Das unruhige Schlesien: Krisendynamik und Konfliktlösung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert 9783412217808, 9783412223922

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Das unruhige Schlesien: Krisendynamik und Konfliktlösung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
 9783412217808, 9783412223922

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Das unruhige Schlesien

NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE herausgegeben von JOACHIM BAHLCKE Band 25

ARNO HERZIG

DAS UNRUHIGE SCHLESIEN Krisendynamik und Konfliktlösung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Jörg Deventer und Christine Schatz

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie von der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und der Historischen Kommission für Schlesien.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Sozialer Protest 1846 vor einem Bäckerladen am Breslauer Neumarkt. Die preußische Infanterie schoss dabei auf die Protestierenden; Gemälde des 1816 in Breslau geborenen Malers Philipp Hoyoll (© picture alliance / akg-images)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22392-2

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Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Begleitwort des Verfassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 I. Reformation und Konfessionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 01. Der Reformator Johann Sigismund Werner (1491–1554) und die Reformation der Schwenckfelder im Herzogtum Liegnitz und in der Grafschaft Glatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 02. Die Vier-Reiche-Lehre und das baldige Ende der Weltgeschichte. Die Leichenpredigt des Habelschwerdter lutherischen Pfarrers Caspar Elogius zum Tod Kaiser Maximilians II. 1576 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 03. Schlesien und die Grafschaft Glatz im Zeitalter des Konfessionalismus . . . . . 39 04. Das Erleben des konfessionellen Zeitalters im Spiegel der Grafschaft Glatzer Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 05. Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Rupprecht. Zum Kryptoprotestantismus in der Grafschaft Glatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 06. Die Jesuiten im feudalen Nexus. Der Aufstand der Ordensuntertanen in der Grafschaft Glatz im ausgehenden 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 07. Die Entstehung der Barocklandschaft in der Grafschaft Glatz . . . . . . . . . . . . 113 08. Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 09. Die gegenreformatorischen Strategien der Glatzer Jesuiten und die Barockmalerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 10. Die Rezeption Gustav Adolfs in Schlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 11. Die erzwungenen Reisen der schlesischen Konfessionsflüchtlinge im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 12. Die gegenreformatorischen Verlagsstrategien in Schlesien . . . . . . . . . . . . . . . . 160

II. Judaica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 13. Die Juden Breslaus im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Schlesische Juden als Finanzagenten des Adels im 18. Jahrhundert . . . . . . . . 15. Jüdische Infrastruktur zur Zeit Friedrichs II. von Preußen in Glogau/Niederschlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Jüdische Hochzeiten im Barockzeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Der Beitrag der schlesischen Juden zur Kultur des Landes . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

18. Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 19. Die NS-Zeit im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . 244

III. Sozialer Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 20. Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 21. Der schlesische Weberaufstand. Das Ende des Sozialen Protests oder der Anfang der Arbeiterbewegung in Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . 281

IV. Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 22. Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Zwischen Berlin und Breslau. Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) und die Anfänge der Germanistik (mit Jobst Herzig) . . . . . . 24. Breslaus Universität im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Der „Fall Cohn“ und die Gleichschaltung der Universität Breslau 1932/33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 27. Georg Gloger (1603–1631) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 28. Holtei und das Breslauer Bürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 29. Die Angelus Silesius-Rezeption durch Wilhelm Bölsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Verzeichnis der Erstdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Schriften von Arno Herzig zur historischen Schlesienforschung (1987–2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort der Herausgeber „Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe.“1 Diese auf die Mechanismen des Gedächtnisses gerichtete Aussage aus Gustav Meyrinks „Der Golem“ stellte einst Saul Friedländer seiner erstmals 1978 in Paris erschienenen Autobiografie voran.2 Der Satz scheint auch den Hintergrund und die Genese der Mitte der 1980er Jahre einsetzenden Beschäftigung zu charakterisieren, die einen an einer norddeutschen Hochschule tätigen Historiker in die Arme der Geschichte und Kultur Schlesiens trieb. Dies trug sich zu in einer Phase, als in der Bundesrepublik die Behandlung dieser Geschichtsregion im akademischen Leben durchaus noch als unzeitgemäß, ja mitunter sogar als unseriös betrachtet wurde. Diesen Vorbehalt gegenüber der Schlesienforschung als gänzlich unbegründet abzutun, ginge natürlich zu weit, denn es ist ja durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass in jenen Jahren, ja mitunter bis heute,3 in den Darstellungen zu Orten und Regionen ­historischer ostdeutscher Länder national verengte Sichtweisen gepflegt wurden (und werden). ­Dabei werden die langen Schatten der deutschen „Ostforschung“ erkennbar, die bis in die 1960er Jahre tonangebend war und mit Fragestellungen und Paradigmen operierte, die sich in einem preisenden Duktus und mit einer gehörigen Portion nostalgischer Verklärung fast ausschließlich auf den deutschen Anteil an der Geschichte Ostmitteleuropas konzentrierte.4 Arno Herzig, der Autor der hier vorgelegten Aufsatzsammlung, wird sich bei seiner vor rund dreißig Jahren getroffenen Entscheidung, sich dem Gebiet der historischen Schlesienforschung zuzuwenden und sich dadurch mit den Augen des Historikers seiner Herkunftsregion anzunähern, um derlei Debatten kaum Gedanken gemacht haben. Denn erstens traf Herzig diese Entscheidung nicht als junger Nachwuchswissenschaftler, sondern als Inhaber einer ordentlichen Professur. Und zweitens hatte er als professioneller und erfahrener Historiker bereits inhaltlich wie methodisch ein spezifisches

1 Meyrink, Gustav: Gesammelte Werke, Bd. 1–3. Leipzig 1915–1917, hier Bd. 1: Der Golem, 89. 2 Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt. München 62007 [Stuttgart 11979; zuerst frz. u. d. T. Quand vient le souvenir. Paris 1978]. 3 Vgl. etwa die Rezension von Kossert, Andreas: Venedig des Nordens. Frank Fischer erforscht die einzigartige Geschichte Danzigs, doch bleibt er zu einseitig der deutschen Perspektive verpflichtet. In: Die ZEIT vom 18. Mai 2006. 4 Zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der „Ostforschung“ vgl. etwa Unger, Corinna R.: ­Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945–1975. Stuttgart 2007; Mühle, Eduard: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Herman Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005; Piskorski, Jan M./Hackmann, Jörg/Jaworski, Rudolf (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. Osnabrück 2002.

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Vorwort der Herausgeber

Forschungsprofil ausgebildet, auf das er nun in produktiver Weise für seinen neuen Forschungsgegenstand zurückgreifen konnte. So war Herzig – um nur ein Beispiel zu nennen – mit Konfigurationen ethnischer beziehungsweise religiös-konfessioneller Gemengelagen mit den ihnen eigenen Konflikten und Spannungen, aber auch Dynamiken eines fruchtbaren Austauschs bestens vertraut und hatte somit die produktiven Potenziale multiperspektivischer Ansätze bereits erprobt und schätzen gelernt. Unterm Strich könnte man es auch so formulieren: Auf dem Gebiet der historischen Schlesienforschung war Herzig ein Quereinsteiger. Dies unterscheidet ihn markant von den beiden anderen Forscherpersönlichkeiten, deren Aufsätze zur Geschichte und Kultur Schlesiens in gesammelter Form in dieser Schriftenreihe veröffentlicht wurden5, hatten sich diese doch bereits in ihren Dissertationen der schlesischen Geschichte zugewandt: namentlich Norbert Conrads mit einer Arbeit über die Durchführung der Altranstädter Konvention in den Jahren 1707 bis 17096 und Jan Harasimowicz mit einer Studie über die protestantische Kunst in Schlesien während des 16. und 17. Jahrhunderts.7 Um diesen „Quereinstieg“ Arno Herzigs vor Augen zu führen, sollen im Folgenden die wichtigsten Stationen seines beruflichen Werdegangs und Schwerpunkte seines wissenschaftlichen Arbeitens vorgestellt werden. Geboren 1937 zu Albendorf im Kreis Glatz, erlebte Arno Herzig als Kind Krieg, Vertreibung und Flucht, die seine Familie zunächst nach Iserlohn/Westfalen führte. Das Studium der Geschichte, Germanistik, Geografie und Volkskunde an den Universitäten Würzburg, Wien, Münster und Bochum mündete schließlich in eine intensivere ­Beschäftigung mit der mittelalterlichen Ordensgeschichte; 1965 wurde Herzig mit einer Studie über die Deutschordenskommende Würzburg promoviert.8 Parallel zum Schuldienst, in dem er bis zum Jahr 1975 verblieb, begann Arno Herzig, sich die Geschichte der Arbeiterbewegung und die neuzeitliche Geschichte der Juden in Deutschland als neue Forschungsfelder zu erarbeiten. Dies mündete 1973 in die Habilitationsschrift über die Emanzipation der Juden in Westfalen im 19. Jahrhundert – eine Untersuchung, die immer noch als eine Pionierstudie auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung nach der Shoah gilt, auch vierzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung.9 Seit 1976 zunächst als außerplanmäßiger Professor an der Universität Essen

5 Conrads, Norbert: Schlesien in der Frühmoderne. Zur politischen und geistigen Kultur eines habsburgischen Landes. Hg. v. Joachim Bahlcke. Köln/Weimar/Wien 2009; Harasimowicz, Jan: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Matthias Noller und Magdalena Poradzisz-Cincio. Köln/Weimar/Wien 2010. 6 Conrads, Norbert: Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707–1709. Köln/Wien 1971. 7 Harasimowicz, Jan: Treści i funkcje ideowe sztuki śląskiej reformacji 1520–1650. Wrocław 1986. 8 ������������������������������������������������������������������������������������������ Herzig, Arno: Die Deutschordenskommende Würzburg (1219–1549). Ihre Stellung als bischöfliche „Hauskommende“ und Komturspfründe. Würzburg 1966. 9 Ders.: Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973.

Vorwort der Herausgeber

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tätig, wurde Arno Herzig 1979 dann auf die Professur für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Hamburg berufen. Der neue Wirkungsort bildete den Ausgangspunkt für die Hinwendung zu weiteren Themenfeldern. Zu nennen wären hier die Bereiche der historischen Unterschichtenforschung und des sozialen Protests in der Frühen Neuzeit sowie – damit eng verknüpft – die Wirkung der Französischen Revolution auf die deutsche Staatenwelt. Bei einem Blick in das Inhaltsverzeichnis der hier versammelten 29 Aufsätze, die zwischen 1987 und 2013 erschienen sind und sich chronologisch vom Zeitalter des Humanismus und der Reformation bis in die Zeit des Nationalsozialismus erstrecken, wird deutlich, dass Arno Herzig in seiner Beschäftigung mit der Region Schlesien an von ihm bereits früher verfolgte Themenbereiche wie etwa die Geschichte der Juden im frühneuzeitlichen Territorialstaat und die historische Protestforschung anknüpfen konnte. Schlesien und seine heimatliche „Grafschaft“ Glatz boten aber zugleich auch die Möglichkeit, sich neuen Forschungsfragen zu öffnen. Neben der Universitätsgeschichte rechnen dazu die reformatorischen Bewegungen und die Konfessionalisierung. Angesichts ihrer strukturprägenden Rolle in der Zeit der habsburgischen Oberhoheit über Schlesien zwischen 1526 und 1742 galt Herzigs besonderes Augenmerk dabei, neben dem Reformorden der Jesuiten und der katholischen Barockkultur, dem Phänomen der Rekatholisierung, von ihm selbst definiert als die „weitgehend durch Gewalt herbeigeführte Einrichtung der katholischen Konfession als allein gültige Konfession im Staat“.10 Wie die synthetisierende Monografie über Rekatholisierungsprozesse im Alten Reich einschließlich Österreichs und Böhmens zeigt, beschränkte sich Herzigs Interesse jedoch nicht allein auf Schlesien und Glatz. Sein Bemühen galt vielmehr dem Versuch, Strukturen und Entwicklungen in Schlesien und im Alten Reich immer wieder miteinander in Beziehung zu setzen und stärker als bisher zusammen zu sehen. Noch etwas anderes verdient, hervorgehoben zu werden – womit noch einmal die oben bereits erwähnte erstaunliche Breite der von Arno Herzig aufgegriffenen Themen und Ansätze deutlich wird: Die Religionspolitik der Habsburger in Schlesien und Glatz ist für Herzig alles andere als eine Erfolgsstory. Sicherlich: Ausgehend von der Sicht und den Strategien der Gegenreformatoren notiert er deren Erfolge und erbringt ferner den Nachweis, dass es der katholischen Kirche unter maßgeblicher Beteiligung der Jesuiten gelang, durch die Implementierung alltagsreligiöser Praktiken einen Grundstock für die Verinnerlichung der katholischen Konfession zu legen. Stets quellennah und mit dem Blick für die nötigen Differenzierungen macht Arno Herzig dabei immer wieder auf das Phänomen der kulturellen Modernisierung im Rahmen konfessioneller Formierungs- und Abgrenzungsprozesse aufmerksam. Der von Neugier und offenkundig auch von Sympathie für die frühneuzeitlichen katholischen Kulturen angetriebene Autor

10 Ders.: Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Göttingen 2000, 14.

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Vorwort der Herausgeber

beschränkt sich jedoch nicht auf die „etatistische“ Perspektive oder, anders ausgedrückt: auf die Sicht „von oben“. Vielmehr interessiert er sich genauso für den „Sand im Getriebe“, will sagen: für Hemmnisse und Störfaktoren im Kontext der konfessionellen Homogenisierungspolitik. Dies schlägt sich etwa nieder in der Behandlung des Kryptoprotestantismus und der Konfessionsmigration; ferner, indem er Fragen wie diejenigen nach den spannungsvollen und oft ambivalenten Beziehungen zwischen Obrigkeit und „gemeinem Mann“ oder dem Mit-, Neben- und Gegeneinander von Protestanten und Katholiken in den gemischtkonfessionell strukturierten Räumen Schlesiens in den Blick nimmt und sich dabei auch für das Verhältnis zwischen der Hoch-Theologie und der den Alltag bestimmenden Religiosität des „einfachen“ Menschen interessiert. Neben dem wissenschaftlichen Publizieren lagen Arno Herzig seit jeher auch andere Bestandteile einer lebendigen Wissenschaftskultur am Herzen. Immer an einem engen Austausch „auf Augenhöhe“ mit den Studierenden interessiert, widmete er sich als Hochschullehrer intensiv seiner Lehrtätigkeit, was die große Zahl der von ihm betreuten Abschlussarbeiten, Dissertationen und Habilitationen belegt. Das pädagogische Anliegen, historische Fakten, Zusammenhänge und Entwicklungen aus dem Gebiet seiner Forschungen verständlich, interessant und vorurteilsfrei zu vermitteln, fand und findet seinen Ausdruck aber auch in zahlreichen Gastvorträgen an auswärtigen Universitäten, vor einer breiteren interessierten Öffentlichkeit sowie in Veröffentlichungen für die Bundeszentrale für politische Bildung. Einen langjährigen und intensiven fachlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in Deutschland pflegt Arno Herzig durch seine Mitarbeit in Vereinigungen und Arbeitskreisen, die eng mit seinen Forschungsgebieten korrespondieren, wie den Historischen Kommissionen für Westfalen beziehungsweise Schlesien, dem Carlebach-­ Arbeitskreis der Universität Hamburg, dem Hamburger Arbeitskreis für Regionalgeschichte, der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden sowie Mitgliedschaften im Kuratorium des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und des Leo-Baeck-Instituts. Arno Herzig hat sich jedoch nie auf den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus seiner eigenen Disziplin beschränkt, sondern immer auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Vertretern aus den Gebieten der Kunstgeschichte, Germanistik, Politischen Wissenschaften, Theologie und Erziehungswissenschaften gesucht – und gefunden. Dies gilt auch für die langjährigen und vielfältigen Kooperationen mit Vertretern unterschiedlicher Fachdisziplinen besonders in Polen und ­Tschechien. Diese produktive Zusammenarbeit dokumentiert sich in gemeinsamen Publikationen, dem Austausch auf Wissenschaftskonferenzen, Veröffentlichungen Arno Herzigs in polnischen und tschechischen Fachzeitschriften und Vorträgen am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau. Für sein Bemühen um eine Verständigung zwischen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland und Ostmitteleuropa und um eine konstruktive Zusammenarbeit ehrte die Karlsuniversität Prag Arno Herzig mit der Verleihung der Gedenkmedaille (2003), die Universität Breslau mit der Verleihung der Jubiläumsmedaille (2011). 2010 wurde Arno Herzig (zusammen mit der Dirigentin Ewa Michnik) mit

Vorwort der Herausgeber

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dem Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen ausgezeichnet. Ehrungen erfuhr er schließlich auch durch Festschriften zum 65. und 70. Geburtstag11, die Letztere von polnischen Historikerkollegen überreicht – ein Akt, der die besondere Wertschätzung für einen deutschen Historiker zum Ausdruck bringt, der mit seinem wissenschaftlichen Wirken wichtige Brücken zwischen Deutschland und Polen gebaut hat. Jörg Deventer/Christine Schatz

11 Deventer, Jörg/Rau, Susanne/Conrad, Anne (Hg.): Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Münster/Hamburg/London 2002 [Berlin 22006]; Ruchniewicz, Krzysztof/Zybura, Marek (Hg.): „Z Gorzanowa w świat szeroki ...“. Studia i materiały ofiarowane Profesorowi Arno Herzigowi w 70-lecie urodzin. Wrocław 2007.

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Begleitwort des Verfassers Die vier Jahrhunderte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert bieten eine bewegte Geschichte der Region Schlesien, die von Extremen geprägt war, was die Geschichte des Landes so interessant macht. Am östlichen Rand des Alten Reiches gelegen, kamen aus diesem Land zahlreiche Impulse des geistigen und kulturellen Lebens. In fünf Schwerpunktthemen versuchen die Beiträge, das soziale und kulturelle Profil dieser Region zu umreißen: Der erste Schwerpunkt untersucht das reformatorische und konfessionelle Zeitalter mit seinen sozialen, politischen und kulturellen Auseinandersetzungen. Der zweite Schwerpunkt befasst sich mit dem Judentum. Schlesien bildete trotz der latenten Konfliktsituation ein bedeutendes Zentrum des deutschen Judentums, das wichtige Beiträge zur Entwicklung des modernen Judentums, aber auch der schlesischen Kultur bot. Der soziale Protest – das ist der dritte Schwerpunkt – war schon im 16. Jahrhundert die einzige Möglichkeit der Unterschichten, sich politisch zu artikulieren. Er führte im 19. Jahrhundert zur Herausbildung der Arbeiterbewegung und leistete somit eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der modernen Demokratie. Der vierte Schwerpunkt widmet sich der Wissenschaftsgeschichte. Wenn Schlesien auch erst im 19. Jahrhundert eine Landesuniversität erhielt, so zeugen die Leistungen schlesischer Wissenschaftler im Zeitalter des Humanismus beziehungsweise des Barock von der hohen Qualität der dortigen Gymnasien, wozu sicher auch die konfessionelle Konkurrenz beitrug. Die Rolle, die die Universität im kulturellen Leben Schlesiens spielte, spiegelt sich auch in den Wissenschaftler- und Künstlerbiografien, die im fünften Schwerpunkt vorgestellt werden. All diese Prozesse waren geprägt durch eine innere Dynamik, die Schlesien zu einem „unruhigen“ Land machte, was freilich positiv zu verstehen ist. Das politische Gebilde Schlesien war recht komplex. Trotz der seit 1526 bestehenden habsburgischen Oberhoheit, die bis 1742 dauerte, existierten mit den Herzogtümern der Piasten und der Podiebrad sowie den Standesherrschaften regionale Gewalten, die eine vielgestaltige Entwicklung ermöglichten. Dies gilt für die unterschiedliche kulturelle wie soziale Entfaltung, sei es der christlichen wie der jüdischen Kulturen. Die „preußische Wende“ nach 1742 führte zwar zu einer stärkeren staatlichen Verdichtung, löste aber nicht die sozialen Probleme, die erst im späten 19. Jahrhundert zum Teil überwunden wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg verschärften sich allerdings wieder die Probleme bis hin zur Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, gegen die es in Schlesien nur vereinzelt Widerstandspotenziale gab. Der erste Schwerpunkt befasst sich – wie bereits angemerkt – mit den Reformatorischen Bewegungen und der Konfessionalisierung. Die Wissenschaftsdebatte der 1980er und 1990er Jahre, die sich mit dem Konfessionalismus im 16. und 17. Jahrhundert auseinandersetzte, hatte die für dieses Thema bedeutende Region Schlesien/­Grafschaft Glatz völlig ausgeblendet. Dies war der Ausgangspunkt für ein VW-Forschungsprojekt zu diesem Thema an der Universität Hamburg, aus dem die Publikationen von Jörg

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Deventer, Jens Baumgarten, Susanne Rau und Anne Brenker hervorgingen.1 Auf einer Tagung des Vereins für Schlesische Kirchengeschichte 1997 in Görlitz-Jauernigk konnten die Wissenschaftler/innen ihre ersten Ergebnisse vorlegen.2 Mein Schwerpunkt lag dabei primär in der konfessionellen Entwicklung der zu Böhmen und ab 1742 zu Schlesien gehörenden Grafschaft Glatz, die einen Musterfall habsburgischer Konfessionspolitik darstellt.3 Während die Habsburger als Landesherren ihre katholische Monokonfessionalisierung hier durchzusetzen vermochten, was zunächst mithilfe von Gewalt, aber später dann durch die subtilen Formen des Barockkatholizismus geschah, blieben sie in Schlesien damit weitgehend ohne Erfolg, was zu einer in diesem Zeitalter recht seltenen Erscheinung eines bikonfessionellen Landes führte. Das Nebeneinander der Konfessionen wirkte sich überraschenderweise kaum negativ auf das Zusammenleben der Bevölkerung aus, das sich weitgehend friedlich abspielte. Die Bikonfessionalität des schlesischen Landes schuf eine kulturell reiche Landschaft. Die Beiträge dieses Bandes versuchen auch die Ansichten des „gemeinen Mannes“ in diesem Prozess zu reflektieren, wozu vor allem die Analyse der Chroniken geeignet ist, nicht weniger aber auch die der Protestaktionen, im vorliegenden Fall gegen die Jesuiten, dem Orden also, der eine der wichtigsten Kräfte in diesem Prozess war. Der zweite Schwerpunkt befasst sich mit dem schlesischen Judentum. Auch wenn in der Frühen Neuzeit die Juden in Schlesien nur an wenigen Orten geduldet wurden, so waren sie doch nicht gänzlich vertrieben worden, wie in den meisten Territorien des Alten Reiches. Sein Existenzrecht verdankt das schlesische Judentum den ökonomischen Interessen der Habsburger, später der Preußen sowie denen des Adels. Dies begünstigte auch den Zuzug der Juden aus Polen, die in Breslau für einen blühenden Osthandel sorgten. Die aus Polen zugezogenen Juden waren recht orthodox, was im Zeitalter der Aufklärung zu heftigen Kontroversen mit den Maskilim, den jüdischen Aufklärern, führte. Breslau wurde deshalb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der zentralen Orte in der Auseinandersetzung zwischen Orthodoxen und Reformern. Trotz endgültiger Legalisierung einer jüdischen Gemeinde in der Metropole des Landes durch den preußischen König Friedrich II. 1744 blieb ihr Existenzrecht auch in Breslau in der Folgezeit bisweilen gefährdet. Der Staat schränkte ebenfalls die Zahl der jüdischen Einwohner erheblich ein, wobei er im 18. Jahrhundert kaum Rücksicht 1 Deventer, Jörg: Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526–1707. Köln/Weimar/Wien 2003; Baumgarten, Jens: Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560–1740). Hamburg/München 2004; Rau, Susanne: Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskulturen in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln. Hamburg/München 2002; Brenker, Anne-Margarete: Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg/München 2000. 2 Vgl. die Beiträge von Anne Conrad, Jörg Deventer, Usha Maria Govil und Jens Baumgarten. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/98). 3 Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996.

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Begleitwort des Verfassers

auf familiäre Belange nahm. Wie das Beispiel Glogau zeigt, war man auf jüdischer Seite sehr bemüht, mit der christlichen Gesellschaft möglichst konfliktfrei zu leben. Die, wenn auch eingeschränkte, Autonomie, die die Gemeinde besaß, war von Vorteil, um eventuell auftretende Konflikte möglichst vonseiten der Gemeinde zu regeln. Seit dem 17. Jahrhundert nutzte der schlesische Adel die Juden für seine ökonomischen Interessen, wobei diese (freilich in geringerem Maße) in Oberschlesien den Status k­leiner Hoffaktoren erlangten und vielfach für die Produktion und Vermarktung der landwirtschaftlichen Produkte zuständig waren. Im 19. Jahrhundert boten diese Positionen eine wichtige Voraussetzung dafür, als Unternehmer oder Finanziers in die oberschlesische Hütten- und Bergindustrie einzusteigen. Im 18. und 19. Jahrhundert waren die Juden zudem gefragte Finanziers oder Agenten für den schlesischen Adel bei dessen umstrittenem „Güterschacher“. Die Stein-Hardenbergschen Reformen brachten hier einen Wandel. Der Übergang von der Privilegien- zur freien Marktwirtschaft ermöglichte Chancen nicht nur für die Finanzwirtschaft jüdischer Unternehmer, sondern auch für eine freie Entfaltung in allen Disziplinen des tertiären Sektors. Aus dem einfachen jüdischen Händler wurde der Geschäftskaufmann. Damit verbunden war der Aufstieg ins Bürgertum, an dessen Herausbildung die Juden in Schlesien erheblichen Anteil hatten. Ihr Beitrag zur Kultur des Landes war enorm, was auch von dem (latent) antisemitisch eingestellten nichtjüdischen Bürgertum kaum geleugnet wurde. Die Juden in Schlesien glaubten an die kulturellen Werte des Bürgertums auch dann noch, als diese von weiten Teilen des nichtjüdischen Bürgertums längst an den Nationalsozialismus verraten worden waren. Mein Einstieg in die schlesische Geschichtsforschung zu Beginn der 1980er Jahre führte über die Thematik des Sozialen Protests, mit dem ich mich damals für eine größere Studie befasste.4 Schlesien mit seinen zahlreichen Protesten, bei denen sich die Unterschichten mit ihren politischen und sozialen Aufständen hervortaten, zeigt eine problematische Seite der schlesischen Geschichte. Es dauerte in Schlesien lange, bis die feudalen Relikte überwunden wurden. Diese waren mitursächlich für die Probleme der schlesischen Protoindustrie, mit der sich die Landbevölkerung aufgrund der zu kleinen Agrarflächen, die ihr zur Verfügung standen, über Wasser zu halten versuchte, was in dem schlesischen Weberaufstand von 1844 deutlich wird. Die Struktur der schlesischen Landwirtschaft blieb problematisch. Die Agrarreformen waren steckengeblieben oder sogar in das Gegenteil ihrer Intention verkehrt worden. Der Großgrundbesitz hatte unter Führung des einflussreichen Adels, vor allem des Hochadels, seine wirtschaftliche Position auf Kosten der einfachen Landbevölkerung verbessern können. Doch auch 4 Ders.: Unterschichtenprotest in Deutschland 1790–1870. Göttingen 1988. Rainer Sachs machte mich damals dankenswerterweise auf eine wichtige Quelle, die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose über den Breslauer Gesellenaufstand von 1793, aufmerksam, die wir dann gemeinsam publizierten. Vgl. Herzig, Arno/Sachs, Rainer: Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation. Göttingen 1987.

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das Bürgertum tat sich schwer mit den Protestaktionen des „Pöbels“, wie im Beitrag über Karl von Holtei deutlich wird. Zur Bestimmung der eigenen Identität versuchte es, sich von den Unterschichten abzugrenzen und dessen Aktionen als Pöbelproteste abzutun, selbst wenn bürgerliche Gruppen daran beteiligt waren, wie 1817 bei dem Breslauer Handwerkeraufstand.5 Sie waren Folge der sozialen Schwierigkeiten, die die Stein-Hardenbergschen Reformen für das Handwerk mit sich brachten. Erfolgreicher waren die Reformen auf dem Bildungssektor, vor allem durch die Neugründung der Breslauer Universität 1811. Sie wurde in erster Linie von den Landeskindern besucht und bot nun auch für ärmere Schichten die Möglichkeit zum Besuch der Universität, wodurch allerdings das Image einer provinziellen, dazu recht armen Studentenschaft entstand. Dies war jedenfalls der Eindruck einiger Professoren im 19. Jahrhundert. Auch wenn die Breslauer Universität nach Humboldts Reformvorstellungen organisiert wurde, so lag eine Neugründung der Universität Breslau nicht in seinem Sinn. Er wollte die Viadrina in Frankfurt/Oder erhalten und die Breslauer Universität lediglich als katholische theologische Hochschule für ganz Preußen ausbauen. Dass es nach seinem Abgang als Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht (1810) dann doch anders kam, ist das Verdienst seines Nachfolgers von Schuckmann, unterstützt von dem pädagogischen Konzeptenentwickler Süvern. Die Bedeutung der Breslauer Universität zeigt sich auch in den Biografien bedeutender Zeitgenossen wie Karl von Holtei und Joseph Wittig. Die Gleichschaltung der Universität durch die Nationalsozialisten, die bereits 1932 einsetzte, macht deutlich, wie gering die akademischen ­Widerstandspotenziale waren. Dies hatte die Verdrängung der Wissenschaftler jüdischer Herkunft zur Folge, obwohl diese, vor allem in der Medizin, erheblich zum positiven Ruf der Universität beigetragen hatten. Mein Dank gilt dem Herausgeber der Reihe ‚Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte‘, meinem Stuttgarter Kollegen Joachim Bahlcke, für die Aufnahme meiner Abhandlungen in diese Reihe. Christine Schatz und Jörg Deventer danke ich nicht nur für die jahrelange gute Zusammenarbeit, sondern auch für die Betreuung dieses Bandes. Dankbar bin ich ferner den Studierenden, mit denen ich in den Doktorand(inn)enseminaren die schlesischen Themen diskutieren konnte. Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Kolleginnen und Kollegen von der Universität Wrocław, die mich immer wieder zu gemeinsamen Projekten anregten, die dann in Vorlesungen und Vorträgen an der Universität Wrocław sowie in den von ihnen herausgegebenen Publikationen ihren Niederschlag fanden. Arno Herzig

5 Herzig, Arno: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 2008, 135f.

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1. Der Reformator Johann Sigismund Werner (1491–1554) und die Reformation der Schwenckfelder im Herzogtum Liegnitz und in der Grafschaft Glatz Johann Sigismund Werner war in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine der bedeutendsten reformatorischen Persönlichkeiten Schlesiens, auch wenn er in der Stille wirkte und nie so recht aus dem Schatten Caspar von Schwenckfelds heraustrat. Für Schwenckfeld selbst war Werner nach dem Tod Valentin Krautwalds (1465–1545) der bestimmende Theologe seiner Glaubensrichtung. Mit seinem Katechismus und seiner Postille schuf Werner für die Schwenckfelder eine systematische theologische Basis. Geboren wurde er vermutlich 1491 in Goldberg/Schlesien, wo sein Vater bald nach seiner Geburt starb, sodass Werner bis zu Beginn seines Studiums unter der Vormundschaft seines Schwagers stand, der auch seine Erbschaft verwaltete. Der junge Johann Sigismund oder Sigmund besuchte das berühmte Gymnasium seiner Vaterstadt, das unter seinem Rektor Hieronymus Gürtler (1464–1513) ein hohes Ansehen als humanistisch orientierte Schule besaß. Als Didaktiker und Pädagoge hatte dieser den Grammatikunterricht vereinfacht und seine Schüler schon früh zu eigenen schriftlichen Arbeiten angehalten. Im Wintersemester 1507 wechselte Johann Sigismund von dem Goldberger Gymnasium an die Universität Leipzig, wo er als „Joannes Sigismundus Aurimontanus, de natione Polonorum“ in den Matrikeln geführt wird.1 Zwanzig Jahre vor Werners Studienantritt hatte Konrad Celtis (1459–1508) als Lehrer an dieser Universität 1486 die erste Poetik des deutschen Humanismus verfasst. Im Sommersemester 1512 erhielt Werner das Baccalaureat, ging nach Goldberg zurück und lehrte an seiner alten Schule unter den Rektoren Gürtler, Franz Sylvius (Amtszeit 1517–1523) und Georg Helmrich (Amtszeit 1523–1525). Goldberg hatte sich zwischenzeitlich der Lehre Luthers angeschlossen, was die Stadt in Konflikt mit ihrem Landesherrn, dem Liegnitzer Herzog Friedrich II., brachte, der der Lehre Schwenckfelds zuneigte. Als Helmrich 1525 Bürgermeister von Goldberg wurde, wollte die Stadt als Nachfolger dessen Studienfreund Valentin Trozendorf (1490–1556) in das Rektorenamt bringen, während der Herzog dafür den schwenckfeldischen Prediger Fabian Eckel († 1546) vorgesehen hatte. Eckel war jedoch von den Schülern abgelehnt worden, die ihn mit dem Spruch empfingen: „Fabian Eckel hat den Geist im Säckel“,2 woraufhin er auf dieses Amt verzichtete. Wie sich Werner in dieser Auseinandersetzung um seinen Liegnitzer und späteren Glatzer 1 ����������������������������������������������������������������������������������������� Hartranft, Chester David/Schultz Johnson, Elmer Ellsworth (Hg.): Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 1–19. Leipzig/Pennsburg 1907–1961, hier Bd. 6, 498–500; Lubos, Arno: Valentin Trozendorf. Ein Bild aus der schlesischen Kirchengeschichte. Ulm 1962, 28. 2 Lubos: Valentin Trozendorf, 29; Aelurius, Georg: Glaciographia, Oder Glätzische Chronica/ Das ist: Gründliche historische Beschreibung der berümbten und vornemen Stadt/ ja gantzen Graffschafft Glatz/ nach allen vornemsten Stücken. Auch von was vor hoher Obrigkeit [...] sie [...] regieret worden [...]. Leipzig 1625, 298.

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Konfrater verhielt, muss offenbleiben, doch stand er wohl eher aufseiten Eckels. Werner zählt wie auch Krautwald zu den Humanisten, den sogenannten schlesischen Reuchlinisten, wie Johannes Hess (1490–1547), der ebenfalls dazugehörte, diese Gruppe in einem Brief an den fränkischen Humanisten Willibald Pirckheimer bezeichnet hatte. Diese Humanistengruppe bereitete in Schlesien der Reformation den Weg, auch wenn ihre Mitglieder später unterschiedlichen Richtungen angehörten und einander als Schwenckfelder und Lutheraner bekämpften. Obwohl Werner nach seinem Theologiestudium keine Priesterweihe empfangen hatte, berief ihn Herzog Friedrich II. am 2. Dezember 1523 als Prediger an seinen Hof in Liegnitz, wo er zudem eine Predigttätigkeit an der St. Johannes-Kirche ausübte.3 Im selben Jahr, 1523, hatte auch Valentin Krautwald in Liegnitz ein geistliches Amt erhalten, und zwar als Lektor für Theologie am dortigen Kollegiatsstift. Waren beide, wie auch Schwenckfeld, zunächst Anhänger Luthers, so entwickelten sie unter dem Einfluss dieses schlesischen Edelmanns eine eigene Theologie, die 1526 von Luther eine erste entschiedene Zurückweisung erfuhr. Die Liegnitzer zählte der Wittenberger nun zu den Schwärmern, Schwenckfeld selbst bezeichnete er diffamierend als „Stänckfeld“.4 Zur Kontroverse führte die Auffassung vom Abendmahl, mit der sie von Luthers Transsubstantiationsauffassung abwichen. Wie sein Amtsbruder Sebastian Schubart in der Johannes-Kirche spendete Werner am 26. März 1524 das Abendmahl unter beiderlei Gestalt. Da in Schlesien im 15. Jahrhundert eine starke Abneigung gegen den Hussitismus geherrscht hatte, stand man dem Laienkelch zunächst distanziert gegenüber. Schubart und Werner waren die Ersten, die in Schlesien die Abendmahlspraxis Luthers aufnahmen. Später folgte ihnen hierin Eckel als Pfarrer an der Liegnitzer Liebfrauenkirche. Die traditionelle Messe behielten die Liegnitzer zunächst bei, wenn sie auch Deutsch als Liturgiesprache einführten. Als Humanisten legten Schwenckfeld, Krautwald und Werner großen Wert auf die Vermittlung der Glaubensinhalte an das einfache Volk. Sie verfassten deshalb 1525 den „Katechismus Lignicensis“, in dem Taufe und Abendmahl knapp behandelt wurden.5 Noch vor 1534 verfasste Werner dann allein einen ausführlicheren Katechismus, der allerdings vorerst noch nicht im Druck erschien, aber von Krautwald spätestens für dieses Jahr bezeugt wird. Dieser bildete nach seinem Erscheinen für mehrere Generationen der Schwenckfelder die Basis für ihre katechetische Unterweisung.6 Von Werner sind drei Opera unterschiedlichen Umfangs überliefert, die auf Betreiben Schwenckfelds hin gedruckt wurden und zu heftigen Kontroversen mit dem lutherischen Lager führten. Es handelt sich um seinen Katechismus, dessen erster Druck 1546, also noch zu Werners Lebzeiten, erfolgte.7 3 Weigelt, Horst: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien. Berlin/New York 1973, 9f. 4 Ebd., 20. 5 Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 18, 8–10. 6 Ebd., Bd. 5, 325. 7 Ebd., Bd. 9, 731–756.

Der Reformator Johann Sigismund Werner (1491–1554)

„Ein neuwer recht christlicher Catechismus“ von Johann Werner. Zum ersten Mal gedruckt 1546. Das abgebildete Titelblatt stammt von einer Ausgabe von 1600. Werner war Prediger in Rengersdorf (Kreis Glatz) von 1540 bis 1554. Er starb 1561.

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Vermutlich im selben Jahr, 1546, erschien sein nur zwanzig Seiten umfassender Traktat „Von der Ernidrigung des Sones Gottes“, ebenfalls in Katechismusform in Fragen und Antworten gehalten.8 Sein mit 623 Seiten umfangreichstes Werk, die „Postill“, wurde erst 1558, also nach Werners Tod, gedruckt.9 Als Schriften Werners werden ferner genannt: „Brieff wider die aussatzunge der sacrament gestellt und geschrieben“, vermutlich 1526 anlässlich der Liegnitzer Auseinandersetzungen um die Einstellung der Abendmahlfeier entstanden;10 aus dem Jahr 1539 stammt seine Confessio: „Bekanntnus unnd Rechenschafft der fürnemsten articul vonn dienste des Evangelii“, die sein Landes- und Dienstherr Herzog Friedrich II. zur Überprüfung von Werners „Rechtgläubigkeit“ an Philipp Melanchthon sandte (dabei umging er absichtlich Luther, „weil der etwas zu hitzig ist“11) – vielleicht ein letzter Versuch, um zumindest Johann Sigismund Werner als Prediger für Liegnitz zu retten. Doch Melanchthon wies Werners Confessio als nicht schriftgemäß zurück. Damit war auch Werner von den Wittenbergern als Schwenckfelder geächtet, somit der politischen Verfolgung preisgegeben und seine Wirksamkeit in Liegnitz beendet. Wenn auch Ferdinand I., seit 1526 böhmischer König und damit auch Oberherr über Schlesien, sich aus politischen Gründen gegenüber den Lutheranern gemäßigt gab, so ächtete er doch die radikaleren Reformatoren wie die Täufer und die Schwenckfelder. Herzog Friedrich II. von Liegnitz kam in den Verdacht, „Ketzerei, Irrung und Verführung“12 nicht nur zu dulden, sondern sogar zu fördern. Nach dem Bruch mit den Wittenbergern distanzierte sich Herzog Friedrich II. allmählich von den Schwenckfeldern, um die reformatorische Bewegung in Schlesien nicht zu gefährden.13 Für Ferdinand I. war in der „Ketzerei“-Frage in erster Linie die Transsubstantiationslehre ausschlaggebend, also die Frage der leiblichen Realpräsenz Jesu im Sakrament. Während sich Luther hierin nicht allzu weit von der Auffassung der Alten Kirche entfernt hatte, nahmen Schwenckfeld und seine Theologen eine vermittelnde Position zwischen Luther und dem radikaleren Zwingli ein, der das Abendmahl symbolisch deutete. Werner vertrat in seinem Katechismus und wohl auch auf der Kanzel eine Position, die beide Deutungen ermöglichte, hielt sich damit aber nach Einschätzung des Liegnitzer Syndicus Georg Thebelius „bedeckter“14 als sein Konfrater Eckel, der 1532 sein Liegnitzer Pfarramt verlor. Das Mandat Ferdinands I. vom 1. August 1528 gegen die „Sakramentsverächter“, denen die Todesstrafe angedroht wurde, zwang zur Vorsicht. Schwenckfeld war deshalb im Februar 1529 nach Straßburg ins Exil gegangen, um zumindest ein gemäßigtes Schwenckfeldertum in Schlesien zu retten. Für dieses stand wie Krautwald in der Liegnitzer Bruderschaft Johann Sigis 8 9 10 11 12 13 14

Ebd., Bd. 10, 131–154. Ebd., Bd. 15, 395–1031. Ebd., Bd. 6, 498–500. Weigelt: Spiritualistische Tradition, 73. Ebd., 89. Ebd., 100. Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 6, 499; Weigelt: Spiritualistische Tradition, 100.

Der Reformator Johann Sigismund Werner (1491–1554)

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mund Werner, der zusätzlich zu seinem Amt als Hofprediger auch als Professor an der nur kurzzeitig existierenden Liegnitzer Universität (1526–1529), neben Krautwald und seinem vermutlich alten Goldberger Schulfreund und späteren Gegner Valentin Trozendorf, tätig war. 1532 entließ der Herzog Werner vorsichtshalber als Hofprediger und ernannte ihn zum Prediger an der Peter und Paul-Kirche.15 In dieser Phase eines gemäßigten Schwenckfeldertums wurde nun Werner zum führenden Theologen, da sich Krautwald zurückzog. Die umfangreiche Predigtsammlung, die er später in seiner Postille zusammenfasste, wie auch sein Katechismus gehen wohl auf diese Zeit zurück, auch wenn ihm erst während seiner Rengersdorfer Tätigkeit nach 1540 mehr Zeit verblieb, sie auszuformulieren. Im Zentrum seiner Lehre stehen Glaubens- und Sakramentsauffassung sowie die Frage der Gemeinde und des Lebenswandels ihrer Mitglieder. In der Eucharistieauffassung steht Werner in der Tradition Krautwalds. Das materielle Brot vergegenwärtige im Abendmahl das himmlische Brot. Doch nur der Gläubige könne den Geist genießen, nicht aber der Ungläubige. Die Materie allein, die verderbe, bedeute nichts, eine Eucharistieverehrung im altkirchlichen Sinn sei deshalb nicht angebracht. Durch den Genuss des himmlischen Brotes partizipiere der Mensch während seines Lebens an der Gottheit. Dies setze freilich ein heiligmäßiges Leben voraus, um dieser Teilnahme würdig zu sein.16 Diese Auffassung führte in Liegnitz 1526 zu einer von Schwenckfeld, Krautwald und Werner propagierten Aussetzung des Abendmahlempfangs.17 Die Heiligung des Menschen war das oberste Ziel der Liegnitzer Reformatoren. Sie vertraten, trotz der Sündigkeit der Menschen, mittels der Lehre von der Deificatio ein sehr positives Menschenbild. Werner erläutert dieses in seiner Schrift von der Erniedrigung Jesu. In der Person Jesu seien die göttliche und menschliche Natur vereint und gleich. Die menschliche Natur Jesu sei vom Vater verklärt worden und auch durch den Tod nicht verloren gegangen. Sie sei auch nach der Himmelfahrt nicht ausgelöscht, so wenig, wie seine göttliche Natur durch die Menschwerdung ausgelöscht worden sei.18 Die Menschen hätten deshalb Anteil an dieser Göttlichkeit. Dieses aber werde denen offenbart, die glaubten und Gott ihr Herz auftäten, sie würden innerlich erleuchtet und erkennten ihre Verdammnis, aber zugleich auch die unaussprechliche Liebe Gottes, der den Tod des Menschen nicht wolle. Für das neue geistliche Volk, so Werner, reiche der Glaube allein nicht, sondern der Mensch müsse ein neuer Mensch werden, seine Sünden erkennen und Buße tun. Dann treibe Jesu aus den Herzen der Menschen den Makel und die Unreinheit der Sünden. Der Glaube, welcher den Menschen rechtfertige, fließe aus dem Wesen Gottes, sei eine Gabe Gottes, aus welcher das Innere des Menschen erneuert werde. In seiner Interpretation der Rechtfertigungslehre unterscheidet er zwischen Werkegerechtigkeit, also der äußeren Frömmigkeit, die nicht ausreiche, und der 15 16 17 18

Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 6, 499. Ebd., Bd. 9, 750; ebd., Bd. 15, 568ff.; Weigelt: Spiritualistische Tradition, 58. Weigelt: Spiritualistische Tradition, 74. Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 15, 648; ebd., Bd. 10, 148.

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Glaubensgerechtigkeit, aus der die guten Werke flössen. Ohne Glauben taugten die guten Werke allerdings nichts. Sie müssten in der Gnade Gottes stehen.19 In einer Zeit der geistlichen Verunsicherung boten die Schwenckfelder den Menschen eine Erlösungsperspektive. Zugute kam ihnen hierbei, dass sie ausgezeichnete Lehrer waren, die auf der Basis einer ausgeklügelten katechetischen Fragetechnik alle Zweifel und Missverständnisse zu beseitigen trachteten. Besonders Werner war hierin ein Meister, der mit der Frageformulierung den Leser zu gewinnen wusste. Immer wieder schob er Fragen nach, bis das Problem klar sein musste: „Ich kann dich doch nicht wol verstehen bei dieser erklärung/ völlest dich/ beger ich/ weitter erklören?“,20 lautet eine seiner typischen Fragen. Es fällt auf, dass Werner in seinen Predigten, trotz seiner umfangreichen Bibelerklärungen, gesellschaftspolitische Aspekte völlig unbeachtet lässt. Nur kurz kommt er im Zusammenhang mit der Hinrichtung Johannes des Täufers auf die Rolle der Obrigkeit zu sprechen, belässt es aber nur bei einer Warnung, die an die Verantwortung der Obrigkeit vor Gott erinnert.21 Im Hinblick auf die Existenz der Schwenckfelder als Kryptokonfession, das heißt als einer Existenz gegen die Befehle der Obrigkeit, stellt er den Gehorsam gegen Gott über die Befehle der Obrigkeit, wobei er sich auf die Apostelgeschichte beruft. Der von ihm projektierte Mensch führt in seiner Gemeinde oder in seiner Familie ein abgeschiedenes Leben und sorgt sich lediglich um die Reinheit seines Herzens, um sich Gott ganz zu öffnen. Auch karitative Gemeindeaufgaben werden nicht angesprochen: „Ein jederman sehe sich für/ und hütte sich für Gottlosem leben/ daß sein hertz nicht beschweret werde mit fressen und Vollsauffen/ das ihn dieser tag nicht erschleiche/ sonder lebe in Gottseligkeit/ Nüchtrigkeit unnd Gerechtigkeit/ und erwarte also seines Herren Jesu Christi/ nemme der zeit der gnaden vol war/ wache und bette/ und laß ab von allem übel“,22 lautet seine Maxime in der Postille. Es ist ein ausgesprochener Individualismus, den er vertritt, aber in der Tradition der Kreuzmystik. Die Menschen sollen in ihren traditionellen Rollen weiterleben. Das betrifft auch die Rolle der Frau: Die fromme Frau liebt ihren Mann, ist ihm gehorsam, hält zu ihm und liebt keinen anderen.23 In diesem Sinn führte wohl auch Johann Sigismund Werner seine Ehe. Über seine Frau erfahren wir nichts, nur über seine Söhne Abel und Bernhard, die später zu dem Vertrauten-Umfeld von Schwenckfeld gehören.24 Werner 19 20 21 22 23 24

Ebd., Bd. 15, 417. Ebd., Bd. 10, 147. Ebd., Bd. 15, 972. Ebd., 420. Ebd., 449, 487, 485. Ebd., Bd. 17, 735, 1023; Schottenloher, Karl: Der Augsburger Winkeldrucker Hans Gegler. Ein Beitrag zur Schwenckfeld-Bibliographie. In: Gutenberg-Jahrbuch 14 (1939) 233–242; Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, CAXVI, Nr. 6.1: Verhörprotokoll Gegler von 1559: „Aber Ime habs ainer zuegebracht Abel Wörner genannt. seins wissens ain Kürschner gesell. dessen vatter ain Predicant In Schlesy gewest. der hab ain Postil. des Johann wörners Postill genannt. ausgeen lassen. vnd Zu Phortzam gedruckht worden, sey auch gedachter Khurschner gesell. mit Ime vmb das

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versteht sich als Reformator der Kirche und grenzt sich gegen die „Sekten“ ab, die als falsche Lehrer und Aufruhrgeister auftreten und statt Gottes Wort ihr eigenes verkünden. Nicht jeder sei deshalb ein Apostel Christi, dem ein Pfarramt verliehen werde oder „der von einem heufflein auffgeworffen wirdt zu einem Fürsteher“.25 Viele der heutigen Prediger hätten Jesus als Eckstein verworfen und bauten auf Sand. Von den Sekten im alten Judentum, den Sadduzäern und Pharisäern, schließt er auf die Sekten „zu unseren zeiten“,26 die dem regierenden, seligmachenden Christus widersprächen. Dabei wird bei Werner ein gewisser Anti-Intellektualismus deutlich, wenn er die „Gelehrtesten“ als Sektenführer ansieht.27 Jedem Menschen sei es möglich, die Fülle Gottes zu begreifen, jeder sollte deshalb dem Herrn gemäß seinen Fähigkeiten dienen. Werner sieht sich, wie ja auch Luther, in einer Endzeit, in der der Antichrist die Menschen verwirrt und zum Abfall von der Kirche verleitet. Hierzu gehört auch gemäß der Danielsvision die Zerstörung des Römischen Reiches. Konkrete Beispiele aus der Zeitgeschichte führt er allerdings nicht an. Es herrscht für ihn der Antichrist, sodass das Römische Reich nur noch ein „Titel“ sei.28 Es bleibt offen, ob er im Papst den Antichristen sieht, doch legt dies eine Formulierung nahe, wenn er davon spricht: „Wenn man aber die frücht ansihet/ so kennet man diesen Widersacher/ Denn mit seinen Gesetzen und Ordnungen/ die er Christliche satzung nennet/ drucket er under alles was Christus seiner Gemein zu gut und dienst verordnet und Eyngesetzt hat/ das man Menschen lehr für Gottes Wort und Evangelium annimpt/ unnd ein richtige vergenckliche Creatur/ für den unsichtigen unsterblichen Gott anbettet/ Darumb ist es warlich ein widerwertiger und Widersacher/ ob er gleich ein Christ will genannt werden/ und überhebt sich über alles daß das Gott oder Gottesdienst heißt. Der Antichrist will das man niemand hören sol denn ihn/ auch nichts für Gott unnd Gottesdienst halten/ daß er nicht helt oder auffgericht hat/ alles sol in seiner macht stehen/ Glaub/ Gottesdienst/ Es hab gleich Christus auff Erden gelehret was er wöll/ so gilt doch deren keins nichts/ sondern er wils sein.“29 An die Stelle des äußeren Tempels, der sichtbaren Kirche, setzt er nach Paulus den inneren Tempel: die Gläubigen. Aber auch diesen Tempel habe der Antichrist bereits „erloffen und sich hineyn gesetzt“,30 und betrüge nun die Menschen „under dem Nam-

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truckhenlohn abkhomen, das Papier Zugetragen. vnd Püecher wider hinweckh. vnd auch bezahlt. [...] vnnd seins wissens sey er Schwenckfeld dieser Zeit beym Grafen von Pla. Hab Jim ettlich mal Zugeschriben, aber nie gemelt wo er sey. vnd khain datum gesetzt. aber die tyttl seind allmal auf den Püchern auf Jne schwenckfeld gestannden, die Jme gedachter Abel Wörner. in allen dingen Zugebracht. Wann er auch die brief gelösen. dieselben almal mit Jm wider hinweckh trage. hab Jn aber seyt Bärtholomej nit mer gesehen, wiß nicht wo er dieser Zeit sey.“ Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 15, 744. Ebd., 660. Ebd., 803. Ebd., 686. Ebd., 855. Ebd., 856.

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men deß Christenthumbs“,31 sodass sie eine Kreatur an Stelle Gottes ehrten und bei ihr Vergebung der Sünden, Gnad und Heil suchten. Nur „erleuchte augen“ seien in der Lage, den Antichrist zu erkennen.32 Mit seiner Theologie brach Werner völlig mit der Tradition, nur die zwölf Glaubensartikel des Konzils von Nicäa ließ er als biblisch begründet gelten. Seine Theologie belegte er ohne Berufung auf Kirchenväter oder spätere Lehrer, nur aus der Bibel. Auch die Heiligen hatten für ihn nur Bedeutung, wenn sie eine Rolle in der Heilsgeschichte spielen, wie die Apostel und vor allem Maria, die als Mutter des Menschen wie Gottes Jesu zur Deifikation der Menschheit beitrug. In seinen Predigten an den Festtagen einzelner Heiliger geht er nur auf das Festtagsevangelium ein. Eine Ausnahme bildet St. Nikolaus, den er als „frommen Vater, der Christus fleißig gedienet und Frucht gebracht hat“33, feiert, und St. Laurentius, der für den Herrn gestorben sei und zum Vorbild dient. Es muss offenbleiben, inwieweit Werner seine Theologie in seiner Liegnitzer Zeit entwickelte und sie dort auf der Kanzel vertrat. Seine Predigten müssen einen großen Zulauf gehabt haben, sodass in den 1530er Jahren die riesige Halle der Peter-PaulKirche in Liegnitz die Gläubigen nicht fasste und die Menschen bis auf den Markt standen, um Werner zu hören. Dies führte zu einer heftigen Auseinandersetzung mit den Lutheranern, die in Liegnitz keinen Boden gewinnen konnten. Als sich Herzog Friedrich II. vermutlich aus politischen Gründen den Lutheranern annäherte, hoffte er wohl, für Werner die Zustimmung der Wittenberger gewinnen zu können, zumal in die Liegnitzer Kirchenordnung von 1535 auch Vorstellungen der Schwenckfelder eingegangen waren, vor allem, was den Lebenswandel der Menschen betraf, nicht aber, was die Sakramentsvorstellungen der Schwenckfelder anbelangte. 1539 schickte der Herzog auf eigene Kosten Werner nach Wittenberg, damit er mit Melanchthon einen Ausgleich finde. Doch blieb Werner in diesem Gespräch bei seiner Auffassung, die Melanchthon als nicht schriftgemäß bezeichnete. Auch von Hieronymus Wittich und Johannes Brenz sowie weiteren Gelehrten im Reich, denen Werners Confessio zugeschickt worden war, wurde diese negativ beurteilt. Der Herzog entließ daraufhin im Sommer 1539 als letzten Schwenckfelder in Liegnitz seinen Prediger an der Peter-Paul-Kirche, was zu einem Protest der Bevölkerung führte, die den Gottesdienstbesuch daraufhin verweigerte.34 Nach der Verdrängung aus Liegnitz fanden die Schwenckfelder ein neues Betätigungsfeld in der damals böhmischen Grafschaft Glatz, die sich zu dieser Zeit im Pfandbesitz des wohl bedeutendsten mährischen Magnaten Johann von Pernstein (reg. als Graf von Glatz 1537–1548) befand, der für die reformatorischen Bewegungen offen war. Zahlreiche Adlige dieses Landes, aber auch die Bürger der Städte hatten sich Schwenckfeld angeschlossen, sodass Fabian Eckel nach seiner Entlassung in Liegnitz

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Ebd. Ebd. Ebd., 870. Weigelt: Spiritualistische Tradition, 154f., 173.

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1538 als Pfarrer an die Stadtkirche nach Glatz berufen worden war.35 Unter den Adligen war es die Familie von Pannwitz in Rengersdorf, die zur Schwenckfelder Lehre neigte. Die Brüder Jörg und Caspar von Pannwitz korrespondierten auf Vermittlung Werners hin mit Caspar von Schwenckfeld, den sie auf ihre Güter einluden. 1539 hatte Christoph von Pannwitz, der das Patronatsrecht an der Kirche in Rengersdorf besaß, Johann Sigismund Werner als Pfarrer nach Rengersdorf geholt. In diesem fünf Kilometer entfernt von Glatz an der Neisse gelegenen Dorf wirkte dieser nun bis zu seinem Tod 1554. Auf dem Titelblatt seines Katechismusses bezeichnet er sich als „Prediger zu Rengersdorff “. Hier stellte er seine Werke fertig und versah seinen Pfarrdienst. Dessen Ausübung wollte Schwenckfeld im Vorwort zu Werners Katechismus als „unverworffen auch unveracht“ herausgestellt wissen;36 dass Werner bis an sein Lebensende dort Pfarrer blieb, wird auch von anderer Seite bestätigt. Werners Rezeption in der Grafschaft Glatz kommentiert die lutherisch beeinflusste Chronistik dieser Region, die sich vor allem an seiner Lehre vom Abendmahl und der nicht durch das Wort vermittelten Gnadenwirkung stieß. Noch achtzig Jahre später (1625) bezeugte der lutherische Chronist Georg Aelurius, dass noch immer unter dem gemeinen Mann der Schwenckfeldische „Samen“ wirke.37 Allerdings waren den lutherischen Autoren die Unterschiede zwischen Schwenckfeldern und Täufern nicht ganz deutlich. So wirft Aelurius den Täufern vor, dass sie auf den Gottesdienst verzichteten und in geheimen Konventikeln tagten. Von Werners Gemeindeaktivitäten zeugt die Tatsache, dass er als Erster in der Grafschaft Glatz eine Dorfschule einrichtete.38 Von Rengersdorf aus wirkte Werner mittels heimlicher Besuche in Liegnitz, weshalb Herzog Friedrich III. dem Rat befahl, dafür Sorge zu tragen, dass Werner nicht in die Stadt gelassen werde.39 Noch bevor die Geistlichen der Grafschaft Glatz unter dem neuen Pfandherrn, dem bayerischen Herzog und ehemaligen Salzburger Erzbischof Ernst (Pfandschaft 1548–1560), nach dessen Niederlassung in der Grafschaft (1556) einer Glaubensprüfung unterzogen wurden, war Werner 1554 gestorben. Sein lutherischer Nachfolger Nentwig wurde von der Gemeinde nicht angenommen und musste Rengersdorf aufgeben. Ihm folgte 1558 wieder ein schwenckfeldisch ausgerichteter Geistlicher, der aber nach der Glaubensprüfung durch Herzog Ernst im selben Jahr gezwungen wurde, die Grafschaft binnen sechs Wochen zu verlas-

35 Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 7, 48; Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 20, 45. 36 Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 9, 737. 37 Aelurius: Glaciographia, 295f. 38 Bach, Aloysius: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis an unsere Tage [...]. Nebst einem Anhange: Geschichtlich statistische Darstellung aller Gläzer Pfarreien und Kirchen mit deren geistlichen Vorstehern, so wie der Schulen im Jahre 1841. Breslau 1841, 490. 39 Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 6, 500.

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sen.40 Das Verhalten der Rengersdorfer Gemeinde macht deutlich, dass wie schon in Liegnitz auch hier Werners Lehre sehr erfolgreich war. Zum großen Lehrer der gesamten Schwenckfelder Gemeinde wurde Johann Sigismund Werner allerdings erst nach seinem Tod, als nun auf Betreiben Schwenckfelds seine Werke gedruckt und zur Basislektüre der Gemeinde wurden. Schwenckfeld war von Werner sehr angetan. Er lobte dessen katechetischen Stil, der ohne Schmähen, Schelten und Lästern sei. Dieser Wernersche Stil muss so typisch gewesen sein, dass Schwenckfeld eine kurze Passage aus der Postille als nicht von Werner stammend zurückwies, da dieser nicht so scharfe und abscheuliche Worte zu gebrauchen pflege, wie sie bei vielen Prädikanten in Übung seien.41 Er empfahl deshalb seiner Gemeinde, die Postille mit richtigem Verstand und gottseligem Gemüt zu lesen, da sie gut und recht sei und vor Gott nichts Unchristliches, auch nichts wider die Heilige Schrift oder wider die Heiligen Sakramente der christlichen Kirche enthalte. Da Schwenckfeld bei den lutherischen Gegnern als Verfasser galt, betonte er nachdrücklich die Autorschaft Werners und hielt den Angriffen aus diesem Lager entgegen: Wer hat aber etwas Ketzerisches oder Irriges in Werners Postille bisher bewiesen? Dennoch wurde die Auseinandersetzung um dieses Werk zu einem Politikum.42 Die Postille, die von dem jungen Pforzheimer Verleger Georg Rab 1557/58 gedruckt worden war, führte allerdings nicht in Schlesien oder Böhmen, sondern in Württemberg zu einem politischen Eklat. Der lutherische Herzog Christoph von Württemberg befürchtete in einem Brief an Rabs Landesherrn, den Markgrafen von Baden-Durlach, dass dies „furnemlich dem gemainen man [ein] verfurerisch buech“43 werden könnte und forderte nicht nur die Vernichtung des Druckes, sondern gleich die „Ausrottung diser bosser [böser, d. Vf.] verfurerischen schwenckhfeldischen sectn“.44 Die Vernehmung Rabs, der daraufhin in den Turm geworfen wurde, ergab, dass er 1557 auf der Frankfurter Frühjahrsmesse von zwei Nürnberger und Augsburger Kollegen die Druckrechte und auch den schon gedruckten ersten Bogen erworben hatte. Da es in Schlesien einen großen Interessentenkreis von fünfhundert potenziellen Abnehmern für das Buch gab, hatte er als „neuer angehender Meister [...] mit schweren Kosten beladen“ den Auftrag übernommen.45 Werners Sohn, der als Kürschner in Augsburg tätig war, hatte die Übermittlung der Manuskripte besorgt. Die Folge dieser politischen Aktion war, dass der Rat von Frankfurt/Main im Frühjahr 1559 die für die Frühjahrsmesse vorgesehenen Exemplare beschlagnahmen und den Kauf verbieten ließ. Erst zehn Jahre später durften sie wieder verkauft werden. 40 41 42 43

Bach: Kirchen-Geschichte, 490. Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 16, 755, 758. Ebd., 759. Schottenloher, Karl: Der Pforzheimer Buchdrucker Georg Rab und die beschlagnahmte Postille des Schwenckfeldjüngers Johann Werner 1558. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 81 (1928) 400–411. 44 Ebd. 45 Ebd., 405.

Der Reformator Johann Sigismund Werner (1491–1554)

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Die eigentliche theologische Auseinandersetzung mit Werner führten jedoch nicht die württembergischen Hoftheologen, sondern der Wittenberger Hebräisch-Professor Matthias Flacius Illyricus, der als orthodoxer Verteidiger Luthers zu einer der wichtigsten Figuren in der konfessionalistischen Auseinandersetzung wurde und sich offensichtlich von Werner angegriffen fühlte. Dieser hatte ihn unter die „etliche[n] Gelehrten“ gerechnet, die eine „irrige Lehr“ verbreiteten.46. In seiner 1558 in Jena publizierten ­Streitschrift: „Fünfzig grobe Irrtümer der Stenckfeldischen [!] Schwärmerei [...]“ beschwerte sich Flacius über die laxe Haltung der Lehrer und Regenten „wider die mancherleien Rotten, Schwermereien und greulichen Irrtümer und Religionmaler und Verwirrer, die itzt gar mit Macht überhand nemen“.47 Werner, den Flacius für einen Strohmann Schwenckfelds hielt, warf er vor, die christliche Taufe gänzlich zu verwerfen. Da die Schwenckfelder immer stärker aus den Kirchen verdrängt wurden, blieb ihnen nur noch der Hausgottesdienst in kleineren Zirkeln. Schwenckfeld sah in der leicht verständlichen Lektüre der Postille den Vorzug, Kinder und Hausgesinde von jedem christlichen Hausvater unterrichten zu lassen, wie auch die „Anfänger der Erkenntnis Christi“ dadurch gewonnen werden könnten. Die „einfältigen“, das meint einfach verständlichen Büchlein des „alten, frommen Prädikanten“ Werner – so hatte sie Schwenckfeld seiner Gemeinde empfohlen – sollten für Generationen das „Summarium seiner christlichen Lehre und Glaubens“ bleiben.

46 Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 15, 412. 47 Ebd., 737.

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2. Die Vier-Reiche-Lehre und das baldige Ende der Weltgeschichte. Die Leichenpredigt des Habelschwerdter lutherischen Pfarrers Caspar Elogius zum Tod Kaiser Maximilians II. 1576 Am 12. Oktober 1576 starb noch vor Abschluss des von ihm einberufenen Reichstages in Regensburg Kaiser Maximilian II. Die Ablehnung der katholischen Sterbesakramente hatte noch einmal deutlich gemacht, dass er Lutheraner geblieben war, obwohl er sich bei seinem Regierungsantritt 1564 unter dem Druck der habsburgischen Hauspolitik zum katholischen Glauben bekennen musste.1 Der Ausbreitung der lutherischen Lehre hatte er in seinen Stammlanden keine gegenreformatorischen Bestrebungen entgegengesetzt, auch wenn er verhinderte, dass sich ein evangelisches Kirchentum etablierte, das konkurrent zum katholischen auftrat. Dies galt auch für die Grafschaft Glatz, die damals zum Königreich Böhmen und nicht zu Schlesien gehörte, unter der Krone Böhmen aber eine Sonderstellung für sich beanspruchte.2 Kaiser Maximilian hatte hier eingegriffen, als 1574 nach dem Tod des katholischen Archidiakons Christoph Neaetius der lutherische Landeshauptmann Hans von Pubschütz ein lutherisches Konsistorium in Glatz mit einem Superintendenten und mehreren Assessoren eingerichtet hatte. Obgleich die Grafschaft Glatz fast ausschließlich lutherisch war und sich nur noch drei oder vier Pfarreien zur katholischen Lehre bekannten, hatte der Prager Erzbischof Anton Brus von Müglitz, zu dessen Sprengel die Grafschaft Glatz gehörte, den katholischen Altwilmsdorfer Pfarrer David Fechtner als Archidiakon für die Grafschaft Glatz bestätigt. Zum Konflikt zwischen den konkurrierenden geistlichen Behörden war es im Hinblick auf Ehedispensfragen gekommen, da sich hierbei die lutherischen Geistlichen nicht mehr dem katholischen Kirchenrecht verpflichtet fühlten. David Fechtner hatte daraufhin eine Auseinandersetzung mit dem Glatzer Landeshauptmann provoziert und war im Verlauf dieses Konflikts zum Prager Erzbischof geflohen, der deshalb vom böhmischen König, Kaiser Maximilian II., eine Entscheidung forderte.3 Maximilian wies daraufhin am 11. März 1575 den Glatzer Landeshauptmann zurecht: „Unnd ist demnah unser Ernstlycher befehlch ann dich, du wollest dich dermassenn aygenmechtigenn, ungepwhrlichenn eyngriff hynfuro genczlich enthaltenn, den oftgedachtenn Erzbischoff weder an seyner habendenn Geystlichen Jurisdiction keyne verhynderung vyl

1 Rudersdorf, Manfred: Maximilian II. (1564–1576). In: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, 79–97, hier 91f. 2 Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 68–72. 3 Ebd.

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weniger seynenn prysternn aynich bedrengnus zufugenn.“4 Hans von Pubschütz verlor daraufhin wohl sein Amt.5 Doch auch sein Nachfolger Christoph von Schellendorf sah es als seine Aufgabe an, in das Pfarramt nur eine Person zu berufen, „welche zu der heiligen Schrift richtig und wohl fundirt, des Lehr- und Predigtamtes, wie sich solches eignet und gebühret, treulich und fleißig obwartet, nachmahlen auch der Augsburgischen Confession gänzlichen verwandt und zugethan wäre und was deroselben von wiederwärtigen Sekten und Schwärmereien entgegen zuwider und ungemäß, mit allem Fleiß refütiret, abgeleynet und wiederleget [...]“.6 Trotz des Einspruchs des Landesherrn blieb eine Organisation der lutherischen Gemeinden erhalten, denn der Glatzer Prediger Andreas Eising (Amtszeit 1564–1591) wird auf seinem Grabstein als „Ecclesiae Glacensis [...] Pastor ac conjunctarum [Ecclesiarum, d. Vf.] Inspector“ bezeichnet.7 In dem seit den 1570er Jahren sich entwickelnden Konfessionalisierungsprozess verliefen in der Grafschaft Glatz die Auseinandersetzungen trotz des kaiserlichen Einspruchs jedoch weniger zwischen Katholiken und Lutheranern als vielmehr zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern. Dabei tat sich im kaiserlichen Auftrag der Habelschwerdter Pfarrer Caspar Loy beziehungsweise Casparus Elogius (Habelschwerdter Amtszeit 1563–1577) hervor. Obgleich ihm auf seinem Grabstein 1593 attestiert wird,8 der erste Verkünder der Augsburger Konfession („primoque confessionis Augus4 ������������������������������������������������������������������������������������������� Der Brief Maximilians in: Volkmer, Franz/Hohaus, Wilhelm (Hg.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 1–5. Habelschwerdt 1883–1891, hier Bd. 3: Constitutiones Synodi Comitatus Glacensis in causis religionis, 1559. Die Dekanatsbücher des Christophorus Neaetius, 1560, und des Hieronymus Keck, 1631, 77f. 5 Hans von Pubschütz war bestrebt, durch den Erlass mehrerer Ordnungen die Grafschaft Glatz im Sinn des modernen Territorialstaats zu entwickeln. Der Glatzer Chronist Georg Aelurius bemerkt darüber: „Er [Pubschütz, d. Vf.] hat bald im ersten Jahr seiner Regierung/ den 28. Decemb. [1572] die schöne Gerichts-Ordnung in Glatz auffgerichtet und schrifftlich publiciret. Auch seyn sonsten unter seiner Regierung zu Glatz allerley schöne Gesetz und Ordnungen gemacht und publiciret worden durch die Ehrenvesten Rathmanne/ auff anregung und Bewilligung Herrn Pobschützens; welches denn diesem Herrn Hauptmann billich ein gedächtnis gemachet hat.“ Aelurius, Georg: Glaciographia, Oder Glätzische Chronica/ Das ist: Gründliche historische Beschreibung der berümbten und vornemen Stadt/ ja gantzen Graffschafft Glatz/ nach allen vornemsten Stücken. Auch von was vor hoher Obrigkeit [...] sie [...] regieret worden [...]. Leipzig 1625, 371. In diesem Zusammenhang hatte der Landeshauptmann wohl auch das lutherische Kirchenwesen neu ­geordnet. 6 Zit. nach Heinzelmann, Paul: Beiträge zur Predigergeschichte der Grafschaft Glatz von 1524– 1624. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der Evangelischen Kirche Schlesiens 14 (1914) 1–62, hier 31. 7 �������������������������������������������������������������������������������������������� Aelurius: Glaciographia, 303; ferner Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Handschriftenabteilung: Simonis Grunaei Monumenta et Inscriptiones, Bd. 1–3, hier Bd. 2: Monumenta Glacencia, fol. 216f.; Musik, Magdalena/Kulisz, Maciej: Simon Grunaeus jako duchowny, uczony i kolekcjoner. In: Harasimowicz, Jan/Lipińska, Aleksandra (Hg.): Dziedzictwo reformacji w księstwie legnicko-brzeskim/Das Erbe der Reformation in den Fürstentümern Liegnitz und Brieg. Legnica 2007, 245–256, hier 248–250. 8 Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Handschriftenabteilung: Simonis Grunaei Monumenta et Inscriptiones, Bd. 2, fol. 223.

