskiej w latach 1944–1964. Próba charakterystyki krytycznej [Die Entwicklung des Städtebaus und der Architektur in Polen in den Jahren 1944–1964. Versuch einer kritischen Charakterisierung]. Warszawa 1967.

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Abb. 11  Warschau, Entwurf für das neue Rathaus, 1950.

unter starken kunsthistoriographischen Verrenkungen mit einer polnischen Tradition in Verbindung bringen. Einfacher war die Situation in den historischen Kerngebieten Polens – etwa in Warschau, das im frühen 17. Jahrhundert Krakau als Hauptstadt des polnischen Königreichs abgelöst hatte. In den Warschauer Bauten der 1950er Jahre dominiert der Klassizismus.38 Das prominenteste Beispiel dafür bietet die Bebauung der Marszałkowska-Straße (Abb. 16 auf S. 98) – als städtebauliches Prestigeprojekt der Stalinzeit das Warschauer Pendant zur Berliner Stalinallee. Sehr deutlich zeigt sich die Präferenz für den Klassizismus auch in dem reich illustrierten, programmatischen Prachtband über den 1949 beschlossenen Sechsjahresplan zum Wiederaufbau von Warschau, der eine Vielzahl von 38 Zur Architektur der Stalinzeit in Warschau (Auswahl): Kochanowski, Jerzy; Majewski, Piotr; Markiewicz, Tomasz; Rokicki, Konrad: Zbudować Warszawę piękną... O nowy krajobraz stolicy (1944– 1956) [Ein schönes Warschau bauen... Für eine neue Stadtlandschaft der Hauptstadt (1944–1956)]. Warszawa 2003; Baraniewski, Waldemar: Ideologia w architekturze Warszawy okresu realizmu socjalistycznego [Ideologie in der Warschauer Architektur der Zeit des Sozialistischen Realismus]. In: Rocznik Historii Sztuki 22 (1996), S. 231–260; Dyskusja architektów o Placu Konstytucji [Diskussion der Architekten über den Platz der Verfassung]. In: Architektura 63 (1953), Nr. 1, S. 1–28; Jankowski, Stanisław: MDM. Marszałkowska 1730–1954 [Wohngebiet Marszałkowska. MarszałkowskaStraße 1730–1954]. Warszawa 1955.



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– teilweise unrealisierten – Projekten vorstellt (Abb. 11).39 Das gleichsam als Kommentar zu den Illustrationen abgedruckte Referat von Staatschef Bolesław Bierut war eine Art Grundsatzprogramm des stalinistischen Bauens in Warschau. Mit der Wahl des Leitstils für die Hauptstadt folgte man, ähnlich wie in Berlin, sowjetischen Vorbildern. Für diese Entscheidung sprach aber zugleich, ebenfalls in Analogie zu Berlin, auch die reiche klassizistische Bautradition Warschaus, vertreten etwa durch Architekten wie Chrystian Piotr Aigner, Antonio Corazzi und Jakub Kubicki. Die Aneignung des Warschauer Klassizismus erfolgte allerdings teilweise auf dem Umweg über klassizisierende Bauten der Jahrhundertwende – die ja als spätbürgerliche Verfallszeit galt –, was zu scharfen ideologischen Auseinandersetzungen in der Architektenschaft führte.40 Anders Åman, der Autor einer pionierhaften vergleichenden Studie über stalinistische Architektur in den Ländern Ostmitteleuropas, sieht im Klassizismus die eigentliche „national form“ der polnischen Baukunst der 1950er Jahre41 und folgt damit im Wesentlichen der polnischen Forschung. Tatsächlich wurde im Klassizismus jedoch vor allem der adäquate Stil für die Monumentalensembles der Hauptstadt gesehen – auch wenn er aufgrund seiner generellen Vorrangstellung in der stalinistischen Architektur durchaus auch andernorts in Polen Niederschlag fand. Als Nationalstil in einem emphatischen Sinne galt, obwohl in den Neubauprojekten seltener vertreten, eher die Renaissance. Sie war dafür besonders prädestiniert, da sie in Polen zahlreiche Baudenkmäler von europäischem Rang hinterlassen hatte und mit dem „Goldenen Zeitalter“ der polnischen Geschichte assoziiert wurde. Bei der Rezeption der heimischen Renaissance durch die stalinistische Architektur war ein Element von konstitutiver Bedeutung, das bereits in den historisierenden Architekturströmungen Polens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine prominente Rolle gespielt hatte: die sogenannte „polnische Attika“, ein meist mit Blendnischen gegliederter, bekrönender Mauerstreifen mit aufgesetztem dekorativem Kamm, der das dahinterliegende Dach verdeckt.42 Die besondere Wertschätzung der polnischen Attika erwuchs daraus, dass diese – wenn auch nicht ganz zu recht – als das genuin 39 Bierut, Bolesław: Sześcioletni plan odbudowy Warszawy [Sechsjahresplan zum Wiederaufbau von Warschau]. Warszawa 1951. Das Buch erschien auch in deutscher Sprache (wie Anm. 20). 40 Dyskusja architektów… 1953 (wie Anm. 38), S. 16; Åman 1992 (wie Anm. 2), S. 104. 41 Åman 1992 (wie Anm. 2), S. 103–104. 42 Zur Bedeutung der heimischen Renaissance und der polnischen Attika in der polnischen Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts: Torbus, Tomasz: Die Rezeption der Renaissance im Nachkriegspolen – die Suche nach einem Nationalstil. In: Hansestadt – Residenz – Industriestandort. Hg. von Beate Störtkuhl. München 2002, S. 313–325; Jaroszewski, Tadeusz S.; Rottermund, Andrzej: „Renesans polski“ w architekturze XIX i XX w. [Die „polnische Renaissance“ in der Architektur des 19. und 20. Jh.]. In: Renesans. Sztuka i ideologia [Die Renaissance. Kunst und Ideologie]. Hg. von Tadeusz S. Jaroszewski. Warszawa 1976, S. 613–638. Einige Anmerkungen zur Rezeption der Renaissance in der polnischen Architektur des 20. Jahrhunderts auch in: Bałus, Wojciech: Renesans w wieku XIX i XX: fascynacja in sprzeciw [Die Renaissance im 19. und 20. Jahrhundert. Faszination und Widerspruch]. In: Recepcja renesansu w XIX i XX wieku [Die Rezeption der Renaissance im XIX und XX Jahrhundert]. Bearb. von Małgorzata Wróblewska-Markiewicz. Łódź 2003, S. 11–33, hier S. 29–30.

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Abb. 12  Krakau, Tuchhalle, erbaut um 1556–59, später verändert.

polnische Element der Renaissance-Architektur schlechthin angesehen wurde. Ihr vernakulärer Charakter entsprach zugleich der ideologischen Vorliebe der stalinistischen Architektur für vermeintlich volkstümliche Elemente. Das berühmteste Beispiel und gleichsam Urbild der polnischen Attika, die eine starke Verbreitung im polnisch-litauischen Großreich und einigen angrenzenden Gebieten fand, ist die in der Mitte des 16. Jahrhunderts entstandene Bekrönung der Tuchhalle in der einstigen Hauptstadt Krakau (Abb. 12). In der Region fand sie eine prominente Nachfolge an den beiden 1952–55 errichteten Verwaltungsbauten des neuen Hüttenkombinats Nowa Huta bei Krakau (Abb. 13).43 Die Renaissance sollte aber, wie 43 Zu Nowa Huta: Nowa Huta. Architektura i twórcy miasta idealnego. Niezrealizowane projekty [Nowa Huta. Die Architektur und die Schöpfer einer Idealstadt. Die unrealisierten Projekte]. Hg. vom Muzeum Historyczne Miasta Krakowa. Kraków 2006; Lebow, Katherine A.: Stalinistische Stadtplanung und Sozialgeschichte: Wohnen in Nowa Huta 1949–1956. In: Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext. Hg. von Christoph Bernhardt und Thomas Wolfes. Erkner 2005, S. 367–383; Miezian, Maciej: Kraków’s Nowa Huta. Socialist in Content, Fascinating in Form. Kraków 2004; Nowa Huta, przeszłość i wizja. Studium muzeum rozproszonego [Nowa Huta – Vergangenheit und Vision. Studie zu einem verstreuten Museum]. Hg. von Jacek Salwiński und Leszek J. Sibila. Kraków 2005.



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Abb. 13  Nowa Huta bei Krakau, Verwaltungsbau des Hüttenkombinats, erbaut 1952–55.

Vize-Bauminister Wolski forderte, ausdrücklich als Nationalstil, nicht nur als Krakauer Regionalstil verarbeitet werden.44 Dementsprechend durfte die polnische Attika selbst am Warschauer Palast der Kultur und der Wissenschaft, dem 1952–55 aus dem Boden gestampften, ungeliebten Geschenk Stalins an Polen, nicht fehlen (Abb. 14).45 In der Großform entspricht der Palast weitgehend den Moskauer Türmen der Zeit. Einzig die Attika sorgt für den feinen Unterschied. Um die Vorbilder zu studieren, waren die sowjetischen Architekten des Palasts, so wird überliefert, sogar in die polnische Provinz gereist. Auch am polnischen Pavillon für die Moskauer Landwirtschaftsausstellung, mit dem sich die Volksrepublik nach außen darstellen wollte, sollte das Motiv die neue nationale Baukunst repräsentieren. In der Ausschreibung des Wettbewerbs von 1951 war postuliert worden, dass das Gebäude „deutlich Eigenschaften der polnischen nationalen Architektur zeigen“ solle, und dies „möglichst auf die offenkundigste und die Ausstellungsbesucher überzeugende Weise“.46 Während sich die Attika des Siegerentwurfs (Abb. 15) an Renaissance-Vorbildern orientierte, verstieg sich der Architekt eines Konkurrenzprojekts sogar zu der Idee, die Bekrönung des Gebäudes zum Zeichen polnischsowjetischer Freundschaft aus skulptierten Hammern und Sicheln zu bilden.47 Eine besondere politische Pikanterie wohnte der polnischen Attika in der Architektur der neuen West- und Nordregionen Polens, also der ehemaligen deutschen Ost44 Stefański 1982 (wie Anm. 37), S. 54. 45 Zum Warschauer Palast der Kultur und der Wissenschaft unlängst: Dmitrieva, Marina: Der Palast der Kultur und der Wissenschaft in Warschau als Kultobjekt. In: Halb-Vergangenheit. Städtische Räume und urbane Lebenswelten vor und nach 1989. Hg. von Tímea Kovács. Berlin 2010, S. 92–107. 46 „który by nosił wyraźnie cechy polskiej architektury narodowej“, „w sposób możliwie najbardziej oczywisty i przekonywający dla widza oglądającego wystawę“ – zit. nach: Garliński, Bohdan: Architektura polska 1950–1951 [Polnische Architektur 1950–1951]. Warszawa 1953, S. 8. 47 Stefański 1982 (wie Anm. 37), S. 52–53.

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Abb. 14  Warschau, Palast der Kultur und der Wissenschaft, erbaut 1952–55.

gebiete, inne. Im oberschlesischen Ratibor (Racibórz) baute man eine Reihe kriegsbeschädigter klassizistischer und gründerzeitlicher Häuser (Abb. 16) 1950–54 als attikabekrönte Neorenaissancebauten wieder auf (Abb. 17). Beim Wiederaufbau des Stettiner Schlosses von 1954–60 wurde indes auf der Grundlage eines Kupferstichs von 1652 ein spätestens im 19. Jahrhundert abgebrochener Attikakamm auf den Umfassungsmauern rekonstruiert. Wie Tomasz Torbus aufgezeigt hat, sollten durch die Verwendung von Elementen der polnischen Renaissance in den Städten des Westens und des Nordens die – tatsächlichen oder vermeintlichen – kulturellen Verbindungen dieser Gebiete zum polnischen Kernland betont werden.48 Die Attika mit ihrer einprägsamen Form erschien wie kein anderes Architekturmotiv geeignet, den ehemals deutschen Städten demonstrativ ein polnisches Gepräge zu verleihen. Ein Sonderphänomen der polnischen Architekturgeschichte der späten

48 Torbus, Tomasz: Auf der Suche nach der polnischen Vergangenheit – politische Ikonographie beim Wiederaufbau der Städte und Baudenkmäler in den sog. Wiedergewonnenen Gebieten Polens nach 1945. In: Beiträge zur Kunstgeschichte Ostmitteleuropas. Hg. von Hanna Nogossek und Dietmar Popp. Marburg 2001, S. 379–399, hier S. 390–391.



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Abb. 15  Siegerentwurf für den polnischen Pavillon auf der sowjetischen Landwirtschaftsausstellung in Moskau, polnische Studenten bei der Betrachtung des Modells. Aufnahme 1951.

1940er und der 1950er Jahre war der rekonstruktive Wiederaufbau ganzer historischer Stadtzentren, der entschieden im Zusammenhang mit den Architekturkonzeptionen der Stalinzeit zu betrachten ist. Auch hier genoss die Renaissance eine bevorzugte Behandlung. Zwar fügte man bei den Rekonstruktionskampagnen in der Regel keine gänzlich frei erfundenen polnischen Attiken hinzu. Dafür wurden an den rekonstruierten Häusern massenhaft andere Elemente der Renaissancearchitektur appliziert, sei es unter Rückgriff auf einen dokumentierten früheren Zustand oder auch auf dem Wege freier Nachempfindung im Geiste der „schöpferischen Denkmalpflege“. Beispiele dafür sind Rustikaquaderungen und Sgraffiti, etwa an den Fassaden des Marktplatzes der Warschauer Altstadt (Abb. 18).49 Eine noch wichtigere Rolle spielte die Renaissance beim Wiederaufbau von Danzig (Abb. 19), dessen ideologische Grundlagen durch Jacek Friedrich eingehend analysiert wurden.50 Dort galt es, den Zustand vor der Zweiten Polnischen Teilung von 1793 zu rekonstruieren bzw. schöpferisch zu kreieren – damals war die seit Mitte des 15. Jahrhunderts unter polnischer Hoheit stehende Stadt an Preußen gefallen. Dementsprechend wurden ausschließlich Bauten aus der vorpreußischen Zeit, das heißt von der Spätgotik bis zum Barock, mehr oder weniger originalgetreu rekonstruiert. Der Schwerpunkt lag dabei auf Formen der Spätrenaissance bzw. des nordischen Manierismus, die auf Danzigs Blütezeit an der Seite Polens verwiesen. Die Fassaden am Langen Markt erhielten indes gemalte Dekorationen, in denen Anklänge an die italienische Renaissance – die für die polnische Architekturgeschichte eminent wichtig war, aber in dem niederländisch geprägten Danzig keine Spuren hinterlassen

49 Weitere Abbildungen in: Nowa Warszawa w ilustracjach [Das neue Warschau im Bild]. Warszawa 1955. 50 Zuletzt und grundlegend: Friedrich, Jacek: Neue Stadt in altem Gewand. Der Wiederaufbau Danzigs 1945–1960. Köln – Weimar – Wien 2010.

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Abb. 16  Ratibor (Racibórz), Häuserzeile an der Westseite des Markplatzes. Aufnahme   vor 1945.

Abb. 17  Ratibor (Racibórz), Häuserzeile an der Westseite des Markplatzes, wiederaufge-  baut 1950–54.



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Abb. 18    Warschau, Hausfassade am Marktplatz der Altstadt. Aufnahme 1953.

hatte – eine Verbindung mit Sozialistischem Realismus und anderen Stilrichtungen eingingen (Abb. 20). Bauten des 19. Jahrhunderts wurden hingegen vielfach abgerissen. Das war seinerzeit bekanntlich nicht nur in Polen und anderen Ostblockstaaten die übliche Praxis. Doch in Danzig verschonte man auch den Klassizismus nicht. Selbst das im Krieg relativ glimpflich davongekommene, architektonisch bedeutende Stadttheater fiel 1957 der Abrissbirne zum Opfer, um später durch einen Neubau im Stil der Moderne ersetzt zu werden. Denn während der Warschauer Klassizismus als fortschrittliche, nachahmenswerte Epoche der lokalen Bautradition galt, wurde er in Danzig der Verfallsperiode der Stadt unter preußischer Herrschaft zugerechnet. Einen ähnlich schlechten Stand hatte er meist auch in den anderen Städten des polnischen Westens und Nordens, in denen er ebenfalls mit der preußischen Teilungsmacht in Verbindung gebracht wurde.51 Die These vom Klassizismus als dem polnischen Nationalstil lässt sich angesichts dieser Beobachtungen nur aufrechterhalten, solange man den Blick vornehmlich nach 51 Faraldo, José M.: Medieval Socialist Artefacts: Architecture and Discourses of National Identity in Provincial Poland, 1945–1960. In: Nationalities Papers 29 (2001), Nr. 4, S. 605–632, hier S. 616.

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Warschau richtet und dabei sowohl die Neubautätigkeit in der Provinz als auch die ideologisch in der stalinistischen Architekturpolitik fundierten Rekonstruktionskampagnen außer Acht lässt. Dort wurde die Renaissance zum bevorzugten einheitsstiftenden Stil, mit dem das heterogene Bauerbe des neuen Staatsgebildes polonisiert werden sollte. Dass dies nur in Ansätzen gelang, liegt an der kurzen Lebensdauer der Baukunst nationaler Traditionen, die auch in der polnischen Architekturgeschichte nur eine ein halbes Jahrzehnt währende Episode war. Eine vergleichende Betrachtung der Umsetzung der Doktrin nationaler Traditionen in der stalinistischen Abb. 19  Danzig, Langer Markt (heute Długi Targ),   Architektur der DDR und wiederaufgebaut in den späten 1940er und in den 1950er Jahren. Polens konfrontiert uns mit dem scheinbaren Paradoxon, dass ausgerechnet der Zwergstaat DDR sich wie kein anderes Ostblockland dem Regionalismus verschrieb, wohingegen Polen, das größte Land der sowjetischen Machtsphäre in Ostmitteleuropa, für seine Regionen einen gemeinsamen Nationalstil zu entwickeln suchte. Es ist schwer zu sagen, ob in der forcierten Hinwendung zum regionalen Erbe in der DDR ein Ausweichreflex gegenüber dem in Deutschland vergifteten Paradigma des Nationalen gesehen werden kann – oder vielleicht eher eine Übererfüllung der stalinistischen Doktrin durch Übertragung des regionalistischen sowjetischen Allunions-Modells auf das kleine Land. Es besteht aber kein Zweifel darüber, dass die durch die Tragödien der Geschichte bedingte nationale Emphase der Aufbauzeit in Polen die Bemühungen um die Kreation eines Nationalstils beflügelte. Zu beachten sind auch die hier ausgeblendeten Vorkriegstraditionen, die in beiden Ländern nach 1945, wenn auch unter neuem Etikett, weiterlebten. Sowohl in Deutschland als auch in Polen hatte die auch andernorts in Europa zu beobachtende Suche nach



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Abb. 20  Danzig, Fassadendekoration am Haus Langer Markt (heute Długi Targ) 12, entstanden in den 1950er Jahren.

einem einheitlichen Nationalstil bereits tief im 19. Jahrhundert eingesetzt.52 In Deutschland jedoch bildete sich spätestens mit dem Aufkommen der Heimatschutzbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zugleich eine besonders starke regionalistische Architekturtradition heraus, die auch auf das Bauen in der frühen DDR nicht ohne Einfluss blieb.53 Einen anderen Ansatz zur Erklärung des Regionalismus der DDR-Architektur bietet ihr gesamtdeutscher Anspruch, der sich beispielhaft in einer Ansprache Walter Ulbrichts auf dem Deutschen Architektenkongress von 1951 artikuliert: „Die Bauwerke, die unsere deutschen Architekten jetzt entwerfen und bauen werden, sind Bauwerke für Jahrhunderte, für eine Zeit, in der das einige, demokratische und friedliebende Deutschland hergestellt sein wird und nicht mehr eine solche unerträgliche Lage wie heute unter den Bedingungen der Spaltung besteht.“54 Die Formensprache dieser Bauwerke sollte nach der erhofften Wiedervereinigung unter sowjetischer Ägide auch

52 Zur Kontinuität der Suche nach dem Nationalstil in Polen vor und nach 1945: Bartetzky, Arnold: Die korrigierte Geschichte. Nationalstil und Nationalerbe in der polnischen Architektur und Denkmalpflege vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen seit 1939. Hg. von Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Dietmar Popp. Warszawa 2009, S. 123–146. Zu polnischen Nationalstilkonzeptionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Omilanowska, Małgorzata: Searching for a National Style in Polish Architecture at the End of the 19th and the Beginning of the 20th Century. In: Art and the National Dream. The Search for Vernacular Expression in Turn-of-the-Century Design. Hg. von Nicola Gordon Bowe. Blackrock 1993, S. 99–116. 53 Zum Nachleben traditionalistischer Konzeptionen regionaler Architektur aus der Zeit vor 1945 in der frühen DDR: Kirchner 2002 (wie Anm. 35). Zum Einfluss der auf diesen Konzeptionen aufbauenden, konservativen Stuttgarter Schule auf die Architektur Ostdeutschlands nach 1945: Escherich, Mark: Heimatschutzarchitektur in der SBZ und DDR. Die Architekten der Stuttgarter Schule. In: KoldeweyGesellschaft, Vereinigung für baugeschichtliche Forschung e. V. Bericht über die 44. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung vom 24. bis 28. Mai 2006 in Breslau. Bonn 2008, S. 37–51. 54 Zit. nach: Topfstedt 1980 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 42.

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im Westteil Deutschlands verordnet werden. Für das gesamte Deutschland mit seiner starken Vielfalt kultureller Traditionen wäre in der Tat nur ein regionalistisches Konzept vermittelbar gewesen. In Polen indes ging es weniger um die Pflege der Vielfalt als um eine konsolidierende kulturelle Unifizierung des neuen Staatsterritoriums unter nationalem Vorzeichen.

S t a d t p l an u n g u n d D enk ma lpfle ge im g et ei l t en Europa Der Wiederaufbau zerstörter Städte in den beiden deutschen Staaten und in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg „Niemals in der europäischen Geschichte war ein Land so zerstört gewesen wie Deutschland 1945“, heißt es in einem Überblickswerk zu Deutschlands Städtebau der Nachkriegszeit.1 Und Polen, darf man hier hinzufügen – das Land, das nicht nur in seinen Kernregionen in einem zum Teil vergleichbaren Ausmaß verwüstet worden war, sondern nach seiner Westverschiebung auch die stark kriegsversehrten deutschen Ostgebiete geerbt hatte. Nach dem Krieg machten sich die entstehenden zwei deutschen Staaten und Polen an den Wiederaufbau, respektive Neuaufbau ihrer Städte – die beiden antagonistischen Begriffe markieren das Spannungsfeld, in dem sich die urbanistischen Entscheidungen und Debatten der Jahre nach 1945 bewegten. So vergleichbar das Zerstörungsausmaß, so unterschiedlich waren in beiden Deutschlands und in Polen die historischen und politischen Voraussetzungen für den Aufbau – Grund genug für eine vergleichende Betrachtung der Entwicklung in den drei Staaten. Große Entdeckungen sind dabei angesichts der Fülle von Studien zum nachkriegszeitlichen Städtebau nicht zu erwarten. Anhand exemplarischer Beobachtungen und Gegenüberstellungen können aber einige tradierte Urteile revidiert oder zumindest neu akzentuiert werden. Im westlichen Teil Deutschlands lassen sich mit etwas Mut zur Vereinfachung drei Aufbauoptionen ausmachen.2 Erstens die modernistische Option, die einen Neuaufbau unter Aufgabe des kompakten historischen Stadtgrundrisses zugunsten einer aufgelockerten Bebauung in unverkennbar modernen, dem Funktionalismus huldigenden Ar1 Neue Städte aus Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit. Hg. von Klaus von Beyme, Werner Durth, Niels Gutschow, Winfried Nerdinger und Thomas Topfstedt. München 1992, S. 9–31, hier S. 9. 2 Einige jüngere Publikationen zu Architektur und Städtebau in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Durth, Werner; Sigel, Paul: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels. Berlin 2009, S. 386–526; Anthologie zum Städtebau. Bd. 3: Vom Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur zeitgenössischen Stadt. Hg. von Vittorio Magnago Lampugnani, Katia Frey und Eliana Perotti, Berlin 2005; Zwei deutsche Architekturen 1949–1989. Eine Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen e. V. in Kooperation mit der Föderation deutscher Architektursammlungen. Stuttgart 2004; Fendel, Ute: Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland Ost und West. Ein Vergleich anhand kommunaler Repräsentationsbauten. Dissertation Universität Bonn 1996; 1945. Krieg – Zerstörung – Aufbau. Architektur und Stadtplanung 1940–1960. Hg. von Jörn Düwel. Berlin 1995; Neue Städte aus Ruinen… 1992 (wie Anm. 1); Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre. Ergebnisse der Fachtagung in Hannover 1990. Hg. von Werner Durth und Niels Gutschow. Bonn 1990: Durth, Werner; Gutschow, Niels: Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940–1950. 2 Bde., Braunschweig  –  Wiesbaden 1988; Durth, Werner; Gutschow, Niels: Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre. Bonn 1987.

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Abb. 1  Heilbronn, Luftaufnahme 1930.

Abb. 2  Heilbronn, Luftaufnahme 1957.



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Abb. 3  Grindelhochhäuser, erbaut 1949–56.

chitekturformen vorsah. Sie wurde, in mehr oder weniger radikaler Ausprägung und in unterschiedlichem Umfang, in fast allen Großstädten und zahlreichen Mittel- und Kleinstädten der alten Bundesrepublik wirksam, darunter zum Beispiel in Frankfurt am Main, Hamburg (Abb. 3), Hannover, Kiel, Darmstadt, Kassel, Heilbronn (Abb. 1, 2) oder Pforzheim, um nur einige zu nennen. Zweitens die traditionalistische Option, die auf die Beibehaltung von Stadtgrundriss und großteils auch Parzellenstruktur setzte, architektonisch an Silhouette und Fassadengliederung der zerstörten Bauten anknüpfte und auch die Möglichkeit der Teilrekonstruktion unter Einbeziehung der erhaltenen Reste einschloss. Sie triumphierte etwa in München, Nürnberg (Abb. 4), Freiburg (Abb. 5), Freudenstadt (Abb. 22) und allen voran in Münster (Abb. 29, 30), bei einzelnen Ensembles kam sie auch in anderen Städten zur Anwendung. Drittens schließlich eine reflexive Rekonstruktion, die eine Annäherung an das Original anstrebte, zugleich aber die Zerstörung als Geschichtsspur anschaulich zu machen suchte. Sie kam nur in wenigen Fällen zum Einsatz und betraf keine ganzen Stadtquartiere, sondern nur Solitäre, wie zum Beispiel die Frankfurter Paulskirche und die Alte Pinakothek in München (Abb. 6). Im urbanistischen Diskurs der Nachkriegszeit dominierte die erste Option. Modernistisch gesonnene Architekten beschworen die einmalige Chance einer fundamentalen, in ihren Augen zweckmäßigen und harmonischen Neuordnung, die sich durch die flächendeckende Zerstörung der Städte biete. So sagte etwa 1946 Hans

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Scharoun, damals noch in seiner Funktion als von den Alliierten eingesetzter Leiter der Abteilung Bau- und Wohnungswesen des Gesamt-Berliner Magistrats, anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Berlin plant“: „Was blieb, nachdem Bombenangriffe und Endkampf eine mechanische Auflockerung vollzogen, das Stadtgebiet aufrissen? Das, was blieb, gibt uns die Möglichkeit, eine ‚Stadtlandschaft‘ daraus zu gestalten. [...] Durch sie ist es möglich, Unüberschaubares, Maßstabloses in übersehbare und maßvolle Teile aufzugliedern und diese Teile so zueinander zu ordnen, wie Wald, Wiese, Berg und See in einer schönen Landschaft zusammenwirken.“3 Im selben Jahr postulierte Max Taut in seiner mit eigenen Visionen illustrierAbb. 4  Nürnberg, Wohnbebauung an der Burg, erbaut ten Schrift „Berlin im Aufum 1950–60. bau“: „City und Innenstadt sind bis auf kleine Oasen in der Trümmerwüste verschwunden. Die übriggebliebenen Ruinen sind ein Hindernis für den Aufbau. Um neues Bauland zu schaffen, müßten sie beseitigt oder eingeebnet werden. [...] Es soll ein anderes Berlin entstehen, nicht mehr eine Stadt der Mietskasernen, Hinterhäuser, Kellerwohnungen. Unter entsetzlichen Qualen und bitterster Not sind wir das Gebilde einer stark verbauten Stadt los geworden [...]. Unermüdliche Arbeit, Fleiß und gegipfelte Baukunst sollen diese Fehler in Zukunft verhindern, und eine neue Stadt

3 Zit. nach: Anthologie zum Städtebau… 2005 (wie Anm. 2), S. 40.



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muß im Laufe von Generationen entstehen, die den Bewohnern Heime mit Licht, Luft und Garten bietet.“4 Als Scharoun und Taut von ihren Zukunftsvisionen für Berlin schwärmten, gab es noch keine zwei deutschen Staaten, und der Städtebau in Ost und West ging noch nicht getrennte Wege. Nach der deutschen Teilung wurde die technokratische Tabula-Rasa-Haltung, die sich hier mit blumiger Glücksverheißungsrhetorik verbindet, bezeichnend für die programmatischen Stellungnahmen in der frühen Bundesrepublik. Als Beispiel genüge eine Passage Abb. 5  Freiburg, Häuser in der Kaiser-Joseph-Straße, erbaut 1951. aus dem 1957 erschienenen, allerdings schon vor Kriegsende vorbereiteten Buch „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“ von Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann: „Eine kritische Überprüfung der auf unsere Zeit überkommenen Haus- und Stadtformen zeigt Fehlbildungen und Entartungserscheinungen, die durch Verbesserung mit den bisher üblichen technischen, baulichen und städtebaulichen Mitteln nicht behoben werden können. Vielmehr muß

Abb. 6  München, Alte Pinakothek, wiederaufgebaut 1952–57. 4 Taut, Max: Berlin im Aufbau. Betrachtungen und Bilder des Architekten Max Taut zum Wiederaufbau der deutschen Hauptstadt. Berlin 1946 [ohne Paginierung].

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die Gelegenheit zu einer bis an die Wurzel des Übels gehenden Neuordnung des gesamten Städtewesens genutzt werden. Der Weg zur Gesundung und Steigerung der Leistungsfähigkeit kann durch Gliederung, Auflockerung und organische Gestaltung des Stadtkörpers gefunden werden.“5 Für den Bruch mit der Tradition wurden im Westen aber nicht nur urbanistische, sondern auch kultur- und identitätspolitische – letztlich ethische – Gründe ins Feld geführt. So protestierten etwa die „Aachener Nachrichten“ 1946 gegen Bestrebungen zum historisierenden Wiederaufbau: „Die Bomben haben gesprochen. Das Gespenst des Wiederaufbaus hat sich des Schuttes und der Trümmer bemächtigt und redet von der Wiederherstellung ganzer Straßenzüge und Städte. Je wahrheitsgetreuer die Rekonstruktion, desto größer die museale Lüge und Kulisse. Wir können nichts wiederherstellen und die konservatorischen Sorgen um Bauwerke und Städte entbehren für das historische Zukunftsbewußtsein eines verantwortlichen Sinnes.“6 Ihren wohl eindringlichsten und sicher berühmtesten Ausdruck fand diese moralisch motivierte Ablehnung eines traditionalistischen Wiederaufbaus in den immer wieder zitierten Worten von Walter Dirks, die den Höhepunkt des Streits um die Rekonstruktion des Frankfurter Goethehauses in den Jahren 1946–47 markierten: „Das Haus am Hirschgraben ist nicht durch einen Bügeleisenbrand oder durch einen Blitzschlag oder durch Brandstiftung zerstört worden; es ist nicht ,zufällig’ zerstört worden […]. Sondern dieses Haus ist in einem geschichtlichen Ereignis zugrundegegangen, das mit seinem Wesen sehr wohl etwas zu tun hatte. Es gibt Zusammenhänge zwischen dem Geist des Goethehauses und dem Schicksal seiner Vernichtung. Einige von ihnen sind mit Händen zu greifen: wäre das Volk der Dichter und Denker […] nicht vom Geiste Goethes abgefallen, vom Geist des Maßes und der Menschlichkeit, so hätte es diesen Krieg nicht unternommen und die Zerstörung dieses Hauses nicht provoziert. Die große Vernichtung steht folgerichtig am Ende eines Weges, der von Goethe weggeführt hat. […] Mit anderen Worten: es hatte seine bittere Logik, daß das Goethehaus in Trümmer sank. Es war kein Versehen, das man zu berichtigen hätte, keine Panne, die der Geschichte unterlaufen wäre: Es hat seine Richtigkeit mit diesem Untergang. Deshalb soll man ihn anerkennen. [...] Nur eines ist hier angemessen und groß: Den Spruch der Geschichte anzunehmen, er ist endgültig. Wir müssen ohnehin den Mut aufbringen, vielerlei Abschied zu nehmen, nicht nur vom Hause Goethes. […] Die Vorstellung, das geliebte Verlorene in die Wirklichkeit zurückzwingen zu können, ist entweder eine ohnmächtige Auflehnung gegen jenen Urteilsspruch oder sie ist sentimental. Beides aber ist bedenklich und gefährlich.“7

5 Göderitz, Johannes; Rainer, Roland; Hoffmann, Hubert: Die gegliederte und aufgelockerte Stadt. Tübingen 1957, S. 90. Hervorhebungen im Original. 6 Zit. nach: Neue Städte aus Ruinen... 1992 (wie Anm. 1), S. 16. 7 Zit. nach: Dirks, Walter: Mut zum Abschied. Zur Wiederherstellung des Frankfurter Goethehauses (1947). In: Rekonstruktion in der Denkmalpflege. Texte aus Geschichte und Gegenwart. Hg. von Jan Friedrich Hanselmann. 2. Aufl., Stuttgart 2009, S. 90–96, hier S. 94–95. Hervorhebung im Original.



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So paradigmatisch die Forderung nach Mut zum Abschied, sei sie nun urbanistisch oder politisch-moralisch begründet, für die westdeutschen Debatten war, so kam es in der städtebaulichen Praxis genau besehen kaum zum totalen Traditionsbruch. Zwar wurden die meisten Städte, wie eingangs erwähnt, in weiten Teilen mehr oder weniger dezidiert modernistisch wiederaufgebaut. Doch die Planer mussten dabei stets Kompromisse eingehen. In keiner größeren deutschen Stadt wurde der historische Grundriss völlig aufgegeben, allein schon wegen des materiellen Werts des Straßen- und unterirdischen Leitungsnetzes, aber auch wegen emotionaler Bindungen der Bewohner an das historische Stadtbild. In der Masse der Neubauten dominierte eine moderate Moderne, bei der sich Einfachheit des Baukörpers mit traditionellen Elementen wie Satteldächern verband. Unzählige Baudenkmäler wurden nachempfunden oder teilrekonstruiert. In einigen Fällen erlebten sogar ganze Stadtzentren einen traditionsnahen Wiederaufbau „in einer gewissen heimatgebundenen Anpassung an das historische Stadtbild“, wie es Freiburgs Oberbaudirektor Joseph Schlippe für seine Stadt formulierte.8 So gehörte denn auch die Klage über vermeintlich verpasste Chancen eines radikalen Neuaufbaus zu den rhetorischen Standardfiguren in Stellungnahmen frustrierter modernistischer Stadtplaner und Architekten der frühen Bundesrepublik. Joseph Lehmbrock etwa polemisierte 1950 in einem Zeitungsartikel gegen das Überdauern traditioneller Funktionsmischung und Dichte in den wiedererstehenden Städten: „Wer will Wohnungen und Garagen, Kinos und Werkstätten, Gotteshäuser und Wartesäle, Schulen und Schlachthöfe; Kasernen und Museen, Fabriken und Hotels in wildem Durcheinander – statt einer säuberlichen Scheidung nach Zweck und Wesen? […] Die große Chance einer luftigen Bebauung wird zur Zeit verpasst. Man darf die alten Baublöcke nicht mehr vollbauen, wenn jede Wohnung Licht und Sonne haben soll.“9 Der Vielfalt der Wiederaufbaukonzepte in der Bundesrepublik stand in der DDR, abgesehen von einer kurzen Phase relativer Liberalität bis 1950, eine zentralistische Städtebaupolitik gegenüber.10 Voraussetzung dafür war die staatliche Verfügungsgewalt über Grund und Boden, deren Fehlen in der Bundesrepublik damals übrigens nicht nur von marxistischen Stadtplanern beklagt wurde. „Die Stadtplanung und die 8 Zit. nach: 1944–1994. Zerstörung und Wiederaufbau. Hg. von der Stadt Freiburg im Breisgau. Waldkirch 1994, S. 71. 9 Zit. nach: Anthologie zum Städtebau… 2005 (wie Anm. 2), S. 77–78. Zur langanhaltenden Diffamierung traditionalistischen Wiederaufbaus als verpasste Chance: Neue Städte aus Ruinen... 1992 (wie Anm. 1), S. 20. 10 Einige jüngere Publikationen zu Architektur und Städtebau in Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Anthologie zum Städtebau… 2005 (wie Anm. 2); Zwei deutsche Architekturen… 2004 (wie Anm. 2); Palutzki, Joachim: Architektur in der DDR. Berlin 2000; Fendel 1996 (wie Anm. 2); 1945. Krieg – Zerstörung – Aufbau… 1995 (wie Anm. 2); Durth, Werner; Düwel, Jörn; Gutschow, Niels: Architektur und Städtebau der DDR. Bd. 1: Ostkreuz. Personen, Pläne, Perspektiven, Bd. 2: Aufbau. Städte, Themen, Dokumente. Frankfurt am Main – New York 1998; Neue Städte aus Ruinen… 1992 (wie Anm. 1); Hoscislawski, Thomas: Bauen zwischen Macht und Ohnmacht: Architektur und Städtebau in der DDR. Berlin 1991; Schätzke, Andreas: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945–1955. Braunschweig – Wiesbaden 1991.

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architektonische Gestaltung unserer Städte müssen der gesellschaftlichen Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik [...] Ausdruck verleihen. [...] Die Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren ist ausschließlich Angelegenheit der Regierung“, heißt es in den „Grundsätzen des Städtebaues“ der DDR.11 Die verbindliche Einführung dieser Grundsätze durch Regierungsbeschluss im Juli 1950 läutete den verordneten Import stalinistischer Leitbilder des Städtebaus aus der Sowjetunion ein. Zu dessen Kernelementen gehörte die Schaffung von sogenannten Magistralen und Zentralen Plätzen für die bauliche Repräsentation des Staates und inszenierte Massenkundgebungen. So wird unter Nummer 6 der „Grundsätze des Städtbaues“ bestimmt: „Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Massenkundgebungen statt. Das Zentrum wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.“ Zugunsten dieser Zentrumskonzeption wurden, etwa in Berlin, Dresden, Rostock (Abb. 7) oder Magdeburg, nicht nur wertvolle, wiederaufbaufähige Einzelbauten, sondern auch ganze Raumgefüge aufgegeben. Ebenso zerstörerisch wie die urbanistischen Konzepte wirkte sich bekanntlich die ideologische Abneigung gegen einen Großteil des Bauerbes, namentlich Schlösser, Paläste und Kirchen, aus. Zu deren berühmtesten Opfern gehören die gesprengten Stadtschlösser in Berlin (Abb. 8) und Potsdam sowie die Potsdamer Garnisonkirche und die Leipziger Universitätskirche. Viele weitere Beispiele ließen sich anfügen. Die Zerstörungsbilanz ist berüchtigt, doch sie übersteigt keineswegs das damalige Abrissvolumen in der Bundesrepublik. Und sie ist nur ein Aspekt der DDR-Baupolitik in den Nachkriegsjahrzehnten. Denn gleichzeitig begünstigten einige Postulate der „Grundsätze des Städtebaues“ einen traditionsverhafteten Wiederaufbau. Dazu gehört etwa die Forderung, die „historisch entstandene Struktur“ einer Stadt mit dem Zentrum als „bestimmende[m] Kern“ zu berücksichtigen. Trotz des einschränkenden Zusatzes „bei Beseitigung ihrer Mängel“ war damit der modernistischen Idee einer dezentralisierten, fließenden Stadtlandschaft, wie sie etwa Scharoun wenige Jahre zuvor auch für den östlichen Teil Berlins propagiert hatte, eine eindeutige Absage erteilt. In seinen Erläuterungen zu den „Grundsätzen“ betonte DDR-Aufbauminister Lothar Bolz, dass die von ihrem Zentrum zusammengehaltene Stadt „als etwas historisch Gewordenes zu begreifen und vor willkürlicher Veränderung oder gar Auflösung zu schützen“ sei.12 Das grundsätzliche Infragestellen der Zukunftsfähigkeit historisch gewachsener urbaner Strukturen, das die westdeutschen Debatten kennzeichnete, bis dahin aber auch in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR gang und gäbe gewesen war, wurde damit zum Tabu. Eine historisierende Grundausrichtung des Wiederaufbaus war auch durch die sozialistisch-realistische Doktrin der „Architektur nationaler Traditionen“ vorgegeben, 11 Dieses und die folgenden Zitate aus den „Grundsätzen des Städtebaues“ nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 85. 12 Zit. nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 84.



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Abb. 7  Rostock, Magistralenplanung für die Lange Straße, 1952.

Abb. 8  Berlin, Sprengung des Stadtschlosses. Aufnahme 1950.

die eine Weiterentwicklung von für „fortschrittlich“ befundenen, heimischen Bautraditionen einforderte und mit der Ächtung modernistischer Entwurfshaltungen einherging. Das Ergebnis war ein monumentalisierender Neohistorismus, der Vorbilder aus verschiedenen Epochen, im Wesentlichen von der Gotik bis zum Klassizismus, verar-

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Abb. 9  Berlin, Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee), Block C Süd, erbaut 1952.

beitet (Abb. 9, 10). Im Westen bis heute oftmals als baulicher Ausdruck des Totalitarismus dämonisiert oder auch als „Zuckerbäckerstil“ belächelt, zeigt die DDR-Architektur der Stalinzeit bei allen Unterschieden eine kaum zu leugnende Verwandtschaft zu einigen traditionalistischen Richtungen des Wiederaufbaus in der Bundesrepublik (Abb. 10, 11).13 Obwohl Aufbauminister Bolz betonte, dass die geforderte Berücksichtigung historischer Strukturen nicht mit „blinde[r] Verwendung oder Kopierung“14 gleichzusetzen sei, schloss die Zuwendung zur Tradition de facto auch die Option des Wiederaufbaus einzelner, stark beschädigter Bauwerke, etwa des Dresdner Zwingers (Abb. 12, 13) oder der Deutschen Staatsoper in Berlin, ein. Eine moralische Argumentation gegen Rekonstruktion, wie sie die Debatten in Westdeutschland prägte, wäre in der DDR ein Stoß ins Leere gewesen, begriff sich diese doch dank ihres antifaschistischen Gründungsmythos als das bessere, nur auf den friedliebenden Traditionen der Nation aufbauende Deutschland, ein Deutschland, das gegen historische Schuld immun war. Nach der architekturpolitischen Wende um 1955, ausgelöst durch einen Kurswechsel in der Sowjetunion, warfen die DDR-Architekten die „nationalen Traditionen“ bereitwillig über Bord. Zum Leitbild wurde fortan die bis dahin als menschenfeindlich angeprangerte, funktionalistische Moderne, die man freilich nunmehr zum Inbegriff sozialistischen Bauens erklärte. Abgesehen von ihrer meist geringeren materiellen Qualität und einigen systemspezifischen Bauaufgaben unterschied sich die Architektur der DDR nun kaum noch vom modernistischen Bauen in der Bundesrepublik (Abb. 14, 15). 13 Zum Einfluss der konservativen Stuttgarter Schule auf die Architektur Ostdeutschlands nach 1945: Escherich, Mark: Heimatschutzarchitektur in der SBZ und DDR. Die Architekten der Stuttgarter Schule. In: Koldewey-Gesellschaft, Vereinigung für baugeschichtliche Forschung e. V. Bericht über die 44. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung vom 24. bis 28. Mai 2006 in Breslau. Bonn 2008, S. 37–51. Zur „Architektur nationaler Traditionen“ vgl. auch den Beitrag „Auf der Suche nach der nationalen Form. Zur Architektur der Stalinzeit in der DDR und in Polen“ in diesem Band. 14 Zit. nach: Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 85.



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Abb. 10  Dresden, Altmarkt, Fragment der Westseite,   erbaut 1953–54. Vgl. auch Abb. 8 auf S. 70.

Abb. 11  Stuttgart, Königin-Olga-Bau, erbaut 1950–51.

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Abb. 12  Dresden, Zwinger mit Kriegsschäden. Aufnahme 1945/46.

Abb. 13  Dresden, Zwinger, wiederaufgebaut 1945–64.



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Abb. 14  Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt), Magistrale, Entwurf 1957.

Abb. 15  Kiel, Holtenauer Straße, erbaut 1951–52.

Die Nachkriegsbaupolitik in Polen weist in ihren Entwicklungsstadien systembedingte Parallelen zur DDR auf.15 Auf eine kurze liberale Phase folgte ab 1949/50 der 15 Überblickswerk zu Architektur und Städtebau der Stalinzeit in den Satellitenstaaten der Sowjetunion: Åman, Anders: Architecture and Ideology in Eastern Europe during the Stalin Era. An Aspect of Cold War History. New York 1992.

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Abb. 16  Warschau, Wohnsiedlung an der Marszałkowska-Straße (Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa – MDM), Platz der Verfassung (Plac Konstytucji), erbaut 1950–52. Aufnahme von 1952 mit staatlich inszenierter Massenkundgebung zum Weltjugendtreffen.

stalinistische Neohistorismus (Abb. 16). Da die von der Sowjetunion diktierte Architekturdoktrin beim Wiederaufbau Warschaus etwas rascher implementiert worden war als in Berlin, wurden die polnischen Leistungen übrigens immer wieder als Vorbild für DDR-Baukampagnen, etwa in der Berliner Stalinallee, angepriesen (Abb. 17). Um die Mitte der 1950er Jahre schließlich hielt auch in Polen, wie in anderen von der Sowjetunion kontrollierten Ländern, die internationale Moderne Einzug. Doch gab es auch historisch bedingte deutliche Unterschiede. Zum einen waren in dem Land, das mit den Polnischen Teilungen für über ein Jahrhundert von der politischen Karte Europas getilgt worden war und zwei Jahrzehnte nach seiner Wiedererstehung zum Ziel eines Vernichtungsfeldzugs Nazi-Deutschlands wurde, Zerstörungen von symbolträchtigen baulichen Zeugnissen der Nationalkultur wie Schlössern oder Kirchen schlechterdings undenkbar. Aus dieser realen Vorgeschichte und vor allem aus dem über Generationen gepflegten Selbstverständnis Polens als Opfer jahrhundertelanger, fremder Gewalteinwirkung erwuchs zum anderen eine Besonderheit der polnischen Nachkriegsbaupolitik: die flächendeckende Rekonstruktion ausgewählter zerstörter Altstädte. „Wir können uns mit der Vernichtung unserer Kulturdenkmäler nicht abfinden. Wir werden sie rekonstruieren, wir werden sie von den Fundamenten an wiederaufbauen, um den künftigen Generationen wenn schon nicht die authentische, so doch die genaue Form dieser Denkmäler zu übermitteln, die in unserem Gedächtnis lebendig ist“, verkündete



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Abb. 17  Berlin, Mitarbeiter des Sonderbaustabs für die Stalinallee studieren die von der diplomatischen Mission Polens überreichten Bände über den Wiederaufbau Warschaus. Aufnahme 1951/52.

Polens Generalkonservator Jan Zachwatowicz 1946.16 Vor allem in Warschau, das von den deutschen Besatzern systematisch verwüstet worden war, hatte die Rekonstruktion der Altstadt (Abb. 18) eine unermessliche emotionale Bedeutung.17 Dementsprechend legten unzählige Bewohner dabei selbst Hand an, wenn auch nicht immer ganz so freiwillig, wie in den heroischen Propagandaberichten der Zeit behauptet. 16 „Nie mogąc zgodzić się na wydarcie nam pomników kultury będziemy je rekonstruowali, będziemy je odubowywali od fundamentów, aby przekazać pokoleniom, jeżeli nie autentyczną, to przynajmniej dokładną formę tych pomników, żywą w naszej pamięci […]“ – Zachwatowicz, Jan: Program i zasady konserwacji zabytków [Das Programm und die Prinzipien der Denkmalpflege]. In: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury 8 (1946), Nr. 1–2, S. 48–52, hier S. 48. Vgl. dazu auch die Beiträge „ ,Wiedergutmachung für historische Verluste.‘ Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa als Akt nationaler Selbstbehauptung“ und „,Seid von Zeit zu Zeit auch tolerant!‘ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler“ in diesem Band. 17 Einige Jüngere Publikationen zum Wiederaufbau Warschaus: Majewski, Piotr: Ideologia i konserwacja. Architektura zabytkowa w Polsce w czasach socrealizmu [Ideologie und Denkmalpflege. Architekturdenkmäler in Polen in der Zeit des Sozialistischen Realismus]. Warszawa 2009; Tomaszewski, Andrzej: Legende und Wirklichkeit: Der Wiederaufbau Warschaus. In: Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen. Hg. von Dieter Bingen und Hans-Martin Hinz. Wiesbaden 2005, S. 165–173; Kochanowski, Jerzy; Majewski, Piotr; Markiewicz, Tomasz; Rokicki, Konrad: Zbudować Warszawę piękną... O nowy krajobraz stolicy (1944– 1956) [Ein schönes Warschau bauen… Für eine neue Stadtlandschaft der Hauptstadt (1944–1956)]. Warszawa 2003; Majewski, Jerzy S.; Markiewicz, Tomasz: Warszawa nie odbudowana [Das nicht wiederaufgebaute Warschau]. Warszawa 1998; Baraniewski, Waldemar: Ideologia w architekturze Warszawy okresu realizmu socjalistycznego [Ideologie in der Warschauer Architektur der Zeit des Sozialistischen Realismus]. In: Rocznik Historii Sztuki 22 (1996), S. 231–260.

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Abb. 18  Warschau, Wiederaufbau des Marktplatzes der Altstadt. Aufnahme 1953. Vgl. auch Abb. 12–13 auf S. 28–29 und Abb. 18 auf S. 81.

Wegen dieser besonderen Umstände wird der Wiederaufbau der polnischen Hauptstadt bis heute gleichsam als ein von spontanem Bürgereinsatz getragener Akt kultureller Selbstverteidigung einer geschundenen Nation glorifiziert – getreu dem für ihn werbenden offiziellen Slogan „Die ganze Nation baut ihre Hauptstadt“ („Cały Naród Buduje Swoją Stolicę“). Dieser von der damaligen Regierungspropaganda lancierte und im Wesentlichen bis heute tradierte Mythos sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rekonstruktion der Altstadt nicht zuletzt ein politisches Meisterstück des von der Sowjetunion oktroyierten kommunistischen Regimes war, das sich so als Retter des nationalen Erbes in Szene setzte, um Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen.



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In den jüngeren Berichten über den Wiederaufbau Warschaus wird die Altstadtrekonstruktion zugleich mehr oder weniger ausdrücklich als ein von couragierten Denkmalpflegern ertrotztes, quasi-dissidentisches Gegenmodell zur stalinistischen Architekturkonzeption gedeutet. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die polnische Idee der Rekonstruktion, auch wenn sie anfangs in der Tat mit der Option eines Neuaufbaus im Stil des neohistorischen Monumentalismus konkurrierte, durchaus im Einklang mit der sozialistisch-realistischen Forderung nach schöpferisch-selektiver Abb. 19  Warschau, Mietshaus von MauAneignung nationaler Bautraditionen rycy Spokorny, 1903 erbaut, im Zweiten stand. Denn sie setzte, wie noch zu zeiWeltkrieg beschädigt, um 1947 abgerissen. gen sein wird, so rigoros auf eine Purifizierung des Bauerbes, dass immer wieder schwer zu entscheiden ist, ob sich die Wiederherstellung der polnischen Altstädte mit dem ein hohes Maß an Originaltreue suggerierenden Begriff Rekonstruktion oder zutreffender als rekonstruktiver, vielleicht auch nur retrospektiver Wiederaufbau charakterisieren lässt. Die Kompatibilität von derart freizügiger Rekonstruktion und Sozialistischem Realismus machte es für die polnische Regierung möglich, sich die Wünsche der Denkmalpfleger in Hoffnung auf politischen Profit zu Eigen zu machen. Purifizierend und selektiv war die Rekonstruktion der Warschauer Altstadt – um hier den gängigen Begriff beizubeAbb. 20  Warschau, „Kapitalistische   halten – indem sie, anders als in ZachwaMietshäuser neben denkmalwerten Häusern towiczs Beschwörung der im Gedächtnis an der Krakauer Vorstadt“. Aus einer Baulebendigen „genauen Form“ der Baudenkgeschichte Warschaus von 1952. mäler verheißen, keineswegs auf die Wiederherstellung des Vorkriegszustandes zielte. Praktiziert wurde vielmehr eine zum Teil ausgesprochen freie Nachempfindung eines früheren Stadtbilds, das in den als Glanzzeit der Stadtgeschichte angesehenen Epochen von der Spätgotik bis zum Klassizismus

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Abb. 21  Posen, Marktplatz, Häuserfassaden an der Westseite. Zustand 1939, Rekonstruktionsentwurf 1954, Zustand 2002.



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Abb. 22  Posen, Marktplatz, Krämerhäuserzeile mit Kern aus dem 16. Jahrhundert, wiederaufgebaut 1954–57.