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tanae concionatori“) gewesen zu sein – und auch der zeitgenössische Habelschwerdter Chronist ihn in dieser Rolle („so in die Vierzehn iah bey uns Prediger gewesen und zwar der Erste Evangelische Prediger nach der Papisterey“9) sieht –, bleibt zumindest offen, ob er nicht den Prager Erzbischof als sein geistliches Oberhaupt anerkannte, wenn er auch keine Priesterweihe empfangen hatte. Anlass zu diesem Zweifel gibt ein Brief, den Elogius am 2. Mai 1577, einen Tag, nachdem er vom Landeshauptmann aus seinem Amt als Habelschwerdter Pfarrer entlassen worden war, an den Prager Erzbischof ­gerichtet hatte.10 In diesem beschwert er sich über die Umtriebe der Schwenckfelder. Er betont, dass er von Kaiser Maximilian beauftragt gewesen sei, „die schwenckfeldische Sekte völlig auszurotten“,11 und fordert, dass deren Vertreter nicht zu öffentlichen Stadtämtern zugelassen und aus den Städten verdrängt werden sollten. Der Vermutung, Elogius habe zur katholischen Kirche gehört, widersprechen allerdings sein Auftreten in ­Habelschwerdt und die Vorwürfe des katholischen Archidiakons David Fechtner ihm gegenüber, er verspotte die katholische Kirche.12 Caspar Elogius wurde am 24. Juni 1530 in Breslau geboren. Wo er studierte und seinen Magister erwarb, ist nicht bekannt. Verheiratet war er mit Esther Elogius, die am 10. Dezember 1562 im Alter von 33 Jahren verstarb und in der Marien-Magdalenen-Kirche in Breslau beigesetzt wurde.13 Nach seiner Ausbildung war er Prediger in Nimptsch, danach in Frankenstein. Von dort wurde er am 3. Oktober 1563 vom Habelschwerdter Rat auf die dortige Pfarrei berufen und trotz Protests des damaligen katholischen Dechanten vom Landeshauptmann in diesem Amt bestätigt, denn das ­Patronatsrecht an dieser Kirche lag beim böhmischen König.14 Nach dem Tod Herzog Ernsts von Bayern 1560, unter dessen Regierung mithilfe Kaiser Ferdinands I. durch eine Synode und durch Visitationen die Grafschaft Glatz dem Katholizismus erhalten bleiben sollte, setzte sich die lutherische Konfession immer stärker durch.15 Der Archidiakon Christoph Neaetius hatte zwar sein Amt weiter inne, hatte sich aber aus dem Kirchenleben zurückgezogen und geheiratet, was ihm eine strenge Rüge des damali-

9 10 11 12

Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Nachlaß Kögler Nr. 71, 216f. Národní archiv Praha, SB C 111/3, Karton 2050. Ebd. Ebd., C 70, Karton 708, fol. 239f. Der Brief ist undatiert, dem Inhalt nach aber stammt er aus dem Jahr 1575. 13 Die Inschrift ihres Grabsteins in: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Handschriftenabteilung: Simonis Grunaei Monumenta et Inscriptiones, Bd. 2, fol. 1f. 14 ������������������������������������������������������������������������������������������ Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Nachlaß Kögler Nr. 71, 152; Bach, Aloys: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis an unsere Tage [...]. Nebst einem Anhange: Geschichtlich statistische Darstellung aller Gläzer Pfarreien und Kirchen mit deren geistlichen Vorstehern, so wie der Schulen im Jahre 1841. Breslau 1841, 470; Kögler, Joseph: Die Chroniken der Grafschaft Glatz. Hg. v. Dieter Pohl, Bd. 1–5. Modautal/Köln 1992–2003, hier Bd. 2: Die Pfarrei- und Stadtchroniken von Glatz – Habelschwerdt – Reinerz mit den zugehörigen Dörfern, 212f. 15 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 68–72.

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gen nominellen Landesherrn, Herzog Albrecht von Bayern, einbrachte.16 Das Amt des Dechanten führte einer der noch verbliebenen katholischen Geistlichen, der Pfarrer von Neuwaltersdorf Johannes Kirsten. Als 1563 der (vermutlich) katholische Pfarrer von Habelschwerdt gestorben war, versuchte Kirsten am Fronleichnamsfest mittels einer feierlichen Prozession, die Stadt demonstrativ für den Katholizismus zu behaupten.17 Doch der größte Teil der Bürgerschaft und des Rats hatte sich für das Luthertum entschieden. Es gab allerdings auch eine einflussreiche Gruppe von Schwenckfeldern in der Bürgerschaft, mit denen sich Elogius als lutherischer Pfarrer auseinandersetzen musste. Die Schwenckfelder verzichteten zu dieser Zeit notgedrungen auf eine feste Gemeindeform, agierten in kleinen Verkündigungszirkeln und „blieben vom Gottesdienst sowie den Sakramenten fern und ließen mitunter auch ihre Kinder nicht taufen“,18 so Elogius 1577 gegenüber dem Prager Erzbischof. Der Habelschwerdter Stadtchronist lobt Elogius, weil er im Sinn der evangelischen Lehre „uiel gutts in unser Kirchen außgerichtet“.19 Dabei wirkte dieser wohl auch über die Stadtgrenzen hinaus und initiierte vermutlich den Bau einer evangelischen Kirche in dem nicht weit von Habelschwerdt gelegenen Voigtsdorf, wo er am Pfingstdienstag 1566 auch die Eröffnungspredigt hielt.20 In Habelschwerdt ließ er 1575 den Pfarrhof in Stein neu bauen.21 In die Verkündigung bezog er in der Kirche das Theaterspiel mit ein. So ließ er in einer „Commedie“ über das jüngste Gericht „die bössenn geister vil bäbste, Cardinel bischoffe yn yren Kronen und yuwelen mit einer Ketten umb schlossen und mit grossem wehklagen yn die hellen“ ziehen.22 Der Bericht stammt von dem katholischen Dechanten David Fechtner, der sich in einem Brief an den Prager Erzbischof über die Schmähungen der katholischen Hierarchie beschwerte, ferner über „andere schmehungen“ des Habelschwerdter Pfarrers gegenüber dem katholischen Glauben sowie seiner Dispenspraxis zu Ehefragen. Die Kritik von katholischer Seite an Elogius blieb verhalten – verglichen mit den Angriffen vonseiten der Schwenckfelder, die Elogius wiederum nicht gerade schonte. Er habe sie „uerjagt, bekehrt und außgeroth“,23 berichtet der Habelschwerdter Stadtchronist. Soweit bekannt, trat Elogius jedoch in keine literarische Auseinandersetzung mit ihnen ein. Die Auseinandersetzungen führten schließlich zum Konflikt, der Caspar Elogius um sein Amt als Pfarrer von Habelschwerdt brachte. Am 20. Mai 1576 16 Ebd., 59f. 17 Bach: Kirchen-Geschichte, 470. 18 Národní archiv Praha, C 70, Karton 708, fol. 239. Zu den Schwenckfeldern in der Grafschaft Glatz vgl. Weigelt, Horst: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien. Berlin/New York 1973, 189f.; ders: Von Schlesien nach Amerika. Die Geschichte des Schwenckfeldertums. Köln/Weimar/Wien 2007, 106–119; Wąs, Gabriela: Kaspar von Schwenckfeld. Myśl i działalnóść do 1534 roku. Wrocław 2005, 182f. 19 Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Nachlaß Kögler Nr. 71, 216f. 20 Ebd., 162. 21 Ebd., 179. 22 Národní archiv Praha, C 70, Karton 708, fol. 239–241. 23 Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Nachlaß Kögler Nr. 71, 216f.

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tauchte in der Stadt, an die Adresse des Habelschwerdter sowie des Landecker Rats gerichtet, ein Droh- und Brandbrief auf. Aus ihm ging hervor, dass sich sechs Männer in Blutsbrüderschaft verbunden hätten, um die Schmähungen an den Schwenckfelder Geistlichen zu rächen.24 Den Ratsleuten drohten sie, die Städte in Brand zu stecken, wenn sie die Pfarrer bis Michaelis nicht entfernten.25 Die Absender blieben unbekannt. Auch wurden die Städte nach Michaelis nicht in Brand gesteckt. Die Regierung in Glatz nahm die Drohung jedoch ernst. Am 28. Dezember 1576 ernannte der Glatzer Landeshauptmann Christoph von Schellendorf den Sohn des Glatzer Predigers, den Magister Georg Eising, zum Pfarrer von Habelschwerdt.26 Caspar Elogius ging am 3.  Mai 1577 nach Schlaupitz bei Reichenbach.27 Der „Catalogus [...] omnium parochorum huius Comitatus Glacensis“ führt am 20. Mai 1577 als Habelschwerdter Pfarrer „des predigers son zu glatz“ auf.28 In dem in lateinischer Sprache abgefassten Brief rechtfertigt sich Elogius gegenüber dem Prager Erzbischof Anton Brus von Müglitz für sein Vorgehen gegen die Schwenckfelder. Es ist quasi eine Rechtfertigung, dass er sie aus dem ­Gemeindeleben – dem politischen wie geistlichen – ausgeschlossen hatte, da sie die Schrift und die Sakramente verachteten.29 Das kirchliche und das politische Leben einer Stadt bilden für ihn eine Einheit, die durch die Schwenckfelder gestört werde. Es klingt fast wie eine Verschwörungstheorie, die Elogius hier dem Erzbischof unterbreitete. Nach seiner Meinung versuchten die Schwenckfelder nämlich, gleichsam in geheimer Absprache in das Ratsgremium zu kommen, um die Städte zu beherrschen. Dazu passt auch, dass sie den Städten Habelschwerdt und Landeck Droh- und Brandbriefe gesendet hätten, um ihn als Habelschwerdter Pfarrer zu vertreiben. Doch Elogius fühlte sich im Recht, da ihn Kaiser Maximilian II. mit der Verfolgung beauftragt hatte. Es muss offenbleiben, warum Caspar Elogius nach seinem Weggang aus Habelschwerdt diese Darstellung an den Prager Erzbischof und nicht an Kaiser Rudolf II. schickte, der inzwischen die Nachfolge Maximilians angetreten hatte. Schon bei den Bemühungen Maximilians um die Entfernung der Schwenckfelder aus der Grafschaft Glatz hatte sich gezeigt, dass dieser den Prager Erzbischof an dieser Auseinandersetzung mitbeteiligt wissen wollte. Die Glatzer Landesregierung hatte er am 4. Dezember 1574 angewiesen, in den Konflikt mit der Schwenckfeldischen Sekte „den Erzbischof zu Euch zu ziehen“.30 Dieser hatte sich allerdings bereits am 10. März 1572 „als legitimus ordinarius der Glatzischen Grafschaft mehr denn einmal beschwert“, dass die Glatzer „vor wenig Jahren selber auch von der katholischen Religion gefallen“ und 24 Ebd., 179–181. 25 In Landeck war von 1573–1579 der lutherische Pfarrer Franz Martin aus Brieg Pfarrer. Vgl. Bach: Kirchen-Geschichte, 414. 26 Heinzelmann: Beiträge, 31. 27 Kögler: Chroniken, Bd. 2, 121f. 28 Národní archiv Praha, C 71, Karton 710, Bl. 85. 29 Zit. nach Weigelt: Spiritualistische Tradition, 189f. 30 Národní archiv Praha, SMR 109/15/21: Schwenckfelder Sekte in Glatz, unpag.

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„einen eignen unordentlich Praedicanten“ zur Bewilligung vorgeschlagen hätten.31 Wenn diese es nun zur Ausrottung der „verfluchte[n] Schwenckfeldische[n] Sect“ gebracht hätten, so könnte er ihnen dennoch nicht Beifall tun und sich zu dem begehrten Rat und gut Bedenken „gar nit entschließen“.32 Damit reagierte der Erzbischof wohl auch auf den Brief Kaiser Maximilians vom 18. Januar 1572 an den Glatzer Landeshauptmann, in dem er diesen gebeten hatte, den lutherischen Pfarrer Andreas Eising nicht nach Iglau, wohin er als Pfarrer berufen worden war, ziehen zu lassen, damit „er [Eising, d. Vf.] zu solcher seiner vocation zu Beförderung des Lobs und Reichs Gottes noch lenger verbleiben/ und seinem Ampt/ wie bißher geschehen/ weiter trewlich und fleissig fürsten [vorstehen, d. Vf.] wolle/ denn solches geschicht uns von ihm zu gutem gefallen [...]“33. Dennoch wollte der Kaiser den Erzbischof in die Auseinandersetzung mit den Schwenckfeldern in der Grafschaft Glatz einbezogen wissen. Vielleicht war dies der Grund, warum sich Caspar Elogius nach dem Tod des Kaisers, nachdem der Landeshauptmann im Hinblick auf seine Entlassung dem Druck der Schwenckfelder nachgegeben hatte, an den Prager Erzbischof wandte. Was sich bei Elogius wie eine Verschwörungstheorie ausnimmt, bestätigte übrigens nur kurze Zeit später, am 31. Januar 1578, dem Erzbischof auch der Glatzer Propst des Domstifts Andreas. So säßen – wie er schreibt – im Glatzer Rat wie auch unter den Geschworenen und Spitalverwaltern Schwenckfelder, obgleich die Kaiser verboten hätten, dass sie in ein Amt kämen. Auf ihren Einfluss führte der Propst zurück, dass bisher vom Landeshauptmann drei kaiserliche Mandate nicht publiziert wurden;34 vermutlich erfolgte deshalb am 7. Juli 1577 ein sehr strenges „Mandatum Imperatoris de Svenckfeldica haeresis extirpanda“,35 das Kaiser Rudolf II. an den Glatzer Landeshauptmann gerichtet hatte, aus dem deutlich wird, dass sich dieser um die Befolgung der Antischwenckfelder-Mandate Kaiser Maximilians II. nicht sehr gekümmert hatte.36 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Abgedruckt in Aelurius: Glaciographia, 308. 34 Národní archiv Praha, C 71, Karton 711, Fasc. 15. 35 Ebd. 36 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Karton 710, unpag. Der Text: „Gestrenger Lieber getrewer. Wir kömmen in gewisse erfahrung, welchermassen die hochschädliche unnd verführische Schwenckfeldische leer in unnser Graffschafft, fürnebmlich aber in der Stadt Glatz, ungeacht weilandt Kayser Maximilian unnsers geliebten Herrn unnd Vatters hochlöblichster gedechtnuß, den vorigen Hauptleutten daselbst ernsten befehlen solche Secten nitt zuegstatten, Noch derselben Verwanndten zue Ambtern zue gebrauchen, je lenger ie mehr einreissen und uberhandt nehmen sollen, Wenne wir aber alß ein christlicher Keyser genannt sindt, Es wollte unnß auch gegenn Gott dem Allmechtigen unverandtwortlich sein, dergleichen verdambliche irrige unnd verführische Secten inn unnsern Königreichen, Fürstenthümern unnd Landen zu dulden, also haben wir hiemitt obgedachte unnsers ­lieben Herrn Vattern ann die vorigen Hauptleutten ausgangen befelch, die due bey Deinem Ambt woll wirst zu finden haben, auch an Dich hiemitt verneuen wollen, unnd befehlen Dir dannach gnedigklich, due wollest allenthalben Dein vleissig achtung haben, und entlich darob sein, damitt bemelte verführische Schwenckfeldische Lehren und Secten derarten fürnemblich in unn-

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Als Kaiser Maximilian II. 1576 starb und Caspar Elogius seine Leichenrede drucken ließ, bestimmten vor allem die Auseinandersetzungen mit den Schwenckfeldern seine Amtstätigkeit. Wie spiegeln sich diese in seinem Welt- und Geschichtsbild wider? Schon im Titel kündigt er einen Überblick über die gesamte Weltgeschichte an: „Was von anfang der Welt/ biß auff disen verstorbenen Keyser Maximilianum/ und jetzt regierenden Römischen Keyser Rudolphum/ für verenderungen/ in allen vier Keyserthumben fürgefallen [...].“37 Der Verweis auf die vier Kaiserreiche – gemeint sind die vier Weltreiche der Danielsvision – zeigt ihn in der Tradition des wohl bedeutendsten lutherischen Historiographen Johannes Sleidan und vor allem Philipp Melanchthons, der auf die zeitgenössischen Stadtchronisten in Schlesien einen starken Einfluss ausgeübt hatte.38 Wie Melanchthon, Sleidan und Luther, so interpretiert auch Elogius das Ende des vierten und letzten Reiches, des Römischen Reiches, das durch die translatio imperii auf Deutschland übergegangen war, als unmittelbar bevorstehend. Elogius gibt dafür sogar exakt das Jahr 1582 an, wobei er von dem Bestehen der „Juden Kirche des Alten Testaments“ ausgeht,39 die vom Zug durchs Rote Meer bis zur Zerstörung des Tempels auch nur 1582 Jahre existiert habe. Er bezieht sich dabei auf den Eisenacher Franziskaner Johann Hilten, der in seinem Danielskommentar angesichts der bevorstehenden Apokalypse Umwälzungen in Staat und Kirche prophezeit hatte.40 Elogius sieht als „Ursachen“ für den bevorstehenden Jüngsten Tag das überall vorhandene Kriegsgeschrei, die Zunahme der Laster in allen Ständen, dann aber ebenso die Entstehung von „allerley Secten und Rotten“, was seine Auseinandersetzung mit den Schwenckfeldern reflektiert. Neben den Prophezeiungen des Franziskaners Johann Hilten für das bevorstehende Weltenende bezieht sich Elogius auch auf das Vaticinium Eliae, das auf rabbinischer Tradition fußt, aber von ­Melanchthon

serer Graffschafft und Stadt Glatz abgestellet, derselben gesteuert unnd ihr aufnehmen mitt Vleiß gehindert würde, Daran vollbringstu Unnsern gnedigen Willen und meinung! Geben Olmütz denn 7. Julii anno 1577.“ 37 �������������������������������������������������������������������������������������������� Der volle Titel lautet: „Leichpredig uber Maximiliani des anderen Großmechtigsten/ und frommen Römischen Keysers/ Absterben und Begrebnuß. Darinn als einer Chronica zu sehen/ Was von anfang der Welt/ biß auff disen verstorbenen Keyser Maximilianum/ und jetzt regierenden Römischen Keyser Rudolphum/ für verenderungen/ in allen vier Keyserthumben fürgefallen/ und was auch alle Stände der ganzten Christenheit/ bey diser Keyserlichen Leiche und Begrebnuß behertzigen sollen/ Durch M. Caspar Elogii Wratiss. Gedruckt zu Prag in der Newstat/ bey Michael Peterle“. Das mir vorliegende Exemplar: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu: Frühe Drucke, Nr. 508936. 38 Rau, Susanne: Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln. Hamburg/München 2002, 101f.; Lau, Thomas: Johann Sleidan (1506–56). De statu religionis et rei publicae Carolo Quinto Caesare commentariorum libri XXV. In: Reinhardt, Volker (Hg.): Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Stuttgart 1997, 584–587. 39 Elogius: Leichpredig, unpag. [20]. 40 Rau: Geschichte, 101.

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eine veränderte Deutung erfahren hatte.41 Wie Luther, so erwartete Melanchthon ebenfalls nicht erst nach Ablauf der dritten Periode, also im Jahr 2000, das Ende der Welt, sondern ging davon aus, dass die Leiden der Endzeit durch die Gnade Gottes verkürzt würden.42 Auch für Elogius eilt Gott zum Ende und verkürzt die Tage. Zudem sei – so Elogius – für das Jahr 1584 mit einer „sehr schrecklichen Coniunction alle[r] sieben Planeten“ zu rechnen, was „niemals ohne grosse verenderung der Welt geschehen ist“, zumal dies das letzte Mal vor 800 Jahren geschehen sei, „da das Keyserliche Scepter/ auß Welschland ins Teutschland transferirt worden“.43 Für Elogius zeigen sich die „Vestigia der Göttlichen Maiestat“ in der Ordnung, die die vier „Keyserthumben“ bestimmten.44 Dass es nun vier seien, ergibt sich für ihn aus der Danielsvision, wie auch das Weltende nach dem letzten, dem Römischen Reich. Aus dem Text Daniels folgt für ihn ferner, dass Gott die Regenten einsetzt und erhält. Gottes Ordnung sei für die vier Weltreiche bestimmend, deshalb vermag er das Türkische Reich nicht darunter zu rechnen, „weil es nicht allein unsern Herrn Gott, seine Kirche und sein Wort/ sondern auch alle Leges, gute Policey/ unnd alle Zucht zu boden trückt“.45 Die Heiligkeit des Römischen Reiches erkläre sich von dieser göttlichen Ordnung her und der Aufgabe, die Kirche zu schützen. Seine Hypothese, dass Gott die Herrschaft so lange bei einem Weltreich stehen lasse, „so lang sie Gottes Kirchen schützen/ oder so lang sie sich wider die Kirchen Gottes nicht auflehnen“,46 vermochte er allerdings nicht durchgängig aufrechtzuerhalten, zumal wenn es sich um die Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern handelt. Weil Caligula, Claudius und Nero „Feinde Gottes gewesen/ haben sie kein Glück gehabt“,47 aber die Herrschaft wurde nicht von ihnen genommen. Nach der translatio imperii auf die Deutschen stellt Elogius vor allem die Geschichte des Hauses Habsburg heraus, dem Gott das kaiserliche Szepter „umb einigkeit willen“ erhalten möge. Während Elogius, auf die Zeitgeschichte bezogen, Karl V. nur kurz abtut, lobt er Ferdinand I. als „Vatter deß Friedes“, der „auff einigkeit im Geistlichen unnd Weltlichen Regiment getrachtet/ und an seinem ende auch ein geruwigliche [ruhige, d. Vf.] regierung hinder sich gelassen“.48 Die Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse wie hier auf den Augsburger Religionsfrieden von 1555 muss der Leser selbst interpretieren. Die Verdienste Kaiser Maximilians II. um die Entwicklung des Protestantismus in seinen Ländern sind allenfalls aus der Laudatio, dass er ein löblicher, weiser, verständiger Herr und ein gütiger, hold-

41 �������������������������������������������������������������������������������������������� Klempt, Adalbert: Die protestantische Universalgeschichtsschreibung vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Randa, Alexander (Hg.): Mensch und Weltgeschichte. Zur Geschichte der Universalgeschichtsschreibung. Salzburg/München 1969, 173–212, hier 206–210. 42 Ebd., 206. 43 Elogius: Leichpredig, unpag. [21]. 44 Ebd. [6]. 45 Ebd. [8]. 46 Ebd. [14]. 47 Ebd. 48 Ebd. [18].

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seliger und gnädiger Kaiser gewesen, herauszulesen.49 Den Gläubigen wird er in dieser Predigt als „ein rechter Christ“,50 als ein Vorbild präsentiert, der seiner letzten Stunde ruhig entgegengesehen habe; denn das Leben, so der Prediger Elogius, gleiche einem türkischen Gefängnis, aus dem der Christ befreit werde, einem Schlachtfeld, auf dem der Mensch mit der Welt und dem Teufel kämpfte. Er bleibt im Bild, wenn nach seiner Darstellung beim Jüngsten Gericht Jesu alle Christen in das Kaisertum Gottes eingeführt, Türken, Juden, Heuchler und Gleißner aber dem höllischen Feuer überantwortet würden; die Türken, weil sie nicht hätten glauben, die Juden, weil sie nicht den Messias hätten annehmen wollen, die Heuchler und Gleißner aber, weil sie glaubten, Gott nicht zu brauchen. Elogius’ Geschichtsbild blieb im Rahmen protestantischer Deutung; eine Trennung in geistliche und Profangeschichte, wie sie zehn Jahre vor Elogius Jean Bodin 1566 in Paris vorgenommen hatte, lag ihm fern.51 Er tradierte Melanchthons und Sleidans Auffassung, die bis weit ins 17. Jahrhundert für die protestantische Deutung verpflichtend war. In der schlesischen Stadtchronistik machte sich freilich zur selben Zeit eine Geschichtsdeutung bemerkbar, die stärker die zeitgenössische Konfessionskontroverse einbezog.52 Von Deutungsmustern dieser Art blieb die Vier-Weltreiche-Deutung noch unbeeinflusst. Eine Historiographie zur Legitimation der Reformation, wie sie die gleichzeitig publizierten „Magdeburger Centurien“ brachten, lag Elogius fern. Ob Elogius seine Leichenpredigt zum Tod Kaiser Maximilians II. seiner Habelschwerdter Gemeinde vortrug oder ob sie gleich für den Druck geschrieben wurde, muss offenbleiben. Die Predigt erschien ohne Jahresangabe in der Prager Neustadt und war wohl für ein größeres Publikum als nur den Habelschwerdter Leserkreis bestimmt. Das Lob auf das Haus Habsburg sollte auch die Lutheraner als treue Untertanen herausstellen. Das Titelbild demonstriert die Macht dieses Hauses. Den Sarg Maximilians zieren die drei Kronen: die des Reiches, die Böhmens und die Ungarns. Die drei Schwerter zeugen von Macht und Gerechtigkeit. Caspar Elogius kehrte bald wieder in die Grafschaft Glatz zurück. 1580 ist er als Pfarrer in dem nahe Habelschwerdt gelegenen Kieslingswalde bezeugt, wohin er von der Gemeinde berufen worden war.53 Dort starb er am 23. März 1593. Dass er auch in der Habelschwerdter Gemeinde unvergessen war, davon zeugt die Tatsache, dass er am Tage Mariae Verkündigung (25. März) von Kieslingswalde nach Habelschwerdt überführt und dort unter Anteilnahme beider Gemeinden vor dem Hochaltar beigesetzt wurde. Ein Epitaph und die diversen Stadtchroniken bewahren die Erinnerung an ihn.54 49 Ebd. [22]. 50 Ebd. [24]. 51 Klempt: Universalgeschichtsschreibung, 211. 52 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Rau: Geschichte, 357f.; Herzig, Arno: Konfession und Heilsgewissheit. Schlesien und die Grafschaft Glatz in der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2002, 79f. 53 Kögler: Chroniken, Bd. 4: Die Chroniken der Dörfer, Pfarreien und Herrschaften des Kreises Habelschwerdt, 177. 54 Ebd., Bd. 2, 213.

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3. Schlesien und die Grafschaft Glatz im Zeitalter des Konfessionalismus Schlesiens Situation im konfessionellen Zeitalter wies abweichend zur Situation in den Reichsterritorien einige bestimmende Besonderheiten auf. Galt für die Reichsstände das ius reformandi, so war dies für die schlesischen Herzöge und Standschaften nicht der Fall. Böhmen und seine Nebenländer gehörten zwar zum Reich, einziger Reichsstand aber war der böhmische König. Ihm allein stand das ius reformandi zu. Schlesien und die Grafschaft Glatz – Letztere gehörte nicht zu Schlesien, sondern zu Böhmen – waren deshalb vom Augsburger Religionsfrieden (1555) ausgenommen.1 Für eine protestantische Konfessionalisierung bedeutete dies, dass sie sich in einem rechtsfreien Raum oder sogar gegen Reichsrecht zu behaupten hatte, wenn der habsburgische Landesherr darauf bestand, sein ius reformandi durchzusetzen. Der Ausbau eines protestantischen Kirchentums war deshalb immer gefährdet. Auf der anderen Seite war die lutherische Reformation in Schlesien jedoch soweit gediehen, dass der habsburgische Landesherr nach seinem Sieg am Weißen Berg (1620) im Gegensatz zu seinen österreichischen Ländern, aber auch zu Böhmen und der Grafschaft Glatz, eine bedingungslose Rekatholisierung nicht mehr durchzusetzen vermochte. Dem standen konfessionelle Schutzzusagen wie der Dresdener Akkord (1621), der Prager Frieden (1635) und der Westfälische Frieden (1648) sowie die daraus resultierenden Einspruchsmöglichkeiten auswärtiger Staaten (Sachsen, Brandenburg, Schweden) entgegen. Das bedeutete jedoch nicht, dass sich Habsburg in Schlesien als einzigem seiner Kronländer mit einem Simultaneum abgefunden hätte. Die katholische Konfessionalisierung blieb oberstes Ziel, musste aber mit Rücksicht auf die auswärtigen Schutzmächte taktisch vorsichtig durchgeführt werden.2 Was unter Konfessionalisierung zu verstehen ist, wird deutlich durch ein Raster, das Wolfgang Reinhard entwickelt hat und das die „historisch feststellbaren Verfahren zur methodischen Herstellung konfessioneller Einheit in ihrer funktionalen Differenzie1 ������������������������������������������������������������������������������������������� Weber, Matthias: Das Verhältnis Schlesiens zum Alten Reich in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1992, 346f. 2 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Zum Begriff der katholischen Konfessionalisierung wie zum Begriff der Konfessionalisierung überhaupt und zum neuesten wissenschaftlichen Diskussionsstand vgl. Reinhard, Wolfgang/Schilling, Heinz (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Münster 1995; ferner Reinhard, Wolfgang: Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977) 226–252; Schilling, Heinz: Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620. In: Historische Zeitschrift 246 (1988) 1–45. Die Periodisierung, die Schilling hier vornimmt und die den Schwerpunkt auf die Zeit von 1555 bis 1620 legt, wird den Verhältnissen in Schlesien nicht gerecht, wo die eigentliche Konfessionalisierung im Sinn der von den Habsburgern angestrebten Rekatholisierung eigentlich erst 1620 beginnt und bis 1740 andauert. Der im Folgenden gebrauchte Begriff der Rekatholisierung meint die Durchführung der katholischen Konfessionalisierung in Gebieten, die zum Teil schon ein Jahrhundert lang evangelisch waren.

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rung auf den Begriff bringt“.3 Die Geschlossenheit der neuen Großgruppe „Konfession“ wird im Katholizismus, Luthertum und Calvinismus mittels folgender Verfahren erzielt: 1. die Entwicklung eines klaren Glaubensbekenntnisses; 2. die Verbreitung und Durchsetzung der jeweiligen Normen durch die Rekrutierung geeigneter Multiplikatoren und die Beseitigung ungeeigneter oder gegnerischer Multiplikatoren; 3. Propaganda und Zensur und damit die Verhinderung der gegnerischen Propaganda (zum Beispiel Bücherver­brennung); 4. die Internalisierung der neuen Ordnung durch Bildung, die es gegen die Bestrebungen der konkurrenten Konfessionen zu monopolisieren gilt; 5. Disziplinierung der Anhänger, Beseitigung von Dissidenten sowohl im kirchlichen als auch im Alltagsbereich; 6. Intensivierung der Riten und die Betonung von Unterschieden und 7. sprachliche Festlegung, das heißt eindeutige Besetzung der Begriffe. Im Gegensatz zu den reformatorischen Bewegungen der Frühzeit war die Konfessionalisierung primär eine Angelegenheit des frühneuzeitlichen Staates, der die Monokonfessionalität als eine wichtige Säule der Staatsmacht begriff. Es wird durch das Raster von Wolfgang Reinhard nicht so deutlich, inwieweit der Staat hinter den einzelnen Verfahrensformen steht. Nicht deutlich wird ebenfalls, wie die Konfessionalisierungsinteressen beim Volk ankamen und von diesem aufgenommen oder in einem länger dauernden Prozess verarbeitet wurden. Die reformatorischen Bewegungen konnten sich in Schlesien und der Grafschaft Glatz seit den 1520er Jahren, geschützt von den Fürsten, den städtischen Räten und den Adligen auf dem Land, relativ ungehindert ausbreiten.4 In Schlesien war neben der lutherischen die von dem Schlesier Caspar von Schwenckfeld initiierte Bewegung vorherrschend, die zunächst in dem Piastenherzogtum Liegnitz ihr Zentrum hatte, von dort aber 1538, durch König Ferdinand I. gezwungen, ihren Schwerpunkt in die Grafschaft Glatz verlegte, wo sie im Glatzer Rat und bei zahlreichen Landadligen Rückhalt fand.5 Auch die Täufer konnten von Mähren her in der Grafschaft Glatz und Schlesien 3 Reinhard, Wolfgang: Sozialdisziplinierung – Konfessionalisierung – Modernisierung. Ein historischer Diskurs. In: Boškovska Leimgruber, Nada (Hg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge. Paderborn u. a. 1997, 39–55, hier 46. 4 Vgl. die Überblicksdarstellungen von Petry, Ludwig: Politische Geschichte unter den Habsburgern. In: ders./Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 1–2. Sigmaringen 1988, hier Bd. 2: Die Habsburger Zeit 1526–1740, 1–99; Conrads, Norbert: (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien, Berlin 1994; Machilek, Franz: Schlesien. In: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 1–7. Münster 1989–1997, hier Bd. 2: Der Nordosten, 101–138; Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996; Köhler, Joachim: Bistum Breslau. Reformation und katholische Reform. Kehl 1996; Bahlcke, Joachim: Eckpfeiler der Schlesischen Libertaskultur. Die Liegnitz-Brieger Piasten in der Frühen Neuzeit. In: Harasimowicz, Jan/Lipińska, Alexandra (Hg.): Dziedzictwo reformacji w księstwie legnicko-brzeskim//Das Erbe der Reformation in den Fürstentümern Liegnitz und Brieg. Legnica 2007, 23–42, hier 33–40. 5 Weigelt, Horst: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien. Berlin/New York 1973, 181–190.

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Gemeinden bilden, mussten dies aber seit dem Speyrer Reichstagsbeschluss von 1529 weitgehend im Geheimen tun. Bis auf die Verdrängung der Schwenckfelder aus Liegnitz und einiger lutherischer Prediger aus ihren Pfarreien hielt sich Ferdinand I. als böhmischer Landesherr in der Glaubensfrage relativ zurück, obgleich er sonst seine Landesherrschaft in Schlesien sehr gezielt ausbaute.6 Durch die Gewährung des Laienkelches für die Anhänger der alten Kirche, die er beim Papst für seine Erblande erwirkte, versuchte er, die reformatorischen Bewegungen aufzuhalten.7 Die Regierungszeit seines Nachfolgers Maximilian II. erlaubte einen relativ ungehinderten Ausbau des lutherischen Kirchentums, wobei in dieser Phase der lutherischen Konfessionalisierung weniger eine Auseinandersetzung mit den Vertretern der alten Kirche, eher eine mit den Schwenckfeldern und anderen „Sekten“ erfolgte. Die Position der alten Kirche wurde in dieser Periode weniger vom Breslauer Bischof vertreten, dessen Bischofsland Neisse sich weitgehend der Reformation anschließen konnte, sondern von dem Domkapitel, das die Sedisvakanz von 1574 und die Wahlkapitulation für den neuen Bischof nutzte, um Maßnahmen im Sinn einer katholischen Konfessionalisierung durchzusetzen.8 Da Kaiser Rudolf II. sich zunächst wie sein Vater zugunsten einer katholischen Konfessionalisierung zurückhielt, konnte sich in Schlesien und in der Grafschaft Glatz in den 1570er Jahren die lutherische Konfessionalisierung durchsetzen.9 Einer stringenten lutherischen Konfessionalisierung auf der Basis eines klaren Glaubensbekenntnisses standen in Schlesien und der Grafschaft Glatz in den folgenden Jahrzehnten allerdings die internen Auseinandersetzungen im reformatorischen Lager entgegen. Dabei spielte seit den 1570er Jahren weniger die Auseinandersetzung mit den Schwenckfeldern und den Täufern eine Rolle, sondern die Differenz zwischen den lutherischen Mittelgruppen, die sich wie die Brieger Geistlichkeit im Heidersdorfer Bekenntnis 1574 auf die Konkordienformel geeinigt hatten, und den Philippisten, zu denen die Breslauer Prediger zählten. Zu starken Spannungen innerhalb der Gemeinden und unter den protestantischen Geistlichen führte das Vordringen der calvinistischen Reformation in Schlesien und der Grafschaft Glatz, die unter dem Adel und den Intellektuellen, aber auch den Geistlichen zahlreiche Anhänger gewann.10 Die politische Situation Schlesiens und der Grafschaft Glatz machte die Einrichtung einer Landeskirche mit einem für alle zuständigen Konsistorium unmöglich. Obgleich den schlesischen Herzögen in ihren Territorien das ius reformandi nicht zustand, erließen sie dennoch Kirchenordnungen, so Markgraf Georg der Fromme für sein Fürstentum Jägerndorf oder der Herzog von Brieg. Doch war das nicht durchgängig. Vielfach hatten die kursächsischen Kirchenordnungen von 1580 oder die württember 6 Weber: Verhältnis, 347–350. 7 Petry: Politische Geschichte, 23; Köhler: Bistum, 25. 8 Köhler: Bistum, 30; ders.: Das Ringen um die Tridentinische Erneuerung im Bistum Breslau. Vom Abschluß des Konzils bis zur Schlacht am Weißen Berg 1564–1620. Köln/Wien 1973, 42f. 9 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 61–68. 10 Petry: Politische Geschichte, 30f.; Conrads: Schlesien, 229.

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gische von 1582 subsidiäre Gültigkeit.11 Dass selbst dem die Lutheraner protegierenden Kaiser Maximilian II. bei aller Duldung in seinen Ländern nicht an einem Ausbau eines lutherischen Kirchentums gelegen war, zeigt sein Vorgehen gegen seinen lutherischen Landeshauptmann in Glatz, Hans von Pubschütz.12 Da die Grafschaft weitgehend ­lutherisch war, hatte dieser nach dem Tod des katholischen Dekans Christoph Neaetius (1574) in dessen Amtsnachfolge 1575 ein lutherisches Konsistorium in Glatz mit einem Superintendenten und mehreren Assessoren eingerichtet. Es sollte die Aufsicht über die Geistlichen, auch über die noch verbliebenen katholischen, führen und über Ehesachen entscheiden. Der Prager Erzbischof, dessen Sprengel die Grafschaft Glatz unterstand, erreichte von Maximilian II. die Aufhebung des Konsistoriums und die Entlassung des Landeshauptmanns. Der Theorie nach unterstanden auch die lutherischen Geistlichen der Grafschaft dem Prager Erzbischof. Wenn auch ohne Konsistorium, so nahm auch Pubschütz’ Nachfolger, der Lutheraner Christoph von Schellendorf, die Einsetzung der Grafschafter Prediger vor, und zwar „exofficio und aus befohlenem Amte, darein ich nach gnädiger Schickung Gottes des Allmächtigen allhie in diese Grafschaft Glatz versetzet und verordnet bin“.13 Von den Predigern verlangte er, dass sie „der Augsburgischen Confession gänzlichen verwandt und zugethan“ und den „widerwärtigen Sekten und Schwärmereien zuwider seien“.14 Obwohl die lutherische Geistlichkeit in Schlesien und der Grafschaft Glatz im Verhältnis 1:7 gegenüber der katholischen zahlenmäßig weit überlegen war, kam es nur zu einem rudimentären Ausbau des lutherischen Kirchentums. Die Situation veränderte sich in den 1590er Jahren zugunsten der katholischen Konfessionalisierung, als Rudolf II. nach dem Vorbild Ferdinands in der Steiermark auch in Schlesien und der Grafschaft Glatz die Rekatholisierung durchzusetzen versuchte. Wie gegenüber den österreichischen, so nahm er auch gegenüber den schlesischen und Grafschafter Vasallen und Untertanen die Entscheidung über deren Glaubensbekenntnis für sich in Anspruch. Wenn er diesen Anspruch auch nicht durchzusetzen vermochte, so versuchte er zumindest, die landesherrlichen Kirchenpatronate mit katholischen Geistlichen zu besetzen. Damit scheiterte er noch weitgehend, doch gelang es, allmählich die katholische Infrastruktur zu verbessern. So konnten mit seiner Unterstützung die Jesuiten 1597 von Prag aus in Glatz ein Kolleg einrichten, während sie in Breslau mit der Errichtung einer Missionsstation zunächst noch scheiterten. Der Majestätsbrief von 1609, der auch für Schlesien und die Grafschaft Glatz den konfessionellen Status quo garantierte, ermöglichte die freie Religionsausübung und die Errichtung von neuen Gotteshäusern. Unterlaufen wurde diese Garantie allerdings von dem 11 Weber, Matthias: Die schlesischen Polizei- und Landesordnungen in der Frühen Neuzeit. Köln/ Weimar/Wien 1996, 97–100. 12 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 70–72. 13 Zit. nach Heinzelmann, Paul: Beiträge zur Predigergeschichte der Grafschaft Glatz von 1524– 1624. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der Evangelischen Kirche Schlesiens 14 (1914) 1–62, hier 31. 14 Ebd.

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seit 1605 regierenden neuen Breslauer Bischof Karl, dem Bruder Ferdinand II., der sich an den Majestätsbrief seines Onkels nicht gebunden fühlte und in seiner Residenzstadt Neisse die Ausübung des evangelischen Gottesdienstes zu verhindern suchte. Konnten nach wie vor die katholischen Geistlichen kaum als verlässliche Multiplikatoren der katholischen Konfession eingesetzt werden, so kehrten auf Vermittlung Rudolfs die alten Orden in die weitgehend lutherischen Städte zurück und gaben den kleinen Gruppen der noch verbliebenen Katholiken einen Rückhalt. Vor allem versuchten sie, durch Wiedereinführung der Fronleichnamsprozession den katholischen Ritus demonstrativ in die Öffentlichkeit zu tragen.15 Eine Zäsur, wenn auch nicht für ganz Schlesien, brachte der Sieg am Weißen Berg (1620) beziehungsweise die Eroberung von Glatz 1622, das als einzige Stadt im Königreich Böhmen noch zwei Jahre nach dessen überstürzter Flucht zum Winterkönig hielt und erst im Oktober 1622 von kaiserlichen und sächsischen Truppen erobert wurde. Zwar hatten die Grafschaft Glatzer Stände 1621 vom sächsischen Kurfürsten im Dresdener Akkord dieselben Zusagen erhalten wie die schlesischen, diese aber aufgrund des zweijährigen Widerstands nach dem Sieg am Weißen Berg verloren. Während die schlesischen Herzogtümer ihren protestantischen Konfessionsstand behalten durften, der erst allmählich durch subtile Rekatholisierungsmaßnahmen unterlaufen wurde, erlebte die Grafschaft wie Böhmen eine strikte Rekatholisierung nach Steiermärker Vorbild. Die protestantischen Prediger und Lehrer wurden des Landes verwiesen, die Kirchen „rekonziliert“. Die protestantische Verwaltungselite wurde durch Katholiken ersetzt, den Bürgern die Zunftfähigkeit abgesprochen, wollten sie nicht konvertieren. Der ländlichen Bevölkerung wie der städtischen wurde das Recht zur Auswanderung nicht eingeräumt. Es stand nur dem Adel zu. Dennoch verließen zahlreiche Bürger und Bauern das Land. Eine Reformationskommission zog durch die Städte und zwang in militärischer Begleitung die Bevölkerung zum Besuch des katholischen Gottesdienstes. Das „Auslaufen“ zum Besuch des lutherischen Gottesdienstes im benachbarten Herzogtum Münsterberg wurde bald unterbunden. Wiederholt wurden die Untertanen aufgefordert, die lutherischen Bücher abzugeben. Im Weigerungsfall drohte der Verlust des Bürgerrechts. Als Beleg für die gelungene Rekatholisierung konnte der katholische Dekan der Grafschaft, Hieronymus Keck, 1630 auf den Empfang von 27.000 Osterkommunionen verweisen. Zumindest nach außen war die Rekatholisierung in der Grafschaft Glatz bis 1630 gelungen.16 Es gab Überlegungen im Umkreis des Breslauer Bischofs und Kaiserbruders Karl, unter dem Eindruck der Erfolge in der Grafschaft Glatz, dieselben Mittel auf die schlesischen Herzogtümer anzuwenden. Die „Delineatio“ des schlesischen Jesuiten Christoph Weller aus Bunzlau vom Sommer 1625 zeigt allerdings in ihrer nüchternen Abwä15 Petry: Politische Geschichte, 43, 49; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 86–94; ders.: Neisse im konfessionellen Zeitalter. In: Kunicki,Wojciech/Witt, Monika (Hg.): Neisse. Kulturalität und Regionalität. Nysa 2004, 13–28, hier 17–20. 16 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 105–108.

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gung, dass die rücksichtslose Vorgehensweise auf Schlesien nicht einfach anwendbar war. Sie sah das sogenannte Augustgutachten eines Prager Jesuiten aus dem Beraterkreis Ferdinands II. 1621 für Böhmen vor.17 Danach sollte der Kaiser an keinerlei konfessionelle Zusicherungen mehr gebunden sein. Der Dresdener Akkord ließ eine Rekatholisierung, wie sie Böhmen und die Grafschaft Glatz erlebten, nicht einfach zu, was trotz seiner Rekatholisierungsbestrebungen auch der päpstliche Nuntius Carlo Carafa in Prag so sah. Er ging davon aus, dass die Schlesier aufgrund des Vertrags mit Sachsen im Besitz ihrer Religionsprivilegien geblieben seien.18 Weller schätzte die Bedeutung dieses Vertrages allerdings nicht sehr hoch ein und plädierte für eine Übertretung der vertraglichen Bestimmungen, da der sächsische Kurfürst bei geschickter Information die Zusagen des Vertrages schon aufgeben werde. Damit schlug er einen Weg vor, der in Zukunft die Rekatholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien bestimmen sollte: Das Hinwegsetzen über vertragliche konfessionelle Zusagen, in dessen Folge es immer wieder zu auswärtigen Interventionen zugunsten der schlesischen Protestanten kommen sollte. Bei seinen Strategievorschlägen setzte Weller vor allem auf die Gewinnung des Adels für den Katholizismus, während er dem einfachen Volk in diesem Prozess keine allzu große Bedeutung beimaß. Es komme vor allem darauf an, die Verwaltungselite mit Katholiken zu besetzen, was später dann auch durch die sogenannten Königsrichter geschah. Was die Potenz des evangelischen Kirchentums betraf, so gelang ihm keine objektive Einschätzung. Er unterschätzte insbesondere die Bildung der Prediger und die Bedeutung der evangelischen Schulen. Nicht uninteressant ist allerdings sein taktisches Kalkül im Hinblick auf die inneren Differenzen im Protestantismus, wobei er bei seiner sonstigen niedrigen Einschätzung des einfachen Volks für eine Aktivierung der katholischen Gebräuche im Volk plädierte, die im Luthertum erhalten geblieben seien, von den Calvinisten aber bekämpft würden. Auch wenn Weller dafür eintrat, die Strukturen der alten Adelskirche – so das Patronatsrecht der Klöster – zugunsten der Rekatholisierung zu nutzen, sah er eine „Reformation“ – so bezeichnete er den Rekatholisierungsprozess – nur durch den Jesuitenorden gewährleistet. Als wichtigstes Postulat forderte er deshalb die Errichtung eines Jesuitenkollegs in Breslau, finanziert von den katholischen Klöstern und katholischen Herren. Bei allem taktischen Vorgehen im Rekatholisierungsprozess war letztlich auch Wellers Ziel die völlige Rekatholisierung Schlesiens und damit die Unterdrückung des evangelischen Kultus sowie die Vertreibung der Prediger, wenn auch nicht mit Gewalt.19 Die politische Situation und die vertraglichen Bindungen ließen fürs erste eine, wenn auch taktisch geschickte, aber dennoch stringente Rekatholisierung Schlesiens 17 Jedin, Hubert: Eine Denkschrift über die Gegenreformation in Schlesien aus dem Jahr 1625. In: ders.: Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bd. 1–2. Freiburg/Basel/Wien 1966, hier Bd. 1: Italien und das Papsttum. Deutschland, Abendland und Weltkirche, 295–412, hier 401. 18 Ebd., 403. 19 Ebd., 390–396.

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nicht zu. Neisse als Bischofsland, wohin Karl 1623 die Jesuiten berief, bot dafür noch am ehesten eine Chance. Sonst gelang es dem Orden zunächst nur, eine Niederlassung in Glogau zu etablieren, wohin sie von dem dortigen Landeshauptmann Georg III. von Oppersdorff 1625/26 berufen wurden. Nach Sagan holte sie 1628 der dortige Herzog Wallenstein, während eine offizielle Niederlassung in Breslau erst nach 1638 möglich war.20 Dass Habsburg die Rekatholisierung Schlesiens nicht aufgegeben hatte, beweist die Aufkündigung des Dresdener Akkords mit der Begründung, die protestantischen Untertanen hätten beim Durchzug Mansfelds durch Schlesien (1626) ihre Loyalität gegenüber dem Kaiser verletzt. Konsequenzen hatte dies insofern, als die angeblichen Parteigänger Mansfelds unter den schlesischen Adligen ihre Güter verloren, das Patronatsrecht damit katholischen Adligen zufiel.21 Entgegen den Vorschlägen Wellers, bei der Rekatholisierung behutsam vorzugehen, übten die Liechtensteiner Dragoner in den Städten ein Schreckensregiment aus, indem sie die Einwohner gewaltsam zum Glaubenswechsel zwangen.22 Einigermaßen verschont blieben von dergleichen Rekatholisierungsversuchen nur die piastischen und podiebradischen Herzogtümer und das Fürstentum Breslau, die als einzige im Prager Frieden von 1635 die freie Religionsausübung zugestanden bekamen. Der andauernde Krieg verhinderte allerdings eine zügige Rekatholisierung der Erbfürstentümer, da – wie in Schweidnitz-Jauer – die durchziehenden protestantischen Truppen das evangelische Kirchenwesen immer wieder reetablierten.23 Erfolgreicher verfolgte Habsburg in Schlesien allerdings den Eliteaustausch. Auf höchster Ebene kamen immer mehr Standesherrschaften in die Hände von Katholiken, auf unterer Ebene stieg aufgrund von Konversionen oder Neubesetzung der Adelsgüter der Anteil katholischer Adliger. Der Frieden von Münster und Osnabrück garantierte durch seinen Artikel V die freie Religionsausübung nur den Herzögen von Liegnitz, Wohlau, Brieg und Oels für ihre Territorien, ferner der Stadt Breslau und dem Herzogtum Münsterberg, weil es der Titulatur nach den Podiebrads gehörte. Doch setzte sich in Letzterem der Kaiser (Ferdinand III.) darüber hinweg und ließ durch den Heinrichauer Abt Kaspar Liebischen (reg. 1651– 1656), der als kaiserlicher Kommissar im Herzogtum Münsterberg fungierte, gegen den erbitterten Widerstand der dortigen Bevölkerung den Protestanten zahlreiche Kirchen

20 Machilek: Schlesien, 133. 21 Petry: Politische Geschichte, 63f. 22 Ebd., 59. Deventer, Jörg: Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526–1707. Köln/Weimar/Wien 2003, 156ff.; Wąs, Gabriela: Religionsfreiheiten der schlesischen Protestanten. Die Rechtsakte und ihre politische Bedeutung für Schlesien. In: Köhler, Joachim/Bendel, Rainer (Hg.): Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum, Teilbd. 1–2. Münster/Hamburg/London 2002, hier Teilbd. 1, 451–482, hier 467–470. 23 Deventer, Jörg: Die politische Führungsschicht der Stadt Schweidnitz in der Zeit der Gegenreformation. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/1998) 27–50, hier 42–50.

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wegnehmen.24 Der erzwungenen Rekatholisierung zogen viele Einwohner auch in den Erbfürstentümern die (nicht erlaubte) Auswanderung vor. In den Erbfürstentümern Schweidnitz-Jauer und Glogau blieben wegen des Zugeständnisses der Friedenskirchen Inseln des Protestantismus erhalten. An der Grenze zur inzwischen sächsischen Lausitz und zu Brandenburg, aber auch zu Polen konnte in den Grenzkirchen, in den protestantisch gebliebenen Herzogtümern in den sogenannten Zufluchtskirchen, der evangelische Gottesdienst besucht werden.25 Die kaiserlichen Behörden forderten in den Erbfürstentümern 1653/54 von den Protestanten rücksichtslos die Herausgabe der Kirchen und wiesen die protestantischen Prediger aus. In Oberschlesien gab es nach 1660 keine evangelische Kirche mehr. Erst nach dem Vertrag von Altranstädt (1707) erhielt Teschen eine Gnadenkirche, nach 1740 übrigens die einzige offiziell protestantische Kirche in den habsburgischen Ländern.26 Die Rekatholisierungsmaßnahmen in den Erbfürstentümern wurde unter anderem von dem als Kunstmäzen bekannten Grüssauer Abt Bernhard ­Rosa (reg. 1660–1696) vorangetrieben, der dabei auf demographische Verluste keine Rücksicht nahm. Die Jesuiten rekatholisierten jedoch auf subtilere Art. Vor allem durch ihre Schulen waren sie erfolgreich. In Breslau gelang ihnen mithilfe des Kaisers 1670 endlich die Errichtung eines Kollegs in der Kaiserburg und damit auf Stadtgebiet. 1702 erfolgte dort trotz aller Gegenbemühungen der Bürgerschaft die Errichtung einer Jesuiten-Universität, der einzigen Universität in Schlesien. Die Maßnahmen nach dem Tod des letzten Piastenherzogs 1675 zeigen, dass für die Habsburger in Schlesien konfessionelle Fragen den Vorrang vor ökonomischen Erwägungen behielten. Trotz der Zusage an die Stände der drei Herzogtümer (Liegnitz, Wohlau, Brieg) von 1676, die Religions- und Kirchensachen im bisherigen Zustand zu belassen, hob der Kaiser die Konsistorien auf und beseitigte damit die wichtigsten Stützen lutherischen Kirchentums.27 Über das fürstliche Patronatsrecht erreichte er die Besetzung der Kirchen mit katholischen Geistlichen. Die schleichende Rekatholisierung Schlesiens führte 1707 schließlich zu einer auswärtigen Intervention Schwedens zugunsten der schlesischen Protestanten, auf die der Kaiser aus außenpolitischen Rücksichten eingehen musste. In der Altranstädter Konvention verpflichtete sich der Kaiser, alle gegen die Bestimmungen des Westfälischen Friedens den Protestanten weggenommenen Kirchen – 125 waren es – wieder zurückzugeben. Außerdem gestand er ihnen aus „Gnade“ den Bau von sechs Kirchen in den Erbherzogtümern zu. Das lutherische Kirchentum konnte durch die Zulassung von drei Konsistorien in Liegnitz, Brieg und 24 Grüger, Heinrich: Glaubenstreue oder Anpassung? Das Schicksal des Wiesenmüllers auf dem Ohlguth bei Münsterberg im Zeitalter der Gegenreformation. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 64 (1985) 48–53. 25 Vgl. die Karte bei Petry: Politische Geschichte, 90f. 26 Conrads, Norbert: Zwischen Barock und Aufklärung (1618–1740). In: ders. (Hg): Schlesien, 258–344, hier 302; Patzelt, Herbert: Lamentatio der Bürger zu Teschen im Jahre 1629. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 77 (1961) 3–118; ders.: Geschichte der evangelischen Kirche in Österreichisch-Schlesien. Dülmen 1989. 27 Petry: Politische Geschichte, 84.

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Wohlau restituiert werden und an den Friedenskirchen durften Schulen eingerichtet und beliebig viele Geistliche angestellt werden. Von den Bestimmungen blieben nach wie vor die Calvinisten ausgeschlossen.28 Offen bleibt, inwieweit nun eine lutherische Konfessionalisierung einsetzte, die auch in den katholischen Raum hineinzuwirken vermochte. Das Apostasie-Edikt Kaiser Karls VI. vom 27. Mai 1709, das harte Strafen für Apostaten (also vom Katholizismus zum Protestantismus Konvertierte) androhte, gründete wohl nur auf Einzelfällen und ist eher als Beruhigungsstrategie gegenüber dem gegen die Altranstädter Konvention protestierenden Bischof und Kaiseronkel Franz-Ludwig von Pfalz-Neuburg zu werten.29 Die Konfessionalisierung war in Schlesien im Interesse der habsburgischen Politik eindeutig zugunsten der Katholiken verlaufen. Dennoch war es den Habsburgern außer in Oberschlesien und in der Grafschaft Glatz nicht gelungen, das lutherische Kirchentum ganz zu unterdrücken, was letztlich der Intervention protestantischer Fürsten zugunsten ihrer schlesischen Glaubensbrüder zu verdanken war. Lediglich aus außenpolitischen Gründen gaben die Habsburger Herrscher hier nach; eine Duldung des Protestantismus war mit ihrer politischen Grundhaltung nicht zu vereinbaren. Der habsburgischen Konfessionspolitik lag ein Geschichtsbild zugrunde, das Protestantismus mit Abfall und Zerstörung der friedlichen Herrschaft gleichsetzte, wobei die historische Entwicklung seit dem Abfall von Hus und Böhmen als historisches Argument (so zum Beispiel im Reformationspatent von 1627) herangezogen wurde. Im Sieg am Weißen Berg über die ketzerischen Böhmen – dies war auch die Interpretation der Kirche, und sie wurde von der habsburgischen Propaganda aufgenommen – war Gottes Wille deutlich geworden, die Einheit der Christenheit und damit den Frieden wieder herzustellen.30 Zugeständnisse an die „Ketzer“ – so interpretierte es der einflussreiche Wiener Bischof Khlesl – widersprachen der Heiligen Schrift und hießen, einen Frieden gegen Christus zu schließen. Auch Khlesl beruft sich auf die Geschichte, wenn er den Beweis führt, dass es dort, wo Ketzerei geduldet werde, keinen Frieden gegeben habe. Ein Abweichen von der wahren Religion führe immer zur politischen Rebellion.31 Diese Argumentation war nicht erst nach 1620 aufgekommen. Schon bei der Rekatholisierung der Steiermark hatte 1595 ein Berater des jungen Erzherzogs Ferdinand in einem Strategiepapier geschrieben, dass es das vornehmste Amt des Fürsten sei, Aufruhr und Rebellion 28 Conrads, Norbert: Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707–1709. Köln/Wien 1971, 40–50. 29 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 238f. Wiederholt wurden gegen Apostasie scharfe Strafen angedroht. Vgl. Kovacs, Elisabeth: Österreichische Kirchenpolitik in Schlesien 1707 bis 1790 (aus Wiener Sicht). In: Baumgart, Peter (Hg.): Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen. Sigmaringen 1990, 239–256, hier 244f.; Lehmann, Max: Staat und Kirche in Schlesien vor der preußischen Besitzergreifung. In: Historische Zeitschrift 50 (1883) 193–230, hier 213f. 30 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 110; Köhler, Joachim: Der Beitrag der Prager Nuntiatur zur Festigung des Katholizismus in Ostmitteleuropa. In: Historisches Jahrbuch 93 (1973) 336– 346, hier 340–346. 31 Köhler: Beitrag, 345.

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in seinen Ländern zu verhüten; dass dies aber nicht geschehen könne, so lange unterschiedliche Religionen toleriert würden, denn – so seine Schlussfolgerung: „Solang die widerwärtige Religion toleriert wird, so lange kann der Fürst bei seinen Untertanen den vollkommenen Gehorsam nicht haben; denn so oft er ihnen etwas befehlen wird, das ihnen nicht schmeckt oder gefällt, so fliehen sie zu ihrem großen Gewissen und mißbrauchen die Schrift[stelle] ‚Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen‘.“32 Diese Einschätzung wurde zur habsburgischen Staatsdoktrin und blieb es bis in die Zeit Maria Theresias. Der Staat – so die Theorie – dulde Unruhe und Abfall, solange er den Protestantismus dulde. Gerade Schlesien hätte hier noch 1648 die Widerlegung dieser Anschauung bieten können. Dort, wo es Konflikte zwischen den Konfessionen gab, waren sie fast immer von der Staatsmacht provoziert worden. Daher die zähe Rekatholisierungspolitik in Schlesien, auch dann noch, als die Politik nicht mehr primär von Konfessionsfragen bestimmt wurde. Gemäß dieser habsburgischen Richtlinien hatte nicht erst Ferdinand II. nach 1620, sondern schon vor ihm Rudolf II. in den 1590er Jahren versucht, gestützt auf sein ius reformandi, die katholische Konfessionalisierung in Schlesien voran zu bringen. Doch trotz dieser habsburgischen Maxime, trotz wiederholter politischer Aktionen zugunsten der Rekatholisierung gab es für die Protestanten in den gemischt-konfessionellen schlesischen Herzogtümern durchaus auch ruhige Phasen, in denen ein normales Religionsexercitium das alltägliche Leben bestimmte. Sogar die Schwenckfelder blieben nach den verschärften Rekatholisierungsaktionen der 1650er Jahre beispielsweise im Erbfürstentum Schweidnitz-Jauer relativ unbehelligt.33 Obgleich seit den 1570er Jahren Schlesien nahezu protestantisch war, hatte die lutherische Konfessionalisierung doch eindeutige Schwächen gezeigt. Die Reformation hatte sich als Fürsten-, Rats- oder Junkerreformation durchgesetzt. Trotz der Bedeutung der Breslauer Reformatoren Johannes Hess und Ambrosius Moibanus fehlte eine bestimmende reformatorische oder auch fürstliche Persönlichkeit, die nach Formierung des katholischen Konfessionalismus diesem ein deutliches lutherisches Bekenntnis hätte entgegensetzen können. Auch wenn die Einschätzung des Glatzer Augustinerpropstes Kirmeser von 1584 als gegenreformatorische Propaganda zu werten ist, wenn er schreibt, es gebe in den Orten der Grafschaft Glatz Pfarrer und Lehrer, „die weder der römischen, weder der Augsburgischen Confession zugetan sind, sondern ganz fremde, gottlose eigensinnige Lehr und Meinung je länger je weiter ärgerlicher unter das gemein Volk tun ausbreiten“,34 so war eine weitgehend übereinstimmende Konkordienformel für Schlesien nicht ausformuliert worden. Hier machte sich auch das Fehlen eines anerkannten Zentrums, einer für alle zuständigen landeskirchlichen Institution beziehungsweise ei32 Steiermärkisches Landesarchiv Graz, Meiller-Akten XIX 14-d, fol. 232–235, hier fol. 234v. 33 Weigelt, Horst: Der Arzt und Botaniker Martin John. Eine führende Gestalt des schlesischen Schwenckfeldertums im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 74 (1995) 101–117, hier 104; ders.: Von Schlesien nach Amerika. Die Geschichte des Schwenckfeldertums. Köln/Weimar/Wien 2007, 120–130. 34 Zit. nach Herzig: Reformatorische Bewegungen, 68.

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ner einheitlichen Kirchenverfassung, bemerkbar, auch wenn das Liegnitzer Konsistorium diese Funktion weitgehend für Schlesien und die Grafschaft Glatz ausübte.35 War bei den ersten Rekatholisierungsversuchen der Habsburger in den 1590er Jahren die Auseinandersetzung mit den Schwenckfeldern noch nicht ganz überwunden, so stand nach 1600 eine weitaus heftigere, nämlich die mit den Calvinisten, ins Haus. Für die lutherische Position war hierbei besonders nachteilig, dass 1611 die bedeutendsten protestantischen Fürsten, die Liegnitz-Brieger Piasten, zum Calvinismus übertraten.36 Die calvinistischen Pfarrer drängten vor allem auf eine klarere Unterscheidung zum katholischen Ritus. Weder in der Ausstattung der Kirchen noch in der liturgischen Gestaltung scheint es bis dahin eine deutliche Abgrenzung zwischen katholischem und lutherischem Ritus gegeben zu haben, zumal die Sakramentenspendung sub utraque (unter beider Gestalt) auch in der katholischen Liturgie möglich war. Wie bei der „Rekonzilierung“ ehemals protestantischer Kirchen deutlich wird, übernahmen die nachfolgenden katholischen Geistlichen die gesamte Kirchenausstattung inklusive der von den Lutheranern angeschafften Paramente.37 Auch die altkirchlichen Altäre und Andachtsbilder, deren Kultus im 17. Jahrhundert katholischerseits reaktiviert wurde, standen vielfach noch am alten Platz. Allenfalls waren Altäre beseitigt worden, um an ihre Stelle Predigtstühle zu setzen.38 Wohl nicht ohne Grund hob deshalb der Jesuit Weller 1625 in seinem Strategiepapier hervor: Man solle den katholischen Gottesdienst wieder einführen, und zwar mit Benutzung derjenigen katholischen Gegenstände, die sich, weil im Volke fest verwurzelt, immer noch erhalten hätten, und an denen die Lutheraner aus dem gemeinsamen Gegensatz gegen den Calvinismus hingen, wie ältere und neuere Vorgänge in Breslau und anderen schlesischen Städten zeigten. Dies spielt wohl auf den Protest des Breslauer Rats und der Zunftältesten vom 26. November 1620 an, der sich gegen den reformierten Gottesdienst richtete, den der auf der Flucht befindliche Winterkönig in Breslau abhalten ließ. Immerhin erreichten sie aufgrund ihres Protests, dass dieser das am 5. März 1620 für die Reformierten in Böhmen gestattete Religionsexercitium für Breslau wieder aufhob.39 Die Differenzen zwischen dem sich herausbildenden lutherischen Konfessionalismus und dem calvinistischen waren in Schlesien offensichtlich größer als die Differenzen zu dem katholischen, auch wenn die Katholiken seit den 1590er Jahren wieder versuchten, die Prozessionen, insbesondere die Fronleichnams35 Petry: Politische Geschichte, 31; auf den Vorwurf, er sei von keinem Bischof geweiht, konterte um 1600 der Reinerzer Pfarrer Severin Arnold, er sei nichtsdestoweniger von einem fürstlichen wohlbestellten Konsistorium zu Liegnitz auf vorhergehendes fleißiges Examinieren öffentlich von einer ganzen Kirchenversammlung nach apostolischem Brauch ordiniert und gewählt worden. Vgl. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 99. 36 Petry: Politische Geschichte, 49; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 99f. 37 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 150; Jedin: Denkschrift, 406 Anm. 24; Evans, Robert J. W.: Das Werden der Habsburgermonarchie 1550–1700. Wien/Köln 1989, 32f. 38 Harasimowicz, Jan: Treści i funkcje ideowe sztuki śląskiej reformacji 1520–1650. Wrocław 1986, 194–196. 39 Jedin: Denkschrift, 407.

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prozession, bewusst zur symbolischen Demonstration ihres Ritus und dem damit verbundenen Anspruch, die „allein seligmachende“ Religion zu vertreten, einsetzten.40 Die unsichere politische Situation, mit der die lutherische Konfessionalisierung angesichts des ius reformandi immer wieder konfrontiert wurde, erschwerte die Möglichkeit der Propaganda gegen die konkurrierenden Konfessionen. Dort, wo der Kaiser die katholische Konfessionalisierung durchgesetzt hatte, sorgten vor allem die Jesuiten dafür, dass das evangelische Schriftgut vernichtet und durch katholisches ersetzt wurde und dass ihnen dafür leistungsfähige Druckereien zur Verfügung standen.41 Eine Propaganda oder Polemik gegen die Jesuiten in Schlesien war deshalb nur von protestantischen Universitäten im Reich her möglich, so von Leipzig aus, wo der aus Schlesien stammende dortige Dekan der Philosophischen Fakultät, Balthasar Hilscher, 1629 eine Schrift „Wider den Papst und seine Jesuiter“ publizierte.42 Die Heranbildung lutherischer Multiplikatoren konnte zwar durch die Fortführung lutherisch bestimmter Gymnasien wie in Breslau, Bunzlau, Grünberg, Goldberg gesichert werden – die eigentliche Ausbildung erhielten die Kandidaten allerdings an den lutherisch ausgerichteten Universitäten im Reich. Doch im Gymnasialbereich drohte die Konkurrenz, einmal von calvinistisch bestimmten Schulen wie dem Schönaichianum in Beuthen/Oder, besonders aber von den Jesuiten, die das Bildungsmonopol an sich zu ziehen versuchten. Mit ihren Gymnasien, so vor allem in Breslau, gewannen sie bald überregionale Bedeutung.43 Die katholische Konfessionalisierung als Prozess der Rekatholisierung war wie in den anderen habsburgischen Ländern auch in Schlesien primär ein Akt des habsburgischen Kirchenverständnisses. Der Herrscher fühlte sich für das Seelenheil seiner Untertanen verantwortlich. Dieses aber konnten sie nach Auffassung der Habsburger Herrscher nur durch die „alleinselig machende“ katholische Kirche finden. Als Landesherren sahen sie 40 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 86–101; allerdings verliefen diese Prozessionen wohl noch nicht mit der barocken Exzessivität, die wir aus der Biografie des Konvertiten Angelus Silesius kennen, der 1662 bei der ersten Fronleichnamsprozession, die in Breslau wieder abgehalten wurde, mit einem Kreuz und einer Dornenkrone mitzog, um – wie er schreibt – „die Bekehrung der Stadt und aller derer, die ihn auslachen, zu verdienen“. Zit. nach Viëtor, Karl: Johann Scheffler. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928, 78–89, hier 78. 41 Vgl. das Strategiepapier von P. Wilhelm Lamormaini SJ (1621/22). In: Grisor, Hartmann, SJ: Vatikanische Berichte über die Protestantisierung und die katholische Restauration in Böhmen zur Zeit Ferdinands II. In: Zeitschrift für katholische Theologie 10 (1886) 722–737, hier 729; in Glatz war es seit den 1670er Jahren die Druckerei des Verlegers Andreas Pega, die die Schriften der Jesuiten, aber auch von Angelus Silesius und Bernhard Rosa herausbrachte. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 202. Vgl. den Beitrag „Die Gegenreformatorischen Verlagsstrategien in Schlesien“ in diesem Band. 42 Leipzig (bei Risch) 1629; das Exemplar in der Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Nr. 391296; Balthasar Hilscher (Hirschberg 1595–1629 Leipzig). 43 Lubos, Arno: Valentin Trozendorf. Ein Bild aus der schlesischen Kulturgeschichte. Ulm 1962, 12; Seidel, Robert: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk. Tübingen 1994, 230ff.; Conrads: Barock, 303f.

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Kardinal Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) war 1622 zum Erzbischof von Prag gewählt und 1626 zum Kardinal ernannt worden. Er ordnete nach der Rekatholisierung der Grafschaft Glatz, die zur Erzdiözese Prag gehörte, die dortigen kirchlichen Verhältnisse.