Abb. 23  Freudenstadt, Marktplatz, erbaut 1949–52.

entstanden war. Spätere Überbauungen wurden dementsprechend rückgängig gemacht, Gebäude aus nachklassizistischer Zeit grundsätzlich nicht wiederaufgebaut, ja sogar trotz der Nachkriegsnot in beträchtlichem Umfang abgerissen (Abb. 19). Dem systematischen Rückbau des 19. Jahrhunderts lagen ästhetische und ideologische Motive zugrunde. Die Geringschätzung der baukünstlerischen Leistungen des

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Abb. 24  Danzig, Wollwebergasse (heute ul. Tkacka), Aufnahme 1920.

Abb. 25  Danzig, Wollwebergasse (heute ul. Tkacka). Aufnahme 1997.



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Abb. 26  Münster, Prinzipalmarkt. Aufnahme 1880.

Abb. 27  Münster, Prinzipalmarkt. Aufnahme 1962.

Historismus einte damals die polnischen Denkmalpfleger und Architekten mit ihren Kollegen in Ost und West. Diese zeitbedingte Abneigung wurde durch die marxistische Verachtung der historistischen Bauten als vermeintliche Zeugnisse der Dekadenz

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Abb. 28  Danzig, Rechtstadt. Luftaufnahme um 1994.

des überwundenen kapitalistischen Systems ideologisch verschärft. So galt, wie die suggestiven Fotografien einer 1952 publizierten Baugeschichte Warschaus beispielhaft vor Augen führen, allein schon das Nebeneinander von „kapitalistischen Mietshäusern“ des Historismus und „echten“ Baudenkmälern früherer Epochen als ein zu beseitigender Missstand (Abb. 20).18 In Städten, die im Zuge der Polnischen Teilungen an Preußen gefallen waren, kam noch ein drittes, dezidiert politisches Motiv hinzu: Die Verdrängung der Erinnerungen an die deutsche Herrschaftszeit. Ein Paradebeispiel für den selektiv-schöpferischen Wiederaufbau im Zeichen der Polonisierung bietet der Marktplatz in Posen,19 bei dem die Veränderungen aus der von 1793 bis 1919 währenden preußischen Zeit weitgehend zugunsten freizügiger Nachschöpfungen des mutmaßlichen früheren Erscheinungsbilds des Platzes rück18 Szwankowski, Eugeniusz: Warszawa. Rozwój urbanistyczny in architektoniczny [Warschau. Städtebauliche und architektonische Entwicklung]. Warszawa 1952. 19 Einige Jüngere Publikationen zum Wiederaufbau Posens: Marciniak, Piotr: Doświadczenia modernizmu. Architektura i urbanistyka Poznania w czasach PRL [Erfahrungen der Moderne. Architektur und Städtebau Posens in der Zeit der Volksrepublik Polen]. Poznań 2011; Architektura i urbanistyka Poznania w XX wieku [Architektur und Städtebau Posens im 20. Jahrhundert]. Hg. von Teresa Jakimowicz. Poznań 2005; Faraldo, José M.: Medieval Socialist Artefacts: Architecture and Discourses of National Identity in Provincial Poland, 1945–1960. In: Nationalities Papers 29 (2001), Nr. 4, S. 605– 632.



Stadtplanung und Denkmalpflege im geteilten Europa

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gängig gemacht wurden (Abb. 21). Das Ziel war dabei die Wiederherstellung eines unverwechselbar polnischen Stadtbilds. Bei solchen Kreationen einer vermeintlich nationalen oder regionaltypischen Bautypologie handelte es sich in hohem Maße um zeittypische, grenzüberschreitende Konstrukte. Das imaginierte Bild einer polnischen Stadt konnte dabei dem Bild einer deutschen Stadt zum Verwechseln ähnlich sehen. Dies zeigt etwa eine kunstlandschaftlich nicht gerade naheliegende Gegenüberstellung der als vage Nachempfindung des Zustands aus dem 16. Jahrhundert wiederaufgebauten Krämerhäuserzeile auf Posens Marktplatz (Abb. 22) mit der Marktbebauung im badischen Freudenstadt, die als Beispiel für die Weiterentwicklung regionaltypischer Charakteristika in Süddeutschland galt (Abb. 23).20 Mindestens ebenso wichtig wie in Posen war die Polonisierung des urbanen Raums in Danzig.21 Auch dort galt es, das imaginierte Stadtbild von vor 1793 zu rekonstruieren, denn damals war die Ostseemetropole nach jahrhundertelanger Zugehörigkeit zu Polen an Preußen gefallen. Neben dem Historismus wurde in Danzig auch der Klassizismus verdrängt. Während er in Warschau als höchst wiederaufbauwürdig galt, war er in Danzig wegen seiner preußischen Herkunft unwillkommen. Der Wiederaufbau der von der Spätgotik bis zum Barock geprägten Zeitschichten des Stadtbilds indes war sehr schematisch. Geschosshöhen wurden angeglichen, Fassadengliederungen vereinheitlicht, der einst vielgestaltige Giebelschmuck auf Grundformen reduziert (Abb. 24, 25). Im Ergebnis zeigt das wiedererstandene Danzig unübersehbare konzeptionelle Analogien zum westfälischen Münster. Auch dort wurden die Kaufmannshäuser am Prinzipalmarkt in stark vereinfachenden Grundformen wiederhergestellt, Überbauungen des Historismus rückgängig gemacht, Geschosszahlen und -höhen vereinheitlicht, um die als „Maßstabsbrüche“ des 19. Jahrhunderts empfundenen Kubaturunterschiede auszugleichen (Abb. 26, 27).22 Während aber der Wiederaufbau des Danziger Stadtzentrums meist als „Rekonstruktion“, manchmal sogar völlig irreführend als „originalgetreue Rekonstruktion“ bezeichnet wird, gilt der wiedererstandene Münsteraner Prinzipalmarkt ausdrücklich nicht als Rekonstruktion, sondern als eine „Neugestaltung“.23 Im eingangs erwähnten Überblickswerk zum deutschen Städtebau der Nachkriegszeit heißt es sogar auf ganz Deutschland bezogen generell: „An keiner Stelle [...] wurde, wie beim polnischen Wiederaufbau praktiziert, nach 1945 etwa auch nur andeutungsweise die Rekonstruktion einer Straßenwand gefordert [...].“24 Ein vergleichender Blick auf Danzig und Münster zeigt aber, dass sich zwischen konservativem Wiederaufbau und Rekonstruktion kaum klare Trennlinien

20 Neue Städte aus Ruinen... 1992 (wie Anm. 1), S. 18. 21 Zum Wiederaufbau Danzigs unlängst grundlegend: Friedrich, Jacek: Neue Stadt in altem Gewand. Der Wiederaufbau Danzigs 1945–1960. Köln – Weimar – Wien 2010. 22 Richardt-Wiegand, Ursula: Das neue Münster. 50 Jahre Wiederaufbau und Stadtentwicklung 1945– 1995. Münster 1996, S. 65–67. 23 Richardt-Wiegand 1996 (wie Anm. 22), S. 65. 24 Neue Städte aus Ruinen... 1992 (wie Anm. 1), S. 18.

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ziehen lassen. Die Etikettierung als traditionalistische „Neugestaltung“ oder „Rekonstruktion“ ist eine Frage der Deklaration. Während Danzigs Fassadenkulissen Gemeinsamkeiten zu den konservativen Wiederaufbautendenzen in Westdeutschland zeigen, lässt sich die Raumstruktur der Stadt ohne Weiteres dem modernistischen Städtebau zurechnen. Die einst sehr dichte Bebauung des Zentrums wurde radikal ausgedünnt. Dies geschah durch Aufbrechen der geschlossenen Blockrandstruktur, Verzicht auf den Wiederaufbau ganzer Straßenfluchten und Kürzung der sich ursprünglich weit in die Grundstückstiefe erstreckenden Häuser um ein gutes Drittel. Auf diese Weise entstand eine von Grund auf neuerrichtete Siedlung mit durchgrünten, weitläufigen, zum Straßenraum hin geöffneten Innenhöfen (Abb. 28). Zudem wurden die Häuser hinter ihren kleinteiligen Fassaden zwecks rentablerer Raumausnutzung meist zu größeren Einheiten mit genormten Wohnungszuschnitten zusammengefasst. Was sich hier als Rekonstruktion kleidet, ist letztlich nicht weit entfernt von einer funktionalistisch strukturierten, aufgelockerten Stadtlandschaft mit viel Licht, Luft und Sonne, wie sie in Westdeutschland von den – in sozialistischen Ländern damals offiziell verachteten – Modernisten propagiert wurde. Diese wenigen Schlaglichter zeigen, dass es beim Wiederaufbau der frühen Nachkriegszeit in der Bundesrepublik, der DDR und in Polen bei allen offenkundigen Unterschieden trotz denkbar verschiedener historischer und ideologischer Voraussetzungen auch frappante Parallelen gab. Hinter den vordergründigen Gegensätzen leuchten über die Grenzen und politischen Gräben hinweg Gemeinsamkeiten auf, die in gemeinsamen mitteleuropäischen Traditionen gründen. Und darin, dass man, auch anderslautenden Bekundungen zum Trotz, stets über die Grenzen schaute.

Au f n ac h Bochum Das Areal an der Dresdner Frauenkirche und das Prinzip Rekonstruktion Zwei Vorurteile gegen Rekonstruktion werden von der Dresdner Frauenkirche und der Bebauung des benachbarten Neumarktareals widerlegt. Erstens der beharrlich wiederholte Vorwurf, ein rekonstruierter Bau sei unweigerlich eine Geschichtsfälschung, da er sich als etwas ausgebe, das er nicht sei, und zugleich die Brüche der Vergangenheit negiere. Entgegen diesem Stereotyp ist die Zerstörung der Frauenkirche durch den Kontrast zwischen dem Grauschwarz der wiederverwendeten originalen Werksteine und dem Hellbeige des neuen Mauerwerks in der Baugestalt ihrer Rekonstruktion anschaulich geblieben. Der Kontrast wird in einigen Jahrzehnten sicher verblassen. Das dürfte aber wenig daran ändern, dass die Frauenkirche auch künftig weniger als ein Monument des Barock denn als ein Denkmal der Wiederaufbauleistung inszeniert werden wird. Und dies allein schon aus Gründen der Vermarktung. Denn die sich durch den Bau schiebenden, vom Besucherzentrum professionell abgefertigten Touristenmassen kommen nicht in erster Linie wegen der barocken Pracht in die Kirche. Sie kommen vor allem wegen der anrührenden Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau, die in der Stadt in allen erdenklichen Formen unentwegt repetiert wird. Mit ihrem emotionalen und symbolischen Wert, ihren narrativen Qualitäten und der Akkuratesse der Ausführung ist die archäologische Rekonstruktion der Frauenkirche ein Ausnahmefall, der sich selbst bei vielen einstigen Kritikern Respekt verschafft hat. In ihrer Nachbarschaft breitet sich dagegen mit den vorwiegend barock kostümierten Häusern des Neumarkts in atemberaubendem Tempo die Massenware aus (Abb. 1). Man müsste aber auch in diesem Fall mit Blindheit geschlagen sein, wollte man ihren Erbauern eine Täuschungsabsicht unterstellen. Zwar reiht sich eine rekonstruierte, in frischen Pastelltönen strahlende Fassade an die andere, so dass ein geschönt imaginiertes Bild der Vergangenheit entsteht. Sobald man aber eines der neuen Geschäfte, Restaurants und Hotels oder die einen ganzen Block einnehmende „QF-Passage“ betritt, geben sich die Neubauten mit ihrem Innenleben aus Stahl, Glas und Beton ohne jede Camouflage als konfektionierte Schöpfungen der Gegenwart zu erkennen. Eine Tiefgaragenzufahrt führt sogar in den Baukörper eines Hauses, dessen Fassade sich in Barockformen präsentiert. Wohl nicht einmal ein asiatischer Tourist, dem Dresden nur eine Stunde seiner kostbaren Urlaubszeit wert ist, käme bei diesem Anblick auf die Idee, vor einem barocken Original zu stehen. Das zweite Vorurteil, das am Dresdner Neumarkt revidiert wird, lautet, dass die Sehnsucht nach gebauten Vergangenheitsbildern, die dem Rekonstruktivismus ebenso wie der mit ihm verwandten Retroarchitektur zugrundeliegt, den Niedergang der Baukultur befördere. Gewiss: Zu behaupten, der Wiederaufbau des Neumarkts sei eine Glanzstunde der Baukunst, wäre kühn. Wer seine ideologischen Vorbehalte ablegt,

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Abb. 1  Mauerwerk mit Geschichtsspuren inmitten einer Vergangenheitsimagination in Pastell: die Frauenkirche und barock kostümierte Neubauten in ihrer Nachbarschaft. Aufnahme 2008.

muss aber anerkennen, dass hier ein urbaner Raum entsteht, dessen Erlebnis nicht gleich Fluchtreflexe auslöst – ganz im Gegensatz zu den meisten Plätzen der Moderne. Die emporwachsenden Geschäfts- und Wohnbauten sind zwar allein schon in ihrer handwerklichen Ausführung weit von der Exklusivität entfernt, die auf den Baustellentafeln verheißen wird. Aber die befürchteten Plastikfensterorgien sind ausgeblieben. Fassaden, die die Bautradition zeitgenössisch interpretieren, statt sie nachzuahmen, wurde am Neumarkt nach langen und erhitzten Debatten nur ein Nischendasein eingeräumt. Aber die wenigen Beispiele, etwa das direkt gegenüber der Frauenkirche gelegene Haus, das den Eingang zur „QF-Passage“ aufnimmt (Abb. 2), oder eine Häuserreihe in der Töpferstraße, gehören keineswegs zu den missratensten



Die Dresdner Frauenkirche und das Prinzip Rekonstruktion

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Abb. 2  Es ist in Deutschland durchaus schon schlechter gebaut worden: Häuser gegenüber der Westfassade der Frauenkirche. Aufnahme 2009.

Abb. 3  Hier darf erkennbar zeitgenössische Architektur nur noch Lücken füllen: der Neumarkt. Aufnahme 2009.

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Vertretern der Gegenwartsarchitektur. In den Innenräumen, einschließlich halböffentlicher Bereiche wie Passagen oder Hotelfoyers, dominiert zwar Belanglosigkeit. Doch gibt es auch Ausnahmen, etwa den Lichthof des „Hotels QF“ mit seiner vertikalen Abfolge von geschwungenen, durch umlaufende Lichtbänder dynamisierten Deckenöffnungen, deren Sog die Enge des Raumes kompensiert. Mit seinen wenigen überdurchschnittlichen Bauten ist der Neumarkt gewiss kein Markstein neuer Urbanität. Doch seien wir ehrlich: Er ist auch nicht schlechter, vielleicht sogar ein wenig besser als die meisten Investorenarchitekturensembles unserer Tage. Gleichzeitig bestätigt aber die Bautätigkeit auf dem Areal zwei Vorbehalte gegen Rekonstruktion. Erstens ist der Wunsch nach Wiedererstehung verlorener Stadtbilder nicht mit Hingabe an den überkommenen Denkmalbestand zu verwechseln. Oftmals führt er sogar zu dessen Vernichtung. So werden am Neumarkt die erhaltenen Keller des 16. bis 19. Jahrhunderts, die einzigen Überreste seiner ursprünglichen Bebauung, bis auf Ausnahmen für Tiefgaragen geopfert. Zweitens zielen Rekonstruktionen ganzer Quartiere nicht auf die Wiedergewinnung der verlorenen Vielfalt eines gewachsenen Stadtraums, sondern auf dessen Homogenisierung im Sinne einer selektiven Vergangenheitsvision (Abb. 1, 3). Und genau darin liegt das größte urbanistische Defizit des Neumarkts: Bei längerer Verweildauer wird man der immergleichen Fassadentypen mit ihren wohlgeordneten Rastern aus Kreuzsprossenfenstern, der Dachlandschaften mit gleichförmigen Gauben in Reih und Glied, ja sogar des hübschen Straßenbelags mit seiner Kopfsteinseligkeit überdrüssig. Als vor dieser Kulisse eine Kutsche mit elbflorenztrunkenen Touristen vorbeirumpelt, zieht es mich in eine normale deutsche Stadt, die mit ihren Dissonanzen lebt, statt sich mit einem verbrämten Bild der Vergangenheit neu zu erfinden. Nach Leipzig. Nach Hannover. Nach Bochum.

Vá cl av Havel u n d Toma š G . Ma sa ryk : P r ä s i d en t i el l e Ku n st p at rona ge und visue lle S t a a t srep räsen t at i on au f de r Pra ge r B urg

Nach dem Umbruch von 1989–91 mussten die nunmehr postsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas nicht nur die wirtschaftliche und politische Systemtransformation bewältigen. Sie wurden auch mit der Aufgabe konfrontiert, neue Inhalte und Formen ihrer symbolischen und visuellen Selbstdarstellung im Zeichen von Demokratisierung und wiedererlangter Souveränität zu entwickeln. Doch die neuen Staatsmänner waren dieser Aufgabe, sei es wegen der Kürze und Turbulenz ihrer Amtszeit, sei es mangels intellektueller Kapazität, in der Regel kaum gewachsen. Eine Ausnahme war der Schriftsteller und einstige Dissident Václav Havel, den die Samtene Revolution Ende 1989 an die Staatsspitze gebracht hatte. Während seiner langen Amtszeit als Staatspräsident zunächst der Tschechoslowakei (1989–92) und nach deren Auflösung der Tschechischen Republik (1993–2003) entfaltete Havel mit großem Gespür eine Fülle von Aktivitäten, die der visuellen Repräsentation des Staates im Allgemeinen und der Inszenierung des Präsidentenamtes – und damit auch seiner Person – im Besonderen dienten. Im Zentrum dieser Aktivitäten, die die in den Nachrufen auf den Ende 2011 verstorbenen Staatsmann verbreitete Charakterisierung als „unpolitischer Politiker“ relativieren, standen die Wiederbelebung, Restaurierung und punktuelle Umgestaltung der Prager Burg auf dem Hradschin. Der so weitläufige wie prachtvolle Gebäudekomplex (Abb. 1), der als größtes geschlossenes Burgareal der Welt gilt, bietet ein herausragendes Ensemble aus verschiedenen Architekturepochen, von der Romanik über Gotik, Renaissance und Barock bis zur Neogotik und zum Neoklassizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Burgbauten

Abb. 1  Prag, Burgareal auf dem Hradschin.

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mit dem von ihnen eingeschlossenen Veitsdom bilden unangefochten das wichtigste Nationalheiligtum des Landes und zugleich ein strahlkräftiges Symbol tschechischer Staatlichkeit. Vom frühen Mittelalter an diente der Hradschin-Hügel als Sitz böhmischer Herrscher. Im 14. Jahrhundert und erneut im späten 16. Jahrhundert stieg er unter den Kaisern Karl IV. und Rudolf II. sogar zum politischen und kulturellen Zentrum des Heiligen Römischen Reichs auf. In der späteren Zeit der habsburgischen Herrschaft über Böhmen verlor die Prager Burg ihre politische Bedeutung und fiel teilweise einem schleichenden Verfall anheim, bis 1918 ein Teil der Burgbauten zum Sitz des Präsidenten der neugegründeten Tschechoslowakei wurde. Diese Funktion behielt der Hradschin auch in den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bei. Als Havel den Präsidentensitz zu Beginn des Jahres 1990 von seinem kommunistischen Vorgänger Gustav Husák übernahm, fand er die Burgbauten in einem beklagenswerten Zustand vor. Einige Jahre später beschrieb er seine ersten Eindrücke nach Bezug der Amtsräume: „Ich fand mich in einer merkwürdigen Welt wieder: Die Repräsentationsräume, Büros, Korridore und Treppenhäuser waren geschmacklos eingerichtet. Sie waren vollgestopft mit wertlosen, modernen Möbeln, schlechten Bildern, grellen Teppichen aus Kunstfaser…“.1 Bei einer anderen Gelegenheit fasste er seine Meinung über den Umgang des kommunistischern Regimes mit der Burg in die polemischen Worte: „Die Kommunisten haben der Burg zwar eine gewisse Pflege angedeihen lassen, aber diese war von gleicher Art wie ihre Pflege aller übrigen Denkmäler auch. Alles war ausschließlich dem ersten äußeren Eindruck verpflichtet – es kam darauf an, daß die Fassaden abgeputzt waren, der Spanische Saal vergoldet usw. Und somit gibt es hier eine Vielzahl vernachlässigter Räumlichkeiten und andererseits auch wieder eine Menge von Fehlinvestitionen. Die verursachten Schäden jeglicher Art müssen beseitigt werden; das geschieht im Moment.“2 In der Tat hatte es sich Havel von Beginn seiner Amtszeit an zum Ziel gemacht, die Burg wieder in Wert zu setzen und mit neuem Leben zu füllen. So initiierte er Restaurierungsmaßnahmen an den Bauten und die Öffnung einiger bis dahin unzugänglicher Teile des Burgareals für die Öffentlichkeit.3 Der Königsgarten, der Hirschgraben und die Südgärten (Abb. 12) öffneten bald ihre Pforten, derweil in verschiedenen Burgbauten, etwa im Ballhaus, im Kaiserlichen Marstall und in der Reitschule Kunstausstellungen das Publikum lockten. Die Repräsentationsräume des Präsidenten blieben im Alltagsbetrieb zwar geschlossen, im Unterschied zu seinem Vorgänger Husák 1 “I found myself in a strange world: the ceremonial rooms, offices, and also the corridors and staircases were furnished in poor taste, there was an abundance of worthless modern furniture, bad paintings, bright synthetic carpets...” – Havel, Václav: Foreword. In: Josip Plečnik – an Architect of Prague Castle. Hg. von Zdeněk Lukeš, Damjan Prelovšek und Tomáš Valena. Prague 1997, S. 4–5, hier S. 5. 2 Präsident Václav Havel antwortet auf die Frage, was er persönlich mit dem Begriff Prager Burg verbinde. In: Willkommen im Herzen Europas. Die Prager Burg. Revue der Tschechischen Republik, Sondernummer [1995/96], S. 3. 3 Zum Revitalisierungsprojekt für die Burg: Office of the President of ČSFR: Prague Castle Revival Project. Basic Information. Prague 1991.



Präsidentielle Kunstpatronage und Staatsrepräsentation auf der Prager Burg

führte Havel aber an Staatsfeiertagen und bei anderen besonderen Anlässen Tage der offenen Tür ein. Eine wichtige Rolle in Havels Bemühen, mehr öffentliches Leben in den Burgbezirk zu bringen, spielte die Einrichtung einer neuen, dekorativen Burgwache mit effektvoller Performanz, die die alte aus der Zeit des Sozialismus ersetzte. Die von dem tschechischen Kostümbildner Theodor Pištek entworfenen Uniformen (Abb. 2) knüpfen an die Tradition der Ersten Tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit an und signalisieren damit Kontinuität zwischen dem heutigen Staat und seinem vorsozialistischen, demokratischen Vorgänger.4 Die neue spektakuläre Zeremonie der Wachablösung (Abb. 3) wurde rasch zu einer Touristenattraktion – was ohne Zweifel auch eines

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Abb. 2  Theodor Pištek: Uniformentwürfe für die Blaskapelle der Burgwache, um 1990/91.

Abb. 3  Wachablösung im Ersten Burghof. Aufnahme um 2005. 4 Willkommen im Herzen Europas… 1995/96 (wie Anm. 2), S. 10–11.

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der Hauptziele bei ihrer Einführung gewesen war. Havel beließ es aber nicht dabei, der Burg durch Restaurierung, Öffnung und performative Bespielung zu einem besseren baulichen Zustand und gesteigerter öffentlicher Wahrnehmung zu verhelfen. „Jeder Herrscher, später jeder Präsident, der hier eine bestimmte Zeit amtierte“, so Havel in einer offiziellen Broschüre über die Burg, „verspürte das Verlangen, der eine mehr, der andere weniger, hier etwas einzubringen, damit die Zeit seiner Regierung in diesem Komplex verewigt wäre.“ Er selbst gehörte ganz entschieden zu jenen mit dem größeren Verewigungsverlangen. Sein Ehrgeiz war es nach eigenen Abb. 4  Bořek Šípek: Arbeitszimmer von Václav Havel in der Burg, entworfen 1993, ausgeführt 1994. Worten, „hier etwas Schönes zu schaffen, gerade nach der langen kommunistischen Ära, damit sich der Beginn der neuen demokratischen Ära in möglichst sichtbarer Weise dokumentiert.“5 Zu diesem Zweck beauftragte er den tschechischen Designer und Architekten Bořek Šípek mit der Neugestaltung einiger Burgteile.6 Šípek, der lange Zeit in Deutschland und den Niederlanden gelebt hatte, war vor allem für seine opulenten postmodernen Möbel und Glasobjekte international bekannt. Im Jahr 1993 wurde er von Havel offiziell zum „Architekten der Prager Burg“ ernannt. Im Laufe von rund zehn Jahren gestaltete er für den Präsidenten mehrere Burgräume in einem etwas extravaganten, aufmerksamkeitsheischenden Stil, gleichwohl nicht ohne Respekt gegenüber dem historischen Bestand. Zu seinen ersten Projekten auf der Burg gehörte die Möblierung 5 Präsident Václav Havel antwortet auf die Frage… 1995/96 (wie Anm. 2), S. 3. 6 Zu Šípeks Arbeiten für Havel: Volf, Petr: Václav Havel – Bořek Šípek. Hradní práce 1992–2002 [Václav Havel – Bořek Šípek. Die Arbeiten auf der Burg 1992–2002]. Opava 2003; Architekt. Nezávislý mĕsičník architektů (2002), Nr. 10 (mehrere Beiträge); Klimešova-Judlová, Marie: Die Erste Republik in der Zweiten: Tschechische Identität? In: Denkmale und kulturelles Gedächtnis nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation. Hg. von der Akademie der Künste. Berlin 2000, S. 65–72.



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von Havels Arbeitszimmer (Abb. 4), gefolgt unter anderem von der Bestuhlung des Spanischen Saals (Abb. 5), der Inneneinrichtung der Gemäldegalerie (Abb. 6) und der Dekoration des Breiten Korridors. Darüber hinaus war Šípek für die Dekoration von Festessen und die Anfertigung individueller Geschenke für Staatsgäste verantwortlich (Abb. 7). Von der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommen wurden naturgemäß Šípeks Arbeiten am Äußeren der Burg, darunter die neuen Eingänge zur Gemäldegalerie (Abb. 8) Abb. 5  Bořek Šípek: Bestuhlung im Spanischen Saal der und zur Präsidentenkanzlei Burg, entworfen 1994, ausgeführt 1996. (Abb. 9). Auch diese Eingriffe zeigen einen nach wie vor in der Postmoderne wurzelnden Stil mit unverwechselbarer Handschrift. Sie bleiben allerdings punktuell und ordnen sich im Maßstab den historischen Burgbauten unter, mit deren Architektur sie in einen Dialog zu treten suchen. Das konzeptionelle Vorbild für Havels and Šípeks gemeinsames Wirken auf dem Hradschin war erklärtermaßen die Zusammenarbeit zwischen dem herausragenden Mitbegründer und ersten Präsidenten der demokratischen Tschechoslowakei, Tomaš Abb. 6    Bořek Šípek: Eingangsfoyer in der Gemäldegalerie der Burg, entworfen 1994, ausgeführt 1997.

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Abb. 7  Václav Havel überreicht Wu Shu-jen, der Ehefrau des taiwanesischen Staatspräsidenten, eine von Bořek Šípek angefertigte Vase. Aufnahme 2001.

Garrigue Masaryk, mit dem von ihm berufenen „Architekten der Prager Burg“, dem slowenischen Baumeister Josip (Jože) Plečnik, bei der Revitalisierung und Umgestaltung des Burgareals in den 1920er und frühen 1930er Jahren.7 Plečniks Arbeiten für Masaryk (Abb. 10–15), die eine sehr individuelle Spielart des Neoklassizismus repräsentieren, waren in den Jahrzehnten nach 1945 selbst unter Architekturhistorikern weitgehend in Vergessenheit geraten. Einen großen Anteil an der Erinnerungsverdrängung hatte der politische Bann: Für das kommunistische Regime der Tschechoslowakei war Plečnik allein schon wegen seiner engen Verbindungen zu Masaryk, der Symbolfigur der für ihr bürgerlich-demokratisches System verachteten Ersten Republik, ein Tabuthema. Nach der allmählichen Wiederentdeckung in seiner Heimat Slowenien seit den späten 1960er Jahren wurde Plečnik 1986 durch eine prominente Ausstellung in Paris einer größeren internationalen Öffentlichkeit bekannt. Seine ei7 Zu Plečniks Tätigkeit für Masaryk: Josip Plečnik – an Architect of Prague Castle… 1997 (wie Anm. 1); Prelovšek, Damjan: Architekt Josip Plečnik: práce pro prezidenta Masaryka [Der Architekt Josip Plečnik. Arbeiten für Präsident Masaryk]. Praha 2001; Prelovšek, Damjan: Jože Plečnik, 1872– 1957. Architectura Perennis. New Haven – London 1997; Řepa, Miroslav: Josip Plečnik. Architektur für die neue Demokratie. In: Willkommen im Herzen Europas… 1995/96 (wie Anm. 2), S. 24–29; Kovtun, Jiří; Lukeš, Zdeněk: Pražský Hrad za T. G. Masaryka [Die Prager Burg unter T. G. Masaryk]. Praha 1995; Krečič, Peter: Jože Plečnik. Ljubljana 1992; Šlapeta, Vladimir: Josef Plečnik und Prag. In: Bauforum 19 (1986), Nr. 118, S. 5–15; Janák, Pavel L.: Pražský Hrad Republiky [Die Prager Burg der Republik]. In: Československo 3 (1948), Nr. 7, S. 439–445.



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Abb. 8  Bořek Šípek: Eingang zur Gemäldegalerie der Burg, entworfen 1994, ausgeführt 1997.

genwilligen Anverwandlungen klassischer Formen erregten nicht zuletzt als vermeintlicher historischer Bezugspunkt für die damals triumphierende postmoderne Architektur Interesse; gelegentlich wird Plečnik sogar, dies allerdings durchaus irreführend, als Postmodernist avant la lettre apostrophiert. In der Tschechoslowakei wurde der politische Umbruch von 1989 zum entscheidenden Impuls für die heimische PlečnikRenaissance, die 1996 in eine große Ausstellung in der Prager Burg mündete. Seither erfreut sich Plečniks Werk einer mitunter kultartigen Wertschätzung als Artikulation einer überzeitlichen Architektursprache, in der sich eine poetische Monumentalität und erlesene Einfachheit mit individuellem Stilwillen verbänden. Die konzeptionellen Parallelen und gelegentlich auch formalen Ähnlichkeiten (Abb. 9, 10) zwischen Šípeks Arbeiten für Havel und Plečniks Arbeiten für Masaryk sind unübersehbar und selbstredend keineswegs zufällig. Nach der Befreiung von der kommunistischen Diktatur und sowjetischen Vorherrschaft war die Bezugnahme auf die Burgumgestaltung in der Zwischenkriegszeit für den Geschichtspolitiker Havel aus mehreren Gründen naheliegend. Der allgemeinste von ihnen ist die hohe Bedeutung des politischen Erbes der Ersten Republik für die offizielle Geschichtskultur der postsozialistischen Tschechoslowakei und, seit 1993, der Tschechischen Republik. Der tschechoslowakische Staat der Zwischenkriegszeit wird als Vorbild für die neue Demokratie angesehen, und sein von 1918 bis 1935 amtierender Präsident Masaryk gilt Vielen als Ausnahmefall eines Staatsmanns, bei dem politisches Geschick mit hohem Intellekt und persönlicher

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Abb. 9  Bořek Šípek: Eingang zur Präsidentenkanzlei in der Burg, entworfen 1994,   ausgeführt 1997.

Tugendhaftigkeit Hand in Hand gegangen sei. Zu seinen Verehrern gehörte auch und gerade Václav Havel, der sich während seiner Amtszeit alle Mühe gab, ein würdiger Nachfolger des politischen Architekten der ersten tschechoslowakischen Demokratie zu sein. Dementsprechend war der Rekurs auf die staatliche visuelle Kultur der Masaryk-Zeit bei der Umgestaltung der Burg, ähnlich wie bei der Einrichtung der neuen Burgwache, ein Mittel, die Idee der Kontinuität mit der vorsozialistischen Staatstradition zum Ausdruck zu bringen und damit ein ästhetisches Zeichen der Überwindung der Diktatur zu setzen. Als Vorbild empfahl sich Masaryks und Plečniks Baukampagne auch wegen ihrer verbreiteten Interpretation als mustergültiges Beispiel für eine demokratische Umdeutung monarchischer Architektur, die Respekt gegenüber der Vergangenheit mit Selbstbewusstsein des neuen republikanischen Staates vereinige. Bereits Masaryk selbst hatte diese Deutung vorgegeben, als er 1923 den Wunsch äußerte, dass „die Burg mit ihrer Umgebung nicht nur der Sitz des Präsidenten, sondern auch ein Symbol unserer nationalen demokratischen Ideale“ werde.8 Zwei Jahre später erläuterte er ausführlicher die Prinzipien und die nationale Bedeutung des Burgumgestaltungsprojekts: „Die Zielsetzung heißt: die Burg zum Sitz des Präsidenten eines demokratischen Staates zu machen. Die gesamte Außen- und Innengestaltung der Burg muß eine schlichte, doch künstlerisch edle und sinnbildliche Idee von Eigenstaatlichkeit und Demokratie werden. […] Die Nation betrachtet die Burg als ihr Eigen, deshalb verdient die Umgestaltung der im 8 „A mám také přání, aby hrad a jeho okolí stal se nejen sídlem prezidentovým, nýbrž symbolem našich národních demokratických idealů.“ Zit. nach: Kovtun/Lukeš 1995 (wie Anm. 7), S. 54.



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Abb. 10    Josip Plečnik: Baldachin der sogenannten Stiertreppe, Durchgang   zwischen Drittem Burghof   und Wallgarten, errichtet 1929–31.

monarchischen Stil entworfenen und gebauten Prager Burg in eine demokratische Burg nicht nur die Aufmerksamkeit des Präsidenten, sondern auch die der Regierung.“9 9 Zit. nach: Řepa 1995/96 (wie Anm. 7), S. 28. Vgl.: Pozzetti, Marco: Plečnik and Prague Castle. Architecture for the New Democracy. In: Josip Plečnik – an Architect of Prague Castle… 1997 (wie Anm. 7), S. 49–52, hier S. 51; Kovtun/Lukeš 1995 (wie Anm. 7), S. 55.

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Abb. 11  Josip Plečnik: Obelisk im Dritten Burghof, errichtet 1928.

Abb. 12  Josip Plečnik: Paradiesgarten mit Granitschale an der Südseite der Burg, gestaltet 1923–25.



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Abb. 13  Josip Plečnik: sogenannter Plečnik-Saal in der Burg, gestaltet 1927–30.

Masaryk erklärte nicht ausdrücklich, was das spezifisch „Demokratische“ an der Umgestaltung sei. Wie so oft bei politischer Architektur, war diese Deutung eher eine Frage der Deklaration als das Ergebnis einer präzisen, von konkreten Formen ausgehenden Argumentation. Im Zuge der Plečnik-Renaissance wurde sie von der Forschung weitgehend ungeprüft übernommen und durch Herausstellung einiger vermeintlich demokratischer Elemente des Burgumbaus ein wenig konkretisiert. So gelten etwa, einem gängigen Muster folgend, die neoklassizistischen Formen als Verweis auf die Wurzeln der Demokratie in der Antike.10 Als eine ausdrücklich demokratische Intervention wurden auch die Abmilderung der festungsartigen Wirkung der 10 Lukeš, Zdeněk; Prelovšek, Damjan; Řepa, Miroslav; Valena, Tomáš: Josip Plečnik – an Architect of Prague Castle. In: Josip Plečnik – an Architect of Prague Castle… 1997 (wie Anm. 1), S. 8–9, hier S. 8.

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Abb. 14  Josip Plečnik: Eingangsfoyer vor der sogenannten Präsidententreppe in der Burg, gestaltet 1923–24.

Abb. 15  Josip Plečnik: Bibliothek von Tomaš Garrigue Masaryk in der Burg, eingerichtet 1923–28.



Präsidentielle Kunstpatronage und Staatsrepräsentation auf der Prager Burg

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Burg und die stärkere Öffnung des Areals zur Stadt hin interpretiert.11 Inwieweit solche Deutungen einer kritischen Überprüfung standhalten, muss hier nicht erörtert werden. Sie spiegeln jedenfalls und verstärken zugleich die verbreitete Wahrnehmung der Burgumgestaltung der Zwischenkriegszeit als ein zutiefst demokratisches Projekt und damit als ein ideales Vorbild für die Revitalisierung der Burg und Abb. 16  Tomaš Garrigue Masaryk mit seiner Tochter Repräsentation des PräsiAlice. Aufnahme 1931. dentenamts nach der Rückkehr zur Demokratie. Ein weiterer Grund für die Attraktivität dieses Vorbilds war für Havel wohl der exklusive, intellektuelle Charakter der Partnerschaft zwischen Masaryk and Plečnik (Abb. 16, 17). Obwohl Masaryk die Federführung über die Burgarbeiten im Wesentlichen seiner Tochter Alice übertragen hatte, entstand im Laufe der Zeit ein persönliches und, wie berichtet wird, so respektvolles wie freundschaftliches Verhältnis zwischen Präsident und Architekt. In der Rückschau gilt dieses Verhältnis als ein außergewöhnlich niveauvoller und produktiver Dialog zwischen einem hochintellektuellen Staatsmann – vor seiner Politikerkarriere war Masaryk ein international renommierter Philosophieprofessor gewesen – und einem genialen Künstler, der nach zeitlosen Werten in Abb. 17  Josip Plečnik. Aufnahme 1916. der Architektur suchte. In der jüngeren 11 Frampton, Kenneth: Josip Plečnik. Architect of the Prague Castle. In: Josip Plečnik – an Architect of Prague Castle… 1997 (wie Anm. 1), S. 177–178, hier S. 177.

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Literatur zu Plečnik wurde die Zusammenarbeit dieser beiden Persönlichkeiten sogar mit der Kunstpatronage der Kaiser Karl IV. und Rudolf II. in den als Blüteperioden angesehenen Epochen böhmischer Kulturgeschichte parallelisiert.12 Havel selbst schrieb über Masaryks und Plečniks Engagement für die Burg: „Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Präsidenten und seinem Architekten ermöglichte die Entwicklung dieses erstaunlichen Werks, eines Werks, das monumental und zugleich schlicht ist Abb. 18  Václav Havel mit Bořek Šípek. Aufnahme   und sich trotz seiner Moderum 1998. nität harmonisch in das vielfältige Stilmosaik der Prager Burgbauten einfügt.“13 Offensichtlich sah sich Havel nicht nur in politischem Sinne als Masaryks Erbe. Selbst ein herausragender Künstler und Intellektueller, eiferte er Masaryk auch als Kunstpatron nach, um auf diese Weise ein bleibendes Zeichen seiner Amtszeit in der Burg zu hinterlassen, ein Zeichen, das von künftigen Generationen mit dem Architekturerbe seines Vorbilds in Verbindung gebracht werden kann. In Šípek sah er einen geeigneten Partner für diese Aufgabe (Abb. 18). Einige Autoren halten es denn auch für gut möglich, dass Šípek in Zukunft gleichsam als ein neuer Plečnik gelten könnte.14 So weit wird es wohl nicht kommen, denn ganz im Unterschied zu Plečniks scheinbar zeitlosem Werk erscheinen die meisten Burgarbeiten Šípeks deutlich als Produkte eines sehr zeitgebundenen, postmodernen Geschmacks. Dies ändert aber nichts daran, dass die Ergebnisse von Havels Zusammenarbeit mit Šípek, die im Dienst staatlicher Repräsentation und zugleich der persönlichen Selbstdarstellung eines Staatsmanns stehen, konzeptionell wie künstlerisch wohl alles übertreffen, was im postsozialistischen Europa auf diesem Gebiet zustande gebracht worden ist. 12 Lukeš/Prelovšek/Řepa/Valena 1997 (wie Anm. 10), S. 8. 13 “The close cooperation between president and his architect allowed the development of this amazing work, so monumental and at the same time simple, a modern work, yet fitting harmoniously into the varied mosaic of styles of the premises of Prague Castle.” – Havel 1997 (wie Anm. 1), S. 5. 14 Volf 2003 (wie Anm. 6), S. 31.

Ceau s¸ esc u s Ra che Der Volkspalast in Bukarest – ein populäres Monument des Wahnsinns Mit Bürgerprotesten à la Stuttgart 21 brauchte sich Rumäniens Diktator Nicolae Ceauşescu nicht herumzuplagen. Für sein „Staatsforum“, eine Protzachse im Südteil der Hauptstadt, ließ er kurzerhand 50 000 Menschen umsiedeln, 15 000 Häuser einebnen und ein Dutzend Kirchen vernichten. Ein Fünftel des alten Bukarest fiel dem Projekt zum Opfer, das die Pariser Champs Elysées in den Schatten stellen sollte. Auf einer Anhöhe am Ende des von Ministerien und Wohnbauten für Privilegierte gesäumten „Boulevards des Sieges des Sozialismus“ entstand seit 1984 der alle Maßstäbe sprengende „Volkspalast“, der entgegen seinem euphemistischen Namen dem Despoten als Machtzentrum dienen sollte (Abb. 1). Der Bau verschlang jährlich fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Das namengebende Volk musste für die Hybris seines Tyrannen frieren und hungern. Bei einer Führung durch das, wie gerne betont wird, weltweit zweitgrößte Verwaltungsgebäude nach dem Pentagon ist das Massenleiden, das Ceauşescus Bauwahn im Armenhaus Rumänien auslöste, kein Thema. Dafür werden imponierende Zahlen aneinandergereiht. Siebenhundert Architekten und 20 000 im Vierundzwanzigstunden-

Abb. 1  Dominant wie eine ägyptische Pyramide, doch entrückt wie ein kafkaeskes Schloss: Ceaus ¸ escus „Volkspalast“ hält das Volk auf Distanz. Aufnahme 2010.

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Abb. 2  Spätsozialistische Dekadenz: die als Konferenz- und Bankettsaal genutzte Sala Unirii. Aufnahme 2010.

betrieb eingesetzte Arbeiter habe der Bau beschäftigt. Mit 275 mal 235 Metern Seitenlänge, fast 90 Metern Höhe und 365 000 Quadratmetern Gesamtfläche übertreffe er an Volumen sogar die Cheops-Pyramide. Eine Million Kubikmeter Marmor aus Siebenbürgern soll in den bis zu 150 Meter langen Hallen und Fluren verbaut worden sein, in denen fast 500 Kronleuchter hängen (Abb. 2, 3). Mit seiner Gigantomanie ist der Bau schlechthin das Symbol der Schreckensherrschaft des späten Ceauşescu. Im Jahr 1965 zur Macht gekommen, erwarb sich der Bauernsohn dank seiner mutigen Reformen und des Selbständigkeitskurses gegenüber der Sowjetunion zunächst viel Respekt. Danach, auf seinen Reisen in das kulturrevolutionäre China und stalinistische Nordkorea 1971, geriet er aber unter richtig schlechten Einfluss und verlor allmählich den Verstand. Seine Politik der radikalen Autarkie führte Rumänien in ein Desaster. Derweil baute der „Conducator“ (Führer) oder auch „Titan der Titanen“, wie er sich nun betiteln ließ, Abb. 3  Traumwelt des Parvenüs: Palastkronleuchter im einen Personenkult auf, der XXL-Format. Aufnahme 2010.



Der Volkspalast in Bukarest

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selbst in Osteuropa seinesgleichen suchte. Mit dem „Volkspalast“ wollte er sich ein Märchenschloss erschaffen, wie es kein Herrscher vor ihm besessen hatte. Den Entwurf lieferte die damals völlig unerfahrene Architektin Anca Petrescu, die Ceauşescu zum Entsetzen der Fachwelt zur Wettbewerbssiegerin erklärt hatte. Ohne Sinn für Proportionen, aber sehr zum Gefallen des Auftraggebers, Abb. 4  Kaum fertiggestellt, schon mavermanschte sie an dem Bau so ziemlich rode: Außenanlage am Publikumseingang. alle Würdeformen, die die ArchitekturgeAufnahme 2010. schichte zu bieten hat. Details wie Säulen, Halbsäulen, Pilaster, Rundbögen, Gesimse, Balustraden und Rustikaquader erinnern vage an Paläste der Renaissance, des Barock und des Klassizismus. Die Großform mit dem überhöhten, flach geschlossenen Mittelteil und ausladenden Eckrisaliten lässt aber eher an eine mesopotamische Zikkurat oder auch einen in der Mitte abgesägten Riesenturm in Stalins Sowjetunion denken. Genauso diffus sind die Anverwandlungen historischer Formen in den Innenräumen mit ihren Säulenarkaden, Kassetten- und Glasdecken, mosaizierten Böden, Marmorund Holzvertäfelungen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich die Schludrigkeit der Verarbeitung, und die unansehnliche Gebäudetechnik ist nur notdürftig unter dem überbordenden Ornament versteckt. Der Gesamteindruck bleibt aber so pompös, dass der Palast 2001 zum Drehort für die Verfilmung von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ auserkoren wurde – als Ersatz für den Vatikanpalast, der die Dreherlaubnis verweigert hatte. In diesem Ambiente hatte sich Ceauşescu, der Parvenü aus der Provinz, der sich auch „Genie der Karpaten“ und „irdischer Gott“ nannte, in Szene setzen wollen. Argusäugig überwachte er die Realisierung seines Lebensprojekts und überraschte die Architekten mit immer neuen Wünschen. Dazu gehörten, so wird überliefert, auch zwei gegenüberliegende Prachttreppen aus Marmor, auf denen Ceauşescu und seine Gattin ihren Gästen von beiden Seiten gleichzeitig entgegenschreiten sollten. Die Treppen sind heute zu bestaunen, doch der Bauherr hat die Erfüllung seines Großmannstraums nicht erlebt. Der einzige, der sich auf dem Herrscherbalkon (Abb. 5) in der Mittelachse der Schaufassade der jubelnden Menge zeigen konnte, war Michael Jackson. Als die Bilder des hingerichteten Tyranns zu Weihnachten 1989 um die Welt gingen, waren erst sechzig Prozent des Palasts fertig. Und damit beginnt der erstaunlichste Teil seiner Baugeschichte. Nach dem Umsturz hegten Viele den Wunsch, den verhassten Bau zu sprengen. Doch er war zu unverwüstlich. Gleichzeitig überschlugen sich Ideen zu einer symbolträchtigen Umnutzung, die von Börse bis Bordell reichten. Doch sie scheiterten an der Größe des Palasts. Da sie ihn nicht loswerden konnte, beschloss die Regierung 1991 seinen Weiterbau und vermarktete ihn als Konferenzzentrum. Ab 1996 bezog das rumänische Parlament den Giganten, der seitdem „Palatul Parlamentului“ heißt, gefolgt von einigen Regierungsinstitutionen, die ihn allerdings bei weitem nicht auslasten.

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Abb. 5  Ceaus¸escu erlebte ihn nicht mehr, dafür Michael Jackson: Blick vom Herrscherbalkon auf den Bulevardul Unirii, den einstigen Boulevard des Sieges des Sozialismus. Aufnahme 2006.

Derweil wurde an dem symbolisch schwerst kontaminierten Ort, unabhängig von der Couleur der Regierungen, kontinuierlich weitergebaut, und zwar weiterhin unter Federführung Petrescus und ohne nennenswerte Planänderungen. Der Großteil der Marmororgien im Inneren stammt nicht aus Ceauşescus Zeit – er ist ein Werk des demokratischen Rumänien. Schon vor einem Jahrzehnt meldete man die Fertigstellung, tatsächlich wird aber an einigen Teilen des Palasts, in dem 2008 sogar ein NATO-Gipfel stattfand, bis heute gebaut. Und daran wird sich bis auf weiteres nichts ändern, denn manch eine vor einigen Jahren fertiggestellte Partie des Gebäudes ist wegen miserabler Ausführung bereits baufällig (Abb. 4). Zu den nach 1989 angefallenen Bau- und Unterhaltskosten gibt es keine zuverlässigen Angaben, es sollen mehrere Milliarden Euro sein. Was Rumäniens Intellektuelle ebenso fassungslos macht wie die fortgesetzte Finanzierung eines Monuments des Wahnsinns mit Steuermitteln eines nach wie vor bitterarmen Landes, ist seine zunehmende Popularität in Politik und Bevölkerung. Kaum noch jemand stößt sich an der so brutalen wie kitschigen Herrschaftsarchitektur spätsozialistischer Dekadenz. Im Gegenteil: Der auf unzähligen Postkarten abgebildete Palast gilt als eine der schönsten Sehenswürdigkeiten Bukarests, während die Wohnungen in den zwischen Neostalinismus und Provinzpostmoderne schwankenden Bauten am einstigen „Boulevard des Sieges des Sozialismus“ Höchstpreise erzielen. Das liegt zum einen sicher an nostalgischer Verklärung der Diktatur und einem populären Schönheitssinn, der den groben Reiz sucht. Aber leider auch daran, dass sich Bukarests Stadtbild seit Ceauşescus Ende nicht wirklich zum Vorteil entwickelt hat.

Kon t i n u i t ät i m Wa nde l Nationale Geschichte und staatliche Identität auf polnischen Banknoten (1918 bis heute)

Monarchische Solidität nach wilden Jahren – die heutigen   Banknoten Polens Als die sozialistische Staatsmacht und Wirtschaft kollabierten, verwandelte sich Polen, seit Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 das tristeste Land Ostmitteleuropas, in einen pulsierenden Basar. Auf den Märkten, die überall aus dem Boden schossen, wurden alle Dinge der Welt feilgeboten, derer die interkontinental operierenden polnischen Händler auf ihren Routen zwischen New York und Ulan Bator habhaft werden konnten: von exotischen Früchten aus der Südsee über Damenstrümpfe aus Beständen bankrotter heimischer Fabriken bis zu High-TechWundern aus Fernost. Eine Zeitlang war kein Ort vor dem Treiben der wendigen Kleinunternehmer sicher. Selbst in den engen Straßen rund um den majestätischen Marktplatz der alten Hauptstadt Krakau drängten sich die zum Symbol merkantiler Mobilität der Polen gewordenen vollbepackten Kleinstwagen der Marke Fiat 126p. Zu rollenden Mini-Läden umfunktioniert, setzten sie der Agonie der eingesessenen staatlichen Geschäfte ein improvisiertes, aber streng nachfrageorientiertes Angebot entgegen. An die Stelle spätsozialistischer Ödnis war eine frühkapitalistische Wildnis getreten. Dem wilden Wirtschaftsleben der Wendejahre entsprach die ausgesprochen unsolide Anmutung der größtenteils aus sozialistischer Zeit geerbten Zahlungsmittel. Nach Jahrzehnten galoppierender Inflation waren selbst die Taschen der Ärmsten mit schwellenden Banknotenknäueln gefüllt. Zwar transportierte man das Geld nicht, wie einst in der Zwischenkriegszeit, in Säcken, aber das klassische Portemonnaie im Hosentaschenformat war im damaligen Polen ein eher unpraktisches Utensil. Münzen waren längst aus dem Zahlungsverkehr verschwunden. Dafür sorgten zeitweise nicht weniger als sechzehn verschiedene Banknoten für Verwirrung. Der kleinste gängige Geldschein war der giftgrüne Fünfziger mit dem Bildnis des kommunistischen Generals Karol Świerczewski, für den man noch Ende 1989 in einer staatlichen Buchhandlung mit etwas Glück ein ordentlich gebundenes Buch älteren Erscheinungsdatums kaufen konnte. Für einen Liter Orangensaft westlicher Provenienz wurde man indes den schönen Zehntausendzłotyschein mit dem Kopf des Schriftstellers und Malers Stanisław Wyspiański (Abb. 11) los. Damit kostete das Buch einen deutschen Touristen umgerechnet weniger als einen Pfennig. Und für den zweihundert Mal teureren Westsaft musste der Durchschnittspole über eine Stunde arbeiten. Solcher Sorgen enthoben waren die Geldfälscher, von denen es in Polen damals wimmelte. Für sie waren natürlich weder der Fünfziger noch der Zehntausender von Interesse, sondern

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Abb. 1    Zwanzigzłotyschein von   1994, Vorder-   und Rückseite. Entwurf Andrzej Heidrich.

vor allem die am Anfang der 1990er Jahre emittierten Banknoten im Wert von fünfhunderttausend, einer Million, ja sogar zwei Millionen Złoty (Abb. 13). Mit der Währungsreform vom 1. Januar 1995 wurde der neue Złoty eingeführt, der zehntausend alten Złoty entspricht. Dank der Rückkehr der Münzen musste man nicht mehr für jeden kleinsten Betrag mühsam unzählige zerknitterte Banknoten glattstreichen. Doch der Zahlungsverkehr wurde zunächst kaum übersichtlicher, denn das Inflationsgeld blieb für eine Übergangszeit von zwei Jahren gültig. Die polnische Währung wurde nun vollends zu einem Eldorado für Papiergeldliebhaber. Und zugleich zu einer Falle für unkundige Ausländer: Ein Hundertzłotyschein konnte weniger als einen Pfennig oder fast hundert Mark wert sein – je nachdem, ob es ein alter oder ein neuer war. Seit 1997 war es mit dem Wildwuchs des Papiergelds allerdings endgültig vorbei. Gleichzeitig verschwanden allmählich auch die bizarren Basare. Die abenteuerliche Phase der Transformation war zu Ende. Die neuen Banknoten mit dem Emissionsdatum 1994 entstammen bereits der Phase der politischen Stabilisierung und der beginnenden wirtschaftlichen Konsolidierung. Als Garanten der neuen Solidität erscheinen auf ihnen, in chronologischer Folge, die solidesten Herrscher der polnischen Vergangenheit: Mieszko I. (10 Złoty), Boleslaus I. der Tapfere (20 Złoty, Abb. 1), Kasimir III. der Große (50 Złoty, Abb. 2),



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Abb. 2    Fünfzigzłoty-  schein von   1994, Vorder-   und Rückseite.   Entwurf Andrzej Heidrich.

Wladislaw II. Jagiełło (100 Złoty) und Sigismund I. der Alte (200 Złoty) – große Monarchen des 10.–16. Jahrhunderts, Gestalten einer glorifizierten Vergangenheit, die im nationalen Gedächtnis für die Geburt des polnischen Staates und seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht stehen. In hoheitsvollen Profilbildnissen mit unbeirrbar-entschlossenem Gesichtsausdruck dargestellt, beschwören sie die ehrenwerte staatliche Tradition als unerschütterliches Fundament der Dritten Polnischen Republik. Den Hintergrund der pathetischen Monarchenbüsten bilden stilisierte Architekturfragmente aus der Epoche des dargestellten Herrschers, die in den vielgestaltigen ornamentalen Dekor der Banknote eingebunden sind. Die Rückseiten sind ähnlich komponiert. Das Mittelfeld wird von verschiedenen Motiven eingenommen, die sich auf den abgebildeten Monarchen oder seine Herrschaftszeit beziehen. Auf dem Zehnund Zwanzigzłotyschein (Abb. 1) sind es Münzen aus der Zeit Mieszkos I. und Boleslaus’ des Tapferen, auf den drei übrigen Banknoten unterschiedliche Darstellungen des polnischen Adlers, die vom Majestätssiegel Kasimirs des Großen (Abb. 2), vom Grabmal Wladislaw Jagiełłos sowie von der Dekoration der im Auftrag von Sigismund dem Alten errichteten Sigismundkapelle in der Krakauer Wawel-Kathedrale stammen. Im Hintergrund finden sich ebenfalls Architekturmotive. Ikonographisch sind sie von größerem Interesse als diejenigen der Vorderseiten. Denn im Unterschied

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zu jenen handelt es sich bei ihnen um konkrete, eindeutig identifizierbare Bauten, Baufragmente oder -ensembles, die unter dem jeweiligen Herrscher entstanden sind oder als historische Stätten auf seine besonderen Leistungen verweisen. Von dieser Regel weicht der Zehnzłotyschein ab, den mangels signifikanter baulicher Zeugnisse, die sich mit dem ersten historisch überlieferten polnischen Herrscher, Herzog Mieszko (reg. um 960–992), zweifelsfrei in Verbindung bringen lassen, zwei idealisierte romanische Säulenkapitelle schmücken. Als christlich konnotiertes Architekturelement weisen sie auf die politisch und kulturell folgenreichste Tat des Staatsgründers und Urvaters der Piastendynastie hin: seine Taufe im Jahr 966, die die Christianisierung Polens nach sich zog. Gewisse Schwierigkeiten bei der Wahl eines passenden Architekturmotivs lässt auch der Zwanziger (Abb. 1) erkennen. Als Vorlage für den links von der Münze abgebildeten romanischen Rundbau diente wohl die romanische Rotunde in Teschen (Cieszyn), die von der Forschung in die Mitte oder in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts, also in die Zeit nach dem auf der Vorderseite abgebildeten Boleslaus dem Tapferen (reg. 992–1025), datiert wird. Späterer Zeit gehört auch das Relief mit einem Löwen in einer Ranke, das Gegenstück rechts von der Münze, an. Es stammt von der Randleiste der im 12. Jahrhundert entstandenen berühmten Bronzetür des Doms zu Gnesen. Die Herkunft des winzigen Fragments dürfte nur für die wenigsten Polen erkennbar sein. Der Bezug zu Boleslaus liegt hier indes auf der Hand, war doch der Gnesener Dom Ort und zugleich Symbol seiner größten Erfolge. Im Jahr 1000 fand dort die politisch höchst bedeutsame Zusammenkunft zwischen Boleslaus und Kaiser Otto III. statt, auf der die von dem polnischen Herrscher betriebene Gründung des Erzbistums Gnesen bestätigt wurde. Das Ereignis gilt als wichtiger Schritt zur Etablierung des polnischen Staatswesens auf der europäischen Bühne. Nach 1989 steht es verstärkt für die über tausendjährige Zugehörigkeit des Landes zum westeuropäischen, christlich-lateinischen Kulturkreis – einen Aspekt, dem im Zeichen der Befreiung Polens von der sowjetischen Vorherrschaft und seiner Integration in genuin westliche Strukturen wie NATO und Europäische Union besondere Aktualität zukam. Im Gnesener Dom erlebte Boleslaus auch den letzten Triumph und der polnische Staat eine politische Rangerhöhung: Kurz vor seinem Tod im Jahr 1025 wurde der Piastenherzog dort als erster polnischer Herrscher zum König gekrönt. Anders als auf dem Zwanziger dürfte die Identifizierung der Hintergrundmotive auf dem Fünfziger (Abb. 2) kaum einem Polen Probleme bereiten. Zu beiden Seiten des Adlers in der Mitte erstreckt sich ein Panorama der alten Hauptstadt Krakau und ihrer Nachbarstadt Kazimierz, jeweils versehen mit Überschriften „Cracovia“ und „Casmirus“. Als Vorlage diente ein Stich aus der Schedelschen Weltchronik von 1493, der jedoch nur fragmentarisch wiedergegeben wurde: Bei Kazimierz beschränkte man sich auf einen Teil der Stadt, bei Krakau auf die Wawel-Burg, die damalige Residenz der polnischen Könige. Die Wahl des Motivs ist sehr naheliegend. Denn Krakau verdankte dem auf der Vorderseite dargestellten Kasimir dem Großen (reg. 1333–70) seinen Aufstieg zur Metropole, und das nach ihm benannte Kazimierz, einst eine nicht unbedeutende Stadt, heute Stadtteil von Krakau, war von ihm gegründet wor-



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den. Kazimierz und die Krakauer Wawel-Burg stehen zugleich stellvertretend für den Bauboom in der Zeit seiner Herrschaft. Nicht weniger als siebzig Städte sollen unter Kasimir gegründet worden sein, und an über siebzig Orten entstanden Burgen und Befestigungsmauern. Er hatte ein Land aus Holz vorgefunden und hinterließ ein Land aus Stein – so wird seine Bilanz als Bauherr von der polnischen Geschichtsschreibung auf den Punkt gebracht. Nicht nur wegen dieser Leistungen gilt der letzte Vertreter der Piastendynastie geradezu als idealer König des Mittelalters. Seine Herrscherwürde betonen auf der Banknote die dem Adler beigegebenen königlichen Insignien, die im 19. Jahrhundert in seinem Sarg entdeckt wurden. Auf dem Hunderter prangt an der Stelle der Insignien eine Trophäe: zwei gekreuzte Schwerter, drapiert mit einem weißen Umhang mit schwarzem Kreuz – dem Mantel der Deutschordensritter, die in Polen nach ihrer Kleidung als Kreuzritter („krzyżacy“) bezeichnet werden. Im Hintergrund links ist ein Fragment der Marienburg – des politischen Zentrums des Ordensstaats, das heute zu den bekanntesten Baudenkmälern Polens zählt – mit Hochmeisterpalast, Brückentor und Hochschloss zu sehen. Wladislaw Jagiełło (reg. 1385–1434), dem die Banknote gewidmet ist, wird mit diesen Motiven als siegreicher Feldherr gefeiert. Mit seiner Herrschaft verbindet sich der wohl legendärste militärische Erfolg in Polens Geschichte: die Schlacht bei Tannenberg im Jahr 1410, in der der Deutsche Orden von polnisch-litauischen Truppen vernichtend geschlagen wurde. Die Marienburg selbst fiel zwar erst einige Jahrzehnte später, bereits nach Wladislaws Tod, an Polen. Aber Tannenberg markierte für den Deutschen Orden den Anfang vom Ende und für das polnische Königtum den entscheidenden Befreiungsschlag im jahrhundertelangen Kampf gegen die bis dahin unaufhaltsam expandierende theokratische Großmacht. Die Ordensritter waren im polnischen Kollektivgedächtnis lange Zeit Inbegriff der Verschlagenheit und Grausamkeit des deutschen Erbfeindes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von ihren blutigen Eroberungszügen eine Linie zum deutschen Besatzungsterror im Osten gezogen. Im Zeichen der deutsch-polnischen Verständigung weichen derartige, von der kommunistischen Propaganda kräftig genährte Mystifizierungen allmählich einem differenzierteren und entspannteren Verhältnis zur Geschichte. Dass auf einem polnischen Geldschein dennoch auf die Schmach verwiesen wird, die Wladislaw dem Deutschen Orden bereitet hat, mag als ein unzeitgemäßer Triumphalismus erscheinen – zumal in Deutschland, wo militärische Siege als Motiv der Staatsikonographie aus guten Gründen als inakzeptabel gelten. Ein dezidiert antideutscher Akzent ist in dieser Motivwahl allerdings nicht zu vermuten. Angesichts seiner überragenden historischen Bedeutung darf Wladislaw schlechterdings in keiner polnischen Königsgalerie fehlen, und die Deutschordensthematik ist als ikonographischer Kommentar zur Herrschaft des aus Litauen stammenden Begründers der Jagiellonendynastie geradezu unausweichlich. Denn der unerbittliche Kampf gegen den Orden war das Leitmotiv in Wladislaws politischem Leben, und die Schlacht bei Tannenberg steht im Bewusstsein der Polen nach wie vor für eine der Sternstunden nationaler Geschichte. Einen ganz anderen Ruf als der siegreiche Feldherr Wladislaw genießt der auf dem Zweihundertzłotyschein abgebildete Sigismund der Alte (reg. 1506–48), dessen Herr-

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schaft das sogenannte „Goldene Zeitalter“ in Polens Geschichte einläutete. Sigismund wird vor allem als großer Kunstmäzen verehrt. Auf seine Initiative wurde Krakau, damals politisches Zentrum eines Großreichs, dessen Territorien vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer reichten, zu einer Hochburg der aus Italien importierten Renaissance. Unter der Federführung toskanischer Baumeister entstanden auf dem Wawel-Hügel Bauten, die zu den bedeutendsten Kunstdenkmälern des 16. Jahrhunderts nördlich der Alpen zählen. In der Kathedrale wurde als königliches Mausoleum die preziöse Sigismundkapelle errichtet, von der der Adler mit Sigismunds Monogramm S auf der Rückseite der Banknote stammt. Die alte Burg wurde zu einem prachtvollen Renaissanceschloss ausgebaut. Dessen grandioser Arkadeninnenhof war eine dankbare Vorlage für das Hintergrundmotiv, das nicht nur die Leistungen Sigismunds als Bauherr, sondern auch die kulturelle Blüte des Landes vor Augen führt, mit der die Polen seine Herrschaft in Verbindung bringen. Der Renaissanceherrscher Sigismund beschließt die Monarchenreihe auf Polens Banknoten. Angesichts der Anzahl von nur fünf Geldscheinen blieb der Auftritt selbst so verdienten Königen des „Goldenen Zeitalters“ wie dem letzten Jagiellonen Sigismund II. August (reg. 1548–72), der die auf Wladislaw Jagiełło zurückgehende Personalunion mit Litauen in eine Realunion verwandelte, oder dem großen Feldherrn und Reformator Stephan Bathory (reg. 1576–86) verwehrt. Vollends ausgeblendet ist die lange Zeit des Niedergangs des polnischen Königreichs – der sogenannten Adelsrepublik – im 17. und 18. Jahrhundert, obwohl sie durchaus einige bedeutende Herrscher hervorbrachte: etwa Johann III. Sobieski (reg. 1674–96), der als ruhmreicher Sieger über die Türken bei Wien in die Geschichte einging, oder Stanislaus August Poniatowski (reg. 1764–95), der gegen alle Widerstände das marode Staatswesen zu reformieren versuchte, freilich ohne dessen Untergang durch die Polnischen Teilungen verhindern zu können. Die Abwesenheit dieser Monarchen aus der Verfallsperiode muss allerdings nicht unbedingt geschichtspolitischer Programmatik entsprungen sein. Denn als Exempla der Staatsräson in widriger Zeit werden sie in Polen nicht weniger verehrt als ihre unter glücklicheren Umständen herrschenden Vorgänger. Vielleicht wurden sie für den Fall aufgespart, dass Polen noch vor dem Beitritt zur Eurozone eine Inflation erlebt, die den Staat zur Emission neuer Banknoten veranlasst. Dieser Fall ist nicht eingetreten, und der neue Złoty hat sich allen Schwankungen zum Trotz als stabile Währung erwiesen. Wohl noch nie war das polnische Geld seit der Wiedererstehung des polnischen Staates im Jahr 1918 so vertrauenswürdig wie heute. Und nie war das moderne polnische Staatswesen – sieht man von der erzwungenen Starre in den ersten Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft ab – so gefestigt und berechenbar wie die Demokratie der Dritten Republik. Die sprichwörtliche „polnische Wirtschaft“ gehört der Vergangenheit an, auch wenn das hysterische Gezänk mancher polnischer Politiker zuweilen an die staatszersetzende Obstruktion des polnischen Adels in der Endzeit der Adelsrepublik erinnert, in der die unschöne Redensart aufkam. Mit der Konzentration auf Herrscherpersönlichkeiten stellt Polen seine lange staatliche Tradition in den Mittelpunkt. Darin unterscheiden sich die heutigen polnischen



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Banknoten ikonographisch grundlegend von denen der meisten Staaten Westeuropas vor Einführung des Euro, wo Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft dominierten. Selbst auf den – im Folgenden noch genauer zu besprechenden – polnischen Vorgängerbanknoten hatten Künstler und Gelehrte eine wichtige Rolle gespielt. Kulturleistungen werden auch auf den neuen Złotyscheinen thematisiert, allerdings nur als visueller Kommentar zu den Verdiensten des jeweiligen Monarchen. Als identitätsstiftendes Fundament der Dritten Republik wird nicht die nationale Kulturgeschichte, sondern die von den Herrschern verbürgte, mehr als ein Jahrtausend zurückreichende Kontinuität des Staatswesens zelebriert. Eine solche Feier der eigenen staatlichen Tradition wirkt vor allem auf den deutschen Betrachter etwas anachronistisch, und der Mut zum panegyrischen Pathos in der Darstellung der grimmig dreinblickenden, männlichkeitsstrotzenden gekrönten Häupter gleitet zuweilen in unfreiwillige Komik ab. Beides – Stolz auf die Nationalgeschichte und der Hang zu Pathos im Darstellungsmodus – ist indes in der Geschichtskultur Polens nach wie vor fest verankert. Noch immer kann jedes Schulkind die polnischen Könige und Nationalhelden aufzählen, und die neuen politischen Denkmäler stehen in ihrer weihevoll-martialischen Aura denen aus kommunistischer Zeit in nichts nach. Nach dem Fall des kommunistischen Regimes und dem Ende sowjetischer Hegemonie gewann der emphatische Verweis auf die bis in das frühe Mittelalter zurückgehende Geschichte der polnischen Staatsgewalt allerdings eine neue politische Bedeutung – als Betonung und zugleich als historische Legitimation der wiedergewonnenen Souveränität des Staates. Eine Fokussierung auf die staatlichen und staatsbildenden Traditionen lässt sich bezeichnenderweise auch auf den in den 1990er Jahren emittierten Banknoten einiger anderer Staaten des ehemaligen Ostblocks beobachten, etwa Ungarns, Tschechiens oder der Slowakei. Wo die staatliche Souveränität noch nicht zu einem selbstverständlichen Gut geworden war, konnten Könige und Staatsmänner der Vergangenheit nicht nur als Repräsentanten nationaler Geschichte, sondern auch als Garanten der Freiheit auftreten. Anders als zum Beispiel in Tschechien oder in Ungarn wird die staatliche Tradition auf Polens Banknoten allerdings ausschließlich von Königen vertreten. Unberücksichtigt blieben die populären Unabhängigkeitskämpfer und nationalen Aktivisten des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, die die Idee des polnischen Staates in der Zeit seiner Agonie und Nichtexistenz am Leben erhalten hatten. Selbst den Vertretern der Zweiten Republik aus der Zwischenkriegszeit wurde die Würdigung auf Banknoten versagt. Dies ist wohl kein Zufall. Dem Rückgriff auf den Vorgängerstaat stand wohl der Mangel an unumstrittenen Integrationsfiguren im Wege. Auch der Militäroberbefehlshaber, Staatsgründer und Staatschef Józef Piłsudski – die wichtigste politische Figur der Zwischenkriegszeit, um deren Darstellung man kaum umhinkäme – bildet in diesem Punkt keine Ausnahme. Ungeachtet seiner kultartigen Verehrung in weiten Teilen der heutigen polnischen Öffentlichkeit wäre Piłsudski, der in den 1920er Jahren ein autoritäres Regime errichtete, eine fragwürdige Leitfigur für eine moderne demokratische Kultur. Einzig den alten Monarchen traute die junge Demo-

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kratie jene integrative Kraft zu, die für die Darstellung in einem so wirkungsmächtigen Medium staatlicher Repräsentation, wie es die Banknoten sind, unabdingbar ist. Die Situation Polens nach 1989 weist gewisse Parallelen zu der nach 1918 auf. Mit dem Fall kommunistischer Herrschaft erlangte das Land – nach einem halben Jahrhundert unter deutscher Besatzung und sowjetischer Bevormundung – wieder seine Souveränität. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war es – nach über einem Jahrhundert der Teilung unter Russland, Preußen und Österreich – als unabhängiger Staat wiedererstanden. In beiden Umbruchsphasen galt es, die inneren Strukturen zu konsolidieren und das Land in einem aufgebrochenen außenpolitischen Gefüge zu positionieren. Für die Selbstdarstellung beider junger Republiken mussten in dieser Situation identitätsstiftende, integrative Motive gefunden werden. Deshalb richtet sich im Folgenden der Blick zunächst auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, bevor er schließlich auch die dazwischenliegenden Phasen polnischer Banknotenikonographie im 20. Jahrhundert streift. Der späte Triumph der Aufstandshelden – die Banknoten der   Zweiten Polnischen Republik (1918–39) Während des Ersten Weltkriegs versuchten die deutschen, österreichischen und russischen Besatzungsmächte, die nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit strebenden Polen für ihre militärischen Ziele zu gewinnen. Aus diesem Grund proklamierten die Mittelmächte Deutschland und Österreich 1916 sogar die Gründung eines polnischen Königreichs, freilich ohne seine Souveränität zu garantieren und die Grenzen festzulegen. Einige Monate später stellte der russische Zar die Wiederherstellung eines freien polnischen Staates in seinen ethnischen Grenzen in Aussicht. Um die Jahreswende 1916/17 führte die deutsche Besatzungsmacht sogar eine polnische Währung mit dem Namen „Polnische Mark“ ein. Bald darauf präsentierte Russland Entwürfe für polnische Rubel, die allerdings ihre Realisierung nicht mehr erlebten. Zur Bekräftigung der Versprechen der um die Gunst der polnischen Bevölkerung werbenden Besatzer zierte der polnische Adler als Staatswappen die Banknoten beider Währungen. Bekanntlich waren diese Bemühungen, Polen auf die eigene Seite zu ziehen und dadurch den Kriegsverlauf günstig zu beeinflussen, vergeblich. Das Land feierte 1918 tatsächlich die Unabhängigkeit, allerdings nicht von Gnaden seiner Nachbarn. Die erste Banknote des unabhängigen Polen war der 1919 emittierte Fünfhundertmarkschein. Mit der früheren Währung unter deutscher Besatzung verband ihn nicht nur der Name, sondern frappanterweise auch die Gestaltung, die exakt dem Muster von 1916/17 folgte. Kaum dem Joch der Okkupation entronnen, griff der junge Staat, anstatt zum Zeichen seiner Souveränität mit neuem Geld aufzutrumpfen, umstandslos auf die verordnete Währung aus der Zeit der Unfreiheit zurück. Der Grund dafür dürfte kaum in einer Unterschätzung der prägenden Kraft staatlicher Symbolträger gelegen haben. Die Übernahme des deutschen Musters war vielmehr dem Währungschaos der Nachkriegsjahre geschuldet: Zum einen mussten möglichst rasch neue



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Abb. 3    Tausendmark-  schein von 1919, Vorderseite.   Entwurf Adam Półtawski.

Banknoten gedruckt werden, zum anderen bestand angesichts der instabilen politischen Verhältnisse die Befürchtung, dass ein verändertes Aussehen der Zahlungsmittel zur Verunsicherung bei der Bevölkerung führen könnte. Dass man sich der Bedeutung des Geldes als Träger staatlicher Repräsentation und nationaler Identität von Anfang an sehr wohl bewusst war, zeigen allein schon die hitzigen Diskussionen über den Namen der künftigen Währung. Kraft eines 1919 erlassenen Dekrets von Staatschef Józef Piłsudski sollte sie – nach dem mythischen Urvater der polnischen Nation – „Lech“ heißen. Nach heftigen Debatten im polnischen Parlament wurde das Dekret wenig später durch eine Verordnung außer Kraft gesetzt, die der neuen Währung den weniger völkischen, dafür aber historischen Namen „Złoty“ – auf gut deutsch: „Gülden“ – gab. Die Durchführung der Währungsreform ließ aber auf sich warten. Noch bis 1923 folgte eine Flut von Emissionen der Markwährung, die mit der dramatischen Inflation kaum Schritt halten konnten. Der Nennwert der Banknoten reichte bis zu zehn Millionen Mark, für 1924 wurde gar ein Fünfzigmillionenschein geplant. Die Hektik, mit der die Banknotenberge produziert werden mussten, ließ Ansprüche an ihre künstlerische Gestaltung und Ikonographie weiterhin in den Hintergrund treten. So wurden etwa in Wien polnische Geldscheine gedruckt, auf denen der Einfachheit halber Jugendstilelemente von österreichischen Geldscheinen Verwendung fanden. Auf nationale Motive wollte man dennoch nicht lange verzichten. Bereits seit 1919 traten zu dem obligaten Staatswappen Bildnisse der Freiheitshelden Tadeusz Kościuszko (1746–1817, Abb. 3) und Bartosz Głowacki (um 1758–94) hinzu. Ersterer ist der legendärste und zugleich international bekannteste Nationalheld Polens. Seit 1776 am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beteiligt, hatte er bereits eine glänzende militärische Karriere hinter sich, als er rund zwanzig Jahre später nach Polen zurückkehrte. Nach der Zweiten Polnischen Teilung organisierte der General 1794 den nach ihm benannten Aufstand gegen die Russen, der den Untergang des polnischen Staates abwenden sollte. Trotz sensationeller militärischer Erfolge in der An-

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fangsphase wurde der Aufstand niedergeschlagen, und Kościuszko musste für seinen Mut mit russischer Gefangenschaft büßen. Nach seiner Entlassung lebte er in Amerika, in Frankreich und zuletzt in der Schweiz. In den Vereinigten Staaten sind ihm viele Denkmäler gewidmet, und in Australien trägt der höchste Berg des Landes den Namen Mount-Kosciuszko. Den Polen gilt Kościuszko schlechthin als Verkörperung des unbeugsamen Freiheitswillens der Nation. Sein Leichnam wurde schon 1819 in die königliche Nekropole in der Krakauer Wawel-Kathedrale überführt, bald darauf schüttete man in Krakau zu seinen Ehren einen symbolträchtigen Erdhügel auf. Im 19. Jahrhundert machte sich der Kościuszko-Kult sogar in der Mode bemerkbar: Um ihre patriotische Gesinnung zu demonstrieren, trugen polnische Damen Schmuckstücke mit einem Bildnis des Nationalhelden. Als Leitfigur der jungen polnischen Demokratie war Kościuszko nicht nur wegen seiner Popularität, sondern auch aufgrund seiner politischen Gesinnung besonders geeignet. Nicht zuletzt wegen seines Eintretens gegen die Unterdrückung der Bauern wurde er einer fortschrittlichen, sozialreformerisch-republikanischen Tradition zugeordnet. Weitaus weniger bekannt ist inzwischen Kościuszkos Mitstreiter Bartosz Głowacki, ein Bauer, der bei dem Aufstand den Tod fand und zuvor von dem General für seinen besonderen Kampfesmut ausgezeichnet worden war. Im 19. Jahrhundert, als Polens Künstler und Intellektuelle die Volkskultur als Quelle nationaler Traditionen entdeckten, wurde Głowacki zu einem volkstümlichen Helden stilisiert, der den bewaffneten Freiheitskampf der Bauern symbolisierte. Mit der Darstellung des Generals und des Bauern wurde zwischen dem Unabhängigkeitskampf der Teilungszeit und der Staatsgründung nach dem Ersten Weltkrieg auf eine allgemein verständliche Weise eine Linie gezogen. Der junge Staat stellte sich als späte Erfüllung der Ideale Kościuszkos und Głowackis dar. Vor dem Hintergrund der politischen Wirren und sozialen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit kam den beiden ungleichen Banknotenhelden wohl auch eine integrative Funktion zu: Durch ihre unterschiedliche soziale Herkunft brachten sie die Idee zum Ausdruck, dass der polnische Freiheitskampf stets ein gemeinsamer Kampf aller Bevölkerungsschichten gewesen sei. Während sich das heutige Polen mit Monarchenbildnissen historisch legitimiert, sucht man Könige auf den Banknoten aus den ersten Jahren der Zweiten Polnischen Republik vergebens. In einer Zeit, die den Fall der morbiden Monarchien in Mittelund Osteuropa als epochalen Befreiungsschlag erlebte, wären Könige für eine junge Republik ein problematisches Motiv staatlicher Repräsentation gewesen. Die Republik musste sich in ihrer Selbstdarstellung zunächst unmissverständlich von der Monarchie abheben, zumal in Polen, das die erwähnte deutsch-österreichische Proklamation eines erblichen Königtums von 1916 noch in lebhafter Erinnerung hatte. Wohl findet sich aber auf den frühen polnischen Banknoten eine Königin – die legendenumrankte Hedwig (Jadwiga) von Anjou (1374–99, Abb. 4). Hedwigs Leben war kurz und tragisch. Als Zwölfjährige musste sie – im Namen der Staatsräson – ihr Verlöbnis mit dem österreichischen Königssohn Wilhelm von Habsburg lösen und den fast dreißig Jahre älteren litauischen Fürsten Jogaila heiraten, damit dieser als Wladislaw Jagiełło den polnischen Thron besteigen konnte. Aus der Ehe ging eine Tochter



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Abb. 4    Fünfhundert-  markschein   von 1919,   Vorderseite.

hervor, die kurz nach ihrer Geburt starb. Einige Tage später verschied auch Hedwig. Berühmt für ihre Schönheit, bewundert für ihre Tugendhaftigkeit und Schicksalsergebenheit, wurde Hedwig bald nach ihrem Tod als volkstümliche Heilige verehrt, auch wenn das offizielle Heiligsprechungsverfahren noch sechs Jahrhunderte in Anspruch nehmen sollte. Trotz ihres zarten Alters hatte Hedwig aktiven Anteil an der Politik genommen und sich vor allem als Förderin der Krakauer Universität um die polnische Kultur verdient gemacht. Für die Polen war die unglückliche Schöne aber vor allem eine „Königin der Herzen“. Dass ihr Bildnis nicht gerade ein politisch brisantes Banknotenmotiv ist, zeigt sich schon daran, dass es bereits auf den zaristischen Entwürfen für die polnischen Rubel von 1917 verwendet wurde. Mit den Aufstandshelden bildet Hedwig keine kohärente Motivreihe. Besonders unmotiviert wirkt die Zusammenstellung der Königin mit General Kościuszko auf einer Banknote, wie sie auf dem Fünftausendmarkschein von 1920 vorgenommen wurde. Neben den drei Kultgestalten aus der nationalen Vergangenheit finden sich auf dem Papiergeld aus der Inflationszeit vereinzelte Stadtansichten von Warschau und Krakau. Es überwiegen allerdings bei weitem bedeutungsfreie ornamentale Motive. Für die Entwicklung einer umfangreichen und elaborierten Banknotenikonographie waren die Zeiten zu stürmisch und das staatliche Selbstverständnis noch zu wenig gefestigt. Mit der Währungsreform von 1924 wurde die polnische Mark von dem ein halbes Jahrzehnt zuvor beschlossenen Złoty abgelöst. Die neu eingeführten Banknoten waren aber größtenteils bereits 1919 konzipiert und gedruckt worden. Ihr häufigstes nationales Motiv war weiterhin Kościuszko. An die Stelle von Głowacki trat indes ein anderer legendenumwobener Held des Unabhängigkeitskampfs: Fürst Józef Poniatowski (1763–1813). Ebenso wie Kościuszko war der Fürst ein hochrangiger Militär. In den letzten Jahren des polnischen Königtums stand er in Diensten seines Onkels, König Stanislaus August Poniatowski. Später kämpfte an der Seite Napoleons, mit dem die Polen seinerzeit Hoffnungen auf eine nationale Wiedergeburt verbanden: 1807 wurde

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Abb. 5    Fünfzłoty-  schein von 1926, Vorderseite.

er Oberbefehlshaber des von Napoleon gegründeten Herzogtums Warschau, danach nahm er an dessen Feldzügen gegen Österreich und Russland teil, 1813 fiel er in der Völkerschlacht bei Leipzig. Nach seinem Tod als Nationalheld gefeiert, wurde Poniatowski 1819 zusammen mit Kościuszko im nationalen Pantheon der Wawel-Kathedrale begraben. Ungeachtet seiner Teilnahme am Kościuszko-Aufstand als junger Mann wurde der Adelssprössling Poniatowski von der polnischen Historiographie – zumal am Anfang des 20. Jahrhunderts – zu einer Galionsfigur des konservativen Lagers und somit gewissermaßen zu einem Antipoden Kościuszkos stilisiert. Die Darstellung der beiden Helden als komplementäre Gestalten ist wohl als Ausdruck der Bemühungen um eine Integration der politischen Lager im neuen polnischen Staat anzusehen. Bereits seit 1925 erschien eine Serie neuer Banknoten, diesmal meist nach sorgfältiger Vorbereitung samt Auslobung öffentlicher Gestaltungswettbewerbe. Ihre Ikonographie wurde nun von Allegorien der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels dominiert. Auf dem Fünfzłotyschein von 1926 findet sich gar eine martialische Darstellung eines athletischen, dem Gesteinsmassiv zu Leibe rückenden Bergmanns (Abb. 5), die deutlich auf die sozrealistischen Apotheosen der Werktätigen nach dem Zweiten Weltkrieg vorausweist. Mit der Thematisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt verwies die Zweite Republik, die nach der Errichtung einer autoritären Regierungsform im Maiumsturz von 1926 einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine forcierte Industrialisierung erlebte, auf ihre Leistungen als modernes Staatswesen, womit wohl zugleich ein gewisses Maß an staatlicher Normalität demonstriert werden sollte. Eine Neuauflage der Aufstandshelden ließ aber nicht lange auf sich warten. So begegnet auf einem Hundertzłotyschein aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre wieder Fürst Józef Poniatowski (Abb. 6). Den Entwurf für diese mit ihren Anklängen an Jugendstil und Art Déco besonders dekorative Banknote hatte der aus einem 1929 veranstalteten Gestaltungswettbewerb siegreich hervorgegangene Maler Józef Mehoffer (1869–1946), einer der damals berühmtesten polnischen Künstler, geliefert. Seine Prominenz steht beispielhaft für den hohen Rang vieler polnischer Banknotengestalter der Zwischenkriegszeit.



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Abb. 6    Hundertzłoty-  schein von   1934, Vorder-   und Rückseite.   Entwurf Józef   Mehoffer.

Auf der Rückseite von Mehoffers Hundertzłotyschein klingt wiederum ein aktuelles Thema an. Sie zeigt eine große Eiche vor einer Dünenlandschaft, im Hintergrund ist ein Meeresstreifen zu sehen. Laut Lech Kokociński, dessen materialreichem Überblickswerk zu polnischem Papiergeld dieser Text viele Sachinformationen verdankt, handelt es sich hier um die Ostseeküste bei Gdingen (Gdynia). Als flankierende Gestalten veranschaulichen der Handelsgott Merkur sowie eine Allegorie der Industrie und des Wohlstands die besondere Bedeutung dieses Ortes für Polen: Gdingen liegt im „Polnischen Korridor“, mit dem der neue Staat kraft des Versailler Vertrags den beharrlich geforderten, lebenswichtigen Zugang zum Meer erhielt. Das einstige Fischerdorf wurde im Laufe von eineinhalb Jahrzehnten zu einem bedeutenden Hafen ausgebaut, der zu den herausragenden Leistungen der polnischen Industrie in der Zwischenkriegszeit gehört. Damit avancierte Gdingen zugleich zu einem Symbol der Wirtschaftskraft und Modernität des polnischen Staates sowie seiner historisch legitimierten Verbindung mit dem Meer. Etwa in derselben Zeit erschien auf einer Banknote auch das anmutige Gesicht von Emilia Plater (1806–31), einer Heldin des Novemberaufstands von 1830–31 ge-

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Abb. 7    Fünfzigzłoty-  schein von 1936, Vorderund Rückseite. Entwurf Wacław Borowski.

gen die russische Teilungsmacht. Nach unermüdlichem Kampfeinsatz an Erschöpfung gestorben, wurde Emilia Plater in Literatur und bildender Kunst zur Personifikation der Opferbereitschaft polnischer Frauen für die nationale Sache. Aufständische dominierten auch die seit 1936 vorbereitete Banknotenserie „Polens Führer“, die wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs größtenteils nicht mehr in Umlauf kam. Die einzige emittierte Banknote dieser Serie war erneut Emilia Plater gewidmet. Vorgesehen waren auch die mittlerweile zu Klassikern gewordenen Gestalten von Kościuszko und Fürst Poniatowski. Als neuer Unabhängigkeitskämpfer kam General Jan Henryk Dąbrowski (1755–1818) hinzu (Abb. 7), der zu den Teilnehmern des KościuszkoAufstands gehört und später die legendären, an Napoleons Seite kämpfenden Polnischen Legionen in Italien gegründet hatte. In der Teilungszeit galten die Legionen als Vorbild für den nationalen Befreiungskampf. Das Legionärslied, das Dąbrowski als Hoffnungsträger der Nation feiert („Noch ist Polen nicht verloren...“), wurde 1927 zur polnischen Nationalhymne erklärt. Beachtenswert ist auch die Rückseite der Banknote, in der Allegorien der Landwirtschaft, der Industrie, der Luftfahrt und der Schifffahrt versammelt sind, wobei die letztgenannte den Ehrenplatz in der Mitte einnimmt.



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Als einzige Gestalt der Zeitgeschichte sollte den Aufstandshelden der kurz zuvor verstorbene Józef Piłsudski (1867–1935) zur Seite gestellt werden. Piłsudski war der Übervater der Zweiten Polnischen Republik. Seit seiner Jugend hatte er als Politiker und Militär für die Unabhängigkeit gekämpft. Im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs organisierte er paramilitärische Verbände, die zur Keimzelle des neuen Staates wurden. Nach dessen Gründung war er Staatschef und Oberbefehlshaber. 1923 zog er sich von seinen Ämtern zurück, um drei Jahre später, bei dem erwähnten Maiumsturz, als Putschist auf die politische Bühne zurückzukehren. Er schränkte die Rechte der Parteien und der Legislative ein und versetzte Polen in eine Art dauernden Ausnahmezustand, in dem seine Person über dem Gesetz stand und über den Niederungen des politischen Alltagsgeschäfts schwebte, das an Getreue delegiert war. Mit der vorgesehenen Ehrung auf einer Banknote sollte der starke Mann als Vollender des polnischen Unabhängigkeitskampfs präsentiert werden. Schon zu Lebzeiten war sein Bildnis auf einer Münze erschienen. Die Darstellung Piłsudskis auf Zahlungsmitteln ist Ausdruck eines Personenkults, der auch nach dem Tod des Staatschefs von seinen an der Macht gebliebenen Parteigängern am Leben gehalten wurde. Nach der Überwindung des politischen Chaos der Nachkriegsjahre durch die Etablierung eines funktionstüchtigen Staatswesens war es möglich geworden, zu dessen Selbstdarstellung auch Königsporträts einzusetzen, ohne damit Missverständnisse zu riskieren. Seit Mitte der 1920er Jahre erschienen sie vereinzelt auf Münzen. Etwa in derselben Zeit wurden sie erstmals auch auf Banknoten dargestellt, zunächst allerdings – gleichsam versteckt – nur als Wasserzeichen. Ähnlich wie im heutigen Polen fungierten sie als Personifikationen staatlicher Tradition und zugleich als Garanten staatlicher Kontinuität. Einen dramatischen, apotropäischen Sinn erhielten die Königsgestalten in der „Mobilisierungsserie“, die 1938 eigens für den Kriegsfall vorbereitet wurde. Die vorgesehenen Bildnisse Boleslaus‘ des Tapferen, Stefan Bathorys und Johann Sobieskis sollten Mut machen und zum Durchhalten anspornen. So weit kam es aber nicht mehr: Nach dem deutsch-sowjetischen Einmarsch im September 1939 verschwand Polen binnen weniger Wochen erneut von der politischen Landkarte.

Von der Werktätigenapotheose zur Feier der Kulturschaffenden – die Banknoten des sozialistischen Polen und der Transformationszeit (1945–93) Im Auftrag der polnischen Exilregierung in Paris und später in London waren für die Zeit nach dem Krieg neue Banknoten vorbereitet worden. Sie zeigten Bewohner Polens in Landestrachten, polnische Städte und Landschaften. Trotz dieser politischen Zurückhaltung kam es für die neuen kommunistischen Machthaber nicht in Frage, die in großen Mengen gedruckten Geldscheine in Umlauf zu bringen. Sie wurden sogar vorsorglich vernichtet. Gleiches widerfuhr auch – und erst recht – den graphischen Vorlagen zur Vorkriegsserie „Polens Führer“. Dieses Vorgehen, das sich so deutlich vom Pragmatismus nach dem Ersten Weltkrieg unterscheidet,

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Abb. 8    Fünfhundertzłotyschein von 1946, Vorderund Rückseite. Entwurf Wacław Borowski.

machte zwei Dinge unmissverständlich klar: erstens, dass das von der Sowjetunion gesteuerte Regime dem Papiergeld von Anfang an eine große propagandistische Bedeutung beimaß, zweitens, dass es entschlossen war, geschichtspolitisch Tabula rasa zu machen. In der Eiszeit des Stalinismus war die monarchische staatliche Tradition Polens vor den Teilungen auf Banknoten ebenso unwillkommen wie die Aufstandsthematik, ganz zu schweigen von Erinnerungen an die kapitalistische und sowjetfeindliche Zweite Republik. Gleichwohl springen die inhaltlichen und formalen Parallelen zwischen den ersten, seit 1946 erscheinenden Banknoten mit bedeutungstragenden Motiven und einigen ihrer Vorgänger aus der Zwischenkriegszeit ins Auge. Die neuen Geldscheine zeigen vornehmlich Gestalten von Werktätigen, die noch etwas unentschieden zwischen Allegorie und realistischer Darstellung schwanken; die Rückseiten sind mit Industrielandschaften und anderen Szenerien der Arbeitswelt versehen. Ein besonders symbolträchtiges politisches Dokument ist der Fünfhundertzłotyschein von 1946 (Abb. 8). Mit den Allegorien der Schifffahrt und des Fischfangs auf der Vorderseite korrespondiert auf der Rückseite eine historische Ansicht des alten Hafens von Danzig, der zu dieser Zeit in Schutt und Asche lag. Die Darstellung feiert die lang er-



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Abb. 9    Hundertzłoty-  schein von 1948, Vorderund Rückseite. Entwurf Wacław Borowski.

sehnte Wiedererlangung der Ostseemetropole, die im Zuge der Zweiten Polnischen Teilung von Preußen annektiert worden war. In der Zwischenkriegszeit war Danzig als Freistaat unter der Aufsicht des Völkerbundes zum Brennpunkt deutscher und polnischer Ansprüche geworden. Der deutsche Angriff auf den polnischen Militärstützpunkt Westerplatte, mit dem der Zweite Weltkrieg begann, hatte es vollends zu einem Symbol des deutsch-polnischen Antagonismus gemacht. Ungeachtet seiner überwiegend deutschen Bevölkerung, die nach dem Krieg vertrieben wurde, war Danzig nach polnischem Verständnis eine urpolnische Stadt, deren langersehnte Wiedererlangung als später Akt historischer Gerechtigkeit galt. Mit der 1948 datierten, zwei Jahre später eingeführten neuen Serie der „Werktätigen“ wurden die historischen und allegorischen Anklänge fast ausnahmslos durch die bleierne Welt des Sozialistischen Realismus verdrängt. In einer mustergültigen Umsetzung seiner Prinzipien wurden die Arbeiter- und Bauernköpfe auf den Vorderseiten nach lebenden Modellen gezeichnet. So ziert etwa den Zehner das heroische Porträt des Gießers Jóźwiak und den Hunderter das des Kraftfahrers Tomaszewski (Abb. 9). Beide Modelle wurden der Einfachheit halber aus der Belegschaft der Polnischen Wertpapierherstellungsanstalt rekrutiert. Die korrespondierenden Darstellungen der Arbeitswelt auf den Rückseiten machen aus dem Gießer allerdings einen Bauern und aus dem Fahrer einen Fabrikarbeiter.

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Abb. 10    Tausendzłoty-  schein von 1965, Vorderund Rückseite. Entwurf Henryk Tomaszewski und Julian Pałka.

Der Sozialistische Realismus war in der polnischen Kunst nur ein kurze Periode, die bald nach Stalins Tod zu Ende ging. Auf den Geldscheinen aber war seinen Erzeugnissen ein Nachleben bis in die 1970er Jahre vergönnt. Die erste Banknote nach der Werktätigenserie war der 1965, anlässlich der bevorstehenden Tausendjahrfeiern der polnischen Staatsgründung emittierte, bereits einige Jahre früher entworfene Tausendzłotyschein. In betont schlichter Gestaltung, die sich deutlich von der traditionellen Ornamentik der Banknoten aus der Stalinära abhebt und die nachgeholte Hingabe an die Moderne bezeugt, zeigt er auf der Vorderseite ein Bildnis des Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543) und auf der Rückseite ein Schema des von ihm begründeten heliozentrischen Weltbilds (Abb. 10). Obwohl der Tausender keine neue Serie einläutete, ist er für die Entwicklung der polnischen Banknotenikonographie ein Markstein: Nachdem diese bis dahin von Persönlichkeiten der politischen Geschichte und Darstellungen wirtschaftlicher Leistungen des Staates beherrscht worden war, tauchte mit dem Wissenschaftler Kopernikus erstmals ein Vertreter der polnischen Kulturgeschichte auf. Erst in den letzten Jahren der Volksrepublik wurden neben Kopernikus, dessen Bildnis auch den neuen Tausender von 1975 zierte, weitere Kulturträger in den Banknotenpantheon aufgenommen: Auf dem Fünftausender von 1982 erschien Frédéric



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Abb. 11    Zehntausendzłotyschein von 1987, Vorder-  seite.

Chopin (1810–49), Polens berühmtester Komponist. Ihm folgten auf dem jugendstilhaft verspielten Zehntausender von 1987 der Maler, Dichter und Theaterreformer Stanisław Wyspiański (1869–1907), ein populäres Multitalent der vorletzten Jahrhundertwende (Abb. 11), und auf dem Zwanzigtausender von 1989 die Chemikerin, Physikerin und zweifache Nobelpreisträgerin Maria Curie-Skłodowska (1867– 1934). Auf dem Hunderttausender schließlich, der noch in der Zeit der Volksrepublik vorbereitet, aber erst 1990, nach deren Fall, emittiert wurde, prangt das Bildnis des Komponisten und Begründers der polnischen Nationaloper, Stanisław Moniuszko (1819–72). Die Banknoten gehören zur Serie „Große Polen“, die seit 1974 sukzessive die ungeliebten „Werktätigen“ ersetzten. Ihre Rückseiten zeigen meist Motive, die die Leistungen der Dargestellten thematisieren. Die Serie war allerdings nicht allein Künstlern und Wissenschaftlern vorbehalten: Die Kulturschaffenden mussten vor allem mit Freiheitskämpfern und Wegbereitern des Sozialismus, aber auch mit Monarchen kohabitieren. Bereits auf dem ersten der neuen Scheine, dem Fünfhunderter von 1974, tauchte nach jahrzehntelanger Absenz Kościuszko, der polnische Nationalheld schlechthin, wieder auf. In der Folgezeit bekam er Gesellschaft von General Karol Świerczewski (1897–1947), der im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft und im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion an der Seite der Roten Armee polnische Militärverbände organisiert hatte, hinzu kamen der Revolutionär und Begründer der ersten polnischen sozialistischen Partei, Ludwik Waryński (1856–89, Abb. 12), Jarosław Dąbrowski (1836–71), der als letzter Anführer der Pariser Kommune auf den Barrikaden starb, Józef Bem (1794–1850), ein Anführer des Novemberaufstands von 1830–31 und Verteidiger des revolutionären Wien im Jahr 1848, Romuald Traugutt (1824–64), der hingerichtete Befehlshaber des Januaraufstands von 1863–64, der Gelehrte, Politiker und Schriftsteller Stanisław Staszic (1755–1826), der sich um die Industrialisierung des Landes verdient gemacht hatte, und nicht zuletzt die mittelalterlichen Herrscher Mieszko I. und Boleslaus der Tapfere. Die Serie bot also ein ausgesprochen vielfältiges Panorama von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, über das zu staunen die von wirtschaftlichen Sorgen und Zukunftsängsten geplagten Polen allerdings kaum Muße hatten. Je früher das Emis-

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Abb. 12    Hundertzłoty-  schein von 1975, Vorderund Rückseite.

sionsdatum der Banknote, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei ihrem Helden um einen Vorkämpfer des Sozialismus handelt. Je später die Banknote erschien, desto größer wiederum die Chance, dass sie einen Vertreter der nationalen Kulturgeschichte zeigt. Nach dem Systemwechsel von 1989/90 wurde die Serie zunächst fortgesetzt, bis 1995 die heutige Phalanx der Monarchen dem bunten Reigen der Politiker, Militärs, Wissenschaftler und Schöngeister ein Ende bereitete. Der polnische Adler erhielt seit 1990 wieder seine Krone, die ihm von den Kommunisten abgenommen worden war (Abb. 13). Und der Siegeszug der Kulturschaffenden bekam zusätzliche Verstärkung durch die Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz (1846–1916) und Władysław Reymont (1867–1925). Als letzter gesellte sich zu ihnen auf dem Zweimillionenschein von 1992 der Klaviervirtuose und Komponist Ignacy Jan Paderewski (1860–1941), der hier, wie die Rückseite mit dem Verweis auf den Konstituierenden Sejm (das polnische Parlament) von 1919 zeigt, zugleich als einer der ersten Ministerpräsidenten der Zweiten Republik gewürdigt wurde (Abb. 13). Bezeichnenderweise verzichtete man auf eine Darstellung des übermächtigen Piłsudski, sondern entschied sich für den seltenen Typus eines durch Künstlertum geadelten Politikers. Der Dominanz der Kulturthematik auf den Geldscheinen der Transformationszeit tat der Auftritt Paderewskis als Politiker ohnehin keinen Abbruch. Es scheint, als hätten gerade die über die Niederungen der Politik erhabenen Kulturträger eine Zuflucht



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Abb. 13    Zweimillionen-  złotyschein von 1992, Vorderund Rückseite.

geboten in der Zeit des Übergangs – vom krisengeschüttelten, untergangsgeweihten kommunistischen Regime, das sich seiner nicht mehr sicher war, zur fragilen, jungen Demokratie, die noch zu sich selbst finden musste. Kontinuitäten trotz Systemwechseln Dass diese junge Demokratie alsbald die Künstler und Gelehrten zusammen mit den Sozialreformern, Aufständischen und Revolutionären von ihren Banknoten verbannte, ist indes wohl weniger Ausdruck der Selbstfindung als der einer Überreaktion. Denn die Kulturschaffenden unter den „Großen Polen“ stünden der Dritten Republik als Repräsentanten keineswegs schlechter an als der Volksrepublik. Selbst einige der politischen Helden – allen voran der nach wie vor allseits verehrte Kościuszko – wären ideologisch ohne weiteres kompatibel. Die neue Banknotenserie sollte sich aber nicht nur formal von den alten, mit dem Odium unliebsamer Vergangenheit behafteten Geldscheinen deutlich unterscheiden, sondern zum Zeichen politischen Wandels auch inhaltlich neue Akzente setzen. Diese Signalwirkung wurde erkauft um den Preis der Einengung des ikonographischen Spektrums auf die altehrwürdige staatliche Tradition, die in der Zeit der europäischen Integration, in der das Paradigma staatlicher Souveränität gerade durch die Besinnung

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auf kulturelle Gemeinsamkeiten und Eigenheiten überlagert wird, letztlich ein wenig anachronistisch erscheint. Zum Symbol des neuen Polen wurden auf den heutigen Geldscheinen die Könige, obwohl sie in der Geschichte der polnischen Banknotenikonographie alles andere als ein neues Sujet sind. Ein erneuter Blick auf die unterschiedlichen historischen Situationen, in denen die Monarchen auf den Banknoten erschienen, und die verschiedenen politischen Funktionen, die sie dort erfüllten, führt vor Augen, wie wandelbar die Botschaft eines Banknotenmotivs, je nach geschichtlichem Kontext seiner Verwendung, sein kann. Die Zweite Polnische Republik tat es sich in ihren ersten Jahren schwer mit den Königen, da deren Konnotationen als Vertreter einer monarchischen Regierungsform noch allzu lebendig waren, und setzte stattdessen auf die Thematik des Unabhängigkeitskampfs. Erst im Zuge der Stabilisierung des neuen Staates und der Festigung seines Selbstverständnisses wurde es möglich, auch Könige als identitätsstiftende und zugleich politisch unbedenkliche Exponenten früherer staatlicher Tradition abzubilden. Zum Hauptmotiv wurden die königlichen Konterfeis allerdings erst in der „Mobilisierungsserie“ von 1938, die für den Kriegsfall – das heißt, für den Fall der Gefährdung oder des Verlusts staatlicher Souveränität – konzipiert wurde. Im Angesicht des drohenden Untergangs sollten die Ahnen des polnischen Staates wohl den Glauben an dessen Unauslöschbarkeit wachhalten und damit den Kampfgeist der Bevölkerung stärken. In der stalinistischen Frühzeit der Volksrepublik wären Könige als Banknotenhelden vermutlich ebenfalls undenkbar gewesen. Auch später wurde ihnen in der Zeit des Sozialismus keine eigene Serie gewidmet, obwohl die Geschichte des polnischen Königtums auch in der sozialistischen Traditionspflege stets eine große Rolle spielte. Erst in den 1970er Jahren fanden zwei Monarchen Eingang in die Serie der „Großen Polen“, in der sie gleichberechtigt neben Gestalten wie Chopin, Kopernikus und General Świerczewski auftraten. Ihre späte Würdigung ist wohl Ausdruck einer verstärkten Aneignung der vorsozialistischen Nationalgeschichte, die die spätsozialistische Kulturpolitik auch in anderen Staaten des Ostblocks kennzeichnet – etwa in derselben Zeit entdeckte die DDR ihre preußische Vergangenheit wieder. Während die Könige in der Endzeit der Zweiten Republik ein Rettungsanker für die von Feinden umzingelte, in ihrem Selbstbestimmungsrecht und in ihrer Existenz bedrohte Nation waren und in der späten Volksrepublik die verstärkte kulturpolitische Öffnung des Sozialismus gegenüber dem nationalen Erbe und somit seine ideologische Flexibilität demonstrierten, stehen sie in der Dritten Republik vor allem für die Wiedererlangung staatlicher Souveränität nach einem halben Jahrhundert der Fremdbestimmung. Die Monarchenbildnisse sind nicht der einzige Motivkreis der polnischen Banknoten, der die politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts überdauerte. So war die Aufstandstradition in der späten Volksrepublik ebenso vertreten wie in der Zweiten Republik. Das Personal unterlag dabei einer systembedingten Fluktuation. General Kościuszko – der Superstar unter Polens Banknotenhelden – war aber für beide politischen Systeme als Leitfigur unverzichtbar. Selbst die Industrie-, Landwirt-



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schafts- und Arbeitsthematik aus der stalinistischen Zeit, die als Inbegriff des Sozialistischen Realismus gilt, hatte bereits in der kapitalistischen Zweiten Republik ihre Vorläufer. Nicht nur in der Motivwahl, sondern auch im glorifizierenden Darstellungsmodus bestehen zwischen den Werktätigenwelten auf den Banknoten der Vor- und Nachkriegszeit frappante Parallelen. Diese Kontinuitäten der polnischen Banknotenikonographie belegen die erstaunliche Resistenz einiger Motive gegen Systemwechsel. Zugleich machen sie deutlich, dass die Bilderwelt der Geldscheine keineswegs eine ungebrochene Spiegelung politischer Verhältnisse ist. Gleichwohl lassen sich ihre Botschaften erst durch einen Blick auf diese Verhältnisse verstehen. Nachtrag: Der Text basiert auf dem Stand von 2001. Die Polnische Nationalbank hat seitdem nur einige Gedenkbanknoten emittiert, die hier nicht berücksichtigt sind.