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deshalb ihre Aufgabe darin, die katholische Konfession uneingeschränkt zu etablieren. Durch die monokonfessionelle Struktur des Staates sollte jeder Anlass zu Zwietracht ­beseitigt werden, wodurch auch der Staat an Macht gewann.44 Die Kurie unterstützte die Landesherren hierin. Widerstand aus der katholischen Amtskirche war nicht zu erwarten, zumal diese in Schlesien keine starke Position hatte wie im Westen, oder aber weil die Äbte der großen Klöster in ihrem eigenen Interesse die Rekatholisierung unterstützten. Der Breslauer Bischofsstuhl war in den entscheidenden Jahren der Rekatholisierung mit Habsburgern oder Habsburger Parteigängern besetzt. Und selbst als 1664 der Habsburger Kandidat, Kardinal Ernst Adalbert von Harrach, unterlag, verfolgte dessen Gegenspieler Sebastian Rostock die Habsburger Politik. Er zwang die evangelischen Patronatsherren an den rekatholisierten Kirchen der Erbfürstentümer 1653/54, ihm nur katholische Geistliche für die Pfarrstellen vorzuschlagen.45 In dem Patronatsrecht des Adels und dem damit verbundenen Besetzungsrecht der Pfarreien lag der Schwachpunkt des habsburgischen Staatskirchentums. In der Grafschaft Glatz hatte nach der „Rebellion“ von 1618/19 der Kaiser nach 1622 das Patronatsrecht des Adels kurzerhand kassiert.46 Der neue, katholische Adel bekam dieses Recht erst allmählich wieder zurück. Er musste sich verpflichten, die Pfarrstellen nur mit katholischen Geistlichen zu besetzen, was – wie Rostocks Vorgehen zeigt – nach 1650 auch für die Erbfürstentümer galt. Der protestantische Adel in Schlesien konnte nicht wie in der Grafschaft durch Exekutionskommissionen wegen Teilnahme an der Rebellion seines Lehens und auch seines Allods für verlustig erklärt werden, da ihn der Dresdener Akkord schützte. Ansätze gab es jedoch in den Prozessen, die nach dem Mansfelddurchzug wegen angeblicher Loyalitätsverletzung gegen protestantische Adlige geführt wurden und aufgrund derer zahlreiche Adlige ihre Güter verloren.47 Habsburg versuchte vor allem, den protestantischen Adel für die Konversion zu gewinnen, worin der Kaiser durch die Jesuiten unterstützt wurde.48 Diese waren überhaupt die wichtigste Kraft der habsburgischen Konfessionspolitik. Den reichen Fundus für ihre Kollegien verschafften ihnen die Kaiser oder andere Protegés aus dem Besitz der mittelalterlichen Orden. In Glatz bekamen sie 1597 nicht nur das Augustinerchorherrenstift mit allen Pertinenzien, sondern nach 1622 als Entschädigung für ihr zerstörtes Kolleg auch den Besitz der ehemaligen Johanniterkommende mit dem dazugehörigen Patronatsrecht an der Pfarrkirche. In Breslau sollten sie 1648 die ehemaligen Minoritenkirche St. Dorothea erhalten, was aber die Breslauer Bürger verhinderten. Ihr späterer Breslauer Fundus, die Burg, stammte aus königlichem Besitz. Die Liste ließe sich fortsetzen: In Schweidnitz war es (1637/60) die Pfarrkirche, 44 Sturmberger, Hans: Kaiser Ferdinand II. und das Problem des Absolutismus. München 1957, 9–11; Köhler: Beitrag, 338f.; Jedin: Denkschrift, 402–405. 45 Evans: Habsburgermonarchie, 219f.; Köhler: Beitrag, 32f.; Petry: Politische Geschichte, 74f. 46 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 112. 47 Petry: Politische Geschichte, 64 48 So in dem sogenannten Reformationspatent von 1627. In: Balbin, Bohuslav: Miscellanea historica Regni Bohemiae, Bd. 3. Prag 1679, 135–138.

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deren Patronatsrecht dem Breslauer Klarenstift gehörte; in Sagan das ehemalige Franziskanerkloster, das ihnen Wallenstein als Landesherr 1628 übergab. In Glogau stammte der Fundus nicht aus geistlichem Besitz, sondern aus der Strafsumme (55.000 Reichstaler), die Johannes von Schönaich als Strafe für seine Huldigung des Winterkönigs (1625) zahlen musste; in Liegnitz war es der Besitz des ehemaligen Franziskanerklosters mit der Johanniskirche, in der sich die herzogliche Grablege befand. Unterstützt von der Kurie und dem Kaiser, setzten sich die Jesuiten über die Besitzrechte älterer Orden hinweg, was zu der interessanten Situation führte, dass die lutherischen Stände in Glatz beziehungsweise der lutherische Rat in Breslau für die Interessen der alten Orden (Augustinerchorherren und Franziskaner) eintraten. Im Fall von Glatz setzte sich die Kurie zugunsten der Jesuiten über die Interessen des Prager Erzbischofs hinweg, der der eigentliche Oberherr des Stifts war, während in diesem Fall Kaiser Rudolf II. erklärte, er hätte es lieber gesehen, wenn die Propstei in ihrem alten Zustand verblieben wäre, dem Jesuitenorden in Glatz aber andere Gebäude zur Verfügung gestellt worden wären.49 Bis auf Glatz blieben die alten Orden mit ihren großen Stiften und Abteien von der Habsburger Konfessionalisierungspolitik verschont, zumal sie sich wie die Heinrichauer und Grüssauer Äbte nach 1650 aktiv und rücksichtslos für die Rekatholisierung einsetzten, während ihre Vorgänger die evangelischen Bewohner ihrer Stiftsdörfer bei ihrer evangelischen Konfession belassen hatten. Nach 1650 waren es vor allem der Grüssauer Abt Bernhard Rosa (reg. 1660–1696) sowie die Heinrichauer Äbte Kaspar Liebichen (reg. 1651–1656) und Melchior Welzel (reg. 1656–1680), die als kaiserlicher Kommissar oder auch Landeshauptmann im Fürstentum Münsterberg gegen die Bestimmungen des Artikel V des Westfälischen Friedens die Rekatholisierung durchführten, dabei den Lutheranern die Kirchen wegnahmen, die Prediger vertrieben und die Untertanen vor die Wahl stellten, entweder den Glauben zu wechseln oder ihren Besitz aufzugeben.50 Die Habsburger konnten sich bei ihrer Rekatholisierungspolitik nicht nur auf die ­Jesuiten, sondern auch auf die alten Orden und die Amtskirche verlassen, während der katholische Weltklerus auch nach 1650 keineswegs den Vorgaben des Trienter Konzils entsprach, das Konkubinat wie auch ein niedriger Bildungsstand noch lange symptomatisch blieben.51 Für die Besetzung der rekatholisierten Pfarreien griffen die Bischöfe oder auch die geistlichen Patronatsherren auf den Ordensklerus und die Jesuiten zurück und kompensierten so in etwa die Schwächen, die sich hier bei der Durchsetzung der katholischen Konfessionalisierung zeigten. Die eigentlichen katholischen Multiplika49 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 131f.; Köhler: Beitrag, 41; Radler, Leonhard: Schweidnitz: In: Weczerka, Hugo (Hg.): Handbuch der Historischen Stätten. Schlesien. Stuttgart 1977, 491–496, hier 493; Steller, Georg: Sagan. Ebd., 462–467, hier 466; Grundmann, Günther: Carolath. Ebd., 70–71; Weczerka, Hugo: Liegnitz. Ebd., 283–295, hier 291. 50 Grüger: Glaubenstreue, 48–50; Heinzelmann, Paul: Die Vertreibung der evangelischen Pfarrer und die Wegnahme der evangelischen Kirchen im Fürstentum Münsterberg im Jahr 1653. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der Evangelischen Kirche Schlesiens 12 (1911) 188–216. 51 Köhler: Beitrag, 24; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 184–193.

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toren, die ihre konfessionellen Gegner offensiv angingen, den Rekatholisierungsprozess aber sehr subtil vornahmen, blieben bis ins 18. Jahrhundert hinein die Jesuiten mit ihren neuen sozialen und ästhetischen Programmen, während sie dann später gegenüber den reformkatholischen Programmen des Jansenismus, vor allem aber der Aufklärung, ins Hintertreffen gerieten. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts übten sie auf protestantische Intellektuelle und Künstler durchaus eine Faszination aus, wie Martin Opitz und Daniel Czepko beweisen oder aber die Konversionen von Gottfried Ferdinand Buckisch, Andreas Scultetus, Andreas Scheffler und Michael Willmann zeigen.52 Der lutherische Konfessionalismus vermochte in Schlesien und der Grafschaft Glatz weitgehend nur aus der Defensive heraus zu agieren, wenn die Überzeugung seiner Anhänger auch ungebrochen war. Damit berühren wir das Problem beziehungsweise die Frage, wie sich die Konfessionalisierung auf den „gemeinen Mann“ allgemein ausgewirkt hat, wie sie von ihm akzeptiert oder auch vorangetrieben wurde. Wie die Reformation, so war auch die Konfessionalisierung primär ein städtisches Ereignis. Ihre Ausbreitung auf dem Land erfolgte nach dem Scheitern einer bäuerlichen Reformationsbewegung im Bauernkrieg 1525 weitgehend als sogenannte Junkerreformation. Das bedeutet: Der adlige Patronatsherr setzte, sobald er sich der Reformation angeschlossen hatte, an seiner Patronatskirche einen protestantischen Prediger ein. Die Gemeinde musste ihm hierin dann nolens volens folgen. In Konfliktfällen, zu denen es bisweilen dabei kam, werden gewisse Konstanten eines konservativen Verhaltens bei der bäuerlichen Bevölkerung deutlich. Es kann einmal für das Verbleiben bei der tradierten Konfession eine starke Bindung der Gemeinde an den jeweiligen Pfarrer bestimmend gewesen sein, dessen Vertreibung die Gemeinde nicht hinnehmen wollte.53 Oder es ist das Beharren auf den „christlichen Gebräuchen“, die „wir“ – wie es 1582 in einer Beschwerdeschrift heißt – „von unsern lieben Vorfahren christlich und gut empfangen haben“.54 Zu einem Konflikt kam es in dieser Beziehung fast ausschließlich mit calvinistischen Geistlichen, die alle altkirchlichen Relikte aus dem Kirchenraum und dem ­Ritus beseitigten. Dabei fällt auf, dass die katholischen Gemeinden in ihren Bittschriften ­durchaus Forderungen der Reformation erheben konnten, nämlich: die Unterweisung des göttlichen Wortes und die Wahl ihres Geistlichen oder auch eine Mitbestimmung bei der Besetzung der Pfarrstelle.

52 Conrads: Barock, 340; Evans: Habsburgermonarchie, 219; Baumgarten, Jens M.: Die Jesuiten in Schlesien und die Kunst der Gegenreformation. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/1998) 129–164; Conrad, Anne: Der Katholizismus. In: dies./Greyerz, Kaspar von (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, 1650–1750. Paderborn 2012, 17–142, hier 73f. 53 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 78–81. 54 Zit. nach Bach, Aloysius: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis an unsere Tage [...]. Nebst einem Anhange: Geschichtlich statistische Darstellung aller Gläzer Pfarreien und Kirchen mit deren geistlichen Vorstehern, so wie der Schulen im Jahre 1841. Breslau 1841, 131.

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Hatte die dörfliche Gemeinde die neue Lehre angenommen, so bildete sich auch hier bald eine Tradition heraus, und die Akzeptanz war so groß, dass der erzwungene Rekatholisierungsprozess zu erheblichen Widerstandsaktionen führte. Vielfach waren es die Frauen, die – wie in Tepliwoda oder Wünschelburg – starken Widerstand leisteten. Kryptoprotestantische Spuren sind sowohl in der Grafschaft Glatz als auch in Teschen vor allem auf dem Land noch nach Generationen zu finden.55 Die ersten Rekatholisierungsversuche hatten in den 1590er Jahren, dann insbesondere in der Phase kurz nach dem Westfälischen Frieden zu erheblichen Aggressionen geführt. Vor allem die Befürchtung, das Gotteshaus an die andere Konfession zu verlieren, führte häufig zu handfesten Auseinandersetzungen wie in Glatz, Habelschwerdt und Tepliwoda. Wolfgang Reinhard sieht besonders im Hexenwahn „eine Art Mechanismus zur Aggressionsabfuhr [...] der durch den von konfessioneller Sozialdisziplinierung und gerade durch deren Verinnerlichung zustande gekommenen Druck erforderlich wurde“.56 Dies lässt sich sicher auch am Beispiel Schlesien und der Grafschaft Glatz nachweisen, wie die eingehenden Untersuchungen von Karen Lambrecht für die Fürstentümer Neisse, Glogau, Jägerndorf und die Grafschaft Glatz – Gebiete intensiver Rekatholisierung also – zeigen. Es war jedoch nicht nur die Aggressionsabfuhr, sondern wohl auch die geistliche Verunsicherung, die zu einem starken Teufelsglauben und Hexenwahn geführt hatten. Im konkurrierenden Wahrheits- und Heilsanspruch der Konfessionen brachten die Geistlichen und Prediger den Teufel sehr stark ins Spiel. Auf ihn wurde die „Verblendung“ der Gegenpartei zurückgeführt, wenn nicht gar die Konfession der anderen als sein Werk hingestellt wurde. So verwundert es nicht, dass der Glaube an die Macht des Teufels die Gemüter der Menschen immer mehr bestimmte.57 Erst im ausgehenden 17. Jahrhundert findet sich in den gewaltsam rekatholisierten Gebieten Schlesiens eine innere Bejahung des Katholizismus, wie die Äußerungen des Barockkatholizismus zeigen. War das Barock zunächst der Baustil des Siegers, der durch die Architektur der Kirchen und die Errichtung von Heiligenbildern und -säulen auch im Stadtbild den Sieg der ecclesia triumphans demonstrieren wollte, so akzeptierte die Bevölkerung nach 1680 in den rekatholisierten Gebieten diesen Stil als ihren eigenen und 55 Heinzelmann: Vertreibung, 188–190; Grüger: Glaubenstreue, 48–50; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 148, 150–154; Govil, Usha Maria: Landbevölkerung und Gegenreformation in den schlesischen Fürstentümern Neisse, Breslau und Brieg. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/1998) 63–98. Wie neun Jahre nach dem Beginn der erzwungenen Rekatholisierung in der Grafschaft Glatz der dortige Landeshauptmann Karl Fuchs von Fuchsberg gegen „Rückfällige“ vorging, dokumentiert seine Verordnung vom 18. Januar 1631. In: Benrath, Gustav Adolf u. a. (Hg.): Quellenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien. München 1992, 122; Hutter-Wolandt, Ulrich: Evangelisches Leben in der Grafschaft Glatz im Laufe der Jahrhunderte. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 72 (1993) 61–75, hier 65f.; Patzelt: Lamentatio, 104. 56 Zit. nach Reinhard: Sozialdisziplinierung, 54; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 86–101; Heinzelmann: Vertreibung, 188–190. 57 Lambrecht, Karen: Hexenverfolgung und Zaubereiprozesse in den schlesischen Territorien. Köln/Weimar/Wien 1995, 92–95; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 162–167.

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trug durch Bildstöcke, Andachtskapellen, Heiligenfiguren, Votivtafeln und Ähnliches mit zur Sakralisierung der Landschaft bei. Hatte einst die alte Kirche die Heilserwartung der Menschen nicht mehr erfüllt und war ihnen danach ihre Heilssicherheit in der lutherischen Lehre durch Zwang genommen, so bot ihnen nun nach einer langen Phase innerer Unsicherheit der Barockkatholizismus durch die Sakralisierung der Landschaft einen Schutz in einer magisch bestimmten Welt, in der nach allgemeiner Ansicht der Teufel eine große Macht hatte. Der Barockkatholizismus bestimmte mit seinen Festen, Bräuchen, Wallfahrten, Prozessionen, der Heiligenverehrung und weiteren Kultusformen entscheidend die Alltagskultur der ländlichen und städtischen Bevölkerung mit.58 Damit entstand eine eigene Kultur, die sich deutlich von der protestantischen Alltagskultur unterschied, die viel stärker eine Verinnerlichung anstrebte und mit ihren Hausandachten, Kirchenliedern, Leichenpredigten, Buß- und Bettagen in der Öffentlichkeit nicht so prägend war wie die katholische. Es bleibt im Einzelnen zu untersuchen, ob auch in Schlesien – wie dies Etienne François für Augsburg nachgewiesen hat – die unterschiedlichen Alltagskulturen zu zwei geschlossenen Gesellschaften geführt haben, die sich nicht gerade sehr tolerant gegenüberstanden.59 Für das ausgehende 17. Jahrhundert ist in Schlesien – soweit wir bisher wissen – wohl eher von einem ausgeglichenen Nebeneinander auszugehen. Die katholische Konfessionalisierung konnte trotz aller Anstrengungen Habsburgs in Schlesien nicht erfolgreich zu Ende geführt werden. Es blieben am Ende zwei ­gleich große Konfessionsgruppen, die miteinander leben mussten. Beide Gruppen waren in ihrer unterschiedlich geprägten Alltagskultur von den betreffenden Konfessionalisierungsinstanzen diszipliniert worden. Insofern enthielt die Konfessionalisierung in Schlesien auch ein Modernisierungspotenzial. Höher einzuschätzen aber ist die Form des friedlichen Zusammenlebens, die sich dabei herausbildete und die späteren Formen der modernen Gesellschaft vorwegzunehmen scheint. In dem Nebeneinander der zwei Kulturen liegt auch die Wurzel der kulturellen Blüte, die Schlesien trotz der Kriegsschäden und sozialen Verluste im ausgehenden 17. Jahrhundert erlebte und die auch von der Alltagskultur getragen wurde. Im protestantischen Bereich dominierte dabei die literarische, im katholischen die bildnerisch-architektonische Ausdrucksweise. Der Blick auf die Entwicklung Schlesiens im konfessionellen Zeitalter hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: auf der einen Seite die großen Opfer, die von der Bevölkerung gefordert wurden, auf der anderen die sozialen und kulturellen Leistungen, die sie bewirkten. 58 Evans: Habsburgermonarchie, 310–320; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 176–181; Kalinowski, Konstanty: Barock in Schlesien. Geschichte, Eigenart und heutige Erscheinung. München 1990, 14–20; Baumgarten: Jesuiten; van Dülmen, Richard: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1–3. München 1990–1994, hier Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung. 16.–18. Jahrhundert, 120f. 59 François, Etienne: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648– 1806. Sigmaringen 1991, 242f.

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4. Das Erleben des konfessionellen Zeitalters im Spiegel der Grafschaft Glatzer Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts Im kollektiven Gedächtnis der Bewohner der Grafschaft Glatz spielten im 19. und 20. Jahrhundert die circa achtzig Jahre reformatorischen beziehungsweise sechzig Jahre lutherischen Kirchentums kaum eine Rolle. Eine katholisch bestimmte ­Geschichtsschreibung hatte das Wissen darüber kaum respektive nur unzureichend oder tendenziös tradiert. Doch blieb es erhalten in der chronikalischen Überlieferung des 16. und 17. Jahrhunderts, wenn diese auch nicht im Druck erschien, sondern nur in Abschriften, wobei allerdings zu vermuten steht, dass diese Chroniken nicht in ihrer Vollständigkeit überkommen sind.1 Im Gegensatz dazu kam das bedeutendste Werk der reformatorischen Periode, die „Glaciographia“ des Georg Aelurius, im Druck heraus – und zwar im Jahr 1625, also nach dem Untergang des lutherischen Kirchentums der Grafschaft Glatz, verlegt durch den Breslauer Buchhändler David Müller.2 Aelurius hatte die letzten Jahre lutherischen 1 Im Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu befindet sich im Nachlass des Ullersdorfer Pfarrers Joseph Kögler (1765–1817) die Handschrift Cronika oder Beschreibung der Stadt Glatz [...] (Signatur: Kögler 17). Dabei handelt es sich um Abschriften aus anderen handschriftlichen Chroniken oder aus gedruckten Büchern, so vor allem aus Georg Aelurius’ „Glaciographia“, die 1625 in Leipzig erschienen war. Von Bedeutung für die folgende Abhandlung sind die Chronikfragmente des Glatzer Schneiders Pankratz Scholtz (Kögler 17 III, 283–319, 332–342) und des Georg von Promnitz (ebd., 331–332); in einer weiteren Handschrift des Kögler-Nachlasses (Signatur: Kögler 71) befindet sich die Chronik eines ungenannten Habelschwerdter Bürgers, die vermutlich in der Zeit zwischen 1579 und 1621 entstand und von einem anderen Autor fortgesetzt wurde, der sich nach Kögler um 1628 in das Dorf Oberlangenau zurückgezogen hatte und hier die Chronik bis 1663 fortsetzte. Entweder von ihm oder einem Kompilator, der die Chronik noch einmal „überarbeitete“ und diese dann als einen einheitlichen Text überlieferte, stammen diverse Zusätze für das 16. Jahrhundert. Zur Überlieferung und zur Kompilation Grafschaft Glatzer Chroniken aus der Frühen Neuzeit vgl. Pohl, Dieter: Die Grafschaft Glatz (Schlesien) in Darstellungen und Quellen. Eine erweiterte Bibliographie. Modautal 1994, 228, Nr. 2120, 109, Nr. 928, 61, Nr. 369. Ich danke Dr. Dieter Pohl für die Hinweise und die Überlassung der Filme. Vgl. ferner Bretholz, Berthold (Bearb.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 6/2: Die Handschriften zur Geschichte der Grafschaft Glatz. Glatz 1927, 155–160; die Chroniken wurden in hochdeutscher Übertragung auszugsweise publiziert: Volkmer, Franz: Aus der Chronik des lutherischen Schneiders Pankratz Scholtz [...]. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 10 (1890/91) 316–325; Aus der Chronik des Georg von Promnitz. Ebd., 325–328; Skalitzky, A[ugustin]: Excerpte aus der handschriftlichen Chronik eines Habelschwerdters bis 1622, nebst der Fortsetzung eines Oberlangenauers bis 1663. Ebd., 7 (1887/88) 82–89, 179–186, 274–283, 344–352, 8 (1888/89) 180–187, 280–284, 370–377, 9 (1889/90) 184–190, 278–282, 371–377, 10 (1890/91) 84–90, 183–191, 279–288. 2 Aelurius, Georg: Glaciographia oder Glätzische Chronik/ Das ist: Gründliche historische Beschreibung der berümbten und vornemen Stadt/ ja gantzen Graffschaft Glatz [...]. Leipzig 1625. Zu Aelurius (1596–1627) vgl. Glashoff, Frank: Georg Aelurius. In: Herzig, Arno (Hg.): Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004, 75–84; Herzig, Arno: Reformatorische

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Kirchentums als Kaplan an der Stadtkirche selbst miterlebt und war 1622 nach der Eroberung der Stadt durch kaiserliche Truppen als lutherischer Prediger zusammen mit dem letzten lutherischen Pfarrer Magister Matthias Keyl am 12. November aus Glatz ausgewiesen worden. Im „Exil“, in seiner nicht weit von Glatz entfernten, politisch zum Herzogtum Münsterberg gehörenden Vaterstadt Frankenstein, beschrieb er Geschichte, Landschaft, Baudenkmäler und Menschen der Grafschaft Glatz. In zwei umfassenden, „an den günstigen Leser“ gerichteten „Vorreden“ lässt er sich über seine Motive aus. Als Humanist betont er lobend die Tradition des Städtelobs, die Chroniken, die „aus Lieb gegen seinem Vaterland geschrieben werden“.3 Mittels seiner Aufzeichnungen rettete er die Geschichte der Stadt Glatz, die aufgrund der zweijährigen Belagerung stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, für künftige Jahrhunderte. So sieht sein Humanistenfreund, der Beuthener Rektor des Schönaichianiums Petrus Polonius, in einem Huldigungsgedicht die Bedeutung dieses Werks („Historiam tu das, Urbemque futuris noscendam seclis ponis in Orbe novam“4). Wenn Aelurius auch von der „fama Glacii“, die nach zweijährigem Widerstand gegen die kaiserliche Belagerung zumindest im protestantischen Deutschland über diese Stadt entstand, profitieren wollte, so war ihm doch bewusst, dass die Geschichte der Stadt bis zum Jahr 1622 vor einer künftigen Geschichtsfälschung bewahrt werden musste. Aelurius beabsichtigte, als Historicus zu ­schreiben, nicht als Theologius, das heißt er wollte keine Apologie bieten, sondern die Geschichte aus unterschiedlichen Quellen zusammentragen und Autoren unterschiedlicher Konfessionen zu Wort kommen lassen, ohne deren Anschauungen zu teilen. In seiner Rolle als Historiker verstand er sich keineswegs als Richter, doch war ihm klar, dass er es in diesen Zeiten harter Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen nicht jeder Seite recht machen könne, auch dass Irrtümer nicht ausgeschlossen seien, zumal er sich vorkomme wie ein Mensch, „der durch den Wald eine Straße finden soll, wo vorhin keine gewesen ist“.5 Das Bild von der neuen Straße meint die Form der Länderbeschreibung, in der Aelurius die Geschichte der Grafschaft Glatz bietet, es meint nicht die Inhalte, nicht die Tradition lutherischer Chroniken, auf die er zurückgreifen konnte.6 Aelurius’ Vorgänger beziehungsweise Gewährsleute folgten im Gegensatz zu ihm der chronologischen Darstellungsweise, die die historischen Ereignisse in der Zeitenfolge behandelte und dabei unterschiedliche Gewichtungen vornehmen konnte. In den Dekaden vor und nach 1600 waren in der Grafschaft Glatz zwei bedeutende Chroniken lutherischer Autoren entstanden, von denen nur eine über das entscheidende Jahr 1622 fortgesetzt worden war. Aelurius hatte diese Grafschafter Chronisten neben anderen Autoren wie Wenceslaus Hagecius, Martin Cromerus, Nicolaus Polius,

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Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 39. Die Zitate im Text wurden der heutigen Schreibweise ­angeglichen. Aelurius: Glaciographia, Vorrede und Zueignungsgedichte unpag. [I]. Ebd. [VI]. Zu Petrus Polonius vgl. Seidel, Robert: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk. Tübingen 1994, 245. Aelurius: Glaciographia, Vorrede unpag. [XVIII]. Ebd. [IV].

Das Erleben des konfessionellen Zeitalters im Spiegel der Grafschaft Glatzer Chroniken

Titelbild der „Glaciographia oder Glätzischen Chronika“, Leipzig 1625. Der Theologe und Prediger Georg Aelurius (1596–1627) verfasste die Chronik nach seiner Ausweisung aus Glatz 1622 in seiner Geburtsstadt Frankenstein. 1624 beendete er die Chronik, die bereits ein Jahr später in Leipzig bei Gregor Ritzsch gedruckt und durch den Breslauer Verleger David Müller vertrieben wurde.

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Michael Sachs und Abraham Hos(e)mann für seine Darstellung herangezogen.7 Einer der beiden Grafschaft Glatzer Chronisten ist dem Namen nach bekannt. Es handelt sich um den Glatzer Schneidermeister Pankratz Scholtz, der vermutlich um 1540 geboren wurde und um 1615 starb.8 Die kontinuierliche Berichterstattung für jedes Jahr beginnt bei ihm 1538 mit der „Einführung der Schwenckfeldischen Sect“.9 Seine eigene Zeitzeugenschaft ist vermutlich für die Zeit ab 1588 anzunehmen. Dies ist aus der Bezugnahme früherer Ereignisse auf seine Zeit zu schließen. So fügt er beim Bericht über die Pestilenz im Jahr 1521 zur Lage der Begräbnisstätte („große Grube“) erläuternd die Bemerkung hinzu: „wo heutigen Tags die Capellan Häuser sein“.10 Desgleichen kommentiert er die Erwähnung des Schlossausbaus unter Herzog Ernst von Bayern im Jahr 1557 mit der Feststellung: „Wie heutigen Tages zu sehen.“11 Dies lässt den Schluss zu, dass dieses Ereignis aus dem Jahr 1557 doch schon länger zurücklag. Eine besondere Dichte, zum Teil auch mit persönlichen Kommentierungen, bietet seine Darstellung der Jahre 1587 bis 1609, jener Jahre also, in denen das lutherische Kirchentum in Glatz nicht nur aufgrund der Rekatholisierungsversuche des Augustinerpropstes Christoph Kirmeser (Amtszeit 1583–1595) und später des Landeshauptmanns Heinrich von Logau, sondern auch aufgrund der calvinistischen Konkurrenz in Gefahr geriet. Seine Kommentierungen in Form von Gebeten oder Stoßseufzern haben fast die Qualität eines Ego-Dokuments.12 Die Schreibfähigkeit des Autors sowie seine Formulierungen 7 „Doch muß ich gleichwohl auch bekennen, daß etliche Historienschreiber sich um gedachten Ort Glatz [...] wohl verdient haben.“ Ebd., 4. Wencel Hagecius (Hájek von Libočan, † 1553), bedeutendster böhmischer Chronist des 16. Jahrhunderts, Verfasser einer lange als Standardwerk geltenden „Böhmischen Chronik“; Martinus Cromerus (1512–1589), Bischof von Ermland, Verfasser einer „Polnischen Chronik“; Nicolaus Polius (1564–1632), Diakon an der Maria-Magdalena-Kirche in Breslau, verfasste ein „Hemerologium Wratislaviense Silesiacum“; Michael Sachs (* 1542), Theologe streng lutherischer Richtung, verfasste unter anderem eine „Newe Kaiser-Chronica, darinnen begriffen alle röm. Kaiser von C. Julio Caesare biß auf den itzt regierenden Kaiser Matthian“; Abraham Hos(e)mann (1561–1617), Schuhmacher, verfasste mehrere schlesische Stadtchroniken, die meistens frei erfunden waren, was ihm den Beinamen „schlesischer Lügenschmied“ einbrachte. 8 Namen und eventuelle Lebensdaten ergeben sich aus dem einzigen persönlichen Eintrag in dieser Chronik, nämlich dem zu 1604 (Kögler 17 III, 315). 9 Kögler 17 III, 289. 10 Ebd.; in einer Randnotiz datiert Kögler das „heutigen Tages“ auf 1590. 11 Ebd., 295. 12 Schulze, Winfried: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? In: ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, 11–30; hier vor allem zutreffend als Kommentar auf den „Zugriff administrativer Apparate auf Gewissen und Denken des Menschen, vor allem seit der Reformation“ (ebd., 29). Eine persönliche Anteilnahme wird bei Pankratz Scholtz auch deutlich, wenn er himmlische Zeichen in eschatologischer Sicht deutet, wie 1590 anlässlich eines Erdbebens in Glatz: „Gott sei uns gnädig und verleihe uns wahre Reu und Buße, auch Besserung unseres Lebens im wahren Glauben unserm Herren Jesu Christo und zuletzt ein seliges Sterbstündlein auf den schierkünftigen Jüngsten Tag, dessen Zeichen vorhergehen, mit Freuden zu erwarten.“ Kögler 17 III, 301.

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verraten eine für seinen Stand außergewöhnliche Bildung, wie sie uns auch bei Handwerkern in anderen Städten zu dieser Zeit begegnet. In Glatz ist sie beispielsweise durch die Meistersangdichtung des Kürschners Hieronymus Linck belegt.13 Eine Anmerkung zum Jahr 1588 lässt Scholtz als bewussten Bürger erkennen, der sich gegen die Rechtsanmaßungen des Adels wendet und mit einem „Gott steure ihnen“ die Übergriffe vor allem auf das Braurecht tadelt.14 Dass es sich bei dem Chronisten um den Glatzer Schneidermeister Pankratz Scholtz handelt, schließt Joseph Kögler aus einem Eintrag zum Jahr 1604, in dem es heißt: „Ist die Schneider Herberge zu meinem Vatern Pancratz Scholtzen gelegt worden, hat sie 4 Jahr nacheinander gehabt.“15 Auf Kögler geht auch die Feststellung zurück, dass es sich um zwei Chronisten, um Vater und Sohn Scholtz, gehandelt habe und dass diese „lutherische Glatzer Bürger“ gewesen seien. Kögler fertigte 1801 einen „kurze[n] aber accurate[n] Auszug“ aus einer „Abschrift derselben [der Chronik von Scholtz, d. Vf.] vom Jahr 1629“ an,16 die sich zu Köglers Zeit (1801) im Besitz des katholischen Pfarrers von Altwilmsdorf Carl Röger befand. Diese Abschrift von 1629 ist nicht überkommen; es existiert nur der „Auszug“ Köglers, der die Anfertigung („Aufsetzung“) der Chronik auf die Jahre zwischen 1550 und 1615 datiert. Da Kögler ein gewissenhafter Historiker war, ist davon auszugehen, dass er in seinem „accuraten Auszug“ die Authentizität der überkommenen Handschrift von 1629 gewahrt hat. Ob hier zwei Chronisten am Werk waren, wie er vermutet, ist fraglich. Die Textformulierungen wirken durchgängig bis 1615 sprachlich wie inhaltlich sehr einheitlich, sodass anzunehmen ist, dass auf den Sohn Scholtz lediglich die Eintragung von 1604 zurückgeht. Pankratz Scholtz berichtete nicht ex eventu, das heißt angesichts der Ereignisse nach 1622 beziehungsweise der dann einsetzenden Rekatholisierung. Doch bestand offensichtlich auch nach dieser Katastrophe für die lutherische Konfession in der Grafschaft Glatz Interesse, sein Werk in einer breiteren Tradition zu überliefern. Angesichts der offiziellen Vernichtung aller lutherischen „Relikte“, die bald nach 1622 einsetzte, handelte es sich hierbei wohl um einen Akt kryptoprotestantischen Widerstandes. Es ist davon auszugehen, dass sich unter den „vieler Leute manuscripta“, die Georg Aelurius „zu Augen bekommen“ hatte,17 auch Scholtz’ Text, vermutlich das Original, befand. Übereinstimmungen finden sich mehrfach.

13 Zu Hieronymus Linck vgl. Klemenz, Paul: Der Anteil der Grafschaft Glatz an der deutschen Literatur. In: Blätter für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 1 (1906/10) 281–312, hier 290; in der Reformationszeit war das Schulwesen in der Grafschaft erheblich verbessert worden. Sogar auf den Dörfern waren Schulen errichtet worden. In Glatz besuchten vermutlich auch die Handwerkerkinder die Pfarrschule. 14 Kögler 17 III, 301. 15 Ebd., 315; der Name Pankratz Scholtz ist in den übrigen zeitgenössischen Quellenmaterialien nicht nachzuweisen. Vgl. Bretholz (Bearb.): Geschichtsquellen, Bd. 6. 16 Kögler 17 III, 283. 17 Aelurius: Glaciographia, 5.

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Es bleibt offen, auf welche Quellen Scholtz für die Zeit vor seiner Niederschrift, also vor 1588, zurückgreifen konnte. Er nennt einmal im Zusammenhang mit dem ersten Eintrag zum Jahr 1015 Joann Cratonus als Beleg, ferner führt er Zacharias Rivander und Fridericus Fabricius als Autoren an.18 Zudem zitiert er aus Urkunden, die sich im Glatzer Ratsarchiv befanden. Vermutlich konnte er für die mittelalterliche Zeit auf ältere Glatzer Chroniken und die Glatzer Stadtbücher zurückgreifen.19 Nicht eindeutig zu klären ist ferner die Frage, welche Quellen Pankratz Scholtz für die reformatorische Bewegung der Schwenckfelder in Glatz heranziehen konnte.20 Während Aelurius auf Michael Sachs, Cureus und Krentzheim verweist21 und ihm auch Caspar von Schwenckfelds Epistolar zur Verfügung stand, war Scholtz vermutlich auf die mündliche Tradition angewiesen, da außer in den Chroniken die Schwenckfelder Prediger in dem überkommenen städtischen Archivmaterial nicht einmal mit ihrem Namen genannt werden. Scholtz’ detaillierte Angaben verraten Einflüsse einer vom lutherischen Standpunkt geprägten Tradition. Dass sich dergleichen, vermutlich mündliche Traditionen jahrzehntelang halten konnten, beweist auch Aelurius, wenn er anlässlich der Klosterrückgabeforderung der Minoriten zur ablehnenden Haltung der Glatzer Bürger bemerkt: „weil ihnen noch gut wissend war, was für ein ärgerliches Leben diese Mönche vor Jahren in solchem Kloster geführt hatten“.22 Das „ärgerliche Leben“ der Mönche und die Vertreibung (1542) lagen um diese Zeit über sechzig Jahre zurück. Vermutlich konnte Scholtz auf eine ähnliche mündliche Tradition über die Predigten Fabian Eckels zurückgreifen.23 Noch schwieriger als die Chronik des Pankratz Scholtz sind Entstehung, Überlieferung und Autorenfrage einer umfangreichen Habelschwerdter Chronik zu rekonstruie18 Kögler 17 III, 283; vermutlich handelt es sich bei dem genannten Joann Cratonus um den Späthumanisten und kaiserlichen Leibarzt Johannes Crato (Kraft) von Crafftheim (1519–1858), der von 1581 bis 1583 auf seinem Gut in Rückers in der Grafschaft Glatz lebte; Zacharias Rivander (1553–1594) war lutherischer Geistlicher. Scholtz zitiert hier zum Jahr 1073 (Flucht Herzog Ottos von Sachsen) aus dessen „Thüringischer Chronik“ (Frankfurt 1581). 19 Zu den zehn Stadtbüchern der Jahre 1324 bis 1615 vgl. Volkmer, Franz/Hohaus, Wilhelm (Hg.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 1–5. Habelschwerdt 1883–1891, hier Bd. 1: Urkunden und Regesten zur Geschichte der Grafschaft Glatz bis zum Jahre 1400, 1f., 156f.; Pohl: Grafschaft Glatz, 167, Nr. 1435. 20 Kögler 17 III, 296f. 21 Zu Michael Sachs vgl. Anm. 7; Joachim Cureus (1532–1573), Arzt und Historiker in Glogau, betrieb ein eingehendes Quellenstudium zur Geschichte schlesischer Städte. „Schlesische und der herrlichen Statt Breslau General Chronica“ (Frankfurt a. M. 1585); Leonhard Krentzheim verfasste unter anderem „Observationum chronologicarum libri IV“ (Liegnitz 1605, 1655, 1696). 22 Aelurius: Glaciographia, 340. 23 Die chronikalische Überlieferung aus dem Umkreis der Schwenckfelder, die der bis zu seiner Vertreibung nach der Glatzer Synode als Prediger in Gabersdorf wirkende Michael Steinberg verfasste, entstand wohl erst nach 1560 und war in Glatz vermutlich nicht bekannt. Sie behandelt zudem nur die Glatzer Synode von 1558. Vgl. Schönborn, Theodor: Chronik des Michael Steinberg. In: ders./Schimmelpfennig, Adolf (Hg.): Schweidnitzer Chronisten des XVI. Jahrhunderts. Breslau 1878, 171–176.

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ren, die ebenfalls ein Reformationsgedenken aus lutherischer Sicht erkennen lässt und die Kögler in der Handschrift 71 überliefert. Er bemerkt darin: „Diese historischen chronologischen Nachrichten sind von einem Habelschwerdter aus alten gedruckten und geschriebenen Büchern ohne alle Kritik gesammelt und mit einem Tagebuch seiner Zeit vermehrt und wahrscheinlich von seinem Sohn und alsdann von einem Oberlangenauer fortgesetzt worden. Selbe letzteren schrieben ihre Nachrichten vom Jahr 1600 bis 1663.“24 Auch bei dieser Chronik handelt es sich nicht um das Autograph, sondern um eine spätere Abschrift, die zwischen 1663 und 1670 von einem Kompilator angefertigt sein muss und in die dieser vermutlich Zusätze einfügte oder Abschriften aus unterschiedlichen Werken hinzufügte.25 Die eigentliche Chronik beginnt auf Seite 55. Der anonyme Verfasser zeigt seine humanistische Bildung, indem er zunächst eine Beschreibung der beiden Städte Glatz und Habelschwerdt bietet. Sonst folgt er der chronikalischen Anordnung, wobei er ein umfangreiches historisches Wissen beweist und auch über die große Politik, die Türkenkriege, die lutherische Reformation oder die kaiserliche Politik gut informiert ist. Vermutlich handelte es sich um einen offiziellen Habelschwerdter Stadtchronisten, der für die Zeit von 1579 bis 1622 aufgrund eigener Anschauung beziehungsweise persönlicher Information schrieb. Bis 1580 finden sich in der chronikalischen Abfolge des Textes bei diversen Jahreszahlen Verweise auf spätere Ereignisse, so 1560 auf 1569 und 1567 auf 1580. Für die Zeit nach 1580 fehlen dergleichen Verweise. Dass wir es hier nicht mit einer privaten oder Familienchronik zu tun haben, beweist die Anrede an den „günstigen Leser“.26 Als Gewährsleute für frühere Ereignisse nennt er den Chronisten Georg von Promnitz,27 den Glatzer Stadtschreiber Tscheterwang,28 den Kuntzendorfer Pfarrer Georg Biedermann,29 aber auch Sebastian Franck.30 Ob es sich bei dem „schwarzen Buch aufm Rathaus“, das er einmal erwähnt, um eine ältere Stadtchronik handelt, muss offenbleiben. Dass eine solche Stadtchronik existierte, geht 24 Kögler 71, 53. 25 Die Datierung der Kompilation der Chronik lässt sich schließen aus der 1670 erfolgten Umbenennung des Dorfes Arnsdorf in Grafenort. In der Chronik heißt es durchgängig Arnsdorf. 26 Kögler 71, 229. 27 Ebd., 77: „Ex Cronica Promnitzii“, vgl. Handschrift Kögler 17 III, 363–367. 28 Die Familie Tscheterwang ist in Glatz im 15. und 16. Jahrhundert bezeugt. Nach Kögler (Marginalie in Kögler 71, 104) lebte der hier angeführte Tscheterwang 1549. Im Altarzinsregister 1555–1627 findet sich folgender Hinweis: „Einkommen der Altarien; angefangen im 1555 Jahre nach Absterben Herr Wentzel Tscheterwangs [...].“ Bretholz (Bearb.): Geschichtsquellen, Bd. 6, 15. Eine Chronik von Tscheterwang ist, auch in Auszügen, nicht überliefert. 29 Ein Georg Biedermann ist als lutherischer Geistlicher in Kuntzendorf anlässlich der Examinatio der Glatzer Synode 1558 bezeugt: „Georgius Bidermann plebanus in Cunzendorf, homo senex, rite ordinatus, Lutheranus per omnia.“ Volkmer/Hohaus (Hg.): Geschichtsquellen, Bd. 3: Constitutiones Synodi Comitatus Glacensis in causis religionis, 1559. Die Dekanatsbücher des Christophorus Neaetius, 1560, und des Hieronymus Keck, 1631, 27. 30 Sebastian Franck (1499–1542 oder 1543), reformatorischer Theologe, verfasste unter anderem „Chronica, Zeitbuch und Geschichtsbibel“ (1531).

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aus einem Bericht des Habelschwerdter Magistrats vom Oktober 1646 hervor, in dem sich dieser im Hinblick auf das Alter der Stadtmauer für das Jahr 1217 auf eine alte, bei der hiesigen Bürgerschaft befindliche handschriftliche Chronik beruft.31 Die umfassende Belesenheit des Chronisten, sein hoher Informationsstand und die lateinischen Zitate lassen vermuten, dass dieser anonyme Schreiber zur Bildungselite von Habelschwerdt zählte, das zu dieser Zeit eine kulturelle Blüte im Späthumanismus erlebte.32 Deutliche Identitätssetzungen des Chronisten sind vor allem in konfessioneller Hinsicht zu erkennen, wenn es um die Verteidigung der lutherischen Position oder um Angelegenheiten der Stadt Habelschwerdt, insbesondere aber um die Kriegssituation nach 1620 geht. So ist die Rede nicht nur von „unsern“ Predigern und „unserer“ Kirche, sobald es sich um lutherische Geistliche handelt, sondern auch angesichts der Bedrohung einer Rekatholisierung. Hier fügt er kleine Gebete oder Stoßseufzer ein: „daß man uns bei unser Religion bleiben lassen wolle“ oder „Gott behüt uns vor solchem Unglück“,33 wie es sich in Troppau ereignete, als dort 1607 den Lutheranern von Jesuiten die Kirche weggenommen wurde. Für die Habelschwerdter Gemeinde spricht er, wenn er 1579 anlässlich des Orgelbauers Stephan Koch vermerkt: „[E]r hat uns aber betrogen.“34 Schwieriger sind dergleichen Wir-Gefühle für die Kriegszeit festzulegen, als es die Stadt Habelschwerdt mit unterschiedlichen Gegnern zu tun hatte. Gemeint ist einmal die Gemeinde Habelschwerdt, wenn, so bei der Übergabe an den kurfürstlich-sächsischen Hauptmann Carl von Goldheim am 11. Dezember 1621, die Rede von „wir“ und „uns“ ist, oder bei der Aufstellung eines eigenen Fähnleins der Bürgerschaft. In das Wir-Gefühl können jedoch auch die sächsischen Eroberer einbezogen werden, wenn es heißt, dass „uns“ 300 Musketiere von Frankenstein zu Hilfe kommen und gegen die Glatzer Truppen „unsere“ Reiterei bald hinausrückt.35 Als Feinde werden jedoch die aufständischen Bauern von Oberlangenau gesehen, die sich unter Führung des Freischolzen Wolf gegen die sächsischen Truppen erhoben und Habelschwerdt belagerten: „[U]nd erzeigten sich gegen uns als Feinde, [...] bis sie ihren Lohn davon bekamen.“36 Mit dem 14. November 1622, nach dem Fall von Glatz und der beginnenden Rekatholisierung, ist eine deutliche Zäsur festzustellen, die auf einen Autorenwechsel schließen lässt. Es folgt zunächst eine Abhandlung über die alten Privilegien der Stadt Habelschwerdt und dann ab dem 17. Juni 1624 eine zurückhaltende Berichterstattung, zunächst ohne persönliche Kommentierungen.37 Die Ereignisse, die der vermutlich neue Autor jedoch in der Folge dieser Maßnahmen hervorhebt, lassen seine lutherische Gesinnung erkennen. Wahrscheinlich im Zug der Rekatholisierung Habelschwerdts 31 32 33 34 35 36 37

Thamm, Joseph: Geschichte der Stadt Habelschwerdt. Habelschwerdt 1841, 6. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 199–203. Kögler 71, 261, 274. Ebd., 194f. Ebd., 360. Ebd., 368f. Ebd., 389.

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durch kaiserliche Beamte, Soldaten und katholische Geistliche zog er 1628 in das neun Kilometer südlich von Habelschwerdt gelegene Dorf Oberlangenau, wo er die Chronik fortsetzte.38 Ab 1630 gewinnen die Ausführungen wieder einen persönlicheren Zug, so wenn er zum 4. Februar anlässlich „großer Zeichen am Himmel“ hinzufügt: „Gott stehe uns bei und verzeih uns unsere Sünde“, oder wenn er die Hungersnot im selben Jahr als Strafe Gottes „wegen unser vielfältigen Sünden“ sieht.39 Gehen wir um 1622 von einem Autorenwechsel aus, so hat dieser Autor die Chronik vierzig Jahre lang bis 1663 geführt. Er schildert unter anderem sehr detailliert die Kriegsereignisse in seinem Dorf Oberlangenau. Dabei wird gegen Kriegsende seine Friedenssehnsucht immer deutlicher, desgleichen ein gesteigerter Glaube an Wunderzeichen und eine große Bußbereitschaft, die wohl als Reaktion auf die vielen unfasslichen Ereignisse des langen Krieges zu werten ist. Ob die Verweise auf spätere Jahre auf einen der beiden Chronisten zurückgehen oder auf den vermuteten Kompilator, der die Angaben der Chronik um weitere Angaben von anderen Autoren wie zum Beispiel Georg von Promnitz ergänzte, muss offenbleiben. Dessen Chronik ist in noch fragmentarischeren Teilen überliefert als die von Scholtz oder die des Habelschwerdter Chronisten.40 Obgleich Mitglied eines bekannten Adelsgeschlechtes, das mit Balthasar von Promnitz einen Breslauer Bischof stellte, ist über Georg von Promnitz aus Glatzer Quellen nichts zu erfahren. In einer „Glätzischen Chronik“, die bis 1683 reicht und aus anderen älteren Chroniken kompiliert wurde, wird unter anderem auch „Georgen Bronitze Chronica zu Habelschwerd geschrieben“ erwähnt.41 Die überlieferten chronikalischen Relikte Georgs von Promnitz schließen mit dem Abzug der Truppen des Grafen Thurn am 22. Oktober 1622 aus Glatz, zu denen er offensichtlich gehörte.42 Es mag sein, dass er nach der Eroberung von Glatz nach Habelschwerdt ging und dort die Chronik verfasste, auf die sich der Oberlangenauer Chronist beziehungsweise der spätere Kompilator bezieht, 38 Bei seiner Eintragung zum 13. Januar 1627 (ebd., 406) ist mit „hier“ Habelschwerdt gemeint; am 5. Oktober 1629 (ebd., 419) schreibt er von „allhier zum Oberlangenau“. In Oberlangenau hielten sich noch sehr lange Formen des Kryptoprotestantismus. Vgl. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 151f. Zu einer überzeugenderen Einschätzung der Autorenschaft vgl. den Beitrag „Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Ruprecht“ in diesem Band. 39 Kögler 71, 420f. 40 In der Handschrift Kögler 17 III, 363–367, finden sich Auszüge: „Aus der Handschrift des George von Promnitz zu Habelschwerdt geschrieben“, und ebd., 331f.: „Aus des Herrn George von Bromnitz eines Glätzers Chronik, der aber zu Habelschwerd geschrieben“. Sie enthalten Eintragungen der Jahre 1469 bis 1622. Der Habelschwerdter Chronist bringt darüber hinaus aus der „Cronica Promnitzii“ Angaben zu den Jahren 1327, 1413, 1416 und 1470; in hochdeutscher Übertragung hauptsächlich für die Jahre 1616 bis 1622 publiziert unter dem Titel „Aus der Chronik Georg von Promnitz, eines Glatzers geschrieben zu Habelschwerdt in den Jahren 1580– 1628“. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 10 (1890/91) 325–328. 41 Bretholz (Bearb.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 6, 156. 42 1622 heißt es bei ihm: „Am Tage Petri und Pauli haben unsere Soldaten Mittelwalde geplündert [...].“ Kögler 17 III, 364.

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so auch im Hinblick auf die 1591 gescheiterte Besetzung der Glatzer Pfarrei mit einem katholischen Geistlichen, die Georg von Promnitz mit der Bemerkung kommentiert: „Gott sei gedankt, dass sie es diesmal nicht ändern konnten“,43 was die Erfahrung des letztlichen Scheiterns von 1622 widerspiegelt. Georgs Bemerkungen über die Glatzer Prediger verraten seine lutherische Einstellung, wenn er den Glatzer Kaplan David Jenisch als „guten evangelischen Lehrer“ oder den Pfarrer Matthias Keyl als „einen frommen und getreuen Prädikanten und guten Lehrer“ lobt.44 Sowohl die Glatzer Chronik des Pankratz Scholtz als auch diejenige des ­unbekannten Habelschwerdters sind wichtige Zeugnisse reformatorischen Gedenkens aus einer Zeit, da das lutherische Kirchenwesen zwar ständig bedroht war, aber von einer radikalen Rekatholisierung noch nicht ausgegangen werden konnte. Aelurius und der Oberlangenauer schreiben dagegen ex eventu, als das sichere Ende des Protestantismus in der Grafschaft nicht mehr abzuwenden war. Diese schriftlichen Zeugnisse sind die einzigen authentischen Zeugnisse der lutherischen Periode, nachdem die Jesuiten nach 1630 daran gingen, alle anderen Zeugnisse zu vernichten und ihrem Missionseifer Epitaphien, Bilder, Grabmäler – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – zum Opfer fielen. Zur historischen Tradition des lutherischen Bekenntnisses,45 die durch die Chroniken begründet wurde, gehören folgende Momente: die Betonung der Lehre Luthers als der einzigen wahren reformatorischen Lehre; die Verteidigung der lutherischen Konfession gegen konkurrierende reformatorische Bewegungen wie die Schwenckfelder, Täufer und Calvinisten sowie die mitunter gewaltsame Behauptung gegen die Rekatholisierungsversuche vor 1622, wobei die Jesuiten als der Hauptfeind ausgemacht wurden. Auf eine Auseinandersetzung auf politischer Ebene verzichteten die Autoren, von kleinen Ansätzen abgesehen, obgleich die Versuche des Kaisers als des Landesherrn, auf der Basis seines ius patronatus die Pfarrstellen mit katholischen Geistlichen zu besetzen, offenkundig sind. Trotz einer vitalen katholischen Tradition, die die Bewohner der Grafschaft Glatz vor allem gegenüber der hussitischen Bewegung bewiesen hatten, sowie eines aktiven geistlichen Lebens, das sich im 15. Jahrhundert durch die Neugründung des Franziskanerklosters zeigte, erwarteten sowohl die Bewohner der Städte als auch die Einwohner auf dem Land eine Erneuerung der religiösen Verhältnisse durch die reformatorischen Bewegungen. Nach anfänglichem Scheitern der lutherischen Bewegung setzten sich in den 1530er und 1540er Jahren spiritualistische Bewegungen durch, die auf ein öffentliches Kirchenleben verzichteten und durch Konventikel zur Erneuerung des geistlichen 43 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 331; beim Habelschwerdter/Oberlangenauer Chronisten (Kögler 71, 212) heißt es zu diesem Ereignis: „[...] es hat die Stadt Glatz viel Anstöß gehabt wegen des Cantors [Komturs, d. Vf.] von Christoph Krichmes des Propsten halben so mit Gewalt einen Papistischen Pfaffen in die Pfarrerkirche einsetzen wollen. Doch Gott sei Dank, hat damals nicht enden können.“ 44 Kögler 17 III, 363. 45 Zur Vergewisserung der lutherischen Tradition durch die Geschichte vgl. Rau, Susanne: Das Reformationsgedenken in der Hamburger Tradition des 16. bis 18. Jahrhunderts. Magisterarbeit Hamburg 1996, 156f.

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Lebens beitrugen. Die ersten Versuche einer Rekatholisierung, die auf der Glatzer Synode 1558 durch den Archidiakon Christoph Neaetius des bayerischen ­Landesherrn Ernst von Bayern erfolgten, führten allerdings nicht zu einer Rekatholisierung, sondern zu einer allmählichen Durchsetzung der lutherischen Reformation, nachdem die Schwenckfelder Prediger und die Täufer aus dem öffentlichen Kirchenleben vertrieben worden waren. Im kirchlichen „Untergrund“ aber blieben sie bis 1622 existent. Die Ansätze zur Reetablierung katholischen Kirchenlebens scheiterten bald nach dem Tod Ernsts von Bayern (1560) und dem Rückzug des Dekans Neaetius aus dem kirchlichen Leben. Seit den 1560er Jahren bis 1622 war die Grafschaft weitgehend lutherisch, doch blieb dieses Kirchentum immer bedroht durch die konkurrierenden ­reformatorischen Bewegungen und die sich wiederholenden Versuche einer Rekatholisierung. Dies schlägt sich auch in den Chroniken deutlich nieder. Vor allem die Lehre der Schwenckfelder forderte eine harte Auseinandersetzung heraus und führte zu einer strikten Konfessionalisierung, die auf einer dogmatischen Abgrenzung zum Kirchenbegriff der Schwenckfelder und ihrer Sakramentenlehre beruhte. Pankratz Scholtz berichtet als Erster über die Episode vom Tod des Schwenckfeldischen Predigers Fabian Eckel (Glatzer Amtszeit 1538–1546), dem Gott durch dessen jähen Tod für das Schmähen und Schänden von Gottes Wort und Sakrament das „Maul stopfte“. Dabei legt Scholtz Fabian Eckel Zitate in den Mund, die vermutlich in mündlicher Tradition überliefert und dabei vom Standpunkt lutherischer Dogmatik aus bewertet wurden. Bei Pankratz Scholtz heißt es: „1546 den 3. Juni war unsers Herrn und Seligmachers Auffahrts Tag, denselbigen Tag ist Fabian Eckel der Glätzer Prediger auf der Cantzel verstummet, und desselbigen Lägers nicht aufkommen, den Sonnabend Exaudi gestorben, denn weil er Schmähens und Schändens Gottes seines Worts und Verächtung der heiligen hochwürdigen Sacramenten, nicht kunnte satt werden, mußt ihm Gott selber das Maul verstopfen, denn er hieß das Sakrament nur schlecht Brot und welches noch mehr ist, nur ein Schaum von Brot oft nennen täte, und gesagt, man liefe dem Bissen Brot nach wie die Hunde einem Stück Fleisch nach und es wär dennoch nicht Brot, sondern ein Schaum vom Brot und dergleichen teuflische Gotteslästerung.“46 Der Habelschwerdter Chronist bringt darüber eine kurze Notiz, fügt aber ein wichtiges Detail bei: „In diesem Jahr [1546, d. Vf.] am Tage Auffahrts Christi hat der Schlag Fabianum Eckeln Prediger zu Glatz der ein Schwenckfelder gewesen auf die Kanzel geschlagen und ihn sprachlos gemacht, daß man ihn in einem Teigtroge hat heimtragen müssen, er ist am folgenden Sonnabend gestorben.“47 Aelurius, der offensichtlich beide Überlieferungen kannte, konstruierte daraus seinen Bericht: „Denn als er [Eckel, d. Vf.] anno 1546 am Himmelfahrtstage/ zu Glatz auf der Kanzel das hochwürdige Abendmahl zum Ärgsten schändete, indem er das Brot einen Schaum vom Brot nennete/ und sagte/ (welches ich mit Schrecken erzähle)/ man liefe dem Bissen Brot nichts anders nach/ als wie die Hunde einem Stücke Fleisch/ da 46 Kögler 17 III, 293. 47 Kögler 71, 138.

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es doch nicht Brot wäre/ ja es doch nicht wert wäre/ daß mans Brot nennete/ weil es nur ein Schaum vom Brot sei. Da ließ ihn Gott über solcher Lästerung öffentlich auf der Kanzel stumm und krank werden/ weil er vom Schlag also gerührt ward/ daß man ihn in einem Teigtroge mußte heimtragen. Und an solcher Krankheit ist er auch den nechstfolgenden Sonnabend Exaudi gestorben.“48 Zeigt sich hier zum einen die Verbindung der drei Chronisten untereinander, so scheint ihnen zum anderen die Strafe Gottes für die Lästerung nur allzu plausibel. Die Schlussfolgerung von Schuld und Strafe wirkt fast wie ein Topos. Diese Topik wiederholt sich noch einmal anlässlich des Todes des Glatzer Predigers Georg Zeuschner (26. Dezember 1609), der des Calvinismus verdächtigt wurde und sich deshalb mit seinem Oberkaplan Nicolaus Thomas zerstritten hatte, sodass dieser zu Ostern 1609 Glatz verließ. Zu einer Aussprache zwischen beiden, wie sie Thomas gefordert hatte, war es nicht gekommen. Pankratz Scholtz stellt das Urteil darüber Gott als Richter anheim. Der plötzliche und einsame Tod Zeuschners am Stephanstag 1609 kurz vor dem Gottesdienst, als seine Familie bereits das Haus verlassen hatte – Zeuschner fiel nach einem Schlaganfall die Treppe herunter und war wohl sofort tot –, veranlasste Scholtz nur zu Andeutungen über interne Querelen und das Erschrecken der Gemeinde. Mit dem Verweis auf die Totenrede des Kaplans David Jänisch, der aus der Geschichte Beispiele vom plötzlichen Tod gelehrter Leute anführte, relativiert er die Vermutung einer Strafe Gottes mit dem Verweis auf die „Seligkeit“ der aufgeführten historischen Persönlichkeiten.49 Für den Habelschwerdter ­Chronisten scheint diese Relation von Schuld und Strafe in diesem Fall eher gegeben, wenn er knapp anführt, dass der „Prediger zu Glatz noch für der Frühpredigt eines qualvollen Todes gestorben, der zuvor seinen Kaplan vertrieben und für einen Calviner gehalten“.50 Aelurius dagegen erwähnt den Tod und die Begleitumstände nur knapp, äußert jedoch keine Vermutung im Hinblick auf Zeuschners Neigungen zum Calvinismus. Die 19 Jahre seines „gebührlichen“ Wirkens handelt er allerdings nur kurz ab.51 Erst der gegenreformatorischen Polemik des Jesuiten Johannes Miller blieb es 1690 vorbehalten, in diesem Zusammenhang – allerdings recht widersprüchlich – den Teufel ins Spiel zu bringen.52 Die Bedeutung, die die lutherischen Autoren ihrem Kampf gegen die „Irrelehren“ beziehungsweise die „Verführung“ vonseiten der Schwenckfelder beimaßen, zeigt sich unter anderem in der Hervorhebung der Tatsache, dass der Kaiser in dieser Auseinandersetzung gerade auf die lutherischen Prediger in der Grafschaft Glatz setzte beziehungsweise dass es dem lutherischen Prediger in Glatz gelang, führende Familien für das Luthertum zu gewinnen. Wo das nicht gelang, wie in Habelschwerdt, interpretiert 48 49 50 51 52

Aelurius: Glaciographia, 296f. Kögler 17 III, 316f. Kögler 71, 289. Aelurius: Glaciographia, 307. Miller, Johannes: Historia Beatissimae Virginis Glacensis [...]. Glatz 1690, 175f.; Miller beruft sich dabei auf eine katholische Quelle, die „Litterae annuae“ des Glatzer Jesuitenkollegs zum Jahr 1609.

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der Chronist die Vertreibung des dortigen lutherischen Pfarrers Elogius als das Werk der von ihm bekämpften Schwenckfelder.53 Eine ähnliche Gefahr der Verunsicherung lutherischer Gemeindemitglieder durch eine konkurrierende reformatorische Bewegung sahen die drei Autoren zwischen 1599 und 1610 durch die Calvinisten gegeben, und dies in einer Phase schwieriger Behauptung gegenüber den Rekatholisierungsversuchen unter Kaiser Rudolf II. Während Aelurius einen calvinistischen Einfluss in der Grafschaft Glatz nicht erkennen konnte, war für Scholtz und den Habelschwerdter die Gefahr durch die „calvinischen Teufel“ ganz real. Interessanterweise polemisiert Scholtz gegen den „heimlichen calvinischen Teufel“ anlässlich eines Besuchs des Prager Erzbischofs (1599), als dieser das Grab seines Vorgängers Ernst von Pardubitz in der Glatzer Pfarrkirche besuchen wollte. Die Entfernung der Altartücher und -kerzen, die Scholtz registriert, führt er auf den Einfluss eben des „calvinischen Teufels“ zurück, der sich „in dieser Kirche mehr herfür“ tut.54 Wer dahinter stand, ob Pfarrer Zeuschner oder der Rat, und wie diese Auseinandersetzung zwischen Lutheranern und Calvinisten ausgehen wird, lässt er offen. Der Habelschwerdter Chronist unterstellt dem dortigen Prediger Abraham Zenkfrey, „ein guter Calvinist“ zu sein,55 da dieser seinen Dienst quittiert habe, als das kaiserliche Amt die Pfarrei mit einem katholischen Geistlichen besetzen wollte. Die Gefährdung der lutherischen Lehre und, damit verbunden, eine Identifizierung bis zum gewaltsamen Widerstand sahen die lutherischen Chronisten vor allem ­aufgrund der Rekatholisierungsversuche in der Phase zwischen 1590 und 1609 gegeben. In dieser Zeit errichteten die Jesuiten in Glatz ihr Kolleg (1597) und versuchten, mithilfe des katholischen Landeshauptmanns und Johanniterpriors Friedrich von Logau die landesherrlichen Pfarreien mit katholischen Geistlichen zu besetzen und die lutherischen Prediger zu vertreiben. Die Glatzer Lutheraner mussten die Errichtung des Kollegs als nachträgliche Niederlage empfinden, war es ihnen doch 1591 gelungen, die Beset-

53 Aelurius: Glaciographia, 305, druckt in diesem Zusammenhang den Brief Kaiser Maximilians II. vom 18. Januar 1572 an den Glatzer Prediger Andreas Eising ab, in dem der Kaiser den Geistlichen bittet, nicht von Glatz wegzugehen, da er dort den Kampf gegen die Schwenckfelder fortsetzen solle; Scholtz in: Kögler 17 III, 298; Habelschwerdter Chronist zum Jahr 1593: Der lutherische Prediger Caspar Elogius, „der soviel Gutes in unser Kirchen ausgericht, viel Schwenckfelder verjagt, bekehrt und ausgerottet, darum er hart verfolgt und durch Drohung vom kaiserlichen Amt entsetzet worden“. Kögler 71, 216f. Zu den eventuellen Gründen für seine Entlassung zwei Monate nach dem Tod Maximilians II. vgl. den Aufsatz „Die Vier-Reiche-Lehre und das baldige Ende der Weltgeschichte. Die Leichenpredigt des Habelschwerdter lutherischen Pfarrers Caspar Elogius zum Tod Kaiser Maximilians II. 1576“ in diesem Band. Die von Elogius verfasste Leichenpredigt zum Tod Kaiser Maximilians II. (12. Oktober 1576) erschien 1577 in Prag im Druck: Caspar Elogius, Wratisl., Leichenpredigt über Maximiliani des Andern [...] Absterben und Begräbnis [...], gedruckt zu Prag 1577. Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Sign. 508936. 54 Kögler 17 III, 310. 55 Kögler 71, 263f.

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zung ihrer Pfarrkirche mit einem katholischen Geistlichen erfolgreich abzuwehren. Der Widerstand war nicht ohne Gewalt abgegangen. Nach dem Tod des lutherischen Predigers Andreas Eising (1591) hatten die Johanniter als Patronatsherren im Zusammenspiel mit dem Augustinerpropst Christoph Kirmeser versucht, die Pfarrkirche mit einem katholischen Geistlichen zu besetzen. Dies scheiterte am gewaltsamen Widerstand der Handwerksgesellen, die die Johanniter und den Propst zum Rückzug aus der Kirche zwangen. Der Rat, der lutherische Landeshauptmann und die Adelsvertreter vermittelten einen Kompromiss, der das Patronatsrecht der Stadt zusprach, gleichzeitig aber eine Simultannutzung der Kirche für beide Konfessionen vorsah. Scholtz schildert diesen Vorgang aus der Sicht der „Gemeinde“, die hier gegen den Rat stand und „bestürzt“ darüber war, dass „zweierlei Religion, evangelische und päpstische in unser Pfarrkirchen sollte gehalten werden“.56 Sie, die Gemeindemitglieder, hätten sich „gewaltig dawider geleget“.57 Der andauernde gewaltsame Widerstand führte zu einem neuen Kompromiss, den der Landeshauptmann aushandelte und der den Lutheranern die Nutzung der Kirche zusprach, den katholischen Gottesdienst aber auf „den Winkel, da die Beichtstühl stehen“, und auf die Jakobskapelle beschränkte.58 Wie später die Jesuiten, so fungiert hier in Scholtz’ Darstellung als personifiziertes Antisymbol „der verräterische, verführerische Propst zu Glatz, Christoph Kirmeser“.59 Scholtz zeigt sich ob dieses Erfolges auch für die Zukunft siegessicher: „Soll nun noch kein anderer in unsere Pfarrkirchen keinen Fuß mit Recht hinein zu setzen haben, wie er [der Propst, d. Vf.] vermeinte, daß er es zu Wege bringen wollte, und die obengenannten Kreuzherren, er und eines Teils seines Anhangs mit vielfältiger Unwahrheit berichtet hat; und von jedermann Hohn und Spott davon überkommen.“60 Während der Habelschwerdter Chronist diesen Erfolg in einer kurzen Meldung anführt,61 ­Aelurius diesen wichtigen Vorgang aber interessanterweise überhaupt nicht erwähnt, übergeht Scholtz einen für die Lutheraner peinlichen Vorgang, der das angespannte Verhältnis zwischen den Konfessionen in Glatz um den Besitz der Pfarrkirche deutlich demonstriert. Am 20. Sonntag nach Trinitatis 1604 (30. Oktober) wurden in Glatz nach dem Gottesdienst zwei polnische Jakobspilger von lutherischen Gemeindemitgliedern, vor allem von Frauen, tätlich angegriffen, und einer von ihnen zu Tode malträtiert. Während der Habelschwerdter Chronist dieses Ereignis zwar drastisch, aber 56 Kögler 17 III, 303f. Der Vertrag vom 11. September 1591 existierte in mehreren Abschriften, eine davon im Rathaus-Archiv und eine im späteren Kollegiatsarchiv. Vgl. Bretholz (Bearb.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 6/3, 90; Bach, Aloys: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis auf unsere Tage [...]. Nebst einem Anhange: Geschichtlich statistische Darstellung aller Gläzer Pfarreien und Kirchen mit deren geistlichen Vorstehern, so wie der Schulen im Jahre 1841. Breslau 1841, 140f. 57 Bach: Kirchen-Geschichte. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Kögler 17 III, 304. 61 Kögler 71, 212.

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kommentarlos darstellt,62 bietet Aelurius eine Erklärung für diese „traurige Historia“: „Sonderlich war bei vielen dieser Irrtum und Argwohn, als wenn jetzo die Catholischen ihnen [den Evangelischen, d. Vf.] wollten die Kirche absprechen und kämen schon solche einzunehmen (denn um diese Zeit gabs großen Streit zwischen der Stadt und den Catholischen um der Pfarrkirche willen).“63 Zu dieser labilen Stimmung trugen nach Scholtz und dem Habelschwerdter Chronisten vor allem die Jesuiten bei, die laut Scholtz sowohl wegen der erzwungenen Pfarrbesetzungen als auch wegen ihren „verführerischen“ Predigten eine Gefahr für die Lutheraner darstellten.64 Scholtz vermittelt recht persönlich die Bedrohung, die er für seine Glaubensgenossen aufgrund des demonstrativen Zurschaustellens katholischer Riten bei der Fronleichnamsprozession beziehungsweise der Firmung durch den Prager Erzbischof empfindet. Seine Haltung dokumentiert er in immer drängenderen Bittgebeten oder Stoßseufzern: „Gott behüte uns und unsere Nachkommen für solche Abgötterei.“65 Oder, als 1603 die „treuen lutherischen Seelenhirten [...] mit Gewalt [in] tyrannischer päpstischer Weise ausgetrieben“: „Gott erbarme sich über uns und steure den päpstischen tyrannischen Verfolgern um das teure Verdienst Jesu Christi willen, und laß sein liebes Wort nur nicht gar von uns armen hochbedrängten und geängstigten Leuten nicht von uns weichen, so unerbittert sind diese obgemeldten Tyrannen.“66 Doch gibt sich Scholtz auch kampfbereit, als der Glatzer Pfarrer Zeuschner und seine Kapläne David Regius und Niclas Thomas das „schön christliche Lied ‚Erhalt uns Herr bei deinem Wort und steur des Papst und Türken Mord‘ aus Furcht päpstischer Gewalt nicht wie zuvor in unsern Kirchen singen dürfen“.67 Er hält das für „Heuchelei“.68 Auch der Habelschwerdter Chronist stellt die Bedrohung recht eindrucksvoll dar, der sich die Lutheraner durch die Jesuiten ausgesetzt sahen. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf den Raum der Grafschaft Glatz, sondern sieht auch um 1607 diese Gefahr in allen habsburgischen Ländern gegeben, wie er am Beispiel der Übernahme der Troppauer Kirche durch die Jesuiten dokumentiert. Zwar habe auch hier der „Pöbel“ wie 1604 in 62 Ebd., 257f. 63 Aelurius: Glaciographia, 281f. Es ist nicht davon auszugehen, dass Kögler, der in seinem Auszug gerade die Mitteilung zu konfessionellen Belangen recht ausführlich bringt, in seiner Abschrift auf die Darstellung dieser Episode verzichtet hätte, wenn sie bei Scholtz überliefert wäre. Wie Aelurius bereits berichtet, hatten die erschlagenen Pilger „die Jesuiter als einen Heiligen in der Domkirche [das Augustinerchorherrenstift, das die Jesuiten 1597 als Kolleg erhalten hatten, d. Vf.] begraben“. Ebd., 282. Später wurde sein Leichnam in die inzwischen den Jesuiten zugefallene Pfarrkirche überführt; er sei „wie einem Martyrer gebühret begraben worden“. Miller: Historia, 132f. Auch in ihrer Bildprogrammatik bezogen die Jesuiten das Ereignis ein. Vgl. Schittny, Hans Richard: Historische Bilder in der Glatzer Stadtpfarrkirche. In: Jahrbuch der Grafschaft Glatz (1998) 59–64, hier 63f. 64 Kögler 17 III, 312. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd., 313. 68 Ebd., 312f.