Literaturauswahl Jabłoński, Tadeusz: Katalog papierowych pieniędzy polskich i używanych na ziemiach Polski 1794–1965 [Katalog polnischer und in Polen verwendeter Geldscheine 1794–1965]. Warszawa 1967. Kokociński, Lech: Pieniądz papierowy na ziemiach polskich / Paper Money in Poland. 2. Aufl., Warszawa / Warsaw 2000. Kowalski, Marian: Polski pieniądz papierowy 1794–1994 [Polnisches Papiergeld 1794–1994]. Warszawa 1994. Parchimowicz, Janusz; Borkowski, Tomasz: Katalog banknotów polskich 1794–1866 [Katalog polnischer Banknoten 1794–1866]. Szczecin 1995. Torbus, Tomasz: Ein Held für eine Million Złoty. Exkurs zu den Großen der Nation. In: Torbus, Tomasz: Polen. Ein Reisehandbuch. Hamburg 1993, S. 74–78.

Tren n en d es i n d er Ge me inscha ft, Gemei n sames i n de r Tre nnung Nationale Geschichte und staatliche Identität auf tschechoslowakischen und tschechischen Banknoten (1918 bis heute)

Von tschechoslowakischer zu tschechischer Identität – die heutigen Banknoten der Tschechischen Republik An der Jahreswende zwischen 1989 und 1990 erlebte die Tschechoslowakei ihre „Samtene Revolution“. Das geschmeidige Attribut beschreibt den sanften Charakter des Umsturzes, der weitgehend friedlich und in Anbetracht der anfänglichen Entschlossenheit der kommunistischen Staatsmacht, das Feld nicht kampflos zu räumen, erstaunlich reibungslos verlief. Das Trauma des „Prager Frühlings“ von 1968, der die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ geweckt hatte und mit dem Einmarsch der Sowjetarmee und verbündeter Truppen des Warschauer Paktes gewaltsam beendet worden war, wich nun der Freude und Erleichterung über das unblutige Ende des Regimes. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der persönlichen Integrität des neuen Staatspräsidenten Václav Havel traute auch das Ausland der Tschechoslowakei eher als manch einem anderen Staat des ehemaligen Ostblocks den geordneten Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft zu. Bald trat aber zu den Verwerfungen der Transformation ein spezifisch tschechoslowakisches Problem hinzu: die Zuspitzung des schwelenden Konflikts zwischen den beiden Staatsvölkern im Zeichen des wiedererwachenden Nationalismus. Seit 1918 hatten Tschechen und Slowaken, zusammen mit einigen nationalen Minderheiten, in einem gemeinsamen Staat gelebt. Einzig zwischen 1939 und 1945 bildete die Slowakei einen eigenen Staat von Hitlers Gnaden. 1969 wurde die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR) formell in einen föderativen Bundesstaat umgewandelt, in dem beide Teile offiziell gleichberechtigt waren. Ihre postsozialistische Nachfolgerin brachte die föderative Verfassung sogar in der Namensgebung – Tschechische und Slowakische Föderative Republik (ČSFR) – zum Ausdruck. Obwohl bei der Besetzung der höchsten Staats- und Regierungsämter auf die Einhaltung des nationalen Proporzes geachtet wurde, bestand in dem neuen Staat weiterhin das alte gesellschaftliche und ökonomische Ungleichgewicht zuungunsten der Slowakei. Mit der Zeit wurde der eher undramatische Interessenkonflikt vor allem auf slowakischer Seite als bedeutsamer Nationalitätenkonflikt inszeniert. Parteipolitische Interessen und Profilneurosen einzelner Politiker auf beiden Seiten trugen schließlich den Sieg über die tschechoslowakische Staatsräson davon: Zur Überraschung vieler Beobachter kam es zum Jahresende 1992 zur Spaltung der ČSFR in eine Tschechische Republik (ČR) und eine Slowakische Republik (SR), die glücklicherweise – im



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Gegensatz zu den meisten zentrifugalen Bewegungen im östlichen Europa – ebenfalls friedlich verlief. Dass die Spaltung lange Zeit als unwahrscheinlich galt, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass bis kurz vor ihrem Vollzug neue Banknoten für die tschechoslowakische Währung vorbereitet wurden, die die alten Geldscheine aus kommunistischer Zeit ersetzen sollten. Die erste von ihnen, der Zweihundertkronenschein, sollte noch 1992 erscheinen. Als sich die Teilung nicht mehr verhindern ließ, wurde zunächst noch eine Zoll- und Währungsunion geplant. Doch bereits im Februar 1993 folgte auf die Staatsspaltung die Trennung der gemeinsamen Währung in Tschechische Kronen und Slowakische Kronen. Ebenso wie bei der Besetzung von Ämtern war bei der Wahl der Motive für die gemeinsamen tschechoslowakischen Banknoten peinlichst auf den tschechisch-slowakischen Proporz geachtet worden. Fünf der neun geplanten Geldscheine sollten Repräsentanten Tschechiens zeigen, die wesentlich kleinere slowakische Nation war mit vier Persönlichkeiten fast paritätisch vertreten. Als tschechische Banknotenhelden waren der böhmische König Přemysl Otakar I., Kaiser Karl IV., der Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius, der Historiker und Politiker František Palacký und der Staatschef der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, vorgesehen. Die Slowakei sollten der großmährische Fürst Pribina, die Slawenapostel Kyrill und Method, der Nationaldichter L’udovit Štúr und schließlich der Mitbegründer der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Milan Rastislav Štefánik, repräsentieren. Obwohl die Staats- und Währungstrennung der Emission der geplanten Banknotenserie zuvorkam, versanken ihre Motive nicht in Archiven. Interessanterweise wurden die Helden der jeweiligen Nation ohne Ausnahme in die spätere Banknotenserie des entsprechenden Nachfolgestaates aufgenommen. Dass sich die beiden Nationen auch nach der Trennung mit ihren für die gemeinsame Währung vorgesehenen Repräsentanten identifizieren konnten, zeigt zum einen, dass der tschechoslowakische Banknotenheldenkanon gut gewählt war. Zum anderen wäre es verlockend, diese Kontinuität als Indiz dafür zu deuten, dass es zwischen Tschechen und Slowaken noch in der Endzeit ihres gemeinsamen Staates bei allem Konfliktpotential und trotz nationalistischer Scharfmacherei zumindest im Geschichtsbild keine unüberwindbaren Gräben gegeben habe. Die Kompatibilität des Banknotenpersonals sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterschiede im historischen Bewusstsein durchaus beträchtlich waren. Der Prager Historiker Zdenĕk Hojda weist auf eine Umfrage von 1992 hin, in der Tschechen und Slowaken nach der ihrer Meinung nach besten Epoche in der Geschichte ihres Landes gefragt wurden. Während die Tschechen an erster Stelle die Herrschaft Karls IV. im 14. Jahrhundert und an zweiter die Republik der Zwischenkriegszeit unter Masaryk wählten, sahen die Slowaken die besten Epochen in der Phase der staatssozialistischen Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und im vorangegangenen, faschistoiden slowakischen Staat. Nach der Währungstrennung wurden die gültigen, aus den 1980er Jahren stammenden tschechoslowakischen Banknoten zunächst zur Unterscheidung jeweils mit

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tschechischen und slowakischen Klebestempelmarken versehen. In der Folgezeit erschienen in beiden Staaten sukzessive die neuen Geldscheine. Die insgesamt acht, zwischen 1993 und 1996 emittierten tschechischen Banknoten zeigen auf der Vorderseite in chronologischer, dem Nominalwert folgender Ordnung Bildnisse von Repräsentanten der staatlichen Geschichte und der nationalen Kultur, die jeweils auch als Wasserzeichen auftauchen. Den Hintergrund bilden verschiedenartige, teilweise stark abstrahierte Abb. 1  Hundertkronenschein von 1993, Vorder- und Motive, die das Leben und Rückseite. Entwurf Oldřich Kulhánek. Wirken der dargestellten Persönlichkeiten illustrieren. Dieselbe Funktion haben die detailreichen, symbolgeladenen Bilder der Rückseiten, auf denen auch das Große Staatswappen der Tschechischen Republik, bestehend aus zwei böhmischen Löwen und je einem mährischen und schlesischen Adler, dargestellt wurde. Fünf von den acht Helden stammen von der geplanten tschechoslowakischen Banknotenserie. Sie sind auf den Scheinen im Wert von zwanzig, hundert, zweihundert, tausend und fünftausend Kronen abgebildet. In einigen Fällen folgte auch die künstlerische Gestaltung den ursprünglichen Vorlagen; nur der Name der Währung und der Staatsbank sowie das Staatswappen mussten geändert werden. Die kleinste Banknote, der Zwanzigkronenschein, ist König Přemysl Otakar I. (reg. 1197–1230) gewidmet, mit dessen Herrschaft im Hochmittelalter der politische, wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg Böhmens und Mährens begann. Links von Otakars Bildnis, das sich mangels zeitgenössischer Porträts auf anthropologische Untersuchungen des königlichen Schädels stützen soll, prangt zum Zeichen der Herrschermacht sein Majestätssiegel. Ein weiteres Rundsiegel befindet sich auf der Rückseite über der die Komposition dominierenden Königskrone. Es stammt von der „Goldenen Sizilianischen Bulle“, mit der Kaiser Friedrich II. Otakars erbliche Königswürde bestätigte und zugleich die weitgehend unabhängige Stellung des Königreichs Böhmen innerhalb des Heiligen Römischen Reichs festschrieb. Krone und Siegel werden von einem Löwen und einem Adler, den Wappentieren Böhmens und Mährens, flankiert. Sie betonen die Einheit der beiden historischen Länder, die unter dem König wiedervereinigt wurden.



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Mit Přemysl Otakar I. wurde ein Herrscher gewürdigt, der sich in besonderer Weise um die Festigung des böhmischen Königtums und den Ausbau seiner Position in Europa verdient gemacht hatte. Dies gilt erst recht für Karl IV. (reg. 1346–78), dessen historisch überliefertes Bildnis den Hunderter (Abb. 1) ziert. Karl stammte aus der Dynastie der Luxemburger, die bald nach dem Aussterben der Přemysliden den böhmischen Thron für sich sichern konnte. 1346 wurde er zum deutschen König gewählt, bald darauf ließ er sich auch zum König von Böhmen krönen. 1355 erlangte er als erster böhmischer Herrscher die Kaiserwürde. Karls Regentschaft ging als „Goldenes Zeitalter“ in die Geschichte Böhmens ein; in den letzten Jahrzehnten erreichte sein Nachruhm den Höhepunkt. Böhmen und vor allem dessen Hauptstadt Prag, die er zum Zentrum des Heiligen Römischen Reichs machte, verdankten ihm eine Blüte der Kunst und Kultur, deren Zeugnisse sich vielfach bis heute erhalten haben. Dementsprechend sind die meisten Motive der Banknote den Leistungen des Kaisers als Kunst- und Kulturmäzen gewidmet. Links von seinem Bildnis ist ein Gewölbe aus schwebenden Rippen zu sehen, eine so kühne wie kunstreiche Konstruktion, mit der Karls Baumeister Peter Parler am Prager Veitsdom experimentierte. Darunter wurde die Vorder- und Rückseite eines Prager Groschens aus Karls Zeit abgebildet. Die Rückseite der Banknote präsentiert im Mittelfeld das berühmte Siegel der Prager Universität, die von Karl 1348 als erste Hochschule Mitteleuropas gegründet wurde. Es zeigt den gekrönten Stifter, wie er kniend die Gründungsurkunde dem böhmischen Staatsheiligen Wenzel überreicht. Links von dem Siegelrund prangt Karls prachtvolle Schmuckinitiale „K“, den Hintergrund bilden auf beiden Seiten gotische Fensterfragmente des Veitsdoms. Der Zweihunderter erschien als erste tschechische Banknote bereits am Tag der Währungstrennung. In der Eile seiner Herstellung schlich sich in einer Teilauflage ein peinlicher Fehler ein: Die Inschrift am Sicherheitsstreifen wies den Geldschein als Zahlungsmittel der „Banque du Zaїre“ aus. Der Held dieser Banknote ist der tschechische Theologe, Philosoph und Pädagoge Johann Amos Comenius (Jan Amos Komenský, 1592–1670). Der europaweit bekannte Gelehrte war ein Führer der Religionsgemeinschaft der Böhmischen Brüder, einer im 15. Jahrhundert aus den Hussiten hervorgegangenen Reformbewegung, die den Glauben und das menschliche Zusammenleben im Geiste des Urchristentums zu erneuern suchte. Nach langer Verfolgung erhielten die Böhmischen Brüder 1609 unter Kaiser Rudolf II. die Religionsfreiheit, bis sie nach der Schlacht am Weißen Berg von 1620, die die Zwangsrekatholisierung der Landes einleitete, vertrieben wurden. Für den im mährischen Fulnek als Gemeindepfarrer und Schulleiter tätigen Comenius begann damit eine Odyssee durch mehrere Länder Europas, die ihn zu einer Symbolfigur der Emigration religiös Verfolgter aus Böhmen und Mähren machte. Das Emigrationsmotiv wird auf der Banknotenvorderseite auf subtile – und für die meisten Betrachter unverständliche – Weise aufgegriffen: Im Hintergrund des Bildnisses von Comenius ist eine Grundrissdarstellung der niederländischen Festungsstadt Naarden zu sehen, in der er seine letzte Ruhestätte fand. Inmitten des Festungsrings ist ein aufgeschlagenes Buch als Symbol für Bildung angedeutet. Die Rückseitenmotive thematisieren das Wirken des Pädagogen und Sozialreformers Comenius, der unter anderem als Vorkämpfer

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für muttersprachlichen Unterricht und die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen gilt. Im Vordergrund greift die Hand eines Erwachsenen sanft nach einer Kinderhand – ein Symbol für pädagogische Arbeit. Dahinter ist wiederum ein Buch aufgeschlagen, das sich durch die Inschrift „Orbis [sensualium] pictus“ als Comenius‘ wirkungsmächtiges Hauptwerk zu erkennen gibt. Wegen seiner Bedeutung für die Böhmischen Brüder und seiner Verdienste um die Entwicklung der tschechischen Sprache kann der „Lehrer der Nation“ in einer Rückprojektion aus der Perspektive der Nationalgeschichte auch als einer der Wegbereiter der tschechischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Eine weitaus größere Bedeutung für die tschechische Nationsbildung wird freilich dem Historiker und Politiker František Palacký (1798–1876) beigemessen, der auf dem Tausendkronenschein erscheint. Den Beinamen „Vater der Nation“ erwarb er sowohl durch seine wissenschaftliche Arbeit als Historiker als auch durch sein leidenschaftliches Engagement als Politiker. Die Vorderseite der Banknote gilt dem Historiker, der eine monumentale „Geschichte von Böhmen“ hinterließ. Links von dem Bildnis wächst ein prächtiger Baum in die Höhe, der die Nation symbolisieren soll. Seine weitverzweigten Wurzeln stehen, so heißt es, für den nahrhaften Reichtum nationaler Geschichte. Das Hintergrundornament bilden aufgerollte Schriftbänder – ein Symbol historischer Erkenntnis. Die Rückseite indes ist dem Politiker gewidmet. Sie wird dominiert von einem Adler mit aufgespannten Flügeln, dem Wappentier Mährens und Schlesiens. Inmitten des Gefieders ist eine Ansicht des mährischen Schlosses Kremsier angedeutet. In den Revolutionsjahren 1848–49 fand dort der verfassungsgebende österreichische Reichstag statt, auf dem sich Palacký als Führer der Slawenpartei hervortat. Zuvor hatte er seine Teilnahme an der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche mit der Begründung verweigert, dass er Tscheche und kein Deutscher sei, und in Prag den Slawenkongress geleitet, auf dem er die Umwandlung des österreichischen Kaiserreichs in eine Föderation gleichberechtigter Völker forderte. Die Reihe der von der geplanten tschechoslowakischen Serie übernommenen Banknotenhelden beschließt Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), dessen Bildnis den Fünftausendkronenschein ziert. Der renommierte Philosophieprofessor Masaryk gilt nicht nur als Vater des tschechoslowakischen Staates, sondern weithin auch als Ausnahmefall eines intellektuell herausragenden und moralisch integren Politikers. Masaryks demokratische, dem Humanitätsideal verpflichtete Gesinnung war in seiner Philosophie fundiert. In Wien und Leipzig akademisch ausgebildet, nahm er in seinem politischen Denken eine europäische Perspektive ein und wandte sich mitunter gegen die Mystifizierung tschechischer Nationalgeschichte. Nach Ausbruch des Krieges forderte er von London aus die tschechische Unabhängigkeit und gründete zusammen mit Edvard Beneš den tschechoslowakischen Nationalrat, dem die an verschiedenen Fronten gegen die Mittelmächte kämpfenden Tschechischen Legionen politisch unterstellt waren. Mit slowakischen Exilorganisationen schloss er den Pittsburgher Vertrag über den staatlichen Zusammenschluss beider Völker. Nach der Staatsgründung wurde er Präsident der Tschechoslowakei und blieb in diesem Amt bis kurz vor seinem Tode.



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Trotz Masaryks singulärer Bedeutung für die Geschichte der tschechoslowakischen Staatlichkeit sind die staatlichen Symbole auf der Banknote eher dezent eingesetzt. Ein Band in den Nationalfarben Weiß und Rot hinterfängt sein Bildnis, links oben ist in einem Strahlenbündel ein kleiner stilisierter Kopf des böhmischen Löwen zu sehen. Die Rückseite zeigt ein aus den berühmtesten Bauten der Gotik und des Barock zusammengesetztes idealisiertes Panorama der Stadt Prag, das durch steinernen Reliefschmuck der Prager Baudenkmäler und, bemerkenswerterweise, Grabsteine des Alten Jüdischen Friedhofs ergänzt wird. Über den Gebäudeumrissen schweben das Wappen Prags und der böhmische Löwe als kleines Wappen Tschechiens. Als neue Motive für die drei hinzugekommenen Geldscheine im Wert von fünfzig, fünfhundert und zweitausend Kronen wurden drei Frauen gewählt. An die Stelle des tschechoslowakischen Proporzanspruchs trat, zumindest vordergründig, das Gebot der geschlechterpolitischen Korrektheit. Auf dem Fünfzigkronenschein erscheint ein Phantasiebildnis der heiligen Agnes von Böhmen (um 1211–82). Die Tochter von König Přemysl Otakar I. und Schwester seines Nachfolgers Wenzel I. gilt als eine der bemerkenswertesten Frauen böhmischer Geschichte. Nach der erst 1989, unmittelbar vor der Samtenen Revolution erfolgten Heiligsprechung erreichte ihre Popularität einen neuen Höhepunkt. In einer Zeit, die Frauen bekanntlich kaum eigenen Willen zubilligte, hatte sich Agnes beharrlich ihren Weg geebnet. Die machtpolitisch bestimmten Heiratspläne ihres Elternhauses scheiterten offenbar an ihrem Wunsch, sich als Nonne der Frömmigkeit und der Armenfürsorge hinzugeben. Mit Unterstützung ihres Bruders gründete sie daraufhin in Prag ein bedeutendes, später nach ihr benanntes Klarissenkloster, das zeitweise auch als Grablege der Přemyslidendynastie diente. Gegen alle Widerstände beharrte Agnes auf die strikte Einhaltung des Armutsgebots im Geiste der heiligen Klara, mit der sie einen Briefwechsel unterhielt. Als Symbol ihrer Barmherzigkeit und Selbstaufopferung wurde auf der Banknotenvorderseite neben ihrem Bildnis ein flammendes Herz mit einer Träne dargestellt. Die Rückseite ziert das in Unteransicht wiedergegebene gotische Gewölbe der zum Agneskloster gehörigen Salvatorkirche. Die Gewölberippen laufen in einer die Komposition dominierenden A-Initiale zusammen, in deren Mitte Bildnisse der Vorbilder der Stifterin – des heiligen Franz von Assisi und der heiligen Klara – dargestellt sind. Auf dem Fünfhundertkronenschein wurde mit Božena Němcová (1820–62) eine der bedeutendsten und populärsten tschechischen Schriftstellerinnen geehrt. Zwischen Spätromantik und Realismus schwankend, schilderte sie in ihren Romanen und Erzählungen, zum Teil in sentimentalischer Verklärung, das Volksleben. Zugleich trat die Sympathisantin der nationalen Bewegung mit sozialkritischer Prosa hervor und gab Sammlungen tschechischer und slowakischer Märchen heraus. Ihr kurzes Leben begann glücklich und endete tragisch. Als Tochter eines Dienerehepaars unter der Obhut der fürsorglichen Großmutter aufgewachsen, verkehrte sie als bewunderte junge Literatin in den maßgeblichen Intellektuellenzirkeln Prags. Ihre Ehe mit einem viel älteren Zollbeamten war aber eine Katastrophe. Nach häufigen Wohnsitzwechseln zog sie mit ihren vier Kindern zurück nach Prag. Von Krankheit und bitterer Armut geplagt, durch den Tod ihres Sohnes getroffen und nach unglücklichen amourösen

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Eskapaden ermattet, starb sie frühzeitig als vom Leben schwer gezeichnete Frau. Die symbolistisch aufgeladenen Motive auf der Banknote beziehen sich ausschließlich auf das persönliche Schicksal der Schriftstellerin. Eine plakative Metapher ihres Lebens, hart an der Grenze zum Kitsch, ist das melancholische Gesicht einer jungen Frau auf der Rückseite, umgeben von Blumen auf der einen sowie Dornen und Disteln auf der anderen Seite, die jeweils das Glück der Kindheit und Jugend und die Tragik der zweiten Lebenshälfte symbolisieren. Der Zweitausender (Abb. 2) schließlich ist einer Musikerin gewidmet. Die als rassige Schönheit dargestellte Emmy Destinn (Ema Destinnová, 1878–1930) machte als Sopransängerin in den größten Opernhäusern der Welt, darunter der Berliner Staatsoper und der New Yorker Metropolitan Opera, Furore. Während des Ersten Weltkriegs kehrte sie nach Böhmen zurück. Ihre Konzerte sollen dort zuweilen den Charakter von Manifesten gegen Krieg und österreichische Vorherrschaft gehabt haben. Ungeachtet des internationalen Ruhms hielt sich ihre Anerkennung in der Heimat aber in Grenzen, so dass ihre späten Jahre ebenfalls von Enttäuschung geprägt waren. Auf der Banknote mit ihren dekorativen Jugendstilanklängen wird freilich der Triumph ihres Künstlertums gefeiert. Links neben ihrem Porträt prangt eine Lyra inmitten eines Lorbeerkranzes. Die Rückseite zeigt die stilisierte, von Lorbeerzweigen geschmückte Namensinitiale D. In deren oberem Teil taucht das Gesicht der Muse Euterpe auf, darunter sind zwei Streichinstrumente dargestellt. Am rechten Rand der Banknote, außerhalb des Bildfelds, findet sich abermals das Attribut der Lyra. Ähnlich wie auf dem Božena Němcová gewidmeten Fünfhundertkronenschein wurde hier auf jegliche politischen und nationalgeschichtlichen Motive verzichtet. Stellt man die fünf von der geplanten tschechoslowakischen Serie übernommenen Helden den drei hinzugekommenen Heldinnen gegenüber, so fällt auf, dass erstere, mit Ausnahme von Comenius, vornehmlich die politische Geschichte – genauer: die staats- und nationsbildende Tradition – vertreten, während letztere in erster Linie die Kulturnation repräsentieren. Dabei gibt es natürlich Überschneidungen. So wird in der ersten Gruppe mit verschiedenen Motiven vielfach auch auf die Kulturleistungen der dargestellten Persönlichkeiten verwiesen, besonders massiv bei Karl IV. Andererseits hatten das Wirken und die spätere Wahrnehmung der Heldinnen aus der zweiten Gruppe auch eine politische Komponente. So hatte das Kloster der heiligen Agnes nicht nur eine religiöse und kulturelle, sondern, als Grablege des Herrscherhauses, auch eine staatstragende Bedeutung. Zudem klangen in der späteren Legendenbildung zu Agnes mitunter patriotische Motive an. Božena Němcová und Emmy Destinn wiederum verdanken ihre Popularität nicht nur ihren Leistungen als Künstlerinnen, sondern auch ihrem Eintreten für die tschechische Nationalbewegung. Ungeachtet dieser Schnittmengen ist die Verlagerung des thematischen Schwerpunkts zwischen den beiden Banknotengruppen allerdings unübersehbar: von der Glorifizierung der staatlichen und nationalen Geschichte zur Feier der nationalen Kulturleistungen. Damit kreuzen sich auf den tschechischen Geldscheinen zwei konkurrierende Tendenzen europäischer Banknotenikonographie. Die erste von ihnen, die die lange staatliche Tradition betont, erfreut sich in einigen postsozialistischen Staaten des ehemaligen



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Ostblocks einer besonderen Popularität. Nach dem Ende sowjetischer Vorherrschaft wurde die Inszenierung einer altehrwürdigen, bis ins Mittelalter zurückreichenden Geschichte der eigenen Staatlichkeit zu einem Mittel, die wiedergewonnene Souveränität zu zelebrieren und zugleich historisch zu legitimieren. Die zweite Tendenz, die die Kulturleistungen der Nation in den Mittelpunkt stellt, hatte bereits in den spätsozialistischen Banknoten einiger Ostblockstaaten, darunter Abb. 2  Zweitausendkronenschein von 1996, Vorder- und auch der TschechoslowaRückseite. Entwurf Oldřich Kulhánek. kei, einen Niederschlag gefunden. Eindeutig dominant war sie in den Jahrzehnten vor der Einführung des Euro in den Staaten Westeuropas. Sie entsprang hier einem geschichtspolitischen Paradigmenwechsel, der mit dem Prozess der europäischen Einigung korreliert: vom Primat staatlicher Souveränität zur Besinnung auf kulturelle Gemeinsamkeiten und Eigenheiten. In ihrer Ambivalenz – zwischen Inszenierung staatlicher Geschichte und Feier der Kulturleistungen – scheint die Banknotenikonographie der jungen Tschechischen Republik symptomatisch für die Übergangssituation eines Staates, der noch im Prozess postsozialistischer Selbstfindung im Zeichen wiedererlangter Souveränität begriffen war und zugleich unter Hochdruck die Öffnung nach Europa und die Integration in dessen politische Strukturen vorantrieb. Solche Deutungsversuche werden allerdings durch die Tatsache relativiert, dass die Entstehungsgeschichte der einzelnen Banknoten, die in diesem Beitrag ausgeblendet bleibt, zuweilen erstaunlich zufällig verlief. Als Tschechien und Slowakei einen gemeinsamen Staat bildeten, lagen der Identitätsstiftung durch Banknoten jedenfalls andere Prämissen zugrunde als nach 1992. Auf die Entwicklung der tschechoslowakischen Banknotenikonographie seit der Staatsgründung im Jahr 1918 soll der folgende Überblick einige Schlaglichter werfen.

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Die mühsame Suche nach einer gemeinsamen Symbolik – die Banknoten der   Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918–38) Mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs ging für Tschechen und Slowaken nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft der Traum der staatlichen Unabhängigkeit in Erfüllung. Als das Auseinanderbrechen der Habsburgerreichs unabwendbar geworden war, hatte der österreichische Kaiser im Herbst 1918 die Umwandlung der Monarchie in einen Bund freier Völker angekündigt. Doch für diesen Rettungsversuch war es zu diesem Zeitpunkt schon zu spät. Denn zuvor hatten die im tschechoslowakischen Nationalrat zusammengeschlossenen Führer beider Nationen die Gründung eines gemeinsamen Staates beschlossen und entsprechende Vorbereitungen getroffen. Am 28. Oktober wurde in Prag mit Zustimmung der Alliierten die Tschechoslowakische Republik (ČSR) ausgerufen. Anders als es ihr Name suggerierte, war die Tschechoslowakei kein Zweivölkerstaat, sondern ein Vielvölkerstaat. Neben Tschechen und Slowaken lebten auf ihrem Territorium Deutsche, Ungarn, Ukrainer, Juden, Polen und einige kleinere ethnische Gruppen. Alle Minderheiten zusammen machten rund ein Drittel der Bevölkerung aus. Am Anfang ihres Bestehens war die Tschechoslowakei mit den übrigen aus der österreichisch-ungarischen Monarchie hervorgegangenen Staaten durch eine gemeinsame Währung verbunden. Doch bereits in den ersten Monaten des Jahres 1919 führte die Regierung eine Währungsreform durch. Groß war die Versuchung, den staatlichen Neuanfang durch eine neue Währungsbezeichnung symbolisch zu bekräftigen. Nach einer lebhaften Diskussion mehrerer Namensvorschläge blieb es jedoch – eingedenk der vertrauensbildenden Kraft der Gewohnheit – bei der aus der Kaiserzeit geerbten Krone. Kurioserweise wurde die Tschechoslowakei damit zum einzigen Nachfolgestaat der österreichisch-ungarischen Monarchie, in dem der alte Währungsname überdauerte. Da die Herstellung neuen Papiergeldes durch den Mangel an leistungsfähiger technischer Ausrüstung erschwert war, blieben die kaiserzeitlichen Banknoten zunächst im Umlauf. Ähnlich wie bei der Währungstrennung von 1993 wurden die alten Geldscheine zur Kennzeichnung mit Wertmarken und Aufdrucken versehen. Auf den Wertmarken erschienen verschiedene Varianten des zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig festgelegten Staatswappens. Die Aufdrucke enthielten das Bildnis des bereits erwähnten František Palacký, des „Vaters der tschechischen Nation“, und entsprachen somit vornehmlich dem Repräsentationsbedürfnis des größten Staatsvolkes. Bereits bei der Betrachtung dieser provisorischen Kennzeichnungen scheint ein grundlegendes Problem der tschechoslowakischen Banknotenikonographie der Zwischenkriegszeit auf, das niemals wirklich überzeugend gelöst werden sollte. Es bestand in der Entwicklung einer Symbolik, die einerseits allgemein verständlich und einprägsam ist und andererseits einen demokratischen Staat angemessen repräsentiert, der aus mehreren historischen Ländern besteht und von verschiedenen, formal gleichberechtigten Völkern bewohnt wird.



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Ein exemplarisches Beispiel für das Bemühen um eine integrative Staatsrepräsentation ist der Einkronenschein aus der ersten Serie tschechoslowakischer Geldscheine von 1919–20 (Abb. 3). Sein Hauptmotiv ist das provisorische Wappen der Tschechoslowakischen Republik, das aus Abb. 3  Einkronenschein von 1919, Vorderseite. den Landeswappen Böhmens, Mährens, Schlesiens und der Slowakei bestand. Die hierarchische Hervorhebung des böhmischen Löwen, der die Mitte der Komposition einnimmt und die übrigen Wappen an Größe übertrifft, deutet freilich an, welches Volk in dem neuen Staat die Führungsrolle beanspruchte. Heraldisch unberücksichtigt blieb zunächst die im Osten der Tschechoslowakei gelegene Karpato-Ukraine. Ihr Wappen wurde erst 1920, nach ihrer förmlichen Eingliederung in die Tschechoslowakei kraft des Vertrags von Trianon, zum Bestandteil des offiziellen Mittleren und Großen Staatswappens und tauchte in dieser Form auch gelegentlich auf späteren Banknoten und Münzen auf. Der Multiethnizität der Bevölkerung wurde auf demonstrative Weise durch eine sechssprachige Wertangabe – auf tschechisch, slowakisch, ukrainisch, deutsch, polnisch und ungarisch – Rechnung getragen. Für die drei letzteren Sprachen wurde allerdings eine etwas kleinere Schrift verwendet, obwohl die Deutschen die mit Abstand größte und die Ungarn die zweitgrößte nationale Minderheit stellten. Bezeichnenderweise fehlt das Jiddische, das vor allem unter den Juden der Slowakei und der Karpato-Ukraine verbreitet war. Der Grund dafür liegt im rechtlichen Status der tschechoslowakischen Juden, denen die Anerkennung als nationale Minderheit versagt wurde. Trotz dieser heraldischen und sprachlichen Unausgewogenheiten ist der Geldschein in seiner integrativen Programmatik ein bemerkenswertes Zeugnis guter Absichten in Sachen Partizipation der Landesteile und Selbstbestimmungsrecht der ethnischen Gruppen. Die Hoffnungen der Anfangszeit sollten aber bald von der durch innere Konflikte geprägten politischen Wirklichkeit eingeholt werden. Den Slowaken und Karpato-Ukrainern blieb die versprochene Autonomie verwehrt. Auch die nationalen Minderheiten der Ungarn und der Deutschen sahen sich benachteiligt. Besonders die unerfüllten Forderungen der Deutschen vergifteten zunehmend das innenpolitische Klima. Die tschechische Vorherrschaft in dem zentralistisch verfassten Staatswesen schlug sich während der gesamten Zeit der Ersten Republik auch in der Gestaltung der Geldscheine nieder. Mit Ausnahme der polnischen Aufschriften, die, wohl infolge eines erbitterten Grenzkonflikts mit dem nördlichen Nachbarn, rasch von den Banknoten verschwanden, wurden die mehrsprachigen Wertangaben zwar auch später weitgehend

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beibehalten. Insgesamt dominierten allerdings tschechische Motive die Ikonographie der tschechoslowakischen Banknoten. Dies zeigt sich bereits auf den übrigen Geldscheinen der ersten Serie, die zum großen Teil von dem berühmten tschechischen Maler und Graphiker Alfons Mucha gestaltet wurden. Die Geschichte der tschechischen Nationsbildung ist durch Motive wie tschechische Nationalgardisten aus dem Revolutionsjahr 1848 oder hussitische Krieger vertreten. Mehrmals taucht der Falke auf, das Symboltier des 1862 gegründeten tschechischen Turnvereins „Sokol“ (Falke), einer nationalgesinnten, wirkungsmächtigen Massenorganisation, die die patriotischen Kräfte mobilisierte. Hinzu kommen tschechisch oder allgemeinslawisch konnotierte Motive aus Muchas zwischen Symbolismus und Jugendstil changierendem Dekorationsrepertoire wie zum Beispiel Lindenzweige. Auf mehreren Geldscheinen finden sich ferner süßliche Frauen- und Mädchenköpfe, meist in Regional- oder Nationaltrachten. Bei einigen Motiven, allen voran den Allegorien auf dem Tausendkronenschein, lässt sich indes überhaupt kein Bezug zur Tschechoslowakei feststellen. Auffällig ist die stilistische und ikonographische Heterogenität der ersten Serie. Sie resultiert nicht nur aus den konzeptionellen Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer einheitsstiftenden Symbolik, sondern auch aus der Eile und den technisch-logistischen Problemen bei der Herstellung der Geldscheine, die den Staat dazu zwangen, vielfach auf die Dienste ausländischer Druckereien zurückzugreifen. So wurde etwa der Fünfkronenschein von einer Wiener Druckerei entworfen. Dementsprechend erinnert er in seiner Gestaltung an das frühere kaiserzeitliche Geld. Für den in den Vereinigten Staaten gedruckten Tausender und den in Wien hergestellten Fünftausender wurden sogar alte Vorlagen wiederverwendet. Im ersten Fall waren es Elemente von verschiedenen amerikanischen Banknoten des 19. Jahrhunderts, im zweiten Entwürfe für österreichische Geldscheine. Aller politischen Unsicherheit der frühen Nachkriegszeit zum Trotz erwies sich die tschechoslowakische Krone als eine der stabilsten Währungen im inflationsgeplagten Europa. Umso attraktiver war sie für Fälscher, deren Arbeit durch die gravierenden Sicherheitsmängel einiger Geldscheine erleichtert wurde. Deshalb wurde bereits in den Jahren 1920–24 eine neue Serie emittiert. Auch diesmal musste die Produktion großteils ins Ausland verlagert werden. Drei der fünf neuen Geldscheine entstanden unter der technischen und künstlerischen Regie einer amerikanischen Druckerei. Dabei kamen immerhin einige tschechoslowakische Motive zum Einsatz. Der unermüdliche Alfons Mucha, dessen Einfluss noch in einem Teil der heutigen Banknoten der Tschechischen Republik nachzuklingen scheint, steuerte wieder Entwürfe aus seiner Werkstatt bei. So findet sich etwa auf dem Fünfhundertkronenschein das Bildnis eines tschechischen Legionärs aus dem Ersten Weltkrieg, und den Hunderter (Abb. 4) ziert die Gestalt einer slawischen Priesterin, die von Mucha ursprünglich für den Werbeprospekt einer Bank gezeichnet worden war. Mit dem schon erwähnten Johann Amos Comenius tauchte auf dem neuen Fünfkronenschein, sieht man von den provisorischen Aufdrucken mit Palackýs Bildnis ab, erstmals eine konkrete Persönlichkeit aus der böhmischen Geschichte auf. Als neue



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Motive wurden in die Serie auch symbolträchtige Stadtansichten und Landschaften der Tschechoslowakei aufgenommen. Auf der Rückseite des Hunderters (Abb.  4) flankieren zwei Bildnisse junger Frauen in Regionaltrachten eine Prager Vedute mit der Moldau, der Karlsbrücke und dem Hradschin mit Königsburg und Veitsdom. Der Fünfziger zeigt auf seiner Rückseite einen säenden Bauern mit der in der Westslowakei gelegenen Burg Trentschin (Trenčin) im Hintergrund. Auf der RückAbb. 4  Hundertkronenschein von 1920, Vorder- und seite des Fünftausenders ist Rückseite. Entwurf Alfons Mucha. im Hintergrund einer allegorischen Frauengestalt eine Ansicht Prags mit dem Altstädter Brückenturm zu erkennen. Die Vorderseite ziert neben dem Bildnis einer Frau in der Tracht aus Tabor eine Elbansicht mit dem bei Raudnitz (Roudnice) gelegenen Georgsberg (Říp), der im 19. Jahrhundert zu einer Kultstätte der tschechischen Nationalbewegung wurde; der Legende zufolge hatten die Vorfahren der Tschechen unter der Führung ihres Urvaters Čech beschlossen, sich an diesem Ort anzusiedeln. Zwischen 1927 und 1935 erschienen einige weitere Banknoten. Obwohl sie endlich durchgehend in Eigenregie, von der Druckerei der 1926 gegründeten Tschechoslowakischen Nationalbank, hergestellt werden konnten, fügen sie sich ebensowenig wie ihre Vorgänger zu einem ikonographisch schlüssigen Programm zusammen. Sie enthalten einige teilweise recht komplizierte allegorische Darstellungen, allen voran der von Mucha gestaltete Fünfziger, den eine mit Freimaurersymbolen gespickte Allegorie eines Industriearbeiters und einer Bäuerin schmückt. Einen neuen thematischen Akzent setzen nun Persönlichkeiten der jüngsten tschechoslowakischen Geschichte. So zeigt der Zwanzigkronenschein auf der Vorderseite das Bildnis des slowakischen Politikers und Militärs Milan Rastislav Štefánik (1880–1919), der während des Ersten Weltkriegs zusammen mit Masaryk und Beneš den tschechoslowakischen Nationalrat ins Leben rief. Mit der Darstellung des slowakischen Gründungsvaters der Tschechoslowakischen Republik wurde diesmal der Anteil der Slowakei an der Entstehung des gemeinsamen Staates nachdrücklich herausgestellt. Das Gegenstück auf der Rückseite bildet das Porträt des Tschechen Alois Rašín

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(1867–1923), des bei einem Attentat ums Leben gekommenen ersten Finanzministers der Republik, der als Schöpfer der Landeswährung in die Geschichte einging. Freunde des Papiergeldes kennen seinen Namen bereits von den früheren tschechosloAbb. 5  Hundertkronenschein von 1927, Vorderseite. wakischen Geldscheinen, Entwurf Max Švabinský. die seine Unterschrift tragen. Schon zu Lebzeiten wurde ein anderer Tscheche, Staatspräsident Masaryk, auf einer Banknote geehrt. Sein von nackten Kindern gehaltenes, mit Lorbeerzweigen geschmücktes Porträt auf dem Hundertkronenschein (Abb. 5) zeugt vom Personenkult, der den Übervater der Tschechoslowakei umgab. Mit Palackýs Bildnis auf dem Tausendkronenschein wurde indes erneut an den Protagonisten der tschechischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert erinnert. Im Jahr 1938, im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs, wurden noch zwei Banknoten vorbereitet, die wegen der sich überstürzenden, für die Tschechoslowakei tragischen Ereignisse nicht mehr in Umlauf kamen. Für den Einkronenschein war ein Mädchenkopf in einer phrygischen Mütze als Personifikation der Republik vorgesehen – ein traditionsreiches, kämpferisches Freiheits- und Unabhängigkeitssymbol, das im Angesicht des drohenden Unheils wohl die Entschlossenheit zur Verteidigung der staatlichen Souveränität zum Ausdruck bringen sollte. Auf dem Fünfkronenschein sollte sich dem nationalen Pantheon der Tschechen der Schriftsteller und Philologe Josef Jungmann (1773–1847) hinzugesellen, der sich mit seinem monumentalen deutschtschechischen Wörterbuch, Übersetzungen von Werken der Weltliteratur ins Tschechische und Arbeiten zur tschechischen Literaturgeschichte um die Wiederbelebung der tschechischen Sprache und Literatur verdient gemacht hatte. Anschlag auf tschechische Identität – die Banknoten des   „Protektorats Böhmen und Mähren“ (1939–45) Der Emission kam das von Hitler erzwungene Münchner Abkommen von 1938 zuvor, das die Zerschlagung der Tschechoslowakei einleitete. Zunächst wurden die sudetendeutschen Gebiete dem Deutschen Reich einverleibt. Bald darauf proklamierte die Slowakei unter ihrem Führer Jozef Tiso ihre Unabhängigkeit und wurde zu einem Satellitenstaat Hitlers. Der letzte Schritt war die Schaffung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ auf dem verbliebenen Territorium, mit der Hitler dem Rumpfstaat der „Rest-Tschechei“ den Todesstoß versetzte.



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Die Slowakei stellte fortan eigene Banknoten her, im Protektorat Böhmen und Mähren hingegen wurde die tschechoslowakische Krone durch die „Protektoratskrone“ und die Reichsmarkwährung ersetzt. Ein großer Teil der tschechoAbb. 6  Fünftausendkronenschein von 1944, Vorderseite. slowakischen Geldzeichen Entwurf Jindra Schmidt. blieb aber übergangsweise im Umlauf, einige Münzen und Banknoten wurden sogar neu aufgelegt. Der Einkronenschein und der Fünfkronenschein von 1938 erlebten paradoxerweise erst im Protektorat Böhmen und Mähren ihre nachgeholte Emission, allerdings mit einem Stempel mit dem Namen des neuen Staatsgebildes in deutscher und tschechischer Sprache versehen. Seit 1940 erschienen neue Banknoten der Protektoratskrone, die ebenfalls durchgehend zweisprachig waren. Bei den ersten von ihnen handelte es sich um simple Umarbeitungen der beiden letzten tschechoslowakischen Geldscheine, bei denen die für das Nazi-Regime politisch inakzeptablen Bildnisse Jungmanns und des Mädchens mit phrygischer Mütze durch Mädchenköpfe ohne Attribute ersetzt wurden. Kinderköpfe waren auch auf den späteren Banknoten des Protektorats ein bevorzugtes Motiv. Vereinzelt tauchten auch Gestalten aus der böhmischen Geschichte auf, etwa ein Selbstbildnis des Barockmalers Peter Johann Brandl (1668– 1735) oder die berühmte Büste Peter Parlers (1332/33–99) aus dem Triforium des Prager Veitsdoms, mit der der gotische Baumeister natürlich als Vertreter der deutschen Kultur in Böhmen und zugleich als Beleg für ihre postulierte Überlegenheit gefeiert wurde. Bemerkenswerter ist die Darstellung des heiligen Wenzel (um 903–935), die den Fünftausendkronenschein ziert (Abb. 6). Es läge nahe, den Auftritt des Přemyslidenherzogs, der von den Tschechen nicht nur als Landespatron, sondern gleichsam als Urvater und Garant der tschechischen Staatlichkeit verehrt wird und in dieser Eigenschaft auf mehreren früheren Münzen verewigt worden war, als Zugeständnis an das tschechische Landesbewusstsein zu werten. Doch der heilige Wenzel spielte auch in der Propaganda des Dritten Reichs in Böhmen eine herausragende Rolle. Die NaziGeschichtsschreibung sah in ihm einen mustergültigen Germanophilen. Denn nach ihrer Auffassung ließ er, wie der deutsche Historiker Josef Pfitzner damals schrieb, „nie einen Zweifel darüber aufkommen, dass sein Herzogtum [...] jenem mächtigen Reichsgebilde zugehöre, das vom deutschen Volke getragen und verwaltet wurde.“ Zu einem Ahnherrn deutscher Herrschaft über Böhmen umgedeutet, wurde er auf der Banknote als ein heroischer Recke dargestellt, der geradezu als östlicher Bruder des im Dritten Reich obsessiv inszenierten Bamberger Reiters erscheint. Dass für diese Umdeutung ausgerechnet das zwischen 1912 und 1924 nach Entwürfen des tschechischen

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Bildhauers Josef Václav Myslbek errichtete, populäre Denkmal des Přemysliden auf dem Prager Wenzelsplatz als Vorlage verwendet wurde, gehört zu den bitteren Kuriositäten der Kunstgeschichte. Ein Reiterbildnis des heiligen Wenzel ziert auch die heutige tschechische Zwanzigkronenmünze. Auf Banknoten fand er aber ungeachtet seiner herausragenden ideellen Bedeutung für die Tschechen keinen Platz mehr. Die perfide Vereinnahmung durch die Nazi-Okkupanten könnte ein Grund dafür sein. Zwischen Agitprop und Ikonoklasmus – die Banknoten der   sozialistischen Tschechoslowakei (1945/48–89) Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Tschechoslowakische Republik (ČSR) als gemeinsamer Staat der Tschechen und Slowaken wiederhergestellt. Erster Staatspräsident wurde Edvard Beneš, der dieses Amt bereits in den letzten Jahren der Ersten Republik von Masaryk übernommen und seit 1939 der Londoner Exilregierung vorgestanden hatte. Die anfängliche personelle Kontinuität an der Spitze konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das neue Staatswesen mit der demokratischen Tschechoslowakei der Vorkriegszeit nur noch wenig gemein hatte. Mit der von Beneš dekretierten Vertreibung der Deutschen hatte sich die Tschechoslowakei ihrer größten nationalen Minderheit entledigt. Politisch gelangte die Zweite Republik in die Einflusssphäre der Sowjetunion, mit der bereits die Exilregierung einen Freundschaftspakt geschlossen hatte. Damit waren die Weichen für die Errichtung eines totalitären kommunistischen Regimes gestellt. Bereits 1948 riss die kommunistische Partei die ganze Macht an sich. Beneš trat zurück, sein Nachfolger wurde Klement Gottwald. Mit der Verfassung von 1960 kam der Wandel auch in einem neuen Staatsnamen zum Ausdruck. Aus der Tschechoslowakischen Republik wurde die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR). In der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben die Kronen des Protektorats Böhmen und Mähren und des slowakischen Separatstaates vorerst im Umlauf. Gleichzeitig wurde für einige Banknoten und Münzen der Ersten Republik die Gültigkeit erneuert. Hinzu kamen Kronenscheine sowjetischer Produktion, die noch vor Kriegsende in den von der Roten Armee eroberten Gebieten in Umlauf gebracht worden waren. Sie enthielten weder heraldischen noch figürlichen Schmuck. Die verschiedenen provisorischen Geldscheine wurden 1945 mit Wertmarken mit einem Bildnis des 1937 verstorbenen Staatspräsidenten Masaryk versehen. Bereits seit Herbst 1945 erschienen neue Banknoten der Tschechoslowakischen Republik, die das Notgeld ersetzten. Ein Großteil von ihnen war noch während des Krieges, in vorausschauendem Auftrag der Londoner Exilregierung, in England gedruckt worden. Die Beschriftung der Banknoten war nun einsprachig, jeweils abwechselnd tschechisch oder slowakisch. Die verbliebenen nationalen Minderheiten wurden programmatisch nicht mehr berücksichtigt. Dafür stieg der Anteil slowakischer Motive, in späterer Zeit erlangte er sogar annähernd die Parität.



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Den ikonographischen Schwerpunkt der Nachkriegsbanknoten bilden Vertreter früherer staatlicher Tradition und Exponenten der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts. Die Erste Republik repräsentieren die schon auf Vorkriegsbanknoten verewigten Gründungsväter Masaryk und Štefánik. Der Slowake Štefánik wurde auf den Geldscheinen der frühen Nachkriegszeit sogar zweimal dargestellt. Mit Georg von Podiebrad (reg. 1458–71), dessen Bildnis auf dem Tausendkronenschein (Abb. 7) zu sehen ist, erschien erstmals ein böhmischer König auf einer tschechoslowakischen Abb. 7  Tausendkronenschein von 1945, Vorder- und Rückseite. Entwurf Edmund Dulac. Banknote. Dass den Monarchen der Auftritt auf den Geldscheinen der Ersten Republik verwehrt worden war, hatte mehrere Gründe. Zum einen wäre es für eine junge Republik, die gerade erst das Joch der österreichischungarischen Monarchie abgeschüttelt hatte, politisch unpassend gewesen, zu ihrer Selbstdarstellung ausgerechnet gekrönte Häupter einzusetzen. Zum anderen war unter nationalgeschichtlichen Gesichtspunkten die Auswahl der in Frage kommenden Kandidaten sehr begrenzt, da Böhmen nach dem Aussterben der Přemysliden am Anfang des 14. Jahrhunderts meist von Vertretern verschiedener fremder Dynastien und seit 1526 durchgehend von den Habsburgern regiert worden war. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum schließlich ausgerechnet bei Georg von Podiebrad eine Ausnahme gemacht wurde. Was dem Sprössling des böhmischen Adels die Ehrung als Banknotenheld eintrug, war sicher nicht in erster Linie seine Leistungsbilanz als Herrscher, denn er hatte ein desolates, innerlich zerrüttetes Königreich hinterlassen. Dafür erschien Georg in mehrfacher Hinsicht ideologisch besonders kompatibel. Zum einen war er kein Vertreter einer Dynastie, sondern ein zu Königswürden aufgestiegenes Landeskind und zudem ein ethnischer Tscheche. Zum anderen steht er in der Tradition der kirchenreformerisch-sozialrevolutionären Hussitenbewegung, die maßgeblich zur kulturellen Verselbständigung der Tschechen beigetragen hatte und daher als frühe nationale Emanzipationsbewegung gilt. Vor seiner Thronbesteigung war

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Georg Führer der dominierenden, gemäßigten Hussitengruppierung der Utraquisten gewesen. Von der utraquistischen Ständemehrheit zum „Ketzerkönig“ gewählt, musste er seine Krönung allerdings durch einen Eid an den Papst erkaufen, mit dem er sich zu Gehorsam verpflichtete. Zum dritten schließlich konnte Georg mit fortschrittlichen außenpolitischen Ideen in Verbindung gebracht werden. Seine Europakonzeption gewann in der Übergangsphase der Nachkriegstschechoslowakei – vor der Machtergreifung durch die Kommunisten – eine neue Aktualität als außenpolitisches Modell. So wie der König mit seinem berühmten Plan eines Friedensbundes europäischer Fürsten eine Kooperation gleichberechtigter Staaten anstrebte, so hing Staatspräsident Beneš der Illusion an, die Tschechoslowakei könnte in der europäischen Nachkriegsordnung zu einem vermittelnden Bindeglied zwischen Ost und West werden. Von der Emanzipationsbewegung des Hussitismus, die schon in der Geschichtspolitik der Ersten Republik eine herausragende Rolle spielte, ließ sich eine Linie zum nationalen Erwachen der Slawen in der Donaumonarchie ziehen. Diese Phase der Nationsbildung vertreten auf den Banknoten der frühen Nachkriegszeit der tschechische Journalist und Satiriker Karel Havlíček gen. Borovský (1821–56) und sein damaliger Gegenspieler, der aus der Slowakei stammende Lyriker und Gelehrte Ján Kollár (1793–1852). Ersterer setzte sich als Austroslawist für eine stärkere Autonomie der Slawen innerhalb der Habsburgermonarchie ein, Letzterer war ein Vertreter der allslawischen Einigungsbewegung des Panslawismus. Für den Anteil der Kultur an der Entwicklung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert steht auf den Banknoten freilich vor allem der tschechische Komponist Bedřich Smetana (1824–84), der in seinen Werken Tänze und Lieder seiner Heimat verarbeitete und als Begründer eines eigenständigen Nationalstils in der Musik gilt. Als Symbol republikanischer Ideale taucht auf einer Banknote auch erneut ein Mädchenkopf mit phrygischer Mütze auf. Der gleiche Kopf war bereits für eine Protektoratsbanknote verwendet worden – dort natürlich ohne Mütze. Die Rückseiten der Geldscheine zieren bevorzugt Ansichten von historischen Städten, Repräsentationsbauten und Landschaften der Tschechoslowakei, darunter der Hradschin mit Karlsbrücke und Moldau, die Stadt Banská Bystrica, die als Zentrum des Slowakischen Nationalaufstands von 1944 zu einem nationalen Erinnerungsort wurde, eine Tatralandschaft und, auf dem Fünftausendkronenschein mit Smetana auf der Vorderseite, das Prager Nationaltheater. Eine Ansicht der berühmten böhmischen Burg Karlstein, des Symbolbaus des spätmittelalterlichen Königreichs Böhmen, taucht auf dem Georg von Podiebrad gewidmeten Tausender auf (Abb. 7). Historisch ist diese Zusammenstellung eher unpassend, handelt es sich doch bei Karlstein um eines der bedeutendsten Bauprojekte von Karl IV. Der Umsturz von 1948, der die Sowjetisierung der Tschechoslowakei vollendete, machte sich bald auch in der Gestaltung der Banknoten bemerkbar. So war zum Beispiel der antisowjetisch eingestellte Štefánik als Banknotenheld fortan untragbar. Sein Bildnis auf dem Fünfzigkronenschein musste bereits 1950 der Darstellung eines Bergarbeiters vor einer Zeche (Abb. 8) weichen, mit der der Sozialistische Realismus in die Bilderwelt der tschechoslowakischen Banknoten Einzug hielt.



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Eine Gelegenheit zur umfassenden Ideologisierung der Banknotenikonographie bot die neue Serie von 1953, die kraft einer geheim vorbereiteten Währungsreform alle früheren Banknoten ersetzte. Dass diese Gelegenheit nicht Abb. 8  Fünfzigkronenschein von 1950, Vorderseite.   konsequent genutzt wurde Entwurf L’udovit Ilečko und Ladislav Jirka. – die meisten der in Moskau gedruckten Banknoten zeigen nur das Kleine Staatswappen inmitten grobschlächtiger Ornamente sowjetischer Machart –, lag wohl nicht zuletzt an der Eile bei der Herstellung des neuen Geldes. Immerhin sind auf dem Hunderter ein Arbeiter und ein Bauer in heldenhafter Pose zu sehen, Abb. 9  Fünfzigkronenschein von 1953, Vorderseite.   und der Fünfziger (Abb. 9) Entwurf Sergej Akimovič Pomanskij. zeigt den Bruderkuss eines Sowjetsoldaten und eines tschechoslowakischen Partisanen. Besonders interessant als Zeugnis sozialistischer Geschichtspolitik ist der Fünfundzwanzigkronenschein mit einem Reiterstandbild des Hussitenführers Jan Žižka von Trocnov (um 1370–1424). Der bedeutendste Feldherr der radikalen Hussitengruppierung der Taboriten besiegte trotz seiner Erblindung wiederholt König Siegmund und konnte sich sogar die Gefolgschaft der gemäßigten Hussiten sichern. Die Kommunisten entdeckten in dem militanten Sozialrevolutionär, den man nach heutigen Kategorien wohl als Terroristenführer bezeichnen würde, einen würdigen, klassenbewussten Vorkämpfer ihrer welthistorischen Mission. Schließlich hatte sich Žižka, wie der DDR-Numismatiker Günter Graichen schrieb, „in vielen Schlachten gegen die einheimische Reaktion und die ausländischen Kreuzzugsheere als siegreicher Feldherr“ erwiesen. Zudem sei es ihm gelungen, „die unterschiedlichen Klassenkräfte in der hussitischen Bewegung zur gemeinsamen Abwehr der äußeren Bedrohung zu vereinen“. Dass der radikale Žižka den gemäßigten Georg von Podiebrad als Vertreter der Hussitenbewegung auf den tschechoslowakischen Banknoten ablöste, ist symptomatisch für die Entwicklung, die das Land nach der Gleichschaltung durch den Umsturz von 1948 genommen hat. Žižka tauchte später noch zweimal auf Geldscheinen auf, so auf dem gestalterisch besonders markanten Fünfundzwanzigkronenschein von 1958 (Abb. 10) und zuletzt auf dem Zwanziger von 1970. Damit stieg der Krieger mit der

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Abb. 10  Fünfundzwanzigkronenschein von 1958, Vorderund Rückseite. Entwurf Karel Svolinský.

Abb. 11  Zehnkronenschein von 1960, Vorder- und Rückseite. Entwurf Mária Medvecká, Ladislav Jirka und Bedřich Fojtášek.

Augenklappe zum Superstar der tschechoslowakischen Banknotenikonographie in sozialistischer Zeit auf. Die Rückseiten der Žižka-Banknoten zeigen die Stadt Tabor (Abb. 10), die namensgebende Hochburg der Taboriten, und zuletzt den Feldherrn in Aktion, inmitten hussitischer Heerscharen. In den 1960er und 1970er Jahren erschienen noch einige weitere Banknoten, die weder gestalterisch als einheitliche Serie gekennzeichnet sind, noch inhaltlich eine geschlossene Folge bilden. Sie verherrlichen meist die Welt der Arbeit und die Leistungen der sozialistischen Industrie sowie den tschechoslowakisch-sowjetischen Kampf gegen den Nationalsozialismus. Auf dem Zehnkronenschein (Abb. 11) zum Beispiel sind zwei mit Blumen spielende slowakische Mädchen vor einer Bergkette mit vorgelagerter Industrieanlage zu sehen, die Rückseite zeigt die mächtige Betonwand der Talsperre des Orava-Stausees. Auf dem Hunderter blicken vor dem Hintergrund rauchender Schlote ein Hüttenarbeiter und eine Bäuerin als sozialistisches Musterpaar zuversichtlich und ent-



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schlossen in die Zukunft, ein Atommodell versinnbildlicht den unaufhaltsamen Fortschritt. Die Rückseite des Fünfzigers (Abb. 12) zeigt in voller Pracht eine Erdölraffinerie bei Preßburg (Bratislava), auf der Vorderseite wurde wieder ein sowjetischer Soldat mit einem tschechoslowakischen Partisanen dargestellt, diesmal in heroischer Pose und ohne Bruderkuss. Ähnlich im Ausdruck ist die Darstellung zweier Soldaten des Slowakischen Nationalaufstands von 1944 vor dem Hintergrund der Ruine der slowakischen Burg Strečno auf dem Fünfhundertkronenschein (Abb. 13). Die Rückseite verweist nachdrücklich auf die historischen Wurzeln der Slowakei, die zum Zeitpunkt der Emission der Banknote dank der 1969 erfolgten Umwandlung der Tschechoslowakei in eine Föderation offiziell bereits ein gleichberechtigter Teilstaat der ČSSR war. Sie zeigt die Ruine der Burg Devín bei Preßburg, eines seit der Jungsteinzeit besiedelten Zentrums des frühmittelalterlichen Großmährischen Reiches, das im 19. Jahrhundert von der slowakischen Nationalbewegung als Kultort inszeniert wurde. In der beigege-

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Abb. 12  Fünfzigkronenschein von 1964, Vorder- und Rückseite. Entwurf Václav Fiala.

Abb. 13  Fünfhundertkronenschein von 1973, Vorder- und Rückseite. Entwurf Jaroslav Lukavský.

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benen Darstellung eines bei Devín gefundenen Bronzeschmucks von einem Geschirr der slawisch-awarischen Reiterei artikuliert sich ein forciertes Bemühen um die Verankerung der Slowakei in einer möglichst weit zurückreichenden Tradition, das auf die Kontinuitätssimulationen slowakischer Geschichtspolitik nach der Staatstrennung von 1992 vorausweist. Zwischen 1985 und 1989 schließlich erschien nach langer Vorbereitung die letzte Banknotenserie der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, die auch zur letzten gemeinsamen Banknotenserie der Tschechen und Slowaken wurde. Die Auswahl der Themen zeugt von einer gewissen kulturpolitischen Aufweichung des Systems. Hatten auf den früheren Geldscheinen seit 1948 Agitprop-Motive orthodoxer Observanz dominiert, so wurde die neue Serie vornehmlich Kulturschaffenden gewidmet. Die Rückseiten zeigen meist tschechische und slowakische Städte und Landschaften. Als Vertreter der tschechischen Kulturgeschichte wurden die schon von früheren tschechoslowakischen Banknoten bekannten Comenius und Smetana gewählt. Die Slowakei war durch zwei Literaten repräsentiert: den bereits auf einer Banknote des slowakischen Separatstaates aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs verewigten L’udovit Štúr (1815–59), einen panslawistisch beeinflussten Romantiker, der als Begründer der slowakischen Schriftsprache gilt, und den Realisten Pavol Országh gen. Hviezdoslav (1849–1921), der in seiner Dichtung bevorzugt Themen aus dem Leben des slowakischen Volkes verarbeitet und sich durch Übersetzungen von Werken der Weltliteratur ins Slowakische hervorgetan hatte. Nach Jahrzehnten extremer Politisierung der Banknotenikonographie besannen sich die tschechoslowakischen Machthaber verstärkt auf den identitätsstiftenden Wert der Kultur und setzten damit gleichsam einen versöhnlichen Akzent. Ähnliche Tendenzen lassen sich in spätsozialistischer Zeit auch andernorts im damaligen Ostblock, etwa in Polen, beobachten. Auch die Banknotenikonographie der westlichen Demokratien war seinerzeit, wie weiter oben erwähnt, vornehmlich von kulturgeschichtlichen Motiven geprägt. Die neue tschechoslowakische Banknotenserie war aber als Kompromiss konzipiert. So wollte man auf die Darstellung zumindest eines kommunistischen Helden nicht verzichten. Und dieser war ganz und gar nicht dazu angetan, das Vertrauen der Gesellschaft in das System zu gewinnen. Klement Gottwald (1896–1953), dessen Bildnis auf dem Hundertkronenschein (Abb. 14) prangt, war Vorsitzender der Kommunistischen Partei und seit 1948 als Nachfolger von Beneš Staatspräsident der Tschechoslowakei. Unter seiner Federführung wurde ein totalitäres System stalinistischer Provenienz etabliert. Mit seiner Person verbindet sich ein besonders düsteres Kapitel in der Geschichte der kommunistischen Diktatur, für das im tschechoslowakischen Kollektivgedächtnis vor allem die berüchtigten Schauprozesse stehen, mit denen politische Gegner ausgeschaltet wurden. Dementsprechend heftig waren die Reaktionen der Bevölkerung auf die Banknote, die erst 1989, wenige Monate vor der Samtenen Revolution, als letzter tschechoslowakischer Geldschein erschien. Das Bildnis des verhassten Staatschefs rief sogar ikonoklastische Instinkte wach: Unzählige Exemplare der Banknote wurden durch karikierende Übermalungen und Kritzeleien beschädigt. Der Historiker



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Zdenĕk Hojda berichtet, dass bei den Massendemonstrationen im November 1989 der damals revolutionäre Ruf „Masaryka na stovku!“ („Masaryk auf den Hunderter!“) erklang. Bereits wenige Wochen nach dem Fall des Regimes Abb. 14  Hundertkronenschein von 1989, Vorderseite. wurde der Druck der GottEntwurf Albín Brunovský. wald-Banknote gestoppt. An ihre Stelle trat übergangsweise der Hundertkronenschein von 1961 mit dem Hüttenarbeiter und der Bäuerin vor einer Industrielandschaft, dessen Produktion anachronistischerweise noch 1990 wiederaufgenommen wurde. So wurde das tragikomische Schicksal der letzten sozialistischen Banknote zu einem Sinnbild für den Realitätsverlust eines Regimes, das sich selbst am Vorabend seines Untergangs noch als unbelehrbar erwies. Den eingangs beschriebenen heutigen Banknoten der Tschechischen Republik kann ein solches Schicksal nicht widerfahren. Ihre Helden und Heldinnen sind in der tschechischen Gesellschaft durchgehend konsensfähig. Wie der voranstehende Überblick zeigt, war ein Großteil von ihnen nicht nur bereits für die geplante Banknotenserie der nachkommunistischen Tschechoslowakei vorgesehen, sondern auch aus verschiedenen früheren Phasen der tschechoslowakischen Banknotenikonographie bekannt. So spielte Palacký auf den Geldscheinen der Ersten Republik eine besondere Rolle. Mit Masaryk schmückte sich sowohl die späte Erste Republik als auch die Nachkriegstschechoslowakei vor der kommunistischen Gleichschaltung. Und mit dem schon in den frühen 1920er Jahren dargestellten Comenius konnten sich über sechzig Jahre später sogar die Machthaber in der Zeit des Spätsozialismus anfreunden. Es sind nicht nur die dargestellten Persönlichkeiten, mit denen die heutigen tschechischen Banknoten an die Tradition anknüpfen: In einigen begleitenden Motiven auf den Vorder- und Rückseiten klingt mehr oder weniger deutlich der dekorative Symbolismus des Alfons Mucha wieder an. Diese Kontinuitäten mögen überraschen angesichts der Tatsache, dass die Emission der tschechischen Banknotenserie einen staatlichen Neuanfang in doppelter Hinsicht – nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und der Spaltung der Tschechoslowakei – markiert. Sie tragen der Erkenntnis Rechnung, dass die Ikonographie der Banknoten nicht ohne eine Verankerung in der Tradition auskommen kann – wenn sie denn auf gesellschaftliche Akzeptanz nicht verzichten will. Nachtrag: Der Text basiert auf dem Stand von 2001. Die beschriebenen Zwanzig- und Fünfzigkronenscheine von 1993 wurden inzwischen aus dem Verkehr gezogen.

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Literaturauswahl Bajer, Jan: Papírová platidla Československa 1919–1993, České republiky, Slovenské republiky 1993–1999 / Czechoslovak Paper Money 1919–1993, Czech Paper Money, Slovak Paper Money 1993–1999. Praha 1999. Gollnisch, Gerd-Dieter: Wappen auf tschechoslowakischen Münzen und Banknoten. In: Münzen & Papiergeld, März 1999, S. 61–65. Gollnisch, Gerd-Dieter: Probleme bei der Auflösung der Zoll- und Währungsunion zwischen der Tschechischen und der Slowakischen Republik im Februar 1993. In: Der Geldscheinsammler, November 2001, S. 18–20. Graichen, Günter: Die Geldzeichen der Tschechoslowakei. Berlin [Ost] 1983. Hásková, Jarmila; Koštel, Miroslav; Novotný, Jiří; Pekárek, Jiří; Surga, Leopold: Československé bankovky, státovky a mince 1919–1992 [Tschechoslowakische Banknoten, Staatsnoten und Münzen 1919–1992]. Praha 1993. Hrdá, Alena; Kolínová, Alena; Kysilka, Pavel; Moravec, Jaroslav; Surga, Leopold; Vokatý, František: Bankovky a mince České národní banky 1993–1994 [Banknoten und Münzen der Tschechischen Nationalbank 1993-1994]. Praha 1994. Jaeger, Kurt; Pick, Albert: Die Münzen und Banknoten der Tschechoslowakei. Basel 1970. Novotný, Vlastislav; Moulis, Miroslav: Papírová platidla Československá 1918–1993, České republiky a Slovenské republiky 1993–1998 [Papiergeld der Tschechoslowakei 1918–1993, der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik 1993–1998]. 2. Aufl., Hodonín 1998. Pekárek, Jiří; Surga, Leopold: České bankovky a mince 1993–1998 [Tschechische Banknoten 1993–1998]. Praha 1998. Vorel, Petr: Od Pražskeho Groše ke Koruně České 1300–2000. Průvodce dějinami peněz v Českych zemích [Vom Prager Groschen bis zur Tschechischen Krone 1300–2000. Ein Führer zur Geldgeschichte in den Böhmischen Ländern]. Praha 2000.

L e n i n s Asyl u n t er Kal i fornie ns Himme l Die Socialistica-Sammlung des „Wende Museums“ in Los Angeles Culver City, 5741 Buckingham Parkway – eine Adresse mitten im Nirgendwo des endlosen Siedlungsteppichs von Los Angeles, etwa auf halbem Weg zwischen Downtown und den schicken Vororten an der Pazifikküste. Die lange Autofahrt – anders kommt man hier nicht hin – endet auf einem öden Asphaltplatz, umgeben von gesichtslosen Lager- und Bürobauten. Am Eingang zu einem der Betonklötze grüßt ein Segment der Berliner Mauer, vom französischen Künstler Thierry Noir mit Figürchen in schrillen Farben bemalt (Abb. 1). Zwischen zwei knorrigen Bäumen aufgestellt, wirkt es in seiner Umgebung so verloren wie wohl kaum Abb. 1  Auf verlorenem Posten: ein Segment der Berliner ein anderes der unzähligen Mauer am Museumseingang. translozierten Mauerfragmente, die heute über die ganze Welt verstreut sind. Hier, in der „Suite E“ des Gewerbeparks, residiert „The Wende Museum“, das die größte Sammlung von Artefakten und Archivalien aus der Zeit des Sozialismus außerhalb Europas besitzt. Einige Schauräume bieten Kostproben der immensen Bestände. Gleich hinter dem Eingang streckt dem Besucher eine Leninfigur aus Holz die Hand im LehrgesAbb. 2  Willkommen in meinem kalifornischen Asyl: tus entgegen (Abb. 2). GeLeninfigur vor Gemälden des Sozialistischen Realismus im Hauptausstellungsraum. mälde des Sozialistischen

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Abb. 3  Glücksverheißungen und Feindbildkonstruktionen: aus der Plakatsammlung des Museums.

Realismus zeigen glückliche Bäuerinnen und Bauern bei Arbeit und Tanz, aber auch unerwartete Sujets, wie zum Beispiel eine anrührende Familienszene während einer Scheidungsverhandlung. Plakate laden zu Pioniertreffen und Weltfestspielen ein, Statuetten verherrlichen Arbeitshelden und kommunistische Führer, in einer Vitrine sind bunte Wimpel der Freien Deutschen Jugend zu sehen, ein offener Spind präsentiert Sportuniformen und Andenken von Wettkämpfen. Eine mit fluoreszierendem Pink und Türkis besprühte Leninbüste aus Leipzig ist als Relikt des lustvollen Ikonoklasmus der Wendezeit ausgestellt (Abb. 4). An einer Schauwand wurde eine Auswahl von Gedenktellern aus Keramik, Kristall, Holz und Messing zusammengestellt, die für verschiedene Anlässe im Auftrag staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Verbände produziert wurden (Abb. 5). Sie erinnern etwa den „60. Jahrestag der Grossen Sozialistischen Abb. 4  Wendezeitlicher Ikonoklasmus: Leninbüste aus Leipzig in Pink und Türkis. Oktoberrevolution“, an den „25 Pionier-



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Abb. 5  Zwischen Kitsch und Kunst: Gedenkteller staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Verbände.

geburtstag“ oder auch an ein Sportschießen des Deutschen Schützenverbands der DDR, Bezirkskommission Gera. Ein Teller mit der Losung „Mit den Waffenbrüdern vereint, kampfstark und gefechtsbereit“ sollte die Moral der Soldaten heben, ein anderer verheißt den Aktivisten des Fünfjahresplans „Ruhm und Ehre“. In einem separaten Raum, „Bureaucrat’s Office“ genannt, wurde, unter anderem mit Möbelbeständen von Honeckers Sekretärin Elli Kelm, eine DDR-Amtsstube des gehobenen Dienstes im Zustand vom Oktober 1989 rekonstruiert (Abb. 7). An den Wänden prangen ein Leninporträt und das süßliche offizielle Foto des Staatsratsvorsitzenden neben einem DDRStaatswappen. Die biederen Holzmöbel, ein Strauß roter Nelken und allerlei kunsthandwerklicher Nippes zeugen vom Bedürfnis nach quasiprivater Gemütlichkeit. Man staunt über die Fülle der Exponate, die die Sammelleidenschaft eines Kaliforniers hier zusammengetragen hat, und nicht weniger über deren kompetente Präsentation und Beschriftung, die

Abb. 6  So ästhetisch konnte der Sozialismus sein: Glas und Keramikvasen für den Connaisseur.

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von wissenschaftlicher Expertise zeugen. Den Kern des Museums bilden aber nicht die engen Ausstellungsräume, sondern eine an die dreißig Meter lange Lagerhalle, die nur mit besonderer Erlaubnis zugänglich ist. Hier werden, im Schutz dicker Mauern und eines museumsgerechten Raumklimas, über hunderttausend Exponate aufbewahrt – Kunstwerke, Designobjekte (Abb. 6) und verschiedenste Erzeugnisse der visuellen Alltagskultur, technische Geräte, Bücher, Zeitschriften, Filme und Archivalien. Der Schwerpunkt liegt auf der DDR, deren Hinterlassenschaften etwa die Hälfte der Bestände ausmachen, die Sowjetunion ist mit rund Abb. 7  Unter dem süßlichen Blick des Staatsratsvorsitdreißig Prozent vertreten, zenden: Bürokratenambiente einer DDR-Amtsstube. der Rest verteilt sich auf die übrigen sozialistischen Länder. Mehrere Wochen müsste man an den sorgsam aufgeräumten Regalen zubringen, wollte man auch nur einen kleinen Teil der Sammlungen gründlich studieren. Beachtlich ist der Bestand an Ölgemälden, hinzu kommen dreitausend Plakate allein aus der Sowjetunion (Abb. 3), darunter auch gemalte Plakatentwürfe. Mit den auf mehreren Regalmetern zusammengedrängten Büsten kommunistischer Heroen (Abb. 8) könnte man eine ganze Parteizentrale versorgen und mit den eingelagerten Fahnen einen Massenaufmarsch zum 1. Mai bestücken. Lebensmittelverpackungen vermitteln einen Eindruck von den Konsumangeboten der Planwirtschaft. Den Stand der Technik repräsentieren Telefone, Radios und Schreibmaschinen, sogar die Zapfsäule einer Tankstelle ist zu besichtigen. Die Gesamtausgabe des „Neuen Deutschland“ von 1949 bis 1989 dokumentiert die beharrlichen Glücksversprechen und Feindbildkonstruktionen der Propaganda, Zeitschriften wie „Kultur im Heim“ oder auch „Aquarien und Terrarien“ geben einen Einblick in die Wohn- und Freizeitkultur, Spielzeug, Kinderund Jugendbücher bieten sich als Quelle für Studien zu sozialistischen Erziehungs-



Die Socialistica-Sammlung des „Wende Museums“ in Los Angeles

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konzepten dar. Und wer sich für Gastronomie in der DDR interessiert, stößt hier auf eine wahre Fundgrube: Nicht weniger als zweitausend Speisekarten besitzt das Museum, darunter auch Menus aus dem Palast der Republik. Mit viel Ehrgeiz werden DDR-Dokumentarfilme gesammelt, vor allem zu den Themen Gesundheit, Hygiene und Volkserziehung. In dem reichen Bestand, der zur Zeit Abb. 8  Ausreichend für eine ganze Parteizentrale: eifrig digitalisiert wird, finden Büsten von Helden des Kommunismus, auf einem sich solche Rara wie ein Film Lagerregal zusammengedrängt. über die Benutzung eines Rollstuhls oder auch der 1989 produzierte Aids-Aufklärungsfilm „Liebe ohne Angst“, der, für den Gebrauch von Kondomen werbend, das Vorurteil widerlegt, dass die DDR-Gesundheitspolitik Aids bis zum Schluss konsequent ignoriert habe. Mit Erstaunen stellt man in der Filmsammlung auch fest, dass in der DDR sogar Pornostreifen zirkulierten, wenn auch nicht aus der Produktion der staatlichen DEFA-Studios, sondern illegal von Hobbyregisseuren gedreht. Unzählige Unikate enthält die Archivaliensammlung. Dazu gehören etwa die Aufzeichnungen Honeckers aus seiner Gefängniszeit in Berlin-Moabit. Aber auch Nachlässe einfacher Bürger werden gesammelt, denn das Interesse des Museums gilt nicht nur der offiziellen Kultur und dem Selbstbild der Regime, sondern auch den privaten Lebensverhältnissen und Erlebensperspektiven ihrer Untertanen. Auf die einheimischen Besucher wirken die Sammlungen wohl so exotisch wie das Strandleben von Santa Monica auf einen Chemiearbeiter im DDR-zeitlichen Bitterfeld. Für Museumsgründer Justinian Jampol sind sie Objekt jahrzehntelanger Faszination. Schon als Kind, so wird über ihn berichtet, habe er visuelle Relikte des Kalten Krieges gekauft. Später studierte der erst einunddreißigjährige Sammler Osteuropäische Geschichte im englischen Oxford, Forschungsaufenthalte führten ihn nach Berlin und Moskau. Er arbeitete über politische Ikonographie in der DDR und in der Sowjetunion, in seiner kurz vor Abschluss stehenden Dissertation untersucht er den Gebrauch von Symbolen wie Hammer und Sichel, Friedenstaube und Schwerter zu Pflugscharen durch die staatliche Propaganda und deren Anverwandlungen durch die Oppositionsbewegungen. Während seines Studiums, erzählt Jampol, war es für angelsächsische Historiker noch keineswegs selbstverständlich, Bilder und Artefakte als Geschichtsquellen zu nutzen. Noch schwieriger als die methodologische Überzeugungsarbeit gegenüber

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seinen Professoren war für ihn die Beschaffung einer breiten Materialbasis für seine Forschungen. Immer wieder wurde ihm in postsozialistischen Ländern mangels Verständnis für sein Erkenntnisinteresse die Nutzung von entsprechenden Sammlungen verweigert. So ging Jampol verstärkt dazu über, sich mit dem benötigten Material selbst einzudecken. Einen Großteil der Objekte konnte er bei Trödelhändlern erwerben oder auch auf den Sperrmüllhaufen der Nachwendezeit aufsammeln. Für die kostspieligeren kam ihm ein Dreihunderttausend-Dollar-Erbe seines Großvaters zu Hilfe, doch das Geld war rasch aufgebraucht. Als die Privatsammlung Museumsdimensionen anzunehmen begann, stellte sich für Jampol die Frage nach ihrer dauerhaften Unterbringung. Am liebsten hätte er sie in Deutschland gesehen, doch er stieß hier auf Desinteresse. So gründete er 2002 notgedrungen sein eigenes Museum im heimischen Los Angeles. Von der Wissenschaft anfangs nicht sonderlich ernst genommen, erwarb er sich durch Beharrlichkeit und Professionalität mit der Zeit Respekt und gewann potente Förderer. Seit 2004 erhält das Wende Museum als gemeinnützige Einrichtung millionenschwere Unterstützung durch die britische Stiftung Arcadia Fund. Wie ein Wasserfall redet Jampol über die Sammlungen. Viel weniger aber über sich selbst und schon gar nicht über die von der Presse kolportierte Episode mit dem großväterlichen Erbe. Er will mit Recht nicht als schrulliger Abenteurer aus wohlhabendem Hause gelten, und es liegt ihm fern, das Museum, das sein Lebenswerk ist, als Ein-Mann-Show in Szene zu setzen. Das ist es auch längst nicht mehr. Jampol fungiert nicht mehr als Besitzer, sondern als angestellter Direktor des Museums, der einem prominent besetzten Aufsichtsrat untersteht. Drei promovierte Kuratoren koordinieren die Sammel- und Ausstellungstätigkeit, ein halbes Dutzend spezialisierter Mitarbeiter kümmert sich um Aufgaben wie Buchhaltung, Katalogisierung, Bibliotheksbetreuung oder Filmarchivierung. Immer wieder wird Jampol süffisant gefragt, welchen Sinn das Museum ausgerechnet in Los Angeles erfülle, wo die Bevölkerung am Erbe des Kommunismus etwa so viel Interesse hat wie am sprichwörtlichen Sack Reis, der in China umfällt. Das ficht ihn nicht an. Denn seine Zielgruppe ist nicht die Masse, sondern die international vernetzte Welt der Wissenschaft. Im Gegensatz zu manch einem Kommunismusmuseum in Europa will das Wende Museum weder ein unterhaltsames Gruselkabinett noch eine ostalgische Kultstätte, sondern eine gut sortierte Forschungseinrichtung sein. Angesichts dieser Zielsetzung sieht Jampol sogar in der peripheren Lage innerhalb der Stadt einen Vorteil. Denn sie erspart ihm Busladungen von Touristen, die beim Anblick der Sammlungen „Ach, ist das putzig!“ ausrufen und respektlos die Exponate begrabschen. Dagegen finden interessierte Studenten kalifornischer Universitäten ebenso den Weg ins Museum wie Forscher aus verschiedenen Ländern der Welt. Einzelne Exponate sind aber immer wieder auch an anderen Orten zu sehen, denn Jampol ist ein bereitwilliger Leihgeber. Davon profitierten etwa das Imperial War Museum in London und das Los Angeles County Museum of Art in seiner vielgelobten Ausstellung über die Kunst in beiden Teilen Deutschlands, die später ins Germanische Nationalmuseum Nürnberg wanderte. Anlässlich der Ausstellung organisierte



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Jampol in Los Angeles auch eine Filmreihe, die den staunenden kalifornischen Cineasten Klassiker aus der späten DDR und der frühen Nachwendezeit präsentierte. In Zukunft dürfte der Bekanntheitsgrad des Museums kräftig steigen. Denn in wahrhaft philanthropischer Manier wird unter Hochdruck an der kostenlosen Bereitstellung des Katalogs und hochaufgelöster Aufnahmen der Exponate im Internet gearbeitet. Durch diesen großzügigen Informationsdienst, der über die gängige Museumspraxis hinausgeht, werden viele Forscher die Bestände nutzen können, ohne dafür nach Los Angeles reisen zu müssen. Die Reise über den Atlantik sei sowieso nicht nötig, halten Jampol einige europäische Kritiker entgegen. Schließlich gebe es in den postsozialistischen Ländern viele Museen und Archive mit ähnlichem Sammelauftrag. So argumentieren kann allerdings nur, wer keine Vorstellung von Umfang und Systematik der Bestände des Wende Museums hat. Jampol, der mit verschiedenen deutschen Institutionen zusammenarbeitet und hierzulande Akquisiteure beschäftigt, ist über die einschlägigen Sammlungen in Europa gut informiert und konzentriert sich gezielt auf Teilgebiete, die in ihnen unterrepräsentiert sind. Die Distanz zu Europa und zur Erfahrung des Sozialismus erweist sich mitunter sogar als Vorzug: In der Lagerhalle stapeln sich Pakete mit Schenkungen einst regimenaher Privatleute, die ihre Nachlässe in Los Angeles besser aufgehoben sehen als in der Heimat. Denn sie hoffen dort auf mehr Neutralität im Umgang mit den Materialien als zu Hause, wo sie Spott und moralische Verurteilung fürchten. So vermachte ein Major der DDR-Grenztruppen, der ein Vierteljahrhundert lang am Grenzübergang Friedrichstraße/Zimmerstraße, dem Ostberliner Pendant des Checkpoint Charlie, tätig war, dem Museum die umfänglichen Relikte seines Berufslebens, einschließlich einer von ihm entwickelten, elaborierten Anleitung für den Abgleich von Gesichtsmerkmalen bei der Passkontrolle. Die Hinterlassenschaften des Majors sind derzeit in einer sehenswerten kleinen Ausstellung des Museums über die Berliner Mauer zu besichtigen. Gäbe es das Museum nicht, gingen diese aussagekräftigen Dokumente des Grenzregimes vielleicht ebenso verloren wie unzählige andere Zeitzeugnisse, die Jampol mit seinen Leuten vor Zerstörung und Zerstreuung gerettet hat.

Di e p ost soz i al i st i sche S ta dt a ls Bi l d - u n d Kon f lik tra um Der Umbruch von 1989–91 hat eine Bildproduktion und Bilddestruktion in Gang gesetzt, die das Gesicht der Städte in der östlichen Hälfte Europas verändern. Der tiefgreifende Wandel betrifft die im Stadtraum präsenten Bilder im weitesten Sinne, unter Einschluss etwa von Symbolen und Reklamen, ebenso wie von Bauten, Straßenbildern und performativen Aktivitäten. Mit den folgenden Beobachtungen wird zum einen versucht, einige Grundzüge der Entwicklung der postsozialistischen Stadt als Bildraum herauszustellen. Zum anderen richtet sich der Blick auf deren öffentliche Wahrnehmung – auf Debatten und Konflikte, Reflexionen und nicht zuletzt künstlerische Reaktionen auf den Wandel des urbanen Bilderhaushalts.1 Eines der bildmächtigsten Zeichen des Systemwechsels war der Denkmalsturz. Vor allem in der Zeit unmittelbar nach dem Kollaps der kommunistischen Regime fielen unzählige ihrer Helden und Symbole in spontanen und organisierten Aktionen von den Sockeln (Abb. 1), begleitet von lautstarken Kontroversen und gelegentlich auch Handgreiflichkeiten.2 Im Glücksfall landeten die Denkmäler später in musealen Denkmalparks, die in einigen postsozialistischen Ländern eingerichtet wurden (Abb. 2).3 Zwei Jahrzehnte später ist die Flurbereinigung der Denkmallandschaft noch immer nicht abgeschlossen, und auch die sie begleitenden Konflikte haben keineswegs an Schärfe verloren. So löste erst im Jahr 2007 der Beschluss der estnischen Regierung, das Standbild eines Sowjetsoldaten aus dem Stadtzentrum auf einen peripher gelegenen Militärfriedhof zu verlegen (Abb. 3), Empörung unter Tallinns russischen Bewohnern, ja sogar blutige Krawalle aus.4 Die Auseinandersetzungen um das Tal1 Vergleichbare Fragestellungen verfolgen einige Beiträge in den Sammelbänden: The Post-Socialist City. Continuity and Change in Urban Space and Imagery. Hg. von Alfrun Kliems und Marina Dmitrieva. Berlin 2010; Halb-Vergangenheit. Städtische Räume und urbane Lebenswelten vor und nach 1989. Hg. von Tímea Kovács. Berlin 2010; Sprung in die Stadt. Chişinău, Sofia, Pristina, Sarajevo, Warschau, Zagreb, Ljubljana: Kulturelle Positionen, politische Verhältnisse. Sieben Szenen aus Europa. Hg. von Katrin Klingan und Ines Kappert. Köln 2006; Transiträume – Transit Spaces. Frankfurt/Oder, Poznan, Warschau, Brest, Minsk, Smolensk, Moskau. Hg. von Regina Bittner, Wilfried Hackenbroich und Kai Vöckler. Berlin 2006. 2 Materialsammlung zum Thema Denkmalsturz nach 1989: Demontage... Revolutionärer oder restaurativer Bildersturm? Texte & Bilder. Hg. von Bernd Kramer. Berlin 1992. Allgemeiner zum Umgang mit in Ungnade gefallenen Monumenten: Mulvey, Laura: Reflections on disgraced monuments. In: Architecture and Revolution. Contemporary perspectives on Central and Eastern Europe. Hg. von Neil Leach. London – New York 1999, S. 219–227; Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Hg. von Winfried Speitkamp. Göttingen 1997. 3 Bartetzky, Arnold: Visualisierung der Diktaturerfahrung: Der Kommunismus im Museum. In: Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918. Hg. von Arnold Bartetzky, Marina Dmitrieva und Stefan Troebst. Köln – Weimar – Wien 2005, S. 221–232. 4 URL http://www.anupennanen.com/works/pics/case_study.pdf (Aufruf 17. Juni 2008). Siehe auch die internationale Tagespresse vom April/Mai 2007. Vgl. dazu auch den Beitrag „Neue Esten neben alten Russen. Tallinn baut an seiner Zukunft – die sowjetische Vergangenheit steht dabei im Weg“ in diesem Band.

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Abb. 1  Wendezeitlicher Denkmalsturz: Demontage des Warschauer Feliks-DzierżyńskiDenkmals, November 1989.

linner Rotarmistendenkmal waren ein Sonderfall, weil dieses zwischen die Fronten des ethnischen Dauerkonflikts zwischen der estnischen Bevölkerungsmehrheit und der russischen Minderheit und in den Sog der ebenso dauerhaften bilateralen Krise zwischen Estland und Russland geraten war. Die Frage des Umgangs mit kommunistischen, zumal den sowjetischen Denkmälern erlangt aber auch andernorts immer wieder neue Aktualität. So wurde zum Beispiel in Polen etwa in derselben Zeit, während der Doppelherrschaft der Kaczyński-Brüder, ein „Gesetz über die Nationalen Gedächtnisorte“ vorbereitet, das die Verbannung von verbliebenen Denkmälern Abb. 2  Geschützt, aber der Lächerlichkeit preisgegeben: der Polnisch-Sowjetischen kommunistische Denkmäler im Statuenpark bei Budapest. Aufnahme 2007. Freundschaft und kommu-



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Abb. 3  Aus dem Stadtzentrum verbannt: das Tallinner Rotarmistendenkmal an seinem neuen Standort. Aufnahme 2007.

nistischer Helden aus den Städten vorsah.5 Und in Leipzig kam es 2007–08 zu erbitterten Auseinandersetzungen um das sogenannte Marx-Relief, das bis 2006 an der Fassade des Universitätshauptgebäudes am Augustusplatz, an der Stelle der 1968 gesprengten Universitätskirche, prangte. Das riesige Bronzerelief wurde im Zuge der Umgestaltung des Campus abgebaut und, halb versteckt, an einem entlegenen universitären Standort aufgestellt. Zuvor hatten in Leserbriefen an die Lokalzeitung zahlreiche Bürger die Einschmelzung oder auch verschiedene Formen symbolischer Demütigung des Denkmals gefordert.6 Auf den Denkmalsturz der frühen Nachwendezeit folgten Wellen von Denkmalsetzungen, die sich in einigen Städten, etwa Warschau oder Budapest, zu einer wahren Denkmalflut steigerten.7 Wenig überraschend, widmen sich die meisten der neuen Denkmäler einstigen Tabuthemen. Eines der wichtigsten Sujets sind dementsprechend die Opfer des Kommunismus (Abb. 4). Die Denkmäler bedienen sich meist einer traditionellen Formensprache, sie sind häufiger figürlich als abstrakt, in der Regel sehr pathetisch und nicht selten von einer penetranten Plakativität, die auf uns – die Bewohner des wohl denkmalskeptischsten Landes der Erde – etwas befremdlich wirkt. 5 Ogiński, Tomasz: Pomnikowa lustracja [Die Lustration der Denkmäler]. In: Achitektura-Murator (2007), Nr. 9, S. 10–16. 6 Dazu ausführlicher im Aufsatz „Sperriges Erbe. Politische Denkmäler und Staatsbauten im wiedervereinigten Deutschland“ in diesem Band. 7 Grzesiuk-Olszewska, Irena: Warszawska rzeźba pomnikowa [Die Warschauer Denkmalskulptur]. Warszawa 2003; Hojda, Zdenĕk; Pokorný, Jiří: Pomníky a zapomníky [Denkmäler und Vergessmäler]. Praha–Litomyšl 1996; Grzesiuk-Olszewska, Irena: Polska rzeźba pomnikowa w latach 1945– 1995 [Die Warschauer Denkmalskulptur in den Jahren 1945–1995. Warszawa 1995.

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Wie schwer es ist, anspruchsvollere und zugleich allgemein akzeptable Denkmalformen zu finden, konnte man allerdings auch im nachwendezeitlichen Deutschland immer wieder erleben. Ein Paradebeispiel dafür sind die Pläne für das Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin, vor allem der gescheiterte erste Wettbewerb von 2009. Dieser hatte viel Banales, aber auch manches Subversive hervorgebracht.8 Neben der berühmtberüchtigten, phallisch aufgeständerten goldenen Banane vor der Fassade des wiederaufgebauten Schlosses gehörte dazu etwa ein ausgesprochen sarkastischer Entwurf, der unter dem Titel „Freiheit–Einheit–Freikauf–Einkauf“ einen „Verbraucher“ mit schwarz-rot-goldenen Kugeln im Einkaufswagen als den „Helden unserer Zeit“ karikiert (Abb. 5). Abb. 4  Hochexpressiv und nah am Kitsch: Die Wettbewerbsjury, deren Mitglieder das Prager Denkmal für die Opfer des   sich zum Teil sichtlich beschämt über die Kommunismus von Olbram Zoubek, Jan mehr als fünfhundert Einreichungen zeigKerel und Zdeněk Hölzel, enthüllt 2002. ten, dürfte über solche Vorschläge nicht amüsiert gewesen sein. In den Ländern östlich von Deutschland gibt es erst recht kein Klima für subversive Denkmalprojekte. Hin und wieder scheint aber, zumindest bei nichtstaatlichen Projekten, etwas Humor auf, in dem man wohl nicht zuletzt eine Reaktion auf den pathetischen Denkmalkult der Gegenwart wie auch der vorangegangenen Abb. 5  Subversiver Sarkasmus: Björn Kerns Vorschlag für Regime sehen kann. Ein Beidas Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin, 2009. 8 Dokumentation des Wettbewerbs unter: http://www.bbr.bund.de/cln_015/nn_22808/DE/WettbewerbeAusschreibungen/PlanungsWettbewerbe/Ablage__AbgeschlWettbewerbe/Ablage__2010/Freiheit EinheitDenkmal/FED__Start.html (Aufruf 18. August 2011).



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spiel ist David Černýs hängende Reiterskulptur von 1999 in der Prager LucernaPassage (Abb. 6), mit der der Künstler das nahegelegene, 1912 eingeweihte Wenzelsdenkmal von Josef Václav Myslbek, eines der wichtigsten Nationaldenkmäler Tschechiens, persifliert. Als etwas haltbarer als die Denkmäler erwiesen sich die Staatsbauten des Sozialismus. Auch wenn in Deutschland vor allem wegen der Beseitigung des Berliner Palasts der Republik der gegenteilige Eindruck vorherrscht: Insgesamt blieben Abrisse von symbolbeladenen Repräsentationsbauten staatlicher Institutionen im postsozialistischen Europa schon aus ökonomischen Gründen die Ausnahme. Dafür wurde gelegentlich eine Umnutzung unter entgegengesetzten Vorzeichen vorgenommen, die einer symbolischen Entsorgung des Bauwerks als

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Abb. 6  Wider den pathostriefenden Denkmalkult: David Černýs „Pferd“ in Prags Lucerna-Passage, 1999.

Abb. 7  Symbolische Entsorgung ohne physische Zerstörung: das einstige Gebäude des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, 1948–52 erbaut, 1991 zum Sitz der Warschauer Wertpapierbörse umgenutzt, heute Bank- und Finanzzentrum.

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Abb. 8  Kampf um visuelle Hoheit:   Himmelsstürmer in Warschaus Stadtzentrum. Aufnahme 2006.

Zeichen des untergegangenen Regimes gleichkam. Ein Beispiel dafür bietet der einstige Sitz des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der 1991 die Warschauer Wertpapierbörse aufnahm und heute als Bank- und Finanzzentrum fungiert (Abb. 7), ein anderes der Bau des tschechoslowakischen Parlaments in Prag, der 1995–2008 als Hauptsitz des US-amerikanischen Rundfunksenders Radio Free Europe diente. Die Regel war allerdings die Adaption der Gebäude durch die entsprechenden Nachfolgeorgane des Staates. Neubauten für zentrale Staatsinstitutionen sind, mit Ausnahme von Berlin, eher selten. Als das wohl ambitionierteste Beispiel aus Polen sei der Bau des Obersten Gerichts in Warschau genannt, das sich beflissen bis aufdringlich um eine Verbindung von architektonischen Würdeformen mit HighTech-Ästhetik bemüht. Weitaus wirkungsmächtiger als die Staatsbauten sind im postsozialistischen Stadtbild die Kommerzbauten. Sitze von Großunternehmen, Banken und Geschäftsgebäude wurden zu neuen Herren über immense visuelle Räume. Besonders deutlich zeigt sich ihr Herrschaftsanspruch – und ihre unerbittliche Konkurrenz – in der neuen Skyline von Warschau (Abb. 8). Aber auch in vielen kleineren Städten schießen unmaßstäbliche, nach Dominanz strebende Kommerzbauten in die Höhe. Die Beherrschung des Stadtraums signalisiert Machtanspruch und dient zugleich als Reklame. Glatte Fassaden aus Glas – gerne auch aus dem in Westeuropa inzwischen aus der Mode gekommenen, abweisenden Spiegelglas – oder polierten Steinplatten sollen Wohlstand und Weltläufigkeit westlicher Prägung suggerieren. In der Provinzarchitektur breiteten sich zugleich bis in die jüngste Zeit abgegriffene Formen der Postmoderne in schrillem Farbgewand aus (Abb. 9). In weitgehendem Verzicht auf architektonische Gestaltung üben sich die meisten der raumverschlingenden Großeinkaufszentren, die seit den 1990er Jahren an der Peripherie der Städte entstanden sind. Die jüngeren, vorwiegend



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in Innenstadtlagen entstehenden Konsumgiganten setzen dagegen zunehmend auf eine effekthascherische, grobschlächtige Hier-binich-Architektur, wie sie sich in verschiedenen Erdteilen ausbreitet (Abb. 10). Das Gros der postsozialistischen Kommerzbauten verhält sich gegenüber ihrem städtebaulichen Umfeld akontextuell. Zugespitzt kann man Abb. 9  Provinzielle Spätpostmoderne: Bankgebäude im sagen, dass ihre Architektur polnischen Siedlce. Aufnahme um 2000. im Sinne der Auftraggeber dann als gelungen angesehen wird, wenn sie völlig austauschbar ist. Eine Tendenz, die sich zu dieser baulichen Dekontextualisierung gegenläufig – oder genauer: komplementär  – verhält, ist der Rekonstruktionseifer, der nicht nur das postsozialistische Europa, dieses aber mit besonderer Wucht erfasst hat.9 Die Motive der Rekonstruktionsprojekte sind vielfältig. Die wiedererstehenden Baudenkmäler aus längst vergangener Zeit sind eine Reaktion auf die Unwirtlichkeit

Abb. 10  Aggressive Allerweltsarchitektur: Einkaufszentrum „Plaza“ im ungarischen   Nyíregyháza, eröffnet 2000. 9 Bartetzky, Arnold: Die Rolle der Rekonstruktion nach dem Wechsel der Systeme in Osteuropa. In: Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte. Hg. von Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl. München 2010, S. 138–147.

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Abb. 11  Dezimierung sozialistischer Moderne 1: der betonbrutalistische Hauptbahnhof von Kattowitz (Katowice), 1959–72 errichtet, 2010–11 abgerissen. Aufnahme 2008.

moderner Stadträume, sie offenbaren den Wunsch nach unverwechselbaren, anheimelnden Orten, die Inseln der Stabilität inmitten des rasanten Wandels bieten, aber auch nach Schaffung touristischer Attraktionen, die Besucher in die Stadt locken und damit die Wirtschaft beleben. Zugleich aber haben viele Rekonstruktionen in postsozialistischen Städten weitaus stärkere politische Implikationen als etwa in Frankfurt am Main, Braunschweig oder Hannover. Es geht immer wieder um eine symbolische Restitution vorsozialistischer Vergangenheit und um Inszenierung einer glorifizierten Nationalgeschichte. Die Rekonstruktionsfreude geht Hand in Hand mit der Dezimierung, Vernachlässigung oder Überformung des Baubestands aus der Zeit des Sozialismus. Vor allem Bauten der Spätmoderne werden Abrissbaggern überlassen, gelegentlich ungeachtet respektabler Qualität. Das ist eine europa-, ja sogar weltweite Tendenz. Für die Wahrnehmung dieses Wandels im postsozialistischen Teil Europas ist aber wichtig, dass die zur Disposition stehenden Bauten nicht nur ein Erbe der Moderne, sondern eben auch eines des Sozialismus sind. So regt sich zunehmend Widerstand unter Architekten, Denkmalpflegern und Kunsthistorikern, aber auch unter Nichtfachleuten, die in den Abrissen Akte der Kunstzerstörung, der Geschichtsentsorgung und zugleich der Entwertung ihrer eigenen Biographien sehen. Ein Beispiel ist die 2007 begründete Initiative zur Rettung des Hauptbahnhofs im oberschlesischen Kattowitz (Katowice), die mit starkem publizistischem Echo den schließlich 2010–11 vollzogenen Abriss dieses herausragenden Werks des Betonbrutalismus zu verhindern versuchte (Abb. 11).10 Besonders verbreitet sind Initiativen zur Rettung von Bauten sozialistischer Moderne im heutigen Ostdeutschland. Einen ex10 URL http://www.fta.pl/?m=51&d=2&ak=375 (Aufruf 19. August 2011).



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Abb. 12    Dezimierung sozialistischer Moderne 2: Wohnbauten an Leipzigs Brühl,   1966–68 errichtet, 2007 abgerissen. Aufnahme um 2004.

Abb. 13    Schrille   Freilichtgalerie mit Sponsorenwerbung: Wohnbauten an Leipzigs Brühl, von Michael Fischer-Art verpackt. Aufnahme 2007.

emplarischen Fall bieten die Proteste gegen den 2007 erfolgten Abriss der sogenannten Brühlbauten in Leipzig (Abb. 12) für ein Einkaufszentrum.11 Die Aggressivität der Debatten über deren Zukunft war zuvor durch eine umstrittene Kunstaktion gesteigert worden. Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft von 2006, bei der Leipzig als einer der Spielorte ins Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit geriet, hatte die Stadt aus Scham über das triste Erscheinungsbild der drei leerstehenden Wohnscheiben

11 http://www.bruehl-leipzig.net (Aufruf 18. August 2011); http://www. bruehl-leipzig.net/Extrablattbruehl.pdf (Aufruf 30. Juli 2007) – http://www.generalpanel.org/index.php?issue=5&beitrag=3 (Aufruf 30. Juli 2007); http://www.denkenbauenwohnen.de/bruhl/bruhl_frames.html (Aufruf 19. August 2011); http://www.neu12.de/blog/index.php/2006/06/07/Leipzig_Blog_rettet_Sie!/ (Aufruf 17. Juni 2008).

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Abb. 14  Verhärtete Fronten im Architekturstreit: King-Kong-  Kampfszene, 2003 vom Verein „archleague leipzig“ als Bildkommentar zum geplanten Abriss der Leipziger Brühlbauten publiziert.

dankbar die Idee des örtlichen Künstlers Michael Fischer-Art unterstützt, diese temporär mit bunten, bedruckten Planen zu verhüllen (Abb. 13). Fischer-Art, der in der lokalen Kunstszene als finanziell erfolgreicher Kitschmaler verschrien ist, bedeckte den gesamten Komplex mit pseudo-naiven Figuren nebst Logos von Firmen, die das Werk gesponsert hatten. Die heruntergekommenen DDR-Bauten verwandelten sich damit in eine schrille Freilichtgalerie trivialer Bilder und zugleich in einen gigantischen Werbeträger. Die Kritiker des schon damals geplanten Abrisses sahen in der Verpackungsaktion eine Banalisierung des Stadtraums und zugleich eine Demütigung der DDR-Architektur und waren deshalb umso aufgebrachter. Dabei waren die Fronten im Streit um die Brühlbauten ohnehin schon seit langem verhärtet, wie die Verwendung einer King-KongAbb. 15  Aus dem Stadtbild verschwunden, auf Leinwand verewigt 1: Verena Landau, „Brühl 2007.3“, 2007. Kampfszene als Bildkom-



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mentar des Vereins „archleague leipzig“ zu den damals noch vagen Abrissplänen im Jahr 2003 zeigt (Abb. 14). Die dazugehörige Unterschrift lautet: „So wird in Leipzig mit Gebäuden aus der 40jährigen DDR-Geschichte umgegangen.“ Die Auseinandersetzungen um die verschwindende Architektur aus sozialistischer Zeit bringen Abb. 16  Aus dem Stadtbild verschwunden, auf Leinwand aber nicht nur solche agiverewigt 2: Maria Kiesner, „Supersam“, 2006. tatorischen Bilder hervor, sondern regen auch die künstlerische Produktion an. Die Leipziger Künstlerin Verena Landau etwa verewigte die Brühlbauten in einer Bildfolge (Abb. 15), und die Warschauerin Maria Kiesner, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, bannte die wegen ihrer kühnen Dachkonstruktion vielgerühmte, im Jahr 2006 ungeachtet von Protesten abgerissene Kaufhalle „Supersam“ in Warschau auf die Leinwand (Abb. 16).12 Die beiden Künstlerinnen schufen Bilder von traditioneller Handwerklichkeit, die sich mit ihrer stillen Andacht gleichsam dem rasanten Wandel widersetzen zu wollen scheinen. Eine mindestens ebenso starke Einwirkung auf die visuellen Räume der postsozialistischen Stadt wie alle bisher genannten Faktoren zusammen hat die Invasion der Werbung. Auf die verschwundenen Propagandaplakate folgten kommerzielle Reklametafeln. Rasch nahmen die Werbeaktivitäten Züge eines unerbittlichen Kampfes um die visuelle Hoheit an. Die sich wildwuchsartig ausbreitenden, kinoleinwandgroßen „Billboards“ wurden bald von den alle Maßstäbe sprengenden „Mega Billboards“ (Abb. 17) übertroffen. In vielen Großstädten des postsozialistischen Europa ist es gängige Praxis, ganze Häuser ohne Rücksicht auf die Bewohner oder Büronutzer dauerhaft mit Werbeplanen zu verdecken (Abb. 18). Allmählich stößt aber die BrutalisieAbb. 17  Für megabrutale Werbestrategen: rung der Werbestrategien auf Widerpolnische Internetreklame für „Mega Billboards“. stand. Im besonders betroffenen War12 Weitere Beispiele in: Die Gegenwart des Vergangenen. Strategien im Umgang mit sozialistischer Repräsentationsarchitektur. Hg. von Thomas Klemm und Kathleen Schröter. Leipzig 2007.

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Abb. 18    Tyrannis der Werbeträger: verhülltes Haus im Stadtzentrum von Kattowitz (Katowice). Aufnahme 2008.

Abb. 19  Reklamewildwuchs in Sofia, künstlerisch interpretiert: Collage aus Luchezar   Boyadjievs Digitaldruckzyklus „Billboard Heaven“, 2005.