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Habelschwerdt Widerstand geleistet, doch hätten „die Jesuiten die Kirche eingenommen“, was Scholtz mit dem Stoßseufzer „Gott behulf uns vor solchem Unglück“ kommentiert.69 Der Versuch, 1604 die Habelschwerdter Kirche mit einem Jesuiten zu besetzen, hätte „die ganze Gemeinde zusammen verbunden, bei der Augsburgischen Konfession zu verbleiben“;70 er konnte erfolgreich abgewehrt werden, die Bedrohung freilich blieb bestehen. Aelurius dagegen schildert das Wirken der Jesuiten in Glatz von 1597 bis 1618 gelassener. Er erwähnt zwar den erfolglosen Protest der Glatzer Stände beim Kaiser, der die alten Verhältnisse, das heißt die Existenz des Augustinerchorherrenstifts, wieder herstellen sollte, stellt aber sonst, sogar mit einer gewissen Sympathie, die Entwicklung ihres Kollegs dar, auch wenn er anmerkt, dass die Jesuiten das Domstift fast zu einer „Festung“ ausgebaut hätten.71 Er begeistert sich an der Schönheit dieses Baus, auch im Vergleich zu anderen Jesuitenkollegien, die er in Braunsberg und in Riga gesehen habe, und bedauert nachdrücklich die Zerstörung des Kollegs durch die Soldaten, die die Glatzer Burg gegen die kaiserlichen Truppen verteidigten. Die Erfolge ihrer Rekatholisierungsversuche in den Dörfern schreibt er nicht dem Zwang zu, sondern ihrem Fleiß, da sie „nicht gefaulenzet, sondern sich ihrem Orden nach wohl recht getummelt haben“.72 Dadurch hätten sie vermocht, „ihre Religion weiter auszubauen“.73 Das Fazit von Aelurius lautet: „Und das ist ihnen auch ziemlich gelungen, denn sie haben viele Orte der Grafschaft Glatz auf ihre Seite gebracht, dadurch sie ihrem Orden und Ordens Zusage ein sattes Genügen getan haben.“74 Aelurius vermag die Erfolge seiner „Gegner“ realistisch einzuschätzen, ohne sie als Bedrohung darzustellen. Die Bedrohung des lutherischen Kirchentums schien für Scholtz und den Habelschwerdter Chronisten nach Erlass des Majestätsbriefs durch Rudolf II. 1609 fürs Erste überwunden. Scholtz bemerkt, dass der Religionsfriede „zwischen den Lutherischen und Päpstischen“ vom Kaiser „wiederum schriftlich konfirmiert worden“,75 was an frühere Religionsfrieden, so den Augsburgischen von 1555, denken lässt. Der Habelschwerdter bringt das Ereignis erst im Januar 1610, als „allhie auf dem Rathäuse vor der ganzen Gemeinde das freie Exercitium Religionis publizieret und verlesen worden“.76 Er hebt hervor, dass es den Ständen freistehen sollte, Prädikanten anzunehmen, was die Habelschwerdter im selben Jahr mit der Annahme von David Wisaeus zum Pfarrer praktizierten, womit nun die ungehinderte Ausübung lutherischen Kirchentums gewährleistet war. Der Chronist verfolgte aufmerksam die Entwicklung in Böhmen, so den Bau der evangelischen Kirche in Braunau, zu deren Finanzierung die Habel69 70 71 72 73 74 75 76

Kögler 71, 274. Ebd., 252. Aelurius: Glaciographia, 332. Ebd., 333f. Ebd., 334. Ebd., 335. Kögler 17 III, 316. Kögler 71, 290.

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schwerdter Gemeinde und Zünfte beitrugen, wie auch zur Errichtung der evangelischen Kirche auf der Kleinseite in Prag. Kritisch vermerkt er die Krönung von Erzherzog Matthias zum König von Böhmen durch Kardinal Franz Seraph von Dietrichstein zum „Pfaffenkönig“77 und spricht skeptisch von der Besetzung wichtiger Amtsposten mit Katholiken.78 Die katholischen Räte in Prag planten nach seiner Ansicht, die Lutherischen „aus[zu]rotten“ und zu „unterdrücken“,79 was seiner Ansicht 1618 zum Prager Fenstersturz geführt habe („daß sie sollten lernen fliegen“80). Die wichtigste Folge dieses Ereignisses ist für ihn die Vertreibung der Jesuiten und die nun endgültig freie Religionsausübung der lutherischen Gemeinden. Der Krieg, der jetzt begann, ist zwar für Scholtz ein „Pfaffenkrieg“, doch findet sich bei ihm noch keine Identifizierung mit der lutherischen Seite. Er erwähnt überdies die negativen Seiten des Krieges: Die kurzfristige Einquartierung von vier Fähnlein Soldaten in Habelschwerdt etwa „plagten die armen Leute gar sehr“.81 Aber durch die Religionsmaßnahmen des Prager Direktoriums 1619 scheint ihm das lutherische Kirchentum endlich gesichert: „Gott helfe, [dass] dies lang Bestand hat.“82 Das Jubeljahr 1617, das zwar unter den Garantien des Majestätsbriefes von 1609, aber in immer noch bedrängter Situation für die Protestanten stattfand, deutet er als historische Bestätigung für die Wahrheit der lutherischen Lehre: „[D] ieweil uns Gott bei seinem Wort erhalten hat und durch den teuren Mann Dr. Martin Luther vor 100 Jahren wieder an Tag gebracht, dafür wir Gott allzeit danken sollen.“83 Der lutherische Glaube beweist sich für ihn aufgrund seiner Schlichtheit, die ihn von den „päpstischen Zeremonien“ unterscheide.84 Eine Bedrohung der lutherischen Lehre sieht er nach dem Sieg der Truppen der Katholischen Liga 1620 noch nicht gegeben, obwohl er die Dimension des Geschehens ahnt, wenn ihn beispielsweise überrascht, dass die Böhmen dem erst im Herbst 1619 zum König von Böhmen gewählten Pfalzgrafen Friedrich V. so schnell treulos geworden seien.85 Doch die kurfürstlich-sächsische Besatzung in Habelschwerdt unter dem Hauptmann Carl von Goldstein bestätigte am 11. Dezember 1621 die Aufrechterhaltung „unserer Augsburgischen Konfession“,86 womit die Habelschwerdter wohl auch nach dem endgültigen Sieg der kaiserlichen Truppen rechneten. Einen seltsamen Kontrast bieten deshalb die Eintragungen des Habelschwerdter Chronisten zum 9. und 13. November 1622: „Den 9. November haben sie den Glatzern die Pfarrkirche gesperrt, den 12. November haben sie den Glatzern die Prädikanten 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Ebd., 296. Ebd., 306f. Ebd., 316. Ebd. Ebd., 317. Ebd., 321. Ebd., 314. Ebd., 321. Ebd., 333. Ebd., 346.

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abgeschafft [...], den 13. November hat unser Herr David [Wisaeus, d. Vf.] eine Dankpredigt getan und das Te Deum Laudamus gesungen.“87 Die knappen Eintragungen für 1623 zeigen die neue Realität: „Den 23. März haben die Jesuiten die Pfarrkirche zu Glatz lassen einweihen [...] den 12. August haben sie allhier [in Habelschwerdt, d. Vf.] die Prädikanten abschaffen müssen [...], den 8. September [...] sind sie von den Dorfschaften abgeschafft worden, was unter die Obrigkeit gehört, auch den zu Mittelwalde, und ist [sind, d. Vf.] ihrer über vier auf den Dörfern nicht verblieben, Gott helf zum besten.“88 Die Meldungen zur konfessionellen Entwicklung der folgenden Jahre enthalten sich eines jeden Kommentars, aber durch ihre knappe Darstellung kommentieren sie indirekt das Geschehen im lutherischen Sinn: „Den 11. April [1628, d. Vf.] ist der Herr Decanus, Magister Großer, der Pfarrer von Ebersdorf und Mittelwalde auf den Pfarrhof zu Habelschwerdt kommen, die Bürger und die auf den Dorfschaften vorgenommen, ob sie wollen katholisch werden, ist alles aufgeschrieben worden, was ein jeder ausgeredt hat. Bald hat man die vornehmen Leut eingezogen und 12 Bürger auf Glatz geführet worden, wie man denn auch dergleichen Ordnung im ganzen Land gehalten. [...] Item von Ostern an hat man Soldaten in die Kirchen bestellt, daß man das Volk mit Gewalt zum Niederknien hat treiben müssen.“89 Diejenigen, die nicht konvertieren wollten, wurden mit Einquartierungen von vier bis sechs Soldaten bestraft.90 In der Folgezeit verließen immer mehr Bürger, die nicht katholisch werden wollten, Habelschwerdt, darunter wohl auch der Chronist, der vermutlich in das nicht weit entfernte Dorf Oberlangenau zog.91 Die Chronistik lutherischer Autoren konnte nach 1660, als die Rekatholisierung erste Erfolge zeigte, nicht einfach beseitigt werden, denn sie war eine wichtige Basis der historischen Erinnerung in der Grafschaft Glatz.92 In den Abschriften versuchten spätere Zeitgenossen, durch Marginalien die Aussage im katholischen Sinn „richtigzustellen“. Vor allem auf Aelurius’ „Glaciographia“ wollte man nicht verzichten. Zu ihr schrieb 1705 der katholische Kisslingswalder Kaplan Friedrich Johann Gregor Göbel

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Ebd., 384f. Ebd., 386–388. Ebd., 412f. Ebd., 415. Vgl. den Beitrag „Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Rupprecht. Zum Kryptoprotestantismus in der Grafschaft Glatz“ in diesem Band. 92 So benutzte die Chronik des Habelschwerdters der Verfasser einer „Chronica oder Beschreibung der Stadt Glatz und denen darzu gehörigen Stätten und Dörfern [...]“, der unter anderem auch aus Aelurius (1625), Johannes Miller (1690) und einem 1660 geschriebenen Tagebuch kompilierte. Die „Chronica“ stammt demnach aus dem beginnendem 18. Jahrhundert. Der Auszug nach der Chronik des Habelschwerdters in: Kögler 17 I, 86–107; ferner die Fortsetzung des Habelschwerdter-Oberlangenauers und die Chronik des Georg von Promnitz in einem Tagebuch 1622–1682 in: Kögler 17 II, 34–86.

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eine Fortsetzung.93 Auch für den Jesuiten Johannes Miller (1690), den Franziskaner Marian Franckenberg (1738) sowie für manchen Dorfchronisten des 18. und 19. Jahrhunderts blieb die „Glaciographia“ als wichtigstes Geschichtswerk der Grafschaft Glatz unverzichtbar.94 Joseph Kögler, Pfarrer und verdienstvoller Quellensammler, sicherte in seinem Nachlass die handschriftlichen Chroniken, die dann im ausgehenden 19. Jahrhundert in der „Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz“, wenn auch in unzulänglicher Weise, publiziert wurden.

93 Bretholz (Bearb.): Geschichtsquellen, Bd. 6/1, 157–165. 94 Ebd., 161f.; Konradswaldauer Chronik (nach 1832). Martin Opitz-Bibliothek Herne, Bestand Grafschaft Glatz.

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5. Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Rupprecht. Zum Kryptoprotestantismus in der Grafschaft Glatz Der für die lutherischen Einwohner der Grafschaft Glatz nach 1620/22 drohenden Vernichtung ihres protestantischen Bekenntnisses versuchten diese entgegenzuwirken, indem sie bestrebt waren, sich ihrer Tradition literarisch zu vergewissern. Eine breite chronikalische Überlieferung, deren Filiationen, Zusammenhänge und Fortsetzungen nur schwer in Einklang zu bringen sind, zeugen von diesem Bemühen. Der erzwungenen Rekatholisierung vermochte somit noch Jahrzehnte etwas entgegengesetzt zu werden, wie das Beispiel des Oberlangenauer Bauern und Schöffen Christoph Rupprecht bezeugt.1 Über seine Person war weitgehend nur das bekannt, was 1644 offenkundig wurde, als er von dem Ebersdorfer Pfarrer Franz Hubrich des Kryptoprotestantismus verdächtigt wurde.2 Diese Spur führte weiter und letztlich zu der Gewissheit, dass es sich bei dem sogenannten Oberlangenauer Chronisten, der bis 1663 schrieb, um den dortigen Bauern Christoph Rupprecht handeln muss.3 Aus dem einzigen authentischen Zeugnis, das wir von ihm besitzen, seinem Beschwerdebrief an den Grafschaft Glatzer Landeshauptmann vom 13. Dezember 1644, wird ersichtlich, dass Rupprecht ungefähr fünfzig Jahre alt gewesen sein muss, als er mit „den Geistlichen in Widerwillen“ geriet.4 Die Fakten, die er schildert, zeigen, dass er sich äußerlich der erzwungenen Katholisierung angepasst hatte. Danach ging er jährlich zur Osterbeichte und schickte auch seine Kinder dorthin. Das Dorf Oberlangenau, neun Kilometer südlich von Habelschwerdt gelegen, ist seit 1384 als Pfarrdorf bezeugt. Ab 1558 war die Gemeinde vermutlich lutherisch.5 Da 1 Zur Chronistik der Grafschaft Glatz im 16./17. Jahrhundert vgl. den Beitrag „Das Erleben des konfessionellen Zeitalters im Spiegel der Grafschaft Glatzer Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts“ in diesem Band. Glashoff, Frank: Die Reflexion der Zeitkatastrophen in den Aufzeichnungen des „Gemeinen Mannes“ im 16./17. Jahrhundert am Beispiel der Chronik des Glatzer Schneiders Pankratz Scholz, eines anonymen Habelschwerdter beziehungsweise Oberlangenauer Chronisten sowie des „Zeytregisters“ des Schusters Johannes Heberle aus dem Ulmer Umland. Magisterarbeit Hamburg 1998. 2 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Hrabstwo Kłodzkie Rep. 23, Nr. 645, 168–183. 3 Seine Chronik ist überliefert in: Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Sammlung Kögler Nr. 71, 406–618 (im Folgenden zitiert als: Kögler 71). 4 Archiwum Państwowe we Wrocławiu Nr. 645, 168. Sein ältester Sohn war 1644/45 28 Jahre alt (ebd., 177). 5 Die älteste historisch-topographische Darstellung des Dorfes Oberlangenau stammt aus der Feder des verdienstvollen Historiographen und katholischen Geistlichen Joseph Kögler aus dem Jahr 1800. Das Original: „Historische Nachrichten von dem zur Ebersdorfer Pfarrtey gehörigen Dorffschaften aus alten ächten Urkunden gesammelt, und dem hochwürdigen, hochgelehrten Herrn Joseph Heyder gegenwärtigen eifrigsten Pfarrer in Ebersdorf gewidmet von Joseph Kögler zurzeit Kaplan in Rengersdorf. Am 30.t Nov: im J: 1800“. In: Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Sammlung Kögler Nr. 7, G 4. Abgedruckt in Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde

Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Rupprecht

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das Kollationsrecht beim Landesherrn lag, ist anzunehmen, dass die Pfarrei zwischen 1558 und 1622 mit Predigern beider Konfessionen besetzt wurde. Zur Zeit der wichtigen Glatzer Synode von 1559, auf der der damalige Pfandherr der Grafschaft, Ernst von Bayern, die Konfessionszugehörigkeit der Grafschafter Geistlichkeit festzustellen versuchte, war die Pfarrei Oberlangenau offensichtlich nicht besetzt, denn unter den aufgeführten Geistlichen fand sich keiner, der für Oberlangenau zuständig war; die Pfarrei wurde aber in dem gleichzeitigen Decanale des Dekans Christoph Neaetius mitsamt den Filialgemeinden Lichtenwalde, Hohndorf, Seitendorf und „Schnelstein“ genannt.6 Es musste jedoch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein reges lutherisches Gemeindeleben gegeben haben, denn 1595 erbauten die Oberlangenauer eine neue Kirche aus Stein.7 Der letzte lutherische Geistliche, der hier wirkte, war Martin Leimgruben. Er wurde 1622 bei dem Bauernaufstand der Oberlangenauer Bauern gegen die kaiserlichen Truppen von polnischen Reitern erschlagen.8 Der Aufstand der Bauern aus den Dörfern um Oberlangenau gegen die kaiserlichen Truppen 1621/22 basierte auf deren Parteinahme für den 1620 besiegten protestantischen böhmischen König Friedrich von der Pfalz, dessen Ansprüche der junge Graf Franz Bernhard von Thurn in der Grafschaft Glatz bis zur Kapitulation von Glatz am 28. Oktober 1622 verteidigte.9 Auf seiner Seite kämpften auch die Bauern unter der Führung des Oberlangenauer Freirichters Hans Wolf. Es ist zu vermuten, dass Christoph Rupprecht in diesen Aufstand involviert war, auch wenn wir kein Zeugnis von ihm darüber besitzen.10 In konfessioneller Hinsicht

der Grafschaft Glatz 3 (1883/84) 120–124; Bach, Aloys: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis auf unsere Tage [...]. Nebst einem Anhange: Geschichtlich statistische Darstellung aller Gläzer Pfarreien und Kirchen mit deren geistlichen Vorstehern, so wie der Schulen im Jahre 1841. Breslau 1841, 441; Pohl, Dieter: Die Kirchenbücher der Grafschaft Glatz (Schlesien). Die Bestände 1937 und 1997. Mikroverfilmungen. Lorsch 1996, 26f., 102f. 6 ������������������������������������������������������������������������������������������ Volkmer, Franz/Hohaus, Wilhelm (Hg.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 1–5. Habelschwerdt 1883–1891, hier Bd. 3: Constitutiones Synodi Comitatus Glacensis in causis religionis, 1559. Die Dekanatsbücher des Christophorus Neaetius, 1560, und des Hieronymus Keck, 1631, 25–29, 30, 48; zur Glatzer Synode von 1559 vgl. Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 56–61. 7 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Volkmer/Hohaus (Hg.): Geschichtsquellen, Bd. 3, 131: „Ecclesia ante annos 70 lignea ex lapidibus tandem postea ab haereticis extructa est.“ Die früheste Abbildung der Kirche aus dem beginnenden 19. Jahrhundert in: Heinke, Artur: Die Grafschaft Glatz. Breslau 1941 [ND Leiningen o. J.], 124. 8 Bach: Kirchen-Geschichte, 441. 9 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 37, 106. 10 Zu dem Bauernaufstand 1622 vgl. ebd., 35f.; Wiese, Hugo von: Die Freirichter der Grafschaft Glatz. In: Mitteilungen des Vereins der Deutschen in Böhmen 17 (1879) 259–284, 321–352, hier 336–340; Bach: Kirchen-Geschichte, 256. Urkundlich belegt ist Hans Wolf im Amt des Freirichters für 1615: Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Miasta Kłodzka, Nr. 215, 93. Für 1611 ist in diesem Amt (vermutlich sein Vater) Nicel Wolf bezeugt. Ebd., 10. Nach Angaben von Joseph Kögler, der sich auf die „Historia Colleg. Glac. ad a 1628“ bezieht, musste Hans Wolf

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ist dieser Aufstand insofern interessant, als die Bauern 1621/22 das von kaiserlichen Truppen besetzte Habelschwerdt aufgrund ihrer Belagerung in arge Schwierigkeiten brachten. Bei diesen kaiserlichen Truppen aber handelte es sich um protestantische sächsische Truppen unter dem Hauptmann Carl von Goldheim, die der lutherischen Gemeinde Habelschwerdt nicht nur die Ausübung ihres lutherischen Gemeindelebens erlaubten, sondern selbst daran teilnahmen.11 Es war deshalb zu einer Identifizierung zwischen Besetzern und Besetzten gekommen. Das gemeinsame Wir-Gefühl zeigt sich auch in der Habelschwerdter Chronik, deren Fortsetzung ab 1627 Christoph Rupprecht in Oberlangenau schreiben sollte.12 Für den Habelschwerdter Chronisten sind die Bauern zwischen Habelschwerdt und Mittelwalde „alle rebellisch geworden, undt [haben] sich wieder das Kayserl. volck aufgelehnet, den sie ihnen kein Victualia hereingeben wollen [...] haben also etliche Läger gehabt. Ihr Hauptläger war auf Costeners [Kastner, d. Vf.] gutte zu Wölfersdorf am ende, der Rädelführer war der Scholtze von Oberlangenau, trug um den Hals Ducaten. ließen der Stadt etliche mahl ansagen, umb die, undt diese Zeit wirdt man die Stadt mit besernen zusammenkehren, ließen uns kein Holz zum brawen aus der wüstung herein, fingen die Leute und erzeigeten sich gegen uns alß feinde, der Rath ließ sie vermahnen, mit verwilligung der Hauptleuthe, daß sie von der Wache solten abstehen, gaben nichts darauf, wurden nur halsstarriger, biß Sie ihren lohn davon bekahmen.“13 Dieser Lohn bestand darin, dass am 5. Juni 1622 „etliche undtdreißig Corneth Polacken, undt 2 Corneth schlesische reutter [...] allhier ankommen, den Bauren ihre Läger zertrennet, und etliche hundert zum Niederlangenaw nieder gekamen [...] undt was sie angetroffen von Manns Persohnen nieder gesäbelt“.14 Noch bevor diese Truppen des neuen Landesherrn, des Breslauer Bischofs Erzherzog Karl, den Bauernaufstand brutal niederschlugen, hatte bereits Anfang Januar 1622 der sächsische Oberst die Bauern bei Heinzendorf angegriffen und „trotz trefflicher Gegenwehr ihrer 100 erschlagen“.15 Die Glatzer Truppen des Grafen von Thurn, die ihnen zu Hilfe kommen wollten, zogen sich zurück, sodass die kämpfenden Bauerntruppen voneinander getrennt werden konnten. Weitere zweihundert Bauern wurden in Ullersdorf überwältigt und getötet. Trotz dieser Verluste kämpfte dieser „gefährliche Bauernbund“ bis zu seiner endgültigen Niederlage im Juni 1622. Nach der Niederlage gelang

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1628 im Zug der Bestrafung für die Rebellion 588 Taler Strafgeld zahlen, was wohl den Verlust des Freirichterguts bedeutete. Am 29. März 1631 musste er es schuldenhalber abtreten. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 3 (1883/84) 123. Eine weitere Bestrafung wegen des Aufstands erfolgte wohl nicht. Die Figur des Hans Wolf hat auch eine fiktive Darstellung erhalten: Bartsch, Heinrich: Hans Wolf, der Freirichter von Oberlangenau. Der Kampf der Grafschafter Bauern zu Beginn des 30-jährigen Kriegs. Leimen 1956. Herzig: Erleben, 34. Kögler 71, 368f. Ebd. Palm, Hermann (Hg.): Acta Publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände, Bd. 1–4 [1618–1629]. Breslau 1865–1906, hier Bd. 4: 1621, 197f. Ebd.

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es Hans Wolf, zu fliehen.16 Sein Freirichtergut in Oberlangenau wurde eingezogen und gelangte zunächst an den katholischen Pfarrer von Ebersdorf, Georg Denkel, der es 1631 nach Angaben der Chronik von Christoph Rupprecht „auf ein Neues übergeben“ bekam. Nachdem Denkel 1632 starb, ist 1637 als Freirichter Heinrich Rupprecht bezeugt, vielleicht der Vater des Christoph Rupprecht. Sein Name findet sich auf einer Glocke der Oberlangenauer Kirche aus dem Jahr 1637.17 Der zwei Jahre dauernde Widerstand der Grafschafter gegen die kaiserlichen Truppen und schließlich deren Sieg ermöglichten es Kaiser Ferdinand II., die Rekatholisierung in diesem Land rücksichtslos durchzusetzen. Das bedeutete nicht nur die sofortige Vertreibung der lutherischen Geistlichen und Lehrer sowie das Verbot des protestantischen Gottesdienstes und Kultus, sondern auch die Unterdrückung jeglicher devotio domestica, das heißt Ausübung der evangelischen Konfession im privaten Bereich. Vor allem wurden alle „ketzerischen Bücher“ eingezogen und – soweit die Jesuiten nicht daran interessiert waren – verbrannt. Ihr Besitz wurde streng bestraft. Mit Gewalt wurden die lutherischen Einwohner gezwungen, am katholischen Gottesdienst teilzunehmen. Als Kontrolle für ihre Loyalität gegenüber der katholischen Kirche galt der Empfang der Osterkommunion, über deren Zahl der Dekan Hieronymus Keck genau Buch führte. Verbunden damit war die Beichte, die ebenso als Kontrolle diente.18 Es blieben bei dieser totalen Glaubensunterdrückung nur Formen des ­Kryptoprotestantismus möglich; doch auch sie wurden von den nach 1623 eingesetzten katholischen Geistlichen streng verfolgt. Zugute kam dabei den Kryptoprotestanten, dass nicht alle Pfarrstellen besetzt werden konnten. Das traf auch für Oberlangenau zu. Im Zug der Rekatholisierung und der damit verbundenen Vertreibung der lutherischen Geistlichen wurde die Kirchengemeinde Oberlangenau aufgelöst und als Filialgemeinde dem Kirchspiel Ebersdorf eingepfarrt. In Ebersdorf war seit 1616 Georg Denkel, ein ehemaliger Protestant, Pfarrer. Er hatte sich vom Prager Erzbischof zum Priester weihen lassen. Als 1618 die lutherischen Gemeinden die Pfarreien mit lutherischen Geistlichen besetzen wollten, 16 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Wiese: Freirichter, 337; zur Rache der Habelschwerdter an den aufständischen Bauern vgl. Volkmer, Franz: Grundzüge der Stadt Habelschwerdt vom 30-jährigen Kriege bis zum Beginne des ersten schlesischen Krieges (1618–1740). In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 10 (1890/91) 97–131, hier 104f. 17 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kögler 17, 368f. In Berufung auf das Habelschwerdter Ratsprotokoll führt Kögler in seinen Historischen Nachrichten für das Jahr 1644 Christoph Rupprecht als Besitzer des Oberlangenauer Freirichterguts. Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 3 (1883/84) 124. Vermutlich handelt es sich um eine falsche Angabe. Er selbst bezeichnet sich in seinem Brief vom 13. Dezember 1644 als „Pauersmann“ und wird von Pfarrer Hubrich lediglich als Schöppe bezeichnet. Ab 1647 ist Nickel Rupprecht als Freirichter und Besitzer des Freirichterguts bezeugt. Ebd., 124. Der Freirichter Nickel Rupprecht besaß gemäß der Steuer Rolla von 1653: 123 Saewerk Felder, 5 Pferde, 13 Kühe, 17 Feldvieh, 100 Schafe, 7 Schweine, ferner 10 Untertanen, die als Dorfhandwerker tätig waren. Er zahlte jährlich 17 Gulden, 30 Kreuzer Kontribution. Národní archiv Praha, Berní rula Kladska inv. č 26 (1654), fol. 194. 18 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 146–150.

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wurde er aus der Pfarrei Ebersdorf vertrieben. 1623 kehrte er dorthin zurück.19 Dieses Schicksal beziehungsweise seine Konversion zum Katholizismus noch vor 1620 prädestinierten ihn vermutlich für seine Funktion als eines der sechs Mitglieder der sogenannten Reformationskommission, die gemäß dem kaiserlichen Publikandum vom 29. Januar 1628, das „alle unkatholischen Einwohner“ aufforderte, die katholische Religion „willig anzunehmen“,20 zur Überprüfung durch das Land reiste. Die hochrangig besetzte Kommission sollte überprüfen, inwieweit dem Folge geleistet wurde. Ihr gehörten neben dem Landeshauptmann Karl von Fuchsberg dessen Stellvertreter Johann Arbogast von Annenberg, ferner der Glatzer Amtssekretär Magister Groser sowie von geistlicher Seite der Dechant Hieronymus Keck, der Mittelwalder Pfarrer Tobias Klösel und – wie bereits erwähnt – Georg Denkel an.21 Dass diese Kommission nicht nur mit Geistlichen, sondern in erster Linie mit den führenden Vertretern der Regierung besetzt war, demonstriert die politische Bedeutung der Rekatholisierung im Konzept der Habsburger Landesherren. Nach Auffassung Ferdinands II. hatte der Abfall von der „alleinseligmachenden apostolisch-katholischen Religion“ das Königreich Böhmen ins „äußerste Verderben“ gestürzt.22 Es galt nach seiner Ansicht deshalb, alle Abgefallenen zum wahren Glauben zurückzuführen, um das Königreich nicht noch einmal in Gefahr zu bringen. Jeder, der sich nicht zur katholischen Kirche bekannte, galt als illoyal und gefährde potenziell das Staatswesen, so die Interpretation des Kaisers. Es erforderte innerliche Stärke, sich diesem Druck zu widersetzen und dem allgemeinen Diskurs eine eigene Position – sei es auch in verschlüsselter Form – entgegenzusetzen. Aufgrund des Austauschs der alten Eliten sowohl unter dem Adel als auch dem Bürgertum und den Freirichtern sowie aufgrund der Vertreibung der lutherischen Geistlichkeit und Lehrer, der Vernichtung jeglicher protestantischer Tradition, nicht zuletzt auch aufgrund des Zwangs zur Auswanderung oder des angedrohten Verlusts der bürgerlichen Existenz sowie der persönlichen Verhöre durch die Reformationskommission wurde jeder Widerstand, den es vor allem vonseiten der Frauen gab, unterdrückt.23 Während über das Auftreten der Reformationskommission in den Städten schriftliche Quellen vorliegen, sind wir über die Rekatholisierung auf dem Lande weniger gut unterrichtet.24 Doch gab es auch hier Formen des Widerstands, etwa wenn der von der Kommission in Neuwaltersdorf eingesetzte Kirchschreiber „odio religionis catholicae gewalttig attentiret“

19 Bach: Kirchen-Geschichte, 441. Vermutlich wurde er dafür mit dem Freirichtergut in Oberlangenau belohnt. Kögler 71, 424. 20 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 146. 21 Ebd., 146f. 22 Ebd., 109. 23 Ebd., 148. 24 Christoph Rupprecht schreibt über die Reformationskommission, dass sie „auf den Pfarrhof zu Habelschwerda kommen, die burger undt die auf den Dorfschaften vorgenohmen, ob sie wollen catholisch werden, ist alles aufgeschrieben worden, was einer ieder außgeredet hat“. Kögler 71, 412.

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wurde.25 Besonders in den Grenzdörfern zu Böhmen, zum Beispiel in Langenbrück, lebten noch in den 1650er Jahren „Unkatholische“.26 Hielt eine größere Gruppe in einem Dorf zusammen, so war bei äußerer Anpassung an den Katholizismus ein Kryptoprotestantismus möglich. Im Falle einer totalen Verweigerung appellierten die Geistlichen an das „bracchium saeculare“, den „Ungehorsam“ zu strafen.27 In welchen Formen der Kryptoprotestantismus sich auf dem Land behauptete, zeigt das Beispiel des Bauern und Chronisten Christoph Rupprecht. Bei aller äußeren Anpassung musste er dennoch bereits mit dem Ebersdorfer Pfarrer und Reformationskommissionsmitglied Georg Denkel zusammengestoßen sein. Zumindest behauptet Dechant Hieronymus Keck in seinem Vernehmungsbericht 1645, Rupprecht habe schon mit dem Vorgänger des jetzigen Pfarrers „in wieviellem streit und wiederwertigkeit gelebet“.28 Niemand im Kirchspiel sei „so ungehorsamb und refractarisch [widerborstig, d. Vf.] der geistlichkeit“ gegenüber wie Rupprecht und seine Familie.29 Der Widerstand bestand darin, dass Rupprecht und seine Familie zur jährlichen Beichte und Kommunion „compelliret [entschieden aufgefordert, d. Vf.]“ werden mussten. Während sich Christoph Rupprecht dem nolens volens fügte, ermöglichte er es seiner Frau mit der Begründung, „er hätte Sie zue dergleichen nit zwingen können“,30 dass sie nicht zur Beichte gehen musste, sowie seinen beiden 16 und 17 Jahre alten Kindern, dass sie weder den katholischen Katechismusunterricht noch wohl überhaupt den katholischen Gottesdienst besuchten mussten. Vor allem sein ältester Sohn Johann, 1644 über 28 Jahre alt, widersetzte sich beharrlich der Aufforderung zur Teilnahme am katholischen Kirchenleben. Insgeheim hielt Rupprecht mit seiner Familie Hausandachten und erzog seine Kinder im evangelischen Glauben, sodass sein ältester Sohn 1644 dem Pfarrer gegenüber überzeugt bekannte: „Er könne es nicht bereden, dergleichen ketzerische Bücher zu lesen, noch zue maiden, auch den Luther und die Ketzer nit verdambt halten.“31 Auf die evangelischen Hausandachten, die in der Familie gehalten wurden, weist der Satz des Verhörprotokolls hin, dass sein Weib die „bey sich habende[n] ketzerisch[en] Bücher [...] Ihren Herzenstrost genennet“.32 Nach den Angaben des Ortspfarrers Hubrich, dessen Predigt den Konflikt auslöste, „daß die Jenigen, so ketzerische Bücher bey sich hetten, Ihre Kinder [...] nit zue Beücht [Beichte, d. Vf.] undt heyl[igen] Gottesdienst trieben, kalt catholisch wehren“,33 bezog sich diese Aussage auf mehrere Gemeindemitglieder. Das lässt vermuten, dass Rupprecht und seine

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Archiwum Państwowe we Wrocławiu Nr. 645, 101. Ebd., 185. Ebd., 182. Ebd., 168. Ebd., 168f. Ebd. Ebd., 177. Ebd. Ebd., 178.

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Familie nicht allein standen; auch das Verstecken der Bücher bei einem mit Rupprecht befreundeten Bauern weist in diese Richtung. Was letztlich 1644/45 die Untersuchung der Rupprechtschen Sache auslöste, bleibt offen. Offensichtlich war Christoph Rupprecht beim Pfarrer denunziert worden.34 Nach seiner Aussage hatte der Pfarrer Franz Hubrich seinem Sohn 1644 die Osterbeichte nicht abnehmen wollen und ihn selbst in der Beichte nach dem Besitz von ketzerischen Büchern gefragt, was Rupprecht auch zugegeben hatte. Nach seiner Darstellung hatte ihn der Pfarrer daraufhin beim Habelschwerdter Kreisvogt „aus der Beichte verklaget“.35 Auf Befehl des Kreisvogts war Rupprecht daraufhin vom Ortsrichter aufgetragen worden, die ketzerischen Bücher abzuliefern. Rupprecht hatte diese Bücher auch tatsächlich am Pfarrhof in Oberlangenau abgegeben; nur wohnte dort seit der Zusammenlegung der Pfarreien kein Pfarrer mehr, sondern ein Freund Rupprechts. Um die Abgabe der ketzerischen Bücher war es auch schon bei der Beichte des Sohnes Johannes Rupprecht gegangen. Da dieser die Herausgabe ablehnte, hatte ihm der Pfarrer vermutlich die Absolution verweigert. Dies hatte der Pfarrer anlässlich eines Gottesdienstes in Oberlangenau, an dem Christoph Rupprecht nicht teilnehmen konnte, thematisiert.36 Wie ihm vermutlich aus der Gemeinde berichtet wurde, hatte der Pfarrer in seiner Predigt den Sohn Johannes Rupprecht namentlich genannt und ihn „Hans Rathkopf hinter dem Backofen gebohren geheißen, gleich als wann meine Kinder in Unehre gezeuget und gebohren wehren“,37 wie Christoph Rupprecht in seinem Schreiben an den Landeshauptmann erklärend hinzusetzte. Von ihm selbst hatte der Pfarrer behauptet, er sei nicht wert, den Schöppenstuhl innezuhaben.38 Auf diese Predigt hin suchte Johannes Rupprecht den Dekan und vicarius foraneus Hieronymus Keck auf, der ihm letztendlich riet, sich mit dem Pfarrer zu vergleichen.39 Johannes Rupprecht war daraufhin noch einmal zu Pfarrer Hubrich gegangen und hatte ihn um „einen Beichtzettel an einen anderen Priester“ gebeten,40 was dieser ihm jedoch abgeschlagen hatte. Diese Angabe zur Beichtzettelpraxis beweist den Kontrollcharakter dieser Institution. Um dieses Thema nicht zu einem öffentlichen Diskurs im Dorf zu machen, hatte der Pfarrer dem Dorfscholzen erklärt, dass keiner über diese Sache außer in der Beichte reden dürfe.41 Als offensiver Akt ist wohl zu verstehen, dass sich Christoph Rupprecht am 13. Dezember 1644 an die Glatzer Landesregierung wandte, um in Berufung auf sein bisheri-

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„[...] in dene Er [Hubrich, d. Vf.] ex relatione aliorum verlässlige Wissenschaft gehabt“. Ebd. Ebd., 168. Christoph Rupprecht war zu diesem Termin „in gemeines sachen verreißet“. Ebd., 168f. Ebd., 169. Zur Funktion der Schöppen oder Scheppen vgl. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 42. Zur Stellung des Glatzer Dekans vgl. ebd., 157f. Archiwum Państwowe we Wrocławiu Nr. 645, 169. Ebd., 179.

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ges tadelloses Leben von ihr „billichen Schutz“ zu erhalten,42 das bedeutete, dem Pfarrer die ehrenrührigen Behauptungen in der Predigt sowie auch das Beicht- und Kommunionhindernis zu verbieten. Die Landesregierung gab den Beschwerdebrief an den Glatzer Dekan Hieronymus Keck weiter, der daraufhin am 24. Januar 1645 den Pfarrer Hubrich sowie Christoph und Johannes Rupprecht vorlud und vernahm. In seinem Bericht, den er am 18. Februar 1645 an den Landeshauptmann und den Assessor schickte, nimmt er den Pfarrer in Schutz und wirft Christoph Rupprecht und seinem Sohn vor, dass sie den Pfarrer „gantz unbillich schimpflich iniuriret, undt an undterschiedlichen orthen, auch beym hochkönigl. Ambt zur ungebühr angegeben strafmeßig diffamiret“ hätten.43 Es habe sich keiner im Kirchspiel „so ungehorsamb und refractarisch erzeiget“ wie Christoph Rupprecht und die Seinen.44 Der Dekan verteidigte den erzwungenen Sakramentenempfang und die verweigerte Absolution mit Verweis auf das kryptoprotestantische Verhalten der Familie. Die Angaben in der umstrittenen Predigt des Pfarrers habe dieser nicht persönlich gemeint, sondern „in genere die lasterhafftige Sünden expliciret“, die Information darüber nicht aus der Beichte, sondern „ex relatione aliorium“ erhalten. Da beide die Predigt nicht gehört hätten, sei es nur ihre Einbildung, dass es „auf Sie beede were gemainet gewesen“. Auch die Behauptung, dass Christoph Rupprecht unwürdig sei, den Schöppenstuhl innezuhaben, wollte der Pfarrer nicht persönlich gemeint haben, da es in dem Kirchspiel Ebersdorf mehrere Schöppen gebe. Dass die Angelegenheit im Dorfkretscham diskutiert wurde, beweist der Vorwurf des Dekans, Johannes Rupprecht habe nach seinem Besuch beim Dekan ebenda behauptet, Keck „were truncken gewesen, wessenthalben von mir Er eine sehr übele mainung gehabt“. Die Zurückweisung dieses „üblen Argwohns“ vonseiten des Dekans der Landesregierung gegenüber klingt jedoch nicht sehr überzeugend. Am Schluss seines Berichts fordert der Dekan die Regierung auf, Christoph und Johannes Rupprecht wegen ihrer Vergehen der Verletzung der priesterlichen Ehre „andern zum Exempel, mit würklicher Straff belegen, undt darbey sambt den andern obbenimbten drey Persohnen zur Beücht und Communion, vermittelst vorkehrung ernsthaffter Compellirungsmüttel, alßo baldt anhalten zuelassen“.45 Doch ließ sich die Landesregierung damit Zeit. Am 28. Juni 1645 starb der Landeshauptmann Johann Arbogast von Annenberg. An seiner Stelle fungierte als Landesverweser ein Vertreter des neuen Grafschafter Adels. Wie sein Vorgänger stammte auch Adam Christian von Ampassek (eigentlich: Ampasseggio) aus Tirol. Er geriet bald mit der Regierung in Prag wegen der Steuerzahlungen in Konflikt, die die Grafschaft Glatz 42 Ebd., 168. Adressiert an „Hoch: undt wohlgeborner Reichsgraf, Gnediger Herr Oberster undt Landes Haubtmann, auch Wohl Edler Gestrenger und Hochgeehrter Herr Assessor“. Landeshauptmann war bis zu seinem Tod am 28. Juni 1645 der seit 1633 amtierende Reichsgraf Johann Arbogast von Annenberg. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 124f. 43 Archiwum Państwowe we Wrocławiu Nr. 645, 176. 44 Ebd. 45 Zit. nach ebd., 175–180.

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zu leisten hatte, sodass ihm sogar Landesverweisung angedroht wurde. Dieser Konflikt wurde jedoch 1646 beigelegt.46 Die Landesregierung war ab Juli 1645 wohl mit anderen Problemen beschäftigt. Am 24. August 1645 beschwerte sich deshalb der Pfarrer Hubrich beim Kreisvogt, dass sowohl Rupprechts Mutter als auch seine Frau und zwei Söhne schon drei Jahre lang die österliche Beichte vernachlässigt hätten, der Sohn Johannes, „der von dem Gebot der Kirche abgefallen [...] nur desto halsstarriger worden“.47 Auf die Vorstellung des Dekans hin aber sei noch keine Resolution erfolgt. Der Pfarrer bat deshalb die Regierung, mit ihren Mitteln einzugreifen, damit „der Ungehorsam gestraft [...] das Gute gefördert werde“.48 Aus den überlieferten Akten zu dem Vorfall geht nicht hervor, wie die Sache weiter behandelt wurde. In Rupprechts Chronik aber findet sich zum 5. Dezember 1645 unvermittelt im Zusammenhang einer Steuerzahlung der Gemeinde Oberlangenau der Satz: „auch Christoph Rupprecht balde in Arrest verbleiben müßen“.49 Ob sich dies auf die Steuerzahlung bezieht oder davon getrennt die Strafe infolge der Anklage des Glatzer Dekans meint, muss offenbleiben. Da von Oberlangenau keine Schöppenbücher aus dieser Zeit überliefert sind, wissen wir auch nicht, ob Christoph Rupprecht sein Schöppenamt weiterhin ausüben durfte. In amtlichen Dokumenten begegnet er 1653 in der Grafschaft Glatzer Steuer-Rolla, wo er als mittlerer Bauer mit zwei Pferden und 58 Scheffel Feldbesitz aufgeführt wird.50 Da seine Chronik mit dem Jahr 1663 recht unvermittelt abbricht, starb er vermutlich um diese Zeit.51 Christoph Rupprechts „refractarischer“ Lebenswandel, die Behauptung und Weitergabe der lutherischen Konfession an seine Kinder über Dezennien hinweg sind außergewöhnlich. Wie aber spiegelt sich diese Entwicklung in seiner Chronik wider? Wie kam er überhaupt dazu, eine solche zu verfassen? Entgegen früheren Annahmen, dass es sich bei dem Oberlangenauer Fortsetzer der Habelschwerdter Chronik um einen Habelschwerdter gehandelt habe, der vor den Repressionen der Rekatholisierung aus Habelschwerdt um 1628 nach Oberlangenau geflohen sei,52 haben die Untersuchun46 47 48 49 50 51

Kögler 71, 523; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 120f. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 120f. Archiwum Państwowe we Wrocławiu Nr. 645, 182. Kögler 71, 527. Národní archiv Praha, Berní rula Kladska, inv. č 26, 194f. Leider existieren die betreffenden Kirchenbücher für Oberlangenau nicht mehr. Vgl. Pohl: Kirchenbücher, 26. 52 So Herzig: Erleben, 32f. Vgl. den Beitrag „Das Erleben des konfessionellen Zeitalter im Spiegel der Grafschaft Glatzer Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts“ in diesem Band; Kögler 71, 53 bemerkt in der Überlieferung: „Diese historischen chronologischen Nachrichten sind von einem Habelschwerdter aus alten gedruckten und geschriebenen Büchern ohne alle Kritik gesammelt und mit einem Tagebuch seiner Zeit vermehrt und wahrscheinlich von seinem Sohn und alsdann von einem Oberlangenauer fortgesetzt worden. Selbe letzteren schrieben ihre Nachrichten vom Jahr 1600 bis 1663.“ Köglers Kritik bezieht sich auf einen vermutlichen Kompilator, der die Überlieferung bis 1663 entweder mit eigenen Ergänzungen oder Abschriften aus unterschiedlichen Werken ergänzte. Christoph Rupprechts Anteil an der Chronik, nämlich die Jahre 1627 bis 1663 (ebd., 406–618), wobei Eintragungen für die Zeit von 1653 bis 1656 fehlen, scheinen

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gen von Frank Glashoff zu einem überzeugenderen Ergebnis geführt. Aufgrund seiner Vergleiche mit gleichzeitigen Chroniken wie der Rosenthaler oder Reinerzer kommt Glashoff zu dem Ergebnis, dass die Urfassung der Chronik in den lutherisch geprägten humanistischen Kreisen Habelschwerdts entstand und dort – bereits vor der Zeit der Rekatholisierung kopiert (Rosenthaler Chronik) – kursierte und dass sie ab 1622 unter den dann in die Heimlichkeit gezwungenen Protestanten in mehreren Exemplaren kopiert und auch fortgesetzt wurde.53 Zwischen September 1623 und Januar 1627 muss sie nach Oberlangenau „gewandert“ sein. Der kontinuierliche chronikalische Bericht der Habelschwerdter Chronik bricht mit dem September 1623 ab, dem Zeitpunkt also, als in Habelschwerdt die Pest herrschte, der am 25. November 1623 auch der Pfarrer und Humanist David Wisaeus erlag. Denkbar ist, so schlussfolgert Glashoff, dass auch der Habelschwerdter Chronist durch die Pest sein Ende gefunden habe.54 Ab 1627 setzte Christoph Rupprecht die Chronik fort. Die an einer Stelle der Fortsetzung vom Verfasser als seine Initialen aufgeführten Buchstaben C. R. weisen auf ihn hin.55 Die Kontextangaben bestätigen seine Existenz als Bauer. Als Adressaten seiner Chronik nennt er einmal „meine[n] nachkommen“,56 wobei es ihm im genannten Darstellungszusammenhang vor allem um die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges geht. Dass der „Pauersmann“ Christoph Rupprecht zu schreiben und, wenn auch bisweilen etwas umständlich, zu formulieren verstand, ist aus seiner Eingabe von 1644 an den Landeshauptmann belegt.57 Christoph Rupprecht begann mit der Fortsetzung der Chronik am 27. Januar 1627. Es scheint so, als gelte es ihm zunächst, die kriegerischen Ereignisse in seiner Nachbarschaft festzuhalten, doch berichtet er auch über politische Ereignisse, klimatische Vorkommnisse, Katastrophen und so weiter. Wichtig im Kontext der Rekatholisierung sind seine Angaben zu konfessionellen Ereignissen, die, wenn auch subtil, seinen Kryptoprotestantismus bestätigen, aber doch ebenso seine Sehnsucht nach einer Verständigung der sich bekämpfenden Konfessionen verraten. Nur andeutungsweise erfahren

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ziemlich authentisch überliefert. Der Anteil Habelschwerdter Autoren ist ab 1579/80 zeitnah geführt, wobei für 1623 oder 1624 von einem Verfasserwechsel auszugehen ist. Rupprecht setzt im Januar 1627 ein. Wenn die Vermutung für sein Geburtsjahr zutrifft (vgl. Anm. 4), war Christoph Rupprecht damals Anfang dreißig, 1663 circa siebzig Jahre alt. Glashoff: Reflexion, 17. Zu den humanistischen Kreisen in Habelschwerdt und Umgebung vgl. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 199–203. Glashoff: Reflexion, 10. Einige Wir-Bezüge des Habelschwerdter Chronisten bis 1623 weisen darauf hin, dass er als Stadtbürger während der kursächsischen Besetzung an militärischen Operationen teilnehmen musste. Kögler 71, 339. Kögler 71, 471: „Den 26 dito [Mai 1639, d. Vf.] ist das Jungkische Regim. hier durch marsirt, nahm bei mir C. R. ein wagen. muß ihn auch getreide dazugeben.“ Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Frank Glashoff. Ebd., 528. In der reformatorischen Periode wurden vermutlich auch in den Dörfern Schulen eingerichtet. Bezeugt ist dies um 1550 für Rengersdorf unter dem damaligen Schwenckfelder Pfarrer und Reformator Johann Werner. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 48.

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Die Trauerpredigt des lutherischen Habelschwerdter Geistlichen David Wisaeus auf Ursula Hasin, die Frau eines Kollegen in Mittelwalde. Im Gegensatz zu seinen Predigten erschien die vermutlich von ihm verfasste Chronik von Habelschwerdt nicht im Druck.

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wir etwas über Kontakte zu protestantischen Soldaten, so wenn er für 1633/34 mehrfach den Durchzug und das Quartiermachen von lutherischen Dragonern betont.58 Die Feststellung, was dies gekostet habe, lässt jedoch vermuten, dass er sie wohl eher als Feinde denn als willkommene Gäste betrachtet. Auch Gustav Adolf von Schweden stellt er nicht als Retter der protestantischen Sache dar, wenn er dessen Belagerung von Frankfurt/Oder schildert oder über die Eroberung Magdeburgs durch Tilly schreibt.59 Doch berichtet er ausführlich (ja fast begeistert) von Gustav Adolfs Einzug in Augsburg, von der Restitution der Augsburgischen Konfession, der Absetzung des dortigen katholischen und der Einsetzung des lutherischen Rats sowie dem Siegeszug des Schweden durch das katholische Bayern.60 Anlässlich der Eroberung von München betont der Chronist, dass der schwedische König sich der „Jesuiter schöne Kirche“ besehen61 und mit dem dortigen Rektor auf Latein über das Abendmahl disputiert habe. Es fehlt aber jede Nachricht zum Tod Gustav Adolfs bei Lützen (16. November 1632). Die Schweden im Land wurden bis zu ihrem endgültigen Abzug 1650 als „Feinde“ betrachtet, vor allem als sie im Juli 1638 in die Grafschaft Glatz einfielen, dort plünderten, den Bauern die Pferde wegnahmen, die Höfe niederbrannten und in die (katholischen) Kirchen einbrachen.62 Die Besetzung der Kleinseite in Prag durch die Schweden am 30. Juli 1648 mit der Gefangensetzung des dortigen Erzbischofs und mehrerer Klosterinsassen kommentiert er eher lakonisch als „große reichliche beute“ der Schweden.63 Den Angriff der ( Jesuiten-)Studenten und des „gemeinen Pöfel“ im Dezember 1648 auf die Schweden wertet er dagegen als eine Gefährdung des von ihm sehnlich herbeigewünschten Friedens.64 Rupprechts kryptoprotestantische Haltung wird jedoch deutlich in der Schilderung der Aktivitäten der Reformationskommission in der Grafschaft Glatz nach 1628.65 Zwar verurteilt er sie nicht, aber die nüchterne Darstellung der Details, so der Gefangensetzung lutherischer Bürger aus Habelschwerdt wegen ihrer protestantischen Einstellung oder des Zwangs zum katholischen Kirchenbesuch durch die Soldaten, zeugt in ihrer Plastizität doch von einer inneren Stellungnahme für die protestantische Sache: „Item von Ostern an hat man Soldaten in die Kirchen bestelt, daß man daß Volck mit gewaldt zum niederknien hat treiben müßen.“66 Dies gilt auch für die Drohung der Reformationskommission mit dem Verlust der bürgerlichen Existenz für die am Protestantismus festhaltenden Einwohner und die Reaktion der Habelschwerdter Bürger: „[...] da hat Melchior Lachnicht sein Handtwerck allein mögen treiben, 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Kögler 71, 438, 442, 445, 449. Ebd., 423, 425f. Ebd., 428f. Ebd., 429. Ebd., 465, 469, 525. Ebd., 566. Ebd., 568. Ebd., 412–415. Ebd., 413.

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sonst niemandt“;67 ebenso für die Folgen der Verweigerung dem Landeshauptmann gegenüber, zum katholischen Glauben zurückzukehren: „[...] als seind ihrer 30. blieben, welche gar nichts von sich haben vernehmen, daß sie hetten woltzusagen, denen werden baldt die Soldaten eingelegt und zu 4. undt auch 6“.68 Die Relation von Gottes Lohn und Strafe in dieser Hinsicht bleibt offen, wenn er für das folgende Jahr 1630 die großen Wunderzeichen am Himmel als Mahnung Gottes für „unsere Sünden“ deutet oder die Missernte und Teuerung im selben Jahr als Heimsuchung „wegen unser vielfaltigen Sünden“ versteht.69 Seine Kommentare zum katholischen Kirchenleben in der Grafschaft Glatz bleiben knapp; sie beziehen sich weitgehend auf den Tod einzelner Pfarrer oder die Flucht der Geistlichen aus dem Land.70 Eine Bikonfessionalität in den einzelnen Territorien scheint ihm in den 1640er Jahren mittels einer friedlichen staatlichen Regelung durchaus möglich. Aufmerksam vermerkt er die Ansätze in dieser Richtung; so wenn 1642 der Kaiser Ferdinand III. dem englischen Gesandten gegenüber die Restitution der Pfalz für den protestantischen Erben Friedrichs V. in Aussicht stellt, wenn diese „die in der Pfalz eingesetzte catholische religion und Jesuiter laßen und schützen wolten“.71 Interessiert verfolgt er die Thorner Konfessionsgespräche, die in dem Jahr (1644) stattfanden, als Christoph Rupprecht mit seinem Pfarrer wegen seines Kryptoprotestantismus in Konflikt geriet. Zu den Gesprächen hatte nach Angaben von Christoph Rupprecht der polnische König Wladislaw IV. eingeladen.72 Er schildert mit Interesse den Verlauf, aber auch das Scheitern. Je länger der Krieg dauerte, desto größer wurde seine Friedenssehnsucht für alle Christen. Bei Abschluss des Friedens in Münster und Osnabrück 1648 bittet er, Gott „wolle diesen Frieden in der gantzen Christenheit erhalten“.73 Und er wiederholt 1650 noch einmal diese Bitte, als nun nach endgültigem Abzug der Schweden von allen Kanzeln der Frieden abgekündigt wird: „Gott helfe, daß dieser beschlossener Frieden bey allen christlichen Hertzen durch die gantze Welt möge reichlichen Nutzen schaffen, u. ewig werendt gehalten werden, auch bey allen christlichen Hertzen ie mehr u. mehr aller Friede wachse undt zunembe.“74 Seine Hoffnung richtet sich also auf eine gesamte friedfertige Christenheit. Auch registriert er nach Ausgang des Krieges (1652) mehrere Engelserscheinungen, die er als Ermahnung zur Buße für alle Menschen deutet, „damit Gott der wolle alle Menschen zu wahrer Buße bekehren, undt seinen gerechten Zorn

67 Ebd. 68 Ebd., 415. 69 Ebd. 70 Ebd., 432. 71 Ebd., 486f. 72 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 515f. Zu den Thorner Religionsgesprächen vgl. Dingel, Irene: Religionsgespräche, IV. Altgläubig – protestantisch und innerprotestantisch. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28. Berlin 1997, 654–681, hier 663. 73 Kögler 71, 568. 74 Ebd., 582.

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nicht über uns ergehen laßen“.75 Mit den Vergehen der Menschen, die Gottes Zorn ­herausfordern, sind vermutlich die zahlreichen Verbrechen, vor allem Morde, gemeint, die er nach dem Krieg konstatiert und die auf eine Verwilderung der Sitten infolge des Krieges schließen lassen.76 Als Bauer registriert er aufmerksam die Herausbildung der Gutsherrschaft und die damit verbundenen Unterdrückungen seiner Standesgenossen. Berichtet er zu Beginn seiner chronikalischen Aufzeichnungen 1627 nur kurz von der Rebellion der Bauern „im Ländlein ob der Ens“, also vom oberösterreichischen Bauernkrieg, und weist er für 1628 darauf hin, „daß die Bauern in Böhmen [...] wegen der Religion rebellisch worden“,77 so schildert er 1660 bis 1663 sehr eingehend den Aufstand und die Flucht der Herbersteinschen Bauern in der Herrschaft Grafenort.78 Sehr drastisch stellt er in diesem Zusammenhang den verzweifelten Selbstmord des Batzdorfer Scholzen im Glatzer Gefängnis dar.79 Beeindruckt haben muss ihn auch der Gang der Frauen der Herbersteinschen Untertanen zum Kaiser nach Wien, um diesen um die Begnadigung ihrer nun schon drei Jahre inhaftierten Männer zu bitten. Von Musketieren wurden sie jedoch am 7. November 1662 nach Arnsdorf/Grafenort zurückgebracht und von dort nach Glatz in die „Bütteley“ gesteckt, wo sie bis Weihnachten gefangen gehalten wurden.80 Ein noch schlimmeres Schicksal konstatiert er 1662 für die Zierotischen Untertanen in Weißenburg, von denen sogar drei hingerichtet wurden, weil sie ihren Herren beim Kaiser wegen überhöhter Frondienste verklagen wollten.81 Am Schluss seiner Berichterstattung im Jahr 1663 beschäftigen ihn die Türkeneinfälle in Mähren und die damit verbundenen Grausamkeiten.82 Damit brechen seine Berichte etwas unvermittelt im September 1663 ab. Christoph Rupprechts Chronik ist nicht nur ein Zeugnis für die Sehnsucht nach Frieden, auch nach konfessionellem Frieden, unter dem „gemeinen Mann“ im Dreißigjährigen Krieg und danach, sondern sie ist auch ein Beleg für die bäuerliche Kultur dieser Zeit in der Grafschaft Glatz. Nicht nur verstand Christoph Rupprecht zu schreiben und zu lesen, sondern vor allem seine Ausrichtung auf das Buch, sei es im Rahmen

75 Ebd., 585, 589, 610. Das Zitat ebd., 590. 76 Glashoff: Reflexion, 137–140. 77 Kögler 71, 412. Zum oberösterreichischen Bauernkrieg von 1626 vgl. Sturmberger, Hans: Adam Graf Herberstorff. Herrschaft und Freiheit im konfessionellen Zeitalter. München 1976, 259– 265. 78 Kögler 71, 599, 600, 602, 609. Zum Aufstand der Bauern in Grafenort – bis 1670 hieß dieser Ort Arnsdorf, und so wird er auch bei Christoph Rupprecht genannt – vgl. Herzig, Arno: Sozialprotest der schlesischen Landbevölkerung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: ders.: Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997, 39–58, hier 51–58. 79 Kögler 71, 608. 80 Ebd., 609f. 81 Ebd., 608. 82 Ebd., 617f.

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seiner Religionsausübung wie auch seiner eigenen Niederschriften, um somit wichtige historische Ereignisse des konfessionellen Zeitalters für das kollektive Gedächtnis zu retten, zeugt von einer gediegenen Bildung. Ob er diese als Kind von dem damaligen lutherischen Geistlichen von Oberlangenau vermittelt bekam, bleibt offen. Zwar benutzt er keine lateinischen Phrasen, aber wo er lateinische Ausdrücke heranzieht, gebraucht er den richtigen Kasus.83 Woher Christoph Rupprecht seine Informationen bekam, verrät er nicht. Andere Autoren, auf die er sich beziehen könnte, werden nicht genannt. Die Nachrichten aus der Nachbarschaft mögen von Dorf zu Dorf weitergetragen worden sein, so die Unglücksfälle, menschlichen Katastrophen, Wetterereignisse, Monstrositäten und Ähnliches. Außer auf Zeitzeugen aus seiner Nachbarschaft beruft sich Christoph Rupprecht auf keinerlei Gewährsleute.84 Das unterscheidet ihn von den „gelehrten“ Chronisten seiner Zeit. Die minutiösen Details, die er von 1631 bis 1650 über die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges in seinem Dorf aufschreibt, die Einquartierungen einzelner Truppenkontingente, ihre Übergriffe, vor allem ihre Kosten stellten er oder die Dorfobrigkeit wohl selbst zusammen. Woher er die Informationen von Ereignissen hatte, die sich nicht in der Grafschaft Glatz abspielten, sondern beispielsweise in Augsburg oder München, bleibt offen. Die schon existierenden „Zeitungen“ kamen wohl kaum bis Oberlangenau.85 Auch bringt er seine Nachrichten sehr bestimmt, ohne den Realitätsgehalt durch vorsichtige Formulierungen wie „können“, „möchten“ oder ähnliche Formulierungen einzuschränken. Christoph Rupprechts Leben und Wirken ist letztlich auch ein Zeugnis für die Grenzen der Konfessionalisierbarkeit.86 Die Monokonfessionalisierung durch die katholischen Habsburger geschah, wie ja auch Christoph Rupprecht für Habelschwerdt belegt, recht gewaltsam. Auch wenn die Rekatholisierung in erster Linie ein Politikum war und die Menschen mit ihrer Konfession vor allem ihre Loyalität gegenüber dem Herrscherhaus dokumentieren mussten, so bezeugten die Menschen in Habelschwerdt und den darum liegenden Dörfern doch auch mit Formen des passiven Widerstands

83 So beispielsweise „in Geometria practica fortificationis“. Ebd., 417. 84 Bei einer seiner letzten Nachrichten heißt es zum Beispiel: „Den 12. Juli [1663, d. Vf.] ist die Scholtzin nach Wien gezogen. Den 4. Augusti ist sie wieder kommen undt böse Post wegen des Türcken mitgebracht.“ Ebd., 616. Da Christoph Rupprecht nur Zeitgenössisches berichtet, ist er auf ältere (vielfach mündliche) Überlieferung nicht angewiesen. 85 ������������������������������������������������������������������������������������������� Schottenloher, Karl/Binkowski, Johannes: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Bd. 1–2. Berlin 1922 [ND München 1985], hier Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Jahre 1848, 235–240. Als Medium könnten in Oberlangenau zeitgenössische Flugblätter bekannt gewesen sein. 86 Schindling, Anton: Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit. In: ders./ Ziegler, Walter (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 1–7. Münster 1989–1997, hier Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register, 9–44, hier 28–31.

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ihre ablehnende Haltung gegenüber der Rekatholisierung.87 Das Zeitalter reformatorischer Bewegungen zeigt sich in der Grafschaft Glatz als eine Zeit eines starken Indifferentismus, wie die Glatzer Synode von 1559 belegt.88 Die meisten Geistlichen wussten nicht, welcher Richtung sie zuneigten.89 Seit den 1560er Jahren entwickelte sich langsam eine Konfessionalisierung im lutherischen Sinn. Von Glatz abgesehen wurden hier die Trennungsgräben weniger zwischen der aus der Defensive heraustretenden katholischen Kirche und der lutherischen Kirche gezogen, sondern zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern. Auch hierbei handelte es sich primär nur um ein Politikum, setzte doch Kaiser Maximilian II. als Landesherr bei der „Vernichtung“ der Schwenckfelder und Täufer hauptsächlich auf die lutherischen Geistlichen in Glatz und Habelschwerdt. Dass diese dabei auf heftigen Widerstand stießen, der Habelschwerdter Pfarrer Elogius sogar meinte, 1577 seine Pfarrstelle wegen der Schwenckfelder verloren zu haben, beweist, dass auch schon im 16. Jahrhundert der Konfessionalisierung in der Grafschaft Glatz Grenzen gesetzt waren.90 Auch nach der erzwungenen Rekatholisierung verhielt es sich nicht anders, obgleich der Habelschwerdter Rat 1638 „Inspektoren der Gottesfurcht“ ernannte, die über den regelmäßigen Gottesdienstbesuch und den österlichen Sakramentenempfang wachen sollten.91 Die Habelschwerdter Bürger reagierten mit Schmähungen des Rats und der Geistlichkeit, mit Weglaufen während der Messe, vor allem bei der Wandlung, aber auch mit „Waschen und Backen“ an Sonn- und Feiertagen, mit schlechtem oder falschem Geld für den Klingelbeutel, nicht zuletzt auch mit dem demonstrativen „verbotene[n] Fleischfressen“.92 Der Widerstand galt auch der Sozialdisziplinierung, die im Zug der Rekatholisierung erreicht werden und nicht zuletzt den Verwilderungen des Dreißigjährigen Krieges Einhalt gebieten sollte. Christoph Rupprecht vertrat keinen kämpferischen Protestantismus, äußerte sich nirgendwo aggressiv gegenüber anderen Konfessionen und Glaubensgruppen, sondern sah das Ideal eher in einem friedlichen Nebeneinander der Konfessionen. Wie er in seiner Familie bewies, lag ihm Zwang in religiösen Fragen fern. In seinem Stoßgebet ­anlässlich einer von ihm für das Jahr 1652 berichteten Engelserscheinung, das im Zusammenhang seines ansonsten nüchternen chronikalischen Berichts als seine persönliche Empfindung zu werten ist, bittet er Gott, alle Menschen zur wahren Buße zu bekehren und seinen gerechten Zorn nicht über sie ergehen zu lassen. Eine konfessionelle Über-

87 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. die Ratserlasse von 1641. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) 93; Volkmer: Grundzüge, 108f.; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 152f. 88 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 51–53. 89 Ebd., 56f.; Conrad, Anne: „Bald papistisch, bald lutherisch, bald schwenckfeldisch“. Konfessionalisierung und konfessioneller Eklektizismus. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/1998) 1–25, hier 1–6 90 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 65–68. 91 Volkmer: Grundzüge, 108f. 92 Ebd.

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heblichkeit ist hier nicht zu spüren. Alle Menschen provozierten durch ihre Sünden den Zorn Gottes, der nur mittels Buße zu besänftigen sei. Die Grafschaft Glatz, die im 19. Jahrhundert als typisch katholische Gegend galt, hatte bis dahin eine recht komplexe Entwicklung erlebt, bei der Zwang, Verunsicherung und Widerstand vor allem im 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielten. Die Menschen fügten sich den staatlichen und kirchlichen Vorgaben nicht einfach, sondern versuchten, ihre eigenen Welten zu behaupten. Ein Beispiel dafür ist Christoph Rupprecht.

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6. Die Jesuiten im feudalen Nexus. Der Aufstand der Ordensuntertanen in der Grafschaft Glatz im ausgehenden 17. Jahrhundert Als die katholischen Fürsten ab den 1580er Jahren daran gingen, in ihren Territorien das cuius regio eius religio-Prinzip des Augsburger Religionsfriedens von 1555 durchzusetzen, hätten sie das kaum mithilfe der alten Adels- beziehungsweise Reichskirche vermocht.1 Diese war trotz der Reformation und auch des Trienter Konzils immer noch primär an Pfründenbesitz und Herrschaftssicherung interessiert, nicht aber an Reformen. Für die Rekatholisierung ihrer alten oder auch neu hinzugewonnenen Territorien stand den Fürsten jedoch der Jesuitenorden zur Verfügung. Als wichtigstes Ziel seiner Arbeit sah dieser Orden die „Verteidigung und Verbreitung des Glaubens und Förderung der Gläubigen in christlichem Leben und christlicher Lehre“.2 Unter „christlicher Lehre“ verstand die Gesellschaft Jesu ausschließlich die katholische Lehre. Die Monokonfessionalisierung im Zug staatlicher Verdichtung garantierte den katholischen Fürsten die geistliche Verfügung über ihre Untertanen. Die einheitliche Konfession führte zu einer stärkeren Identifikation der Letzteren mit dem Herrscher. Außerdem gelang es dem Fürsten, mithilfe der erzwungenen Monokonfessionalisierung alle konkurrierenden Machtträger, vor allem die Stände, auszuschließen und zudem auch die Verfügungsgewalt über den Besitz der in der Reformation aufgelösten geistlichen Institutionen zu erlangen. Verbunden mit der Monokonfessionalisierung war die Sozialdisziplinierung; denn die zahlreichen neu erlassenen Polizeiordnungen regelten nicht nur das geistliche, sondern auch das alltägliche kollektive Leben der Untertanen im Sinn einer stärkeren Zucht.3 In diesem Prozess vertraten die Jesuiten nicht nur die „allein seligmachende“ katholische Konfession gegenüber den konkurrierenden protestantischen Konfessionen, sondern auch die Macht des Fürsten als alleinige Obrigkeit gegenüber allen konkurrierenden ständischen Ansprüchen. Da der Orden sich als nahezu einziger Garant der Rekatholisierung verstand, beanspruchte er für sich auch die ökonomischen Ressourcen der alten Kirche. Zahlreiche Klöster und Stifte mitsamt ihrem Feudalbesitz kamen so in den Besitz des Jesuitenordens, sodass dieser bald mit den alten Orden gleichziehen 1 Ziegler, Walter: Altgläubige Territorien im Konfessionalisierungsprozeß. In: Schindling, Anton/ Ziegler, Walter (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 1–7. Münster 1989–1997, hier Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register, 67–90, hier 85f. 2 Duhr, Bernhard: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Bd. 1–4. Freiburg/Br. 1907–1928, hier Bd. 1: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge im XVI. Jahrhundert, 485–490; Schertl, Philipp: Die Amberger Jesuiten im ersten Dezennium ihres Wirkens (1621–1632). In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 102 (1962) 101–194, hier 105. 3 Reinhard, Wolfgang: Was ist katholische Konfessionalisierung? In: ders./Schilling, Heinz (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Münster 1995, 419–452, hier 432–435.

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konnte. Die Zentren des neuen Ordens, die Kollegien, wurden ausschließlich in den Städten errichtet. Auch hier zählten die Jesuiten bald zu den größten ­Grundbesitzern. Wo sich die Möglichkeit bot, versuchte der Orden, wenn auch in kleinerem Maßstab, ein unabhängiges geistliches Territorium zu errichten. Dabei trat er sogar in Auseinandersetzung mit konkurrierenden geistlichen Territorialherren, wie dies im Fall der westfälischen Edelherrschaft Büren geschah, über die der Fürstbischof von Paderborn die Oberherrschaft für sich beanspruchte. Der letzte Edelherr dieser Herrschaft, Moritz von Büren, war 1644 dem Jesuitenorden beigetreten und hatte diesem testamentarisch seinen Besitz Büren, Ringelstein und Vollbrexen vermacht. Die wegen zahlreicher Erbteilungen und auch wegen Lehensannahme von Paderborn komplizierten Hoheitsverhältnisse interpretierten Moritz von Büren sowie der Orden dahingehend, dass die Herrschaft Büren zwar im Bistum, das heißt in der Diözese, Paderborn liege, aber keineswegs zum fürstlichen Territorium Paderborn gehöre. Fürstbischof Dietrich von Fürstenberg akzeptierte diese Interpretation keineswegs und besetzte am 8. August 1657 gewaltsam mit vierhundert Mann Stadt und Herrschaft Büren. 1660 kam ein Vertrag zwischen dem Fürstbischof und dem Jesuiten Moritz von Büren zustande, in dem Letzterer die Oberhoheit des Fürstbischofs anerkennen musste. Als nach dem Tod Moritz von Bürens 1661 die Herrschaft endgültig an den Orden fiel, wollte dieser die Oberhoheit des Paderborners nicht gänzlich akzeptieren, sodass es 1691 erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, bei denen sechs Ordensmitglieder von Soldaten weggeführt wurden. Erst 1714 anerkannte der Orden endgültig die Hoheitsrechte des Paderborner Fürstbischofs.4 Symbolisch demonstrierten die Jesuiten ihre Macht nicht in einem adligen Lebensstil der Ordensoberen oder auch der Patres, sondern in ihren Bauten, die mit dem Renaissance- beziehungsweise Barockstil auch nach außen hin den Sieg der wiedererstarkten katholischen Kirche sinnfällig machen sollten.5 Wenn auch im Lebensstil auf feudales Gepränge verzichtet wurde, so sollte sich doch zeigen, dass der Orden als Feudalherr über seine Untertanen herrschte wie jeder andere Feudalherr und dass er im Zug der Errichtung der Gutsherrschaft auf die sozialen Belange seiner Untertanen genau so wenig Rücksicht nahm wie die alten adligen Orden oder die weltlichen Gutsherren. Der Jesuitenorden passte sich dem feudalen Nexus ohne Schwierigkeiten an; bei 4 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Heiß, Gernot: Die Bedeutung und Rolle der Jesuiten im Verlauf der innerösterreichischen Gegenreformation. In: Dolinar, France Martin u. a. (Hg.): Katholische Reform und Gegenreformation in Innerösterreich 1564–1628. Graz/Wien/Köln 1994, 63–76, hier 74; Duhr: Geschichte der Jesuiten, Bd. 1, 327–330; ebd., Bd. 3: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge in der 2. Hälfte des XVII. Jahrhunderts, 60f.; Segin, Wilhelm/Bauermann, Johannes: Büren. In: Zimmermann, Walther/Borger, Hugo (Hg.): Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Bd. 3: Nordrhein-Westfalen, 119f.; Rosenkranz, Georg Josef: Die ehemalige Herrschaft Büren und deren Übergang in den Besitz der Jesuiten. In: Westfälische Zeitschrift 8 (1845) 125–251. 5 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Baumgarten, Jens M.: Die Gegenreformation in Schlesien und die Kunst der Jesuiten. Das Transitorische und das Performative als Grundbedingung für die Disziplinierung der Gläubigen. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/1998) 29–163, hier 132–140.

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Konflikten mit seinen Untertanen nutzte er alle Mittel seiner Macht und Beziehungen. Im Folgenden soll an einem Beispiel aus der böhmischen Grafschaft Glatz verdeutlicht werden, wie es zu langjährigen Auseinandersetzungen mit Ordensuntertanen kam, die sich den verschärften Bedingungen der Gutsherrschaft widersetzten. Die ersten Jesuiten ließen sich 1597 von Prag her kommend in dem fast ausschließlich protestantischen Glatz nieder. In der Rekatholisierungsphase Kaiser Rudolfs  II. während der 1590er Jahre war ihnen von zwei kaiserlichen Räten und vom Propst der Prager Domkirche Graf Leopold Popel von Lobkowitz das Glatzer Augustinerchorherrenstift, auch Domstift genannt, übergeben worden. Das Stift war 1350 vom Prager ­Erzbischof Arnestus von Pardubitz gegründet und ausgestattet worden. Arnestus hatte in Glatz in der Schule des dortigen Johanniterordens seine Kindheit und Jugend verbracht und die Pfarrkirche zu seinem Begräbnisort bestimmt. Das Augustiner- beziehungsweise Domstift bildete das Zentrum bischöflicher Macht in Glatz und der gleichnamigen Grafschaft, die zur Prager Erzdiözese gehörte. Den Fundus des Stifts bildeten mehrere Güter in den umliegenden Dörfern sowie die Dörfer Niederschwedeldorf, Altbatzdorf und Altwilmsdorf. Um den weiteren Niedergang des Stifts im 16. Jahrhundert zu verhindern – 1583 musste der damalige Propst wie bereits sein Vorgänger sein Amt wegen seines lasterhaften Lebenswandels niederlegen –, brachte der Prager Erzbischof Martin Medeck auf Empfehlung des Kaisers mit Christoph Kirmeser einen Mann in dieses Amt, der zwar nicht dem Augustinerchorherrenorden angehörte, aber als ehemaliger Jesuitenzögling das katholische Stift zu retten versprach. Kirmeser, eine typische Figur der Gegenreformation, plante wohl von vornherein, im Zug der kaiserlichen Rekatholisierungspolitik mithilfe der Jesuiten den Einfluss der Protestanten in dieser Stadt zurückzudrängen.6 Über das Patronatsrecht der Stadtpfarrkirche verfügten die Komture der Johanniterkommende, die weitgehend der protestantischen Lehre zuneigten und gegen die Besetzung des Pfarramtes mit protestantischen Predigern nichts einzuwenden hatten, nachdem der Magistrat die Finanzierung der Prediger übernommen hatte. Der Versuch Kirmesers, nach dem Tod des lutherischen Predigers Andreas Eising 1591 mithilfe des obersten Johanniterordenspriors Leopold Lobkowitz einen „ausgezeichneten Gottesgelehrten aus der Gesellschaft Jesu“ in das Predigeramt zu bringen,7 scheiterte am gewaltsamen Widerstand der Glatzer Bürger. Gegen den Willen des Prager Erzbischofs gelang es Kirmeser vier Jahre später, dass auf sein Ersuchen hin und nach seiner Resignation als Propst Papst Clemens VIII. am 9. März 1595 die Ordensgemeinschaft der Augustinerchorherren in Glatz auflöste und das Stift mit seinen Besitzungen trotz des Widerstands des Prager Erzbischofs den Jesuiten übergab.8 Bei 6 Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 86–101. 7 Bach, Aloys: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis auf unsere Tage [...]. Nebst einem Anhange: Geschichtlich statistische Darstellung aller Gläzer Pfarreien und Kirchen mit deren geistlichen Vorstehern, so wie der Schulen im Jahre 1841. Breslau 1841, 149f. 8 Ebd., 154.

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der Übernahme am 29. September 1597 wurden die Stiftsuntertanen angewiesen, ihrer neuen Herrschaft Treue und Gehorsam zu geloben.9 In den folgenden Jahren betrieben die Glatzer Jesuiten eine gezielte Arrondierungspolitik, um ihren Grundbesitz abzurunden und damit auch ihre Herrschaftsrechte auszubauen, wobei der protestantische Adel durchaus mitspielte, auch wenn er dies später (1619) in seinen Gravamina anders darstellte.10 Der Orden scheint von Anfang an von seinen Rechten rigoros Gebrauch gemacht zu haben, so auch von der Blutgerichtsbarkeit, die den Jesuiten seit 1613 in Altwilmsdorf zustand; in diesem Jahr hatten sie das Obergericht von der kaiserlichen Kommission erworben.11 In den folgenden Jahren wurden mehrere Diebe von diesem Obergericht zum Tod verurteilt und an dem 1616 errichteten Galgen gehängt, nachdem das Todesurteil unter freiem Himmel vor dem Erbrichterhof gefällt worden war.12 Die bäuerlichen Untertanen aus den ihnen gehörenden Dörfern zogen die Jesuiten in Glatz auch zur Demonstration des wieder erstarkten katholischen Glaubens heran. Obgleich die Stadtbewohner fast ausschließlich protestantisch waren, veranstaltete der Orden seit 1601 wieder Fronleichnamsprozessionen in Glatz, an denen auch – wie 1610 – der Breslauer Bischof und spätere Landesherr der Grafschaft Glatz, Erzherzog Karl, teilnahm. Die bäuerlichen Untertanen und ihre Familien zogen dabei, nach Geschlechtern und jeweiligem Ehestand getrennt, seit 1601 in der Prozession „mit Fahnen und Kreuzen“ mit und „sangen in Landessprache die alten Kirchenlieder“.13 Der Bericht in den „Annuae litterae“ hebt dabei bewusst auf die 9 Ebd., 155. 10 Richter, Johannes: Über die beiden Rittergüter Ober- und Nieder-Altwilmsdorf. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) 47–59, hier 53f.; zum Gütererwerb vgl. Kögler, Joseph: Die Chroniken der Grafschaft Glatz. Hg. v. Dieter Pohl, Bd. 1–5. Modautal/Köln 1992–2003, hier Bd. 3: Die Chroniken der Dörfer, Pfarreien und Herrschaften des Altkreises Glatz, 151, 413; ebd., Bd. 2: Die Pfarrei- und Stadtchroniken von Glatz – Habelschwerdt – Reinerz mit den zugehörigen Dörfern, 104f. 11 Richter: Rittergüter, 55; Bretholz, Berthold (Bearb.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 6/3: Das Pfarrei-Archiv in Glatz und das Köglersche Urkunden- und Aktenarchiv in der Pfarrei Ullersdorf. Glatz [1928], 109, Nr. 518. 12 Richter: Rittergüter, 5. Offen bleibt, wer dem Obergericht der Jesuiten in Altwilmsdorf vorsaß, wenn dieses Todesurteile fällte, da Geistliche dieses Amt nicht ausüben durften. Dem örtlichen Schöppengericht, das im Fall der niederen Gerichtsbarkeit die Urteile fällte, saßen „auf Konsens und Zulassung“ des jeweiligen Rektors ein „verordneter Gerichtsverwalter“ und die „geschworenen Schöppen“, weitgehend Bauern aus dem Dorf, vor. Archiwum Państwowe we Wrocławiu: Heimaturkundei Grafschaft Glatz Kolekcja 252: Schöppenbuch Altwilmsdorf (1679–1724). 13 Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2229: Annuae litterae 1598–1696, 15: „[...] Auditae inter alias gratulationis etiam ejus modi voces, jam cum moribus et pristinis ritibus, reditura saecula priora, quibus bene habuissent. Majora vero Catholicorum gaudia fuere ipso die Corporis Christi sacro cum publice solemni pompa ac tot annorum lustris sepulta magnum illud sacro sanctae Eucharisticae Sacramentum circumfertur. Decendimus per civitatis plateam more modoque in processionibus communi frequentissimo concursu ex vicinis pagis utriusque sexus hominum Catholicorum adstabant, Utrimque ex civitate varii ordinem spectantem, quem turbare ausi non sunt [...].“ Aus lutherischer Sicht stellt der zeitgenössische

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Einblattdruck der Altwilmsdorfer Wallfahrt von 1720. Mit der Erfindung der beweglichen Lettern entstanden die Einblattdrucke als wichtiges Kommunikationsmittel der Frühen Neuzeit. Die Wiedergabe des Ortes Altwilmsdorf entspricht nicht der Realität.

Tradition der vorreformatorischen Zeit ab, um mit diesem historischen Argument die Ansprüche der katholischen Konfession in dieser Stadt hervorzuheben. Wieweit die bäuerlichen Untertanen hierbei freiwillig handelten, muss offenbleiben, doch waren Altwilmsdorf, Niederschwedeldorf und Altbatzdorf die einzigen Dörfer der Grafschaft, deren Einwohner kontinuierlich katholisch geblieben waren. Nach über zwanzig Jahren endete 1618 die erste Periode der Jesuiten in Glatz. Nach dem Prager Fenstersturz übergaben am 8. Juni die Amtsverwalter der Grafschaft Glatz Glatzer Chronist, der Schneider Pancratz Scholtz, das Ereignis wie folgt dar: „1601 Den Tag vor Himmelfart Christi seint des Paters aufm Thum Unterthanen, als ihre gantze Paurenschaft, mit ihren Pristern zu Niederschwedeldorf, undt Wilmsdorf gen Glatz auf den Thum mit viel Fahnen und Kertzen in die Kirche in der Procession ihrer Abgötterey mit gesammelten Hauffen sambt ihren Weibern gegangen, alda der abgötischen Observanz beygewohnet, und darnach eine Verfürerische Predigt aufm Tum von Jesu – widern angehört, nochmals wiederumb mit versamleten Haufen wieder mit ihrer Process heimgegangen. Gott volle zu seiner Zeit ihre Abgöttery wehren, oder ja sie zu götlicher erkentnuß leuten, und von ihrem gottlosen Wesen abwenden.“ Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Nachlaß Kögler Nr. 17 III, unpag. [312].

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Christoph von Donig und Bernhard von Pannwitz im Namen der Glatzer Stände das Dekret der Prager Direktoren „an die Sozietät der Jesuiten daselbst in dem Closter der Stadt Glatz“.14 Die Jesuiten mussten die Stadt und das Land verlassen. Ihre Kirche und das Kolleg, das sie nach umfangreichen Umbauten im ehemaligen Domstift eingerichtet hatten, wurden von den Glatzer Ständen zunächst „verschlossen, versiegelt und bewacht“.15 Die Truppen des Kapitän von Sembling, die die Stadt bis 1622 gegen die kaiserlichen Truppen verteidigten, zerstörten ab 1620 weitgehend die Kirche und das Kolleg, weil diese im Festungsbereich lagen. Die Reste wurden in den Mauerring des Schlosses einbezogen. Diese Reste wurden dann 1622 bei der Beschießung des Burgberges endgültig zerstört, „das also anjetzo das vörige Gemawer davon fast keiner Kirche mehr ehnlich siehet“.16 Nach der Eroberung von Glatz durch die kaiserlichen Truppen am 26. Oktober 1622 war für die Jesuiten der Weg wieder frei, in die Stadt zurückzukehren. Sie konnten nicht nur damit rechnen, ihre früheren Rechte und Besitzungen wiederzubekommen, sondern darüber hinaus, reichlich entschädigt zu werden. Am 31. März 1623 kamen die ersten Jesuiten wieder zurück und erhielten, da ihr Kolleg zerstört war, von Kai14 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 104. In Abwesenheit des Rektors nahm der Prokurator P. Simon Praunstein den Ausweisungsbefehl entgegen. P. Simon Praunstein oder Braunstein (1571–1624) gilt als einer der bedeutendsten schlesischen Komponisten seiner Zeit. Er komponierte Litaneien und Hymnen, unter anderem auch mit deutschen Texten. Zudem gilt er als einer der ersten Oratorienkomponisten in Deutschland. Vgl. Schwiwietz, Lucian: Musik und Musikleben der Grafschaft Glatz. Ein Überblick. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 37 (1994) 103–121, hier 107; die „Annuae litterae“ des Glatzer Jesuitenkollegs rühmen ihn in einem Nachruf zu seinem Tod am 8. Juli 1624: „[...] rerum collegii procurator, artuosus fuit et impiger in rebus [...] Catechista et concionator gratus utilisque, haereticorum disertus, Antagonista, sacrum cantionum contionator [...].“ Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2229, 55. 15 Zu den Umbauten vgl. die begeisterte Darstellung des lutherischen Predigers Georg Aelurius in seiner Glaciographia, Oder Glätzische Chronica/ Das ist: Gründliche historische Beschreibung der berümbten und vornemen Stadt/ ja gantzen Graffschafft Glatz/ nach allen vornemsten Stücken. Auch von was vor hoher Obrigkeit [...] sie [...] regieret worden [...]. Leipzig 1625, 320f.; Annuae litterae 1598–1696, 26; Kahlo, Johann Gottlieb: Denkwürdigkeiten der Königlichen Preußischen souverainen Grafschaft Glatz von ihrem ersten Ursprunge bis auf gegenwärtige Zeiten. Berlin/Leipzig 1757, 154–160; Schulte, Wilhelm: Beiträge zur Geschichte des Schulwesens in Glatz und des Gymnasiums insbesondere. In: Festschrift zur Feier des dreihundertjährigen Bestehens des Königlichen Katholischen Gymnasiums zu Glatz 1597–1897. Glatz 1897, 74–102, hier 91; zur Vertreibung (1618) Bach: Kirchen-Geschichte, 195f.; wie sehr gerade die Jesuiten von den böhmischen Ständen als Gegner angesehen wurden, beweist der Verbannungsbeschluss, der am 9. Juni 1618 in deutscher und tschechischer Sprache publiziert wurde. In ihm werden die Jesuiten als Kriegstreiber beschuldigt. Ebd., 197f. 16 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Aelurius: Glaciographia, 327f.; von dem Hass auf die Jesuiten zeugen auch die Leichenschändungen, die die Soldaten Semblings an den toten Jesuiten begingen: „Sie haben die Grufte und Gräber/ in welchen die Jesuitischen Patres begraben liegen/ auffgemacht/ und haben etlichen die Arme vom Cörper abgerissen/ haben ihnen Maulschellen gegeben/ und ihnen die Kleider/ mit welchen sie waren begraben worden/ außgezogen [...].“ Ebd., 330; Kögler: Chroniken, Bd. 2, 106f.

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ser Ferdinand II. beziehungsweise dem damaligen Landesherrn, seinem Bruder Karl, dem Breslauer Bischof, das Haus der Landstände zugewiesen. Wie die „Annuae litterae“ ausweisen, zählte Erzherzog Karl schon vor 1618 zu den großen Förderern der Glatzer Jesuitenniederlassung, deren Kollegbau er weitgehend mitfinanziert hatte. Nun versprach er ihnen, als Ersatz für das zerstörte Kolleg die Johanniterkommende zum Aufbau eines neuen Kollegs einzuräumen.17 Karls Ambitionen zugunsten der ­Jesuiten gingen, wie schon bei der Übergabe des Augustinerchorherrenstifts, wiederum auf Kosten einer anderen Ordensinstitution. Die Johanniter hatten nach Ansicht der Kräfte, die nun die Rekatholisierung zügig durchführen wollten, aufgrund ihrer nachgiebigen Haltung gegenüber den Protestanten erheblich zum Niedergang der Alten Kirche in Glatz beigetragen.18 Wichtiger als die Übertragung des umfangreichen Kommendenbesitzes in der Stadt und auf dem Land war das damit verbundene Patronatsrecht an der Glatzer Stadtpfarrkirche. Neben dem feudalen Fundus der Johanniter, für den diese mit Besitzungen in Maidelburg entschädigt wurden, ließen der Kaiser und sein Bruder, der neue Landesherr, den Jesuiten weiteren Feudalbesitz und Feudalrechte mit Untertanen in Mügwitz, Oberschwedeldorf und Altheide zukommen. Obgleich der Grundbesitz des Ordens in der Grafschaft Glatz vor allem nach 1623 recht umfangreich war, kam für ihn die Bildung einer eigenen kleinen unabhängigen Herrschaft nicht infrage. Trotz diverser Pfandschaften im 16. Jahrhundert gehörte die Grafschaft nach 1622 fest zur böhmischen Krone und damit zu Habsburg. Über sie bestimmten der königliche Landeshauptmann und sein Amt in Glatz. An dieser Oberhoheit hatten die Jesuiten nie Zweifel aufkommen lassen. Wie die anderen Adligen des Landes verfestigten auch sie nach 1622 ihre Gutsherrschaft und verfügten über ihre Untertanen mittels der Schollenpflichtigkeit, aus der der einzelne Untertan (subditus/subdita Societatis Jesu) freigegeben werden musste. Zentraler Ort der Ordensherrschaft blieb auch nach 1623 Altwilmsdorf, wo der Orden, ebenso wie in den benachbarten Dörfern Niederschwedeldorf und Altheide, die Herrschaft auszubauen versuchte. Zugute kam ihm dabei die Konfiskation des Besitzes der „Rebellen“, die Ferdinand II. in der Grafschaft Glatz durchführen ließ. So erstanden die Jesuiten 1626 von der königlichen Kammer das Rittergut in Altwilmsdorf, das ein Jahr zuvor dem Adligen Christoph Peschke weggenommen worden war. Als „Rebell“ verlor dieser im Prozess seinen gesamten Besitz, zudem wurde er aus der Grafschaft Glatz verwiesen.19 Den Jesuiten gehörten nun nicht 17 Kögler: Chroniken, Bd. 2, 107f.; Annuae litterae 1598–1696, 22f. 18 Das wird deutlich in einem Schreiben des damaligen Glatzer Dekans Hieronymus Keck (1625) über den Glatzer Johanniter-Komtur. Parafia p. w. Wniebowzęcia NMP Kłodzko, II C 6a, 10. 01. 09; Bach: Kirchen-Geschichte, 398. 19 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zur habsburgischen Landesherrschaft in der Grafschaft Glatz vgl. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 109–123; Kögler: Chroniken, Bd. 2, 107f.; ebd., Bd. 3, 197, 413; zum Umfang des Jesuitenbesitzes in der Grafschaft Glatz 1653 vgl. Blaschka, Anton: Die Grafschaft Glatz nach dem Dreißigjährigen Kriege. Studien auf Grund der Glatzer Rolla. In: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 1 (1926) 43–146, hier 53f. Zur Entlassung der Ordensuntertanen vgl. Bretholz (Bearb.): Geschichtsquellen, Bd. 6/3, Nr. 10, 1–11.

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nur das Dorf, die Untertanen, das Patronats- und das Gerichtsrecht, sondern auch alle herrschaftlichen Güter dieses Dorfes, in die zuvor 1603 für 1.680 Taler das Freirichtergut inkorporiert worden war.20 Ferner besaßen sie das Freirichtergut in Ebersdorf bei Neurode und in Obersteine, wobei zwischen dem Besitz des Jesuitenkollegs und des Jesuitenseminars zu unterscheiden ist. So gehörte das Freirichtergut in Obersteine dem Jesuitenseminar. Damit verfügten die Jesuiten auch über den Dorfkretscham, den für die Bauern und Häusler wichtigsten Kommunikationsort.21 Entschädigungen, Käufe und Schenkungen ergaben nach dem Dreißigjährigen Krieg für die Glatzer Jesuiten einen stattlichen Besitz, wie 1653 die Besitzaufnahme vonseiten der böhmischen Kammer ausweist, die in der sogenannten Glatzer SteuerRolla festgehalten wurde. Demnach besaß der Orden im Glatzer Kreis die Dörfer Werdeck, Mügwitz, Soritsch, Altbatzdorf, Altwilmsdorf und Niederschwedeldorf; ferner große Besitzungen und Rechte in den Dörfern Königshain, Halbendorf, Reichenau, Altheide, Rengersdorf und Eisersdorf; im Wünschelburger Kreis das Dorf Ebersdorf und große Besitzungen in Schlegel, Dürr-Kuntzendorf, Obersteine und Mittelsteine.22 Insgesamt bestimmten die Glatzer Jesuiten durch die Besitzungen ihres Kollegs über 351 Untertanen. Von diesen waren 152 Bauern, 101 Häusler (Chalupner) und 98 Gärtner. Dazu kamen 58 Untertanen (19 Bauern, 20 Häusler, 19 Gärtner), die zu den Besitzungen des Seminars gehörten. Gemessen an den Untertanen, waren die Jesuiten nach der Adelsfamilie von Röder die bedeutendsten Feudalherren der Grafschaft Glatz und rangierten noch vor der damals bedeutendsten Adelsfamilie der Grafschaft, nämlich den Reichsgrafen von Herberstein. Dasselbe gilt für den Besitz von Ackerland. Insgesamt nahm das Kolleg 1650, als die Schweden noch im Land standen, 13.330 Gulden ein. Mit 94 Untertanen (31 Bauern, 12 Häuslern und 51 Gärtnern) und 792 Scheffel Ackerland war Altwilmsdorf der bedeutendste Besitz des Ordens. Während die ländliche Einwohnerschaft in der Grafschaft zu 43 Prozent aus Bauern (2.623), zu 27 Prozent aus Häuslern (1.670) und zu 30 Prozent aus Gärtnern (1.860) bestand, entfielen von den 60.344 Scheffel Ackerland 56.225,5 auf die Gruppe der Bauern (= 93,2 Prozent) und nur 4.118,5 Scheffel auf die der Häusler (= 6,8 Prozent). Von der allgemeinen Statistik der Grafschaft Glatz weicht die Sozialstruktur in Altwilmsdorf insofern ab, als von den 94 bäuerlichen Stelleninhabern die Bauern nur etwa 33 Prozent, die Häusler circa 12 Prozent, die Gärtner aber gegen 55 Prozent ausmachten. Das verschärfte von vornherein die sozialen Bedingungen.23 20 Blaschka: Grafschaft Glatz, 58; zur Bedeutung der Freirichter und ihrer steuerfreien -güter vgl. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 141–143. 21 Richter: Rittergüter, 59. 22 Blaschka: Grafschaft Glatz, 53–58. Dazu kamen Bürgerhäuser und Höfe in Glatz und der Glatzer Vorstadt. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 131. 23 Die Familie von Röder verfügte über 701, die Reichsgrafen von Herberstein über 299 Untertanen. Blaschka: Grafschaft Glatz, 77, 79, 81. Mit dem Seminarbesitz zusammen besaßen die Jesuiten 5.196 Scheffel Ackerland, die von Röder 7.248, die Reichsgrafen von Herberstein 2.035. Die bäuerlichen Besitzungen lagen bei etwa 15–30 Scheffel Ackerland, die der Häusler oder Chalup-

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Der Gütererwerb der Jesuiten beschränkte sich nicht nur auf die ökonomische Absicherung durch einen größeren Fundus, sondern schloss den gezielten Ausbau der Gutsherrschaft mit ein. Als subditi Societatis Jesu hatten die Untertanen nicht nur fest umrissene Abgaben abzuführen, sondern vor allem bestimmte Dienste zu leisten. Um die Höhe dieser Dienste und ihre Bezahlung ging es seit 1682 in dem Protest der Altwilmsdorfer Häusler und Gärtner. Der Protest und Widerstand dauerte fast zehn Jahre. Dabei setzten die Jesuiten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um den Gutsuntertanen ihre Bedingungen zu diktieren. Die Heraufsetzung der Dienste und die Absicherung der Gutsherrschaft hingen mit den Baumaßnahmen in Glatz zusammen, mit denen der Orden bald nach dem Krieg begann und die symbolisch dessen Macht demonstrieren sollten. Noch während des Krieges plante der Orden unter dem Rektor Georg Bohati den Neubau des Kollegs, das inmitten der Stadt an der Stelle der ehemaligen Johanniterkommende errichtet werden sollte. Der Ordensgeneral in Rom erteilte allerdings erst 1654 die Bauerlaubnis. Im selben Jahr noch schloss der damalige Glatzer Rektor Marco Mariano einen Vertrag mit dem italienischen Baumeister Carlo Lurago, einem der gefragtesten Architekten seiner Zeit in Prag. Er sollte 3.500 Gulden für den Bau erhalten und war verpflichtet, einen erfahrenen Polier sowie die Maurer und Handlanger zu stellen, während der Rektor die Baumaterialien und die Werkzeuge beschaffen sollte. Lurago war durch den Vertrag lediglich gebunden, sich im Jahr zwei- oder dreimal vom Fortgang des Baus zu unterrichten, während die Ausführung weitgehend bei den italienischen Maurern, Polieren und Künstlern lag, die er aus Prag mitgebracht hatte.24 Für den Materialtransport und wohl auch die Hilfsarbeiterdienste am Bau wurden die Ordensuntertanen herangezogen. Trotz des Kapitals, über das das Glatzer Kolleg verfügte, ging der Bau nur schleppend voran. Das Material sei zwar da, aber es mangele an Geld zur Weiterführung des Baus, schrieb der Rektor P. Arnold a Campo im April 1661.25 Im Sommer 1662 bauten die Bauleute am Südflügel, wobei es im September 1662 zu einem neuen Vertrag mit Lurago kam, da die Baukonzeption leicht variiert wurde. Lurago, der zu dieser Zeit hauptsächlich mit dem Bau des Passauer Doms beschäftigt war, hielt sich bei dieser Gelegenheit wohl das letzte Mal in Glatz auf. Den Bau führte sein italienischer Polier Andrea Carova weiter, aber auch der Glatzer Baumeister Augustin Reinsberger.26 Erst um 1690 war der Bau des Kollegs abgeschlos-

ner 1–6 Scheffel. Ebd., 63. Während die Bauern und Häusler Ackerbau betrieben, die Häusler allerdings weitgehend ohne Gespann, lebten die Gärtner von ihren Diensten und dem Wiesenland, über das sie verfügten, das aber weitgehend nur für ein Milchvieh (Kuh oder Ziege) reichte. Ebd., 60f. In den Schöppenbüchern wird allerdings nicht immer scharf zwischen Häuslern und Gärtnern unterschieden. 24 Bach: Kirchen-Geschichte, 398–402; Duras, Amelie: Die Architektenfamilie Lurago. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte Böhmens. Phil. Diss. Köln. Prag [1933], 38–42. 25 Ebd., 39. 26 Ebd., 40; zur Tätigkeit der italienischen Baumeisterfamilie Carova in der Grafschaft Glatz vgl. den Beitrag „Die Entstehung der Barocklandschaft in der Grafschaft Glatz“ in diesem Band.

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sen. Der Protest der Altwilmsdorfer Ordensuntertanen, der 1682 begann, fiel also in eine Zeit, als der Bau noch voll im Gang war. Diese Auseinandersetzung der Altwilmsdorfer Gärtner und Häusler um die Höhe der Dienste und die Bezahlung zog sich bis zur letztendlichen Unterwerfung am 4. Januar 1692 fast zehn Jahre hin.27 Im Gegensatz zu den übrigen Widerstandsaktionen bäuerlicher Untertanen, die im 17. Jahrhundert in der Grafschaft Glatz gegen den Ausbau der Gutsherrschaft stattfanden, bildeten beim Altwilmsdorfer Protest nicht die Bauern, sondern die unterbäuerlichen Schichten die Protestträger.28 Nach Angaben der Häusler waren die Bauern vor Jahren ebenfalls zu einem Tag Robot in der Woche gezwungen worden.29 Den Protest eröffneten die „gehorsambte[n] Gärttner und Häußler zu Alt Wilmsdorff “ am 10. April 1683 mit einem Schreiben an den Glatzer Rektor, P. Christoph Nonner, in dem sie anführten, „waß sie vor Zeiten für Arbeit gethan, und wie sie destwegen belohnet wurden“. Gleichzeitig „beschweren [sie] sich über ietzig wöchentlich ein Robbottag, daß Sie anselben daß Claffter Holtz schlagn, auch das Seewerckgeldt bezahlen sollen“.30 In ihren Gravamina stellten die Häusler und Gärtner nicht infrage, dass der Rektor die „von Gott verordnete unsere gnädige Obrigkeit“ sei, 27 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Für die Jesuiten war dies ein „gemeiner Aufstand“, dessen Bedeutung daraus erhellt, dass der Orden alle „Schriften und Acten zwischen dem Collegio undt denen altwilmsdorffer Gärtnern und Häuselleuthen wegen wöchentlicher Robotstage“ einheitlich abschreiben ließ und in einem 243 Seiten umfassenden Faszikel zusammenfasste. Er enthielt für alle künftigen Auseinandersetzungen, sollte es dazu kommen, die Basisargumente des Ordens. Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2749. 28 Das gilt vor allem für den Aufstand der Herberstein-Untertanen in der Herrschaft Arnsdorf/ Grafenort, der von Mitte der 1650er Jahre bis 1684 dauerte und bei dem es wie in Altwilmsdorf um die Heraufsetzung der Dienste ging. Leszczyński, Józef: Ruchy chłopskie w dzisiejszym Gorzanowie po wojnie trzydziestoletniej. In: Rocznik Ziemi Kłodzkiej 4/5 (1959/60) 43–83; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 139–143; Weber, Matthias: Bauernkrieg und sozialer Widerstand in den östlichen Reichsterritorien bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges, 1. Tl.: Überblick über die Historiographie. In: Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 1 (1993) 11–54; 2. Tl.: Die historischen Ereignisse. Ebd., 2 (1994) 7–58; Herzig, Arno: Sozialprotest der schlesischen Landbevölkerung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: ders.: Beiträge ���������������������������������������������������������������������������������������� zur Sozial- und Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997, 39–58, hier 48–52; zur Problematik des bäuerlichen Protests im 17. Jahrhundert vgl. Schulze, Winfried: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit. Stuttgart/Bad Cannstadt 1980, 59ff.; ders.: Europäische und deutsche Bauernrevolten in der frühen Neuzeit. Probleme der vergleichenden Betrachtung. In: ders. (Hg.): Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1982, 10–60; Troßbach, Werner: Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806. Weingarten 1987, 19–25; zum Bauernaufstand in Oberösterreich 1626 Sturmberger, Hans: Adam Graf Herberstorff. Herrschaft und Freiheit im konfessionellen Zeitalter. München 1976, 259–265; zu den Aufständen in Böhmen Petran, Josef: Der Höhepunkt der Bewegungen der untertänigen Bauern in Böhmen. In: Schulze (Hg.): Europäische Bauernrevolten, 323–363. 29 Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2749, 39. 30 Ebd., 5.

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der sie „in tieffer demuth“ gegenüberträten. Sie beriefen sich aber darauf, dass ihre Vorfahren und auch sie selbst „jährlichen etlich wenige Robbottage ohne endtgeldt (bey solchem Unß essen oder aufs wenigste ein Läb Brodt gegeben) zu verrichten gehabt“.31 Bei ihren gewöhnlichen Lohnarbeiten während der Gras- und Getreideernte sei ihnen neben der warmen Speise täglich ein Laib Brot, zwei Käse und jährlich einem jeden Schnitter zwei Kuchen gereicht worden. Seit dem Vorjahr aber – so heißt es weiter in der Supplik – seien diese Zugaben reduziert, die Roboten aber von Jahr zu Jahr bis auf schließlich 52 Tage im Jahr heraufgesetzt worden. Zudem sollten die wenigen, die etwas Ackerland besäßen, für jeden ausgesäten Scheffel zwölf Kreuzer Robotgeld im Jahr zahlen. An den 52 Robottagen bekämen sie kein Entgelt und auch keine Nahrungsmittel, was ihnen bei der von ihnen zu leistenden kaiserlichen Steuer und den Kosten für die Einquartierung von Soldaten besonders schwer falle. Nach Angaben der Gärtner und Häusler reagierte der Rektor gegenüber der Delegation, die die Supplik überbrachte, recht schroff.32 Er drohte an, sie in Arrest zu setzen, die „Rädelsführer“ aber sollten zu Schanzarbeiten herangezogen werden. Vier Delegierte wurden tatsächlich ins Gefängnis gesteckt.33 Daraufhin brachten die Gärtner und Häusler ihre Beschwerden am 24. April 1683 bei der königlichen Amtsregierung in Glatz vor. Als geforderte Dienste „unter der vorigen Herrschaft als der Societas Jesu“ führten sie an: 2 Tag „Heidrechen“, 1 Tag [Holz-]„Scheitten“, 1 Tag „Grumbt [Heu-]rechen“ und 1 Tag „Dinger [aus-] breiten“.34 Für weitere Dienste, zu denen sie von der alten Herrschaft herangezogen worden seien, seien sie entlohnt worden, nämlich für den Klafter Holz mit zwölf Kreuzern und für das Kurzholz mit neun Kreuzern. Bezahlt wurden sie angeblich auch für Dienste wie Grabenreinigen, Zäunemachen und -ausbessern; desgleichen die Frauen. Sie hätten neben Nahrungsmitteln für das Jäten zwei Kreuzer, für Flachsbrechen und Hecheln drei Kreuzer Lohn pro Tag erhalten. Da die Gärtner und Häusler über kein Archiv verfügten, waren sie auf die mündliche Tradition angewiesen.35 Diese bezog sich in dieser Eingabe zunächst einmal auf die Zeit des Kollegneubaus, also auf die letzten 23 bis 24 Jahre. Nach eigenen Angaben „dörfften“ die Altwilmsdorfer Häusler und Gärtner beim Kollegbau nicht handlangen, „weil viel alte und schwache Leuthe unter uns sein, die nicht wohl die Gerüste besteigen können“.36 Dafür wurden von ihnen Ausgleichszahlungen verlangt, die nach Angaben der Protestierenden von Zeit zu Zeit stiegen. Schließlich seien es 52 Robottage „ohne Endgeld und Essen“ gewesen,37 an denen sie Holz schlagen sollten. Die Supplikanten baten deshalb die Regierung, ihnen einen „verständigen Mann“ zur Vertretung ihrer 31 Ebd., 17–19. 32 Ebd., 21. 33 Ebd., 22. 34 Ebd., 19–22. 35 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Darauf weisen Formulierungen wie: „Ungefähr vor drey oder 24 Jahre [...]“; „Dann hat vor ungefähr 14 oder 15 Jahren [...]“ hin. Ebd., 20. 36 Ebd. 37 Ebd., 21.

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Angelegenheit zur Verfügung zu stellen.38 Auch gegenüber der königlichen Amtsregierung verharrte der Rektor P. Christoph Nonner am 2. Mai 1683 unnachgiebig auf seinem Rechtsstandpunkt. Die Gefährlichkeit dieses „Aufruhrs“ belegt er mit dem Auftreten der Häusler und Gärtner am 5. April 1683, einem Ereignis, das einiges über die dörflichen Herrschafts-, Loyalitäts- und Kommunikationsstrukturen verdeutlicht. Nach Darstellung des Rektors hätten die Gärtner und Häusler dem P. Prokurator an diesem Tag „mit unerhörtem Rasen und Toben widersprochen“39 und dabei den Dorfscholzen, den der Prokurator wohl herangezogen hatte, über eine Metze gestoßen, sodass er tagelang noch Schmerzen gehabt habe. Darauf seien sie trotz Verbots mit Gewalt in die Schankstube eingedrungen und hätten „höhnisch geschrien, waß dieses vor ein Geistliche Obrigkeit sey“.40 Während der Auseinandersetzung war dies das einzige Mal, dass die Protestierenden auf den geistlichen Charakter ihrer Obrigkeit anspielten und von ihr, wie das „höhnisch“ verdeutlicht, wohl etwas anderes erwarteten als von einer weltlichen Obrigkeit. Das Auftreten des Scholzen und seine Behandlung durch die Protestierenden lassen darauf schließen, dass sich die bäuerlichen Untertanen von dem Protest distanzierten, nachdem sie selbst „vor Jahren“ zu den Robotdiensten gezwungen worden waren.41 Die Regierung in Glatz kam den Protestierenden nicht zu Hilfe, sondern betrachtete das Auftreten der Gärtner und Häusler als „ganz aufrührisch und widerspenstig“42 und dekretierte, dass die Rädelsführer zum Festungsbau herangezogen werden sollten. Dennoch gaben die Häusler und Gärtner nicht auf, sondern supplizierten an den böhmischen Ordensprovinzial der Jesuiten und wiederholt an die Glatzer Regierung, wobei sich der Streit auf die Ausgleichszahlungen konzentrierte, die für die nicht eingehaltenen Robottage gezahlt werden sollten.43 An den 52 Robottagen sollten sie ohne Entgelt Holz schlagen, was die Protestierenden verweigerten, weshalb sie „alle miteinander in Kretscham in Arrest übernacht bleiben“ mussten.44 Bei den Verhandlungen war es die Taktik des Prokurators, sich die Häusler und Gärtner nicht zusammen, sondern einzeln vorzunehmen und zu den 52 Robottagen zu verpflichten. Diese Taktik hatte der Prokurator „vor Jahren“ auch gegenüber den Bauern erfolgreich angewendet. Die Gärtner 38 39 40 41

Ebd. Ebd., 22. Ebd., 22f. Ebd., 22–29. Der Prokurator des Glatzer Kollegs war bis zum Juni 1683 P. Johannes Christoph Rottenberg. 42 Ebd., 35. 43 Nach der Teilung in eine böhmische und eine österreichische Ordensprovinz (1622) gehörte nach den Angaben von Bernhard Duhr das Kolleg in Glatz zur Letzteren. Duhr: Geschichte der Jesuiten, Bd. 3, 221f. Provinzial der österreichischen Provinz war 1683 P. Ladislaus Vid. Ebd., 190 Anm. 2. Eingabe der Altwilmsdorfer Gärtner bei dem Provinzial vom Mai 1683 in: Nr. 2749, 29–34. Da die späteren Verhandlungen aber über den böhmischen Provinzialprokurator laufen, ehemalige Glatzer Rektoren Provinziale der böhmischen Provinz waren, ist entgegen Duhr davon auszugehen, dass Glatz zur böhmischen Ordensprovinz gehörte. 44 Ebd., 38.

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und Häusler bestanden jedoch darauf, nach der Wahl zweier Sprecher, Georg Grimm und Hans Zalten, nur in Gemeinschaft zu verhandeln.45 Das verursachte im Kretscham den Tumult, der vom Rektor später als „strafmäßige Excesse und Tätigkeiten“ gedeutet wurde.46 Der Prokurator versuchte, für seine Belange die Dorfgerichtsbarkeit zu nutzen, die sich aus einem vom Orden ernannten Richter und Geschworenen (Schöppen) aus der Gemeinde, vor allem Bauern, aber auch einem Häusler, zusammensetzte. Ein Geschworener aus der Gruppe der Gärtner erklärte sich jedoch mit den protestierenden Häuslern solidarisch, worauf ihn auf Anordnung des Prokurators die übrigen Geschworenen „bei scharfer Ermahnung ihrer Eidpflicht“ festnehmen mussten.47 Insgesamt wurden bei dieser Aktion vier Häusler für 22 Tage ins Gefängnis gesteckt; diesen 45 Ebd., 39. 46 Ebd., 35. Aus der Sicht der Protestierenden stellte sich der Vorfall wie folgt dar: „[...] Aber den Sontag zuvor ist, unß allen dorch den Scholtzen angesagt worden, daß Wier daß Holtz zur Roboth ohne endtgeldt schlagen solten, deßen Wier unß geweigert, und musten darumb alle miteinander in Kretscham in Arrest übernacht bleiben. Dann kam im Montag der W.E.W. H. P. [Wohlehrwürden Herr Pater, d. Vf.] Procurator in Kretscham zu Unß, fragendt ihr Leuthe, waß macht ihr hier alle miteinander beysamben, waß ist euer Anbringen oder Beschwerde, so einer auß unß beandtworttet, daß Wier 52 Tage ohne Cost, Lohn, ia ohne Brodt verrichten undt ebenso Holtz schlagen sollen, welches Uns unmöglich fallet; Wornach der H. P. Procurat: etl. Bogen Pappir verlanget, undt den Scholtzen befohlen hat umb ein paar Gerichts Geschwornen zuschicken. Der gesagt sie sein schon zur Stelle, nach diesem fragte der H. P. den Scholtzen ob die andere Stuben lehr were, undt da ers beiaet, hat er Unß ins Gehorsambt angesagt, welchen er auß Uns für sich dahin beruffen werde, solte bey zehen Mark straff allein undt keiner mit ihm erscheinen, weil manns nun eben so vor iahren mit den Pauern gemacht, da man sie zu einwilligung des einen Tags in der Woche, theils durch Betrohungen, theils durch scharffes Zureden, ieden absonderlich vernehmendt beredet, haben Wir unß eben deßent wegen geforchten, Undt da der Herr P. erstlich Grimmen undt Zalten beruffen laßen, nach diesen aber den geschworenen Gärttner, ließen Wier bitten Uns doch insgesambt, wie es bey gebotten breichlich were, vor zu laßen, dan es ging ia einen sowohl alß den andern die Beschwer an, darüber der H. P. mit eyffer zu Unß kommen, umb den geschwornen gefragt, den der Scholtze angewiesen, der H. P. aber selben seiner pflichte undt dienst erinnert, darauf der geschworene geandtworttet, wohl Ehrwürden H. P. ob ich gleich diese stelle besitze, so hab ich doch die beschwernuß sowohl alß die andern, undt kann es ohne Lohn nicht thun, worauf der H. Pater [sagte, d. Vf.] wolt Ihr mit mir nicht gehen, undt zu den andern geschworenen, nehmbt ihn und steckt ihn ein, unerwartt deßen aber, ihn so hart an Leib ergriffen, daß man den andern tag davon Zeichen gesehen was aufgeriessen und die andere geschworene bey scharffer ermahnung ihrer aydtpflichte befehliget ihn an zu greiffen, die ihn auch mit gewalt in die andere stube gerissen und stossen, der Scholtz aber die Thür vertretten, nach welchen doch der H. Pater die Thür etwaß eröffnet, umb den Scholtzen hierein zu laßen, den Wier, umb zu sehen, was den geschwornen in der Stuben, beym H. P. Procirator geschehen möchte, vorkommen, undt nicht wissen möge wie der an der Thür gelehnte Scholtz rückwerts auf den bey der stubenthür befindtliche Herth, über eine Metzen gefallen ist, der auch von diesem Fahl wohl eintzigen Schaden noch Beschwernuß nicht erlitten hat, wie er den noch selbigen Tag mit einen auß Unß gessen undt gedrunken, undt auch andere Leuth an ihn nichts gemerkt haben [...]“ Aus der Eingabe der Altwilmsdorfer Gärtner und Häusler an das Königliche Amt in Glatz vom 26. Mai 1683. Ebd., 36–42, hier 38–40. 47 Ebd., 41f.

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folgten zwölf weitere, sechs aus Altwilmsdorf und sechs aus Niederschwedeldorf, die 15 Tage gefangen gehalten wurden. Die übrigen Häusler wurden zu Festungsarbeiten herangezogen. Dass der Protest der Altwilmsdorfer Häusler und Gärtner wegen der unentlohnten 52 Robottage sowie der Abgabe von einem Kreuzer pro Scheffel Säwerk im Monat – ein Protest, dem sich auch die Gärtner-Ordensuntertanen in den Dörfern Rengersdorf, Eisersdorf und Halbendorf anschlossen – nicht aus dem aktuellen Anlass der Neufestsetzung dieser Verpflichtungen herrührte, wird aus dem folgenden Austausch der Schuldzuweisungen deutlich. Nach Angaben der Protestierenden waren die „Beschwerungen“ in diesem Jahr 1683 unter anderem durch die Türkenkriegssteuer, das „Quartiershalten“ für das Armeeaufgebot und „andere Gemeinde Unkosten“ so angestiegen, dass – wie die Untertanen klagen – „oftmalen das tägliche Brot (geschweige andere Notwendigkeit) zu unserer Erhaltung und Erziehung unserer Kindlein ermangelt“.48 In der Tat bedeuteten die unentlohnten Robottage bei sechs Kreuzern pro Robottag einen jährlichen Verlust von 312 Kreuzern oder aber drei Reichstalern und 14 Groschen.49 Vergleicht man dies mit der Werteinschätzung der vererbten Häusler- oder Gärtnerstellen, so liegen diese bei circa sieben bis acht Reichstaler beziehungsweise elf bis zwölf Gulden. Diese musste der Käufer, zumeist der Sohn oder Schwiegersohn, mit jährlich 15 bis zwanzig Groschen abzahlen, sodass sich diese Abzahlung über zehn Jahre hinzog.50

48 Ebd., 46. 49 �������������������������������������������������������������������������������������������� Nach Angaben der Gärtner und Häusler hatte P. Rottenberg bei seinem Amtsantritt als Prokurator (circa 1673) die 52 Robottage ohne Lohn und einen Laib Brot pro Diensttag festgesetzt. Wer die Robottage nicht leistete, dem wurden zwei Kreuzer pro Tag von seinem übrigen Verdienst abgezogen. P. Rottenberg dagegen versuchte nachzuweisen, dass schon seine Vorgänger im Prokuratorenamt, P. Dasselmann und P. Brauner, die 52 unentgeltlichen Robottage durchgeführt hätten. Ebd., 69f. P. Friedrich Brauner bestätigte (Sagan, 7. Juni 1683): „Als wir in Glatz das Kolleg bauten und 14 Maurer beständig arbeiteten und entsprechend dem Recht in der Grafschaft Glatz und anderswo die untertänigen Gärtner [subditi Hortulani] zur Handarbeit angehalten wurden, bekamen sie ein kleines Handgeld. Ob sie nur 12 jährliche Robottage hatten, weiß ich nicht, noch erinnere ich mich, jemals davon gehört zu haben.“ Ebd., 47. P. Johannes Dasselmann argumentierte (Prag, 6. Juni 1683): „In den Jahren 1666 und 1667 hatten die Gärtner aus unseren Dörfern beim Neubau der Kollegsgebäude einen wöchentlichen Robottag. Dies geschah ohne Widerspruch. Wie in früheren Jahren habe ich ihnen, als ich Rektor war, durch tägliche Verteilung ein Brot aus reiner Güte [...] gegeben. Ob die Wilmsdorfer Gärtner für 2 Kreuzer an 12 Robottagen im Jahr verpflichtet waren, steht für mich nicht fest. Dessen bin ich mir ganz sicher, daß ich keinen von unseren Untertanen jemals über Maß [supra debitum gravare] beschweren wollte. Ebenfalls erinnere ich mich, daß sie das, wozu sie sich schriftlich verpflichten, nach scharfem Tadel widerwillig nicht leisten würden.“ Ebd. 50 Vgl. dazu die Eintragung aus dem Altwilmsdorfer Schöppenbuch in Archiwum Państwowe we Wrocławiu: Heimaturkundei Grafschaft Glatz Kolekcja 252: Schöppenbuch Altwilmsdorf (1679–1724), fol. 35, vom 30. März 1683. An diesem Termin verkaufte Wenzel Siegel „allhier sein Haus Landfeld Garten [...] an Martin Klinke [...] umb [...] 275 Groschen [7,6 Reichstaler, d. Vf.]“. Erst 1695 bestätigte das Schöppengericht nach kontinuierlichen jährlichen Zahlungen von

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Der Rektor P. Christoph Nonner reagierte jedoch unnachgiebig, ja verständnislos auf die Beschwerden der Gärtner und Häusler. Wiederholt forderte er von der Glatzer Amtsregierung, per fortia gegen die „rebellische[n] Untertanen“ vorzugehen und sie exemplarisch zu bestrafen. Offensichtlich waren seine Zwangsmittel erschöpft oder aber schien ihm ein gewaltsames Vorgehen gegen die „rebellischen Untertanen“ unangebracht, „da es seinem Stand nicht rühmlich sei“.51 Mithilfe der königlichen Amtsregierung kam es am 20. Dezember 1683 zu einem Vergleichstermin, bei dem Angebot und Forderung allerdings weit auseinandergingen. Die Häusler und Gärtner boten anstelle des „im Urbario befindlichen einzigen schuldigen Robottag“ zunächst vier, schließlich acht Tage ohne Lohn an.52 Für die übrigen aber wollten sie, außer in der Erntezeit, „wie im ganzen Land gemein und gebräuchlich“,53 täglich ohne Essen sechs Kreuzer, mit Essen aber drei Kreuzer haben. Der Prokurator ging von seinen 52 unentgeltlichen ­Robottagen auf vierzig Robottage ohne Lohn herunter und bot für jeden der erlassenen zwölf Robottage drei Kreuzer und einen Laib Brot. Im Hinblick auf ihre Verpflichtung von nur einem unentgeltlichen Robottag lehnten die Häusler und Gärtner jedoch ab. Das bedeutete, sie mussten auch weiterhin für jeden nicht geleisteten Robottag pro Woche zwei Kreuzer „reduzieren“, wogegen sie wiederholt Protest einlegten.54 Dass ihnen im Unterschied zu den landesüblichen sechs Kreuzern nur drei Kreuzer bezahlt werden sollten, bestärkte sie wohl in ihrer Ablehnung. In der Folgezeit sprach der Rektor den „leichtsinnigen Leuten“ das Recht zu supplizieren ab und forderte vom königlichen Amt, diesen ein perpetuum ­silentium aufzuerlegen, da sie von „unerfahrenen Agenten“ beziehungsweise „dergleichen Idioten“ oder gar „vermessenen Aufwieglern“ zu ihren Beschwerden veranlasst würden.55 Den Protestierenden war es nämlich inzwischen gelungen, den Advokaten Johann Christof Schatz aus Glatz für ihre Beweisführung zu gewinnen. Die Glatzer Jesuiten hatten versucht, dies zu verhindern; die Ablehnung zweier Advokaten, die die Protestierenden als Rechtsbeistand gewinnen wollten, sowie deren Zurückweisung hatte gezeigt, welchen Einfluss der Orden in der Stadt hatte. In juristischer Diktion, die sich deutlich von der Diktion der vorangegangenen Suppliken unterschied, argumentierte Schatz mit Belegen aus einem älteren Urbar (1575), dass die Ro-

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zunächst 25, dann 15 Groschen, dass „Martin Klinke von ersten bis letzten Heller alles was sein Kauf ausweiset richtig bezahlt hat“. So in seinen Berichten an das königliche Amt vom 12. Juni 1683, Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2749, 49–51 und vom 2. Juli 1683, ebd., 58–60 (Zitate). Ebd., 71. Ebd. Der Vorgang nach der Darstellung der Gärtner und Häusler in ihrer Eingabe an das Königliche Amt vom 21. Februar 1684. Ebd., 69–76, hier 71. Die „landesübliche“ Zahlung von sechs oder drei Kreuzern pro Robottag bezieht sich vermutlich auf das kaiserliche Edikt vom 12. Januar 1662 für die Herberstein-Untertanen der Herrschaft Arnsdorf/Grafenort. Zum Wortlaut des Edikts vgl. Herzig, Arno: Geschichte Grafenorts. In: Heinze, Veronika u. a. (Hg.): Grafenort. Geschichte und Erinnerungen. Oldenburg 1994, 17–102, hier 49. Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2749, 67f.

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botleistungen in früheren Zeiten geringer gewesen seien. Zudem habe Kaiser ­Leopold per Edikt vom 17. Juli 1669 befohlen, in der Grafschaft Glatz „die Untertanen wider ihre Urbaria nicht zu beschweren“.56 Der Rektor P. Christoph Nonner versuchte aber am Ende seiner Amtszeit im Januar 1685, mithilfe der Amtsregierung seine Position zu behaupten, indem er verlangte, den Advokaten wegen seiner „Schmähschrift“ als einer „Lästerung totius venerabilis cleri“ zu bestrafen,57 die drei „Rädelsführer“ Georg Steiner, Michael Kastner und Tobias Zalten, die im Namen der Protestierenden dem Advokaten die Vollmacht gegeben hätten, mit Gefängnis zu belegen und die Einhaltung von vierzig Robottagen zu bestätigen.58 Der Advokat Schatz hatte in seiner Beweisführung behauptet, dass Geistliche wie normale Bürger auch den Affekten unterworfen seien, also genauso rücksichtslos vorgingen wie andere Herren auch. Tatsächlich war Schatz im Mai 1685 inhaftiert worden und saß am 8. März 1686 noch immer in Haft.59 Die Taktik des Ordens lief darauf hinaus, die protestierenden Untertanen von ihrem Rechtsbeistand fernzuhalten, um eine mögliche Appellation an den Kaiser zu verhindern. Gegenüber dem kaiserlichen Amt argumentierte der Rektor P. Paul Arndt, es solle durch das Kontaktverbot vermieden werden, dass der Advokat die „leichtsinnige[n] und zum Ungehorsam sehr geneigte[n] Unterthanen [...] zu allen unbillichen wieder die Obrigkeit Wiederstand [...] anreitze und aufhetze“.60 Rektor und Prokuratoren versuchten den Diskurs zu bestimmen, indem sie den Widerstand als „Aufruhr“ diffamierten und alle Leistungen des Ordens, so die Ausgabe eines Brotes an den unvergüteten Robottagen, als freiwillige „Gutmütigkeit“ darstellten. Der Umgangston mit den Protestierenden war sehr rüde, so wenn sie vom Prokurator P. Balthasar Reich als „Schelme und Schlingel“ tituliert und mit dem „unvernünftigen Vieh“ verglichen wurden.61 Gegen die anhaltenden Widersetzlichkeiten ging der Orden als Ortsgerichtsbarkeit vor, indem er die Widerstandleistenden fortgehend mit Arrest bestrafte, sodass diese kaum für ihre Familien aufkommen konnten. Das harte Vorgehen und die reduzierten Verpflegungsrationen interpretierte der Orden im Sinn der ­Sozialdisziplinierung.62 Als sich der Orden trotz der Zwangsmittel auf lokaler Ebene nicht durchzusetzen vermochte, traktierte er die Angelegenheit durch den Provinzialprokurator der Provinz 56 57 58 59 60 61 62

Ebd., 96–98. Ebd., 100. Ebd., 105. Ebd., 82, 85. Ebd., 123. Ebd., 118. Der Prokurator P. Balthasar Reich am 8. März 1686 an das Königliche Amt: „[...] sondern weilen Sie öffter mahlen in der dritten frühestunde allererst zur Robot kommen, und wieder umben nachmittag zeittlichen nach belieben darvon gangen, sie zu billichmäßiger Zeit und fleiß zu treiben, von mir anbefohlen ist worden, die eine Helffte besagten Brodtes gegen Mittag, die andere Helffte aber gegen Abent ihnen zu reichen, gegen welchen gelinden mittel, weil sie auch trotzig wiedersetzet, und die Arbeit nicht ein Mahl halßstarrigerweise, auch jüngst noch verlaßen, Ich sie mit der Schärfe etwaß nothwendig angreiffen habe müßen [...]“. Ebd., 121.

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Böhmen, P. Johannes Siminsky, einen geschickten Juristen. Dieser nahm die vom Rektor P. Paul Arndt vorstrukturierte Argumentation auf, stellte alle Zugeständnisse als Gabe in „Ansehung ihrer Armut“ dar63 und forderte gemäß kaiserlicher Anordnung, sich an die landesübliche Praxis für Lohnzahlungen zu halten, was im Hinblick auf die Waldarbeit zuungunsten der Altwilmsdorfer Häusler und Gärtner ging. Die Forderungen gemäß dem alten Urbar, auf die sich der Advokat Schatz berief, aber wies er mit dem Argument zurück, dass diese nichts über die Robottage aussagten, sondern nur die Zinsabgabe enthielten.64 Die Eingaben des Provinzialprokurators stellten die Forderungen der Protestierenden ebenfalls als „Aufruhr“ dar und interpretierten das Auftreten der Altwilmsdorfer als Funken, den es zu löschen gelte, „damit daraus, welches sehr zu besorgen ist, nicht etwa ein groß Feuer entstehen und alle andere benachbarte Untertanen, die sonst allenthalben mit dem alten landesüblichen Lohn, wohlzufrieden leben, mit einer großen insolvenz in der gantzen Graffschaft anstecken dürffte“.65 Geschickt spielte er hiermit auf die zahlreichen Unruhen an, mit denen die Untertanen in der Grafschaft Glatz seit den 1660er Jahren gegen die Heraufsetzung der Dienste und gegen die Reduktion der Entlohnung ankämpften.66 Die protestierenden Häusler setzten auf ihr Recht, das sie durch das Urbar geschützt glaubten, auf das alte Herkommen und nicht zuletzt auf den Kaiser, der sie in ihrem Recht schützen sollte. Insgesamt liegen vom 10. April 1683 bis zum 4. Mai 1686 17 Suppliken der protestierenden Untertanen vor, wovon sich die meisten, nämlich elf, an die königliche Regierung in Glatz, sechs an den Glatzer Jesuitenrektor und zwei an den Provinzial der Jesuiten in Böhmen richteten. Die Beschwerdepunkte wurden von den Altwilmsdorfer Gärtnern zusammengetragen, „von einem gelehrten Schreiber ­concipirt und solcher nachher von einem anderen gutten Herren corrigirt“,67 wie die Protestierenden in der Eingabe vom 21. Februar 1686 an das königliche Amt anführen. Um wen es sich dabei handelte, bleibt offen. Auszuschließen ist wohl die Hilfe des damaligen Altwilmsdorfer Pfarrers Georg Franz Brase, obwohl dieser auch schriftstellerisch tätig war.68 Da über das Altwilmsdorfer Kirchenpatronat die Glatzer Jesuiten verfügten, wird er sich diese Hilfe kaum erlaubt haben. Ob das königliche Amt der Bitte der Protestierenden aus deren erster Eingabe am 24. April 1683 nachkam, ihnen „einen verständigen 63 64 65 66 67 68

Ebd., 128. Darstellung der Provinz-Prokurators P. Johannes Siminski vom 6. April 1686. Ebd., 128–131. Eingabe P. Siminskis an den Kaiser (6. August 1687). Ebd., 135–137, hier 136. Herzig: Sozialprotest, 48f. Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2749, 116. Georg Franz Brase, der aus dem Dorf stammte, war von 1680 bis 1713 Pfarrer daselbst. Um die Wallfahrten zu dem Altwilmsdorfer Gnadenbild der „Madonna in den Schmerzen“, die nach dem Dreißigjährigen Krieg aufgekommen waren, zu aktivieren, verfasste er 1702 die Schrift „Marianische Kirch-Fahrt zu dem Uralten Gnaden-Bild der Schmerzhaften Mutter Gottes Mariae unter dem Creutz zu Altwilmsdorf in der Grafschaft Glatz welches wegen vielen Gnaden und Wohltaten von dem Volck starck besucht wird“. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 173; Bach: Kirchen-Geschichte, 440.

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Mann als etwan Herrn Sartorium oder den Herrn Stadtschreiber zum Vortretter und geschickten Ausführer zu geben“,69 ist sehr zweifelhaft. Ein ­juristischer Beistand fehlte den Protestierenden zunächst, denn der von ihnen herangezogene „gelehrte Schreiber“ verfügte zwar über einen gewandten Stil, verwendete aber keinerlei juristische Floskeln. Der Ton der Häusler in ihren Suppliken ist bescheiden, aber bestimmt. Religiöse Bezüge sind sehr selten, so wenn die Petenten Gottes Lohn für Hilfe in Aussicht stellen oder sich selbst als „treue Fürbitter bei Gott“ bezeichnen.70 Bezüge auf Heilige oder auf Maria als Vermittler oder Belohner fehlen ganz. Ab Februar 1684 scheint ihnen ein juristisch versierter Schreiber zur Seite gestanden zu haben. Die juristischen Floskeln nehmen zu. Vermutlich handelte es sich dabei um den Candidaten beider Rechte und Advokaten Johann Christof Schatz, der am 4. September 1684 beim königlichen Amt in Glatz einen Rechtssatz zugunsten der Altwilmsdorfer einreichte.71 Er hatte wohl auch „bei Ihrer Kaiserlichen Majestät unsere gravamina allerunterthänigst fürbracht“,72 wie es in einer Eingabe an das königliche Amt am 21. Februar 1686 heißt, die dort vermutlich ein nicht näher bezeichneter „Agent“ besorgte. Während der Haft des Advokaten versuchten die Altwilmsdorfer, gegen den Willen der Jesuiten den Kontakt mit Schatz aufrechtzuerhalten, zumal das königliche Amt am 15. Februar 1686 von den Supplikanten verlangte, dass ihre Supplik von einem Advokaten mitunterzeichnet würde.73 Da die beiden anderen Glatzer Advokaten Fröhlich und Lehmann eine Unterstützung ablehnten, weil sich der Streit gegen die Jesuiten richtete, baten die Supplikanten am 8. März 1686 um die Wiederzulassung des Advokaten Schatz. Diese muss wohl auch erfolgt sein, denn die letzte überlieferte Eingabe der Altwilmsdorfer vom 18. März 1686 an die königliche Regierung wurde von Schatz konzipiert.74 Dass er und der „Agent“ in Wien beim Kaiser erfolgreich waren, muss bezweifelt werden. Die Haltung Kaiser Leopolds hinsichtlich der bäuerlichen Proteste in der Grafschaft Glatz ist nicht eindeutig. In den Auseinandersetzungen zwischen dem Reichsgrafen von Herberstein und seinen Arnsdorfer/Grafenorter Untertanen gegen die Heraufsetzung ihrer Dienste hatte er 1661 zuungunsten der protestierenden Untertanen entschieden und die Heraufsetzung von sechseinhalb Robottagen auf 75 Tage im Jahr gutgeheißen.75 Alle Deputationen, die aus der Herbersteinschen Herrschaft nach Wien kamen, hatte er nicht empfangen oder sogar inhaftieren lassen. Als die Herbersteinschen Untertanen trotz der kaiserlichen Vermittlung weiterhin die Dienste verweigerten und aus dem Land flohen, sah sich Graf Johann Friedrich von Herberstein gezwungen, 1669 aus „Liebe und Herzlichkeit“ die Dienste und Abgaben wieder herabzusetzen, was Kaiser 69 70 71 72 73 74 75

Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2749, 22. Ebd., 69f. Ebd., 81. Ebd., 114. Ebd., 116. Ebd., 125f. Herzig: Sozialprotest, 52–65.

Die Jesuiten im feudalen Nexus

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Leopold wiederum bestätigte. Gleichzeitig erklärte der Kaiser jedoch, dass dieses neue Herberstein-Urbar nicht für die ganze Grafschaft gelte, da nun auch die Untertanen des Grafen Götzen und des Barons von Stillfried Reduktion ihrer Dienste forderten.76 Des Weiteren hatte er per Dekret am 17. Juli 1669 im Hinblick auf die „neulich entstandene Zusambenrottirung einiger Unterthanen Unserer Grafschafft Glatz [...] was wegen der Robothen der Unterthanen zu Scharfeneck, Tuntschendorf undt Ewersdorf “, verlangt, „daß diese Leuthe in ruhe undt Gehorsamb gegen ihrer Obrigkeit erhalten“, aber auch „daß sie von der Obrigkeit wieder die gebühr und herkommen nicht beschweret werden“.77 Auf diesen letzten Passus stützten sich die Erwartungen der Altwilmsdorfer in ihrer Hoffnung auf den Kaiser. Darin wurden sie wohl auch von ihrem Advokaten Schatz bestärkt. Obgleich einmal von einem „Agenten in Wien“ die Rede ist, scheint durch die Inhaftierung des Advokaten eine Eingabe der Protestierenden beim Kaiser verhindert worden zu sein. Die Taktik des Ordens war hier aufgegangen; der Befehl des Kaisers an die Altwilmsdorfer vom 10. August 1686 beruhte auf der Eingabe des böhmischen Provinz- und „kaiserlichen Hoff Procurators“ P. Johannes Siminsky. Der Kaiser machte sich allerdings kaum die Interpretation des Ordens von der Ausbreitung des Aufruhrs auf die gesamte Grafschaft Glatz zu eigen; doch wurden die Untertanen bei ihrer Bezahlung auf den Landesbrauch verwiesen. Damit waren sie schlechter gestellt, denn traditionell hatten sie mehr erhalten. Die Altwilmsdorfer Gärtner und Häusler waren über die kaiserliche Entscheidung vom 10. August 1687 sehr enttäuscht. Als der Glatzer Advokat Fröhlich, der in Diensten des Ordens stand und 1683 eine Rechtsvertretung der Protestierenden abgelehnt hatte,78 am 12. September 1687 „denen gesambten Gärttnern dieses Decret in den Gerichten zu Wilmsdorff “ vortrug, waren die Protestierenden über das Ergebnis „so erbittert gewesen, daß sie ein hönisches Gelächter darauß [daraufhin, d. Vf.] gemacht“.79 Der Orden sah sich am Ziel. Der fortdauernde Widerstand ist in der Überlieferung des Ordens nur noch schwach dokumentiert. Während die eine Hälfte der Protestierenden aufgab, leistete die andere weiterhin Widerstand. Gegen sie ging der Orden mit den Mitteln seiner Gerichtsbarkeit vor, vor allem mit Festsetzung der Protestierenden, die der Dorfscholz ausführen musste.80 Erst nach fast zehn Jahren kam es am 14. Januar 1692 zu der endgültigen Unterwerfung der 23 noch immer Widerstand leistenden Häusler. „Freiwillig ungezwungen/ massen selbigenes zu thun oder nicht frey steht“ mussten sie vor dem Altwilmsdorfer Gericht gegenüber dem Glatzer Rektor P. Michael Eckel „der hochwohlehrwürdigen Obrigkeit“ die „Leistung der schuldigen Robothen und Dienste“ erklären. Sie mussten versprechen, „daß Sie von 76 Ebd. 77 Kaiserlicher Befehl an das Königliche Amt zu Glatz vom 17. Juli 1669. In: Archiwum Prow. Małopolskiej T. J. w. Krakowie, Kłodzko-Glacii Rkp. Nr. 2749, 96–98. 78 Fröhlich war unter anderem auch Organist an der Glatzer Stadtpfarrkirche, über die die Jesuiten verfügten. Ebd., 145. 79 Ebd., 144f. 80 Ebd., 149.

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bißheriger Wiedersetzigkeit undt geführten rechtsstreitt gäntzlich abstehen, wohlgedachter Obrigkeit allen gebührenden Respect und schuldigen Gehorsambt leisten, und alle dieienigen Robothen und Dienste welche die anderer besagten Collegii Dorfschaften und ihr mit Unterthanen bißhero aus schuldigkeit gethan und noch thun, Sie gleichermaßen thun, undt hinfüro ohne alle wiederrede treu gehorsambst verrichten wollen“.81 Der Orden versprach dagegen, dass „Ihre Widersetzigkeit in Vergeßenheit gestelt undt mann künfftig als gehorsambe Unterthanen Sie gleich anderen schützen und hanthaben wolle“.82 Dem Orden war damit die endgültige Unterwerfung aller Untergebenen zu seinen Bedingungen gelungen. Als sinnfälliges Zeichen für seine feudale Repräsentanz ließ der Rektor Johann ­Hanke in den Jahren 1707 und 1708 in dem Altwilmsdorf benachbarten Dorf Altheide ein Schloss errichten.83 Nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land machte der Orden damit seine Stellung als Herrschaft deutlich.

81 Die Unterwerfungsurkunde vom 14. Januar 1692 liegt in mehreren Ausführungen vor. Ebd., 151f., 163f., 167f. Die Namen der 23 Häusler ebd., 161. 82 Ebd., 168. 83 Kögler: Chroniken, Bd. 3, 414; Bach, Kirchen-Geschichte, 400f. Eine Abbildung des Schlosses in Wenzel, Georg (Bearb.): Heimatbuch Altheide Bad Kreis Glatz/Schlesien. Lingen/Ems 1991, 275.