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Abb. 20  Reklamewildwuchs in Warschau, fotografisch dokumentiert: Blick vom Kulturpalast auf die Straßenkreuzung ul. Marszałkowska / Aleje Jerozolimskie. Aufnahme 2007.

schau etwa gründete sich 2007 eine Initiative, die, inzwischen mit einigem Erfolg, das Ziel verfolgt, „sowohl die Gesellschaft als auch die Entscheidungsträger auf das Problem der Degradierung öffentlichen Raums durch Werbung“ aufmerksam zu machen.13 Die Brutalisierung zeigt sich nicht nur im Maßstab, sondern oftmals auch im Inhalt der Werbung. Der bulgarische Kulturhistoriker Alexander Kiossev stellte fest, dass das Frauenbild im öffentlichen Raum von Sofia das Bild einer Hure sei.14 Dies ist eines der Leitthemen im Digitaldruckzyklus „Billboard Heaven“ des bulgarischen Künstlers Luchezar Boyadjiev, der mittels computergenerierter Collagen die Omnipräsenz der Werbung in Sofia karikiert (Abb. 19). Ein Blick auf einige Plätze in postsozialistischen Großstädten zeigt freilich, dass die Wirklichkeit des visuell entfesselten Kapitalismus den Visionen Boyadjievs manchmal nicht nachsteht (Abb. 20).

13 „zwrócenie uwagi tak społeczeństwa, jak decydentów, na problem degradacji przestrzeni publicznej przez reklamę“ – http://miastomojeawnim.pl/index.php/informacje/ (Aufruf 19. August 2008). Publikation der Initiative: Polski Outdoor. Reklama w przestrzeni publicznej [Das polnische Outdoor. Reklame im öffentlichen Raum]. Hg. von Elżbieta Dymna und Marcin Rutkiewicz. Warszawa 2009. 14 Boyadjiev, Luchezar: Zur visuellen Logik des frühen Neokapitalismus. In: Schöne neue Welt. Stadtansichten. Zur Umgestaltung von Städten in Mittel- und Osteuropa. Hg. von Barbara Barsch. Stuttgart 2008, S. 128–140, hier S. 135.

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Boyadjiev konstatiert sarkastisch die „Auferstehung des Konsumenten aus der Leiche des Werktätigen – und des Neokapitalisten aus der des Apparatschiks.“15 Bei dieser Auferstehung bleiben allerdings Viele auf der Strecke. Dieses Thema schwingt in Boyadjievs Kunstprojekt „Hot City Visual“ mit, in dem er, wie er es formulierte, „eine Umkehrung der vertikalen Hierarchie“ im öffentlichen Raum inszenierte.16 Boyadjiev schuf ein billboardgroßes fingiertes Werbeplakat für die „Brigade Stefan & Schwiegersöhne“, das Familiengeschäft einer Roma-Familie aus seinem Bekanntenkreis, und befestigte es an der Nationalgalerie im ehemaligen Zarenpalast, einem prominenten Gebäude Sofias, an dem man sonst die Reklame eines großen Konzerns vermuten würde (Abb. 21). Das Kleinstunternehmen einer benachteiligten Minderheit eroberte dank dieser künstlerischen Intervention temporär den Stadtraum. Entgegen den Stereotypen über die Roma suggeriert die Komposition des Bildes, die ironisierend die Muster der Werbung aufgreift, Stabilität und Vertrauen in den Familienbetrieb, und die lachenden Gesichter wirken so optimistisch wie sympathisch. Die Öffentlichkeit reagierte auf diese Arbeit, so Boyadjiev, mit Verwirrung bis Aversion. Der kurze Streifzug durch die visuellen Stadtlandschaften nach 1989 mag genügen, um einige Entwicklungen und Charakteristika der postsozialistischen Stadt als urbaner Bildraum aufzuzeigen. Dazu gehören etwa: – der bildmächtige, oftmals medial inszenierte Sturz kommunistischer Denkmäler und neue Denkmalsetzungen, die einstige Tabuthemen inthronisieren und Traumata der sozialistischen Vergangenheit zu verarbeiten suchen; – die visuelle Herrschaft neuer Kommerzbauten, die mit ihrer Gestaltung Modernisierung und Verwestlichung suggerieren und sich gegenüber ihrem Umfeld meist akontextuell verhalten; – parallel dazu eine Hochkonjunktur politisch aufgeladener Rekonstruktionen vorsozialistischer Bauten, Symbole und anderer Bilder staatlicher Ikonographie, die Hand in Hand geht mit der – Dezimierung und Überformung des visuellen Erbes des Sozialismus; – schließlich die Überflutung öffentlicher Räume mit Reklame, die die Werbepraktiken im altkapitalistischen Teil Europas an Vitalität und Brutalität in den Schatten stellt. Die in diesen Prozessen generierten Bilder bieten, ebenso wie die gleichzeitig stattfindenden Bildzerstörungen, immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen in den betroffenen Ländern. Auf uns wirkt der Bilderhaushalt der postsozialistischen Stadt oft verstörend bis abstoßend, wird er doch meist, gelinde gesagt, unseren ästhetischen wie geschichtskulturellen Idealen nicht gerecht. Uninteressant ist er deshalb nicht. Und es gibt zumal aus kunstwissenschaftlicher Sicht keinen Grund zur Arroganz. Denn was wir hier beobachten, sind Mutationen wohlbekannter Darstellungsprinzipien und Bildstrategien, die zu den ureigensten Arbeitsgebieten der Kunstgeschichte gehören. Selbst in den vulgärsten Segmenten der Bildproduktion oder auch Bilddestruktion sind, ob bewusst oder nicht, uralte Bildtraditionen wirksam, die tief 15 Boyadjiev 2008 (wie Anm. 14), S. 135. 16 Boyadjiev 2008 (wie Anm. 14), S. 138.



Die postsozialistische Stadt als Bild- und Konfliktraum

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in die abendländische, mitunter universale Kulturgeschichte zurückreichen. In der triumphalen Zerstörung oder Umprogrammierung von Zeugnissen vergangener Herrschaft etwa kehrt ein basales Muster wieder, das wir nicht erst seit der Französischen Revolution kennen. Die Rekonstruktionswelle wurzelt in jahrtausendealten Traditionen von Renaissancen früherer Stile und legitimatorischen Praktiken symbolischer Renovatio untergegangener Imperien. Die vertikale Dominanz der Firmenlogos im Stadtbild Abb. 21  Temporäre Raumbesetzung durch steht in der Nachfolge der Markierung die Ausgegrenzten: Luchezar Boyadjievs von Herrschaftsgebieten durch Aufstänfingierte Werbung für die „Brigade Stefan & derung von Hoheitszeichen (Abb. 22, Schwiegersöhne“. Plakat an der National23). In den Bildern der Werbung schließgalerie Sofia, 2003. lich wimmelt es von Anverwandlungen traditioneller Pathosformeln, und in ihren verführerischen Nacktheiten ist immer wieder das Nachleben der Venusikonographie unverkennbar. Der Bild- und Konfliktraum der postsozialistischen Stadt bietet vor allem für die bildwissenschaftlich orientierte Kunstgeschichte ein Arbeitsgebiet, das zwar immer häufiger betreten wird, aber nach wie vor einer systematisierenden, methodenbewussten Erschließung harrt.

Abb. 22  Visuelle Herrschaft eines   Hoheitszeichens: Säule mit dem Markuslöwen auf Venedigs Piazzetta San Marco, errichtet im 12. Jahrhundert.

Abb. 23  Visuelle Herrschaft eines   Firmenzeichens: aufgeständertes   McDonalds-Logo, irgendwo in Russland, Aufnahme um 2005.

Sp erri g es Erbe Politische Denkmäler und Staatsbauten der DDR im wiedervereinigten Deutschland Das wiedervereinigte Deutschland hat eine Fülle politischer Bauten und Denkmäler der DDR geerbt. Im Laufe der letzten gut zwei Jahrzehnte wurde dieses Erbe, ähnlich wie andernorts im postsozialistischen Europa, beträchtlich dezimiert. Auf den Kollaps des Systems folgte die zum Teil medial inszenierte Demontage der ersten Standbilder kommunistischer Helden. Einige Jahre später waren auch die einstigen repräsentativen Staatsbauten der DDR vor Abrissbaggern nicht mehr sicher. Doch trotz dieser Zerstörungsbilanz war und ist die physische Beseitigung nicht der einzige und noch nicht einmal der dominierende Modus des Umgangs mit den visuellen Relikten des DDR-Regimes. Tatsächlich blieben die meisten Bauten und Denkmäler erhalten. Sie wurden marginalisiert oder schlicht vergessen, semantisch umgedeutet, umgestaltet und umgenutzt, in einigen Fällen auch in ihrem Originalzustand sorgfältig restauriert. Staatsbauten zwischen Abriss, Verfall und Umnutzung Die Nachwendeschicksale der Staatsbauten hängen entgegen einer weitverbreiteten Einschätzung weniger von ihrer ursprünglichen politischen Funktion und Symbolik als vom Grad der Akzeptanz ihrer Architektur, von der Lage in der Stadt, der Eignung für eine wirtschaftliche Umnutzung und der Integrierbarkeit in künftige städtebauliche Projekte ab. Zwar steht es außer Frage, dass der 2006–08 durchgeführte Abriss des 1973–76 errichteten Berliner Palasts der Republik (Abb. 1) nicht zuletzt politisch motiviert war. Doch wurde dieser Aspekt in den hochemotionalen Debatten zu dem Thema oftmals überbetont. Denn langfristig hätte an dieser Stelle im historischen Zentrum Berlins, das einer traditionalistischen Umgestaltung entgegensieht, auch jeder andere Bau in derart puristischen Formen der Spätmoderne, wie sie der Palast der Republik zeigte, denkbar schlechte Erhaltungschancen gehabt. Derweil hat das benachbarte Staatsratsgebäude von 1962–64 (Abb. 2) ungeachtet seiner einstigen Funktion als eigentliches Machtzentrum des DDR-Regimes nicht nur den Systemwechsel und die städtebauliche Neuordnung in Berlins Zentrum überdauert, sondern auch eine aufwendige, denkmalverträgliche Sanierung erlebt. Es verdankt dies zum einen seiner moderateren, stärker traditionsverhafteten Architektur, die dem heute vorherrschenden Traditionalismus entgegenkommt, und der Tatsache, dass es dank seiner Lage am Rand des Schlossplatzes im Unterschied zum Palast der Republik nicht der geplanten Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses im Weg steht. Vor der Fertigstellung des neuen Bundeskanzleramts im Jahr 2001 diente das Staatsratsgebäude interimsweise als Berliner Dienstsitz des Bundeskanzlers, um schließlich 2003–05 zum Sitz der elitären, privaten European School of Management and Technology adaptiert zu werden.



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Abb. 1  Vollentsorgung, als „selektiver Rückbau“ deklariert: Abriss des Palasts der Republik in Berlin. Aufnahme 2007.

Abb. 2  Politisch schwer kontaminiert, doch erfolgreich umgenutzt: das Staatsratsgebäude in Berlin, im Vordergrund das durch den Abriss des Palasts der Republik entstandene Loch. Aufnahme 2009.

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Die ironischen Konnotationen beider Nachnutzungen sind unübersehbar und sicher nicht unerwünscht. Auch außerhalb der Hauptstadt blieben zahlreiche Staatsbauten der DDR erhalten und übernahmen verschiedene neue Funktionen. Ein Beispiel dafür bietet der riesige Komplex der einstigen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Leipzig. Dessen Altbau von 1911–13 beherbergt heute, thematisch stringent, ein den Unterdrückungspraktiken der DDR gewidmetes Museum und eine Dependance des Bundesbeauftragten für die Stasi-UnAbb. 3  „Gipfel des Vergnügens“ im Haus der Finsternis: terlagen. In dem 1982–85 „Tanzhaus Alpenmax“ im einstigen Gebäude der Stasierrichteten, mehrflügeligen Bezirksverwaltung in Leipzig. Aufnahme 2011. Neubau befindet sich neben Büros städtischer Ämter unter anderem die rustikale, bajuwarische Tanzbar „Alpenmax“, die die Besucher mit der Verheißung „Gipfel des Vergnügens“ lockt (Abb. 3) – ein Beispiel für eine Umnutzung mit unfreiwillig-ironischer Note. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird dieser Teil des Komplexes früher oder später abgerissen, allerdings nicht wegen seiner dämonischen Vergangenheit, sondern wegen seiner kruden, funktionalistischen Architektur, die heute als außerordentlich hässlich gilt. Die größte Gefahr für DDR-Bauten ist nicht die politische Aversion, sondern der Nutzermangel. Ein Opfer des Verfalls durch Leerstand ist seit langem das ebenfalls in Leipzig befindliche ehemalige Gästehaus des DDR-Ministerrats (Abb. 4). Einst ein wichtiger Repräsentationsbau, der nicht nur Honecker und Mielke, sondern auch einen Franz Josef Strauß zu seinen Gästen zählte, verwandelt sich der 1968 fertiggestellte Sechsgeschosser allmählich in eine Ruine, die nur noch Vandalen und GPSSchnitzeljäger anzieht. Eine gleichsam symbolische Strafe für die Rolle, die der Bau für das DDR-Regime spielte, ist in dem Niedergang allerdings nicht zu sehen. Tatsächlich würde die Stadt eine Sanierung begrüßen, doch sind alle Versuche, dafür einen Bauherrn zu finden, gescheitert. Über die Zukunft des Baus wird wohl ein künftiger Investor entscheiden. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht dabei von sensibler Sanierung bis zum Totalabriss.



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Abb. 4  Beute der Vandalen: das Gästehaus des DDR-Ministerrats in Leipzig. Aufnahme 2009.

Politische Denkmäler zwischen Entsorgung, Duldung und Umdeutung Die Gründe für die unterschiedlichen Schicksale und Zukunftsperspektiven politischer Denkmäler sind vielschichtiger, und sie weisen deutlich stärkere ideologische Implikationen auf. Die schlechtesten Überlebenschancen hatten wohl Lenin-Denkmäler (Abb. 5), wird doch der Anführer der Oktoberrevolution nicht nur mit der desaströsen Geschichte des Kommunismus in Verbindung gebracht, sondern, aus der Perspektive deutscher Erinnerungskultur, zugleich als von außen aufgezwungene Symbolfigur sowjetischer Fremdherrschaft wahrgenommen. Deutlich bessere Perspektiven hatten Statuen von Karl Marx und Friedrich Engels, da beide nicht nur als Gründungsväter kommunistischer Ideologie, sondern auch als bedeutende Vertreter deutscher Philosophie gelten. In letzterer Funktion werden sie hierzulande in vielen – nicht nur ostAbb. 5  Ohne Überlebenschance:   Demontage des Lenin-Denkmals in Berlin.   Aufnahme 1991.

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deutschen Städten – nach wie vor mit Straßennamen geehrt. So hat auch das 1986 enthüllte Marx-Engels-Denkmal am einstigen Marx-Engels-Forum in Berlin bisher alle Kontroversen um die Zukunft des Areals überstanden. Ein komplizierterer Fall ist Ernst Thälmann. Als Vorsitzender der KPD in der Zwischenkriegszeit war er ein Vertreter der totalitären Kräfte in der Weimarer Republik, die zum Scheitern des ersten demokratischen Staates auf deutschem Boden beitrugen. In dieser Funktion ist er schwer kompatibel mit der offiziellen Geschichtspolitik im heutigen Deutschland. Dementsprechend wurden nach 1989 einige Thälmann-Denkmäler demontiert. Doch Thälmann war nicht nur kommunistischer Parteiführer, sondern auch Gegner und Opfer des Nazi-Regimes. Nach mehr als zehnjähriger Haft wurde er 1944 in Buchenwald ermordet. Der Respekt für Thälmann – jedoch nicht als Politiker, sondern als Nazi-Opfer – scheint seine verbliebenen Denkmäler vor Zerstörung zu bewahren. Ein 1958 aufgestelltes Standbild in Weimar, das ausdrücklich an Thälmann als Opfer des nahegelegenen Konzentrationslagers erinnert, wurde sogar sorgfältig restauriert. Auch das 1981–86 geschaffene, monumentale Thälmann-Denkmal in Berlin (Abb. 6) existiert noch, nachdem es den Abrissplänen der frühen Nachwendezeit entgangen ist. Nur die propagandistischen Inschriften wurden entfernt. Da aber die Stadt lange Zeit nicht für die Pflege des Monuments sorgte, zog es regelmäßig Graffiti-Sprüher an. Gegen diese Schändungen protestierte eine lokale Bürgerinitiative mit der Losung „Eingekerkert, ermordet, beschmiert” und erinnerte damit an Thälmanns Status eines Nazi-Opfers als apodiktisches Argument gegen die Vernachlässigung des Denkmals. Im Jahr 2000 gründeten einige linksgerichtete Organisationen ein Aktionsbündnis, das für einen respektvollen Umgang mit dem Denkmal eintritt und für dessen regelmäßige Reinigung sorgte, bis diese Aufgabe 2006 wieder von der Stadt übernommen wurde. Die Entscheidungen über Erhalt oder Beseitigung eines Denkmals hängen allerdings nicht ausschließlich von dessen Thema und Botschaft, sondern, wie bei den Bauten, auch vom Standort und der Integrierbarkeit in aktuelle Projekte ab. Vor allem bei der architekturgebundenen Kunst, einem Segment der Bildproduktion, das für die visuelle Propaganda der DDR eine besondere Bedeutung hatte, kommt es dabei im Wesentlichen auf die Haltung des Eigentümers an. Arbeiten im Besitz öffentlicher Institutionen haben dabei tendenziell bessere Erhaltungschancen als solche in privater Hand. So wurde am heutigen Bundesfinanzministerium, dem einstigen Haus der Ministerien der DDR und ursprünglichen Reichsluftfahrtministerium des Dritten Reichs, das 1952 geschaffene monumentale Wandmosaik, das die stalinistische Vision der prosperierenden Gesellschaft im „Arbeiter- und Bauernstaat“ präsentiert, an seinem originalen Standort erhalten und restauriert. Im Jahr 2000 erhielt es allerdings mit dem wenige Meter entfernt situierten Denkmal für den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ein semantisch antithetisches Gegenstück. Dieses zeigt in einer in den Boden eingelassenen Fotografie in den Dimensionen des Wandmosaiks den stark vergrößerten Ausschnitt eines Demonstrationszugs der Aufständischen, der formal und motivisch



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auf das Mosaik Bezug nimmt. Auf diese Weise wird die sozialistische Vision an der Wand mit einem Mahnmal konfrontiert, das an deren Scheitern erinnert. Dieses Beispiel von Erhalt und Umdeutung durch Rekontextualisierung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten baugebundenen Propagandawerke der DDR, so Abb. 6  „Eingekerkert, ermordet, beschmiert”: das Thälmannsie noch existieren, geDenkmal in Berlin. Aufnahme 2009. fährdet sind. Vor allem im Zuge von Abrissen und Umgestaltungen der betreffenden Bauten werden sie oftmals zerstört oder zumindest durch Verlegung an einen weniger prominenten Standort marginalisiert. Ein Beispiel für letztere Praxis sind die nachkriegszeitlichen Steinreliefs mit Szenen des

Abb. 7  Ab in den Keller: sozialistisch-realistische Reliefs, einst an der Fassade, heute in der Tiefgarage eines Leipziger Kaufhauses. Aufnahme 2009.

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Abb. 8  Tonnenschwere Propaganda: das Marx-Relief am Hauptgebäude der Universität Leipzig. Aufnahme 1994.

Wiederaufbaus, die jahrzehntelang die Fassade eines Leipziger Kaufhauses schmückten. Beim Umbau des 1912–14 errichteten Gebäudes in den Jahren 2004–06 wurden sie demontiert und an einem denkbar prosaischen Ort in der Einfahrt zur Tiefgarage angebracht (Abb. 7). Karl Marx’ Verbannung aus Leipzig und sein Kultstatus in Chemnitz Die meisten Entscheidungen über das Schicksal von Staatsbauten und Denkmälern der DDR wurden ohne nennenswerte Anteilnahme der Öffentlichkeit getroffen. Einige Projekte entwickelten sich allerdings zu Brennpunkten schwelender gesellschaftlicher Konflikte über den Umgang mit dem visuellen Erbe des Sozialismus, in denen konkurrierende Konzepte kollektiven Gedächtnisses, historischer Identität und urbaner Imagebildung aufeinanderstießen. Das bekannteste Beispiel ist die Endlosdebatte über den Abriss des Berliner Palasts der Republik und die geplante Rekonstruktion des Hohenzollernschlosses an seiner Stelle. Die Kontroverse war letztlich unvermeidlich, betrifft doch das Projekt einen der symbolträchtigsten Orte im wiedervereinigten Deutschland. Eher unerwartet entbrannte dagegen vor einigen Jahren in Leipzig ein heftiger Streit über ein weitaus weniger bekanntes Objekt – das sogenannte Marx-Relief, das



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Abb. 9  Sozialistischer Ikonoklasmus: die Sprengung der Paulinerkirche in Leipzig, Aufnahmefolge 1968. Unten rechts das neue Hauptgebäude der Universität mit dem Marx-Relief, Aufnahme um 1990.

von 1974 bis 2006 an der Fassade der Leipziger Universität am Augustusplatz prangte (Abb. 8). Um die Emotionalität und rhetorische Schärfe der Debatte zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf die bewegte Vorgeschichte des Reliefstandorts zu werfen. Bis 1968 stand an dieser Stelle im Stadtzentrum die Universitätskirche St. Pauli, kurz Paulinerkirche genannt. Der im Kern gotische, im 19. Jahrhundert umgestaltete Bau, der den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstanden hatte, gehörte zu den

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Abb. 10  Organisiertes Erinnern 1: Transparent auf dem Marx-Relief mit einer Aufforderung zum Gedenken an die Sprengung der Paulinerkirche. Aufnahme 1992.

wichtigsten Denkmälern der Leipziger Architektur- und Kulturgeschichte. Doch er passte nicht zu den Plänen des DDR-Regimes, dem Karl-Marx-Platz, wie damals der Augustusplatz hieß, durch bauliche Neugestaltung nach modernistischen Leitbildern ein „sozialistisches Antlitz“ zu geben. Folgerichtig wurde die Paulinerkirche ungeachtet einiger mutiger Bürgerproteste zusammen mit dem benachbarten, klassizistischen Universitätsgebäude gesprengt, um Platz für einen neuen Campus zu machen (Abb. 9). Das monumentale, mehr als vierzehn Meter breite Bronzerelief, das den offiziellen Titel „Karl Marx und das revolutionäre, weltverändernde Wesen seiner Lehre“ trägt, sollte das ideologische Fundament der Karl-Marx-Universität, wie die Leipziger Universität seit 1953 hieß, veranschaulichen. Es zeigt vorwärtsdrängende Menschengruppen als Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Kräfte, vereint im Kampf für Fortschritt unter der geistigen Führung des Philosophen, der als ein überdimensionierter, die Komposition dominierender Kopf dargestellt ist. Exakt an der Stelle situiert, an der einst die Schaufassade der Paulinerkirche gestanden hatte, sollte das den Eingang zum Rektorat bekrönende Relief nicht nur als offizielles Kultbild des Marxismus, sondern auch als Symbol des Triumphes über die christliche Tradition der Universität wahrgenommen werden. Die Zerstörung der Paulinerkirche spielte eine wichtige Rolle in der politischen Erinnerungskultur des postsozialistischen Leipzig. Treibende Kraft der Gedenkaktivitäten war der Paulinerverein, eine sehr umtriebige, oftmals extrem aggressiv auftretende Bürgerinitiative, die sich für den Wiederaufbau der Kirche einsetzte. Zum



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Abb. 11  Organisiertes Erinnern 2: Installation zum dreißigsten Jahrestag der Sprengung der Paulinerkirche, errichtet 1998. Aufnahme 2001.

Brennpunkt der Aktionen wurde immer wieder das Marx-Relief. Im Mai 1992 etwa verhängte es der Paulinerverein anlässlich des Jahrestags der Sprengung mit einem Transparent, das an den Akt des sozialistischen Ikonoklasmus erinnerte (Abb. 10). Als sich die Sprengung 1998 zum dreißigsten Mal jährte, wurde das Relief mit einer Konstruktion aus Stahlträgern umrahmt, deren Dreiecksform den Umriss des einstigen Kirchengiebels nachbildete (Abb. 11). Die temporäre Kunstinstallation akzentuierte damit die symbolische Verbindung zwischen dem Relief und dem Schicksal der Paulinerkirche. In der frühen Nachwendezeit wurden immer wieder Forderungen nach Demontage des Reliefs laut. Im Jahr 1992 fasste die Universität sogar einen entsprechenden Beschluss, ohne ihn jedoch auszuführen. Später wurde es allmählich ruhiger um das Monument. Je mehr Zeit seit dem Ende der DDR verging, desto weniger Leipziger nahmen Anstoß an seiner Existenz. Erst im Zuge der grundlegenden Umgestaltung des Campusareals fast zwei Jahrzehnte nach der Wende, die auch den Abriss weiter Teile des DDR-zeitlichen Gebäudekomplexes einschloss, wurde das Relief zum Gegenstand einer erbitterten Kontroverse. Im Frühjahr 2007 wurde das Universitätshauptgebäude abgerissen (Abb. 12), an seiner Stelle entstand ein Neubau (Abb. 13), der, in gotisierenden Formen schwelgend, plakativ auf die einstige Kirche Bezug nimmt. Vor dem Abriss war das Relief zerstörungsfrei von der Fassade abgenommen und eingelagert worden. Dass es an diesen Standort nicht zurückkehren würde, war von Anfang sowohl aus ideologischen als auch aus ästhetischen Gründen ausgemachte Sache. Nach der Demontage stellte

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Abb. 12  Kommen und Gehen an Leipzigs Augustusplatz: Abriss des Hauptgebäudes der Universität. Aufnahme 2007.

sich aber die delikate Frage, was mit diesem sperrigen Kunstwerk zu tun sei. Zu den anfangs diskutierten Optionen gehörte eine Aufstellung als aussagekräftiges visuelles Dokument der Universitätsgeschichte im Innenhof des umgestalteten Campus. Die Universität verwarf die Idee, wobei sie vor allem technische, aus den kolossalen Maßen und dem hohen Gewicht des Reliefs resultierende Probleme geltend machte. Dass bei der Entscheidung auch politische Gründe eine Rolle spielten, ist gleichwohl offensichtlich: Die Universität wollte sich nicht dem Vorwurf einer symbolischen Fortsetzung der DDR-Tradition auf ihrem Campus aussetzen. Nach langen Debatten bestimmte die Universität das einige Kilometer außerhalb des Stadtzentrums gelegene Areal der Sportwissenschaftlichen Fakultät zum dauerhaften Standort für das Relief. Gegen Marx‘ Verbannung aus der Innenstadt gab es, zumindest öffentlich, nicht viel Widerspruch. Die Entscheidung, das Werk fachgerecht zu restaurieren und an einem immerhin halböffentlichen Ort wiederaufzustellen, provozierte aber den heftigsten Streit über den Umgang mit dem DDR-Erbe, den Leipzig seit 1989 erlebt hat. In der Lokalzeitung erschienen Fluten von Leserbriefen, die meisten davon mit scharfen Protesten und Schmähreden gegen die universitären Pläne. Einige Leipziger Prominente traten mit verschiedenen Alternativvorschlägen hervor. Die meisten Teilnehmer der Debatte vermittelten mehr oder weniger deutlich den Eindruck, dass



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Abb. 13  Zyklopische Mutation der Paulinerkirche: der Neubau des Hauptgebäudes der Universität. Aufnahme 2011.

sie sich schon immer durch die bloße Existenz des Reliefs beleidigt und verletzt gefühlt hätten – auch wenn kaum einer von ihnen im Laufe der vorangegangenen Jahre dessen Entfernung gefordert hatte. In einer auf dem Höhepunkt des Streits durchgeführten Leserumfrage der Lokalzeitung sprach sich sogar mehr als die Hälfte der Teilnehmer für die Einschmelzung oder zumindest dauerhafte Entfernung des Werks aus der öffentlichen Sphäre aus. Ein anderer Vorschlag, der von einigen Lokalpolitikern favorisiert wurde, sah die Verlegung des Reliefs auf eine Anhöhe am Stadtrand, den Ort, an dem 1968 die Trümmer der gesprengten Paulinerkirche verscharrt worden waren, vor. Auf diese Weise sollte der Zusammenhang zwischen der durch das Relief repräsentierten marxistischen Ideologie und dem vom DDR-Regime verübten Akt der Kulturbarbarei visualisiert werden. Schließlich wies aber der Leipziger Oberbürgermeister, der in dem Streit zu vermitteln versuchte, auf die den Befürwortern offenbar entgangene fatale Symbolik dieser Option hin: Auf dem Hügel aus Trümmern des zerstörten Baus würde das Relief erneut die Position des Triumphators über die Kirche einnehmen. Unter dem Druck der anhaltenden öffentlichen Aufregung verfügte Sachsens Finanzministerium als Bauherr einen kurzfristigen Baustopp bei den Vorbereitungen für die Aufstellung des Reliefs auf dem Gelände der Sportwissenschaftlichen Fakultät. Nach einer Krisensitzung mit dem Rektor der Universität und dem Leipziger Oberbürgermeister beschloss schließlich die damalige sächsische Wissenschaftsministerin, allen Protesten zum Trotz an dem gewählten Standort für das Relief festzuhalten. Um die Kritiker zu besänftigen, wurde aber eine Kommission beauftragt, eine ausführliche Inschrift zu formulieren, die an die Zerstörung der Kirche erinnert und die Intention der Aufstellung des Reliefs am neuen Standort erläutert. Zur Vermeidung von Missverständnissen bezüglich dieser Intention wird in der Inschrift betont, dass sich die Leipziger Universität nach 1989 „sowohl von der sozialistischen Staatsdoktrin als auch von dem Namen Karl Marx gelöst“ habe. Die Neuaufstellung des Reliefs, heißt

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Abb. 14  Konserviert, aber verbannt: die Neuaufstellung des Marx-Reliefs auf dem Areal der Sportwissenschaftlichen Fakultät. Aufnahme 2008.

es dort etwas gewunden, dokumentiere „durch ihre räumliche Distanz zum ursprünglichen Kontext Verantwortung und Abstand zugleich: Verantwortung gegenüber und Abstand zu jenem Teil der deutschen Geschichte, der mit dem SED-Regime und dem Namen Karl-Marx-Universität verbunden ist.“ Die Erklärung dürfte kaum jene überzeugt haben, die die Vernichtung des Reliefs gefordert hatten. Nach dem Abschluss der Neuaufstellung im Sommer 2008 (Abb. 14) legte sich aber die Aufregung genauso schnell wie sie ausgebrochen war. Es scheint, als fühle sich seitdem niemand mehr durch das Relief verletzt. Die meisten Leipziger wissen gar nicht genau, wo es sich heute befindet. Ein Beispiel für einen gänzlich anderen Umgang mit einem Marx-Monument bietet das südsächsische Chemnitz. Nach 1945 wurde die damals bedeutende Industriestadt, die im Krieg schwere Zerstörungen erlitten hatte, dazu erkoren, als Modell für sozialistischen Städtebau entwickelt zu werden. Ausdruck dieses nach offiziellem Verständnis privilegierten Status war nicht zuletzt die 1953 verordnete Umbenennung in Karl-Marx-Stadt. Im Jahr 1971 wurde der oktroyierte geistige Patron der Stadt mit einem mächtigen Monument im Stadtzentrum – einem sieben Meter hohen, auf einem Sockel von fast derselben Höhe aufgestellten Kopf des Philosophen geehrt (Abb. 15). Sinnfälligerweise wurde das Riesenhaupt aus Bronze, seinerzeit mutmaßlich das



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Abb. 15  Gigant mit Kultpotential: der Marx-Kopf in Chemnitz, im Hintergrund die „Parteifalte“. Aufnahme 2009.

größte Porträt der Welt und fortan das Wahrzeichen von Karl-Marx-Stadt, vor einem wuchtigen Neubau für den Partei- und Verwaltungsapparat des Bezirks aufgestellt, in dem Marx‘ Ideen in die Praxis umgesetzt werden sollten. Die Schaufassade der „Parteifalte“, wie der Bau wegen seiner geknickten Form im Volksmund heißt, wird von einer acht Stockwerke hohen Inschrifttafel mit der Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“ in verschiedenen Sprachen beherrscht. Im Jahr 1990 erhielt Karl-Marx-Stadt den historischen Namen Chemnitz zurück, nachdem sich die große Mehrheit der Bürger in einer Volksabstimmung für die Rückbenennung ausgesprochen hatte. Der giganteske Marx-Kopf dürfte damals bei den meisten Chemnitzern mindestens so unangenehme Assoziationen ausgelöst haben wie das Marx-Relief am Augustusplatz bei den Leipzigern. Er stand für das aufgezwungene sozialistische System, die forcierte Zerstörung von Traditionen und sogar – da er von einem russischen Bildhauer entworfen worden war – für den Zwangsimport sowjetischer Kunst. Dementsprechend forderten in den Jahren nach 1989 viele Bürger die Zerstörung des Denkmals. Im Laufe der Zeit gewann aber eine andere Haltung die Oberhand: die Idee der Erhaltung des Monuments als einzigartiges historisches Zeugnis und zugleich seiner ironisierenden Inszenierung als bizarre Attraktion der Stadt. In der Zwischenzeit wird der Marx-Kopf als eine der touristischen Hauptsehenswürdigkeiten von Chemnitz vermarktet. In der Innenstadt sorgen Wegweiser dafür, dass er von keinem Besucher unbemerkt bleibt. Eine Zeitlang verwendete das Chemnitzer Stadtmarketing das Motto „Stadt mit Köpfchen“, das in spielerischer Doppeldeutig-

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Abb. 16  Dahinter steckt ein kluges Köpfchen: Chemnitzer Pralinen mit Marx-Kopf. Aufnahme 2011.

keit auf den beanspruchten Pioniergeist der Bewohner und zugleich auf das Großmonument Bezug nimmt, als zentralen Werbeslogan. In der städtischen Touristeninformation im Rathaus werden Miniaturen des Marx-Kopfs in verschiedenen Varianten, etwa als dekorativer Aufsatz für einen USB-Stick, verkauft. Das Philosophenhaupt prangt sogar auf erlesenen Pralinen einer Chemnitzer Konditorei (Abb. 16). An die Stelle früherer Scham ist Stolz auf den Marx-Kopf getreten. Als 2007 ein litauischer Künstler auf die Idee kam, das ungewöhnliche Denkmal temporär ins westfälische Münster zu verbringen, um es im Rahmen der dortigen renommierten Ausstellung „Skulptur. Projekte“ einem internationalen Publikum zu präsentieren, brach in Chemnitz Entrüstung aus. Selbst das Gesuch des Künstlers, für die Münsteraner Skulptu-

Abb. 17  Inszenierung durch Verhüllung: des eingehauste Marx-Kopf als „Temporary Museum of Modern Marx“. Aufnahme 2008.



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renschau eine Replik des Kopfes anfertigen zu dürfen, scheiterte am Veto der Stadtverwaltung. „Der Kopf ist ein Unikat und soll auch ein Unikat bleiben“, begründete die Oberbürgermeisterin die Entscheidung und traf damit die Stimmung in der Mehrheit der Bevölkerung. Dafür zeigt sich die Stadtverwaltung aufgeschlossen gegenüber künstlerischen Aktivitäten zum Thema des Monuments, die in Chemnitz selbst stattfinden. So wurde der Bronzekopf im Sommer 2008 zum Gegenstand eines Projekts unter dem Titel „Temporary Museum of Modern Marx“, das eine Gruppe von Kunststudenten aus dem österreichischen Linz und dem nahegelegenen Schneeberg in Zusammenarbeit mit der Neuen Sächsischen Galerie Chemnitz organisiert hatte. Die Idee bestand darin, den Kopf durch Separierung von seinem urbanen Kontext neu in Szene zu setzen und auf diese Weise „Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung mit Marxschem Denken“ zu geben. Zu diesem Zweck wurde das Denkmal mit Gerüsten und vorgehängten weißen Planen eingehaust (Abb. 17). Die Besucher des so entstandenen „Temporary Museum“ konnten die Gerüste von innen besteigen (Abb. 18), um „dem Denker ungewohnt auf Augenhöhe“ zu begegnen und damit einen „denkbar einfachen Zugang und Einstieg in das Gedankengebäude des Philosophen“ zu finden. Zu dessen eingehenderem Studium luden die ausgelegten Werke und Tondokumente ein, und wer dazu etwas zu sagen hatte, konnte sogar einen eigenen Kommentar aufnehmen. Ungeachtet seines provokativen Potentials – und zugleich einer gewissen intellektuellen Unbedarftheit der Idee – wurde das Projekt nicht nur von der Stadt, sondern sogar von mehreren örtlichen Unternehmen unterstützt. Während Leipzig sein Marx-Relief verschämt aus der Stadt verbannte, präsentiert Chemnitz den Riesenkopf des Philosophen offensiv als ein ikonisches und zugleich kurioses Stadtwahrzeichen mit Kultcharakter. Die unterschiedlichen nachwendezeitlichen Werdegänge der beiden Denkmäler zeigen einmal mehr, dass der Umgang mit den visuellen Relikten des DDR-Regimes nicht allein durch deren ursprüngliche Bedeutung und historischen Kontext bestimmt wird. Welche Behandlung ein Denkmal erfährt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt von zufälligen lokalen Konstellationen wie den Aktivitäten örtlicher politischer Gruppierungen sowie sozialer und kultureller Initiativen, dem Einfluss einzelner, prominenter Persönlichkeiten und der Position meinungsbildender Medien. Deshalb lassen sich bezüglich der Zukunftsperspektiven für die DDR-DenkAbb. 18  Tête-à-tête im Separee: Besucher im   mäler im wiedervereinigten „Temporary Museum of Modern Marx“. Aufnahme 2008.

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Deutschland realistischerweise keine generalisierenden Prognosen treffen. Wie die Entwicklung in Chemnitz belegt, kann die zeitliche Distanz zur Erfahrung des Sozialismus ein weites Spektrum neuer, kreativer Zugänge zu seinen Hinterlassenschaften im Stadtraum eröffnen. Andererseits zieht aber diese Distanz, wie das Beispiel Leipzig zeigt, nicht zwingend eine Abschwächung ikonoklastischer Feindseligkeit nach sich.

Vo n d er st al i n i st i sc h en I de a lsta dt zum p ost soz i al i st i sc h e n K ultort Die polnische Arbeiterstadt Nowa Huta hofft auf eine Renaissance Vom Südrand des Zentralen Platzes (Abb. 1, 5), der einst Stalinplatz hieß und heute den Beinamen Ronald-Reagan-Platz trägt, schweift der Blick in die Ferne. Eine fast unberührte Wiesenlandschaft, unlängst zum Ökoreservat erklärt, fällt hier zu den Niederungen der Weichsel ab. Bei guter Sicht sind am Horizont sogar die Gipfel des Tatra-Hochgebirgs zu erkennen. Nur die mächtigen Türme eines dem Fluss vorgelagerten Heizkraftwerks stören das Idyll.

Abb. 1  Sozialistische Anverwandlung barocker Stadtbaukunst: Nowa Hutas Zentraler Platz. Aufnahme 1965.

An keiner Stelle in dem heute über 200 000 Einwohner zählenden Nowa Huta, das nach einer Phase postsozialistischen Siechtums allmählich zu neuem Leben erwacht, lässt sich so deutlich wie hier erahnen, dass die Arbeiterstadt vor den Toren Krakaus buchstäblich auf der grünen Wiese entstand. Bis vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert befanden sich auf ihrem immensen Territorium fast nur Weiden, Äcker und einige Dörfer mit hellblau geschlämmten Holzhäusern. Von der ländlichen Vergangenheit sind nur noch wenige Spuren übriggeblieben. Denn seit 1949 rückten auf Geheiß der polnischen Regierung Zigtausende von Bauarbeitern an, um binnen we-

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Abb. 2  Zusammenstoß der Kulturen: Ackerbestellung vor dem Hüttenkombinat. Aufnahme 1960er Jahre.

niger Jahre ein gigantisches Eisenhüttenkombinat (Abb. 2) mit dazugehöriger Reißbrettstadt aus dem Boden zu stampfen. Was den Plänen im Wege stand, wurde unter den Augen der ohnmächtigen Bauern ohne Federlesens abgebrochen. Eine beharrlich tradierte Legende will, dass der Standortwahl für Nowa Huta (Neue Hütte) die Absicht der neuen kommunistischen Staatsmacht zugrunde lag, die stolze, konservative Bevölkerung der einstigen polnischen Hauptstadt Krakau, in der strikt antikommunistisch eingestellte intellektuelle Milieus den Ton angaben, zu demütigen und mit proletarischem Element zu durchmischen. Auf diese Weise, so heißt es, sollte in der Region der Widerstand gegen das Regime ausgehöhlt werden. Der Kunsthistoriker Maciej Miezian, Mitarbeiter am stadtgeschichtlichen Museum von Nowa Huta, hat für derlei Gründungsmythen nur ein müdes Lächeln übrig und verweist auf logistische und geopolitische Gründe für die Standortentscheidung. Der ursprüngliche Plan, die Hütte in Schlesien anzusiedeln, wurde ihm zufolge wegen der Unsicherheit über den Verbleib der ehemaligen deutschen Ostgebiete bei Polen verworfen. Für den Ausweichstandort bei Krakau sprach nicht zuletzt die Existenz einer Bergbau- und Hüttenakademie in der Stadt, auf die bei der Rekrutierung des Fachpersonals zurückgegriffen werden konnte.



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Stalinistisches Prestigeprojekt Warum aber wurde in der Not der Nachkriegsjahre die Errichtung eines riesigen Stahlkombinats in Polen überhaupt für so vordringlich gehalten? Weil Stalin es so befahl und dafür Geld gab. Einer historisch verbürgten Anekdote zufolge, nachzulesen in Miezians heiter-beschwingtem Stadtführer für Nowa Huta (englische Ausgabe: Kraków’s Nowa Huta. Socialist in Form, Fascinating in Content. Kraków 2004), schaute der Diktator dem polnischen Staatspräsidenten Bierut bei dessen Besuch in Moskau tief in die Augen und fragte ihn, ob er denn die Bedeutung dieser Aufgabe für die Zukunft der Arbeiterklasse verstanden habe. „Nichts hat er verstanden“, raunte Stalin seinem Geheimdienstchef Berija zu, nachdem der Vasall die Frage schüchtern mit Ja beantwortet hatte. Wer den Genossen Stalin nicht verstand, dessen war sich Bierut bewusst, hatte eine denkbar niedrige Lebenserwartung. Also setzte der polnische Staatschef nach der Rückkehr schleunigst seinen Machtapparat in Gang, um das Großprojekt im Rekordtempo zu realisieren. Bereits 1954 wurde in der Hütte der erste Hochofen in Betrieb genommen. Ebenso schnell wuchs die zunächst für 100 000 Einwohner angelegte Wohnstadt, die als selbständige Kommune gegründet, aber schon 1951 nach Krakau eingemeindet wurde. Um die Versorgung mit Baumaterial sicherzustellen, brach man in Schlesien Häuser ab und nutzte sie als Ziegelreservoir für die „erste sozialistische Stadt Polens“. Der Mangel an modernem Arbeitsgerät wurde durch rigorose Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft kompensiert. So blühte auf Nowa Hutas Baustellen rasch der von der staatlichen Propaganda gesteuerte Kult der sozialistischen Arbeitshelden auf, die für die Übererfüllung der Normen ihre Gesundheit ruinierten. Die frühesten Wohnsiedlungen lehnen sich mit ihren freistehenden, schmucklosen Zwei- bis Dreigeschossern inmitten von Grünanlagen noch an die seit der Jahrhundertwende international wirksamen Gartenstadtkonzepte an. Bald aber machte sich in Nowa Huta die architekturpolitische Wende bemerkbar, die um 1950 mit dem verordneten Import der „Baukunst der nationalen Traditionen“ aus der Sowjetunion einsetzte. „Paläste für die Werktätigen“ lautete nun die glücksverheißende Losung, die der Sozialistische Realismus der funktionalistischen Nüchternheit der Moderne entgegensetzte (Abb. 3). Im Zeichen des neuen Kurses steht vor allem die Bebauung des Zentralen Platzes und der im Geiste barocker Stadtbaukunst radial auf ihn zulaufenden Straßenzüge. Die prachtvollen Ensembles umschließen festungsartig großzügige, durchgrünte Innenhöfe, die durch verschwenderisch hohe Durchfahrten mit kassettierten Decken und Tonnengewölben (Abb. 6) erschlossen sind. Mit ihren Risaliten, Arkadenloggien, Säulen und Balustraden knüpfen die Bauten vor allem an den universalen Formenschatz der Renaissancearchitektur an. Zeitgleich entstanden die beiden an Schlösser erinnernden Verwaltungsgebäude des Kombinats (Abb. 13 auf S. 77), deren malerische, kammartige Bekrönungen als nationalspezifische Zutat zu diesem Motivrepertoire gelten: Sie ahmen die „polnische Attika“ nach, das markanteste Motiv der heimischen Renaissance, dessen Prototyp an der berühmten Krakauer Tuchhalle zu bewundern ist (Abb. 12 auf S. 76).

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Abb. 3  Sozialismus von seiner mondänsten Seite: die unvergesslichen Limousinen der Marke „Warszawa“, auf die Bewohner der Arbeiterpaläste wartend. Aufnahme 1958.

Ein Großteil der stalinistischen Projekte blieb aber unausgeführt. Denn schon um 1955 wurde von der Sowjetunion abermals ein radikaler Kurswechsel diktiert. „Besser, schneller, billiger“ sollte das Bauen nun werden. In der Folgezeit schossen jene monotonen Plattenbausiedlungen in die Höhe, die heute den größten Teil Nowa Hutas ausmachen (Abb. 4). Das Außenbild der Stadt wird aber nach wie vor von den repräsentativen Ensembles der frühen Jahre bestimmt. Bis vor kurzem als monströses Erbe einer finsteren Zeit geschmäht, werden sie nun von Architekturhistorikern wiederentdeckt, mitunter zu Kultobjekten stilisiert. Auch im kollektiven Gedächtnis der älteren Bewohner, wenn es denn so etwas gibt, spielt die Pionierzeit eine herausragende Rolle. Dies suggeriert jedenfalls die gegenwärtige Flut von historischen Fotobänden, Erinnerungsbüchern und Ausstellungen. Der tyrannisch-fürsorgliche Staat Nein, nicht alles sei schlecht gewesen, versichern die meisten der Zeitzeugen erwartungsgemäß, wenn man sie nach ihren Erfahrungen in der Stalinzeit fragt. Zwar ist manch einer der einstigen Dorfbewohner bis heute fassungslos über die lächerliche Höhe der Entschädigungen für niedergerissene Häuser und beschlagnahmtes Land. Den Gegenwert von viereinhalb Kilo Zucker habe seine Familie für einen fruchtbaren



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Abb. 4  Schneller und billiger, aber auf keinen Fall besser: eine von Nowa Hutas Plattenbausiedlungen. Aufnahme 2006.

Acker erhalten, berichtet etwa Eugeniusz Chmiel, der im Dorf Mogiła wohnte. Andere verrechnen die Entschädigungshöhe mit dem Wodka-Preis: Nicht einmal für eine Flasche habe es oftmals gereicht. Einen Kulturschock versetzte der Dorfbevölkerung zudem der Zuzug entwurzelter Arbeitermassen, die großteils aus den von der Sowjetunion annektierten polnischen Ostgebieten stammten. Diebstahl, Schlägereien und Prostitution hätten um sich gegriffen und zu einer allgemeinen Sittenverwilderung geführt. Gleichzeitig aber brachte der Bau von Kombinat und Stadt eine erhebliche Verbesserung der materiellen Verhältnisse und soziale Aufstiegschancen. Der fürsorgliche Staat kümmerte sich auch um die Bildung und Freizeitgestaltung der Arbeiter. Theaterund Kinobauten mit würdevollen, säulengestützten Portiken wurden errichtet. Dagegen war der Bau von Abb. 5  Morbider Charme 1: der Zentrale Platz in nasser Nacht, ganz bei sich. Aufnahme 2003. Kirchen in einer sozialisti-

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schen Idealstadt, die Nowa Huta werden sollte, nicht vorgesehen. Die Gläubigen fanden sich damit nicht ab. Nach langen, teils blutigen Auseinandersetzungen ertrotzten sie 1967, vom damaligen Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła tatkräftig unterstützt, die Genehmigung zur Errichtung des ersten Gotteshauses. Ein Jahrzehnt dauerten die durch staatliche ObstrukAbb. 6  Morbider Charme 2: bröckelnde Hofdurchfahrt mit tion behinderten Arbeiten Kassettendecke. Aufnahme 2008. an dem architektonisch wie symbolisch bemerkenswerten Bau, der eingedenk seiner an ein Boot erinnernden Form den sinnfälligen Namen „Arche des Herrn“ erhielt. Mittlerweile gibt es in Nowa Huta zehn Kirchen. Während der Kirchenbau einen Aufschwung nahm, ging es mit dem Kombinat, dem Lebensnerv der Stadt, bergab. In den achtziger Jahren wurde es von jenen Streikwellen heimgesucht, die schließlich zum Kollaps des Sozialismus in Polen führten. Danach folgte die Privatisierung der einstigen Lenin-Hütte. Im Zuge eines Gesundschrumpfungsprozesses wurde die Produktion drastisch zurückgefahren und rationalisiert. Arbeiteten in dem Kombinat 1977 fast 40 000 Beschäftigte, so sind es heute weniger als ein Viertel davon. Für den Ökohaushalt und den Baudenkmalbestand der Krakauer Agglomeration war der Niedergang der früheren Dreckschleuder ein Segen, für Nowa Huta aber ein soziales Desaster. Auf den Straßen rund um den Zentralen Platz dominieren heute ärmlich gekleidete Rentner und Grüppchen alkoholisierter Männer. Die fiesesten Kampfhunde der Welt laufen in Nowa Huta herum. Die schönen Kinos sind geschlossen oder zu schäbigen Billigmärkten umfunktioniert (Abb. 7). Das Restaurant „Stylowa“ an der Rosenallee, wo in besseren Zeiten ein Hauch von großer Welt wehte, verströmt den Plastikcharme der späten Volksrepublik, gesteigert durch voluminöse Kellnerinnen mit barocken Dauerwellen. Vorboten einer Renaissance Eine Stadt der Wendeverlierer also? Ganz im Gegenteil, meint Kunsthistoriker Miezian, der Nowa Huta seiner altehrwürdigen und bezaubernden Geburtsstadt Krakau vorzieht. In Nowa Huta zu wohnen, sagt er provokant, sei doch wie mit einem RollsRoyce inmitten von Trabis und Polski-Fiats zu fahren. Mit diesem Urteil ist Miezian



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Abb. 7  Postsozialistisches Banausentum: der ägyptisierende Bau des 1953 eröffneten legendären Kinos „Świt“, zu einem Ramscheinkaufszentrum degradiert. Aufnahme 2004.

kein Einzelfall, sondern Exponent einer neuen Begeisterung für den urbanen Raum und das Soziotop von Nowa Huta, die vor allem die Krakauer Künstler- und Intellektuellenkreise erfasst. Darin ist natürlich nicht zuletzt eine übersteigerte Abwehrreaktion gegen die Selbstherrlichkeit Krakaus zu sehen, das die benachbarte Proletarierstadt stets als schmuddeliges Stiefkind betrachtet hat. Derweil profitiert Nowa Huta unübersehbar von seinen neuen Sympathisanten: Künstler erwerben schicke Wohnungen in den stalinistischen Monumentalbauten, Kulturinitiativen schießen wie Pilze aus dem Boden, ambitionierte Veranstaltungen ziehen ein überregionales Publikum an. Sogar das angesehene experimentelle Theater „Łaźnia“ zog mittlerweile aus dem pittoresken Krakauer Stadtteil Kazimierz nach Nowa Huta. Gewiss, das sind nur zarte Pflänzchen. Aber sie sind Vorboten eines Strukturwandels, der der von Vielen totgeglaubten Stadt in Zukunft eine Renaissance bescheren könnte.

N eu e Est en n ebe n a lte n R usse n Tallinn baut an seiner Zukunft – die sowjetische Vergangenheit steht dabei im Weg „Vergesst London und Paris!“, titelte vor einiger Zeit „Der Spiegel“ und empfahl seinen Lesern die aktuellen „coolen Städte“ Europas: Amsterdam, Barcelona, Dublin, Kopenhagen, Hamburg – und Tallinn. Diesen Aufstieg von einem blinden Fleck in der postsowjetischen Peripherie zu einem strahlkräftigen Modeort verdankt die estnische Hauptstadt ihrem bezaubernden, zunehmend von Touristen entdeckten Stadtbild, ihrer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung und lebendigen Kulturszene, ebenso aber auch einer äußerst erfolgreichen Selbstvermarktungsstrategie. Das einstige Reval inszeniert sich zum einen als altehrwürdige Schönheit mit wechselvoller, ins Hochmittelalter zurückreichender Geschichte, die vielfältig mit der Vergangenheit Mitteleuropas und Skandinaviens verwoben ist. Die dänischen Herrscher der Frühzeit haben darin einen ebenso festen Platz wie die ihnen folgenden Deutschordensritter, die hanseatischen Kaufleute, die Reval zu seiner Blüte verhalfen, und die Schweden, die Estland nach dem Zerfall des Ordensstaates ihrem Großreich einverleibten. Auch die bis zum Ersten Weltkrieg währende, über zwei Jahrhunderte lange Herrschaft des russischen Zarenreichs ist in diese Identitätskonstruktion, wenn auch nicht ganz so vorbehaltlos, integriert. Mit der Zelebrierung des multikulturellen Erbes beschreitet Tallinn, das im Jahr 2011 zusammen mit dem finnischen Turku den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt trägt, in seiner Selbstdarstellung ähnliche Wege wie andere geschichtsträchtige Städte im postsozialistischen Nordosteuropa, etwa Riga oder Danzig. Hauptstadt des „e-state“ Doch zugleich hat es das nur 400 000 Einwohner zählende Tallinn wie keine andere Stadt der früheren sowjetischen Machtsphäre vermocht, sich ein Image als „HightechCity“, als pulsierendes urbanes Zukunftslabor der vielbeschworenen „creative classes“ zu verschaffen – und das ist es vor allem, was die estnische Kapitale in den Augen von Touristen, Zuwanderern und Investoren so „cool“ erscheinen lässt. Die Chiffre dieses Zukunftssinns ist das Präfix „e“, das vor allem in der englischsprachigen Eigenwerbung Signalwirkung hat. Tallinn präsentiert sich als Hauptstadt eines „e-state“, dessen Bürger schon seit Jahren „e-taxes“ entrichten, also ihre Steuererklärungen auf elektronischem Wege abwickeln, Rechnungen online oder per SMS bezahlen und die Schulnoten ihrer Kinder im Internet abrufen. Parlamentswahlen werden mittlerweile als „e-lections“ abgehalten, bei denen die Wähler zu Hause elektronische Stimmzettel ausfüllen können. Auch die Abgeordneten sparen viel Papier. Denn im „Riigikogu“, dem in den 1920er Jahren von der ersten estnischen Republik



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in die Tallinner Deutschordensburg eingebauten Parlament, ist jeder Sitzplatz selbstredend mit einem Laptopanschluss ausgestattet. Die meisten Touristen bekommen den erlesenen Plenarraum, bei dem es sich, wie Estlands Architekturhistoriker stolz betonen, wohl um den weltweit einzigen Parlamentssaal in expressionistischen Formen handelt, nicht zu sehen, und schon gar nicht die Arbeitsweise der Parlamentarier. Dank der dezenten Natur der elektronischen Datenverarbeitung fallen die Segnungen des „e-state“ auch im Stadtbild wenig auf. Hie und da sind Internetstationen aufgestellt, denn der kostenlose Zugang zum Netz gehört in Estland zu den staatlich garantierten Grundrechten, und auf Informationstafeln ist zu lesen, dass die Stadtverwaltung in der Altstadt einen drahtlosen Internetservice eingerichtet hat. Natürlich gehört Tallinn auch zu den Städten mit der größten Mobiltelefondichte. Doch da die Esten ausgesprochen wortkarg sind, ist auf den Strassen kein Dauergeschnatter wie auf einer italienischen Piazza zu vernehmen. Im Griff des Tourismus So erleben die Besucher das historische Zentrum als einen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Von der Oberstadt öffnet sich ein grandioser Blick auf das pittoreske Gassengewirr (Abb. 1), überragt von mächtigen gotischen Kirchtür-

Abb. 1  Althansisches Idyll mit neuen Nachbarn: Blick von der Oberstadt auf das historische Zentrum, im Hintergrund ein Büro- und Geschäftsviertel nach amerikanischem Vorbild. Aufnahme 2007.

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men und den als exotischer Fremdkörper wirkenden Zwiebelkuppeln der Ende des 19. Jahrhunderts zum Zeichen des russischen Herrschaftsanspruchs errichteten Alexander-Newskij-Kathedrale. Ein nahezu lückenlos erhaltener Festungsmauerring mit unzähligen Türmen evoziert das Bild einer intakten mittelalterlichen Stadt. Der Rathausplatz besticht mit dem aus dem 15. Jahrhundert stammenden Bau des städtischen Machtzentrums, der trotz nordischen Steildachs an einen italienischen Palazzo Comunale erinnert, hübsche Cafés laden zum Verweilen und Schauen ein. In den Gassen der Unterstadt sind Kaufmanns- und Gildehäuser mit prachtvollen Dielen zu bestaunen, wie sie für alte Handelsstädte des Ostseeraums charakteristisch, aber nur noch sehr selten erhalten sind. Die Entdeckung durch den Tourismus hat Tallinns Altstadt die Belebung und weitgehende Sanierung, aber auch eine, wenn auch vorerst noch maßvolle, Verkitschung eingebracht. Als mittelalterliche Maiden verkleidete Studentinnen verkaufen Postkarten ebenso wie Coca Cola. Die historischen Museen werden mit Gregorianik vom Band dauerberieselt, als hätten die alten Revaler unentwegt geistliche Lieder gesungen, und in der als Konzertsaal genutzten gotischen Nikolaikirche wird zur Erbauung der Touristen ein barockes Ohrwurm-Repertoire abgenudelt. Mittelalterlich getrimmte Restaurants mit Sehnsuchtsnamen wie „Olde Hanse“ simulieren eine ungebrochene hansische Tradition. Die Verbannung Aljoschas Eine andere Tradition indes, die im heutigen Tallinn viel wirksamer ist als die der Hanse, wird verdrängt – die sowjetische. Dass Estlands Umgang mit seiner sowjetischen Geschichte auch viele Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit ein politisches Minenfeld ist, erfuhr die Weltöffentlichkeit im Frühjahr 2007. Damals hatte der Beschluss der Regierung, das Standbild eines Sowjetsoldaten aus Tallinns Stadtzentrum auf einen Militärfriedhof zu verlegen, schwere Krawalle ausgelöst, die einen Toten und zahlreiche Verletzte forderten und für Schlagzeilen in der internationalen Presse sorgten. In den von der russischen Medienpropaganda angestachelten Ausschreitungen entlud sich ein schwelender Dauerkonflikt zweier Parallelgesellschaften: der estnischen Mehrheit, die sich der westeuropäisch-skandinavischen Kultur zugehörig fühlt und die sowjetische Vergangenheit abschütteln möchte, und der russischen Minderheit, die sich vom estnischen Staat zu Bürgern zweiter Klasse degradiert sieht. Zwar kritisierten auch einige estnische Intellektuelle die Verbannung des 1947 aufgestellten bronzenen Rotarmisten als Geschichtsexorzismus, doch für die Regierung war die Aktion eine Gelegenheit, sich als David im Kampf gegen den russischen Goliath zu profilieren. Am alten Standort des Denkmals neben der Karlskirche steckt zuweilen eine einsame rote Rose in einer von Rindenmulch bedeckten Rabatte. Sonst zeugt nichts von den dramatischen Ereignissen, die sich hier seinerzeit abgespielt haben. Und an seinem neuen, keineswegs unwürdigen Ort steht „Aljoscha“, wie die Soldatenfigur im Volksmund genannt wird, inmitten der Kriegsgräber so selbstverständlich da, als

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wenn er niemals woanders gestanden hätte (Abb. 3 auf S. 191). Doch seine Verlegung hat die Gräben zwischen den Esten und den Russen, die in Tallinn über ein Drittel der Stadtbevölkerung stellen, noch weiter vertieft. Aus russischer Sicht ist Aljoscha ein Befreier, der Estland von der Besatzung durch Nazi-Deutschland erlöst hat. Für die Esten ist er dagegen selbst ein Besatzer, der ein Terrorregime durch ein anderes – und genauso schlimmes – ersetzt hat. Dieses Geschichtsbild, das in seiner trotzigen Undifferenziertheit und latenten Neigung zur Relativierung der Naziverbrechen auf viele Westeuropäer etwas verstörend wirkt und nur durch die Leidensgeschichte unzähliger Esten in der Sowjetzeit zu verstehen ist, wird mit allen Finessen moderner Ausstellungstechnik im 2003 eröffneten Tallinner „Okkupationsmuseum“ präsentiert. In einem eigentümlichen Kontrast zu den grauenerregenden Exponaten steht das von den estnischen Architekten Indrek Peil und Siiri Vallner entworfene, schwebend-leichte Glasgehäuse des Museums, das nichts weniger als eine Ausstellung über Unterdrückung und Tod vermuten lässt. Das dezimierte Architekturerbe Das als Dauerokkupation interpretierte halbe Jahrhundert Sowjetherrschaft hat im Stadtbild seine Spuren hinterlassen. Von sowjetischen Bombern schwer beschädigt, musste Tallinn nach dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen wiederaufgebaut werden. Dass dies im historischen Zentrum auf den ersten Blick kaum auffällt, liegt daran, dass die Neubauten meist durchaus rücksichtsvoll in den gewachsenen Bestand eingefügt wurden. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem Entwurf

Abb. 2  Kühne Sowjetmoderne: der über 300 Meter hohe Fernsehturm. Aufnahme 2007.

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von Armas Lindgren und Wivi Lönn als Symbolbau der nationalen Emanzipation errichtete neoklassizistische Estonia-Theater wurde sogar aufwendig rekonstruiert. In den 1950er Jahren entstanden historisierende Bauensembles im Stil des pathetischen Monumentalismus der Stalinzeit. Die nachfolgende sozialistische Moderne setzte ihnen einige markante Solitäre entgegen, Abb. 3  Geschätzt trotz sowjetischer Herkunft: das stalinetwa das funktionalistizeitliche Kino „Sõprus“. Aufnahme 2007. sche Hochhaus des Hotels „Viru“ von Henno Sepmann und Mart Port oder auch, weitab des Stadtzentrums, die kühn als hyperbolischer Paraboloid geformte Großbühne für das traditionelle estnische Sängerfest und den Fernsehturm (Abb. 2), dessen Aussichtsrestaurant den Besucher mit einer kaum veränderten Inneneinrichtung der späten Sowjetzeit überrascht. Einige Sowjetbauten werden im heutigen Tallinn als Klassiker geschätzt. Das von Peeter Tarvas und August Volberg entworfene Kino „Sõprus“ etwa, ein Flaggschiff stalinistischer Baukunst mit einer theatralisch einschwingenden Front, wuchtigen Säulenreihen und sozialistisch-realistischen Reliefs, strahlt nach einer Restaurierung in neuem Glanz (Abb. 3). Viele, mitunter qualitätvolle Gebäude der letzten Jahrzehnte werden aber der Abrissbirne preisgegeben. Jüngstes Beispiel ist das postmoderne frühere Parteischulungszentrum, das einem geplanten Vergnügungskomplex weichen musste. Ähnlich wie in anderen postsozialistischen Städten sind solche Abbrüche in Tallinn inzwischen keinesfalls unumstritten. Mit 10 000 Unterschriften protestierte eine Bürgerinitiative gegen die Zerstörung des Gebäudes. Anhaltender Bauboom Doch das wird die Behörden kaum von weiteren Abrissgenehmigungen abhalten, denn die Investoren gieren nach innerstädtischen Grundstücken. Angesichts eines seit Mitte der 1990er Jahre anhaltenden Baubooms, berichtet Karin Hallas-Murula, Direktorin des Tallinner Architekturmuseums, können sich die estnischen Architekten vor Aufträgen kaum retten. Östlich der Altstadt ist bereits ein Downtown en miniature nach amerikanischem Vorbild aus dem Boden geschossen, bestehend aus ein paar Hochhäusern, die allerdings mit ihren uninspirierten Glasfassaden provinzielle Langeweile verströmen (Abb. 4). Gleiches gilt für das sich in der Nachbarschaft ausbreitende Einkaufszentrum



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„Viru Keskus“. Interessanter sind einige Büro- und Geschäftshäuser in der Nähe der Hafenterminals oder auch entlang der Straße nach Tartu. Vielfältig in Material und Form, mal betonsichtig, mal farbenfroh verkleidet, kubisch-sachlich oder lustvoll geschwungen, hermetisch in sich ruhend oder luftig-transparent, folgen sie den aktuellen Architekturtendenzen Westeuropas, vor Abb. 4  Unlautere Konkurrenz: neue Glastürme bedrängen allem Skandinaviens und alte Holzhütte. Aufnahme 2007. der Niederlande, gelegentlich auch der Schweiz. Verpönt sind dagegen die betulich-dekorativen Retrostile, wie sie derzeit etwa in Deutschland und Osteuropa Konjunktur haben. Durch den Bauboom wird nicht nur die Sowjetarchitektur, sondern vor allem die traditionelle Holzbaukunst (Abb. 4, 5) aus der Innenstadt verdrängt. In den Wohnvierteln aber können die sparsam dekorierten, dafür in allen erdenklichen Farben angestrichenen Häuser des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf eine Renaissance hoffen. Im alten Arbeiterquartier Kalamaja zum Beispiel, das derzeit von jungen Familien und Künstlern entdeckt wird, verwandeln sich die einstigen Behausungen der

Abb. 5  Bedrohtes Erbe: traditionelles Tallinner Wohnhaus. Aufnahme 2007.

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Abb. 6  Spektakulär, aber leer: das Museum für estnische Kunst. Aufnahme 2007.

Armen dank zunehmend fachgerechter Sanierungstätigkeit in schmucke, prestigetaugliche Domizile für die Mittelschicht. Der Tallinner Boom beschränkt sich nicht auf Kommerz- und Wohnbauten. So erhielten unlängst Estlands Juden mit dem so expressiven wie feierlichen Bau des aufstrebenden heimischen Architekturbüros KoKo (Andrus Köresaar, Raivo Kotov) die erste Synagoge seit dem Zweiten Weltkrieg. Einen spektakulären Kulturbau leistete sich Tallinn mit dem 2006 eröffneten Museum für estnische Kunst, kurz „Kumu“ genannt (Abb. 6). An ein Kalksteinplateau angedockt, umschließt der Bau auf kreissegmentförmigem Grundriss einen Lichthof in der Größe eines stattlichen antiken Amphitheaters. Der Besucher steigt über kaskadenartige Treppen und Rampen in die Tiefe, wo er von dem einladend einschwingenden, mit Kupferblech und Kalksteinbändern verkleideten Baukörper empfangen wird. Selten ist der Eingang zu einem Kunsttempel so meisterhaft in Szene gesetzt worden. Orte der Verlierer und der Gewinner Allein, es fehlt in dieser Inszenierung an Menschen. Denn so bemerkenswert der Bau des finnischen Architekten Pekka Vapaavuori ist, so unglücklich ist sein Standort gewählt. Das Kumu liegt im noblen Stadtteil Kadriorg (Katharinental), unweit der ba-



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Abb. 7  Ort der Verlierer: die Plattenbausiedlung Lasnamäe. Aufnahme 2007.

rocken Sommerresidenz Zar Peters I., damit aber auch fernab des Stadtzentrums. Der Verkehr einer achtspurigen Ausfallstraße donnert am Museum vorbei. Sie führt nach Lasnamäe, Tallinns größter Plattenbausiedlung aus den 1970–80er Jahren (Abb.  7). Über 100 000 Menschen wohnen hier, mehr als jeder vierte Tallinner. Trostlose Betonsilos, wohin das Auge reicht. Auf den Straßen hört man fast nur Russisch. Die Männer tragen bevorzugt Sportanzüge, Frauen verhelfen sich mit Glitzerapplikationen zu Glanz und verströmen Duftschwaden billigen Parfüms. Pfandleihhäuser bieten in Geldnot geratenen Bewohnern ihre Dienste an. Lasnamäe ist ein Ort der Wendeverlierer – aber nicht der Abgestürzten. Die leben in slumähnlichen Behausungen in Tallinns No-Go-Areas wie zum Beispiel der Hafenarbeitersiedlung Kopli am anderen Ende der Stadt. Fährt man von Lasnamäe einige Kilometer nordwärts, so erlebt man in den begehrten, in Strandnähe gelegenen Wohnvierteln Pirita und Viimsi weitere Kontraste. Manch ein walmdachgedecktes Einfamilienhausnormidyll für Besserverdiener ist hier seit dem Ende der Sowjetära entstanden. Doch die stilbildenden Esten von heute, jene, die wochenends zum Clubbing nach London fliegen, bevorzugen inzwischen schnörkellose Kisten im Bauhausstil (Abb. 8). Damit rezipieren sie zum einen trendbewusst die gesamteuropäische Strömung der „Zweiten Moderne“. Zum anderen aber hat diese Wiederentdeckung der schlichten Eleganz Neuen Bauens, wie Mart Kalm, Chef des Instituts für Kunstgeschichte der Tallinner Kunstakademie, erläutert, einige landesspezifische Gründe. Erstens wird mit dem Funktionalismus an den in den 1930er Jahren vorherrschenden Architekturstil der ersten estnischen Republik an-

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Abb. 8  Neues Bauen für Neue Esten: Wohnhaus in der Bauhaustradition. Aufnahme 2007.

geknüpft und damit einer als Goldene Zeit verklärten nationalen Tradition Reverenz erwiesen. Zweitens steht der Funktionalismus in der Wahrnehmung gebildeter Esten für nordeuropäisch-skandinavische Klarheit und Ehrlichkeit. Und drittens dient er der Abgrenzung von den in bizarren Türmchen, Giebelchen und Erkerchen schwelgenden Märchenschlössern der Neuen Russen. Auch wenn es die in Estland kaum gibt.

Bau en f ü r d i e Versöhnung Aufbruch in Belfast Nordirland, die von pro-irischen Katholiken und probritischen Protestanten umkämpfte notorische Unruheprovinz Großbritanniens, sieht sich an der Schwelle einer neuen Ära. Nach drei Jahrzehnten Gewalt und einem zähen, von Rückschlägen unterbrochenen Friedensprozess, der 2007 in der Vereidigung einer von Vertretern beider Bevölkerungsgruppen gebildeten Regionalregierung gipfelte, setzt die Hoffnung auf Versöhnung einen beispiellosen Zukunftsoptimismus frei. In den Reden nordirischer Politiker werden unablässig die Chancen einer, wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, „post-conflict situation“ beschworen – Chancen nicht nur auf dauerhaften Frieden, sondern auch auf wirtschaftliche und kulturelle Prosperität. In Nordirlands Hauptstadt hat der Aufbruch in die Zukunft aber bereits in den 1990er Jahren begonnen. Spätestens seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 erlebt Belfast einen Bauboom. Neue Wohn- und Bürobauten, Einkaufszentren und Hotels wurden aus dem Boden gestampft, marode Altbauten entkernt und auf Hochglanz gebracht, Straßen und Plätze neu gestaltet. Bars und Restaurants schossen wie Pilze aus dem Boden und brachten Leben in die einst trostlose Innenstadt. Ähnlich vielen altindustriellen Hafenstädten entdeckte Belfast vor allem die Gunst der Lage am Wasser. An den Ufern des in die Bucht von Belfast mündenden Lagan-Flusses entstanden das städtische Konzert- und Konferenzzentrum Waterfront Hall und ein riesiger Vergnügungskomplex namens Odyssey mit dazugehörigem Eishockey-Stadion. Ambitionierte Firmendomizile und Apartmenthäuser für Besserverdiener säumen den Wasserweg (Abb. 1). Die Neubauten am Lagan repräsentieren nicht nur ökonomisch, sondern auch metaphorisch das neue, aus dem Schatten der Vergangenheit tretende Belfast, wie es der Stadtverwaltung als Zukunftsvision vorschwebt. Gleichsam als dessen Personifikation wurde an der Uferpromenade eine transparente weibliche Skulptur aus schwungvoll gebogenen Metallstäben aufgestellt. Auf einem Erdball stehend, die Arme gen Himmel erhebend, soll sie die Zuversicht auf Frieden und Versöhnung symbolisieren. Eine Erläuterungsinschrift unterstützt die visuelle Botschaft der Figur: Sie bringe das oberste Ziel der Stadtpolitik zum Ausdruck, Menschen zusammenzubringen, Brücken über die Gräben der Gesellschaft zu schlagen, zum Einsatz für eine glückliche Existenz auf der Erde bei gegenseitiger Achtung kultureller Eigenheiten anzustiften, und so weiter. Bei so viel von der Stadtverwaltung propagiertem Zukunftssinn nimmt es nicht wunder, dass sich Investitionen in Belfast lohnen. Die Immobilienpreise steigen, die Geschäfte brummen. Einen wachsenden Anteil an dem Aufschwung hat der Tourismus: Auch wenn sich in Großbritannien nur langsam die Erkenntnis durchsetzt, dass eine Reise in die einstige Bürgerkriegshölle nicht mehr mit dem Risiko verbunden ist, seine Gliedmaßen zu verlieren, nehmen die Besucherzahlen kontinuierlich zu. Wich-

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Abb. 1  Vorboten des neuen Belfast: Wohn- und Bürobauten mit postindustriellem Charme am Ufer des Lagan. Aufnahme 2007.

tiger noch sind aber die Firmenansiedlungen und die Zuwanderung von Neubürgern, die durch die niedrige Arbeitslosigkeit gelockt werden. Zudem verheißt die junge Bevölkerungsstruktur der Stadt auch künftig eine vitale demographische Entwicklung. Unter dem Eindruck so rosiger Zukunftsaussichten wird in Belfast derzeit an neuen Bauprojekten gearbeitet, die die bisherigen in den Schatten stellen werden. Unzählige Baukräne tanzen über der Stadt, Bagger fressen sich in die Erde, fast wie im Berlin der Nachwendezeit. Einen Steinwurf vom majestätischen viktorianischen Rathaus entfernt entsteht unter dem Werbemotto „Renaissance für Belfast“ das Einkaufszentrum Victoria Square mit astronomischen 75 000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Am Lagan-Ufer begannen 2006 die Bauarbeiten für den gut hundert Meter hohen Obel Tower. Sämtliche Wohnungen des projektierten Glashochhauses sollen im voraus verkauft worden sein – und zwar binnen achtundvierzig Stunden, wie die Investoren stolz versichern. Das ehrgeizigste Zukunftsprojekt aber ist das am gegenüberliegenden Flussufer geplante Titanic Quarter. Rund um die legendäre Werft Harland & Wolff soll innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre ein neues Wohn- und Geschäftsviertel mit bis zu 5 000 Wohnungen und 180 000 Quadratmetern Bürofläche entstehen, nach Angaben der Investoren das größte und – selbstredend – „aufregendste“ Projekt dieser Art in Europa. Das heute weitgehend brachliegende Areal ist ein Relikt der großen industriellen Vergangenheit Belfasts, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur größer als das konkurrierende Dublin war, sondern auch zu den bedeutendsten Städten im gesamten



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Großbritannien zählte. Im Jahr 1911 lief hier die RMS Titanic, damals das größte Passagierschiff der Welt, vom Stapel, um bald darauf bei ihrer Jungfernfahrt mit einem Eisberg zu kollidieren und eineinhalb Tausend Menschen in den Tod zu reißen. Nicht erst mit dem 1969 ausgebrochenen Bürgerkrieg, sondern bereits mit Abb. 2  Gefängnis? Kaserne? Amerikanisches Konsulat? den deutschen BombardeNein, die Festung schützt einen Kindergarten. Sein Name: „Hoffnung“. Aufnahme 2007. ments im Zweiten Weltkrieg und vor allem dem Aufkommen des Flugzeugs als Massenverkehrsmittel begann der Niedergang des einst weltweit führenden Schiffbaustandorts. Heute aber, in der Zeit des nachindustriellen Strukturwandels, schlägt die Stadt Belfast wieder aus der Berühmtheit der Titanic Kapital, zum Beispiel indem sie einen medial gestützten, interaktiven Titanic-Parcours zu den Orten der Erinnerung an das Unglücksschiff als touristische Attraktion anpreist. So ficht es auch niemanden an, dass das exklusive Viertel an der Werft, das wie kein anderes Projekt für den Aufbruch Belfasts steht, einen Namen tragen soll, der an Untergang denken lässt. Dass die aufstrebende Stadt mit ihren Bauaktivitäten neue architektonische Qualitätsstandards setzen würde, kann man nicht sagen. Die bisherigen Bauten bieten alles in allem ein vertrautes Potpourri aus mit Stahl und Glas durchsetzten Ziegel- und Natursteinfassaden, Giebeln und Erkern, runden Ecken und Kuppeln mit mall-artigen Höfen und Passagen im Inneren. Auch die auf eine aufgelockerte Blockrandbebauung setzenden Entwürfe für das Titanic Quarter versprechen nicht gerade einen baukünstlerischen Quantensprung gegenüber vergleichbaren Projekten in London und Dublin, oder auch Hamburg und Frankfurt. Einzigartig ist aber der glücksverheißende Fortschrittsglaube, mit dem die Planungen von Stadt und Investoren vermarktet werden – eine Zukunftseuphorie, die eher in die Zeit des Titanic-Stapellaufs als in unsere utopiefeindlichen Tage zu passen scheint. So inszeniert im Odyssey-Vergnügungszentrum ein Werbefilm die vom örtlichen Architekturbüro Robinson McIlwaine entworfenen Erstbauten für das Titanic Quarter mit einem feierlichen Pathos als Kulissen für ein beschwingtes, sorgenfreies Leben dauerentspannter Zukunfts-Belfaster. Doch bei allem Wandel der letzten Jahre gibt es auch noch das alte Belfast, eine Stadt der Verbohrtheit und des Hasses, die in einem denkbar krassen Gegensatz zu den enthusiastischen Zukunftsvisionen steht. Nur im Zentrum und in einigen privilegierten Vierteln hat der neue Wohlstand unübersehbar eine therapeutische, zivilisierende Wirkung entfalten können: Auf den hübschen Straßen und Plätzen, in den gediege-

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nen Geschäften und Cafés präsentiert sich Belfast als eine typisch europäische Stadt des ausgelassenen Konsums. Doch schon wenige Schritte vom Zentrum entfernt weisen Schilder an den Kneipeneingängen auf das rigorose Verbot des Tragens von BaseballmütAbb. 3  Das alte Belfast: „Friedensmauer“ zwischen   zen und Fußballfarben hin katholischem und protestantischem Wohnviertel.   – weil diese als Attribute Aufnahme 2007. der Zugehörigkeit zu einer der verfeindeten Bevölkerungsgruppen gelten und Gewaltausbrüche provozieren können. In den traditionellen Unruhevierteln vor allem im Westen der Stadt, in denen es nach wie vor gelegentlich zu Krawallen kommt, sind solche Schilder überflüssig. Denn hier würde sich sowieso kein Katholik in eine von Protestanten geführte Bar verirren, und umgekehrt. Nicht nur Kneipen und Geschäfte, auch Schulen und Kindergärten sind bis auf Ausnahmen strikt nach Konfessionen getrennt. Und da die Gewaltbereitschaft auch vor Kindern nicht haltmacht, sind sie, wie Kasernen einer verhassten Besatzungsmacht, mit hohen Mauern, Gittern und Stacheldraht vor Anschlägen geschützt (Abb. 2). Selbst Gotteshäuser wurden zu Festungen ausgebaut, die an mittelalterliche Wehrkirchen erinnern. Sichtbarster Ausdruck der anhaltenden Feindschaft sind aber die sogenannten „Friedensmauern“, die die Wohnviertel beider Bevölkerungsgruppen trennen (Abb. 3). Einem deutschen Besucher drängt sich unweigerlich die Erinnerung an die Berliner Mauer auf. Doch die Belfaster „Peace Walls“ sind doppelt so hoch wie der „antifaschistische Schutzwall“. Die Brutalisierung der nordirischen Gesellschaft hat im Stadtbild aber nicht nur die mannigfaltigsten Wehranlagen, sondern auch Kunstwerke hinterlassen. Allerdings solche von wenig erbaulichem Charakter: An den Häuserwänden prangen Symbole, hasserfüllte Losungen und figürliche Bilder der paramilitärischen Gruppierungen – auf katholischer Seite der IRA, auf protestantischer mehrerer Verbände, die auch untereinander verfeindet sind (Abb. 4). Von ungeschickter Hand gemalte Porträts der „Märtyrer“ wechseln mit Kampfszenen, ja sogar mit ikonographisch komplexen Allegorien. Der reale Bürgerkrieg, der mehr als dreieinhalb Tausend Menschenleben kostete, fand hier eine Entsprechung in einem Stellungskrieg der Bilder. Manchmal freilich scheinen die maskierten Krieger mit ihren Maschinengewehren auf die vor den Häusern spielenden Kinder der eigenen Bevölkerungsgruppe zu zielen. Dieses alte Belfast, das Belfast der Hassbilder, der Trennmauern und stacheldrahtbewehrten Kindergärten, das noch immer den größten Teil der Stadt ausmacht, muss erst untergehen, damit das neue Belfast die Zukunft gewinnen kann.



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Abb. 4  Wände des Hasses: Bildpropaganda der paramilitärischen, protestantischen Ulster Freedom Fighters. Aufnahme 2007.

P o r n os au f d em Pl asmab ildschirm scha ue n und an bu n t en D r ink s nippe n Polen debattiert über „gated communities“ Schon immer und überall auf der Welt haben Reiche dazu geneigt, sich und ihr Eigentum hinter bewachten Mauern zu verschanzen. In Amerika hat dieses Bedürfnis die berüchtigten „gated communities“ hervorgebracht, die sich seit einiger Zeit zunehmend auch in Europa ausbreiten – zum Entsetzen vieler Stadtplaner, die darin eine Gefahr für die gewachsene „Europäische Stadt“ und den sozialen Zusammenhalt ihrer Bürger sehen. Zwar ist Deutschland dank seiner sozialen Stabilität und verhältnismäßig hohen Planungskultur von abgeriegelten Siedlungen bisher weitgehend verschont geblieben. In England und Frankreich etwa sind sie aber längst eine begehrte Wohnform. Zu einer echten Plage entwickeln sie sich derweil in einigen postsozialistischen Ländern, in Russland und in der Ukraine sowieso, aber auch in Polen, wo große Teile der Bevölkerung unter einer mitunter paranoiden Angst vor Kriminalität leiden. Allein in Warschau existieren heute mehrere Hundert bewachte Wohnkomplexe. Und sie vermehren sich rasant, träumen doch einer Umfrage zufolge fast neun von zehn Bewohnern Warschaus vom Leben hinter der Mauer. Inzwischen halten „gated communities“ auch in der Provinz Einzug und lösen in der Presse und vor allem im Internet Diskussionen aus, die die Bevölkerung in Befürworter und Gegner, in Bewunderer, Neider und Spötter spalten. Eines der unzähligen Beispiele dafür bietet eine Kontroverse um die Anlage „Garden House“ im Stettiner Stadtteil Warszewo (deutsch: Warsow). Dort entstanden seit 2006 Geschosswohnbauten in einem betulichen Retrostil (Abb. 1), der vom Bauträger in üblicher Investorensprache als geglückte Verbindung von Modernität und Tradition gepriesen wird. Die Häuser, so heißt es in der Projektbeschreibung, „knüpfen in ihrer Architektur an die guten alten Entwurfsprinzipien der Vorkriegszeit an“. Ganz und gar zeitgenössisch ist dagegen das Sicherheitskonzept: „Das eingefriedete, mit einem Tor verschlossene und einem Videoüberwachungssystem ausgestattete Gelände“, so wird versprochen, „gewährleistet Sicherheit und Ruhe für die Bewohner.“ Noch vor Baubeginn meldeten sich in einem Internetforum die ersten eifrigen Kommentatoren des Projekts zu Wort. Ein Diskussionsteilnehmer mit dem Pseudonym „jacca“ lobt die Architektur: „Das Gebäude auf der linken Seite ist geradezu ein wenig viktorianisch, würde ich sagen, es gefällt mir.“ „Sehr nett fürs Auge, diese Architektur“, pflichtet ihm „ziMer“ bei, „ich kann die Fertigstellung kaum abwarten“. Diskutant „Raine“ stellt sogar stolz fest: „Es gibt eine Mode für geschlossene und bewachte Siedlungen, und Warszewo ist darin führend.“ Darauf ereifert sich „Bobekk“: „Ich hasse geschlossene Siedlungen. Ich sehe darin eine Entfremdung der Bewohner.“ Für mehr Gelassenheit plädiert „jacca“: „Diejenigen, die sich entfremden wollen, sollen es doch tun. Für mich ist das kein Grund, solche Siedlungen zu hassen.“ Ähnlich



Polen dabattiert über „gated communities“

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Abb. 1    Begehrtes   Wohnen hinter dem Zaun: die geschlossene Siedlung   „Garden House“ in Stettin. Aufnahme   um 2009.

sieht es „Piotr-Stettin“: „Viele Leute wünschen einfach nicht, dass sich Fremde in ihrer Siedlung herumtreiben. Das ist doch ganz verständlich. Andererseits“, gibt er zu bedenken, „existiert in Warszewo nicht wirklich ein Kriminalitätsproblem, das Abriegeln von Siedlungen dient also mehr dem Prestige und der Angeberei als der Sicherheit.“ Später fügt er nachdenklich hinzu: „Wenn es so weitergeht, werden irgendwann nur noch die Hauptstraßen allgemein zugänglich bleiben.“ Die Zukunftsvision des Internet-Diskutanten Piotr-Stettin deckt sich mit den Befürchtungen von Stadtplanern, Architekten und Soziologen. Sie beklagen, dass die geschlossenen Siedlungen Privatheit auf Kosten der allgemeinen Zugänglichkeit erzwingen. „Die Stadtfeindlichkeit und der Egoismus dieses Bautyps sind offenkundig“, meint etwa der polnische Architekt Krzysztof Nawratek und nennt den Mangel an demokratischen Traditionen und Verhaltensstandards in postsozialistischen Städten als Grund für dessen Erfolg im östlichen Europa. Auch in Bezug auf die psychischen Motive der Bewohner stimmen Piotr-Stettins lakonische Kommentare mit professionellen Analysen überein. So ist immer wieder betont worden, dass das Sicherheitsbedürfnis meist nicht der einzige Grund für einen Umzug in eine bewachte Anlage ist. Mindestens ebenso wichtig ist, so der Soziologe Bohdan Jałowiecki, der Wunsch der neuen ökonomischen Eliten, durch Absonderung von anderen Bevölkerungsgruppen ihren sozialen Status zu demonstrieren – und damit zugleich zu heben. Selbsterhebung durch freiwillige Isolation ist zwar ein universales neureiches Verhaltensmuster, das in allen Gesellschaften auftritt. Doch in der besonderen Konjunktur der demonstrativ elitären, abgeriegelten Wohnkomplexe im postsozialistischen Europa ist, darauf weist der Soziologe Maciej Gdula hin, auch eine Reaktion auf die frühere Gleichmacherei in den Plattenbausiedlungen zu sehen.

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Abb. 2  Ein Hauch von Weltläufigkeit durch Isolation: Warschauer Wohnsilos, zu einer geschlossenen Siedlung mutiert. Aufnahme um 2007.

Ein Großteil der Polen lebt aber noch immer in der Platte und schaut auf die schicken Wohnparks ihrer einstigen, zu Wohlstand gekommenen Nachbarn mit einer masochistischen Mischung aus Neid und Vergötzung, wie früher auf die Autos der Westtouristen und die Schaufenster der Devisenläden. Dies inspirierte einen Blogger mit dem Pseudonym „GALAnt“ zu einer treffsicheren Satire. In einem fingierten Bericht lässt er die Bewohner eines Warschauer Plattenbaus mit Blick auf eine neue geschlossene Siedlung zu Wort kommen. „Fühlt ihr euch schlechter, seit ihr neben einem schönen, bewachten Apartmenthaus wohnt? Sind solche Siedlungen ein Übel?“, fragt GALAnt. „Wir fühlen uns schlechter, aber diese Siedlungen sind super“, antworten die Deklassierten dialektisch. „Ich schaue durch die Fenster auf die wunderschönen Wohnungseinrichtungen“, schwärmt einer von ihnen. „Sie haben dort so einen Minimalismus. Sie haben keine Gardinen, und man sieht phantastische DVD-Player und Plasmabildschirme. Die Bildschirme sind ganz flach, tagsüber kann man sie kaum erkennen. Erst abends, wenn die Leute Pornos schauen, sieht man die Bildqualität. Dieser Manager, der da wohnt, schaut häufig Pornos und nippt dabei an solchen bunten Drinks, von denen ich noch nicht einmal weiß, wie sie heißen. Die müssen wohl aus dem Devisenladen, also aus dem Westen sein, vielleicht sogar aus Amerika, denn in unserem Tesco-Einkaufszentrum habe ich so was nicht gesehen. Das Trinkglas ist auch irgendwie super. Also habe ich mir ein ähnliches bei Ikea gekauft. Ich wollte auch, dass mein Leben ähnlich wird.“ Für diesen kollektiven Wunsch lässt GALAnt die Nachbargemeinschaft eine kreative Lösung finden: „Wir hatten den Entschluss gefasst, auch etwas dafür zu tun, dass unser Block eingezäunt wird. Doch die Hausverwaltung gab keine Genehmigung, da wir so die Zufahrt zu dem benachbarten Apartmenthaus blockieren würden. Also haben wir beschlossen, unser Stockwerk mit einem Gitter abzuriegeln. Mein Nachbar hat darauf eine Inschrift angelötet: ‚Casa Bonito House Excellence, Stock 7 (seven)’. Wenn jetzt mein Schwager kommt, sagt er, dass es bei uns so weltläufig aussieht.“ Die Wirklichkeit im heutigen Warschau steht der Phantasie des Bloggers nicht nach: Einige Eigentümergemeinschaften von Plattenbauten haben ihre Blocks inzwischen einzäunen lassen und einen Wächter eingestellt (Abb. 2).

Kei n e Bel eh runge n Urbanisten staunen über Chinas Stadtentwicklung – und sind ratlos Das „International Seminar on Urban Form“, ein weltweiter Zusammenschluss von Erforschern des Wandels städtischer Strukturen, hat sich für ihre Konferenz von 2009 einen Ort ausgesucht, der als Studienobjekt kaum geeigneter sein könnte: Kanton alias Guangzhou, eine der größten und am schnellsten wachsenden Städte Chinas. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte hat die Hauptstadt der Provinz Guangdong ihre Bevölkerungszahl verdreifacht. Heute leben hier zehn bis dreizehn Millionen Menschen, genauer weiß es niemand. Anstelle der planierten traditionellen Wohnviertel türmen sich gigantische Baumassen auf (Abb. 1, 5), östlich des alten Stadtkerns entsteht auf einstigem Ackerland eine Neustadt mit himmelstürmenden Wolkenkratzern, wie sie ganz Europa nicht kennt. Monströse Schnellstraßen, oftmals auf mehreren Etagen in schwindelerregender Höhe aufgeständert, zerschneiden die endlos wirkende Stadtlandschaft. Lärm, Smog und Gedränge gehen mit subtropischer Hitze eine anstrengende Verbindung ein, vor der nur die klimatisierten Innenräume Zuflucht bieten. Kanton ist Teil der südostchinesischen Metropolregion. Unweit entfernt liegt das noch rasanter wachsende Shenzhen (Abb. 2). Vor drei Jahrzehnten befanden sich hier ein paar Dörfer, heute wird die Einwohnerzahl der Megastadt inoffiziell auf bis zu achtzehn Millionen geschätzt. Die Turbourbanisierung verläuft nicht ohne soziale Verwerfungen: Shenzhen ist bekannt für Kriminalität und Prostitution. Dessenungeachtet gilt es, wie der in Hongkong lehrende Stadthistoriker Ian Morley betont, als eine der Städte mit der höchsten Lebensqualität in China. Das liegt nicht zuletzt an der für asiatische Metropolen zum Teil moderaten Bebauungsdichte. Der Vorzug ist teuer erkauft: Um Platz zu schaffen, wurden nicht nur Dörfer eingeebnet, sondern sogar ganze Berge in die Luft gesprengt. Für bauwillige Investoren ist Shenzhen ein Paradies. Binnen zwei Wochen erhält man eine Baugenehmigung, in weniger als einem Jahr lässt sich ein Wolkenkratzer aus dem Boden stampfen. Ein Bauherr soll es kürzlich sogar in sechs Monaten geschafft haben. Was war die Triebkraft von Shenzhens atemberaubendem Aufstieg? Die chinesischen Stadtforscher haben eine einfache Antwort: Deng Xiaoping. Chinas Staatsreformer soll auf die Landkarte gezeigt und „Es werde!“ gesprochen haben. Die Demiurgengeste steht in der Tradition der Industriestadtgründungen Stalins und seiner Vasallen vor mehr als einem halben Jahrhundert. Doch Deng Xiaoping war ungleich erfolgreicher, weil er sich mit den Kräften des Marktes verbündete. In dem zur Sonderwirtschaftszone erklärten Shenzhen wurde mit Hilfe ausländischer Investoren Chinas staatlich kontrollierter Kapitalismus erprobt. In Windeseile entwickelte sich die Region zu einem der weltweit dynamischsten Industriezentren. Längst hat Shenzhen das angrenzende Hongkong an Größe übertroffen. Für Urbanisten aber ist die einstige britische Kronkolonie und heutige Sonderverwaltungszone

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Abb. 1  Die Abrissbirnen machen sich vermutlich schon zum Tanz bereit: traditionelles Wohn- und Geschäftsviertel in Kanton, von einem invasiven Hotelneubau bedrängt. Aufnahme 2009.

unter Chinas Hoheit nach wie vor ein Untersuchungsobjekt von höchstem Interesse. Schon deshalb, weil sie zu den am dichtesten besiedelten Agglomerationen der Welt gehört. Aus Platzmangel breitet sich Hongkong vor allem in der Vertikalen aus, einige seiner Wolkenkratzer gehören zu den höchsten auf dem Globus (Abb. 3). Doch Einzelbauten, seien sie noch so exzentrisch, können sich hier nur kurzzeitig behaupten. Früher oder später gehen sie im Gedränge ihrer aufwärtsstrebenden Nachbarn unter. Selten fühlt man sich so an die zwischen Faszination und Horror schwankenden Visionen aus Fritz Langs Metropolis-Film erinnert wie angesichts dieses Bautenmassivs. Eine Horrormetropole ist Hongkong nicht nur für Liebhaber europäischer Stadtbaukunst, sondern auch für einen Großteil seiner Bewohner. Denn die Bevölkerungsdichte bringt Mangel an öffentlichem Raum und vor allem horrende

Abb. 2  Investorenparadies mit atemberaubendem Wachstum: die Megastadt Shenzhen. Aufnahme 2007.



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Abb. 3  Stadt der Vertikale: nächtlicher Blick auf Hongkong. Aufnahme 2008.

Preise für Kleinstwohnungen mit sich (Abb. 4). Unterkünfte, die man in Mitteleuropa als menschenwürdig ansehen würde, sind hier nur den Wohlhabendsten vorbehalten. In puncto Ökologie aber, meint der ansässige Architekturprofessor Beisi Jia, sei der Moloch besser als sein Ruf. Nur ein Bruchteil der Bewohner besitzt ein Auto, und dank eines effizienten Nahverkehrssystems gelangt man in einer Viertelstunde in Erholungsgebiete – genauso schnell wie im beschaulichen Zürich, wo man auf diesen Vorzug besonders stolz sei. Während Hongkong seinen Zenit bereits überschritten hat, konzentrieren sich Chinas Stadtvisionen auf die aufstrebenden Zentren des Festlandes. Auf Shanghai etwa, Ausrichter der Weltausstellung Abb. 4  Nichts für Klaustrophobiker: Hochvon 2010. Der chinesische Architekt häuser mit Kleinstwohnungen in Hongkong. Jingtang He pries in seinem Vortrag den Aufnahme 2009. von ihm für diesen Anlass entworfenen China-Pavillon als ein in der urchinesischen „Idee der Harmonie“ gründendes Musterbeispiel für die Versöhnung von Modernität und regionaler Tradition. Seinen Harmonieverheißungen steht die Wirklichkeit des Konferenzorts Kanton entgegen. Bis auf wenige Traditionsinseln wurden die Relikte der Vergangenheit abgeräumt, um monotonen Großwohnblöcken oder banalen Bürotürmen Platz zu machen, wie sie sich auf der ganzen Welt ausbreiten. Über die Austauschbarkeit dieser

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Abb. 5  Himmelstürmende Heimeligkeit: stark gezuckerte Neubauten in Kanton. Aufnahme 2009.

Architektur können auch die gelegentlich als regionalistisches Alibi aufgesetzten, pagodenartigen Dachaufbauten nicht hinwegtäuschen. Hinzu kommen die Pannen der Verkehrsplanung. Ein Beispiel ist die Lage des Luxushotels, in dem ein Teil der Konferenzteilnehmer untergebracht war. Direkt gegenüber befindet sich Kantons Ostbahnhof. Doch zu Fuß führt kein Weg zu dem Knotenpunkt, denn dazwischen verläuft eine unüberwindbare zwölfspurige Stadtautobahn. Piper Gaubatz, eine Stadtgeographin von der University of Massachusetts, plädierte denn auch dafür, zumindest in den weniger unter Wachstumsdruck stehenden Regionen das Urbanisierungstempo zu drosseln. Doch sie tat dies mit angelsächsischer Zurückhaltung. Und auch die übrigen Gäste aus westlichen Industrieländern hielten sich mit Belehrungen zurück. Zwar mögen sie immer wieder gedacht haben, dass China mit seinem ungebrochenen Fortschrittsglauben dabei ist, die Fehler des Westens zu wiederholen. Etwa beim Anblick der an den Geschwindigkeitsrausch des Futurismus erinnernden Computeranimationen, in denen die Autos mit einem Tempo durch die Städte rasen, das nur auf deutschen Autobahnen erlaubt ist. Auch wird man den Eindruck nicht los, dass viele Großprojekte, wie zum Beispiel Kantons über sechshundert Meter hoher Fernsehturm, weniger dem praktischen Nutzen als der Befriedigung von Eitelkeiten dienen.



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Andererseits gibt es für Chinas Großstädte keine ökologisch vertretbare Alternative zu Höhendrang und Verdichtung. Zudem lässt sich ehrlicherweise nicht bestreiten, dass die neuen Wohnblöcke unvergleichlich bessere Lebensbedingungen bieten als die pittoresken, aber meist elenden traditionellen Behausungen, in denen die Bewohner auf noch engerem Raum zusammengepfercht sind. Dass diese in die Planungsprozesse nicht einbezogen werden, ist bekannt. Ebenso, dass die harschen chinesischen Methoden von Geburtenkontrolle und Zuzugsbeschränkung mit westlichen Menschenrechtsidealen nicht vereinbar sind. Ohne die starke, ordnende Hand einer technokratischen Diktatur wären Chinas Städte aber wohl noch unwirtlicher. Der Westen, der den Bevölkerungsdruck nicht mehr kennt, kann China keine Rezepte für die Stadtentwicklung bieten, unser luxuriöses Alteuropa schon gar nicht. Das war eine unausgesprochene Erkenntnis der Konferenz.

Herau sg ep u t z t f ür de n Frie de n Die Sanierung der georgischen Kleinstadt Signagi Die kaukasische Republik Georgien gehört zu jenen Staaten aus der Erbmasse der Sowjetunion, die ihre Unabhängigkeit mit enormen Folgekosten erkauft haben. Bürgerkriegsähnliche Zustände, die anhaltenden Regionalkonflikte um Abchasien und Südossetien, nicht zuletzt die Destabilisierungspolitik Russlands hatten eine kontinuierliche Entwicklung verhindert. Im Jahr 2008 schließlich stürzte der verlorene Krieg um Südossetien das Land in eine neue Krise und zerstörte viele Hoffnungen. Dazu gehörte auch die auf eine rasche Ankurbelung des internationalen Tourismus, die sich die prowestliche Regierung unter Präsident Saakaschwili vorgenommen hatte. Aufgabe des öffentlichen Raums Dabei ist aber schon der bauliche Zustand der georgischen Städte ein Hindernis. Selbst in der Hauptstadt Tbilissi ist ein Großteil der Altstadt kaum noch zu retten, auch wenn einige malerische Gassen saniert wurden. Dort hatten sich Straßencafés und Kunsthandwerksläden vollends auf die schon vor dem Krieg nur spärlich eintreffenden Gäste aus dem Ausland eingerichtet, denn für Einheimische sind sie viel zu teuer. Ringsum regiert aber der Verfall: überall bröckelnde Fassaden mit breiten Rissen im Mauerwerk. Bei vielen Häusern wundert man sich, dass sie noch nicht zusammengefallen sind – und erschrickt darüber, dass in ihnen noch Menschen wohnen. Noch desolater sehen die Städte in der Provinz aus. Etwa in Kachetien, einer Weinbauregion, die wegen ihrer vielen Kunstschätze und landschaftlichen Reize als die Toskana Georgiens bezeichnet wird. Die alte Residenzstadt Telawi zum Beispiel lockt mit einer von persischer Architektur beeinflussten Festung und kostbaren, bis in die frühchristliche Zeit zurückreichenden Kreuzkuppelkirchen in der Umgebung. Das heutige Stadtbild aber löst Fluchtreflexe aus. Gähnend leere Straßen mit erodierendem Belag voller Fallgruben, triste Häuserreihen, rund um den Hauptplatz einige verfallende Bauten aus der Sowjetära. Weit und breit kein Café, noch nicht einmal ein Weinausschank, den man hier, am Anfang der Kachetinischen Weinstraße, erwarten könnte. Aufgegeben wirkt der öffentliche Raum in Telawi, das städtische Leben scheint sich in die Privathäuser zurückgezogen zu haben. Eine ähnlich drückende Stimmung lastet auch auf den übrigen Ortschaften Kachetiens. Überwältigt von den Naturschönheiten der Region, beeindruckt von der Würde der einsamen Kirchen und Burgen, angerührt von der Gastfreundlichkeit der Menschen, wird man beim Anblick der Siedlungen regelmäßig trübsinnig.



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Stadtsanierung im Expressverfahren Umso mehr erstaunt das freundliche Bild, das die Kleinstadt Signagi bietet (Abb. 1). Der auf einem Hochplateau mit atemberaubendem Blick auf das schneebedeckte Massiv des Großen Kaukasus gelegene Ort zählt zu den reizvollsten in Georgien. Mit dem seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Gewirr verwinkelter Gassen und intimer Plätze, der vollständig erhaltenen, turmbewehrten Stadtmauer und den gepflegten steinernen Wohnhäusern mit kunstvoll geschnitzten Holzveranden und Balkonen entspricht Signagi geradezu idealtypisch dem touristischen Sehnsuchtsbild einer pittoresken, von Modernisierungsschüben verschonten Kleinstadt, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Mediterrane Heiterkeit meint man an diesem Ort zu verspüren, den schon im 19. Jahrhundert Künstler und Bohémiens für sich entdeckt haben sollen. Flaneure bevölkern die Straßen, Familien mit Kindern belagern die Parkbänke. Warum ist Signagi so anders als die anderen Städte Georgiens? Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Ort von den Bewohnern angenommen wird, könnte fast darüber hinwegtäuschen, dass sich seine heutige Atmosphäre weniger gewachsenen Traditionen als einem erst unlängst erfolgten, konzentrierten Eingriff des Staates verdankt. In der Sowjetzeit notdürftig instand gehalten, erlebte Signagi danach einen ebenso rapiden Niedergang wie die übrigen Kleinstädte des Landes. Allein durch die

Abb. 1  Atemberaubend idyllisch: das auf einem Hochplateau in der ostgeorgischen Region Kachetien gelegene Signagi. Aufnahme 2008.

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Abb. 2  Ergebnis einer   denkmalpflegerischen   Rosskur: Straßenbild in   Signagi. Aufnahme 2008.

Schließung der Textilfabrik gingen achthundert Arbeitsplätze verloren. Wer dazu imstande war, wanderte nach Tbilissi oder ins Ausland ab. Die Einwohnerzahl halbierte sich beinahe – auf heute nur noch rund zweieinhalbtausend Menschen. Bis zum Jahr 2007 lag Signagi baulich ebenso darnieder wie heute noch Telawi. Dann aber änderte sich die Situation – und zwar im Eiltempo. Denn die georgische Regierung hatte beschlossen, einige touristisch besonders attraktive Städte unter massivem Einsatz staatlicher Mittel binnen kürzester Zeit so herzurichten, dass sie sich zu Besuchermagneten entwickeln können. Dabei bestimmte man Signagi zum Pilotprojekt. Seitdem wurden in Windeseile Straßen gepflastert, Plätze neu gestaltet, Fassaden restauriert, Dächer eingedeckt (Abb. 2). Leider entstanden auch einige Neubauten, die, gelinge gesagt, nicht als architektonischer Gewinn zu verbuchen sind, etwa das post-postmoderne Rathaus mit einem barockisierenden Turmhelm und gläsernem Erker (Abb. 3). Doch überwiegen die Vorteile dieser Kampagne, von der vor allem die Altbausubstanz profitierte. Die mehrheitlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wohnhäuser wurden gesichert. Unter dem Putz kam oftmals das traditionelle kachetinische Mauerwerk aus alternierenden Ziegel- und Feldsteinlagen zum Vorschein. Die meist verarmten Eigentümer, zumindest die auskunftsfreudigen unter ihnen, zeigen sich begeistert. Denn die Sanierungsaktion hat ihnen eine Teilrenovation auf Staatskosten und zugleich eine Wertsteigerung der Häuser eingebracht. Sie schwärmen denn auch vom Engagement der georgischen Regierung, die andernorts schon vor dem Südossetien-Desaster sehr umstritten war.



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Allheilmittel Tourismus? Voll des Lobs sind auch Signagis Geschäftsleute, etwa der Manager eines neuen Luxushotels am Rathausplatz. Nachdem sich Präsident Saakaschwili höchstselbst zur Einweihungsfeier angekündigt hatte, arbeiteten die Bauleute wochenlang Tag und Nacht, um den Termin einzuhalten. Es ist nicht das einzige neu entstandene Hotel Signagis. Denn die staatliche Stadtsanierungskampagne hatte in kürzester Zeit die erhoffte Investitionswelle ausgelöst: Auf Schritt und Tritt entstanden neue Häuser, Geschäfte, Restaurants – und damit jene touristische Infrastruktur, die andernorts fehlt. Nach dem Krieg um Südossetien sieht es nicht danach aus, als würde diese Infrastruktur in absehbarer Zeit benötigt werden. Eine andere Frage ist, ob der Tourismus grundsätzlich ein Allheilmittel für die Stadtentwicklung sein kann. Aus komfortabler westlicher Sicht lassen sich noch weitere Einwände vorbringen. Wirtschaftsliberale dürften im Signagi-Projekt ein Horrorbeispiel für staatlichen Dirigismus sehen. Denkmalschützern fällt es schwer, sich mit einem so krassen Fall einer von oben verordneten Denkmalpflege anzufreunden. Zudem ist der Umgang mit dem Bestand von den Idealen westlicher Restauratoren weit entfernt. So wurde im Eifer des Gefechts so manches denkmalwürdige Gebäude der Einfachheit halber abgebrochen und in histo-

Abb. 3  Kleinstädtische Heimeligkeit und postmoderne Penetranz: Signagis Rathausplatz. Aufnahme 2008.