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7. Die Entstehung der Barocklandschaft in der Grafschaft Glatz Mit der Unterwerfung der Grafschaft Glatz 1622 durch die kaiserlichen Truppen und der Bestrafung der Rebellen in den folgenden Jahren endete die protestantische Periode, die annähernd hundert Jahre gedauert hatte. Die Jesuiten, Minoriten und Franziskaner kamen 1623 nach Glatz zurück. Als Entschädigung für die Zerstörung ihres alten Kollegs, das die Jesuiten 1597 als Domstift von den Augustinerchorherren übernommen hatten, erhielten sie zusätzlich zu ihrem alten Fundus 1626 die Johanniterkommende mit der dortigen Pfarrkirche und mehreren Bürgerhäusern. Trotz des noch andauernden Krieges erbauten die Franziskaner bereits ab 1644 ihre Kirche im nachgotischen Stil sowie das Kloster, wozu sie von Kaiser Ferdinand III., dem Grafschafter Landeshauptmann Johannes Arbogast Graf von Annenberg und Baron Stillfried große Spenden erhielten.1 Die Jesuiten warteten den Krieg ab, um dann große bauliche Veränderungen vorzunehmen. 1654 bekamen sie von ihrem Provinzialobern in Prag und dem Ordensgeneral in Rom die Erlaubnis zu einem Um- beziehungsweise Neubau ihrer Glatzer Ordensniederlassung. Wie beim Bau des Kollegs in Prag, so verpflichteten auch die Glatzer Jesuiten unter Leitung des bekannten italienischen Architekten Carlo Lurago italienische Bauleute und Stuckateure.2 Am 10. Dezember 1654 schloss der Rektor des Glatzer Kollegs Mario Mariano einen Kontrakt für den Neubau des Kollegs mit dem „kaiserlichen Baumeister“ Carlo Lurago, der vermutlich im Zug des Festungswiederaufbaus nach Glatz gekommen war. Demnach sollte Lurago 3.500 Gulden erhalten und dafür einen von beiden vertragschließenden Seiten zu genehmigenden Plan erstellen, drei bis vier Mal im Jahr nach Glatz kommen und die Arbeiten des von ihm zu stellenden Poliers sowie der ebenfalls von ihm zu verpflichtenden Maurer und Bauhandwerker kontrollieren.3 Am 11. April 1655 erfolgte die Grundsteinlegung für den Bau des Kollegs, der sich bis 1690 hinzog.4 Nachdem bis 1658 der Ostflügel fertig1 Kögler, Joseph: Die Chroniken der Grafschaft Glatz. Hg. v. Dieter Pohl, Bd. 1–5. Modautal/Köln 1992–2003, hier Bd. 2: Die Pfarrei- und Stadtchroniken von Glatz – Habelschwerdt – Reinerz mit den dazugehörigen Dörfern, 53f., 135. Hier auch die Lithographie des Franziskanerklosters von Otto Pompejus nach einem alten Stich, vermutlich von Friedrich Bernhard Werner aus den 1730er Jahren. Ebd., 131. Bach, Aloys: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis an unsere Tage [...]. Nebst einem Anhange: Geschichtlich statistische Darstellung aller Gläzer Pfarreien und Kirchen mit deren geistlichen Vorstehern, so wie der Schulen im Jahre 1841. Breslau 1841, 268–270; Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 144f. 2 Duras, Amelie: Die Architektenfamilie Lurago. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte Böhmens. Phil. Diss. Köln. Prag [1933], 38–45. 3 Der Vertragstext in Festschrift zur Feier des dreihundertjährigen Bestehens des Königlich-Katholischen Gymnasiums zu Glatz 1597–1897. Glatz 1897. Zit. nach ebd., 38. 4 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Linke, Oskar u. a.: Die Grafschaft Glatz, Bd. 1–3. Lüdenscheid 1958–1961, hier Bd. 3: Gymnasium und Konvikt zu Glatz. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Erziehungs- und Bildungsarbeit im schlesischen Raum, 12–17.

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gestellt war, begann man 1660 mit dem Umbau der Kollegskirche, die gleichzeitig als Pfarrkirche von Glatz diente. In den Jahren bis 1670 wirkten hier hauptsächlich die italienischen Bauleute Francesco Canavale, Andrea Carova und der Stuckateur Geronimo Faltone (Fatchone) mit ihren Mitarbeitern. Sie barockisierten die Kirche, ohne jedoch die gotische Grundstruktur zu zerstören. Dies blieb auch das Bauprinzip bei anderen Grafschafter Kirchen, die in den 1650er und 1660er Jahren barockisiert wurden.5 Das Barock nach italienisch-böhmischen Vorbildern präsentierte sich als Demonstrationsstil der siegreichen katholischen Konfession, die in der Grafschaft nach der Niederschlagung der „Rebellion“ von 1618/19 als einzige Konfession durchgesetzt werden sollte. Es entsprach dem Geschichtsbild der Habsburger, dass nur auf der Basis der einen Konfession der Friede im Land in Zukunft hergestellt und das Staatswesen gefestigt werden könne – daher die rigide Rekatholisierung, weil nach Ansicht Kaiser Ferdinands II. das Seelenheil seiner Untertanen ausschließlich durch die „allein selig machende katholische Kirche“ gesichert werde.6 Neben der Demonstration der siegreichen Kirche sollte im Barock die neue Heilserfahrung und Heilssicherheit ästhetisch vermittelt werden. Die Grafschafter Bevölkerung stand jedoch dieser Programmatik eine Generation nach ihrer Unterwerfung noch sehr skeptisch gegenüber.7 Erst in der zweiten beziehungsweise dritten Generation, das heißt nach 1680, fand eine allmähliche Akzeptanz der katholischen Kirche und des von ihr geförderten barocken Baustils statt. Unter Mitwirkung der Bevölkerung erfolgte dann im ausgehenden 17. Jahrhundert die „Barockisierung“ der Grafschaft mittels der Errichtung von Bildstöcken, Andachtskapellen, Heiligenfiguren und Votivtafeln. Diese Partizipation der Bevölkerung kann als Zeugnis einer neuen Heilserfahrung gewertet werden, die nach der durch Zwang genommenen Heilssicherung in der lutherischen Lehre und der dann folgenden langen Phase der Unsicherheit, in der der Teufelsglaube eine wichtige Rolle spielte, die Gemüter erfasste und aufgrund der „Sakralisierung der Landschaft“ einen Schutz in einer magisch bestimmten Welt bot. Die Verinnerlichung des Barock bestimmte durch Wallfahrten, Heiligenfeste, Gelöbnistage, Stiftungen, Bruderschaften und den Weihen alltäglicher Dinge das ganze Jahr über die Alltagskultur der Bevölkerung. Vor allem die Marienverehrung mit den Wallfahrtsorten Wartha, Glatz, Altwilmsdorf, Albendorf und später Maria Schnee beweist die innere Akzeptanz des Barockkatholizismus

5 Kögler: Chroniken, Bd. 2, 74–78; hier auch die Ansicht des Kollegs und der Kirche, vermutlich nach Friedrich Bernhard Werner; Kalinowski, Konstanty: Barock in Schlesien. Geschichte, Eigenart und heutige Erscheinung. München 1990, 100; Duras: Architektenfamilie, 39; Golitschek, Josef von/Lutsch, Hans: Schlesiens Kunstdenkmäler. Gütersloh 1985, 233; Staffa, Marek u. a. (Hg.): Kotlina Kłodzka. Wrocław 1994, 206–210; Baumgarten, Jens M.: Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560–1740). Hamburg/München 2006. 6 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 109–111; vgl. den Beitrag „Schlesien und die Grafschaft Glatz im Zeitalter des Konfessionalismus“ in diesem Band. 7 Kögler: Chroniken, Bd. 2, 54.

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seitens der Bevölkerung.8 Die Mirakelbücher von Glatz, Albendorf und Altwilmsdorf zeugen von der Verinnerlichung einer neuen Heilsgewissheit, in der der Teufel von Maria besiegt wird. Ähnliches zeigt sich in der Legendenbildung, so der Legende von den beiden Wünschelburger Totengräbern, die 1680 nach einem Teufelsbündnis die Pest nach Albendorf bringen sollten, aber an der Ortsgrenze von der dortigen Mariensäule wie gelähmt am Weitergehen gehindert und schließlich durch eine dröhnende Stimme davon abgehalten wurden.9 Die Umgestaltung der Grafschaft Glatz zum „Herrgottswinkel“ mit seinen zahlreichen Barockkirchen zog sich über Generationen hin. An ihrem Beginn in den 1650er/1660er Jahren stand zunächst der Umbau alter gotischer Kirchen zu Barockkirchen. Dieser Umbau wurde nicht nur von den Jesuiten, sondern auch vom neuen katholischen Adel betrieben, der an die Stelle des nach der „Rebellion“ enteigneten einheimischen protestantischen Adels getreten war und durch eine streng katholische Ausrichtung seine Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus zu demonstrieren suchte. Aber auch Vertreter des alten Grafschafter Adels, die durch Konversion zur katholischen Kirche die Verzeihung des Kaisers und die Wiederbelehnung mit ihren Gütern erlangt hatten, taten sich hierin hervor. Für die erste Gruppe steht Graf Johann Friedrich von Herberstein, der zugleich mit dem Umbau seines Arnsdorfer Schlosses ab 1652 seine dortige Patronatskirche von italienischen Baumeistern barock umgestalten ließ.10 Für die zweite Gruppe steht der Baron Bernhard (II.) von Stillfried, der konvertiert war und nun als ein „eyfriger Catholischer Mann“ galt, der „zu des Höchstlöblichen Erzhauses von Oestreich devotion und Dienste ganz eifrig halten thut“.11 Diese Adligen und die Jesuiten vermittelten den italo-böhmischen Barock seit den 1650er Jahren von Prag in die Grafschaft Glatz. Ausgeführt wurde er von Carlo Lurago und seinen italienischen Bauleuten und Stuckateuren.

8 Neumann, Johannes: Die Entstehung der Marienbildwallfahrt in der Grafschaft Glatz. Phil. Diss. Breslau. Breslau 1937, 27f.; zu Wartha vgl. Bein, Werner: Wallfahrt nach Wartha. Bilder aus ihrer Geschichte. In: ders./Schmilewski, Ulrich (Hg.): Wartha, ein schlesischer Wallfahrtsort. Würzburg 1994, 39–56, hier 45f. 9 ������������������������������������������������������������������������������������������� Lambrecht, Karen: „Jagdhunde des Teufels“. Die Verfolgung von Totengräbern im Gefolge frühneuzeitlicher Pestwellen. In: Blauert, Andreas/Schwerhoff, Gerd (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1993, 137–157; Herzig: Reformatorische Bewegungen, 162–167. Die Legende ist überliefert in: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 3 (1883/84) 369. 10 ����������������������������������������������������������������������������������������� Im Jahr 1670 erhielt Graf Johann Friedrich von Herberstein (1626–1701) vom Kaiser die Erlaubnis, seinen „Residenzort“ Arnsdorf in Grafenort umzubenennen. Zur Geschichte dieses Ortes und der Herrschaft des Reichsgrafen Johann Friedrich von Herberstein vgl. Herzig, Arno: Geschichte Grafenorts. In: Heinze, Veronika u. a. (Hg.): Grafenort. Geschichte und Erinnerungen. Oldenburg 1994, 31–33. 11 Stillfried, Rudolf: Geschichtliche Nachrichten vom Geschlechte Stillfried von Rattonitz. Berlin 1870, 252–258, hier 252. Zum Transfer des Barock Hubala, Erich: Die Kunst des 17. Jahrhunderts. Berlin 1990, 98–110.

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Johann Friedrich von Herberstein aus der schlesischen Herbersteinlinie hatte 1651 Maria Maximiliana, die Erbtochter des Glatzer Landeshauptmanns Johann Arbogast Reichsgraf von Annenberg, geheiratet und dadurch den umfangreichen Arnsdorfer Besitz seines Schwiegervaters erworben, darunter drei Renaissanceschlösser in Arnsdorf und die dortige Pfarrkirche. Das größte dieser Schlösser, auf der Niederterrasse über der Neiße gelegen, ließ Johann Friedrich 1653 bis 1658 zum Mehrflügelschloss umbauen und zudem einen Park mit einer Badegrotte anlegen.12 Gleichzeitig begann er 1652 mit der barocken Umgestaltung der gotischen Dorfkirche, die somit die früheste barocke Kirche der Grafschaft, wenn nicht gar Schlesiens, sein dürfte.13 Der Chor dieser Kirche wurde in seiner Grundstruktur belassen, jedoch das Kreuzrippengewölbe durch reiche Stuckdekoration mit Frucht- und Blumengirlanden, Festons sowie Kartuschen vollständig verändert. Erhalten blieb auf der linken Chorseite das gotische Sakramentshäuschen, das auch in protestantischer Zeit nicht entfernt worden war. Gleichzeitig ließen die Herberstein unter dem Chor ein Erbbegräbnis und über der Sakristei eine Grafenloge anlegen.14 Das flachgedeckte Kirchenschiff, das erst 1701 12 Kögler, Joseph: Merkwürdigkeiten der zur Grafenorter Pfarrey gehörigen Dorfschaften Grafenort und Melling (unpaginiertes Autograph von 1807 in der Opitz-Bibliothek Herne); Grundmann, Günther: Burgen, Schlösser und Gutshäuser in Schlesien, Bd. 1–3. Frankfurt a. M./Würzburg 1982–1987, hier Bd. 3: Schlösser und Feste Häuser der Renaissance. Bearb. v. Dieter Großmann, 68–72; Pilch, Józef: Zabytki architektury Dolnego Śląska. Wrocław 1978, 67–70; Lutsch, Hans: Schlesiens Kunstdenkmäler. Textband. Breslau 1903 [ND Mannheim 1979], 219; Staffa: Kotlina, 134–136; Knoetel, Paul: Versuch einer Kunstgeschichte der Grafschaft Glatz. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 8 (1888/89) 289–312. Während Kögler den Schlossumbau auf 1653ff. datiert, wird auf einer Inschrift in der Badegrotte im Park der Baubeginn dieses Bauwerks auf 1637/40 datiert, was Bernhard Patzak für zutreffend hält, Lutsch aber „bei so ausgeprägten Barockformen im Vergleich mit dem Schlosse in Nachod (1654) merkwürdig früh“ datiert findet. Vgl. Patzak, Bernhard: Die Badegrotte des Grafenorter Schlossparks. In: Schlesische Zeitung vom 31. Oktober 1920; Lutsch, Hans: Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien, Tl. 1–6. Breslau 1886–1903, hier Tl. 2: Die Kunstdenkmäler der Landkreise des Reg. Bez. Breslau, 32; leider sind unter den reichhaltigen Archivalien der Herrschaft Grafenort weder im Archiwum Państwowe we Wrocławiu noch im Familienarchiv Herberstein im Steirischen Landesarchiv Graz Quellen zum Umbau von Schloss und Park um 1653 und für die folgenden Jahre vorhanden. 13 Zur Geschichte der Kirche vgl. Herzig: Grafenort, 61. 14 ����������������������������������������������������������������������������������������� Kögler: Merkwürdigkeiten [7]: „Ums Jahr 1653 ließ Johann Friedrich Reichsgraf von Herberstein in dieser Kirche eine Gruft zu einem Erbbegräbniß seiner Familie anlegen.“ [21]: „Ums J. 1653 wurde bey Erbauung des damaligen Schloßes die jetzige Schloßkapelle zugleich angelegt [...]“; als im März 1664 Gräfin Maximiliana von Herberstein in der Arnsdorfer/Grafenorter Pfarrkirche beigesetzt wurde, sind das „gräfliche Oratorium“ und die „gräfliche Gruft“, in der bereits die verstorbenen Kinder des Grafenpaares bestattet worden waren, fertiggestellt. Trauriger Gräfflicher Leich-Proceß Der Hoch- und Wohlgebornen Frauen/ Frauen Mariae Maximilianae Gräffin von Herberstein [...]. 1665, 7f.; Kalinowski: Barock, 103f. Hier auch die Abbildung des Chores und der Turmfassade (78). Über der Grafenloge im Chor findet sich in einer Kartusche die Inschrift „1664 – renovatum 1939“, die vermutlich aus dem zuletzt genannten Jahr stammt, also nicht original ist.

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Grafische Darstellung der Schlossanlage von Grafenort von Friedrich Bernhard Werner von 1738. Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Renaissance-Schloss wurde in den 1650er Jahren von den italienischen Baumeistern Carlo Lurago und Andrea Carova ausgebaut. Die Gartenanlage ist in barocker repräsentativer Manier gestaltet und wie auf die umgebende Landschaft aufgelegt. Zugleich sind erste Anklänge an die nach dem Dreißigjährigen Krieg sich herausbildende landschaftliche Gartengestaltung erkennbar.

durch den Anbau von zwei gleichhohen Nebenkapellen den Grundriss eines Kreuzes erhielt, wurde mittels einer Spiegeldecke umgestaltet und ebenfalls mit Bändern und Festons dekoriert. Die Außenwände wurden durch Pilastergliederung vereinheitlicht, die gotischen Fenster verkröpft, an der Turmseite wurde eine Fassade mit Rundfenster und dreieckigem Giebel vorgeblendet. Inwieweit die barocke Umgestaltung und ­Stuckierung in der ersten Bauphase ausgeführt wurde, muss offenbleiben. Von 1660 bis 1676 wurden gemäß den Kirchenrechnungen keine größeren Bauausführungen getätigt. Erst danach sind auch Stuckausführungen durch Rechnungen belegt. Ab 1676 wurde der Glockenturm „erhöht“ und mit einer neuen Haube und Knopf versehen. Am 13. Mai 1681 traf ihn jedoch ein Blitzstrahl und er brannte aus, wobei auch die zwei größeren Glocken schmolzen. Schon im Oktober 1681 wurde er wieder neu errichtet.15 15 Kalinowski: Barock, 103f. Zur Bauausführung gemäß den Kirchenrechnungen vgl. die folgenden Anmerkungen. Als 1934 der Kirchturm renoviert wurde, fanden sich im Turmknopf mehrere

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Die erste Bauphase, ohne Turmbau (1676 und folgende Jahre) und Seitenkapellen (1701), war 1658 abgeschlossen. Vom Prager Erzbischof, zu dessen Diözese die Grafschaft Glatz gehörte, wurde durch dessen „Assessor und Canzler“ Heinrich Meckenburger am 24. April 1658 dem Breslauer Weihbischof Balthasar Liesch von Hornau die Erlaubnis erteilt, die Kirche einzuweihen. Die Erlaubnis galt auch für die Filialkirche in Lomnitz, die wohl ebenfalls umgebaut worden war.16 Laut Kirchenrechnungen der Arnsdorfer/Grafenorter Kirche, die von 1651 ab überkommen sind, arbeiteten vom 31. Mai bis 31. Dezember 1652 zwei Maurer 98 Tage lang für 24 Kreuzer pro Tag, dazu erhielten sie täglich sechs Kreuzer für Bier, während die Tischler täglich insgesamt nur sechs Kreuzer bekamen. Dem Glaser wurden für zehn neue Kirchenfenster und drei Sakristeifenster 29 Gulden, 27 Kreuzer bezahlt. Insgesamt musste die Gemeinde für Material und Bauarbeiten 97 Taler, 18 Kreuzer und drei Heller aus ihrem Kirchenbesitz geben. Ein Jahr später 1653 fielen noch einmal für 13 ½ Tage Maurerarbeiten (drei Maurer) zwölf Taler an, zuzüglich zwei Taler für Bier.17 Für die folgenden Jahre bis 1669 verzeichnen die Kirchenrechnungen keine Ausgaben für den Kirchenbau.18 Die meisten dieser Ausgaben musste die Gemeinde in der Zeit Urkunden, die älteste von 1676, die zweite aus dem Jahr 1681, als der Turm, nach einem Blitzschlag getroffen, wieder aufgebaut wurde. Bericht der Grenzwacht [Glatz] Nr. 305 (7. November 1934). Die Urkunden liegen nicht mehr vor. In: Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65 befindet sich jedoch eine Urkunde vom 26. August 1687, die anlässlich der erneuten Glockenweihe angefertigt wurde. Für den Wiederaufbau des Turmes und die neuen Glocken sammelten Patronatsherr und Gemeinde bei den anderen Gemeinden der Grafschaft, den Adligen und auch den Glatzer Zünften. Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65: „Register über daßjenige Allmosen, so ein jeder Benefactor, Patronus, Gemeinde oder Privatperson zu des Grafenorthischen Kirchenthurmbs und Glockenstueles Reparation wie auch zu Nachgießung der Glocken verehrt hat“. Der Graf stiftete 300 der insgesamt 542 Gulden. Dagegen verweigerten die Glatzer Stände eine Zahlung für die Wiedererrichtung. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Miasta Kłodzka, Nr. 54, 376 (Sitzung vom 16. März 1682). Nach Kögler: Merkwürdigkeiten [8] wurde der Turm wie vorher wiederhergestellt. Die Glocken wurden in Troppau von Christian Hofmann gegossen und vom Braunauer Abt Thomas Sartorius geweiht (vgl. ebd.). Die Weiheerlaubnis für Abt Thomas durch die erzbischöfliche Kanzlei Prag datiert vom 29. August 1687. Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65. 16 Die Weiheerlaubnis für den Herrn „Weihbischof von der Neiss“ (also von Breslau) datiert vom 24. April 1658. Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65 (Kopie in der Opitz-Bibliothek Herne); Kögler: Merkwürdigkeiten [7]. 17 Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65 (Kopie in der Opitz-Bibliothek Herne): Arnsdorffer Kirchen Raittung über Empfang unde Außegaben vom 31. Maio, 1652. ließ letzten December 1653igsten Jahres, unpag.; unter der Eintragung für die Zeit vom 31. Mai bis 31. Dezember 1652: „Es haben auch Ihr. Gräfl. Gnaden zu Renovation der Kirchen von Ihrem eignen Kalck 44 Hülen 5 Kübel, die Hüln pro 1 Thl geraitet hergelaßen umb willen aber dieselbe von der Kirchwiesen biß auf diß Jahr inclusive [...]“; als Handwerker werden genannt: zwei Maurer, der Arnsdorfer Tischler, der Altlomnitzer Tischler, ein Glaser, ein Schmied, zwei Steinbrecher, der Drechsler von Habelschwerdt, zwei Zimmerleute. 18 Es handelt sich um die Kirchenrechnungen von 1654, 1655, 1657, 1658, 1659, 1660, 1662, 1667 und 1669. Die Kirchenrechnungen von 1670 bis 1677 sind nicht überliefert.

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vom 12. April 1676 bis zum 16. Juli 1678 aufbringen, nämlich 934 Gulden. Der Graf steuerte 650 Gulden bei, sodass die gesamten Kosten für den Kirchenbau etwa 1.900 Gulden betrugen.19 Die Baukostenaufstellungen in den Kirchenrechnungen lassen einige Fragen offen. Waren zwischen 1652/53 nur die dringenden Umarbeiten erfolgt und die eigentliche barocke Um- oder Ausgestaltung erst ab 1676 vorgenommen worden, nachdem die Umgestaltung der Glatzer Jesuiten- und Pfarrkirche abgeschlossen war? Dafür sprechen die hohen Stuckateur(„Stockedor“)-Kosten von 114 Gulden, 33 Kreuzern, die vom 13. April bis zum 6. November 1677 von der Gemeinde aufgebracht werden mussten. Auch die Schlosskapelle, die 1653 errichtet worden war, erhielt wohl jetzt ihre Stuckausstattung und wurde 1678 von dem Grafschafter Dechanten Maximilian von Podharsky eingeweiht.20 Bei der Baugeschichte des Grafenorter Schlosses und der Kirche im Auftrag von Graf Johann Friedrich von Herberstein darf nicht die harte Auseinandersetzung außer acht gelassen werden, die der Graf seit Ende der 1650er Jahre mit seinen Untertanen führte und die auch 1676 noch nicht abgeschlossen war. Die Untertanen der Herrschaft Grafenort, die neun Dörfer umfasste, widersetzten sich der Heraufsetzung von Diensten und Abgaben. Dabei kam es zu Fluchtaktionen, Inhaftierungen und Bittgesandtschaften an den Kaiser in Wien, der die Maßnahmen des Grafen deckte und durch ein Urbar festzuschreiben suchte. Mit einem Friedensangebot aus „Liebe und Herzlichkeit“ versuchte der Graf 1669 die geflohenen Untertanen wieder zurückzuholen, indem er die Fronarbeiten reduzierte. Nach Weiterführung der Bauaktivitäten 1676 und in den folgenden Jahren setzte er jedoch die Abgaben wieder herauf, was 1679 zu ei19 Für 1676 liegt folgendes Register vor: „Register über alle und jede Einnamb und Außgab geldt waß den Maurern, Zimmerleuthen, Stockedoren alß auch sonsten exera ant den Kirchenbau zue Grafenorth ausgeben worden vom 14. April 1676 angefangen“. Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65 (Kopie in der Opitz-Bibliothek Herne). 20 Ebd., Register 1676: Der „Meister Maurer“ bekam täglich dreißig Kreuzer, dazu „die Kost bey Ihr. gräfl. Gnaden“; vom 17. November 1676 bis zum 24. April 1677 nur den halben Lohn: 15 Kreuzer, ab 27. April 1677 wieder dreißig Kreuzer; sein „Junge“ pro Tag neun Kreuzer; der Geselle Andreß Jogwer täglich neun Kreuzer; der Geselle Michel Waigang täglich sechs Kreuzer, desgleichen der Geselle Christoph Menzel; der Maurer Merten Nößl täglich neun Kreuzer, Caspar Blimel täglich sechs Kreuzer, desgleichen Casper Otte; der „Stockedor Johannes“ erhielt vom 16. September 1676 bis zum 24. April 1677 täglich 15 Kreuzer, vom 27. April bis 16. Oktober 1677 täglich dreißig Kreuzer, vom 25. April 1678 bis 4. Juni 1678 ebenfalls dreißig Kreuzer. Dafür führte er Arbeiten an der Kirche, am Torhaus, am Beinhaus und an der St. Barbara-Kapelle aus; der „Meister Zimmermann“ Rudolf aus Glatz erhielt 21 Kreuzer; der Bauknecht Jerge Rotzmann täglich neun Kreuzer, der Axtknecht Simon Klar sechs Kreuzer, desgleichen die Axtknechte George Stoltz und Hans Hanisch; neben dem „Meister Maurer“ beziehungsweise dem „Jacob Maurer“ wird zeitweilig auch „sein Bruder“ ( Johannes) geführt; das Register unterscheidet zwischen den „welschen“ Maurern (Meister Jacobus, seinem Bruder Johannes und dem Jungen) und den „hiesigen“ Maurern. Zur Weihe der Schlosskapelle Kögler: Merkwürdigkeiten [21]; die Stuckausführungen in der Schlosskapelle und der Pfarrkirche weisen große Übereinstimmungen auf.

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ner erneuten Delegation an den Kaiser führte, der jedoch befahl, die 55 namentlich genannten „Redelsführer“ gefangenzusetzen. Erst nach der Pest von 1680 kam es zu einem Ausgleich zwischen Graf und Untertanen. Während der 1660er Jahre waren deshalb wohl die Neubauten nicht recht vorangekommen. Trotz seines rigiden Vorgehens gegen seine Untertanen hatte der Graf weder beim Kaiser noch bei den kirchlichen Institutionen seinen Ruf als „gut Catholischer Christ“ und „treuer Christ an dem Felsen der Kirchen“ verloren.21Auf seiner Visitationsreise 1665 durch die Grafschaft Glatz, die die erfolgreiche Rekatholisierung der Grafschaft demonstrieren sollte, hatte Kardinal Harrach in der Arnsdorfer/Grafenorter Kirche drei Altäre und drei Glocken geweiht, obgleich der Kirchturm noch nicht „erhöht“ worden war. Die Weihen, die der Prager Erzbischof in Grafenort vornahm, zeigen, dass der Graf als Demonstration der neuen Katholizität in seinem „Residenzort“ mehrere Kapellen hatte errichten lassen, so auf dem Kirchhof eine Barbara-Kapelle und auf dem Eichberg im Wald die St. Antonius-Kapelle, einen zentralen Rundbau.22 Von der ursprünglichen Inneneinrichtung der Grafenorter Kirche aus den 1650er Jahren ist nichts überkommen bis auf das MariaHilf-Bild, das Herberstein für den Hochaltar stiftete und das Michael Klahr der Jüngere bei der Neufertigung des Hochaltars 1786 übernahm.23 Die Frage nach dem Architekten für die Baudurchführungen an Schloss und Kirche bis 1676 bleibt umstritten. Nach Pilch waren es die Italiener Lorenzo Nicelo und Andrea Carova, die mit Lurago über Prag in die Grafschaft gekommen waren, nach Geisler Carlo Lurago selbst.24 Graf Johann Friedrich war in Architekturfragen sehr erfahren. Nach Angaben des Glatzer Dechanten Elias Dionysius Schreiber hatte er „nicht nur den Bau seiner herrlichen Schlösser/ deren Kirchen und Capellen selbsten an[ge]geben [...]/ und nach allen seinen maßrichtungen selbst ausgeführet/ sondern [...] ­vielen anderen auch fürstlichen Palästen/ den ersprießlichen Rath zu gutte stellung und Ordnung des Baus [...] ertheilet“.25 Demnach ging die Planung von Schloss, Kirche und Ka-

21 Traurige Abbildung daß durch den stürmenden Todt abgerissenen Edelsten Herbersteinischen Grund-Stein Ihro Excellenz [...] Herrn Joannis Friderici des Aeltern [...]. Bey dero dreytägigen Leich-Begängnis vorgetragen in Graffen-Ort von Elia Dionysio Schreiber [...] der Graffschaft Glatz Vicario Foraneo und Dechandt [...]. Glatz 1701, 12f.; vgl. Herzig, Arno: Sozialprotest der schlesischen Landbevölkerung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: ders.: Beiträge zur Sozialund Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997, 39–58, hier 51–58. 22 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kögler: Merkwürdigkeiten [7f.]; die Erlaubnis aus Prag datiert vom 10. Februar 1660: „nach getanem Gelübde eine Kapelle zu Ehren der hl. Franz und Antonius von Padua auf seinem Grund zu errichten.“ Archiwum Parafii w Gorzanowie, o. Sign. (Kopie in der Opitz-Bibliothek Herne). 23 Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65 (Kopie in der Opitz-Bibliothek Herne): Register der Kirchen zu Arnsdorff [...] nach gehaltener Kirchen Raittung den 16. Nov. 1658. Der Kirchen Inventarium. 24 Pilch: Zabytki, 67; Grundmann: Burgen, 69. 25 Traurige Abbildung, 10f.

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pellen in Arnsdorf/Grafenort auf den Grafen selbst zurück, der sie dann von italienischen, aber auch einheimischen Baumeistern und Handwerkern ausführen ließ.26 Ist für Arnsdorf/Grafenort eine Bautätigkeit des nach Lurago bedeutendsten italienischen Baumeisters in der Grafschaft, Andrea Carova, nicht belegt, so wurde dieser 1659/60 – also noch bevor er ab 1665 Luragos Bauten in Glatz weiterführte und mit dem Baumeister Francesco Canavale und dem Stuckateur Geronimo Faltone die Jesuitenkirche barock umgestaltete27 – von dem Neuroder Adligen Bernhard (II.) von Stillfried für den Umbau der dortigen Pfarrkirche angeworben. Als Begründung für den Umbau, die das neue ästhetische Empfinden widerspiegelt, heißt es im „Liber memorabilium“ der Stadt Neurode: „Demnach die allhießige Pfarrkirch, gar enge und schlechten raum, zufaßung so vieler Kirchkinder gehabt, auch sonsten mit den Thoren sehr verbawt, finster und unbequem gewesen, gleichsehr aber, in dero Vermögen, etwas Baarschaft sich befunden, so nirgends beßer undt nüzlicher alß zu Erweiterung solcher Kirchen anzuwenden: Alß hat die gnedige Lehensherrschaft, mit dem Herrn Pfarrer sich beredt undt die Erweitterung der Kirchen in Gottes Namen Anno 1659. zu Anfang des Jahres verckstellig gemacht, solchen Baw auch einem welschen Baumeister Herrn Andreae Carove verdinget, und anvertrawet, und Ist mit verleihung Göttlicher gnaden Ermelter baw Inner zwey Jahren alß zu Ende des 1660. Jahres glücklichen vollführet, die Kirchen in den Standt, wie sie itzo befindlich, dem Höchsten sey Lob gebracht, A[nn] o 1661. aber vollents mit Brücken versehen undt mit steinern platten gepflastert worden. Und kostet ermelter Kirchenbau ueber 4.000 Taler schlesische wehrung [...].“28 Die Stiftungsurkunde des Barons und seiner Gemahlin führt im Hinblick auf die Umgestal26 Was Carlo Lurago als Architekten für das Grafenorter Schloss betrifft, so kann der Kontakt zu ihm einmal über den Reichsfürsten Octavio Piccolomini zustande gekommen sein, der 1634 ­ebenfalls als neuer Adliger in Nordböhmen vom Kaiser das Schloss Nachod geschenkt bekommen hatte und dieses seit 1651 durch Lurago umbauen ließ. Die Kontaktaufnahme zu Lurago und seiner Bauhütte könnte allerdings auch über die Glatzer Jesuiten erfolgt sein, zu denen Herberstein sehr gute Beziehungen unterhielt. Die einschlägige Literatur weist allerdings keine Tätigkeit Luragos in Grafenort nach. Duras: Architektenfamilie, 32; Cavarocchi, Franco: Die Passauer Domkünstler aus dem Intelvital. In: Der Passauer Dom. Festschrift zur Vollendung der ersten Gesamtrenovierung seit dem barocken Wiederaufbau. Passau 1980, 135–155, hier 145– 149. Zur Zuordnung der Architekten und Künstler bei der Grafenorter Kirche und dem Schloss vgl. Badstüber, Ernst u. a. (Hg.): Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler in Polen. Schlesien. München/Berlin 2005, 320–322. Zu Neurode ebd., 657. 27 Duras: Architektenfamilie, 40; Kögler: Chroniken, Bd. 2, 74; Kalinowski: Barock, 100. 28 Liber memorabilium, unpag. (in Privatbesitz). Andrea Carova erhielt 1.815 Gulden oder 1.512 Taler, der Steinmetz Carlen Mutono (?) 604 Gulden oder 503 Taler, der Steinmetz Carlen Syreno 25 Gulden oder 20 Taler; insgesamt beliefen sich die Ausgaben für den Kirchenbau auf 4.314 Taler. Ebd.; nach Kögler wurde durch Andrea Carova die Kirche auf der Südseite erweitert, mit Bänken versehen und mit Steinplatten gepflastert. Außerdem wurde im Jahr 1660 ein neuer ­Hochaltar errichtet. Kögler: Chroniken, Bd. 1: Die Stadt- und Pfarreichroniken von Lewin – Mittelwalde – Wünschelburg – Neurode – Wilhelmstal, 168; Cavarocchi, Carove (Carowe, Korb), Andrea. In: Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. 16. München/Leipzig 1997, 527.

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tung noch weitere Details auf: „Die Allhiessige Pfarrkirchen Bey S. Nicolai [...] [ist] Theils von newem, und von grundt aus, Erweittern, Theilss aber Erhöhen, ­vernewern, durch undt durch new welben, undt also mehren, theils new aufrichten, decken, diesses Thürmlein Drauf setzen, und alles in itzige Form, wie zusehen, Bringen lassen.“29 In Stuck wurde in dieser Kirche offensichtlich nichts ausgeführt, da die Quellen zwar Maurer und Steinmetze, aber keine Stuckateure aufführen. Wie in Arnsdorf/Grafenort nutzte auch hier der Patronatsherr die Visitation von Kardinal Harrach 1665, um mit der Weihe der umgebauten Kirche und der neu errichteten Annenkapelle die erfolgreiche Rekatholisierung zu demonstrieren.30 Während Andrea Carovas Namen in den Arnsdorfer/Grafenorter Kirchenrechnungen nicht auftaucht, werden der von Jacobus Carova (1652–1714), vermutlich ein Sohn des Andrea, sowie Jacobus’ Bruders Giovanni seit 1676 in den Grafenorter Kirchenrechnungen und Turminschriften („Dominus Jacobus Canova [!] murarius italus“) geführt. Andrea Carova hatte vermutlich nach 1670 die Grafschaft verlassen; dagegen blieb Jacobus Carova daselbst zurück, wo er am 26. Mai 1714 in Mittelwalde starb.31 Auf ihn gehen zahlreiche Barockbauten zurück, darunter eine der schönsten Kirchen, nämlich die von Neundorf im Kreis Habelschwerdt. Jacobus Carova, der als kaiserlicher Festungsbaumeister in Glatz tätig war, arbeitete mit seinem italienischen Bautrupp, darunter dem Stuckateur Giovanni, und deutschen Bauleuten für die Familie Herberstein und die wohl reichste Grafschafter Adelsfamilie, die Althann, die 1655 vom Kaiser mit der von David Heinrich von Tschirnhaus „hinterlassenen Herrschaft Mittelwalde“ belehnt worden war. Für Johann Friedrich von Herberstein führte der „welsche Meister Jacobus“ in Grafenort von 1676 bis 1678 den Barockausbau der Kirche und ihres Turmes fort, baute gleichzeitig die Schlosskapelle aus und legte 1678 den Schlossvorhof mit dem Georgstor an. 1685 nahm er an der Grafenorter Filialkirche in Altlomnitz einen Erweiterungsbau vor und errichtete in Grafenort nach 1681 den von einem Blitzschlag zerstörten Kirchturm neu. Für den Reichsgrafen Michael Wenzel (I.) von Althann, der von 1680 bis 1686 Landeshauptmann von Glatz war, und seinen Sohn Michael Wenzel (II.) erbaute er das Schloss von Wölfelsdorf (1681 bis 1708), barockisierte zwischen 1697 und 1702 die dortige Pfarrkirche und projektierte 1702 die Kirche in Neundorf, wo der Graf von Althann ein Piaristenkloster errichten wollte.32 29 Zit. nach Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, 254f. 30 Kögler: Chroniken, Bd. 1, 168; die Neuroder Kirche brannte beim großen Stadtbrand von 1884 ab. Eine bildliche Überlieferung von 1663 existiert im Buch der Neuroder Rosenkranzbruderschaft. In: Wittig, Joseph: Chronik der Stadt Neurode. Neurode 1937, 153; ferner in einem Stich von Friedrich Bernhard Werner von 1739. 31 Ich danke Rainer Sachs, Wrocław, für die Angaben über Jacob Carova aus dem Mittelwalder Kirchenbuch, ferner für die Überlassung einer Kopie des Neuroder „Liber memorabilium“. 32 Zu seiner Bautätigkeit in Grafenort Henke, Artur: Die Grafschaft Glatz. Breslau 1941, 245; die Turmurkunde anläßlich der Glocken- und Turmweihe von 1687 nennt: „Adhibitis Magistris et aedificatoribus, Domino Jacobo Canova [!] murario Italo, et Georgio Roner, Adamo Kariger, et

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Schon in den 1660er Jahren wirkten italienische und Grafschafter Handwerker zusammen. Letztere übernahmen von Ersteren den barocken Stil, der aber erst nach 1700 mit dem Bau von 15 neuen Kirchen und deren Neuausstattungen voll zur Entfaltung kam.33 Doch hatten der Adel und die Orden durch den Bau von Kirchen, Klöstern, Kapellen, Mariensäulen, Heiligenbildern und Schlössern dafür gesorgt, dass sich in den letzten Dezennien des 17. Jahrhunderts die Grafschaft immer stärker in eine Barocklandschaft verwandelte.34 Eine Akzeptanz des neuen Stils und des Barockkatholizismus vonseiten der Bevölkerung lässt sich nach 1680 feststellen. Hier spielte die Erfahrung mit der Pest eine wichtige Rolle, obgleich auch jetzt noch der Teufels- und Hexenglaube die Gemüter sehr stark beschäftigte.35 Die Pestsäulen und Pestkapellen propagierten nach zeitgenössischer Auffassung nicht nur die Überwindung der Pest, sondern nach dem Sieg über die Türken 1683 auch die Überwindung des Unglaubens und des Protestantismus. Die Glatzer Pestsäule auf dem Oberring, nach Prager Vorbild von dem Bildhauer Hans Adam Beyerhoffer errichtet, demonstrierte diesen Sieg nicht nur in der Kirche, sondern auch im Stadtbild. Die Initiative hierzu ging von den Jesuiten aus, denen der Glatzer Rat mit der Einrichtung eines Gelöbnistages folgte.36 Wohl aus eigenem Antrieb, nicht auf Initiative des Ortsgeistlichen oder adligen Patronatsherrn, errichteten 1680 „Wirte, Gärtner und Häusler“ in Schlegel „aus eigner Andacht und ganz einhellig [...] dem heyligen Chreutz Christy, seiner allerheiligsten Jungfräulichen Schmertzlichen Mutter Mariae, ihren bittern Thränen, denen heyligen Pestnothelffern oder Patronen [...]“ eine Ka-

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Joanne Pohl, fabris lignariis Glacensibus“. Archiwum Parafii w Gorzanowie, Nr. 65 (Kopie in der Opitz-Bibliothek Herne). Zu Altlomnitz Knoetel: Versuch, 309; Bach: Kirchen-Geschichte, 320f. Zu den ersten deutschen Barockbaumeistern in der Grafschaft zählen zu dieser Zeit Georg Langer, der 1680 die Pestkapelle auf dem Schlegeler Berg errichtete, und Augustin Reinsberger, der nach Andrea Carova bis 1690 die Bauten des Glatzer Jesuitenkollegs zu Ende führte. Duras: Architektenfamilie, 40; so leitete beispielsweise Jacobus Carova den Pfarrer und Architekten Anton Joseph Lengfeld an, der die Kirche in Schönfeld projizierte. Bach: Kirchen-Geschichte, 510; Patzak, Bernhard: Das Dorf Schönfeld im Kreise Habelschwerdt (1720–1722). In: Guda Obend 20 (1930) 45f.; Staffa: Kotlina, 382f. So begannen die Minoriten 1678 mit dem Bau ihres Klosters, die Franziskaner schon 1644. Auch hier beteiligte sich finanziell neben dem Kaiser der Grafschafter Adel an der barocken Gestaltung von Kloster und Kirche in den 1680er Jahren. Der Grafschafter Oberregent Edmund von Götten ließ 1662 an der Nordseite eine Kapelle zu Ehren des heiligen Antonius errichten und 1668 durch Bernhard (II.) von Stillfried eine Kapelle zu Ehren unser lieben Frau von Loretto. Kögler: Chroniken, Bd. 2, 73, 135; Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, 255; dazu gehören auch die Georgskapelle (1665) und die Marienkapelle (1678) in Bad Landeck, die der Adlige Siegesmund Hoffman von Leuchtenstern von italienischen Bauleuten errichten ließ. Bach: Kirchen-Geschichte, 413; Marx, Jörg: Grafschaft Glatzer Kirchen in Bild und Wort. Leimen 1967, 40. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 162–167. Golitschek/Lutsch: Schlesiens Kunstdenkmäler, 292; kleinere Pestsäulen aus diesem Jahr finden sich in Melling, Seitenberg, Altwilmsdorf und Wünschelburg; vgl. Bernatzky, Aloys (Hg.): Lexikon der Grafschaft Glatz. Leimen 1984, 206.

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pelle.37 Weitere Pestkapellen wurden in Neurode, Ebersdorf, Niedersteine, Neuheide, Rückers und Habelschwerdt errichtet; vielfach geschah dies auch aus Dank dafür, dass die Pest den Ort nicht heimgesucht hatte, so in Habelschwerdt und Neurode. Die Erfahrung, dass die Pest alle gleichermaßen traf, dokumentiert die Inschrift an der Neuroder Pestkapelle, wenn diese davon spricht, dass „die Pest durch Stadt und Schlösser unbegreiflich hart grassieret“.38 Die Gelöbnistage, die ab 1680 in zahlreichen Gemeinden aufkamen, wurden weitgehend an den Tagen der Pestheiligen (Franz Xaver, Sebastian) oder der heiligen Barbara gefeiert, die die Gläubigen als Heilige gegen einen unerwarteten Tod verehrten. Auf Anregung von Adligen und Ordensgeistlichen entstanden seit den 1660er Jahren Bruderschaften, denen sich nach und nach die Bevölkerung anschloss. Sie bekamen innerhalb der Gemeinden eine wichtige Funktion, organisierten Wallfahrten, insbesondere aber die Beerdigungen, die im Barock – wie überhaupt die Todeserfahrung – eine wichtige Rolle spielten. Der Krieg, dann aber vor allem die Pest von 1680 hatten diese Generation immer wieder mit dem Tod konfrontiert. Die Heilsvergewisserung richtete sich deshalb sehr stark darauf aus. Es galt, sich gegen den unerwarteten Tod geistlich zu schützen, nach dem Tod aber sich mittels der Gebete der Geistlichkeit und der Bruderschaftsmitglieder des Heils zu vergewissern.39 Auch hier erfüllte der Adel eine gewisse Vorbildfunktion, wie der „Leich Prozeß“ nach dem Tod der Gräfin Maximiliana von Herberstein zeigt, der „von dem 23. Martij biß 5. Aprilis 1664. Jahres auff dem Gräffl. Schloß Arnsdorff/ in beywohnung unterschiedlicher Cavaliern und Damen/ wie auch vieler Ordens Personen in größter betrübnuß gehalten worden“.40 Als Vorbild diente dem Grafschafter Adel das spanisch-habsburgische Totenzeremoniell. Die Räume, sowohl die Schlosskapelle als auch die Pfarrkirche, wurden schwarz ausstaffiert und nur mit Kerzenlicht erleuchtet. Der Leichnam der Toten wurde im „Habit und Skapulier des Heyl. Carmeliter Ordens, ihr gewöhnliches Rosarium in dero Händen habend“ auf einer hohen, schwarz bedeckten Bühne in der Schlosskapelle aufgebahrt, wobei Tag und Nacht die „Untertanen“ beteten und von Geistlichen Requien gelesen wurden, während der Chor, Mitglieder der Gemeinde und der Dienerschaft, fast ununterbrochen „unterschiedliche traurige muteten“ sang.41 Nicht nur in Arnsdorf/Grafenort wurden drei 37 Der Brief der Schlegeler an den Prager Erzbischof in Wittig, Joseph: Chronik der Gemeinde Schlegel, Kr. Neurode, Bd. 1–2. Hattingen/Neuss 1983, hier Bd. 1, 214. 38 Bernatzky (Hg.): Lexikon, 205f. 39 1662 errichtete Edmund von Götten gleichzeitig mit der Antoniuskapelle am Franziskanerkloster eine Antoniusbruderschaft. Kögler: Chroniken, Bd. 2, 135; zur Konkurrenz der von den einzelnen Orden geführten Bruderschaften und dem internen Ausgleich hinsichtlich des Totenkults 1671 vgl. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 182. In der Grabrede auf Johann Friedrich von Herberstein (1701) lobte der Glatzer Dechant Elias Dionysius Schreiber, dass der Verstorbene immer den Tod vor Augen gehabt und deshalb die St. Barbara-Kapelle errichtet habe. Vgl. Traurige Abbildung, 12. 40 Trauriger Gräfflicher Leich-Prozeß, 7f. 41 Ebd.

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Tage alle Glocken geläutet, sondern auch in Glatz, wo die Jesuiten, Karmeliter und Minoriten zudem täglich sechs Requien lasen. Am dritten Tag wurde der Leichnam in einen Eichensarg gelegt und dieser geschlossen auf die Bühne gestellt. Nun erfolgte das Defilee des Adels, des gräflichen Hofstaats, aber auch der Herrschaftsuntertanen, „derer so wohl Manns- als Weibspersohnen/ nebenst viel frembden sich eingefundenen Bürgern/ und Gemeinsleuthen/ über etlich tausend Persohnen gewesen“.42 Abends bei Dunkelheit wurde der Leichnam auf einem schwarzen Wagen in die Kirche überführt, dem Adel, Hofstaat und Untertanen folgten; dabei spielte die Regie mit den „Windlichtern“, von 29 Dienern getragen, eine wichtige Rolle. In der Kirche wurde der Sarg auf ein castrum doloris gestellt, bevor der „Cörper in die alda gantz neu auferbaute Gräffl. Grufft hinuntergetragen“.43 In den folgenden Tagen wurden in der Gruft und in der Schlosskapelle Seelenmessen gelesen, immer in Begleitung des Chores. Vom 3. April an erfolgte die Abhaltung der Requien in der Kirche, wobei diese „samt allen Altaren/ Predigtstuhl und Bäncken/ über und über schwarz überzogen/ und die Altär mit sonderlichen schönen schwartzen Ornat bekleidet/ alle mit vielen weissen Wachslichtern bestecket/ das große Altar mit fünff grossen/ die kleinen aber/ jedes mit einem grossen/ und vier kleinen Annenbergischen Wappen behangen gewesen/ hat man in Mitten der Kirchen über die Grufft/ vor dem hohen Altar/ ein hohes und schönes Castrum doloris, viel Stuffel hoch/ aufgebauet“,44 auf welchem unter dem Kreuz ein Katafalk stand und alles von zahlreichen weißen Wachslichtern in ein geheimnisvolles Dunkel gesetzt wurde. Der gesamte Klerus der Grafschaft, Welt- wie Ordensgeistliche, scheint damals in Arnsdorf/Grafenort gewesen zu sein, wobei täglich 15 Requien und ein „solennes Lobamt“ gehalten wurden. Im Anschluss an dieses divinum officium ließ der Graf im Schloss an „alle armen Leuthe/ so nur vorhanden/ und etwas begehrt haben/ [...] ein Allmosen/ sowohl am Geldt/ als Brodt durch seinen Hofmeister austeilen“.45 Am 4. April wurde der Eichensarg in einen schwarz-goldenen Kupfersarg gesetzt und die Gruft geschlossen. Das ganze Jahr über wurden nicht nur in der Pfarrkirche und der Schlosskapelle, sondern auch in Wien, Prag, Passau, Regensburg, Brünn und Neisse wöchentlich drei, das bedeutete insgesamt sechshundert, Seelenmessen gelesen. Der neue Adel versuchte hier, unterstützt vom Klerus, durch einen pompösen barocken Totenkult die Bevölkerung für den Katholizismus zu gewinnen, was in der Folge durch die Bruderschaften auch gelang, sodass sich 1702 Minoriten und Jesuiten im Hinblick auf ihre Bruderschaften einigten, die Begräbnisse nicht allzu pompös zu gestalten.46 Auch der Heiligenkult der Bevölkerung spiegelte in der zweiten Hälfte des 42 43 44 45 46

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Herzig: Reformatorische Bewegungen, 183; Mikulec, Jiří: Religious Brotherhoods in Baroque Bohemia. In: Historica. Historical Sciences in the Czech Republic 2 (1995) 123–137. Zur Entwicklung der Musikbruderschaften in der Grafschaft Glatz vgl. Rudolf, Walter: Schlesische musi-

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17. Jahrhunderts die Todes- und Schmerzerfahrung, wie die Wallfahrt zu Maria in den Schmerzen in Altwilmsdorf, die Verehrung der bitteren Schmerzen Mariae, die Gelöbnisse an die Pestheiligen oder die heilige Barbara, die Passionskapellen und Passionsspiele, die der Adlige Paschasius von Osterberg ab den 1690er Jahren errichten ließ, zeigen.47 Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts trat im Heiligenkult das Todesmotiv zurück. Wie die Stiftungen an die Heiligen in den Dorfkirchen nun deutlich machen, war die Heiligenverehrung von der Bevölkerung verinnerlicht worden. Der Barockkatholizismus bestimmte die Alltagskultur. Überblickt man die Entwicklung von 1650 bis 1700, so zeigt sich, dass es die Jesuiten, Minoriten und Franziskaner, aber auch der neue Adel in der Grafschaft waren, die mittels des Kirchenbaus, der Errichtung von Heiligenbildern und Kapellen in der Landschaft, aber auch mittels der Heiligenverehrung, der Unterstützung der Bruderschaften und des Wallfahrtswesens entscheidend zur Popularisierung des Barockkatholizismus in der Grafschaft Glatz beitrugen. Sie orientierten sich dabei an der pietas Austriaca des Kaiserhauses, das die religiösen Normen und Formen bestimmte.48 Der Barockkatholizismus demonstrierte die erfolgreiche Gegenreformation in der einfachen Bevölkerung, sodass es 1740 nach der Eroberung der Grafschaft durch Preußen keine Rückkehr zum Protestantismus gab. König Friedrich II. hatte dafür ein Gespür. Er handelte aus der richtigen Einschätzung der Mentalität der Bevölkerung heraus, als er 1743 der Madonna von Glatz ein Seidengewand stiftete.49

calische Collegia – hauptsächlich im 17./18. Jahrhundert – im Rahmen der allgemeinen Cäcilienbruderschaften der gesamten katholischen Kirche. In: Musik des Ostens 11 (1989) 75–138. 47 Zimmer, Emanuel: Albendorf, sein Ursprung und seine Geschichte bis zur Gegenwart. Breslau 1898, 93–100. 48 ��������������������������������������������������������������������������������������� Coreth, Anna: Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich. Wien 1959, 9–15. 49 �������������������������������������������������������������������������������������� Kahlo, Johann Gottlieb: Denkwürdigkeiten der Königlichen Preußischen souverainen Grafschaft Glatz von ihrem ersten Ursprunge bis auf gegenwärtige Zeiten. Berlin/Leipzig 1757, 56.

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8. Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts Der Konfessionalismus im Alten Reich prägte im 16./17. Jahrhundert zwei unterschiedliche Kulturen, eine katholische und eine protestantische, sodass für diese Zeit kaum von einer deutschen Nationalkultur gesprochen werden kann, sondern von einer Kulturdualität.1 Bestimmend für die katholische Frömmigkeitskultur war der Barockkatholizismus, der mit seiner Sinnlichkeit nicht nur die Elitekultur in der Architektur, der bildenden Kunst sowie der Literatur bestimmte, sondern mit seinen Sozialformen, den Bruderschaften, Wallfahrten und Heiligenfesten entscheidend die Alltagskultur des gemeinen Mannes prägte.2 Wichtig ist die politische Komponente des Barockkatholizismus, der vor allem die Herrschaft der Habsburger und Wittelsbacher stützte.3 Schlesien stellt, was die beiden Konfessionskulturen betrifft, einen Sonderfall im Alten Reich dar, denn hier entwickelten sich auf engem Raum beide Kulturen nebeneinander.4 Zwar konnte sich unter den gegebenen politischen Umständen im protestantischen Bereich nur eine stark innerlich bestimmte Barockfrömmigkeit entfalten, doch war dies auch im übrigen Reich der vorherrschende Zug protestantischer Kultur.5 Im Zentrum stand der kirchliche Gottesdienst mit Predigt, Gemeindegesang und Orgelmusik sowie der Veranschaulichung der Mittlerschaft Jesu durch die darstellende Kunst. Die Architektur spielte bis ins 18. Jahrhundert im protestantischen Bereich in Schlesien kaum eine Rolle.6 Die Entwicklung der Bikonfessionalität in Schlesien hing mit der habsburgischen Politik zusammen, die ihr landesherrliches ius reformandi im katholischen Sinn erst nach 1620 durchsetzen konnte.7 Bis dahin waren Schlesien und die Grafschaft Glatz – Letztere gehörte damals zu Böhmen – gemäß der lutherischen Konfession reformiert worden. Die lutherische Reformation war seit den 1520er Jahren in Schlesien recht

1 ������������������������������������������������������������������������������������������ Burkhardt, Johannes: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617. Stuttgart 2002, 110f. 2 Münch, Paul: Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600–1700. Stuttgart 1999, 114–120. 3 ����������������������������������������������������������������������������������������� Herzig, Arno: Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Göttingen 2000, 17–26. 4 ������������������������������������������������������������������������������������������� Conrads, Norbert: Zwischen Barock und Aufklärung (1618–1740). In: ders. (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin 1994, 258–345, hier 258–269. 5 Münch: Jahrhundert, 117, 120. 6 Harasimowicz, Jan: Treści i funkcje ideowe sztuki śląskiej reformacji 1520–1650. Wrocław 1986, 51–55; ders.: Die Glaubenskonflikte und die kirchliche Kunst der Konfessionalisierungszeit in Schlesien. In: ders.: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Matthias Noller und Magdalena Poradzisz-Cincio. Köln/Weimar/Wien 2010, 3–26. 7 Herzig: Zwang, 35–49.

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harmonisch verlaufen.8 Soziale Konflikte waren nicht aufgetreten, die städtischen Räte hatten ihre Chance erkannt und mit der Inanspruchnahme des geistlichen Regiments nicht nur ihre Macht gefestigt, sondern in den Städten auch ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen.9 Die lutherischen Prediger hatten den Trennungsstrich zur alten Kirche nicht sehr scharf gezogen und auch die Breslauer Bischöfe eher eine vermittelnde Haltung eingenommen. Doch war es in der lutherischen Bewegung in Schlesien schon früh zu einer Differenzierung und bald auch zu einer Spaltung durch den schlesischen Reformator Caspar von Schwenckfeld gekommen.10 Nachdem Schlesien als Nebenland und die Grafschaft Glatz als Teil Böhmens 1526 an die Habsburger gefallen waren, spielte nun stärker die Politik in der Konkurrenz reformatorischer Bewegungen eine Rolle. Kaiser Ferdinand I. wie auch seine Nachfolger gingen dabei scharf gegen die Schwenckfelder und die Täufer vor, während die lutherische Lehre sich bis in die 1590er Jahre relativ ungehindert entfalten konnte.11 Unter Kaiser Rudolf II. gab es während der 1590er Jahre erste gegenreformatorische Versuche, die aber am Widerstand der Lutheraner sowie am „Bruderzwist im Hause Habsburg“ scheiterten. Letztlich musste deshalb der Kaiser im sogenannten Majestätsbrief (1609) den Schlesiern den konfessionellen Status quo garantieren.12 An diese Abmachung hielt sich allerdings nicht sein Neffe, Erzherzog Karl, der als Bischof von Breslau sein Bischofsland Neisse mit allen Mitteln rekatholisierte. Nach dem entscheidenden Sieg der Habsburger am Weißen Berg bei Prag (1620) erreichten die schlesischen Stände über den sächsischen Kurfürsten von Kaiser Ferdinand II. dessen Zusage als böhmischer König, an den konfessionellen Verhältnissen in Schlesien nichts ändern zu wollen. Der Westfälische Friede (1648) garantierte in Artikel V den schlesischen Protestanten zwar die Beibehaltung der lutherischen Konfession, nicht aber deren Ausübung. Diese wurde nur den drei Friedenskirchen Glogau, Schweidnitz und Jauer sowie den Herzögen von Liegnitz, Wohlau, Brieg und Oels für ihre Territorien zugestanden, ferner der Stadt Breslau und dem Herzogtum Münsterberg, da dieses der Titulatur nach der Familie der Podiebrad gehörte.13 8 Ders.: Sozialprotest der schlesischen Landbevölkerung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: ders.: Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. ­Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997, 39–58, hier 43f. 9 Petry, Ludwig: Breslau und seine Oberherren aus dem Hause Habsburg 1526–1635. Ein Beitrag zur politischen Geschichte der Stadt. Hg. v. Joachim Bahlcke. St. Katharinen 2000, 12–15. 10 �������������������������������������������������������������������������������������������� Weigelt, Horst: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien. Berlin/New York 1973, 9f.; ders.: Von Schlesien nach Amerika. Die Geschichte des Schwenckfeldertums. Köln/Weimar/Wien 2007, 25f. 11 Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 65–68. 12 Bahlcke, Joachim: Regionalismus und Staatsintegration im Widerstreit. Die Länder der Böhmischen Krone im ersten Jahrhundert der Habsburgerherrschaft (1526–1619). München 1994, 235. 13 Deventer, Jörg: Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526–1707. Köln/Weimar/Wien 2003, 131–135; Conrads: Barock, 290–302; Herzig, Arno: Die Monokonfessionalisierung Schlesiens als politisches Programm der

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Trotz aller Versuche der Habsburger, gemäß ihrer politischen Prinzipien und entgegen den Bestimmungen des Westfälischen Friedens in Schlesien die Monokonfessionalisierung zugunsten der katholischen Kirche durchzuführen, blieb dieses Land bikonfessionell. Doch bedeutete das nicht, dass den Angehörigen der beiden großen Konfessionen, Katholiken und Lutheranern, ein gleichberechtigtes Exerzitium ihrer Konfession eingeräumt wurde. Evangelische Kirchen und damit Gemeinden gab es bis zur Altranstädter Konvention (1707) in den Erbfürstentümern nur bei den drei Friedenskirchen in Glogau, Schweidnitz und Jauer. Ferner gab es lutherische Kirchen in Breslau. In den ehemals piastischen Immediatfürstentümern Liegnitz, Wohlau und Brieg mit Kreuzburg wurden nach dem Tod des letzten Piasten (1675) den Lutheranern 109 der 241 Kirchen in den folgenden drei Jahrzehnten entfremdet, wobei das Patronatsrecht ein wichtiges Mittel bildete.14 Sie wurden erst nach der Altranstädter Konvention wieder zurückgegeben. In dem ehemaligen podiebradischen Herzogtum Münsterberg, dem 1648 ebenfalls die Aufrechterhaltung des lutherischen Kirchenwesens garantiert worden war, waren die meisten Kirchen bereits um 1628 rekatholisiert worden; nach 1653/54 folgten weitere 14 Kirchen, von denen nach Altranstädt neun zurückgegeben wurden.15 Nur im Herzogtum Oels blieb das protestantische Kirchentum erhalten. In fast siebzig Prozent des Landes gab es nur ein katholisches Kirchentum. Das bedeutete, dass Lutheraner an die katholischen Geistlichen ihre Sporteln zahlen mussten, auch wenn sie deren Kirchendienste nicht in Anspruch nahmen. Das ihnen im Frieden 1648 garantierte Recht, in der näheren oder weiteren Nachbarschaft noch existierende protestantische Kirchen zu besuchen, wurde von der katholischen Obrigkeit fast völlig eingeschränkt.16 Ließen sich Lutheraner außerhalb ihrer katholischen Kirchengemeinde lutherisch trauen oder ihre Kinder taufen, mussten sie das dem katholischen Pfarrer mitteilen und von diesem die Erlaubnis erbitten. Der Breslauer Bischof wies jedoch 1660 die katholischen Geistlichen an, dies nicht zu erlauben.17 Auch wurde den lutherischen Untertanen das Bürgerrecht abgesprochen und damit die Ausübung zünftiger Handwerke unmöglich gemacht. Sie wurden in den Städten zum katholischen Gottesdienst und zur Teilnahme an den Fronleichnamsprozessionen gezwungen.18

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Habsburger vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Harc, Lucyna/Wąs, Gabriela (Hg.): Religia i polityka. Kwestie wyznaniowe i konflikty polityczne w Europie w XVIII wieku. Wrocław 2009, 87–96. Petry, Ludwig: Politische Geschichte unter den Habsburgern. In: ders./Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 1–2. Sigmaringen 1988, hier Bd. 2: Die Habsburger Zeit 1526–1740, 1–99, hier 90f. Ebd., 88. Govil, Usha Maria: Landbevölkerung und Gegenreformation in den schlesischen Fürstentümern Neisse, Breslau und Brieg. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/1998) 63–98, hier 83. Schwedowitz, Walter: Geschichte der Kirchenerneuerung in der Neustädter Gegend. Neustadt/ OS 1930, 46, 52. Ebd., 53.

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Diese politischen Vorgaben begünstigten eindeutig die Herausbildung der katholischen Konfessionskultur. Ein Jahrhundert nach dem Trienter Konzil (1545–1563) erreichte der Barockkatholizismus in Schlesien eine demonstrative Entfaltung. Er basierte auf der politischen Strategie der Habsburger, die mittels der pietas Austriaca Herrscherhaus und Untertanen in einem einheitlichen Glauben zusammenführen wollten.19 Dieser eine wahre katholische Glaube musste nach außen hin prachtvoll in Erscheinung treten, sei es durch die Architektur, durch Bildstöcke, Wegkreuze und Brückenfiguren oder durch Wallfahrten und Bruderschaften. Das gesamte Herrschaftsgebiet sollte zu einer ‚sakralen Landschaft‘ werden, nachdem die Bedrohung des Glaubens durch die protestantischen Häresien oder aber durch die Türken glücklich überwunden war. Zu den Multiplikatoren dieser habsburgischen Programmatik zählten in Schlesien besonders die Zisterzienser.20 Neben ihnen und den Breslauer Bischöfen Friedrich von Hessen und Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg sowie einigen Mitgliedern des Domkapitels war es vor allem der Jesuitenorden, der mit seinen Kollegbauten und Kollegkirchen in Glatz, Neisse, Breslau und Glogau dieses Programm mittrug.21 Die Väter sorgten sich hauptsächlich um eine Rückkoppelung des neuen Bewusstseins in der Elite, aber auch in der einfachen Bevölkerung; denn mit ihren Bruderschaften und Sodalitäten erfassten sie nicht nur die geistige Elite, sondern ebenfalls das städtische Bürgertum und die Landbevölkerung. Die 1690 von dem Jesuitenpater Vitus Scheffer († 1717) gegründete Academia Amoris versuchte mit zahlreichen Schriften, eine programmatische Basis für die Auseinandersetzung mit den Protestanten zu schaffen. Die Tendenz dieser Schriften war weitgehend polemisch. Über eine aufgeschlossene Bürgerelite als Träger sollten sie im politischen Raum Wirkung erzielen.22 Aus verständlichen Gründen konnten die Protestanten in Schlesien dem nichts Gleichartiges entgegensetzen, da jede Polemik gegen die katholische Religion einer Majestätsbeleidigung nahegekommen wäre. In den rekatholisierten Gebieten war die späthumanistisch geprägte Kultur des lutherischen oder reformierten Bürgertums vernichtet worden. Sie lebte fort in Städten wie Breslau, Schweidnitz und Glogau sowie in den lutherischen Mediatfürstentümern der Podie19 ��������������������������������������������������������������������������������������� Coreth, Anna: Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich. München 1959, 9–15. 20 Grüger, Heinrich: Die Zisterzienser in Schlesien und ihre Bedeutung für barocke Frömmigkeit und Kultur. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 43 (1985) 67–80, hier 73–80; Köhler, Joachim: Politische, wirtschaftliche und kirchliche Voraussetzungen barocker Kultur und Frömmigkeit. Ebd., 44 (1986) 47–65, hier 60–65; Harasimowicz, Jan: Die Rolle der Zisterzienserklöster in der Bildung der Kulturidentität Schlesiens in der Frühen Neuzeit. In: ders.: Schwärmergeist, 46–64. 21 Kalinowski, Konstanty: Barock in Schlesien. Geschichte, Eigenart und heutige Erscheinung. München 1990, 16f.; Baumgarten, Jens M.: Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560–1740). Hamburg/München 2004, 181–225. 22 Walter, Rudolf: Jesuitengymnasium. In: Hoffmann-Erbrecht, Lothar (Hg.): Schlesisches Musiklexikon. Augsburg 2001, 320–322.

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brad und Piasten, wo eine bürgerliche Elite die soziale Basis für die Kulturleistungen der großen schlesischen Barockdichter bot. Angeregt von Martin Opitz, schufen diese ihre Werke nun in deutscher Sprache.23 Neben der bürgerlichen und der Adelselite versuchten auf katholischer Seite die Jesuiten, auch das einfache Volk zu gewinnen, das durch Bruderschaften und das Wallfahrtswesen eingenommen werden sollte. Schon bald nach dem Dreißigjährigen Krieg kümmerten sich die Glatzer Jesuiten um Wiederaufnahme der Wallfahrten zur Madonna von Wartha. Vor allem die Jugend versuchten sie für das Wallfahrtswesen zu interessieren. 1653 hatten die Jesuiten eine Sodalität für Schulkinder eingerichtet, die in der Wallfahrt mitzog. Wallfahrten zur Unterstützung der Staatsprogrammatik im Sinn der pietas Austriaca, wie sie in den jährlichen Wallfahrten des Kaisers nach Maria Zell demonstriert wurden, hatten auch in Schlesien ihre Entsprechung, wo an den offiziellen Stadtwallfahrten von Glatz nach Wartha der Landeshauptmann sowie seine Beamten, Offiziere und Mannschaften teilnahmen.24 Die Bruderschaften und Wallfahrtsordnungen sicherten die frühneuzeitliche Ständegesellschaft ab, disziplinierten mit ihren Vorschriften aber auch die hierarchischen Abstufungen der Untertanen im sozialen Sinn. Die wohl bedeutendste Bruderschaft in Schlesien schuf der Zisterzienserabt Bernhard Rosa mit seinen Josephsbruderschaften, die um 1700 mehr als 100.000 Mitglieder umfassten. Der Josephskult, der von Spanien kam, stellte das Leben der Heiligen Familie den Bruderschaftsmitgliedern als Vorbild hin. Die Josephsbruderschaften sollten Frieden, Einheit und Segen ins Land tragen. Auch hier ist ein sozialdisziplinierender Charakter unverkennbar.25 Es steht außer Zweifel, dass die Rekatholisierung in Schlesien durch die geistlichen Bruderschaften mit ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl ein starkes Fundament besaß. Mit ihren Festtagen und kollektiven Veranstaltungen bestimmten sie sehr stark das tägliche Leben der einfachen Menschen. Unterstützt wurden sie auch von dem neuen katholischen Adel, dem besonders an einer Realisierung der habsburgischen Konfessionsprogrammatik gelegen war. Zweifelsohne stellte der Barockkatholizismus in Schlesien eine eminent gesellschaftsprägende Kraft dar. Er behielt diese Kraft auch, als sich nach 1740 die politischen Voraussetzungen änderten und die habsburgische Programmatik der pietas Austriaca obsolet wurde. Noch im 19. Jahrhundert bildete er die Basis einer katholischen Identifi-

23 Deventer: Gegenreformation, 274–280; Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1/1: Von den Anfängen bis ca. 1800. Würzburg 1995, 133–140; Herzig, Arno: Konfession und Heilsgewissheit. Schlesien und die Grafschaft Glatz in der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2002, 73; Szyrocki, Marian: Martin Opitz. Berlin 1956, 20–30. 24 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 183. 25 Ders.: Zwang, 55; Bendel, Rainer: Einige neuere Forschungen zum Barock in Schlesien. In: ders./ Köhler, Joachim. (Hg.): Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum, Teilbd. 1–2. Münster/Hamburg/London 2002, hier Teilbd. 1, 350–355; Conrad, Anne: Der Katholizismus. In: dies./Greyerz von, Kaspar (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte 1650–1750. Paderborn 2012, 17–142, hier 55–60.

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Bernhard Rosa (1624–1696) war ab 1660 Abt des Zisterzienserklosters Grüssau und wirkte als Reformer seines Ordens und Gründer der Josephsbruderschaften, die als integrierende Kraft in der habsburgischen Konfessionspolitik wirkten. Zugleich war Rosa auch ein Wegbereiter des Barocks in Schlesien. Durch seine Initiative entstanden zahlreiche kirchliche Bauwerke, unter ihnen die Josephskirche in Grüssau mit einem Zyklus von Fresken des Barockmalers Michael Leopold Lukas Willmann, geb. 1630 in Königsberg, gestorben 1706 in Leubus.