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risierenden Formen nachgebaut, wenn auch unter Wiederverwendung von Originalmaterial. In der Konzentration auf das äußere Erscheinungsbild mag man ohnehin den berüchtigten Fassadismus erkennen, dem es mehr um eine touristengerechte Altstadtvision als um fachgerechten Denkmalerhalt geht. Beim Anblick einiger Straßenzüge der Unterstadt, die erst in einer späteren Projektphase saniert werden sollen, relativiert sich aber die Kritik. Hier bekommt man einen Eindruck davon, wie die ganze Stadt bis vor kurzem ausgesehen hat. Und man erkennt, dass der dramatische Verfall weder für Marktmechanismen noch für hochentwickelte denkmalpflegerische Konzepte Zeit lässt. Infolge des Krieges wird er wohl noch schwerer aufzuhalten sein als bisher.

De r St ad t kon servat or al s A lle inhe rrsche r Kubanische Schule der Denkmalpflege In Havannas Straßencafés trinkt man seinen Mojito meist hinter vergitterten Rollläden oder unüberwindbaren Reihen von Blumenkübeln. Am Eingang weisen robuste Kellner unwillkommene Besucher zurück, mal mit brutaler Arroganz, mal mit freundlichem Nachdruck, je nach ihrem Charakter. So werden die Touristen und wenigen Neureichen Kubas von den viel zahlreicheren Bettlern abgeschirmt. Der Gang durch die Altstadt gleicht einem Spalierlauf. Von allen Seiten vernimmt man den Lockruf „Hola amigo!“, wahlweise „Hi, my friend!“, eingeleitet mit einem gezischten „Kss-kss-kss“. Darauf folgen die vielfältigsten Angebote, von einer privaten Unterkunft über ein illegales Taxi und Zigarren vom Schwarzmarkt bis zu einer „chica cubana“, einem kubanischen Mädchen. Viele bitten einfach um einen Dollar. Die Hartnäckigkeit, die sie dabei an den Tag legen, ist verständlich, denn für einen Dollar muss der Durchschnittskubaner zwei Tage arbeiten. Andere aber wollen nur ein wenig mit einem Touristen reden, oftmals auf deutsch, denn viele Kubaner haben in der DDR studiert oder gearbeitet. Der Klang der deutschen Sprache ruft bei ihnen Erinnerungen an bessere Zeiten hervor, als zumindest ein Teil der Welt den Kubanern offenstand. Der Zusammenbruch des Ostblocks brachte dem sozialistischen Vorposten in der Karibik nicht nur die totale politische Isolation, sondern auch bitterste Armut. Zusammen mit der Unterstützung durch die Sowjetunion fielen die Absatzmärkte für kubanische Produkte in Osteuropa weg. Eine verbohrte Sanktionspolitik der Vereinigten Staaten verschärfte zusätzlich die Krise. Nach Jahrzehnten sozialer Sicherheit, ja eines relativen Wohlstands – gemessen am Lebensstandard in manch einem anderen Land Lateinamerikas –, wurde der Alltag für die Kubaner zu einem permanenten Kampf um das Notwendigste. Unbeschreiblich ist das Elend der Lebensmittelläden, in denen die rationierten Grundnahrungsmittel gegen Bezugsscheine verkauft werden. Den Besserverdienenden offerieren Kaufhäuser wie jenes mit dem schönen Namen „Mercado experimental – Fin de siglo“ für ein Vielfaches ihres Monatsgehalts auseinanderfallende Möbel, verrostete Robotron-Schreibmaschinen und anderen Industrieschrott. In Deutschland wäre das gesamte Warensortiment ein einziges Entsorgungsproblem. Verglichen mit dem heutigen Kuba nahm sich selbst das vom Kriegsrecht geplagte, spätsozialistische Polen, seinerzeit das Armenhaus Europas, wie ein Schlemmerland aus. Allerdings ist die Laune auf Kuba dank dem karibischen Temperament allen Entbehrungen zum Trotz deutlich besser. „Período especial“ heißt die jüngste Geschichtsphase Kubas im offiziellen Sprachgebrauch. Damit ist ein Ausnahmezustand gemeint, eine Übergangszeit auf dem Weg zum endgültigen Sieg des Kommunismus, die der Bevölkerung besondere Opfer abverlangt. Tatsächlich ist nach dem Chaos der frühen 1990er Jahre eine leichte Stabilisierung eingetreten. Gleichwohl kann keine marxistische Geschichtskonstruktion über

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den Niedergang des Staates hinwegtäuschen. Selbst die Gesundheitsfürsorge und das Bildungswesen, einst Aushängeschilder der Revolution, sollen nicht mehr das sein, was sie mal waren. Umso erstaunlicher ist angesichts der allgemeinen Misere der Aufschwung, den die kubanische Denkmalpflege in den letzten Jahren genommen hat. Gerade noch rechtzeitig, um ein kolonialzeitliches Bauerbe zu retten, das in seiner Dichte und Geschlossenheit in ganz Lateinamerika seinesgleichen sucht. Nicht nur Havanna, sondern auch einige andere Städte Kubas bestechen durch lückenlos erhaltene Plätze und Straßenzüge aus der Zeit des Barock, Klassizismus und Historismus. Kirchen mit theatralisch geschwungenen Fassaden, Paläste mit Arkadenloggien und Patios, niedrige Wohnhäuser von edler Einfalt und hoch aufragende, prunksüchtige Geschäftsbauten formen atemberaubende Gesamtkunstwerke des Städtebaus, die von der Unwirtlichkeit der Moderne unberührt geblieben sind. Während unzählige kolonialzeitliche Städte Lateinamerikas in den letzten Jahrzehnten durch hemmungslose Profitgier privater Investoren und Ignoranz der Behörden unter den Augen ohnmächtiger Denkmalpfleger zerfleddert wurden, blieb in Kuba fast alles stehen. Nicht weil es hier um die Sensibilität gegenüber dem Architekturerbe wesentlich besser gestanden hätte, sondern weil es im Sozialismus keine privaten Investoren gab und der chronisch finanzschwache Staat als alleiniger Besitzer der Baudenkmäler ökonomisch gar nicht imstande gewesen wäre, den historischen Städten den Garaus zu machen. Aus demselben Grund war Kuba aber auch nicht fähig, für den Erhalt der Flächendenkmäler zu sorgen. In den 1970er und 1980er Jahren wurden in Havanna nur wenige Prachtbauten an den wichtigsten Plätzen restauriert, während der Rest unaufhaltsam verfiel (Abb.  1). Selbst die Aufnahme der Altstadt in die Welterbeliste der UNESCO im Jahr 1982 Abb. 1  Noch ist Havanna nicht verloren: Ruine mit merkantiler Nachnutzung in der Altstadt. Aufnahme 2003. brachte keine Wende.



Kubanische Schule der Denkmalpflege

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Abb. 2  Jahrzehntelang verfallen, nun zu einem der Vorzeigeorte der Hauptstadt herausgeputzt: Havannas Plaza Vieja. Aufnahme 2003.

Die Rettung kam paradoxerweise erst mit der Staatskrise nach 1990. Die Regierung entdeckte nun den Tourismus als lukrative Einnahmequelle, die den Wegfall der Unterstützung durch die sozialistischen Verbündeten kompensieren sollte. Voraussetzung für eine erfolgreiche Tourismuspolitik war aber, dessen war man sich bewusst, nicht nur die Errichtung komfortabler Ferienanlagen an den paradiesischen Stränden der Insel, sondern auch die Restaurierung der historischen Städte, allen voran Havannas, das nicht zuletzt dank Ernest Heminghway, dem berühmtesten Wahlkubaner, zu einem Mythos geworden ist. Gleichzeitig sah sich jedoch der Staat, den drohenden Bankrott vor Augen, weniger denn je in der Lage, für den Erhalt der Denkmäler aufzukommen. So verordnete die Regierung im Jahr 1993 den Denkmalpflegeämtern der bedeutendsten historischen Städte – Havanna, Santiago de Cuba, Camagüey und Trinidad – die Selbstfinanzierung ihrer Projekte. Dies klingt nicht gerade nach einer Großtat. War es aber. Denn die Stadtkonservatoren wurden zugleich mit Befugnissen und Geldquellen ausgestattet, von denen ihre Kollegen in anderen Ländern nur träumen können. Sie erhielten nicht nur das Recht, Steuern von den in der Altstadt ansässigen Gewerbebetrieben zu erheben, sondern auch die Erlaubnis, selbst am Tourismus Geld für Restaurierungen zu verdienen. So gründete der „Historiador de la Ciudad de La Habana“, so der ehrenvolle Titel des obersten Denkmalpflegers Havannas, das Tourismusunternehmen „Habaguanex“, das die luxuriösesten Hotels und Restaurants der Hauptstadt betreibt. Jeder Dollar, der in einem Habaguanex-Betrieb ausgegeben wird – und man zahlt dort

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selbstredend nur in Dollar –, kommt direkt der Denkmalpflege zugute. Angesichts dieses Geldsegens war es für den Stadtkonservator ein Leichtes, die eine Million Dollar, die ihm der Staat 1993 bei der Einführung des Selbstfinanzierungssystems geliehen hatte, bereits ein Jahr später zurückzuzahlen. Heute nimmt sein Amt jährlich rund sechzig Millionen Dollar ein. Mit diesem Betrag lässt sich in Kuba, wo die Lohnkosten kaum zu Buche schlagen, viel ausrichten. Zwar befindet sich der größte Teil von Havannas Altstadt noch immer in einem ruinösen Zustand. Von vielen Häusern sind nur noch die Fassaden übriggeblieben. Dahinter Abb. 3  Warten auf die Rettung durch   befinden sich Märkte, Parkplätze für die den „Historiador“: eingestürztes Haus in amerikanischen Großlimousinen aus der Havannas Altstadt, mit einer Informations-  vorrevolutionären Zeit, die nach wie vor tafel des Stadtkonservators, die seine   baldige Wiederherstellung ankündigt.   das Straßenbild prägen, oder ReparaturAufnahme 2003. werkstätten für „bicitaxis“, innovative Fahrzeuge des „período especial“, die ohne Treibstoff auskommen. Dennoch lässt sich nicht übersehen, was hier in den letzten Jahren geleistet wurde. Konzentrierten sich die Restaurierungskampagnen anfangs auf Touristenmagneten wie die Plaza de Armas, Plaza de la Catedral oder Plaza Vieja (Abb. 2), so profitieren inzwischen auch die engen Wohnstraßen, vor allem in der südlichen Altstadt, von der Potenz des Stadtkonservators. Hunderte von Häusern konnten in den letzten Jahren saniert werden, die meisten Ruinen sind gesichert und mit Informationstafeln versehen, die den baldigen Beginn der Restaurierung ankündigen (Abb. 3). Dass diese Rettungsaktionen in letzter Minute nicht unbedingt den höchsten denkmalpflegerischen Standards bezüglich Materialwahl oder gar Werkgerechtigkeit entsprechen, muss in Kauf genommen werden. Der Ruck, der nach Jahrzehnten des Verfalls durch Havannas Straßen geht, erinnert an den Sanierungsboom der 1990er Jahre in Ostdeutschland. Doch gibt es einen fundamentalen Unterschied. Während die Restaurierungen bei uns meist einen Austausch der Bevölkerung nach sich zogen, können die Bewohner Havannas in der Regel in ihren Häusern bleiben – und kommen dabei endlich in den Genuss von fließendem Wasser und funktionierenden Sanitäranlagen. Dies sind beileibe nicht die einzigen Wohltaten, die die Altstadtbewohner ihrem „Historiador“ verdanken. Der Stadtkonservator unterhält auch Ausbildungszentren, Altentreffpunkte, Kindergärten für Behinderte und Werkstätten, in denen Kurse in traditionellem Handwerk angeboten werden. Er ist von Amts wegen nicht nur Investor,



Kubanische Schule der Denkmalpflege

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Abb. 4  Leuchtturmdenkmalpflege in der   Provinz: Straßenbild   in Camagüey mit   restaurierten   Wohnhäusern.   Aufnahme 2003.

Planer und Bauausführender, sondern auch Ausbilder und Sozialarbeiter, dem das gesamte – auf neudeutsch würde man sagen: – Quartiersmanagement obliegt. Mit der Machtfülle eines Stadtherrn ausgestattet, verkörpert er das Schreckgespenst des omnipotenten Denkmalpflegers, wie es in Deutschland – in drastischer Verkennung der Wirklichkeit – immer häufiger an die Wand gemalt wird. Seine Untertanen empfinden aber das Regiment nicht als Tyrannis, sondern als Privileg. Mit Recht. Während viele historische Zentren Kubas weiterhin verrotten, erlebt Havanna ein Wunder. Auf eine ähnliche Erfolgsbilanz können auch die drei übrigen Städte verweisen, in denen das Konzept der selbstfinanzierten, ganzheitlich operierenden Denkmalpflege eingeführt wurde. Zum Beispiel das hinreißend schöne Camagüey (Abb. 4). In der prachtvollen Residenz des dortigen „Historiador“ fand kürzlich eine Konferenz über städtebaulichen Denkmalschutz statt. Fachkollegen aus einem Dutzend vorwiegend lateinamerikanischer Länder waren angereist, um sich ein Bild von der neuen kubanischen Schule der Denkmalpflege zu verschaffen. In die staunende Bewunderung mischte sich zuweilen eine Portion Neid. Fast könnte man meinen, Kuba sei zu einem Mekka für Denkmalpfleger geworden. Doch das Modell lässt sich nur auf Länder übertragen, in denen der Staat ohne Rücksicht auf Privateigentümer über die Baudenkmäler verfügen kann. Und das sind bekanntlich nicht mehr viele. Auch in Kuba wird dem Modell wohl kein langes Leben beschieden sein. So wie die konzeptionell verwandte „Polnische Schule der Denkmalpflege“ spätestens mit dem Systemwechsel Geschichte wurde, so werden sich auch die kubanischen Denkmalpfleger nach dem Ende des Castro-Systems sicherlich mit einem wesentlich geringeren Handlungsspielraum begnügen müssen. Es ist zu hoffen, dass sie bis dahin noch viele Wunder vollbringen können.

Fri ed e d en W ellble chhütte n Das gefährdete koloniale Bauerbe im jamaikanischen Falmouth Wer im einst britischen Teil der Karibik englische Kolonialarchitektur besichtigen will, muss sich auf eine Nadelsuche im Heuhaufen einstellen. Hurrikane und Erdbeben haben im Verein mit Armut, Ignoranz und Profitgier das Bauerbe bis auf wenige Reste weggefegt. Die Verluste wiegen umso schwerer angesichts des Elends der nachkolonialen Architektur. So bestehen die Städte Jamaikas, der größten Karibikinsel des früheren britischen Imperiums, überwiegend aus einem Bauwildwuchs gesichtsloser Betonkisten und zusammengedrängter Slums. Eine Ausnahme ist das an der Nordküste gelegene Falmouth, einst der zweitwichtigste Hafen der Insel, heute ein Provinzstädtchen. Im Jahr 1769 gegründet, verdankte Falmouth seinen Aufstieg Englands Riesennachfrage nach jamaikanischem Zucker, der in den Großplantagen der Umgebung gewonnen wurde. Durch gnadenlose Ausbeutung der aus Westafrika eingeführten Sklaven, der Vorfahren der meisten Bewohner des heutigen Jamaika, gelangten die Zuckerbarone zu immensem Reichtum. Einer der erfolgreichsten von ihnen war John Tharp, der über dreitausend Sklaven für sich arbeiten ließ. In seinem noch heute erhaltenen, auf einer Anhöhe über der Plantage Good Hope thronenden Herrenhaus residierte er wie ein Fürst. Um die Ausfuhr der Zuckermassen sicherzustellen, baute er in Falmouth einen eigenen Schiffsanlegeplatz samt noblem Stadtpalais. Zusammen mit anderen Plantagenbesitzern machte Tharp Falmouth in den Jahrzehnten um 1800 zu einem pulsierenden Wirtschaftszentrum. Vom baulichen Aufschwung der Zeit zeugt besonders das ab 1815 errichtete Gerichtsgebäude mit seinem mächtigen, dorischen Tempeln nachempfundenen Portikus. Erhalten haben sich auch mehrere stattliche Kirchen und vor allem zahlreiche Wohn- und Geschäftshäuser, darunter prächtige Villen mit reich geschnitzten Veranden ebenso wie schlichte, campingwagengroße Holzhäuschen (Abb. 1–3). Falmouths Bebauung bildet das größte Ensemble englischer Architektur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in der Karibik. Dessen Überleben ist eine glückliche Nebenfolge des wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1838, die den Plantagenbesitzern die kostenlose Arbeitskraft und damit die Geschäftsgrundlage entzog. Nachdem Falmouth seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch den leistungsfähigeren Hafen im nahegelegenen Montego Bay zunehmend vom internationalen Schiffsverkehr abgekoppelt worden war, verfiel es vollends in eine konservierende Lethargie. Aber auch in einen unaufhaltsamen Verfall, der die schönen Häuser allmählich in Baracken verwandelte – bis vor zehn Jahren einige Idealisten auf den Plan traten, um das einzigartige Bauerbe zu retten. Seitdem restauriert die von US-amerikanischen Philanthropen ins Leben gerufene, vorwiegend von einer in den Vereinigten Staaten ansässigen Stiftung finanzierte Organisation „Falmouth Heritage Renewal“ in Zusammenarbeit mit der örtlichen „Fal-



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Abb. 1  Charme der Einfachheit: saniertes Mini-Geschäftshaus in Falmouth. Aufnahme 2011.

Abb. 2  Auch für Besserverdiener ist ein Wellblechdach gut genug: eines der gepflegtesten Wohnhäuser der Stadt. Aufnahme 2011.

mouth Restoration Company“ ein notleidendes Denkmal nach dem anderen. Das gotisierende Pfarrhaus der Baptisten von 1798 wurde als Sitz der Organisation hergerichtet, der verwahrloste jüdische Friedhof erhielt seine Würde zurück, das Postamt von 1815 zeigt sich wieder in seiner klassizistischen Eleganz, die 1796 erbaute Kirche

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Abb. 3  Koloniale Pracht, auf die Wiedererweckung wartend: das noch unsanierte Davidson House aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aufnahme 2011.

der Anglikaner erlebte kürzlich die fachgerechte Erneuerung ihrer Rundbogenfenster. Vor allem aber kommt die Restaurierungskampagne vielen privaten Wohnbauten aus Holz zugute, die mangels Instandhaltung zu slumähnlichen Behausungen heruntergewirtschaftet worden waren. Morsche Bretter werden ausgetauscht, Fenster repariert, die verblichenen Wände in Originalfarben angestrichen, entstellende Abzäunungen aus Wellblech durch ansehnlichere Holzstaketenzäune ersetzt. Bei der Eindeckung der Dächer allerdings kommt meist wieder das in Jamaika übliche Wellblech zum Einsatz, nur wenige Bauten erhalten die traditionellen, malerischen Schindeldächer zurück. Denn Blech ist zwar hässlich, aber im feuchten Klima der Karibik bietet es den zuverlässigsten Schutz vor zerstörerischem Wasser. Für diese robuste Lösung spricht auch, dass die meisten Bewohner der von Armut und Analphabetismus besonders gebeutelten Stadt nicht imstande sind, für denkmalgerechten Unterhalt ihres Hauses zu sorgen. Um dies zu ändern, verschreibt sich „Falmouth Heritage Renewal“ auch der Sensibilisierung der Bevölkerung für das Architekturerbe und der Ausbildung denkmalkundiger Maurer und Zimmerleute. Dank dieser Verbindung von Denkmalpflege und Entwicklungshilfe bekommen Falmouths Jugendliche die seltene Chance, einen qualifizierten und gefragten Beruf zu erlernen. Einer von ihnen erhielt für seine Leistungen sogar eine Auszeichnung von Großbritanniens Thronfolger Prinz Charles, dessen Stiftung das Projekt ebenfalls unterstützt. Mit weiteren Denkmalverlusten ist in Falmouth trotz allen Engagements zu rechnen. Doch die Hauptgefahr besteht nicht mehr im Verfall, sondern im Investitionsdruck. Denn mit der Eröffnung eines Terminals für gigantische Passagierschiffe wurde das verschlafene Falmouth kürzlich zu einem Zielort der internationalen Kreuzfahrt-



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Abb. 4  Postkoloniale Invasion: Kreuzfahrtschiff in Falmouths neu angelegtem Terminal.   Aufnahme 2011.

industrie (Abb. 4). Einen Vorgeschmack auf die künftige Entwicklung gibt die an der Anlegestelle aus dem Boden gestampfte Scheinstadt im rustikalen Pseudokolonialstil, die der fragilen Schönheit des alten Falmouth die Schau stiehlt. Letztere bleibt von den meisten Touristen sowieso völlig unbemerkt, da nur ein Bruchteil der bis zu sechstausend Passagiere sich überhaupt die Mühe macht, in Falmouth an Land zu gehen. Das reicht aber, um das Stadtleben durcheinanderzubringen: Alles stellt sich auf die zahlungskräftigen Besucherhorden ein. Wenn diese nach ein paar Stunden wieder an Bord gehen, versinkt Falmouth erneut in seinen gewohnten Schlaf.

A r ch äol og i sc h er Kri e gsve rgnügungspa rk Die Ruinenstadt Forst-Ost in der Niederlausitz Waldreich sind die Ufer von Oder und Neiße. Dieser Wald aber ist nicht schon immer da gewesen. Sein Boden birgt die Reste einer untergegangen Stadt und eines gigantischen Rüstungsbetriebs, der die Zerstörungsmaschinerie des Dritten Reiches versorgte. Durchstreift man die heutige polnische Gemeinde Zasieki mit ihren in die verwilderte Landschaft eingestreuten ärmlichen Behausungen, lassen einen zunächst nur die etwas überdimensionierten kopfsteingepflasterten Fahrbahnen der menschenleeren Straßen ahnen, dass es hier früher etwas urbaner zugegangen sein könnte. Nach ein paar Schritten durch das angrenzende Walddickicht bemerkt man aber, dass die Bäume auf Fundamenten zerstörter Häuser stehen: Die Erde ist vom Ocker zerbröselter Ziegel eingefärbt, man stolpert über zugewucherte Mauerwerksbrocken. Einst lebten hier fast zehntausend Menschen, Einwohner von Berge, dem östlichen Stadtteil des damals bedeutenden Niederlausitzer Textilindustriezentrums Forst. Nach seiner Eingemeindung im Jahr 1897 hatte sich das am rechten Neißeufer gelegene Dorf zum modernsten Wohnquartier der expandierenden Arbeiterstadt entwickelt. In den 1920er Jahren entstanden hier durchgeplante Wohnsiedlungen mit drei- bis viergeschossigen Blöcken im Geiste der Reformarchitektur. Es gab viele Geschäfte, Gaststätten und sogar ein Kino, mehrere Brücken verbanden den pulsierenden Stadtteil mit der Altstadt. In den letzten Kriegsmonaten zur Frontstadt erklärt und heftig umkämpft, erlitt Forst schwerste Zerstörungen, von denen es sich nicht mehr erholte. Heute fristet es das kümmerliche Dasein einer ostdeutschen Schrumpfstadt, in der nur wenige Altbauten von besseren Zeiten zeugen. Mit der Grenzziehung entlang der Oder-Neiße-Linie fiel das Gebiet von Berge an Polen. Durch Artilleriebeschuss und Flucht der Bewohner in eine ruinöse Geisterstadt verwandelt, wurde es in den ersten Nachkriegsjahren vollständig eingeebnet. Das abtransportierte Baumaterial soll beim Wiederaufbau von Warschau Verwendung gefunden haben. Nur direkt am Neißeufer, an den Stümpfen der bis heute nicht wiederaufgebauten Brücken (Abb. 1), ist auch ohne archäologischen Blick zu erkennen, dass sich hier einmal eine Stadt befand. Die Fahrbahnen führen ins Nichts, mächtige Laternenmasten ragen vor dem Waldhintergrund gespenstisch in die Höhe. Am einstigen Rathenauplatz, der seit 1933 Adolf-Hitler-Platz hieß, steht sogar noch der Rumpf eines reich geschmückten Stadtbrunnens (Abb. 2). Selten trifft man hier Menschen an. An einem Sommernachmittag schaut ein Liebespaar eng umschlungen auf die gegenüberliegende Silhouette von Forst. Ringsum Stille. Doch die posturbanen Wälder sind nicht so vergessen, wie sie wirken. Seitdem die Grenze durchlässig geworden ist, haben viele ehemalige Bewohner von Berge nach Spuren ihrer Häuser gesucht und in Heimatblättern Erinnerungen niedergeschrieben. Jugendliche aus Forst berichten, dass sich einige Hobbyarchäologen nun



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mit Metalldetektoren auf die Suche nach Schätzen machen. Zwar wurde das Gebiet schon in den Nachkriegsjahrzehnten von den polnischen Neusiedlern nach allem Brauchbaren durchkämmt. Doch die neuen Schatzsucher hoffen auf das Gold der Bewohner, das diese tief in der Erde vergraben und bei ihrer überstürzten Flucht zurückgelassen haben könnten. Einen noch gruseligeren Spielplatz für Hobbyarchäologen bietet ein benachbartes Waldgebiet, das sich südlich von Berge, neben dem Dorf Scheuno (heute Brożek), anschließt. Hier befand sich eine riesige Munitionsfabrik der „Deutschen Sprengchemie GmbH“, die bis kurz vor Abb. 1  Ein Ort zum Grübeln: Brückenrest am Neiße-Ufer Kriegsende Pulvereinsätze in Forst-Ost. Aufnahme 2008. für Granaten der Wehrmacht produzierte (Abb. 3, 4). Seit 1938 entstanden auf einem über fünfhundert Hektar großen, hermetisch abgeriegelten Gelände unter strengster Geheimhaltung an die vierhundert teils unterirdische Bunkerbauten, erschlossen durch ein dichtes Netz von betonierten Fahrwegen. Die meisten Gebäude dienten als Speicher und Verarbeitungsstätten für die so giftigen wie hochexplosiven Ingredienzien. Die Fabrik verfügte aber auch über eine autarke logistische Infrastruktur, darunter Kraftwerke und Wasserwerke, eine eigene Feuerwehr, Verladerampen mit Gleisanschluss, ja sogar einen unterirdischen Bahnhof. Gegen Kriegsende besetzte die Rote Armee die Anlagen und demontierte so ziemlich alles, was für den Abtransport in die Sowjetunion geeignet schien und sich von den Betonmassen trennen ließ. Die meisten Bauten blieben aber erhalten und dienten später, von den Soldaten mit ein paar Gemälden zum Thema Sieg über den Faschismus geschmückt, einer staatlichen polnischen Firma als denkbar unökologische Lagerstätten für Tee und Kaffee. Heute liegt der größte Teil des Geländes brach. Einige wenige Bunker werden von Kleinbetrieben genutzt, etwa einer Eisenschleiferei, einer Recyclinganlage für

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Abb. 2  Hier war einmal Stadt: Brunnenrest am einstigen Rathenauplatz. Aufnahme 2008.

Kunststoffe oder auch einer Champignonzüchterei, die ihre Produkte, so wird erzählt, bis nach Berlin liefert. Gleichzeitig wird das Terrain von der einheimischen Bevölkerung nach wie vor als Rohstofflager ausgeschlachtet. In einem der gigantesken Kraftwerke zum Beispiel buddeln sich zwei Schrottsammler zwanzig Meter unter der Erdoberfläche in die Schutthaufen. Nach der Zusicherung, keine Fotos von ihrer illegalen Tätigkeit zu machen, zeigt einer von ihnen die mühsam hochgeschaffte Tages-

Abb. 3  Abenteuerpark mit Gruseleffekt:   Ruinen der Munitionsfabrik im Wald bei Scheuno. Aufnahme 2008.



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ausbeute: einige verrostete Eisenklumpen, für die beim Altstoffhändler ein paar Złoty winken. Schwere Arbeit, was? „Ich habe es mit dem Rücken, mit Schmerzspritzen geht es aber irgendwie,“ sagt er ohne Anflug von Wehleidigkeit. Etwas mehr dürften an dem Bunkerwald einige Privatforscher verdienen, die geführte Touren durch das „Verbotene Werk“ anbieten. Der Gruselpark lockt aber vor allem Abenteurer und Kriegsenthusiasten aus Polen wie Deutschland, die das völlig ungesicherte Gelände auf eigene Faust durchstreifen. Eine Jugendgang aus dem Raum Cottbus hat sogar die Ergebnisse ihrer Erkundungen ins Internet gestellt. Die AbenteuersuAbb. 4  Schrottsammlereldorado: einstiges Kraftwerk der che ist hochgradig gefährMunitionsfabrik. Aufnahme 2008. lich, zumal Hilferufe in der Einsamkeit des endlosen Waldes verschallen würden. Zwar hat die polnische Armee in den 1990er Jahren begonnen, das Terrain von Produktionsresten und Blindgängern zu beräumen. Nach wie vor aber lauern abseits der befahrbaren Wege auf Schritt und Tritt Gefahren. Unter unauffälligen Öffnungen in den Bunkern und im Waldboden verbergen sich Abgründe, der Kontakt mit Sprengstoff- und Säureresten kann tödlich enden. Vor einigen Jahren kamen zwei polnische Studenten durch eine Explosion um, auch ein Schrottsammler soll unlängst zu Tode gekommen sein. Inmitten der gefährlichen Kriegsfolgelandschaft entstand vor kurzem eine gesicherte Zone, in der der Krieg kommerziell zu Vergnügungszwecken simuliert wird: Eine deutsch-englische Firma hat auf einem Teil des Areals ein Gotcha-Spielfeld eröffnet. Gotcha? Der Begriff ist eine Verballhornung des englischen „Got you!“ („Erwischt!“) und bezeichnet einen militaristischen Mannschaftssport, auch Paintball genannt, der darin besteht, mit Farbpatronen aufeinander zu schießen. In Deutschland steht das aus den Vereinigten Staaten stammende Spiel im Ruch des Wehrsports und unterliegt strengen gesetzlichen Beschränkungen. Mit seinem laxeren Waffenrecht bietet sich Polen als Ausweichstandort – und der gespenstische Wald an der Neiße als

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ideales Ambiente an. „Nur 130 km von Berlin“ lädt die Firma ihre vorwiegend deutsche Kundschaft zum unbehinderten Spielvergnügen „auf einer ehemaligen Wehrmachts-Bunkeranlage“ ein (Abb. 5). An Wochenenden dröhnen hier Salven aus den maschinengewehrartigen „Markierern“ durch die Stille des Waldes. Auf Spielwiesen mit Schießständen, Schützengräben, Bunkerruinen und ausrangierten Autos hetzen junge Männer und – wenige – Frauen in schreckenerregenden Tarnuniformen und Schutzmasken unter martialischen Rufen der spielleitenden „Marshalls“ aufeinander los. Zu besonderen Anlässen wird sogar ein schwarz-rot-gold beflaggter Sowjetpanzer in Bewegung gesetzt. Fünfundfünfzig Euro kostet das Vergnügen pro Tag, Abb. 5  Ich will Spaß, ich will Spaß: einschließlich der Leihausrüstung samt zweiKunden des Gotcha-Spielfelds bei hundert Farbkugeln, die „selbstverständlich Scheuno. Aufnahme 2008. hundertprozentig biologisch abbaubar“ sind. Was sind das für Leute, die sich diesem Vergnügen hingeben? Die meisten von ihnen würde man nicht gerade zur Geburtstagsfeier seiner Kinder einladen, und einigen möchte man auch nicht in einer ostdeutschen No-Go-Area begegnen. Im Gespräch sind sie aber einfach nett und sprühen derart vor guter Laune, dass man fast geneigt ist, mit ihnen eine Pulle Bier zu trinken. Nein, es gehe nicht um Kriegsverherrlichung, sondern nur um Spaß. Man wolle einfach gut drauf sein. Kommen denn viele Glatzen hierher? Der freundliche polnische Barkeeper winkt ab: „Die arbeiten doch mit Baseballschlägern. Hier sind Knüppel aber verboten. Und sie wollen das Blut spritzen sehen. Bei uns spritzt aber nur Farbe.“ Wie nimmt denn die polnische Bevölkerung die kriegsspielenden Deutschen auf? Den müden Schrottsammlern im Kraftwerk sind sie schlichtweg egal. Der Wärter der Recyclinganlage zeigt sich noch abgeklärter. Bei seinem Einsatz in Afghanistan habe er den echten Krieg kennengelernt. In der Ruhe seiner jetzigen Arbeit könne er sich von den Erlebnissen erholen. Das Gotcha-Treiben störe ihn dabei nicht im Geringsten. Und schließlich schaffe es in der Region einige Arbeitsplätze für Deutsche und Polen. Ob man es wahrhaben will oder nicht: Das makabre Kriegsspiel der Deutschen gehört in den Augen der Bewohner des polnischen Grenzstreifens ebenso zur Normalität wie die Verkaufsstände mit Gartenzwergen, die sich an den Fernstraßen aneinanderreihen.

Text n ac h we is „Wiedergutmachung für historische Verluste.“ Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa als Akt nationaler Selbstbehauptung Bisher unveröffentlichter Text, basierend auf einem Vortrag, der am 14. Juni 2010 an der Humboldt-Universität Berlin gehalten wurde. Die Literaturangaben entsprechen dem damaligen Stand.

„Seid von Zeit zu Zeit auch tolerant!“ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler Bisher unveröffentlichter Text, basierend auf einem Vortrag, der am 9. Februar 2011 an der Universität Bamberg gehalten wurde.

Mut zur Wunde! Optionen für die Zukunft der kriegszerstörten Schlosskirche in der Marienburg Leicht veränderte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Dezember 2001.

Auf der Suche nach der nationalen Form. Zur Architektur der Stalinzeit in der DDR und in Polen Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Aufsatzes aus dem Sammelband: Nation, Style, and Modernism. CIHA Conference Papers 1. Hg. von Jacek Purchla und Wolf Tegethoff mit Christian Fuhrmeister und Łukasz Galusek. Cracow – Munich 2006, S. 323–343. Die Literaturangaben wurden um einige später erschienene Titel ergänzt.

Stadtplanung und Denkmalpflege im geteilten Europa. Der Wiederaufbau zerstörter Städte in den beiden deutschen Staaten und in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg Bisher unveröffentlichter Text, basierend auf einem Vortrag, der am 17. März 2007 auf dem XXIX. Deutschen Kunsthistorikertag in Regensburg gehalten wurde. Die Literaturangaben wurden um einige später erschienene Titel ergänzt. Eine Kurzfassung des Texts ist erschienen in: Tür an Tür. Polen – Deutschland: 1000 Jahre Kunst und Geschichte. Ausstellungskatalog Martin-Gropius-Bau Berlin. Hg. von Małgorzata Omilanowska und Tomasz Torbus. Köln 2011, S. 692–697.

Auf nach Bochum. Das Areal an der Dresdner Frauenkirche und das Prinzip Rekonstruktion Leicht veränderte Fassung eines Kurzessays aus dem Ausstellungskatalog: New Urbanity. Die Europäische Stadt im 21. Jahrhundert. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main. Hg. von Annette Becker, Karen Jung und Peter Cachola Schmal. Salzburg – München – Wien 2008, S. 146–151.

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Textnachweis

Václav Havel und Tomaš G. Masaryk: Präsidentielle Kunstpatronage und visuelle Staatsrepräsentation auf der Prager Burg Bisher unveröffentlichter Text, basierend auf einem Vortrag, der am 31. August 2006 auf der Eight International Conference on Urban History in Stockholm gehalten wurde. Die Literaturangaben entsprechen dem damaligen Stand. Der englischsprachige Vortrag wurde zusammen mit anderen Beiträgen der Konferenz auf einer CD dokumentiert: The European Association for Urban History. Urban Europe in Comparative Perspective. Papers presented at the Eight International Conference on Urban History. Stockholm 2006. Hg. von Lars Nilsson. Stockholm University, Institute of Urban History 2007.

Ceauşescus Rache. Der Volkspalast in Bukarest – ein populäres Monument des Wahnsinns Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Dezember 2010.

Kontinuität im Wandel. Nationale Geschichte und staatliche Identität auf polnischen Banknoten (1918 bis heute) Bisher unveröffentlichter Text. Die Literaturangaben entsprechen dem Stand von 2001.

Trennendes in der Gemeinschaft, Gemeinsames in der Trennung. Nationale Geschichte und staatliche Identität auf tschechoslowakischen und tschechischen Banknoten (1918 bis heute) Bisher unveröffentlichter Text. Die Literaturangaben entsprechen dem Stand von 2001.

Lenins Asyl unter Kaliforniens Himmel. Die Socialistica-Sammlung des „Wende Museums“ in Los Angeles Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Juli 2009. Der Artikel wurde wiederabgedruckt in: Mitropa. Jahresheft des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas 1 (2010), S. 46–51.

Die postsozialistische Stadt als Bild- und Konfliktraum Bisher unveröffentlichter Text, basierend auf einem Vortrag, der am 18. Juni 2009 an der Humboldt-Universität Berlin gehalten wurde. Die Literaturangaben entsprechen dem damaligen Stand. Ausführlicheres zu einigen Aspekten des Themas findet sich im Aufsatz: Wem gehört die Stadt? Auseinandersetzungen um Stadtbilder und Stadträume im postsozialistischen Europa. In: Halb-Vergangenheit. Städtische Räume und urbane Lebenswelten vor und nach 1989. Hg. von Tímea Kovács. Berlin 2010, S. 15–32.

Sperriges Erbe. Politische Denkmäler und Staatsbauten der DDR im wiedervereinigten Deutschland



Textnachweis

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Leicht veränderte und erweiterte, deutsche Fassung eines englischsprachigen Aufsatzes aus dem Sammelband: The Post-Socialist City. Continuity and Change in Urban Space and Imagery. Hg. von Alfrun Kliems und Marina Dmitrieva. Berlin 2010, S. 52–65. Eine tschechische Version des Beitrags ist erschienen in: Stavba 16 (2009), Nr. 2, S. 76–81.

Von der stalinistischen Idealstadt zum postsozialistischen Kultort. Die polnische Arbeiterstadt Nowa Huta hofft auf eine Renaissance Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 17./18. Februar 2007.

Neue Esten neben alten Russen. Tallinn baut an seiner Zukunft – die sowjetische Vergangenheit steht dabei im Weg Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 19./20. Juli 2008.

Bauen für die Versöhnung. Aufbruch in Belfast Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Mai 2007.

Pornos auf dem Plasmabildschirm schauen und an bunten Drinks nippen. Polen debattiert über „gated communities“ Leicht veränderte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. September 2007.

Keine Belehrungen: Urbanisten staunen über Chinas Stadtentwicklung – und sind ratlos Ausführlichere und neu illustrierte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. November 2009.

Herausgeputzt für den Frieden. Die Sanierung der georgischen Kleinstadt Signagi Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. September 2008.

Der Stadtkonservator als Alleinherrscher. Kubanische Schule der Denkmalpflege Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. November 2003.

Friede den Wellblechhütten. Das gefährdete koloniale Bauerbe im jamaikanischen Falmouth Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Juli 2011.

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Textnachweis

Archäologischer Kriegsvergnügungspark. Die Ruinenstadt Forst-Ost in der Niederlausitz Leicht veränderte und umfangreicher illustrierte Fassung eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. August 2008.

Abbi l d u n g sn achwe is „Wiedergutmachung für historische Verluste.“ Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa als Akt nationaler Selbstbehauptung Abb. 1–2 Nationalmuseum Palast der Großfürsten von Litauen, Vilnius. Foto Mindaugas Kaminskas; Abb. 3 Lietuvos Didžiosios… 2009 (wie Anm. 1); Abb. 4 Frick, Friedrich: Schloß Marienburg in Preußen nach seinen vorzüglichsten aeussern und innern Ansichten dargestellt. Berlin 1799; Abb. 5 Wikimedia Commons; Abb. 6 Dettloff 2006 (wie Anm. 12); Abb. 7 Wikimedia Commons; Abb. 8 Dettloff 2006 (wie Anm. 12); Abb. 9–10 Wikimedia Commons; Abb. 11 http://de.academic.ru/; Abb. 12–13 Jan Zachwatowicz. W stulecie urodzin [Jan Zachwatowicz. Zum hundertsten Geburtstag]. Warszawa 2000; Abb. 14–15 Wikimedia Commons; Abb. 16 Pryb’eh, Leonid: Chramy Ukrajny – Churches of Ukraine. Kyïv 2004.

„Seid von Zeit zu Zeit auch tolerant!“ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler Abb. 1 Wikimedia Commons / Pumuckel42 (Reinhard Wolf); Abb. 2 Wikimedia Commons; Abb. 3 http://www.flickr.com/; Abb. 4–6 Wikimedia Commons; Abb. 7 Historische Postkarte, Archiv Bartetzky; Abb. 8 Wikimedia Commons / DerHexer; Abb. 9 Rząd 1996 (wie Anm. 8); Abb. 10 Wikimedia Commons; Abb. 11 Wikimedia Commons / KHRON; Abb. 12 Polska Akademia Nauk, Instytut Sztuki; Abb. 13 Dettloff 2004 (wie Anm. 22); Abb. 14–16 Wikimedia Commons.

Mut zur Wunde! Optionen für die Zukunft der kriegszerstörten Schlosskirche in der Marienburg Abb. 1–4 Muzeum Zamkowe w Malborku.

Auf der Suche nach der nationalen Form. Zur Architektur der Stalinzeit in der DDR und in Polen Abb. 1 Wikimedia Commons; Abb. 2 Dreissig Jahre sowjetische Architektur… 1951 (wie Anm. 1); Abb. 3–4 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3); Abb. 5 http://www.panoramio.com; Abb. 6 Zwei deutsche Architekturen 1949–1989. Eine Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen e. V. in Kooperation mit der Föderation deutscher Architektursammlungen. Stuttgart 2004; Abb. 7 Wikimedia Commons; Abb. 8 Zwei deutsche Architekturen… 2004 (wie Abb. 6); Abb. 9 Åman 1992 (wie Anm. 2); Abb. 10 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 3); Abb. 11 Bierut 1951 (wie Anm. 20); Abb. 12 Wikipedia; Abb. 13 Foto Bartetzky; Abb. 14 Wikipedia / Marcin Białek; Abb. 15 Åman 1992 (wie Anm. 2); Abb. 16–17 Racibórz wczoraj i dziś [Ratibor gestern und heute]. Hg. von Ryszard Frączek. Racibórz 1998; Abb. 18 Herder-Institut, Marburg; Abb. 19 Krzyżanowski, Lech: Piękny stary Gdańsk [Schönes altes Danzig]. Bydgoszcz 1995; Abb. 20 Foto Jacek Friedrich.

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Abbildungsnachweis

Stadtplanung und Denkmalpflege im geteilten Europa. Der Wiederaufbau zerstörter Städte in den beiden deutschen Staaten und in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg Abb. 1–2 Stadtarchiv Heilbronn; Abb. 3 Hamburgisches Architekturarchiv, Bestand Ferdinand Streb, Foto: Hamburger Aerolloyd GmbH; Abb. 4–5 Durth/Gutschow 1987 (wie Anm. 2); Abb. 6 Zwei deutsche Architekturen… 2004 (wie Anm. 2); Abb. 7 1945. Krieg – Zerstörung – Aufbau… 1995 (wie Anm. 2); Abb. 8 http://miner-sailor.de/; Abb. 9–10 Durth/Düwel/Gutschow 1998 (wie Anm. 10); Abb. 11–13 Zwei Deutsche Architekturen… 2004 (wie Anm. 2); Abb. 14 1945. Krieg – Zerstörung – Aufbau… 1995 (wie Anm. 2); Abb. 15 Durth/Gutschow 1987 (wie Anm. 2); Abb. 16 Herder-Institut, Marburg; Abb. 17 Puhlmann, Gerhard: Die Stalinallee: nationales Aufbauprogramm 1952. Berlin 1952; Abb. 18 Herder-Institut, Marburg; Abb. 19 Majewski/Markiewicz 1998 (wie Anm. 17); Abb. 20 Szwankowski 1952 (wie Anm. 18); Abb. 21 Architektura i urbanistyka Poznania... 2005 (wie Anm. 19); Abb. 22 Wikimedia Commons / Kwolana; Abb. 23 Zwei Deutsche Architekturen... 2004 (wie Anm. 2); Abb. 24, 25 Hirsch, Robert; Krzempek, Krzysztof; Popiński, Piotr: Gdańsk: dwa oblicza miasta – Danzig: zwei Gesichter einer Stadt. Gdańsk 1997; Abb. 26–27 Neue Städte aus Ruinen… 1992 (wie Anm. 1); Abb. 28 Krzyżanowski, Lech: Piękny Stary Gdańsk [Schönes altes Danzig]. Bydgoszcz 1995.

Auf nach Bochum. Das Areal an der Dresdner Frauenkirche und das Prinzip Rekonstruktion Abb. 1–3 Foto Bartetzky.

Václav Havel und Tomaš G. Masaryk: Präsidentielle Kunstpatronage und visuelle Staatsrepräsentation auf der Prager Burg Abb. 1 Wikipedia / Dilliff / Alofok; Abb. 2 Willkommen im Herzen Europas… 1995/96 (wie Anm. 2); Abb. 3 Foto Bartetzky; Abb. 4–7 Volf 2003 (wie Anm. 6); Abb. 8–9 Foto Bartetzky; Abb. 10–11 Prelovšek 1997 (wie Anm. 7); Abb. 12 Foto Bartetzky; Abb. 13–14 Prelovšek 1997 (wie Anm. 7); Abb. 15 Josip Plečnik – an Architect of Prague Castle… 1997 (wie Anm. 7); Abb. 16–17 Prelovšek 1997 (wie Anm. 7); Abb. 18 Volf 2003 (wie Anm. 6).

Ceauşescus Rache. Der Volkspalast in Bukarest – ein populäres Monument des Wahnsinns Abb. 1–4 Foto Bartetzky; Abb. 5 Wikimedia Commons / Simon Laird.

Kontinuität im Wandel. Nationale Geschichte und staatliche Identität auf polnischen Banknoten (1918 bis heute) Abb. 1–2 Narodowy Bank Polski; Abb. 3–5 Kokociński 2000 (wie in Literaturauswahl); Abb. 6 Wikimedia Commons; Abb. 7–13 Kokociński 2000 (wie in Literaturauswahl).

Trennendes in der Gemeinschaft, Gemeinsames in der Trennung. Nationale Geschichte und staatliche Identität auf tschechoslowakischen und tschechischen Banknoten (1918 bis heute) Abb. 1–14 http://www.papirovaplatidla.cz.

Abbildungsnachweis



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Lenins Asyl unter Kaliforniens Himmel: Die Socialistica-Sammlung des „Wende Museums“ in Los Angeles Abb. 1–2 Foto Bartetzky; Abb. 3–6 The Wende Museum, Los Angeles; Abb. 7 Foto Bartetzky; Abb. 8 The Wende Museum, Los Angeles.

Die postsozialistische Stadt als Bild- und Konfliktraum Abb. 1 Socland, Warszawa; Abb. 2–3 Foto Bartetzky; Abb. 4 Wikipedia; Abb. 5 http://www.bbr. bund.de; Abb. 6 Wikimedia Commons; Abb. 7 Wikipedia; Abb. 8 Wikipedia / DocentX; Abb. 9 http://www.panoramio.com / Sławomir Purzycki; Abb. 10 http://www.segece.hu; Abb. 11 Foto Bartetzky; Abb. 12 Archiv Christian Dietz; Abb. 13 Foto Christian Dietz; Abb. 14 archleague leipzig e. V.; Abb. 15 Archiv Verena Landau. Reprografie Christoph Sandig; Abb. 16 Die Gegenwart des Vergangenen… 2007 (wie Anm. 12); Abb. 17 http://www.grafikareklamowa.pl; Abb. 18 Foto Bartetzky; Abb. 19 Archiv Luchezar Boyadjiev; Abb. 20 Foto Bartetzky; Abb. 21 http://ica-sofia.org; Abb. 22 http://www.canoncam.de; Abb. 23 Archiv Christian Dietz.

Sperriges Erbe. Politische Denkmäler und Staatsbauten der DDR im wiedervereinigten Deutschland Abb. 1–4 Foto Bartetzky; Abb. 5 Demontage... Revolutionärer oder restaurativer Bildersturm? Texte & Bilder. Hg. von Bernd Kramer. Berlin 1992; Abb. 6–7 Foto Bartetzky; Abb. 8 Leipziger Blätter, Foto Hubertus Adam; Abb. 9 Foto Karin Wieckhorst (1–3), Universität Leipzig (4); Abb. 10 Leipziger Blätter, Foto Hubertus Adam; Abb. 11 Leipziger Blätter, Foto Heinz-Jürgen Böhme; Abb. 12 Foto Matthias Witt; Abb. 13–16 Foto Bartetzky; Abb. 17–18 Neue Sächsische Galerie, Chemnitz.

Von der stalinistischen Idealstadt zum postsozialistischen Kultort: Die polnische Arbeiterstadt Nowa Huta hofft auf eine Renaissance Abb. 1–3 Pejzaż miasta – 55 lat Nowej Huty [Stadtlandschaft – 55 Jahre Nowa Huta]. Hg. vom Nowohuckie Centrum Kultury. Kraków 2004, Foto Henryk Makarewicz (1–2), Wiktor Pental (3); Abb. 4 Wikipedia  /  Tur666; Abb. 5 Karnasiewicz, Jerzy Aleksander: Nowa Huta. Okruchy życia i meandry historii [Nowa Huta. Krümel des Lebens und Mäander der Geschichte]. Kraków 2003; Abb. 6 Wikipedia / Kroo; Abb. 7 Pejzaż miasta… 2004 (wie Abb. 1–3), Foto Adam Gryczyński.

Neue Esten neben alten Russen. Tallinn baut an seiner Zukunft – die sowjetische Vergangenheit steht dabei im Weg Abb. 1–8 Foto Bartetzky.

Bauen für die Versöhnung. Aufbruch in Belfast Abb. 1–4 Foto Bartetzky.

Pornos auf dem Plasmabildschirm schauen und an bunten Drinks nippen. Polen debattiert über „gated communities“ Abb. 1 Wikimedia Commons / Kapitel; Abb. 2 eastway.

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Abbildungsnachweis

Keine Belehrungen. Urbanisten staunen über Chinas Stadtentwicklung – und sind ratlos Abb. 1 Foto Bartetzky; Abb. 2 Wikipedia / Hawyih; Abb. 3 Wikipedia / Base64; Abb. 4–5 Foto Bartetzky.

Herausgeputzt für den Frieden. Die Sanierung der georgischen Kleinstadt Signagi Abb. 1–3 Foto Bartetzky.

Der Stadtkonservator als Alleinherrscher. Kubanische Schule der Denkmalpflege Abb. 1–4 Foto Bartetzky.

Friede den Wellblechhütten. Das gefährdete koloniale Bauerbe im jamaikanischen Falmouth Abb. 1–4 Foto Bartetzky.

Archäologischer Kriegsvergnügungspark. Die Ruinenstadt Forst-Ost in der Niederlausitz Abb. 1–5 Foto Bartetzky.

IngrId HolzscHuH

WIener stadtpl anung Im natIonalsozIalIsmus von 1938 bIs 1942 das neugestaltungsprojek t von arcHItek t Hanns dustmann

Diese Dokumentation der Wiener Neugestaltungsplanungen von 1938 bis 1942 präsentiert erstmals eine umfangreiche Darstellung der Stadtplanung im Nationalsozialismus. Denn nahezu unerforscht sind jene Projekte der sogenannten Gauhauptstädte, die neben den bekannten Großplanungen der »Führerstädte« entstanden. Auch in Wien wurde unmittelbar nach dem »Anschluss« 1938 an der Neugestaltung der Stadt gearbeitet. Im Ringen um die Vormachtstellung in der Stadtplanung zwischen kommunalen Instanzen und der Reichsebene wurde mit der Berufung des Berliner Architekten Hanns Dustmann im Herbst 1940 zum neuen Baureferenten von Wien eine zentralistische Kontrolle konstituiert. Die Aufarbeitung neuer Quellen ermöglicht nun endlich die Schließung einer wichtigen Lücke in der Architekturgeschichte Wiens. 2011. 122 S. 66 S/w-Abb. br. 170 x 240 mm. ISbN 978-3-205-78719-8

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StadtgeStalt und Öffentlichkeit die entStehung politiScher r äume in der Stadt der Vormoderne

Seit dem Mittelalter ist die Stadt der exklusive Ort politischer Versammlungen, eine Eigenschaft, die ihre Form entscheidend mitgeprägt hat. Die Wechselwirkung von repräsentativem Handeln und urbaner Struktur wird im vorliegenden Sammelband aus kunsthistorischer, historischer und archäologischer Sicht in den Blick genommen. Welche öffentlichen Orte der symbolischen Kommunikation zwischen Regierung und Bevölkerung gibt es in der Stadt? Wo liegen sie und wie sehen sie aus? Wie wirken sich Veränderungen der Öffentlichkeit auf das Stadtbild aus? Die Beiträge gehen der Frage nach, welche Folgen die sich wandelnde Beschaffenheit von Öffentlichkeit auf die Entstehung, Nutzung und Gestaltung von städtischen Zentren im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit hatte. 2010. 349 S. Mit 108 S/w-Abb. Gb. 170 x 240 MM. iSbN 978-3-412-20295-8

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