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kation und bewies seine Vitalität in den Auseinandersetzungen der Kulturkampfzeit. Die ästhetische Seite dieser Bewegung aber sollte nicht die Voraussetzungen vergessen lassen, die vielfach mit Gewalt herbeigeführt worden waren.26 Barockkatholizismus und protestantischer Barock prägten in Schlesien zwei unterschiedliche Kulturen, wobei sich Letztere architektonisch erst nach der Altranstädter Konvention von 1707 mit den Gnadenkirchen entfalten konnte.27 Schon räumlich – wie an den Friedenskirchen erkennbar, die nur außerhalb der Stadt im Glacisbereich errichtet werden durften – beschränkte sich die lutherisch geprägte Kultur auf den Kirchenraum. Zumindest im Innern des Raumes konnten lokale Künstler sich barock entfalten.28 Doch nicht nur in der bibelzentrierten Bildprogrammatik wird der Unterschied zum katholischen barocken Heiligenhimmel, wie ihn Johann Michael Rottmayr und Christoph Tausch für die Jesuitenkirchen in Breslau und Glatz entwarfen, deutlich.29 Auch für den künstlerisch-bildlichen Bereich blieb das sola scripturaPrinzip bestimmend. Zur vollen Entfaltung kam diese Programmatik im ­Kirchenlied, mit der Johann Heermann eine durch die lutherische Theologie geprägte Innerlichkeit der barockkatholischen Sinnlichkeit entgegensetzte, während Apelles von Löwenstern an die humanistische Bürgerkultur in Schlesien anknüpfte.30 Selbst die Kirchenlieder eines Angelus Silesius scheinen trotz seiner Konversion (1653) und seines exaltierten Bekenntnisses zur katholischen Konfession bei der Breslauer Fronleichnamsprozession (1662) mit ihrer christologischen Bildsprache lutherisch geprägt zu sein. Folgen wir Heinz Schlaffer in seiner „Kurzen Geschichte der deutschen ­Literatur“, so bilden die evangelischen Kirchenlieder die einzigen Zeugnisse einer deutschen Nationalliteratur vor 1750, da sie das kulturelle Gedächtnis bis heute bestimmen. (Als Nationalliteratur sind nach seiner Definition die Werke anzusehen, die im literarischen Gedächtnis lebendig geblieben sind.31) Schaut man in das aktuelle deutsche „Evangelische Kirchengesangbuch“, so stellt man fest, dass der Beitrag der schlesischen Dichter zu dieser Nationalliteratur außerordentlich groß ist. Das Kirchenlied, das in einem engen Verhältnis zur säkularen Dichtung des schlesischen Barocks steht, bietet einen gleichrangigen Beitrag zur schlesischen Barockkultur, sei es als Elite- oder als Volkskultur.32 Offen bleibt sicher eine schlüssige Antwort auf die Frage, inwieweit das konkurrente Verhältnis der Konfessionen in Schlesien im 17. Jahrhundert zu der Blüte der beiden Konfessionskulturen beitrug. Kriegsnöte, Pest und schließlich die Unterdrückung der Lutheraner förderten eine Innerlichkeit, die sich getreu der Lehre Luthers im evangeli26 27 28 29 30

Herzig: Konfession, 37–51. Kalinowski: Barock, 114–120. Ebd., 144f. Baumgarten: Konfession, 226–230. Walter, Rudolf: Evangelisches Kirchenlied. In: Hoffmann-Erbrecht (Hg.): Schlesisches Musiklexikon, 339–346, hier 340. 31 Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München/Wien 2002, 17f. 32 Szyrocki, Marian: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk. Tübingen 1964, 65–70.

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schen Kirchenlied ausdrückte. Auf der anderen Seite existierte sicher das Bewusstsein, dass die ecclesia militans – und das war im Selbstverständnis der katholischen Konfession nur die katholische Kirche – ihre Kampfzeit überwunden glaubte und nun als allein selig machende Kirche, als ecclesia triumphans, triumphierte. Den Alltag des gemeinen Mannes berührte das in den bikonfessionellen Dörfern und Städten insofern, als dessen Identität sich weniger an seiner Kommune als vielmehr an seiner Konfession orientierte. Es bleibt zu untersuchen, inwieweit sich in dieser Situation die immer wieder beschworene schlesische Toleranz des 17./18. Jahrhunderts entwickeln konnte.

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9. Die gegenreformatorischen Strategien der Glatzer Jesuiten und die Barockmalerei Zu den Strategien der für die Gegenreformation wirkenden Orden gehörte die Schöpfung sakraler Landschaften, wozu auch das Wallfahrts- und Prozessionswesen zu zählen ist. Nach der Idee der sacri monti des Mailänder Bischofs Karl Borromäus sollte die Landschaft durch Kreuze, Bilder und Statuen von allem Bösen – und damit war auch die Ketzerei gemeint – rein gehalten werden. Mit der „Inbesitznahme des Raumes“ durch Prozessionen, aber auch durch das Aufstellen von Wegkreuzen, die Errichtung von Kapellen, die zum Teil mit Kopien von Gnadenbildern geschmückt waren, wurde das ganze Territorium entsprechend der Tätigkeit der Jesuiten oder der anderen Reformorden mit einem Netz überspannt, in dem der Einzelne eingebunden und die Volksfrömmigkeit kanalisiert wurde.1 Infolge des Bilddekrets des Trienter Konzils von 1563 und seiner Interpretation durch Karl Borromäus sowie die Jesuiten Gabriele Paleotti und Roberto Bellarmino hatte der sich neu definierende Katholizismus vor allem für die optische Vermittlung der Heilswahrheiten entschieden. Diese bildete das Gegenstück zur akustischen Vermittlung des „reinen Wortes“, wie sie die Protestanten propagierten. Der den Jesuiten nahestehende Münsteraner Pädagoge und Theologe Matthias Tympius (1566–1616) hatte dafür 1609 die entsprechende pastorale Begründung geliefert: „Was man in der Predigt höret“ – so schreibt er – „das kann man leicht wieder aus dem Sinn lassen, was wir aber sehen und was man mit äußerlichen Gebräuchen mit uns handelt, das gehet uns tief ins Gedächtnis in unsern Gemütern.“2 Mit Bildern und Zeremonien sollten insbesondere die als schwach und unvollkommen geltenden Menschen in der Kirche erreicht werden. Die radikalen reformatorischen Bewegungen hatten zum Bildersturm geführt, die Prozessionen sowie Wallfahrten waren abgeschafft worden und die Wallfahrtsorte hatten ihre Anziehungskraft verloren. Doch gegen diesen Trend hatte der Jesuit Petrus Canisius 1577 in seiner Schrift „Maria die unvergleichliche Jungfrau und hochheilige Gottesgebärerin“ den Marienkult propagiert.3 Der Dreißigjährige Krieg unterbrach diese Entwicklung nur bedingt. Gerade das auslösende Moment des Krieges, der Prager Fenstersturz vom 23. Mai 1618, hatte – nach katholischer Auffassung – Maria als Wundertäterin bestätigt. Ein Gemälde, das kurz nach diesem Ereignis entstand, verherrlicht 1 Baumgarten, Jens M.: Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschaftsund Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560–1740). Hamburg/ München 2004, 48. 2 ������������������������������������������������������������������������������������������ Tympius, Matthias: Der Ceremonien Warumb/ Das ist lautere und klare Ursachen und außlegungen der Fürnemmsten Ceremonien [...]. Münster 1609, 6. 3 ����������������������������������������������������������������������������������������� Herzig, Arno: Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Göttingen 2000, 84.

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die wundersame Errettung der aus dem Fenster geworfenen königlichen Beamten. Maria weist dabei die Engel an, himmlische Tücher zu spannen, um die „Defenestrierten“ Martinitz, Slawata und Fabricius – die bekanntlich auf einem Abfallhaufen landeten und dadurch gerettet wurden – aufzufangen.4 Die Verehrung Mariens (wie auch die Josephs) wurde zu einem zentralen Bestandteil der pietas Austriaca, jener Symbiose von Barockkatholizismus und habsburgischer Herrschaft, die ihren sinnfälligen Ausdruck in den Marien- beziehungsweise Pestsäulen fand, die auch die Herrschersymbole trugen, sowie in den Wallfahrten, die der Kaiser mit seinem Hofstaat seit 1659 nach Maria Zell in der Steiermark unternahm. Träger und Propagandisten der Marienverehrung wie überhaupt der pietas Austriaca waren in Schlesien und der Grafschaft Glatz neben dem neuen Adel die posttridentinischen Reformorden, insbesondere die Jesuiten und Kapuziner, aber auch die Zisterzienser, die in Schlesien im 17. Jahrhundert eine neue Blütezeit erlebten. Die mitteleuropäische Gegenreformation, vor allem in den habsburgischen Ländern, erfuhr ihre Umsetzung weitgehend in der Kunst. Für die großen herrlichen Barockbauten und -kirchen, die im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert entstanden und die Schlesien zu einer der großen Barocklandschaften im Alten Reich machten, waren hervorragende Künstler gefragt. So gewann der Leubuser Abt Arnold Freiberger den bis dahin am Berliner Hof tätigen Hofmaler Michael Willmann. Auch wenn trotz der Konfessionskulturen bei der Wahl der Künstler das Genie ausschlaggebend war und (zunächst) nicht die Konfession, so war zumindest für die Verkündigung durch das Bild die Rechtgläubigkeit des Künstlers Voraussetzung. So verlangten es die Interpreten des Trienter Bilderdekrets. Dabei kamen nun die Glatzer Jesuiten ins Spiel, die Michael Willmann auf die Konversion vorbereiteten, und bei denen er – wie er in seinen „Notizen“ bemerkt – am 22. Mai 1663 „zu Glatz die Erste Messe in katholischen Kirchen communiziret“.5 Zum Dank fertigte er für das Glatzer Jesuitenkolleg das Bild „Stammbaum Christi“, das vermutlich um 1665 entstand und das die königliche Herkunft Jesu aus dem Stamm Jesse und David thematisiert. Oberhalb von Jesse steht Maria auf der Mondsichel. Sie zertritt mit ihrem Fuß die Schlange, die die Ketzerei symbolisiert. Es muss offenbleiben, inwiefern es sich hier um eine Auftragsarbeit der Glatzer Jesuiten handelte, die damit ein bestimmtes Bildprogramm verbanden. Von dem damals böhmischen Glatz aus, wo die Gegenreformation nach außen hin gelungen war, sollte das protestantische Schlesien zum nun durch das Trienter Konzil neu definierten katholischen Glauben geführt werden. So sah es 1625 ein Strategieplan des zeitweilig auch in Glatz tätigen Jesuiten Christoph Weller vor. Er sah einen Anknüpfungspunkt in der gerade in Schlesien im Luthertum vorhandenen Anhänglichkeit an die alte Liturgie und die alten Kultbilder. So betont zum Beispiel auch der Glatzer Jesuit Johannes Miller in seiner „Historia beatissimae Virginis Glacensis“, dass 4 Schilling, Heinz: Aufbruch und Krise. Deutschland (1517–1648). Berlin 1988, 415. 5 Zit. nach Herzig, Arno/Ruchniewicz, Małgorzata: Geschichte des Glatzer Landes. Hamburg/ Wrocław 2006, 177.

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ein lutherischer Edelmann, Hans von Eckersdorf, die Arnestus-Madonna vor der Zerstörung durch den Kommandanten von Sembling gerettet und sie nach Frankenstein gebracht habe. Die katholische Kirche verstand sich in Konkurrenz zu den anderen Konfessionen als eigentliche Bewahrerin der Tradition der Alten Kirche. Im Zug der habsburgischen Konfessionspolitik war im Zusammenspiel mit Papst Clemens VIII. 1595 aufgrund der Resignation des Priors Christoph Kirmeser das 1348 vom ersten Prager Erzbischof Arnestus von Pardubitz gestiftete Augustinerchorherrenstift in Glatz an den Jesuitenorden gekommen. Nach den Andeutungen des Glatzer Chronisten und lutherischen Predigers Georg Aelurius darf geschlossen werden, dass das gotische Augustinerchorherrenstift von den Jesuiten nach römischen Vorbildern der Jesuitenbauten umgestaltet wurde. Allerdings wurde es wenig später im Dreißigjährigen Krieg zerstört. Dieser unterbrach nach 1618 zunächst auch die Tätigkeit der Jesuiten in Glatz, da diese von den Prager Direktoren gezwungen wurden, die Stadt und die Ordensbesitzungen der Grafschaft zu verlassen. Bis dahin hatten die Jesuiten allerdings – unterstützt vom Breslauer Bischof und Abkömmling des Kaiserhauses Karl von Habsburg – versucht, im protestantischen Glatz katholische Zeichen zu setzen. So führten sie 1601 die Fronleichnamsprozession wieder ein, an der 1610 auch Bischof Karl teilnahm. Ebenfalls beteiligten sich an dieser Prozession die Ordensuntertanen des einzigen noch katholischen Dorfs in der Grafschaft, nämlich Altwilmsdorf. Diese führten „Fahnen und Kreuze“ mit und „sangen in der Landessprache die alten Kirchenlieder“. Der Bericht in den „Annuae litterae“ der Glatzer Jesuiten über dieses Ereignis hebt dabei bewusst auf die Tradition der vorreformatorischen Zeit ab, um mit diesem historischen Argument die Ansprüche der katholischen Konfession in dieser protestantischen Stadt hervorzuheben. Die Berufung auf die altkirchliche Tradition sollte auch in der Bildstrategie der Glatzer Jesuiten eine wichtige Rolle spielen.6 Nach der Eroberung der Stadt Glatz 1622 durch die kaiserlichen Truppen – immerhin erst zwei Jahre nach dem Sieg der katholischen Liga am Weißen Berg – gehörten die Jesuiten zu den großen Gewinnern des sich nun dramatisch vollziehenden Wandels in der Grafschaft Glatz. Sie erlangten gleichsam eine Monopolstellung, auch wenn sich neben ihnen wiederum die Minoriten und die Franziskaner reetablierten und durch ihre Architektur und die Malerei eines Anton Scheffler als wirksame Kraft der Gegenreformation in Erscheinung traten. Doch die Jesuiten erlangten insofern eine Monopolstellung, als sie nicht nur die ehemaligen Besitzungen der Augustinerchorherren zurückbekamen, sondern auch den Johanniterorden in Glatz beerbten, der für seine ambivalente Haltung während der Reformationszeit bestraft wurde. Die Jesuiten verfügten damit nun auch über die Pfarrkirche und das einzige Gymnasium in der Grafschaft Glatz. Dadurch war der Orden auch für die Karriere des neuen habsburgloyalen Adels von Bedeutung.7 6 Vgl. den Beitrag „Die Jesuiten im feudalen Nexus. Der Aufstand der Ordensuntertanen in der Grafschaft Glatz im ausgehenden 17. Jahrhundert“ in diesem Band. Dort auch der Nachweis der Zitate. 7 Ebd.

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Gemälde, im Auftrag der Glatzer Jesuiten von Karl Dankwart ausgeführt. Für die Jesuiten als Nachfolger des von dem Prager Erzbischof Arnestus von Pardubitz gestifteten Glatzer Chorherrenstifts spielte der Arnestuskult im Rahmen ihrer Rekatholisierungspolitik eine wichtige Rolle. Arnestus hatte als Knabe die Schule der Johanniter in Glatz besucht, wo sich nach seinen Angaben beim Chorsingen Maria von ihm abgewandt hatte.

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Der Jesuitenorden war ein relativ junger Orden, der sich erst eine Tradition schaffen musste. Noch verfügte er, verglichen mit den alten Orden, kaum über Ordensheilige. Sein Gründer Ignatius von Loyola war erst 1622 heiliggesprochen worden. Deshalb hob der Orden stark auf den Marienkult ab. Dabei mussten die Jesuiten in der Grafschaft nicht die Konkurrenz der Kapuziner mit ihrem Maria-Hilf-Kult befürchten, denn dieser Orden war in der Grafschaft Glatz von den dortigen Ständen nicht zugelassen worden. In Glatz konnten die Jesuiten an den Marienkult des Arnestus von Pardubitz anknüpfen. Er spielte in der Bildstrategie der Glatzer Jesuiten eine wichtige Rolle. Damit ­betonten sie nicht nur die Wertschätzung altkirchlicher Traditionen, sondern reklamierten für sich die loyale Nachfolge und Tradition der ehemaligen ­Augustinerchorherren und ihres Stifters Arnestus von Pardubitz, über deren Besitz sie verfügten. Für ihre Bildstrategie gewannen sie den aus Nissen in Schweden stammenden Maler Karl Dankwart, der zuvor – wie schon Michael Willmann – konvertiert war. Das Diarium oder Tagebuch der Glatzer Pfarrkirche führt ihn 1693 als „heterodoxus“, was soviel wie Konvertit bedeutet. Ab 1689 ist Dankwart im Dienst der Jesuiten in Neisse nachweisbar, wo er die neu erbaute Jesuitenkirche (1687–1692) ausmalte. Gleichzeitig – oder sogar etwas früher – muss er auch für die Jesuiten in Glatz tätig gewesen sein, wo er zwar erst 1693 im Mittelschiff unter den Emporen 14 Szenen zum Hymnus „Salve Regina“ ausführte, aber schon vor 1690 zwei Gemälde der Arnestuslegende geschaffen haben muss. Das erste Gemälde zeigt den jungen Arnestus, von dem sich Maria abwendet. Vor Schrecken hebt der Knabe Arnestus seine Hände in die Höhe. Der Maler versetzt die Szene in einen romanischen Kirchenbau, versucht also historisch genau zu sein. Das zweite Bild zeigt Arnestus als Erzbischof, der die Gnade der ihn anschauenden Maria wiedergefunden hat, während Engel zum Zeichen dafür Rosen auf ihn herabstreuen. Der Blick über eine Brüstung hinweg zeigt Burg und Stadt Glatz.8 Für die frühe Datierung dieser Gemälde vor 1690 spricht die Tatsache, dass 1690 der Glatzer Jesuit Johannes Miller zur Propagierung der Arnestus-Marien-Legende seine „Historia beatissimae Virginis Glacensis“ verfasste. Hier bringt er bereits Dankwarts Bild von der sich abweisenden Madonna als Kupferstich. Infolge Millers „Historia“ und infolge der künstlerischen Gestaltung des Malers Karl Dankwart kam es zu einer Neuinszenierung des „wundertätigen Marienbildes“, das von Johannes Miller zum „größten Gnadenschatz“ der Grafschaft erklärt wurde. Damit avancierte die Glatzer Pfarrkirche „von wegen des uralten wundertätigen Marien-Bildes“ zur bedeutendsten Kirche der Grafschaft Glatz.9 1660 war in Glatz mit dem Umbau der Pfarr- und nun auch Jesui8 Koziel, Andrzej: Szwed i Jezuici. Karl Dankwart i jego nieznane prace malarskie dla nyskich i kłodzkich jezuitów. In: Harasimowicz, Jan/Oszczanowski, Piotr/Wisłocki, Marcin (Hg.): Po obu stronach Bałtyku. Wzajemne relacje między Skandynawią a Europą Środkową/On the Opposite Sides of the Baltic Sea. Relations between Scandinavian and Central European Countries, Bd. 1–2. Wrocław 2006, hier Bd. 1, 265–276; Abbildung der Gemälde: Silesia Nova. Vierteljahrsschrift für Kultur und Geschichte 6 (2009) Deckblatt. 9 Miller, Johannes: Historia beatissimae Virginis Glacensis [...]. Glatz 1690, 46.

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Als Erzbischof von Prag empfängt Arnestus vor dem Hintergrund der Stadt Glatz den Segen Marias

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tenkirche begonnen worden. Auch hier knüpften die italienischen Bauleute unter Carlo Lurago an die alte Tradition an, indem sie die Kirche zwar barockisierten, die gotische Grundstruktur aber beibehielten. Die gotische, leicht barockisierte Netzdecke beeinträchtigte allerdings – im Gegensatz zur Decke der neu entstandenen Jesuitenkirche in Breslau, die Johann Michael Rottmeyer zwischen 1703 und 1706 prachtvoll gestaltete – eine große Fläche für die Malerei.10 Zudem stand bei der Ausgestaltung der Glatzer Pfarr- und Jesuitenkirche der Skulpturenschmuck im Vordergrund, sodass Karl Dankwart für die Ausgestaltung seiner 14 Szenen aus dem Hymnus „Salve Regina“ über den Arkaden des Hauptschiffes 1693 nur relativ wenig Raum zur Verfügung stand. Die Thematik dieses Zyklus stand in Beziehung zu dem bedeutendsten Bild, der vom ­lutherischen Edelmann Hans von Eckersdorf geretteten und 1625 wieder nach Glatz gebrachten Arnestus-Madonna, die 1669 bei der Umgestaltung der Kirche auf den zunächst hölzernen Hochaltar transferiert wurde. Erst 1727/28 schuf der Jesuitenarchitekt und Maler Christoph Tausch den prachtvollen Hochaltar aus Marmor, durch dessen raffinierte Lichtführung das Marienbild zum Mittelpunkt der Kirche wurde. Die Arnestus-Marien-Legende aber wurde durch die beiden Bilder von Karl Dankwart propagiert, die vermutlich in der Kirche angebracht waren. Die Abwendung Mariens von Arnestus, wie sie der Maler in seinem Bild festgehalten hatte, wurde von Johannes Miller als Abwendung vom katholischen Glauben interpretiert und der Szene damit ein zeitgeschichtlicher Bezug gegeben. In seiner „Historia“ hebt er hervor, dass Arnestus durch dieses Erlebnis „in dem heiligen catholischen Glauben befestigt“ und dass Maria für „alle im Glauben wankende[n] Sünder eine sonderbare Beschützerin“ sei.11 Dass eine „Schwachheit im Glauben“ des Arnestus zur Abwendung von Maria führte, bringt Miller damit indirekt in Verbindung zur Abwendung der Grafschaft vom katholischen Glauben in der protestantischen Zeit, deren Spuren zu Millers Zeit im Kryptoprotestantismus immer noch vorhanden waren. Das zweite Bild Dankwarts zeigt Arnestus als Erzbischof vor der wieder versöhnten Glatzer Madonna, die ihn für seinen Glauben mit den niederfallenden Rosen, dem Symbol der Gnade, beschenkt. Nicht ohne Grund weist der Blick über Arnestus hinweg auf die Stadt Glatz. Damit betont der Künstler, dass auch die Stadt Glatz in den Gnadensegen einbezogen ist, auch wenn die drohenden Wolken noch nicht verzogen sind. Die Tatsache, dass das Wanken im katholischen Glauben selbst einem Seligen wie Arnestus geschehen konnte, zeigt, dass die Gefahr, dass Maria sich erneut abwende, immer noch gegeben ist. Die Bilder Dankwarts in der von Johannes Miller zur bedeutendsten Wallfahrtskirche in der Grafschaft erklärten Pfarr- und Jesuitenkirche sollten dies dem Pilger verdeutlichen. Deshalb fand die Darstellung der sich abwendenden Madonna wie auch des Glatzer Gnadenbildes nach der Vorlage von Dankwart eine weite Verbreitung, und zwar durch den Glatzer Verleger Andreas Franz Pega. Dieser hatte von Dankwarts Vorlagen Kupferstiche anfertigen lassen, die – wie sein „Bericht an den Buchbinder“ zeigt – der 10 Baumgarten: Konfession, 173. 11 Miller: Historia, 71.

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Titelbild der „Historia beatissimae Virginis Glacensis“ von Joann ( Johannes) Miller aus Glatz. Die von dem Jesuiten Miller verfasste Schrift über die wundertätige Marienstatue greift zurück auf die von Arnestus von Pardubitz überlieferte Geschichte seiner Marienerscheinung. Die von Miller verfasste und auf Chroniken beruhende „Historia“ wurde 1690 im Verlag von Andreas Frantz Pega in Glatz gedruckt. Sie ist ein Beispiel für die in der Zeit der Rekatholisierung wieder eingeführten Marienwallfahrten zur Stabilisierung des katholischen Glaubens.

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„Historia“ von Miller lose „beigelegt“ werden sollten, so „U. L. Fraun-Bild gekleidet/ im Anfang vor allem“ sowie „in dem sie das Gesicht abwendet/ nach dem 56. Blatt“.12 Andreas Franz Pega, als Drucker in der Nachfolge des Verlegers Ignatius Schubart in Glatz zwischen 1677 und 1699 nachgewiesen, verlegte zur selben Zeit (1693) die Gebetbücher des Grüssauer Zisterzienserabtes Bernhard Rosa. Die diesem Buch beigegebenen Heiligenbilder wurden in Einzelabzügen an Wallfahrer verteilt oder verkauft. Dies könnte in Glatz auch mit dem Bild von der sich abwendenden Madonna sowie mit der Abbildung des Gnadenbildes geschehen sein. Die Qualität der Kupferstiche ist allerdings nicht sehr hoch und erreicht bei Weitem nicht die Qualität der beiden Dankwartbilder. Karl Dankwart war in den 1690er Jahren im Glatzer und Neisser Raum ein gefragter Künstler. Auch in Neisse – wo er 1695 geheiratet hatte – arbeitete er für den Jesuitenorden im neu errichteten Jesuitenkolleg und in der Kirche. Auch war er zur selben Zeit für den Breslauer Bischof und Barockfürsten Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg tätig. In dem bischöflichen Residenzort Ottmachau schuf er in der von Franz Ludwig 1690 bis 1693 errichteten Pfarrkirche die Deckenfresken. Für die Glatzer Jesuiten aber bearbeitete er programmatisch noch zwei weitere Themenfelder: zunächst die Verherrlichung der Jesuitenheiligen, vor allem von Aloysius von Gonzaga und Stanislaus Kostka. Mit dem Bild „Die Kommunion des hl. Aloysius durch den hl. Karl Borromäus“ kommt auch dieser Patron der Gegenreformation in das Programm der Glatzer Jesuiten. Ein weiteres programmatisches Feld, das die Jesuiten von Karl Dankwart in Bildern festhalten ließen, war die enge Verbindung des Ordens zu Vertretern der neuen Grafschafter Adelselite, die sich als Wohltäter und Stifter hervorgetan hatten. Eine einheitliche Bildunterschrift unter den Ganzfigurenporträts verweist auf die Verdienste des Dargestellten. So malte Dankwart das Bild des Breslauer Weihbischofs Johann Balthasar Liesch von Hornau, der durch seine Schwester Anna Margaretha mit dem Grafschafter Adligen Johann Christoph Metzinger verschwägert war. Liesch war der eigentliche Verwalter des Breslauer Bistums, weil der damalige Bischof und polnische Prinz Karl Ferdinand sich kaum in Breslau aufhielt. Liesch von Hornau hatte zusammen mit seiner Schwester und seinem Schwager Johann Christoph Metzinger ein großes Vermögen zugunsten der studierenden Jugend an das Glatzer Kolleg gebracht. Die Bildunterschrift, die die Stiftung auf das Jahr 1643 datiert, preist ihn als „Promotor und Translator“ der Stiftung. Johann Christoph Metzinger, Hofkanzler des Bischofs Karl von Habsburg, hatte bereits 1628 sein neu erworbenes Rittergut und die Freirichterei in Mittelsteine den Jesuiten vermacht. Noch im selben Jahr starb er; seine Frau und sein Schwager, der Breslauer Weihbischof, übertrugen dann 1643 diesen Besitz an den Orden. Auch von Anna Margaretha Metzinger fertigte Karl Dankwart ein Ganzfigurenporträt an. Die Bildunterschrift bezeichnet sie als „Fundatrix piae Causae“. Ein weiterer Stifter, der mit einem Porträt von Dankwart geehrt wurde, war der kaiserliche Leibarzt Caspar Jaschke von Eisenhut auf Eckersdorf, der 1633 den Glatzer Jesui12 Ebd., 56.

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ten ein Vermächtnis von 6.000 Gulden von seinem Gut in Eckersdorf vermacht hatte. Vermutlich ebenfalls zu Dankwart sind zwei weitere Stifterbilder zu rechnen, nämlich das von Propst Christophorus Kirmeser, der das Glatzer Augustinerchorherrenstift und dessen Besitzungen an den Jesuitenorden gebracht hatte; ferner das Bild des Dekans der Grafschaft Glatz Hieronymus Keck, der nach 1622 für seine Treue zu den Habsburgern während der Rebellion mit Güterschenkungen und der Erhebung in den Adelsstand belohnt worden war. Aus seinem umfangreichen Besitz hatte Keck 1649 drei Stiftungen an den Orden gemacht. An der Transferierung unter dem Glatzer Jesuitenrektor Jacob Bohr war ebenfalls der Breslauer Weihbischof Liesch von Hornau beteiligt. Die Glatzer Jesuiten hatten durch den Maler Karl Dankwart ihr gegenreformatorisches Programm in das Medium Bild umsetzen lassen. Der Orden reklamierte für sich mit der Arnestus-Madonna die altkirchliche Marienverehrung und erklärte die Glatzer Pfarrkirche – in Konkurrenz zu älteren und nun auch wieder reaktivierten Traditionen in Albendorf, Altwilmsdorf und Wartha – zum Zentrum der Marienverehrung in der Grafschaft Glatz. Gleichzeitig betonten die Jesuiten damit die Erbschaft der Arnestustradition. Mit den Arnestusbildern Dankwarts verdeutlichten sie aber auch die latente Gefahr des Abfalls in die Ketzerei, deren Bekämpfung der Jesuitenorden als seine wichtigste Aufgabe in Deutschland verstand. Um sein Programm der Mission und der Erziehung der neuen katholischen Elite zu verwirklichen, waren die Jesuiten auf die Ressourcen der alten Orden angewiesen, die diesen Kampf nicht mehr zu leisten vermochten. Im Fall von Glatz waren dies die Augustinerchorherren und die Johanniter, deren Güter die Jesuiten in Übereinstimmung mit dem Papst, vor allem aber mit den Habsburgern, für sich beanspruchten und auch erhielten. Die enge Verbindung zum Haus Habsburg im Sinn der pietas Austriaca führte zu einer engen Konnexion mit dem neuen habsburgtreuen Adel, der nach der Niederschlagung der Rebellion den alten protestantischen Adel in der Grafschaft Glatz abgelöst und nach den Strafprozessen dessen Besitzungen erhalten hatte. Die Ehrengalerie der großen Stifter, die die Glatzer Jesuiten in ihrem Kolleg einrichteten, sollte sicher auch Anreiz für weitere Stiftungen des Grafschafter Adels sein. Infolge der Stiftungen war der Jesuitenorden in Glatz zu einem bedeutenden Glied der neuen Elite in diesem Land geworden. Bis zu seiner Auflösung durch Papst Clemens XIV. 1773 prägte er entscheidend die (Alltags-)Kultur des Barockkatholizismus in der Grafschaft Glatz mit.

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10. Die Rezeption Gustav Adolfs in Schlesien Kurz nach der Schlacht bei Breitenfeld am 17. September 1631 schrieb der schlesische Barockdichter Georg Gloger in einem Huldigungsgedicht auf den Sieger, den schwedischen König Gustaf Adolf: „Wie solte nun der Sieg nicht seyn des Herren Wille/, Weil umb und über uns so klare Zeichen stehn?/ Wir gläuben festiglich, daß Gott sey selbst zugegen,/ Und seine große Macht werd unsre Feind erlegen.“1 Für Gloger stand fest, dass Gustav Adolf im Namen Gottes den Feind besiegt und dadurch das Luthertum in Deutschland gerettet hatte. Gloger lebte als Exulant in Leipzig; er hatte also die Schlacht aus nächster Nähe miterlebt. Leipzig blieb das Schicksal Magdeburgs erspart, die „gute Sache“ hatte gesiegt, die „falsche und böse Sache“ war unterlegen. In seinem Gedichtzyklus „Decas Latino-Germanicorum Epigrammatum“,2 der den Sieg und die Befreiung feiert, mochte sich auch ein Stück seiner Biografie widerspiegeln. Nach seinem Medizinstudium in Leipzig konnte der Protestant Gloger nicht mehr in seine Heimatstadt Habelschwerdt zurückkehren. Die Stadt war nach dem Sieg des Kaisers in der Grafschaft Glatz (1622) unter Zwang katholisiert worden. Glogers Eltern hatten infolgedessen ihren Besitz und ihre Existenz verloren. Für Gloger mochte sich aufgrund des Sieges bei Breitenfeld, den er nur um wenige Wochen überlebte, die Sache für den Protestantismus wieder zum Guten wenden und auch in Schlesien sich die für den Protestantismus bedrohliche Situation verbessern.3 Ähnliche Hoffnungen hegten wohl auch andere schlesische Exulanten, wie die Schrift „Der evangelischen Exulanten in Schlesien Fragestücke“ von 1632 vermuten lässt.4 Es fehlt eine breite Überlieferung, die die Auffassung der schlesischen Lutheraner angesichts des Breitenfelder Sieges vermittelt. Quellen, die uns darüber Auskunft geben können, sind nach dem Tod Gustav Adolfs verfasst und reflektieren bereits die weitere Entwicklung, als die Schweden bei ihren Zügen durch Schlesien nicht mehr als Kämpfer für die protestantische Sache, sondern eher als Unterdrücker gesehen wurden. Ein Zeugnis aus den Jahren 1631/32, die Chronik des Oberlangenauer Bauern Christoph Rupprecht, der sich noch 1644/45 als Kryptoprotestant der erzwungenen Katholisierung in der Grafschaft Glatz widersetzte, beurteilt distanziert den Siegeszug Gustav Adolfs durch Deutschland. Dabei vermerkt Rupprecht weniger die Siege als die Ereignisse, bei denen der schwedische König den Protestanten zu ihrem Recht verhalf, wie in Augsburg. Doch berichtet er von den Jesuiten in München, die mit Gustav Adolf

1 Fleming, Paul: Deutsche Gedichte. Hg. v. J[ohann] M[artin] Lappenberg, Bd. 1–2. Stuttgart 1865, hier Bd. 2, 671. 2 Gloger, Georg: Decas Latino-Germanicorum epigrammatum. Zehen lateinische vnd deutsche Epigrammata. 1631. 3 Vgl. den Beitrag „Georg Gloger (1603–1631)“ in diesem Band. 4 Milch, Werner: Gustav Adolf in der deutschen und schwedischen Literatur. Breslau 1928, 118.

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über das Abendmahl diskutierten. Zum Tod Gustav Adolfs bei Lützen (16. November 1632) bringt er keine Meldung.5 Es fehlen für Schlesien eindeutige Zeugnisse für den Gustav-Adolf-Mythos, den der König selbst kräftig gefördert hatte und der sich nach seinem Tod zu einem Kult steigerte. Das Epitheton vom „Löwen von Mitternacht“, das die sogenannten schlesischen Pansophen geprägt, aber nicht unbedingt auf Gustav Adolf bezogen hatten, büßte allerdings an Suggestionskraft ein, und auch die zeitgenössische Dichtung befasste sich kaum noch mit ihm.6 Erst gegen Ende des Jahrhunderts widmete Daniel Caspar von Lohenstein (1635–1683) in seinem umfangreichen Barockroman „Großmütiger Feldherr Arminius oder Hermann als ein tapferer Beschirmer der deutschen Freiheit [...]“ (posthum 1689/90) Gustav Adolf unter dem Namen König Gothard (der Gote) eine Erinnerung. Ein anderes Mal fungiert er in diesem Roman als Ariovist, der überfallen und verwundet in Schlesien in der Grotte eines Einsiedlers lebt. Die strahlende Figur verkörpert hier allerdings der Ritter Schaff (Schaffgotsch), der, obwohl Protestant, als kaiserlicher Feldherr den Schweden am 11. Oktober 1633 bei Steinau eine schwere Niederlage bereitet hatte.7 Es blieb freilich bei den schlesischen Protestanten die Hoffnung auf eine Restitution des Luthertums, die noch vor Lützen aktuell wurde, als im Juli 1632 die mit den Schweden verbündeten sächsischen Truppen zum Schutz des evangelischen Glaubens in Schlesien eindrangen. Die von außen herbeigeführte Situation erzwang von den schlesischen Herzögen und der lutherischen Stadt Breslau eine schwierige politische Entscheidung. Verbanden sie sich mit Sachsen und Schweden, bedeutete das den ­Abfall von dem obersten Landesherrn, dem Kaiser. Immerhin schützte bis dahin, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, der Dresdener Akkord von 1621 die lutherische Lehre in Schlesien.8 Doch versuchten die Habsburger nach dem Sieg am Weißen Berg bei Prag (1620) zumindest in ihren Erbfürstentümern, die dem Kaiser direkt unterstanden, institutionell den Katholizismus zu restituieren. Bei einer Niederlage war nicht nur der Fortbestand der lutherischen Konfession bedroht. Dennoch entschlossen sich im August 1633 die Herzöge Johann Christian von Brieg, Georg Rudolf von Liegnitz, Karl Friedrich von Münsterberg-Oels sowie die Stadt Breslau zu einem Bündnis mit 5 ������������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. den Beitrag „Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Rupprecht. Zum Kryptoprotestantismus in der Grafschaft Glatz“ in diesem Band. 6 Zum Gustav-Adolf-Kult vgl. Bußmann, Klaus/Schilling, Heinz (Hg.): 1648 Krieg und Frieden in Europa, Bd. 1–3. München 1998, hier Bd. 1, 366–370; Milch: Gustav Adolf, 14f. 7 Milch: Gustav Adolf, 40; Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1/1: Von den Anfängen bis ca. 1800. Würzburg 1995, 185f.; Lucae, Fridericus: Schlesiens curieuse Denckwürdigkeiten/ oder vollkommene Chronica von Ober- und Nieder-Schlesien [...]. Frankfurt a. M. 1689, 180. 8 ������������������������������������������������������������������������������������������� Conrads, Norbert: Die Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648 für die schlesische Geschichte. In: Ruchniewicz, Krzysztof/Tyszkiewicz, Jakub/Wrzesiński, Wojciech. (Hg.): Przełomy w historii. XVI Powszechny zjazd historyków polskich��������������������������������������� . Wrocław 15–18 września 1999 roku. Pamięntnik, Bd. 1–3. Toruń 2000–2004, hier Bd. 1, 195–207, hier 197.

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dem sächsischen General Hans Georg von Arnim. Der neutrale Begriff „Konjunktion“ für dieses Bündnis kaschierte kaum den Abfall vom Kaiser. Die Fürsten und Breslau verteidigten ihre Haltung in der Schrift „Loci communes Schlesischer Gravaminum“ (Breslau 1634), die die bedrohte Situation der Protestanten in Schlesien darstellte.9 Diese war allerdings inzwischen nicht mehr so eindeutig, denn die Schweden hatten im Herbst 1632 die katholische Dom- und Sandinsel in Breslau besetzt, die katholische Geistlichkeit vertrieben und deren Häuser geplündert. Dies geschah auch in anderen schlesischen Städten wie in Reichenbach, Frankenstein und Schweidnitz. Schweden und Sachsen boten sich den ehemals lutherischen Städten als „Freunde und Beschützer“ der evangelischen Religion an, worauf Ratsmitglieder dieser Städte eingingen und um lutherische Prediger baten.10 Die konfessionell bestimmte schlesische Historiographie des 17. Jahrhunderts bewertete diese Ereignisse freilich unterschiedlich. Für die katholische Seite schrieb unter dem Anonym Christian Rechttreu ein Autor, dessen Historie „Palmbaum“ von 1667 ungedruckt blieb, der aber eine beeindruckende Strategie gegen den Gustav-Adolf-Mythos entwickelte. Klagten die Protestanten in den „Loci communes“ über die Bedrohung ihrer Konfession, so stellt er die Situation nach den Siegen Gustav Adolfs geradezu umgekehrt dar: Nicht mehr die lutherische, sondern die katholische Konfession sei bedroht. Er bezog sich dabei auf einen Traktat Gustav Adolfs von 1632, in dem dieser androht, „alle Catholische aus der Welt [zu] jagen“.11 Vielleicht mochten in Rechttreus Argumentation reale Befürchtungen der Katholiken aus dem Sommer 1632 eingegangen sein. Ex eventu deutet er dann allerdings den Tod des Königs als Rettung der Katholiken durch Gott: „und ist darnieder gefallen alle diejenige Glorie, mit der er das ganze Deutschland durch die sieghaften Waffen umgerissen, als ein Erretter der deutschen Freiheit, welcher auch schier vor einen Gott von des Kaisers Feinden gehalten worden, welche nun seine Tugenden rühmen mögen, wie hoch sie wollen, aber sie werden doch

9 Ebd.; Harasimowicz, Jan: Johann Christian – ein unliebsamer Fürst. Die Europäische Allegorie von Bartholomäus Strobel dem Jüngeren im Museo del Prado in Madrid. In: ders.: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Matthias Noller und Magdalena Poradzisz-Cincio. Köln/Weimar/Wien 2010, 143–155. 10 Buckisch, Gottfried Ferdinand: Schlesische Religions-Akten 1517 bis 1675. Bearb. v. Joseph Gottschalk, Johannes Grünewald und Georg Stellner, Tl. 1–2. Köln/Weimar/Wien 1982–1998, hier Tl. 2: Regesten der Religions-Akten, 337–340; Rechttreu, Christian: Ungedruckter und wieder herfür gegrünter palmbaum oder denckwürdige vermerckungen von der schwed. sächßischen ankunfft anno 1632 Breßlau [...] (Exemplar des Archiwum Archidiezesjalnie we Wrocławiu, Sig. VI d 38), 19–25; Lichtstern [d. i. Lucae], Friedrich: Schlesische Fürsten-Krone/ oder Eigentliche wahrhaffte Beschreibung Ober- und Nieder-Schlesiens [...], Frankfurt a. M. 1685, 127; Zimmermann, André: Der Unterdrückte und wieder herfür gegrünte Palmbaum des Christian Rechttreu. Editorische Erschließung und sprachgeschichtliche Untersuchung einer schlesischen Handschrift aus dem Dreißigjährigen Krieg. Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Rezension von Jörg Deventer in: Schlesischer Kulturspiegel 42/2 [2008] 34). 11 Rechttreu: Palmbaum, 34.

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seine Vermessenheit nicht absprechen können [...].“12 Die katholische Historiographie in Schlesien konstruierte ein Gegenbild zum Gustav-Adolf-Mythos, nämlich das Bild des für seine superbia von Gott bestraften Königs. Dass der katholische Autor in seinen Ausführungen ironisch gegen den protestantischen Heiligenkult für Gustav Adolf polemisieren wollte, wird deutlich, wenn er bemerkt: „Wohl zu merken ist, dass in diesem Jahr [1632, d. Vf.] kurz vor seinem Tode eine große Menge Kupferstiche, einen ganzen Bogen groß, ausgesprenget und aller Orten bei den Affectionierten aufgekauft, in den Häusern und Zimmern als eines sonderlichen Heiligen und verlangten Erlösers in großen Ehren gehalten worden [...].“13 Der Autor mokiert sich vor allem darüber, dass der König auf einem Kupferstich von Gott das Schwert erhält und mit einem „Circul“ um sein Haupt dargestellt wird, „wie man Christo oder einem Heiligen einen Schein zu machen pflegt [...].“14 Der von Gott herbeigeführte Tod stellt diese Anmaßung dann wieder richtig. Nicht ungeschickt greift der Autor in seiner Auseinandersetzung mit dem Gustav-Adolf-Kult die Leichenpredigt auf Gustav Adolf auf, die der schwedische Hofprediger am 15. Januar 1633 in der Wittenberger Schlosskirche gehalten hatte und für die er als Losung einen Text aus den Klageliedern des Propheten Jeremia (5,16) genommen hatte: „Die Krone des Hauptes ist gefallen, o wehe, dass wir so gesündigt haben.“ Die „Sünde“ bestand für den katholischen Autor „in dem falschen Wahn, als ob sie mit Verfolgung der Katholischen, Beraubung und Zerstörung vieler Kirchen Gott einen Dienst getan hätten“. Geschickt schlägt er von den Klageliedern des Jeremia eine Brücke zum sechsten Kapitel des Buches Jeremia, wo in den Versen 22ff. die Rede ist von dem Kriegsvolk „von Mitternacht“, das „grausam und ohne Barmherzigkeit [...] wie ein ungestümes Meer“ die „Tochter Zion“ überfallen wird. Für den Autor war die „Tochter Zion [...] keine andere als die hl. christliche katholische Kirche“.15 Damit war der Gustav-Adolf-Mythos biblisch widerlegt; die Erfolge des schwedischen Königs fielen der göttlichen Verdammung anheim. Die Befürchtung, dass die vom Kaiser nach 1620 in Schlesien eingeleitete Rekatholisierung durch die Erfolge Gustav Adolfs wieder rückgängig gemacht werden könnte, bildete ein Hauptmotiv in der katholischen Historiographie Schlesiens im 17. Jahrhundert. Auch Gottfried Ferdinand Buckisch, der wohl bedeutendste katholische Historiograph, betont für 1632: „[...] und es fehlete wenig, dass nicht die ganze katholische Religion mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden“.16 Die Gefahr blieb allerdings auch nach dem Tod des schwedischen Königs bestehen, da die durch Schlesien ziehenden Schweden und Sachsen den Protestantismus wieder aufzurichten versuchten. 12 Ebd. 13 Ebd., 37f. 14 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 38; der Kupferstich ist abgebildet in Harms, Wolfgang u. a. (Hg.): Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, Bd. 1–3. München 1980–1989, hier Bd. 2: Historica, 386f. 15 Rechttreu: Palmbaum, 45f. (hier die Zitate). 16 Buckisch: Schlesische Religions-Akten, Tl. 2, 337.

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Es fehlt wie auf katholischer Seite für diese These der 1630er Jahre auch auf lutherischer Seite eine zeitgenössische historische Darstellung. Der wohl bedeutendste protestantische Historiograph dieser Zeit, Nikolaus Henel, hatte seine „Silesiographia“ sowie die „Breslographia“ 1612 abgeschlossen.17 Umarbeitungen dieser Werke, die er 1632 und 1644 vornahm, kamen nicht zum Druck. So steht für die protestantische Seite Friedrich Lucae, dessen „Schlesiens curieuse Denckwürdigkeiten“ von 1689 allerdings die Distanz des Calvinisten gegenüber dem Handeln der Lutheraner in Schlesien verrät.18 Gustav Adolf beurteilt er objektiv und ohne Pathos, so auch dessen Tod bei Lützen. Was ihm hierbei jedoch erwähnenswert erscheint, ist die Haltung Kaiser Ferdinands II. Während alle über den Tod des Schweden frohlockten, sprach dieser „ohne Gemüts-Verstellung: Lasset uns in Demut fortfahren, und die Sache Gott dem Herrn befehlen.“19 Im Prager Frieden (1635) erhielten in einem Nebenrezess die Herzöge von Brieg, Liegnitz und Oels sowie die Stadt Breslau für sich und ihre Untertanen die Gewährung der Religionsfreiheit, mussten sich aber unterwerfen und dem Kaiser erneut huldigen.20 Nur Herzog Johann Christian von Brieg lehnte dies ab und ging ins Exil.21 Für die Erbfürstentümer blieb die künftige Regelung der Religionsangelegenheiten offen. Die Zusagen des Majestätsbriefs von 1609 und des Dresdener Akkords von 1621, die allen Schlesiern die freie Wahl ihrer Konfession garantierten, waren damit aufgehoben. Doch zumindest für die von Piasten und Podiebrad regierten Fürstentümer und die Stadt Breslau war die Augsburger Konfession durch kaiserliche Gnade erst einmal garantiert. Die Schweden hatten fürs Erste das Land verlassen, doch seit 1639 waren sie bis zu ihrem endgültigen Abzug 1650 im Land wieder präsent. Sie kamen einerseits mit dem Versprechen, die lutherische Lehre in den Erbfürstentümern zu schützen oder auch zu restituieren, traten aber andererseits auch ihren Glaubensgenossen gegenüber wie Marodeure auf. In den Städten der Erbfürstentümer, die sie eroberten, verjagten sie – so in Schweidnitz – die katholischen Geistlichen beziehungsweise erpressten von ihnen hohe Abgaben.22 Zumindest einige Städte – wie Hirschberg – vermochten sie damit auf ihre Seite zu ziehen.23 Die Piastenherzogtümer sowie Breslau aber wollten die jüngst wiedererlangte kaiserliche Gnade nicht erneut verscherzen und widerstan17 Rau, Susanne: Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln. Hamburg/München 2002, 368–370. 18 Ebd., 373; Fleischer, Manfred P.: Friedrich Lucae (1644–1708). In: Menzel, Josef Joachim (Hg.): Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2001, 66–71. 19 Lucae: Denckwürdigkeiten, 181. 20 Conrads: Bedeutung, 198. 21 Zur Bedeutung Herzogs Johann Christian von Brieg in der protestantischen Bildtradition vgl. Harasimowicz, Jan: „Was kann nun besser seyn dann fuer die Freyheit streiten und die Religion.“ Konfessionalisierung und ständische Freiheitsbestrebungen im Spiegel der schlesischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Bußmann/Schilling (Hg.): 1648, Bd. 2, 297–306. 22 Lucae: Denckwürdigkeiten, 424. 23 Ebd.

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den Angeboten der Schweden, weshalb sie von diesen hart bedrängt wurden. Für Lucae war es unverständlich, dass trotz ständiger Plünderungen „etliche Städte den Schweden beständig an[hingen]“.24 Die Ablehnung der Schweden teilten trotz der immer wieder betonten Schutzverpflichtungen für ihre Glaubensbrüder inzwischen auch die schlesischen Lutheraner. Auch sie empfanden wohl weitgehend wie 1640 der Breslauer Lutheraner Wilhelm Schwartz, der 1628 vor den Bekehrungsversuchen der Jesuiten nach „schwerer Gefängnisnot“ aus deren Machtbereich nach Breslau geflohen war: „Ihr [der Schweden, d. Vf.] Evangelium, das sie den Bedrängten hilfreich vermeinen zu bringen, ist sehr hart und streng als türkisch und teuflisch mit Schänden, Morden, Rauben, Brandschatzen, dass nicht zu beschreiben [...].“25 Dies mochte nicht der einzige Grund sein, weshalb die schlesischen Lutheraner von ihren schwedischen Glaubensbrüdern und angeblichen Helfern enttäuscht waren. Bei den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück zeichnete sich ab, dass die Schweden zugunsten der zu erhaltenden Reichsstifte Bremen und Verden auf alle Ansprüche im Hinblick auf Schlesien verzichteten. Was für die schlesischen Protestanten dann 1648 im Friedensschluss erreicht wurde, war dem sächsischen Kurfürsten beziehungsweise seinem Gesandten zu verdanken.26 Kritik an dem geringen Engagement der Schweden für die schlesischen Protestanten übt deshalb auch Friedrich Lucae 1689 in seinen „Denckwürdigkeiten“.27 Vereinzelt folgten nach 1650 noch schwedische Interventionsschriften für die freie Ausübung der Augsburgischen Konfession, aber diese bezogen sich nicht allein auf Schlesien, sondern auf alle kaiserlichen Erblande (1653, 1654, 1674).28 Demgegenüber setzten die Lutheraner von Schweidnitz, denen im Westfälischen Frieden von 1648 eine Friedenskirche zugestanden worden war, auch nach 1650 auf die Hilfe der Schweden. Zur Sammlung von Kollektengeldern für die zu errichtende Friedenskirche reiste Christian Czepko, der Bruder des Dichters Daniel Czepko von Reigersfeld, 1654/55 nach Norddeutschland, Dänemark und Schweden, wo er sich wegen der dort stattfindenden Hochzeitsfeierlichkeiten 23 Wochen in Stockholm aufhalten musste, bevor er von König Karl X. Gustav eine private Spende von hundert Talern erhielt.29 Die Unterstützung von schwedischer Seite hielt sich gegenüber den

24 25 26 27 28 29

Ebd., 426f. Zit. nach Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 64 (1930) 124. Conrads: Bedeutung, 200–205. Lucae: Denckwürdigkeiten, 435. Buckisch: Schlesische Religions-Akten, Tl. 2, 384–419. Deventer, Jörg: Glaubenssolidarität auf dem Prüfstand. Die Tagebücher des Schlesiers Christian Czepko über den Aufenthalt auf dem Regensburger Reichstag und die Reise durch Norddeutschland, Dänemark und Schweden aus den Jahren 1653–1655. In: ders./Rau, Susanne/Conrad, Anne (Hg.): Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag. Münster/Hamburg/London 2002, 307–329, hier 328f. Vgl. den Beitrag „Die erzwungenen Reisen der schlesischen Konfessionsflüchtlinge im 17. Jahrhundert“ in diesem Band.

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schlesischen Protestanten in Grenzen und war wohl nicht geeignet, die Schweden als Unterstützer und Beschützer zu sehen. Dieses eher negative Bild von den schwedischen Glaubensbrüdern änderte sich jedoch grundlegend nach 1707, als Schweden unter Karl XII. sich nun aktiv für die Lutheraner in Schlesien bei deren ernsthafter Existenzbedrohung nach dem Tod des letzten Piastenfürsten 1675 einsetzte. Infolge des Aussterbens der schlesischen Piasten fielen nun bis auf Oels alle schlesischen Herzogtümer an den Kaiser und wurden zu Erbfürstentümern. Zwar kam es in den nun an den Kaiser gefallenen Fürstentümern Liegnitz, Brieg und Wohlau zu keiner generellen Rekatholisierung, doch wurden in den Fürstentumsstädten 109 der noch vorhandenen 241 evangelischen Kirchen mit katholischen Geistlichen besetzt, die Ausübung der lutherischen Konfession also erheblich eingeschränkt.30 Dies traf die Lutheraner zu einem Zeitpunkt, als sie im Reich aufgrund der Konversion des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. 1697 zum Katholizismus erheblich an politischer Macht eingebüßt hatten. Der einzige noch lutherische Kurfürst, Georg von Hannover, war als künftiger König von England kaum noch für die Reichspolitik zu interessieren. Die Habsburger aber standen nach ihren Siegen über die Türken trotz des Spanischen Erbfolgekrieges auf der Höhe ihrer Macht. Da Sachsen als protestantische Macht quasi ausfiel, konnten die schlesischen Lutheraner nur noch auf das calvinistische Brandenburg setzen oder aber auf Schweden, dessen junger König Karl XII. 1706 im Krieg gegen Polen mit seinen Truppen ohne Erlaubnis des seit 1705 regierenden Kaisers Josef I. durch das habsburgische Schlesien gezogen war. In dieser Situation wurde er für die schlesischen Protestanten zu einem neuen Gustav Adolf, der sie gegen die Katholisierungsversuche der Habsburger zu schützen versuchte. Und Karl XII. enttäuschte die schlesischen Protestanten nicht und setzte sich für sie ein. Der Wiener Hof, der befürchtete, Karl könnte im Spanischen Erbfolgekrieg auf die französische Seite überwechseln, stellte alle konfessionalistischen Bedenken hinten an, und so kam es relativ schnell am 1. September 1707 zur Unterzeichnung der sogenannten Altranstädter Konvention, die „den wahren Verstand des Oßnabrückischen Friedensschlusses“ von 1648 wieder herstellen sollte.31 Die Lutheraner erhielten 109 Kirchen zurück; zudem sollten sie künftig bei der Vergabe von Landes- und Stadtämtern in den ehemaligen piastischen Mediatfürstentümern nicht mehr benachteiligt werden. Den Protestanten in den Erbfürstentümern aber gestand der Kaiser „aus Gnade“ sechs Kirchen zu, die dann sogenannten Gnadenkirchen. Ferner sollte niemand mehr zum Glaubenswechsel gezwungen oder an der Emigration aus konfessionellen Gründen gehindert werden. Die Organisation der lutherischen Kirchen wurde den neu errichteten

30 Conrads, Norbert: Zwischen Barock und Aufklärung (1618–1740). In: ders. (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien, Berlin 1994, 258–344, hier 298–302. 31 Bahlcke, Joachim: Der Dualismus zwischen Ständeherrschaft und Königsmacht. Schlesien unter dem Hause Habsburg (1526–1740). In: ders.: Schlesien und die Schlesier. München 1996, 46– 73, hier 64.

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Konsistorien in Liegnitz, Brieg und Wohlau, deren Besetzung sich allerdings der Kaiser vorbehielt, unterstellt.32 Dieses Mal hatten die Schweden den schlesischen Protestanten ohne eigenes machtpolitisches Interesse aus rein konfessionellen Gründen geholfen. Anders als 1632 kam nun eine echte Begeisterung für die Schweden auf. Ein Flugblatt erschien, das unter dem Trinitätszeichen die Porträts Kaiser Josefs und König Karls brachte.33 Trotz des Vertrages gab es über die Ausführungen zwei Jahre lang Nachverhandlungen. Die schlesischen Lutheraner wurden während dieser Zeit von einer starken inneren Bewegung erfasst, die pietistische Züge trug. Zu ihren Sonderheiten gehörte es, dass 1708 evangelische Kinder durchs Land zogen und die schwedischen Soldaten um die Rettung ihres Glaubens baten.34 Das orthodoxe Breslauer Luthertum verteidigte diese Kinderzüge in einer 1708 publizierten Schrift „Gründliche Nachricht von derer Evangelischen Schlesier Kinder-Andacht/ oder denen/ von denen Kindern in Schlesien/ unter freiem Himmel/ auf offenem Felde gehaltenen Bet-Stunden“, in der der Pfarrer von St. Elisabeth in Breslau in einem Gutachten die „betenden Kinder“ verteidigte.35 Auch diese Schrift trug auf dem Titelbild in ähnlicher Gestaltung wie das Flugblatt die Porträts Josefs I. und Karls XII.36 Die eindrucksvollste Ehrung für die Schweden und ihren König aber stellte die 1718 vollendete Hirschberger Gnadenkirche des aus Reval stammenden Architekten Martin Frantz dar.37 Als Vorbild diente die Stockholmer Katharinenkirche mit ihrer Fünfturmgruppe über kreuzförmigem Grundriss. Sie bildete eine „Synthese zwischen römisch geprägtem katholischem Barock und protestantischem Barockklassizismus“.38 Durch die symmetrische Form der vier gleich großen Schiffe mit der Kanzel in der Mitte und der Orgel über dem Altartisch war sie die erste Kirche in Schlesien, bei der die protestantische Liturgie ausschlaggebend für die architektonische Gestaltung war. In etwas kleinerer Form führte Martin Frantz diese Idee auch bei der zwischen 1709 und 1720 erbauten Landeshuter Gnadenkirche aus.39 Das von den Schweden gerettete schlesische Luthertum trat hier selbstbewusst neben dem repräsentativen katholischen Barock auf und machte deutlich, wem es die Rettung zu verdanken hatte. Nach der Eroberung Schlesiens durch Preußen erhielten die Protestanten im Frieden von 1742 zwar die Konfessionsfreiheit zugestanden, durften aber zunächst, da 32 33 34 35

Ebd.; zu weiteren Bestimmungen vgl. ebd., 66–70. Das Flugblatt vgl. ebd., 65. Conrads: Barock, 298f. Petry, Ludwig: Politische Geschichte unter den Habsburgern. In: ders./Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 1–2. Sigmaringen 1988, hier Bd. 2: Die Habsburger Zeit 1526–1740, 1–99, hier 87–90. 36 Zum Titelblatt vgl. Conrads: Barock, 299. 37 ����������������������������������������������������������������������������������������� Grundmann, Günther: Hirschberg. In: Weczerka, Hugo (Hg.): Handbuch der historischen Stätten. Schlesien. Stuttgart 1977, 189–193, hier 191. 38 Langer, Andrea: Die Kunst Schlesiens von der Romanik bis zur Breslauer Moderne. In: Bahlcke: Schlesien, 298–321, hier 308f. 39 Weczerka, Hugo: Landeshut. In: ders. (Hg.): Handbuch, 261–264, hier 263.

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Darstellung der Gnadenkirche in Hirschberg von Friedrich Bernhard Werner im Rahmen einer Serie von Ansichten der Gnaden- und Friedenskirchen in Nieder- und Oberschlesien. Der Titel lautet: „Prospect der Evangelischen Kirche, vor der Stadt Hirschberg in Nider Schlesien, genandt Zum Creutz-Christi“. Die Gnadenkirche in Hirschberg wurde nach dem Vorbild der Katharinenkirche in Stockholm errichtet. Damit drückten die Protestanten ihren Dank gegenüber König Karl XII. aus, dem Großneffen Gustav Adolfs. Der Baumeister der Gnadenkirche, deren Bauzeit neun Jahre betrug, war der Liegnitzer Martin Frantz.

laut Friedensschluss die Konfessionsverhältnisse nicht verändert werden durften, nur Bethäuser errichten. Die Katholiken konnten alle Kirchen behalten, die sie 1742 besaßen. Als König Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) von dieser Bestimmung des Friedens von 1742 abrückte, durften nun auch die Protestanten Kirchen aus Stein und mit einem Turm bauen.40 So entstanden zahlreiche evangelische Kirchen, sodass sich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert die Bikonfessionalität Schlesiens darin zeigte, dass viele Dörfer zwei Kirchtürme aufwiesen. Erst im späten 19. Jahrhundert, als sich bedingt durch die Industrialisierung in Deutschland die konfessionellen Verhältnisse vermischten, wurde dies dann auch in anderen Regionen des Reiches üblich. Der Bedarf an evangelischen Kirchen in Deutschland hatte zweihundert Jahre nach der Schlacht bei Lützen am 6. November 1832 den Leipziger Stadtsuperintendenten Gottlob Großmann auf die Idee gebracht, König Gustav Adolf statt mit einem Denkmal mit einer Stiftung zu ehren. Diese sollte, wie der Schwedenkönig es getan hatte, bedrängten Glaubensgenossen zu Hilfe kommen. In der traditionsreichen Leipziger Thomaskirche 40 Herzig, Arno: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 2008, 110f.

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wurde deshalb der erste Gustav-Adolf-Verein gegründet. Die Stiftung unterstützte vor allem den evangelischen Kirchenbau in den Diasporagebieten.41 In Schlesien, das als „echtes Gustav-Adolf-Gebiet“ galt, initiierte 1841 der Konsistorialrat Hinrich Middeldorpf durch einen Aufsatz in den „Schlesischen Provinzialblättern“ die Gründung eines solchen Vereins in Schlesien, der dann am 2. Mai 1844 als „Protestantischer Verein der Gustav-Adolf-Stiftung in Schlesien“ mit einem „Aufruf an die evangelischen Christen Schlesiens zur Unterstützung armer evangelischer Gemeinden im Inlande und Auslande“ an die Öffentlichkeit trat.42 Dieser Verein mit dem Namen des schwedischen Königs Gustav Adolf entwickelte sich bis 1945 mit 103 Zweigvereinen und 25 Fördervereinen zum erfolgreichsten und volkstümlichsten evangelischen Verein in Schlesien. Die seit 1913 erscheinende Vereinszeitschrift „GustavAdolf-Bote für Schlesien“ trägt im Titel-Signet das Bildnis des Schwedenkönigs, umrahmt von der Breslauer Elisabeth- und der Schweidnitzer Friedenskirche.43 Der Verein trug zum Bau zahlreicher evangelischer Kirchen bei, die bis 1945 den Namen Gustav Adolfs trugen, so in Grüssau, Sohrau, Landeck, Liebau, Orzesche, Zobten, Mittelsteine und Wölfelsgrund. So erfuhr die Rezeption Gustav Adolfs in Schlesien im 19. und 20. Jahrhundert noch eine späte Blüte.

41 Patzelt, Herbert: Der Gustav-Adolf-Verein im Teschener Schlesien. In: Chmiel, Peter/Drabina, Jan (Hg.): Die konfessionellen Verhältnisse im Teschener Schlesien vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ratingen 2000, 141–153, hier 143. 42 Ebd., 145. 43 Müller, Konrad: Hundert Jahre Schlesischer Gustav Adolf-Arbeit 1843–1945. Gunzenhausen 1951, 5.

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11. Die erzwungenen Reisen der schlesischen Konfessionsflüchtlinge im 17. Jahrhundert 1687 verließen 1.200 Einwohner das Grüssauer Dorf Reichshennersdorf und wanderten in die benachbarte, zum protestantischen Sachsen gehörige Lausitz aus. Ihre Reise war nicht freiwillig, sondern erzwungen worden. Dagegen reiste Christian Czepko, der Bruder des Dichters Daniel Czepko von Reigersfeld, 1654/55 freiwillig in Konfessionsangelegenheiten nach Norddeutschland, Dänemark und Schweden, um für den Bau der Schweidnitzer Friedenskirche Spenden zu sammeln.1 Beide Reisevorhaben und -durchführungen spiegeln die konfessionelle Situation Schlesiens im 17. Jahrhundert. Die Konfessionspolitik der Habsburger – der Landesherren – war es, die Hunderttausende von Menschen im 17. Jahrhundert zum Reisen zwang. Die Habsburger Herrscher ließen in ihren Territorien nur die katholische als einzige Religion, als Staatsreligion, gelten. Allerdings mussten sie im Frieden von Münster und Osnabrück (1648) ihren schlesischen Territorien gewisse Zugeständnisse in der Konfessionsfrage machen. Dort, wo noch Piasten oder Podiebrad über ein Herzogtum herrschten, wie in Liegnitz und Oels, durften die lutherischen Untertanen weiterhin ihr Bekenntnis ausüben; dort, wo der Kaiser als König von Böhmen über die Herzogtümer verfügte, wie in Glogau, Schweidnitz und Jauer, durfte nur die katholische Religion offiziell ausgeübt werden. Die strikte Durchführung des ius reformandi (das landesherrliche Recht, die Konfession der Untertanen zu bestimmen) der katholischen Landesherren ließ den Untertanen nur die Alternative, sich entweder zur katholischen Religion zu „bequemen“ – wie es im zeitgenössischen Sprachgebrauch hieß – oder das Land zu verlassen. Der Herrscher versuchte somit, das Gewissen und die Lebensorientierung des Untertanen zu bestimmen, dessen Glaube dabei keine Rolle spielte. Die Idee, auf die Vertreibung der „Akatholiken“ – wie sie in den Quellen genannt werden – zu verzichten und ihnen eine libertas conscientiarum, also ein Bleiberecht mit Gewissensfreiheit, einzuräumen, tauchte 1645 anlässlich der Westfälischen Friedensverhandlungen in den „Gravamina der evangelischen Stände“ auf. Der kaiserliche Gesandte Graf Trautmannsdorff lehnte dies für die kaiserlichen Erblande rundweg ab mit der Bemerkung: „Ihre kaiserliche Majestät hätten noch keinen ausgeschafft [ausgewiesen, d. Vf.], wollten aber auch nicht obligiret [verpflichtet, d. Vf.] sein.“2 Dies traf freilich nicht zu, denn spätestens seit den verschärften Edikten von 1628 1 Deventer, Jörg: Glaubenssolidarität auf dem Prüfstand. Die Tagebücher des Schlesiers Christian Czepko über den Aufenthalt auf dem Regensburger Reichstag und die Reise durch Norddeutschland, Dänemark und Schweden aus den Jahren 1653–1655. In: ders./Rau, Susanne/Conrad, Anne (Hg.): Zeitenwenden. Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag. Münster/Hamburg/London 2002, 307–329. 2 Scheuner, Ulrich: Die Auswanderungsfreiheit in der Verfassungsgeschichte und im ­Verfassungsrecht Deutschlands. In: Festschrift für Richard Thomas zum 75. Geburtstag. Tübingen 1950, 200–224, hier 208.

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hatte Kaiser Ferdinand II. den Untertanen in seinen Erblanden nur noch die Alternative zwischen der Bekehrung zum Katholizismus oder dem Wegzug gelassen. Die libertas conscientiae (Gewissensfreiheit), die der Westfälische Frieden garantierte (Art. VII § 1 IPO), galt nicht für die kaiserlichen Erblande, von einigen Ausnahmen für Schlesien und Niederösterreich abgesehen. Die übrigen katholischen Landesherren durften ihre Untertanen in ihrem Glauben nicht bedrücken, sie also nicht zur Konversion zwingen, doch konnten sie ihnen die Emigration auferlegen, die auch den Untertanen bei Glaubensdissens als Recht zugestanden wurde (Art. V § 36).3 Dieses Recht, das im 16. Jahrhundert durchaus von den Untertanen als Privileg verstanden wurde, war immer mehr zum Zwang geworden. Zur Auswanderung kam es im 17. Jahrhundert in den habsburgischen Staaten zumeist dann, wenn die letzte Frist zur Konversion abgelaufen war. Davor hatte man zumeist alles in Kauf genommen: die Wegnahme der Kirchen, die Vertreibung der Geistlichen, die Eingrenzung auf die häusliche Religionsausübung, das Verbot, jenseits der Grenzen den evangelischen Gottesdienst zu besuchen, das Verbot, sich in Konventikeln zum Gebet zu treffen, bis hin zum Verbot der Lektüre lutherischer Postillen. Es war nicht nur „wegen der angeborenen Liebe gegen seinem [!] Vaterland“,4 wie es 1661 die protestantischen Einwohner aus dem oberschlesischen Neustadt formulierten, weswegen sie von der Auswanderung abgehalten wurden, sondern auch aufgrund der ökonomischen und sozialen Folgen, die damit verbunden waren.5 Über die Einzelschicksale wie den gesamten Vorgang des schlesischen Exulantenwesens fehlen uns noch eingehende Kenntnisse. Die Chroniken berichten vereinzelt beispielsweise für die 1620er Jahre in der Grafschaft Glatz über den Wegzug von Familien aus den Städten, nachdem diese den Forderungen der Reformationskommission – einer kaiserlichen Kommission, die mit Zwang die Einwohner zum Katholizismus führen sollte – nicht folgen wollten.6 Widerstanden in den Erbfürstentümern während der 1650er Jahre und auch später die lutherischen Einwohner der Rekatholisierung, so bestand Kaiser Leopold – wie im oberschlesischen Neustadt 1674 – nach wie vor auf der Auswanderung, versuchte dies aber mit den wirtschaftlichen Belangen in Einklang zu bringen. Vorsorglich ließ er den aus der Stadt Wegziehenden noch vor Ablauf des Abzugstermins ihre lutherischen Bücher wegnehmen und den Privatgottesdienst verbieten; vor allem die Kinder sollten katholisch erzogen werden und wurden deshalb zur Beichte geschickt. Besonders auf die dörflichen Einwohner nahm er im Hinblick auf die Exulierung „Rücksicht“, damit infolge der Auswanderung deren „Leib und Seel“ 3 Heckel, Martin: Deutschland im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 1983, 202–205. 4 Schwedowitz, Walter: Geschichte der Kirchenneugründung in der Neustädter Gegend. Neustadt/ OS 1930, 50f. 5 Deventer, Jörg: Nicht in die Ferne – nicht in die Fremde? Konfessionsmigration im schlesisch-polnischen Grenzraum im 17. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa. Berlin 2008, 95–118. 6 Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 147.

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nicht auf einmal verloren gehe.7 Das bedeutete letztlich, dass die Landbevölkerung zur katholischen Religion gezwungen wurde. Die Abwanderung ganzer Dörfer, wie sie 1687 der Abt Bernhard Rosa in seiner Herrschaft Grüssau in Kauf nahm, nachdem seine Rekatholisierungsmaßnahmen gescheitert waren, erregte den Protest der schlesischen Stände und blieb auch beim Kaiser nicht ohne Kritik.8 Insbesondere Polen war das Ziel zahlreicher Exulanten, sodass an der polnisch-schlesischen Grenze um Lissa regelrecht Exulantenstädte entstanden. Bereits 1629/30 war aus der Stadt Guhrau über die Hälfte der Einwohner – insgesamt 4.000 Protestanten – mit ihrem Bürgermeister vor den gewaltsamen Pressionen der Liechtensteiner Dragoner, die zur Annahme der katholischen Religion Zwang ausübten, über die polnische Grenze geflohen und hatte sich in dem nahen (Polnisch-)Lissa niedergelassen. Alte Handelsbeziehungen, die vor allem auf der Leinenproduktion beruhten, erleichterten den Wegzug nach Polen, wo sich die Protestanten in den Grenzstädten wie Fraustadt niederließen oder kleine Städte wie Schlichtingsheim gründeten, in denen sie durch Privileg des polnischen Königs die lutherische Konfession ausüben und lutherische Kirchen errichten durften.9 Der Bevölkerungsverlust betrug nach Schätzungen des Historikers Ludwig Petry etwa 200.000 Personen; dies war nach Angaben Petrys knapp ein Viertel der Bevölkerung Schlesiens vor dem Dreißigjährigen Krieg. In den genannten Bevölkerungsverlusten sind auch die Kriegs- und Seuchenopfer enthalten.10 Dort, wo die Rekatholisierung offiziell durchgeführt worden war, wie in der Grafschaft Glatz, versuchte die Regierung mit Unterstützung der Kirche, die Abwanderung kryptoprotestantischer Untertanen in lutherische Gebiete Schlesiens mit aller Macht zu verhindern. So beklagte sich 1657 der katholische Glatzer Dekan Johann Chrysostomus Langer beim Landeshauptmann über die „Entführung“ von sieben Exulierten aus dem Dorf Kieslingswalde in „ketzerische Orthe“, was „gäntzlich verboten werden solle“, da sie „in den ketzerischen Ohrten salus animarum periclitire [ihr Seelenheil aufs Spiel setzen, d. Vf.]“ würden.11 Aus dem geschlossenen habsburgischen Konfessionsstaat – das bedeutet dem katholischen Staat – sollte niemand mehr auswandern und auf diese Weise nach katholischer Ansicht sein Seelenheil aufs Spiel setzen. Der Abzug geschlossener Gemeinden erleichterte für den Einzelnen vermutlich den Weggang, doch blieb einerseits letztlich das Schicksal immer traurig, wie die Neustädter Bürger erklärten, die vor die Wegzugsalternative gestellt wurden.12 Andererseits drückte 7 Schwedowitz: Geschichte, 70. 8 Rose, Ambrosius: Abt Bernhard Rosa von Grüssau. Stuttgart 1970, 109; Petry, Ludwig: Politische Geschichte unter den Habsburgern. In: ders./Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 1–2. Sigmaringen 1988, hier Bd. 2: Die Habsburger Zeit 1526–1740, 1–99, hier 86. 9 Rogall, Joachim: Polen vom Mittelalter bis zu den Polnischen Teilungen. In: ders. (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Das Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen. Berlin 1996, 22–171, hier 136. 10 Petry: Politische Geschichte. 11 Herzig: Reformatorische Bewegungen, 153. 12 Schwedowitz: Geschichte, 52.

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die Seelenqual, sich gegen das eigene Gewissen der katholischen Religion anschließen zu müssen. Dies schildert 1671 der Wiesenmüller Martin Hainttel aus Heinrichau in einem der wenigen Zeugnisse eines einfachen Menschen über diesen Vorgang, als er vom Heinrichauer Abt Melchior Welzel vor die Wahl gestellt wurde, entweder zu konvertieren oder wegzuziehen: „Gebe auf dieses [Aufforderung zur Konversion, d. Vf.] Euer Hochwürden und Gnaden gehorsamst und demütigst nachrichtlichen zu vernehmen, dass ich in der Augsburgischen Konfession in meiner Jugend, als ich noch ein Knabe gewesen, unterrichtet und in solcher erzogen worden und allweil ziemliche Jahre darinnen gelebet und mich derart gehalten habe, solche aber anitzo angemuteter Maßen wiederum zu verlassen und zu einer anderen, derer ich keinen Bericht [Unterrichtung, d. Vf.] mich zu bequemen, ich ohne Verletzung meines Gewissens nicht eingehen, noch tun kann, sondern gemeinet bin [die Absicht habe, d. Vf.] mit Hilfe und Beistand Gottes bis an mein Ende, willends beständig dabei zu verharren.“13 Der Wiesenmüller wählte den Wegzug. Infolge der vom Kaiser radikal durchgesetzten Rekatholisierung in Schlesien verlor das Land durch den Wegzug nicht nur wichtige Arbeitskräfte, sondern auch weitgehend sein geistiges Potenzial. Den aus Habelschwerdt stammenden Arzt und Barocklyriker Georg Gloger, der nach seinem Studium in Leipzig nicht in seine Heimat zurückkehren durfte, da er nicht katholisch werden wollte, tröstete sein Freund, der Dichter Paul Fleming, in einem Zueignungsgedicht, dessen beide letzten Zeilen lauten: „Religio parit exsilium. Sic indignis omnium/ pulsus in ignotum cogeris ire solum“ („Die Religion bereitet Dir das Exil. So aller Dinge bedürftig und vertrieben wirst Du gezwungen, in unbekanntes Land zu gehen“14). „In unbekanntes Land zu gehen“ war das Schicksal von zahlreichen Schlesiern. Beim Wegzug bezeugten die Lutheraner durch ihre Lieder und Gebete demonstrativ ihr Bekenntnis. Den Protestanten in den Erbfürstentümern war es dagegen verwehrt, sich zu ihrem Glauben zu bekennen; denn es gab in den kaiserlichen Erblanden nur katholische Gemeinden, auch dort, wo fast ausschließlich Protestanten wohnten, sodass häufig nur der Pfarrer sowie der Küster/Lehrer dem Gottesdienst beiwohnten. Doch gab es die drei Ausnahmen für die Protestanten, nämlich in Glogau, Jauer und Schweidnitz. Im Westfälischen Frieden 1648 waren ihnen die sogenannten Friedenskirchen zugestanden worden. Doch durften hier die Protestanten keine Gemeinden bilden, ihre Kirchen mussten vor den Stadtmauern errichtet werden. Es gab auch keinen Geldfundus, wie ihn die katholischen Gemeinden besaßen, und um einen solchen zu schaffen, machte sich Christian Czepko auf Reisen zu seinen Glaubensbrüdern in Norddeutschland, Dänemark und Schweden. Auch Norddeutschland hatte unter dem Dreißigjährigen Krieg stark gelitten, und so waren hier die Spenden eher mager – abge13 Grüger, Heinrich: Glaubenstreue oder Anpassung? Das Schicksal des Wiesenmüllers auf dem Ohlguth bei Münsterberg im Zeitalter der Gegenreformation. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 64 (1985) 48–53, hier 51f. 14 Vgl. den Beitrag „Georg Gloger (1603–1631)“ in diesem Band.

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Ansicht von Friedrich Bernhard Werner. Der Titel lautet: „Prospect der Evangelischen Kirche vor der Stadt Schweidnitz, in Nider Schlesien genand zur H. Dreyfaltigkeit“. Die von Werner veröffentlichten Ansichten der drei Friedens- und sechs Gnadenkirchen waren die frühesten Darstellungen dieser Gotteshäuser, die nur vor den Toren der Städte erbaut werden durften. Die Friedenskirche in Schweidnitz zeichnet sich von den anderen Gotteshäusern durch ihre Größe aus. Der Innenraum fasste 3000 Sitzplätze und 4.500 Stehplätze. Die Kirche entstand in den Jahren 1657/58. Ein Jahr später folgte der Anbau der großen Sakristei.

sehen von Hamburg, das den Krieg hinter seinen neuen Befestigungsanlagen von 1613 wohlbehalten überstanden hatte. Dort sorgte vermutlich zudem der aus Breslau stammende Hauptpastor Johannes Müller für reiche Spenden. Hamburg verstand sich als Vorhut des Luthertums in Deutschland und kümmerte sich deshalb um die bedrängten Glaubensbrüder in Schlesien.15 Czepko hatte als Motto für sein Reisetagebuch ein Gedicht des Reiseschriftstellers Adam Olearius gewählt, in dem es heißt: „Ein Kluger reiste nicht, wie itzt die meisten reisen [...] [Er] beschaut das Regiment, giebt acht, mit welchen Leuten Dasselbe sey besetzt [...] wie – Gott da wird erkannt und wie sein Dienst bestellt.“16 Das Tagebuch lässt offen, ob Czepko diese Erkenntnisse gewann und ob er sie für Schweidnitz verwerten konnte. Zumindest trug seine Reise dazu bei, dass das Luthertum auf der kleinen „Insel“ Schweidnitz überleben konnte – und dies bis heute.

15 Braden, Jutta: Johannes Müller (1598–1672). In: Arno Herzig (Hg.): Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004, 85–94. 16 Deventer: Glaubenssolidarität, 320.

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12. Die gegenreformatorischen Verlagsstrategien in Schlesien Druckereien und Verlage waren seit dem Auftreten Martin Luthers zu einem wichtigen Angelpunkt in der konfessionellen Auseinandersetzung geworden. Waren bis 1500, also in den fünfzig Jahren seit Entdeckung der Druckkunst, nur etwa 1.600 Kleindrucke gefertigt worden, so stieg allein zwischen 1520 und 1526 deren Zahl auf 7.800 Stück.1 Von Mainz aus hatte sich die Druckkunst vor allem im Westen des Reiches verbreitet. Die Kirche wertete die neue Erfindung als wichtiges Mittel, um die Vielfalt liturgischer und anderer Textfassungen zu reduzieren. Kardinal Nikolaus Cusanus (1401–1464) empfahl sie dem Papst als sancta ars. Luther sah in ihr „das größte Geschenk Gottes“.2 Auch die Breslauer Kirche war dieser Neuerung nicht abgeneigt – im Gegenteil. Seit etwa 1475 existierte in Breslau unter Leitung eines Mitglieds des Domkapitels, Caspar Elyan, eine Offizin, in der 1475 vermutlich im Auftrag des Bischofs Rudolf von Rüdesheim die Breslauer Synodalstatuten von 1473 gedruckt wurden.3 Doch entstanden dort nicht nur amtliche Texte. Die Nähe des Breslauer Bischofs Johannes IV. Roth und wohl auch von Teilen des Domkapitels zum italienischen Humanismus verrät der Druck der „Facetiae“ des bekannten italienischen Humanisten Poggio Bracciolini in der Offizin des Caspar Elyan.4 Dass 1505 das Projekt, in Breslau eine Universität zu gründen, gescheitert war, bedeutete für die Breslauer Humanisten sicher einen Rückschlag, doch sollte ihr Einfluss für die reformatorischen Bewegungen in den schlesischen Städten entscheidend sein. Je nach ihren Einstellungen neigten sie hier zum radikalen oder zum gemäßigten Flügel. Die städtischen Räte versuchten, soweit nicht ihre Stadtherren anders entschieden, die Reformation in ihrem Sinn zu nutzen, um die Kirchenhoheit für sich in Anspruch zu nehmen. Der Breslauer Rat taktierte dabei sehr vorsichtig und vermied einen allzu offenen Bruch, da sich König Ludwig II. von Böhmen – wohl angesichts der „Wittenberger Wirren“ – am 24. Dezember 1521 gegen eine Verbreitung der Schriften Luthers in Schlesien ausgesprochen hatte. Der Buchdruck spielte also eine wichtige Rolle. Hatte Elyan 1482 seine Drucktätigkeit beendet, so war der Wanderdrucker Konrad Baumgarten, der 1503 aus Olmütz nach Breslau gekommen war, schon 1506 wieder weggezogen, da er nach dem gescheiterten Universitätsprojekt wohl bessere Chancen in der 1 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Blickle, Peter: Reformation. In: Dülmen, Richard van (Hg.): Fischer Lexikon Geschichte. Frankfurt a. M. 1990, 220–230, hier 225f.; Schottenloher, Karl/Binkowski, Johannes: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Bd. 1–2. Berlin 1922 [ND München 1985], hier Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Jahre 1848, 25. 2 Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1994, 147; Burkhardt, Johannes: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617. Stuttgart 2002, 26–28. 3 Świerk, Alfred G.: Kaspar Elyan aus Glogau (um 1435–1486). In: Menzel, Josef Joachim (Hg.): Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2001, 17–25, hier 20–24. 4 Ebd., 23.

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Universitätsstadt Frankfurt/Oder vermutete. 1518 hatte sich dann aber der aus Nürnberg kommende Drucker Adam Dyon für längere Zeit, vermutlich bis 1525, in Breslau niedergelassen. Er stand aufseiten der Reformation und druckte bereits 1519 in Breslau Luthers Schriften, während der altkirchlichen Seite dort keine Druckerei mehr zur Verfügung stand, sodass ihr einflussreichster Propagandist, Johannes Cochläus, seine Schriften gegen Ambrosius Moibanus noch 1540 in Ingolstadt drucken lassen musste.5 In den beginnenden konfessionellen Auseinandersetzungen verfügte die Alte Kirche, deren wichtigster Protagonist nicht der Breslauer Bischof, sondern das ­Domkapitel war, über keine Druckerei in der Stadt. Doch war Breslau schon lange nicht mehr das geistliche Zentrum der Alten Kirche in Schlesien. Zu diesem wurde seit den 1530er Jahren Neisse, wo die bürgerliche Jakobuskirche zur zweiten Kathedrale der Diözese und zur bischöflichen Grablege avancierte. Ab 1575 wurde hier nach den Beschlüssen des Trienter Konzils (1545–1563) ein Priesterseminar eingerichtet. Trotz des bischöflichen Stadtherrn hingen auch die Neisser Bürger der lutherischen Reformation an. Die Bischöfe Jakob von Salza und Balthasar von Promnitz leisteten wenig, um die Alte Kirche zu festigen. Auch ihr Nachfolger Kaspar von Logau handelte, so bei der Gründung des Priesterseminars, noch kaum aus episkopaler Initiative, sondern eher auf Drängen des Domkapitels. Erst die folgenden Bischöfe Martin von Gerstmann, ­Andreas von Jerin und Johannes von Sitsch vertraten einen entschiedeneren Kurs im Sinn einer katholischen Konfessionalisierung.6 Es erscheint deshalb zweifelhaft, ob Bischof Jakob von Salza, als er 1555 seiner Vaterstadt Neisse eine Druckerei schenkte, damit einen bewussten konfessionellen Akt vollzog.7 Das bedeutendste Werk, das 1561 in dieser Druckerei des Johannes Cruziger (Inhaber 1555–1585) erschien, stammte aus dem protestantisch-humanistischen Umfeld. Es ist die Schlesienkarte des Martin Helwig. Als Schüler Trozendorfs vertrat dieser ein striktes Luthertum, das zum Verlust seines Rektorats an der Schweidnitzer Lateinschule führte, als um 1550 der neue Stadtpfarrer Wolfgang Droschke die Stadt zu rekatholisieren versuchte. Helwig wurde daraufhin mit dem Rektorat des Breslauer Maria-Magdalenen-Gymnasiums mehr als entschädigt.8 Zwar erschienen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Neisser Offizin von Johann Cruziger und seinem Nachfolger Andreas Reinheckel (Inhaber 1586–1600) mit 98 Titeln (= 38 Prozent) primär theologische und kirchenpolitische Schriften, so Bibelausgaben, Predigten, Synodaldekrete, Ausgaben von Kirchenvätern und auch kon5 Herzig, Arno: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 22010 [12008], 65f. 6 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Marschall, Wolfgang: Die Bedeutung Neisses für die frühneuzeitliche Kirchengeschichte in Schlesien. In: Bein, Werner/Schmilewski, Ulrich (Bearb.): Neisse. Das schlesische Rom im Wandel der Jahrhunderte. Würzburg 1988, 214–217; Schmilewski, Ulrich: Zum Buchwesen der Stadt Neisse. Ebd., 252–261; Szewczyk, Aleksandra: Mecenat artystyczny biskupów wrocławskich. W dobie reformacji i potrydenckiej odnowy kościoła (1520–1609). Wrocław 2011, 189–200. 7 Schmilewski: Buchwesen, 252. 8 �������������������������������������������������������������������������������������������� Gruhn, Herbert: Martin Helwig. In: Andreae, Friedrich/Graber, Erich/Hippe, Max (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Sigmaringen 21985 [Breslau 11931], 108–113.

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fessionelle Streitschriften,9 der Verlag ist aber nicht eindeutig auf eine katholische Linie festzulegen, zumal die Bürger Neisses weitgehend protestantisch waren und ihre Kasualdichtung, Leichen- und Hochzeitscarmina, die in diesem Verlag erschienen, wohl eher dem protestantischen Milieu zuzurechnen sind.10 Als bedeutendste gegenreformatorische Publikation erschien 1571 bei Cruziger die „Biblia. Testamentum Novum Deutsch“ des Hieronymus Emser (1478–1527), der einer der heftigsten literarischen Gegner Luthers in dessen frühen Reformationsjahren war.11 Seine Bibelübersetzung, als katholische Konkurrenz zu Luther verstanden, basierte weitgehend auf dessen Bibelübersetzung und brachte lediglich einige katholisch-dogmatische Veränderungen. Sie war bereits 1527 erschienen, und es bleibt offen, wer etwa fünfzig Jahre später in Neisse ein Interesse daran hatte, diese katholische Bibelversion auf den Markt zu bringen.12 Dasselbe gilt für die „Annotationes Hieronymi Emsers uber Luthers Newe Testament [...] Neiß: 1571“, die ebenfalls bereits mehrfach (1524, 1528, 1529 und 1533) erschienen waren.13 Vermutlich ist hier wohl auch ein Versuch des Domkapitels zu sehen, die gegenreformatorischen Versuche, die in Schlesien vor 1622 nicht recht vom Fleck kamen, zu unterstützen. Zu heftigen konfessionellen Auseinandersetzungen kam es 1608 mit der Wahl des Erzherzogs Karl von Österreich zum Bischof von Breslau. Dieser war fest entschlossen, das 1578 in München von den Wittelsbachern und steiermärkischen Habsburgern beschlossene Rekatholisierungsprogramm in die Realität umzusetzen. Dazu zählte auch die Forderung nach der Verfügungsgewalt über die Druckereien in den Händen des katholischen Herrschers.14 Mit seinen Maßnahmen stieß Bischof Karl auf heftigen Widerstand vor allem der Untertanen in seinem geistlichen Territorium Neisse, denen er die kaiserlichen Zugeständnisse des Majestätsbriefs von 1609 verweigerte. Hiernach hätte er seinen Untertanen die freie Religionsausübung zugestehen müssen, was vermutlich das Ende seines geistlichen Staates bedeutet hätte. Bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 1618 konnte er sich damit behaupten, dann musste er das Land verlassen, kam aber nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 als Sieger zurück. Bis zur Unterwerfung von Glatz durch kaiserliche Truppen 1622 kam die Rekatholisierung Neisses nicht recht zum Zug, doch 1622 konnte Karl mithilfe der Jesuiten, die sich nun auch in Neisse niederlassen konnten, sein Rekatholisierungsprogramm erzwingen. Die Protestanten mussten die Kirche Maria in rosis an die Katholiken abtreten.15 9 Haberland, Detlef: Neisser Buchdruck zwischen Breslau, Rom und Wittenberg. In: Kunicki, Wojciech/Witt, Monika (Hg.): Neisse. Kulturalität und Regionalität. Nysa 2004, 165–175. 10 Herzig, Arno: Neisse im konfessionellen Zeitalter. Ebd., 13–28. 11 Haberland: Neisser Buchdruck, 170. 12 ������������������������������������������������������������������������������������������ Killy, Walther: Emser, Hieronymus (1478–1527). In: ders. (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1–13. Darmstadt 1995–2000, hier Bd. 3, 106. 13 Haberland: Neisser Buchdruck, 172. 14 ����������������������������������������������������������������������������������������� Herzig, Arno: Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Göttingen 2000, 37. 15 Ders.: Neisse, 17–20.

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In der nun folgenden Auseinandersetzung zwischen Bischof und Lutheranern zeigte sich, dass die Stadtoffizin, nun unter Leitung von Johann Schubarth (1622–1652), keineswegs eindeutig katholisch ausgerichtet war. Die seelische Not, in die der Bischof seine protestantischen Untertanen brachte, fand einen beredten Ausdruck in dem 1622 bei Johann Schubarth gedruckten Gebetbuch „Suspira“ (dt. „Seufzer“) des Magisters Nikolaus Anther (1590–1637). Der Untertitel lautet „Seufzer und Gebete vor die evangelischen Christen zu Neisse und andere fromme Christen, so der reinen augsburgischen Confession von Herzen zugewandt und zugethan sind, in diesen letzten betrübten Läuften und Zeiten täglich zu sprechen“.16 Dieses Zeugnis protestantischer Konfessionskultur fand bald die Entgegnung eines anonymen (vermutlich Neisser) Jesuiten mit dem Titel: „Antwort außer Himmel durch schöne Suspira und Gebete, theils Reimverse, theils ohne Reimen, neulich von Nicolaus Entern, Dienern am Wort aus sonderlich Dankbarkeit und Freygebigkeit seinen Zuhörern zum glückseligen neuen Jahr verehret und täglich zu sprechen“.17 Doch nicht Neisse, das Bischof Karl 1624 verließ, um als Vizekönig nach Portugal zu gehen, sondern das benachbarte Glatz, wo die Jesuiten seit 1597 ein Kolleg hatten, wurde zum Ausgangspunkt der Verlagsstrategien, die das katholische Lager betrieb.18 Während des antihabsburgischen Aufstands in Böhmen und in der Grafschaft Glatz (1618–1622) mussten die Jesuiten zwar die Stadt verlassen, aber bei ihrer Rückkehr 1624 wurden sie mit den Gütern und Privilegien des Johanniterordens reich entschädigt. Im Zusammenwirken mit dem Grüssauer Abt Bernhard Rosa (reg. 1660–1696) bauten die Jesuiten Glatz zu einem Brückenpfeiler der Gegenreformation in Schlesien aus, wobei die Verfügung über einen katholischen Verlag eine wichtige Rolle spielte. Der Sohn des Johannes Schubarth, Ignaz Konstantin Schubarth, dessen Wirken als Drucker in Neisse von 1657 bis 1672 bezeugt ist, verlegte seine Verlagstätigkeit noch vor 1675 nach Glatz, wo er bis 1680 nachgewiesen ist, bevor ihm von 1682 bis 1699 der Drucker Andreas Pega folgte.19 In Glatz bei Ignaz Konstantin Schubarth erschien 1675 eines der bedeutendsten Werke der Gegenreformation, nämlich die vollständige Ausgabe des „Cherubinischen Wandersmanns“. Als Angelus Silesius 1676 in Glatz wiederum bei Schubarth sein Werk „Köstliche Evangelische Perle“ publizierte, bedankte er sich im Vorwort bei Abt Bernhard Rosa, da ihm dieser wie auch für sein Werk „Ecclesiologia Oder Kirche-Beschreibung“ die Druckkosten vorgeschossen habe. In ­Zusammenarbeit 16 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Ebd., 24. Die Schrift ist in den einschlägigen Bibliotheken bisher nicht nachgewiesen. Die Angaben stammen aus Fuchs, Gottlieb: Versuch einer Reformationsgeschichte des Fürstenthums und der bischöflichen Residenzstadt Neisse mit den dazu gehörigen Beweisen. Breslau 1775, 128–130. 17 Fuchs: Versuch, 128–130. 18 Schon 1625 hatte der zeitweilig in Glatz wirkende Jesuit Christoph Weller eine Strategieschrift für die Gegenreformation in Schlesien verfasst. Jedin, Hubert: Eine Denkschrift über die Gegenreformation in Schlesien aus dem Jahr 1625. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 3 (1938) 152–171. 19 Herzig, Arno/Ruchniewicz, Małgorzata: Geschichte des Glatzer Landes. Hamburg/Wrocław 2006, 177–180.

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Titelblatt „Cherubinischer Wandersmann“ der Ausgabe von 1675. Der „Cherubinische Wandersmann“ von Angelus Silesius ist die bedeutendste Schrift der Gegenreformation, die im Glatzer Verlag von Ignatz Schubarth erschien.

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von Abt Bernhard Rosa und den Glatzer Jesuiten war Glatz zu einem Mittelpunkt der schlesischen Gegenreformation mit ihrer barocken Ästhetik geworden und neben Neisse zu einem Zentrum des katholischen Buchdrucks. Ignaz Konstantin Schubarth brachte zwischen 1664 und 1677 allein von Angelus Silesius 44 Druckwerke heraus. Damit rangierte Glatz, was den katholischen Buchdruck betraf, weit vor Breslau, wodurch das dortige Domkapitel schließlich dazu veranlasste wurde, Andreas Frantz Pega 1699 nach Breslau zu holen, wo er „auf dem Dom“ eine Offizin einrichtete20 und zum bischöflichen Hofdrucker ernannt wurde. Die katholische Kirche verfügte nun wieder auch in Breslau ab 1700 über eine eigene Druckerei, die sie im Sinn der andauernden Gegenreformation einsetzen konnte.21

20 Ebd., 179. 21 Koppitz, Hans-Joachim: Die Vermittlerrolle schlesischer Verlage für die Vorbereitung der Barockliteratur. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 38/39 (1997/98) 405–432, hier 415, 427, 431; Haberland, Detlef (Hg.): Kommentierte Bibliographie zum Buch- und Bibliothekswesen in Schlesien bis 1800. München 2010, 127.

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13. Die Juden Breslaus im 18. Jahrhundert Breslaus jüdische Gemeinde, die 1744 durch das Judenedikt des preußischen Königs Friedrich II. legitimiert wurde, hat eine lange Vorgeschichte. Nach dem Capistran-Pogrom von 1453, bei dem 41 Juden verbrannt und 318 aus der Stadt vertrieben wurden, erhielt Breslau – wie andere schlesische Städte auch – 1454 von seinem Herrscher, dem böhmischen König Ladislaus, das ius de non tolerandis iudeos: das Recht, keine Juden mehr in der Stadt aufnehmen zu müssen. Der wirtschaftliche Niedergang der Stadt wurde dadurch freilich nicht aufgehalten und endete erst, als die Stadt 1515 mit der polnischen Krone einen Vertrag über den Osthandel schließen konnte. Dieser garantierte Breslau in den nächsten Jahrhunderten seine wirtschaftliche und damit seine politische und kulturelle Bedeutung. Er ermöglichte es auch den Juden, in der Odermetropole wieder Fuß zu fassen. In dem damals habsburgischen Breslau endete die spätmittelalterliche Ausschließungspolitik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Im Rahmen ihrer merkantilistischen Wirtschafts- und Finanzpolitik konnten Herrscher und Magistrate nicht mehr auf das ökonomische Know-how der Juden verzichten, was diesen die Möglichkeit gab, sich in den bedeutenderen Städten wieder zu etablieren. In Breslau entwickelte sich im 18. Jahrhundert die neben Berlin wichtigste jüdische Gemeinde Preußens. Der Prozess verlief allerdings nicht konfliktfrei. Wie in Hamburg standen auch in Breslau die Interessen des Magistrats im Gegensatz zu denen der Kaufmannschaft und Zünfte, die nur an ihren eigenen Vorteil dachten.1 Die Verfolgungen durch die Kosaken unter ihrem Hetman Bogdan Chmielnicki (1648/49) hatten viele Juden aus Polen vertrieben, was in mehreren Städten im Reich zur Gründung kleiner jüdischer Gemeinden führte. In Breslau bot sich dazu die Gelegenheit in den Vororten, die nicht unter der Hoheit des Magistrats standen, sondern geistlichen Herrschaften wie dem Matthias- oder dem Vinzenzstift gehörten. In der Stadt selbst gelang es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts den sogenannten Messjuden, die sich sonst nur während der Marktzeiten in der Stadt aufhalten durften, sich über die Messezeit hinaus einzuquartieren und hier mit Produkten zu handeln, die ­eigentlich den Kaufmannsgilden vorbehalten waren, so vor allem mit Seide. Sie bildeten in ihren Stubensynagogen Gebetsgemeinschaften, die offiziell nicht als Gemeinden anerkannt waren.2 Der Versuch der Stadt, 1694 die Juden „auszuschaffen“, das heißt aus 1 Brilling, Bernhard: Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Entstehung und Geschichte. Stuttgart 1972, 38–58; Agethen, Manfred: Die Situation der jüdischen Minderheit in Schlesien unter österreichischer und unter preußischer Herrschaft. In: Baumgart, Peter (Hg.): Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen. Sigmaringen 1990, 307–331, hier 307– 310; zur vergleichbaren Situation in Hamburg: Braden, Jutta: Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590–1710. Hamburg 2001; Ziątkowski, Leszek: Dzieje Żydów we Wrocławiu. Wrocław 2000. 2 Breuer, Mordechai: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: ders./Graetz, Michael: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. München 2000, Bd. 1: Tradition und Aufklärung, 1600–1780,

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der Stadt zu vertreiben, scheiterte an den habsburgischen Handelsinteressen, da nach Angaben des obersten Breslauer Finanzbeamten Franz zwei Drittel des Handels mit Polen durch Juden zustande kam. Der Rat musste eine Regelung herbeiführen, provozierte aber mit seinen Vorschlägen den Protest der Breslauer Kaufmannschaft. Dieser Konflikt sollte bis ins 19. Jahrhundert andauern, obgleich die Kaufmannschaft schon 1699 zugeben musste, dass der Breslauer Handel „in ganz Pohlen, Reussen und Litauen“ von den „polnischen und böhmischen wie auch mährischen Juden“ getragen wurde.3 So wie dieser Konflikt bestimmte ein weiteres Kontinuum die Entwicklung: Auch in preußischer Zeit war den Juden in Breslau ein Bleiberecht nur aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung garantiert. Die städtische Judenordnung von 1697 beziehungsweise 1702 räumte einer kleinen Gruppe von 13 Familien ein unbegrenztes Niederlassungsrecht in der Stadt ein. Bei dieser Gruppe handelte es sich primär um Münzlieferanten, die unter der Protektion des Kaisers standen, sowie um die sogenannten Schammesse, die als „Funktionäre“ auswärtiger Judenschaften dienten, die während der Messen nach Breslau kamen; ferner um Spezialisten wie Ärzte, Goldschmiede und Steinschleifer. Auch ein Schlachter und ein Koch, die für koschere Nahrung zu sorgen hatten, zählten dazu. Alle übrigen Juden mussten nach den Messen die Stadt wieder verlassen. Dennoch stieg die Zahl jüdischer Einwohner bis 1726 auf 755 an.4 Wenn auch die Judenordnung von 1702 die Einrichtung von Synagogen verbot, so wurde es doch geduldet, dass die ­Schammesse für ihre Judenschaften Stubensynagogen für das tägliche Gebet einrichteten. Eine einheitliche Gemeinde aller Breslauer Juden konnte so nicht entstehen, obgleich im ausgehenden 17. Jahrhundert die Infrastruktur einer jüdischen Gemeinde voll ausgebildet war. Außer dem Schächter gab es spätestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts auch einen Rabbiner, der 1704 als „Kronrabbiner von Krakau“ geführt wird.5 Gegen den jüdischen ­Gottesdienst in den Betstuben protestierten beide christlichen Kirchen. Sowohl die bischöfliche Behörde führte Klage über die „öffentliche Verspottung des Christentums“6 als auch die lutherische Geistlichkeit, die beim Todesfall eines jeden Juden einen Ersatz für die entgangenen Begräbnissporteln forderte. Im Gegensatz zur lutherischen Geistlichkeit in Hamburg, die mit ihren Predigten und Publikationen wiederholt antijüdische Stimmungen erregte, verhielt sich diejenige in Breslau eher moderat und tolerant. Als jedoch 85–243, hier 100; Brilling, Bernhard: Geschichte der Juden in Breslau von 1454 bis 1702. Stuttgart 1960, 22–32. 3 Brilling: Geschichte [...] 1454 bis 1702, 27. 4 Ders.: Zur Geschichte der Juden in Breslau. Die ersten in Breslau wohnhaften Juden 1697–1707. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 12 (1967) 126–143, die Namen 128–130; ders.: Geschichte der Juden in Breslau (1702–1725). Ebd., 16 (1971) 88–126, hier 100. 5 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Geschichte [...] 1697–1707, 128; Brann, Marcus: Geschichte des Landrabbinats in Schlesien. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen. In: Jubelschrift zum 70. Geburtstag des Professors Dr. Heinrich Graetz. Breslau 1887 [ND Hildesheim 1973], 218–278, hier 232. 6 Brann: Geschichte, 227, 229 (Zitat); Brilling: Geschichte [...] 1454 bis 1702, 64–70.

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1700 ein getaufter Jude die Betstuben beim lutherischen Konsistorium als Synagogen denunzierte, forderte dieses vom Oberamt das Verbot der sogenannten Schulen, deren Existenz gegen das Synagogenverbot verstoße. Die Schammesse betonten dagegen 1701 in einer Eingabe an das Oberamt, dass sie in gemieteten Zimmern nur ihre Gebete verrichteten. Gleichzeitig wiesen sie auf die wirtschaftliche Bedeutung hin, die sie für die Stadt und den Kaiser hätten. Das Gutachten, das der Rat auf Veranlassung des Oberamts daraufhin von dem Hebräischprofessor am Elisabeth-Gymnasium Daniel Springer anforderte, gab den Argumenten der Juden weitgehend recht und widerlegte die einzelnen Anklagepunkte. Es verwies darauf, dass es sich wirklich um Betstuben und nicht um Synagogen handle, dass die Gebetbücher keine Angriffe auf das Christentum, dagegen aber Gebete für den Kaiser und die städtische Obrigkeit enthielten und dass Gebetsmäntel auch beim einfachen Gebet getragen würden. Das Konsistorium akzeptierte Springers Interpretation allerdings nicht und forderte die Aufhebung der zehn sogenannten Judenschulen. Diesem Verlangen kam der Rat zwar nicht nach, verbot aber den Gebrauch von Kultusgegenständen; es konnten also weiterhin Gottesdienste stattfinden und die Rabbiner in Rechtsfällen entscheiden.7 Die Rabbiner, die nach 1700 in Breslau wirkten, zogen es allerdings vor, sich nicht im Kompetenzbereich des Breslauer Magistrats niederzulassen, sondern in den den geistlichen Stiften unterstehenden Vorstädten, wo die jüdische Gemeinde einen quasi offiziellen Charakter hatte. So ließ sich der seit 1724 in Breslau wirkende Rabbiner Bendix Ruben Gompertz, der aus einer reichen Weseler Hoffaktorenfamilie stammte, seine Wahl zum Rabbiner vom Prälaten des Matthiasstifts bestätigen. Wohl auch aus diesem Grund polemisierte der Breslauer Rat 1727 in einem Schreiben nach Wien gegen „das gottlose, gemeine, nichtswürdige jüdische vorstädtische Gesindel“.8 Den geistlichen Stiften sprach der Rat das Recht ab, Juden aufnehmen zu dürfen. Aufgrund der von den Kaufmannsältesten erhobenen „Juden-Gravamina“ ernannte der Rat 1707 eine Kommission, die in Breslau 232 Juden in 83 Haushalten registrierte. Die 1702 publizierte Judenordnung hatte zumindest zweien der zehn Schammesse ein ständiges Wohnrecht zugebilligt. Die Ausweisung der übrigen Schammesse scheiterte

7 Brilling: Geschichte [...] 1454 bis 1702, 65. Das Gutachten von Daniel Springer von 1701 wurde von Brilling publiziert in: Jüdisches Gemeindeblatt für die Synagogen-Gemeinde Breslau 8 (1931) 119f.; Springer (* 1656 in Breslau, † 1708 ebd.) studierte in Leipzig und Wittenberg und war ab 1705 Professor für orientalische Sprachen am Elisabeth-Gymnasium in Breslau. Er übersetzte mehrere Schriften aus dem Hebräischen ins Deutsche, darunter einen Traktat des Rabbiners Menasse Ben Israel über die Unsterblichkeit der Seele, aber auch aus dem Deutschen ins Hebräische, darunter die Nachfolge Christi des Thomas a Kempis. Vgl. Zedler, Johann Heinrich: UniversalLexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 39. Leipzig/Halle a. d. Saale 1744, 507. 8 Brilling: Geschichte [...] 1454 bis 1702, 72; Brann: Geschichte, 240f.; Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Wrocławskie, Rep. 16, Sygn. 309, 29f. Zu den jüdischen Wohnquartieren in Breslau vgl. Markgraf, Hermann: Die Straßen Breslaus nach ihrer Geschichte und ihren Namen. Breslau 1896, 225f.

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jedoch am Einspruch polnischer Woiwoden wie auch der Schlesischen Kammer.9 Die Schammesse und ihre Familien bildeten neben den privilegierten Münzmeisterfamilien im 18. Jahrhundert eine wichtige Gruppe der Breslauer Judenschaft, deren Existenz trotz sich ständig wiederholender Beschwerden der Kaufmannschaft und auch des Magistrats nun durch die Judenordnung von 1702 rechtlich abgesichert war. Die weiterhin anwachsende Zahl jüdischer Einwohner in der Stadt und die Konkurrenz jüdischer Kaufleute sorgten für permanenten Streit. Doch war der Fiskus zu sehr an den Einnahmen der Judensteuer interessiert, als dass der Kaiser gemäß den immer wieder vorgebrachten Beschwerden aus Breslau, die Zahl der Judenfamilien auf die 1696 zugelassenen 13 Familien zu beschränken, nachgegeben hätte.10 Vom Magistrat wurde jedoch 1710 bei den Angaben für die Toleranzsteuerzahlung, den sogenannten Toleranzimpost, die Zahl der Breslauer Juden bewusst niedrig gehalten, vermutlich weil diese Abgaben gänzlich an den Staat gingen und an den Stadttoren von Steuerbeamten eingezogen wurden. Die Stadt verdiente dagegen an den Torabgaben, die die NichtTolerierten bei ihrem täglichen Besuch zu zahlen hatten. Der Magistrat führte nur die auf, die er für den Breslauer Handel für wichtig hielt, oder diejenigen, die kaiserliche Privilegien besaßen. Für den Toleranzimpost wurden die jüdischen Einwohner in drei Klassen aufgeteilt: Die erste mit 15 Familien oder 77 Personen stellten die Lieferanten der kaiserlichen Münze, ferner die kaiserlich privilegierten Hofjuden, Buchhändler und Druckereibesitzer, aber auch die von polnischen Großmagnaten empfohlenen Juden. Sie sollten monatlich je Mann acht, je Frau vier, je Kind zwei und je Bedienten zwei Gulden Toleranzsteuer zahlen, was pro Jahr insgesamt 2.952 fl. (Gulden) erbringen sollte. Die zweite Klasse bildeten die elf Schammesse mit 41 Personen, die insgesamt pro Jahr 1.524 Gulden zu zahlen veranlagt waren. Die der dritten Klasse waren „meist Mäckler“ sowie das Personal der Schächterei, der Krankenwärter und die Wochenpflegerin. Diese Klasse musste pro Jahr 882 Gulden abliefern, sodass nach dieser Aufstellung die Toleranzsteuer in Breslau insgesamt 5.358 Gulden betrug, im Durchschnitt für das einzelne Mitglied der 146 Juden also 36 Gulden pro Jahr.11 9 Die Breslauer Judenliste vom 31. Mai 1707 in Brilling: Geschichte [...] 1697–1707, 133–135; die zehn Schammesse vertraten: 1. die Prager und böhmische Landjudenschaft, 2. die mährische Landjudenschaft, 3. die Juden aus Großpolen, 4. die aus Kleinpolen, 5. die aus Lemberg, 6. die aus Rzeszów, 7. die Glogauer Gemeinde, 8. die Zülzer Gemeinde, 9. die der Stadt Posen und 10. die der Stadt Lissa. Ders.: Geschichte [....] 1454 bis 1702, 41f. 10 Ders.: Geschichte [...] 1702–1725, 92–95. 11 Ebd., 124. 1726 unterteilte das Breslauer Oberamt die dortigen Juden in folgende Gruppen: Privilegierte, Accis-Pächter, Schammesse, Fleischhacker und Gelehrte. Die Toleranzsteuer wurde über sogenannte Toleranzämter eingezogen, die zum Teil an Steuerpächter verpachtet waren. Von ihnen gab es elf: fünf in Niederschlesien, davon eins in Breslau, und sechs in Oberschlesien. Die Toleranzsteuer wurde bis auf wenige Ausnahmen individuell abgeführt. In der St. VinzenzVorstadt, zu der auch das Matthiasstift zählte, wurde sie pauschal erhoben. Ders.: Die schlesische Judenschaft im Jahr 1737. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 17 (1972) 43–66, hier 43–50.

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Setzten sich bis 1720 die kaiserlichen Beamten für ein weitgehendes Bleiberecht der Breslauer Juden ein, so änderte sich dies unter dem Oberamtsdirektor beziehungsweise Landeshauptmann Graf Johann Anton von Schaffgotsch (ab 1729). Nun war nicht mehr der Magistrat, der inzwischen die Bedeutung der Breslauer Juden für seine Etateinnahmen recht positiv eingeschätzt hatte, an einer Reduzierung interessiert, sondern das Oberamt, das eine Vertreibung der nicht mit Privilegien oder sonstigen Aufenthaltsgenehmigungen versehenen Juden forderte. Dies veranlasste wiederum den Magistrat, der um seine Kompetenz über die Breslauer Juden fürchtete, eine bereits 1713 vorgeschlagene Judenkommission zu etablieren, die eine Vergrößerung der jüdischen Einwohnerschaft sowie ihre Handelstätigkeit in möglichst engen Grenzen halten sollte. 1726 zählte Breslau bereits 755 jüdische Einwohner, die Vorstädte immerhin zusätzlich 502. Da nun sowohl das Oberamt als auch die städtische Judenkommission gemeinsam auf eine Reduktion der jüdischen Einwohner Breslaus hinarbeiteten, kam es 1737 zur Vertreibung eines Teils der nicht privilegierten Juden, sodass 1742 Stadt und Vorstädte nur noch neunhundert jüdische Einwohner zählten.12 Auch wenn Breslau in der ausgehenden Habsburger Zeit offiziell keine jüdische Gemeinde besaß, hatte sich doch eine Infrastruktur entwickelt, wie sie in den jüdischen Gemeinden üblich war. Vermutlich 1726 hatte der Rabbiner Chajm Jonah Theomim (Fränckel) die Gründung einer Chewra Kadischa initiiert, die sich um die Kranken und Toten kümmerte und ein hohes Sozialprestige besaß. Allerdings gab es keinen Friedhof, die Toten mussten bis 1761 entweder nach Dyhernfurt oder Zülz zur Beerdigung gebracht werden. Für die Ausführung amtlicher Befehle mussten die Schammesse sorgen, da es keine Gemeindeältesten gab.13 Einen institutionellen Rückhalt bot den Breslauer Juden seit 1733 die Vorortgemeinde vor dem Odertor mit ihrem eigenen Rabbiner.14 Entgegen der Polemik in den Magistratsdokumenten wohnte hier kein „jüdisches Gesindel“,15 sondern weitgehend reiche Leute. Während 1737 in der Stadt 253 Steuerzahler nur 1.900 Gulden aufbrachten, zahlten allein auf „St. Matthiae Gut“ 55 Steuerzahler 629 Gulden.16 Zu ihnen gehörte auch die Hoffaktorenfamilie Kuh, die im 18. Jahrhundert zu den bedeutendsten jüdischen Familien Breslaus zählte. Diese Vorortgemeinde war die erste jüdische Gemeinde Breslaus mit einem eigens von ihr bezahlten Rabbiner, der im Einverständnis mit seiner Obrigkeit handelte. Es war im 17. und 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, dass geistliche Herrschaften Juden aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen auf ihrem 12 Agethen: Situation, 313; Brilling: Geschichte [...] 1702–1725, 101. 13 Brilling: Geschichte [...] 1702–1725, 108; Agethen: Situation, 314; Reinke, Andreas: Judentum und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Das jüdische Krankenhaus in Breslau 1726–1944. Hannover 1999, 33f. 14 Zur Situierung der geistlichen Vorstadt links der Oder in der Nähe der kaiserlichen Burg vgl. den Plan von Bartel Weiner von 1562. In: Szýkuła, Krystyna u. a. (Hg.): Wrocław na Planach XVI– XX wiek. Wrocław 1999. 15 Zur Steuerquote Brann: Geschichte, 224, 240. 16 Ebd.

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­ esitzareal ansiedelten und ihnen auch im religiösen Bereich relativ großzügige Rechte B einräumten.17 Die geistlichen Stifte Breslaus unterstanden nicht dem Magistrat, sondern bildeten eigene politische Einheiten. In dem bikonfessionellen Breslau waren sie im Zeitalter des Konfessionalismus das katholische Gegenstück zur lutherischen Stadtverwaltung. Schon aus konfessionellen Gründen achtete man deshalb auf politische Eigenständigkeit, die hier auch der jungen jüdischen Gemeinde zugutekam.18 So unterstützte der Prälat oder auch Meister des Matthiasstifts 1733 ein Gesuch des Rabbiners Bendix Ruben Gompertz, ihn nicht mit dem teureren Toleranzimpost der ersten Klasse, also als Großkaufmann, sondern mit dem eines Rabbiners in der zweiten Klasse zu veranlagen. Da Gompertz die Toleranzabgabe zunächst einmal zurückgehalten hatte, wurde „seine Ehe-Consortin und der sie begleitende Diener eines Tages von den Steuerboten unterm Tore angehalten und ihr „auf prostituirliche Art“ der Zugang zur Stadt verweigert.19 Ein Jahr später, am 15. Juli 1734, drohten die Impostbeamten, den Rabbiner beim Verlassen der Stadt zu inhaftieren, wenn er nicht die ausstehenden 55 Gulden zahle. Gompertz blieb nichts anderes übrig, als zu zahlen. Es bleibt unklar, ob er im Zug der folgenden Auseinandersetzung mit den kaiserlichen Behörden sein Amt als Rabbiner der Gemeinde „des Hochfürstlichen Gestiffts-Ambt[s] ad s[an]ctum Matthiam“ verlor,20 wie die Behörden in ihrem Schreiben am 15. September 1734 behaupten, wenn sie nicht ohne Häme feststellen, dass er keineswegs „Vorstädter Juden Rabiner sei, sondern zu der Rabinerfunction, umb nur einige qualitatem politicam Bey ihnen zu erlangen, sich gedungen habe, unter dem Klahren Bedüngnüss, keine accidentia und davor anssfallende sonst gebräuchliche commoda von der Gemeinde zu nehmen, welches aber sein gewinnsüchtiges Temperament ausser obacht gesetzet, darüber grosse inconvenienzen entstanden, welche nebst seinen anderen gewöhnlichen Marchandisen es dahin gebracht, dass er vor drey Wochen gäntzlich abgesetzet und quittiret worden sei“.21 Es muss offenbleiben, warum es in der jüdischen Gemeinde der Matthiasvorstadt zur Auseinandersetzung mit dem Rabbiner kam und ob es die angeführten finanziellen

17 Herzig, Arno: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1997, 88. 18 Das um 1247 gegründete Kreuzherrenstift St. Matthias gehörte den Kreuzherren mit dem roten Stern. An seiner Spitze stand im Rang eines Prälaten der Meister. Von 1675 bis 1715 war das Stift an der Oderfront von dem französischen Architekten Jean Baptiste Mathey zu einem Barockpalais umgestaltet worden. Kalinowski, Konstanty: Barock in Schlesien. Geschichte, Eigenart und heutige Erscheinung. München 1990, 92f.; Deus, Wolf-Herbert: Breslau. In: Weczerka, Hugo (Hg.): Handbuch der historischen Stätten. Schlesien. Stuttgart 1977, 38–54, hier 48; Buckisch, Gottfried Ferdinand: Schlesische Religions-Akten 1517 bis 1675. Bearb. v. Joseph Gottschalk, Johannes Grünewald und Georg Stellner, Tl. 1–2. Köln/Weimar/Wien 1982–1998, hier Tl. 2: Regesten der Religions-Akten, 11. Die hohen Baukosten, die das Stift zu tragen hatte, führten vermutlich zu der Institution der Schutzjudenschaft auf dem Stiftsterritorium. 19 Zit. nach Brann: Geschichte, 240. 20 Zit. nach ebd., 241. 21 Zit. nach ebd.

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Motive waren oder andere. Die Steuerabrechnung von 1737 führt Gompertz ohne den Zusatz „Rabbiner“ mit der Summe von zwölf Gulden, also in der ersten Steuerklasse, unter den Juden „Auf St. Matthiae Gutt“. Zusätzlich hatte er drei Gulden für Köchin und Jungen zu entrichten.22 Die Auseinandersetzungen um den Rabbiner fielen in die Endphase der Habsburger Herrschaft über Schlesien, die für die Juden noch einmal eine bedrohliche Situation heraufbeschwor. 1738 befahl Kaiser Karl VI., binnen dreier Monate alle „unprivilegierten“ Juden auszuweisen. Das traf auch die nachgewachsenen, inzwischen selbstständigen Kinder. Nur dem ältesten Sohn war es erlaubt zu heiraten, doch erst nach dem Tod des Vaters und wenn er mindestens 24 Jahre alt war. Für Schlesien konzessionierte der Kaiser nur 119 Familien. In Breslau allein waren beim letzten Toleranzimpost 1737 236 Haushalte gezählt worden. Karls VI. Tod (1740) brachte keinen Wandel der rigiden habsburgischen Judenpolitik. Trotz der Schwierigkeiten, die Maria Theresia als Frau und Nachfolgerin 1740 bei ihrer Thronbesteigung hatte, setzte sie die Judenpolitik ihres Vaters fort, hielt dessen Austreibungsbefehl aufrecht und erlaubte nur, etliche Schammesse, Krankenwärter, Totengräber, Viehstecher und Garköche sowie einen „PlautzenRabbiner“ in Breslau und seinen Vorstädten zu dulden.23 Der Einfall des preußischen Königs Friedrich II. im Dezember 1740 in Schlesien schuf eine neue Situation. Nicht ohne Grund begrüßten die Breslauer Juden den Eroberer, wie dies in dem gedruckten Begrüßungsgedicht des Rabbiners Gompertz deutlich wird, dessen Titelvignette den preußischen Adler mit ausgebreiteten Schwingen über Palmenzweigen schwebend zeigt.24 Gompertz, dessen Familie seit den Tagen des Großen Kurfürsten zu den einflussreichsten brandenburg-preußischen Hoffaktoren zählte, begrüßte den König in diesem Gedicht nicht nur im Namen der Judenschaft, sondern sprach gleichsam im Namen aller. Zu einem grundlegenden Wandel der Judenpolitik kam es allerdings nicht. Schon der Titel des königlichen Edikts für die Breslauer Juden vom 6. Mai 1744 zeigt, dass es bei einer Judenpolitik mit Einschränkungen bleiben sollte.25 Die Absicht des Königs, allein über jüdische Angelegenheiten zu bestimmen, ließ sich jedoch nicht durchführen, auch wenn der obersten Kriegs- und Domänenkammer nun mehr Kompetenzen zustanden, als dies bei den ehemaligen kaiserlichen Beamten der Fall war. Der Magis-

22 Ebd.; Brilling: Geschichte [...] 1454 bis 1702, 54f. 23 Brann: Geschichte, 242; Breuer: Frühe Neuzeit, 148f. 24 Brann: Geschichte, 243f.; Herzig: Jüdische Geschichte, 110f.; Ptak, Marian: Żródła prawa określające status ludności żydowskiej na Śląsku do 1742 r. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 46 (1991) 139–149. 25 „Allergnädigste Declaration, welchergestalt das bishero in Dero Haupt-Stadt Bresslau überhand genommene unnützes Juden Volck, a dato Publicationis, binnen zwey Monathen gedachte Stadt räumen, einnige zum Müntz-Wesen nöthige, wohlberüchtigte jüdische Familien aber geduldet, und denenselben mit einigen wenigen Speciebus von Waaren der Handel al grosso, keineswegs aber mit offenen Laden verstattet werden soll.“ Brann: Geschichte, 244f.

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trat behielt seine Judenkommission bei.26 Das neue Edikt ermöglichte jetzt auch in der Stadt Breslau die Einrichtung einer jüdischen Gemeinde, schränkte aber die Rechte des Rabbiners erheblich ein. So durfte er unter seinen Glaubensgenossen nicht mehr die niedere weltliche Gerichtsbarkeit ausüben, keinen Bann verhängen und keine Fasten anordnen. Er erhielt jedoch den Titel eines Landrabbiners und damit die Amtskompetenz über alle schlesischen Juden, die nicht zur Gemeinde in Glogau oder Zülz gehörten. Das Rabbinatsgericht war nur noch für Ehe- und Erbrechtsfragen zuständig.27 Die in Breslau Handel treibenden polnischen Juden wollten sich mit der Kompetenzeinschränkung des Breslauer Rabbiners in Gerichtsfragen nicht abfinden und ersuchten die Regierung immer wieder, ihn doch über die zwischen ihnen und den Breslauer Schutzjuden vorfallenden Streitigkeiten entscheiden zu lassen. Sie verwiesen auf die „weitläufige[n] Prozesse“, die sonst entstünden. Dabei vergaßen sie nicht, auf ihre Bedeutung für „das Commercium in Dero Landen“ hinzuweisen.28 Die Kammer leitete dieses Gesuch befürwortend weiter.29 Das Gesuch vom 2. Februar 1746 zielte vermutlich auf die Streitigkeiten zwischen den Breslauer und den auswärtigen Juden. Letztere kauften verbotenerweise Gold und Silber in Breslau auf und fügten damit den privilegierten Juden Breslaus erheblichen Schaden zu. Der König beließ es jedoch bei dieser Bestimmung, sodass die polnischen, russischen und wolhynischen Juden beim Amtsantritt von Rabbiner Gompertz’ Nachfolger Joseph Jonas Fränckel 1754 noch einmal supplizierten, „dass selbiger die zwischen uns Juden vorfallenden und von unserem Negotio abhangenden jüdischen Streitigkeiten nach jüdischen Gesetzen und Gebräuchen abtun und schlichten könne“.30 Die Breslauer Kammer, die im Hinblick auf den Osthandel im Sinn der polnischen Juden eine entgegenkommende Regelung anstrebte, musste aber erkennen, dass die übergeordneten Behörden Rechte des Staates im Justizbereich nicht preisgeben wollten. Zumindest in „allen causis civilibus und criminalibus“ sollten die in Breslau wohnenden Juden den übrigen Einwohnern gleichgestellt und den lokalen Behörden unterstellt sein.31 Gerade damit aber war die Kammer keineswegs einverstanden, weil ihr dadurch „alle Jurisdiction über die hiesige und fremde Judenschaft“ genommen und dem Breslauer Magistrat übergeben würde.32 Darin aber sah die Kammer eine eindeutige Beschneidung ihrer Rechtskompetenzen. Zur Erhärtung ihres Rechtsstandpunkts 26 Baumgart, Peter: Schlesien als eigenständige Provinz im altpreußischen Staat (1740–1806). In: Conrads, Norbert (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin 1994, 346– 464, hier 374f. 27 ������������������������������������������������������������������������������������������� Brenker, Anne: Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg/München 2000, 239–244; Brann: Geschichte, 248. 28 Zit. nach Stern, Selma: Der preußische Staat und die Juden, Tl. 1–4. Tübingen 1962–1975, hier Tl. 3: Die Zeit Friedrich des Großen, Abt. 2: Akten, Halbbd. 2, 1171f. (Zitate), 1243f. 29 Ebd., 1243. 30 Zit. nach ebd., 1243f. 31 Ebd., 1771. 32 Zit. nach ebd., 1778.

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griff sie auf ein mittelalterliches Argument zurück, nämlich, dass die Juden keine cives, also keine Bürger, seien. Neben den Querelen, die die bürgerlichen Kaufleute und Zunftbürger immer wieder gegen die Breslauer Juden vorbrachten, bildete das Kompetenzgerangel zwischen Kammer und Magistrat ein weiteres Moment, das die Existenz der Juden im Breslau des 18. Jahrhunderts stark belastete.33 Was die übrigen Gemeindeangelegenheiten betraf, so konzedierte die Breslauer Judenordnung von 1744 die Anlegung eines eigenen „Kirchhof[s]“ gegen eine jährliche Zahlung von 25 Reichstalern.34 1761 erwarb die Gemeinde ein Grundstück in der Nähe des heutigen Hauptbahnhofs, das bis 1856 belegt und 1944 zerstört wurde. Auch war ihr „vergönnet sich einen Saal zu ihrer Synagoge zu miethen“.35 Bis zum Bau der ersten neuzeitlichen Synagoge Breslaus, der nach den Entwürfen von Carl Ferdinand Langhans zwischen 1827 und 1829 errichteten Synagoge „Zum weißen Storch“, diente über achtzig Jahre eine einfache Stubensynagoge in einem Wohnhaus des Pokoyhofs als Landessynagoge.36 Die Breslauer Judenordnung von 1744 gestattete ferner die Einrichtung eines Vorstehergremiums, was vonseiten der Regierung aber wohl eher unter fiskalischem Aspekt geschah, da als dessen primäre Aufgabe „die Einsammlung der Canonum und Gelder“ angegeben wurde.37 Ohne dass etwas Genaueres über den Wahlmodus bekannt ist, sind bereits für den 25. Mai 1744 Daniel Kuh und Isaac Aaron Levi als jüdische Vorsteher bezeugt. Sie hatten sich um die Einziehung der Steuern zu kümmern.38 Die Gemeinde finanzierte ihre Ausgaben aus der sogenannten Fleischsteuer. Von jedem Pfund koscheren Fleischs, das die Familien erwarben, mussten neun Denare an die Gemeindekasse abgeführt werden. Daraus wurden unter anderem – so die Angaben der „Aestimatores“ (Einschätzer) Isaac Aaron Levi, Hirsch Salomon Mürer, Marcus Berel Pick, Jacob Hirsch und Aaron Zadeck für 1774 – die Erbauung des Gemeindehauses, die Anschaffung der von der Feuerwehr vorgeschriebenen Spritzen und die Unterhaltung des Lazaretthauses finanziert. Die Regelung der Gemeindefinanzen mit dem sogenannten Fleischpfennig war das Ergebnis einer langjährigen internen Auseinandersetzung. Schon Rabbiner Gompertz hatte während seiner Amtszeit, also bis 1753/54, ohne Erfolg darauf gedrängt, nicht nur die Schuldenlasten der Gemeinde, sondern auch die fehlenden Summen für die jährliche Silberlieferung an den Staat daraus zu finan-

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Dazu eingehend Brenker: Aufklärung, 243. Łagiewski, Maciej: Breslauer Juden 1850–1944. Breslau 1996, unpag. (Kap.: Friedhöfe). Zit. nach Brann: Geschichte, 246. Łagiewski: Breslauer Juden, Abb. Nr. 15: Abbildung der „Landessynagoge“ auf dem „Pokoyhof “, einem Areal zwischen Antonienstraße und Wallstraße, das neben dem Areal lag, auf dem ab 1827 die ebenfalls dort abgebildete Synagoge „Zum weißen Storch“ errichtet wurde. Ferner Abb. Nr. 16f.; Kos, Jerzy K.: Synagoga „Pod Białym Bocianem“ we Wrocławiu. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 46 (1991) 191–203. 37 Zit. nach Brann: Geschichte, 246. 38 Ebd., 249; Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1167.

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zieren.39 Erst unter seinem Nachfolger Fränckel war dies dann der Fall. Die Zahlung dieser jährlichen Silberlieferung, die zusätzlich zur Toleranzsteuer zu zahlen war, hing noch in einer anderen Beziehung mit dem sogenannten Fleischgroschen zusammen. Das „jährliche Silber-Lieferungs-Qantum“ der einzelnen Familien wurde analog zur Fleischsteuer berechnet.40 Das reduzierte erheblich die Querelen um die Repartition, also die Festlegung des jährlichen Steueranteils der einzelnen Familien, die durch die Gemeinde oder deren Vorsteher erfolgte. Die Kammer überprüfte dann die Einnahmen der Gemeinde und legte danach endgültig den Steuersatz fest, wobei nach Angaben der Regierungsstellen Fleischsteuer und Toleranzsteuer gleich viel betragen sollten. Zwar war durch die Breslauer Judenordnung von 1744 die jüdische Gemeinde endgültig etabliert worden, doch verfolgten nun die preußischen Behörden die habsburgische Judenpolitik weiter, die darauf abgezielt hatte, die jüdischen Einwohner der Stadt zu reduzieren.41 Für die Breslauer Kammer galt der Grundsatz, dass die „würcklich Pohlnische[n]“ Händler und die zwölf Privilegierten-Familien, „deren wir zu Unserer Breßlauischen Müntze ohnumgänglich bedürffen“,42 den Kern der Gemeinde bilden sollten, die anderen aber allmählich aus der Stadt zu vertreiben seien. Die Ausweisungen setzten 1744 ein, ohne dass dieser Vorgang in den sonst recht genau geführten Breslauer Amtsakten einen Niederschlag gefunden hätte.43 Strategie der Kammer war es, 39 The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9, Fasc. 4: Die Breslauer Kriegs- u. Domänenkammer an den Land-Rabbiner Fraenckel (29. November 1774); dieselbe an die Aestimatores (24. November 1774); Brann: Geschichte, 251. 40 The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9, Fasc. 4. Die Toleranzsteuer für 1774 betrug zum Beispiel 2.874 Taler, wovon die elf Generalprivilegierten-Familien 754 Taler, die 17 Privilegierten-Familien 673 Taler und die fünfzig Tolerierten-Familien 1.241 Taler aufbringen mussten. Bis zum Etatjahr 1790/91 veränderte sich dann das Anteilsverhältnis erheblich: Die 17 General-Privilegierten hatten nunmehr 170 Reichstaler, die 14 Privilegierten 527 Reichstaler, die 103 Tolerierten 2.126 Reichstaler aufzubringen. Hinzu kamen sechs weitere Gruppen, wie die Fix-Entristen, die immerhin 2.382 Reichstaler zahlen mussten. Die weiteren Einnahmen bildeten Zahlungen der unechten Famulizen, der fremden Juden, der polnischen Juden und auch der Juden-Schul- und Gemeindebeamten, sodass die Toleranzetatsumme 6.390 Reichstaler betrug. 41 Agethen: Situation, 319; Brenker: Aufklärung, 217. 42 Zit. nach Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1160f. Auf Befehl des Königs durften auch künftig in den schlesischen Städten, in denen bis dato keine Juden geduldet wurden, keine leben. Ebd., 1318. Eine „Instruction wie es mit Colligirung des sogenannten Tage-Groschens, von fremden Juden in Schlesien, Breßlauschen Departements, exclus. der Stadt Breßlau, gehalten werden solle“ (26. Dezember 1748) regelte recht streng die Bedingungen für den Tagesaufenthalt von Juden in den schlesischen Städten. Sie hatten genau die Tage anzugeben, „welche sie auf der Reise im Königl. Schlesien zugebracht, oder welche zu der Rückreise, soweit selbige durch Schlesien gehet, erforderlich sind“. Betteljuden sollten sofort an der Grenze abgewiesen werden. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Archiwum Giełdy Kupieckiej, 413, 5–8. Friedrich II. befürchtete vor allem wegen des Schmuggels, den jüdische Händler ausübten, Nachteile für die Staatskasse. The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9. 43 Brenker: Aufklärung, 217; er zeigt sich am ehesten in der Einwohnerzahl. Zwischen 1742 und 1750 ging die Zahl von 910 auf 505 zurück, stieg aber bis 1765 wieder auf 943 an und bis 1816 auf 4.268. Damit erhöhte sich der Anteil der Juden an der Breslauer Einwohnerschaft von 1,06

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entgegengesetzt zu den weitergehenden Forderungen der Breslauer Kaufmannschaft, die für die Wirtschaft nützlichen Juden – und das betraf primär den Osthandel und die Münze – in der Stadt zu halten. Das war sicher keine tolerante Haltung, wie schon aus der Formulierung der Breslauer Kammer 1744 an den Minister Ludwig Wilhelm von Münchow hervorgeht, die davon spricht, dass „das Judengesindel abgeschafft und einige zum polnischen Handel und der Münze nicht unnütze Juden beibehalten werden könnten“.44 Für den 25. Mai 1744 sind zwölf „privilegierte Handelsjuden“ bezeugt,45 zu den „tolerirten Juden“ zählen 24 Personen, darunter ein Hofjuwelier, ein Pferdehändler, ein Petschierstecher, aber auch die Gemeindebeamten wie der Rabbiner Gompertz, der Schulmeister, der Schuldiener, der Schulsänger, zwei Beschneider, vier Krankenwärter, zwei Tauchweiber (für die Mikwe), zwei Totengräber und zwei Garköche. Die Reduzierungspolitik der Stadt- und Staatsbehörden ließ sich allerdings nicht aufrechterhalten. Bereits die Aufstellung für 1751 führt neben den zwölf „Privilegirten“ 25 „Tolerirte über dem Reglement ad Revocationes“ auf.46 Zur ersten Gruppe zählten neben den Münzlieferanten die „Handelsjuden“ und Geldwechsler; zur zweiten neben den Schammessen die Gemeindeangestellten. Zu den 39 Personen der dritten Gruppe, die nur auf Widerruf geduldet waren, die aber das eigentliche Zuwachspotenzial stellten, gehörten Goldarbeiter, Viehmakler und -händler, die vermutlich auch den lokalen Markt versorgten, Gewürzhändler, Buchhändler, die die Produkte der jüdischen Druckerei in Dyhernfurth vertrieben, sowie vor allem die Vorbeter, Schuldiener der polnischen Synagogen und die Faktoren der Schammesse. Relativ groß ist die Gruppe der acht „alte[n] Wittib[en]“.47 Die Kammer kritisierte die weitere Extendierung der Judenschaft. ­Staatsminister Joachim Ewald von Massow erließ 1754 eine Instruktion mit 21 Artikeln. Die sogenannten Famuliz-Personen, besonders die Buchhalter, mussten demnach ledig sein, zudem durften sie nicht in eigener Regie als Makler ein Geschäft betreiben. Dasselbe galt für die Hausrezeptoren, die für die „jüdische Gelehrsamkeit“ verpflichtet wurden.48 Auch sie sollten ledig sein.49 Da der vermutete Zollbetrug polnischer Juden zu zahlreichen Klagen führte, drohte Friedrich II. 1766, „die sämtlichen Juden aus dem Land jagen zu lassen“.50 Diese verbalen Attacken des Königs passten jedoch nicht zu seiner sonstigen Politik, die darauf ausgerichtet war, die im Osthandel erfolgreichsten jüdischen Geschäfts-

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Prozent (1747) auf 6,12 Prozent (1816). Vgl. Ziątkowski, Leszek: Rozwój liczebny ludności żydowskiej we Wrocławiu w latach 1742–1914. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 46 (1991) 169–189, hier 171; Brann: Geschichte, 246, schätzt die Zahl jüdischer Einwohner zu Beginn der preußischen Ära auf „höchstens 300 Seelen“. Zit. nach Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1161. Zit. nach ebd., 1167, 1210f. Zit. nach ebd., 1210f. Zit. nach ebd., 1245f. Ebd. Ebd. The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9. Potsdam 22. November 1766.

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leute Berlins und Breslaus als Generalprivilegierte den christlichen Kaufleuten gleichzustellen, um auf diese Weise auch den Export Berliner und Potsdamer Produkte in den Osten zu fördern. Im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) erhielten vor allem die Münzentrepreneure, von denen weitgehend die Finanzierung des Krieges abhing, dieses Privileg, so Veitel Heine Ephraim (1762) und Daniel Itzig (1759) ebenso wie deren Nachkommen.51 1764 bekam Moses Heimann für sich und seine Nachkommen dieses Privileg, da er sowohl eine Silberaffinerie als auch eine Zitz- und Kattunfabrik errichtet hatte.52 Zum Generalprivilegierten wurden 1764 auch der Nachfolger des Rabbiners Gompertz, der Rabbiner Joseph Jonas Fränckel (Breslauer Amtszeit 1754–1793), und seine Nachkommen auf eigenen Antrag hin ernannt.53 Fränckel, so gibt er selbst an, war mit „einem ansehnlichen Vermögen aus Polen“ nach Preußen gezogen und hatte auch „eine considerable Handlung, vornehmlich mit Polen und Litauen an hero gezogen“.54 Das Privileg hebt folglich auch seinen Zeug-, Leinen- und Seidenhandel nach Russland, Polen, Litauen, nach Moldau und der Wallachei hervor sowie „auch denen Schlesischen Fabricanten Vorschüße an Wolle und Gelde zu thun“.55 Die christlichen Kaufleute Breslaus sahen infolge der Generalprivilegierung und damit der Gleichstellung der jüdischen mit den christlichen Kaufleuten ganz erheblich ihre eigenen Privilegien beeinträchtigt. 1769 beschwerten sie sich über eine von Rabbiner Fränckel in Anspruch genommene „Gerechtigkeit“ (Privilegierung), die nach Angaben der Breslauer Kaufmannältesten von Kaiser Joseph I. zum Schutz der christlichen Kaufleute erteilt worden war; desgleichen über das Recht, das damit Fränckel zustehe, „adlige Güter zu besitzen“. Überhaupt, so meinte die Breslauer Kaufmannschaft, sei es „der Politik zuwider, einem Juden dergleichen Befugnis [...] einzuräumen“. Fränckel – so ihre Schlussfolgerung – „bleibt seines Privilegii ohngeachtet ein Jude“,56 weshalb die Kaufmannschaft sich auch wehrte, ihn in ihr Kollegium aufzunehmen. Trotz dieser vehementen Eingabe blieb die Kammer bei der Meinung, dass der Landrabbiner „nach seinem erhaltenen Privilegio all die den christlichen Kaufleuten zustehenden Gerechtigkeiten zu exerciren befugt“ sei.57 Da die Generalprivilegierung für jüdische Kaufleute weitgehend auch für deren weibliche Nachkommen galt, befürchtete die christliche Kaufmannschaft Breslaus, dass ihre vierhundert Handlungshäuser allmählich „zu Grunde gerichtet“ oder „verdrängt“ würden.58 Diese Befürchtung äußerte sie anlässlich der Generalprivilegierung von Daniel Kuh 1776, der nach Ansicht der Breslauer Kauf-

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Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Archiwum Giełdy Kupieckiej, 414, 1f., 7f. Ebd., 11f. Ebd., 25f. Zit. nach Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1280f. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Archiwum Giełdy Kupieckiej, 414, 25. Ebd., 5–9. Als Gerechtigkeit wurden Privilegien bezeichnet, die an ein Grundstück oder Haus gebunden waren. 57 Ebd., 10. 58 Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1328f.

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mannschaft zwölf Erbberechtigte für das Generalprivileg hinterließ. Die Breslauer Generalprivilegierten setzten sich dagegen zur Wehr und führten als Ursache für solcherlei Vorwürfe die Bequemlichkeit der Breslauer Kaufleute an, die nur darauf aus seien, an Einheimische wie Ausländer möglichst teuer zu verkaufen, um Investitionen in das heimische „Fabriquengeschäft“ sich jedoch nicht kümmerten. Das aber täten die Generalprivilegierten. Deshalb sei angesichts dieses Nutzeffekts „mehr Rücksicht zu nehmen auf 10 à 15 Familien, die dem Staate durch Fabriquen, wovon viele 1.000 Seelen erhalten werden und die durch auswärtige Negoce nützlich sind“.59 In der Tat sollte mit dem Mittel der Generalprivilegierung der niedergehenden schlesischen Protoindustrie durch den Export einheimischer Tuche wieder aufgeholfen werden. Von den Generalprivilegierten erwartete der König vor allem den Export einheimischer Produkte.60 Unter dem Provinzialminister Karl Georg von Hoym war die Kammer einsichtig genug, diesen Nutzen zu erkennen und die Juden entsprechend in Schutz zu nehmen. Noch von Hoyms Vorgänger Minister Ernst Wilhelm von Schlabrendorf hatte im Siebenjährigen Krieg nach dem Motto gehandelt, die Juden möglichst hoch zu besteuern, und zwar mit der Begründung, dass sie die Einzigen seien, die durch den Krieg reich geworden wären, dagegen die Last desselben nicht gleich anderen getragen und ihre „Nahrung“ täglich besser gestaltet hätten.61 Der Provinzialminister von Hoym dagegen, dem der König „eine geheime inclination vor die Juden“ nachsagte,62 setzte sich gegenüber dem König immer wieder für die Juden ein, obgleich ihn dieser 1777 wissen ließ, dass es seine Intention sei, „daß zu Breslau nur so viele Juden sein sollen, um den Handel mit Polen zu betreiben [...]. Alles schlechte Juden und Bettelzeug muss sogleich und ohne Umstände fortgeschafft werden.“63 Doch gerade in dem vom König gewünschten Polenhandel der Juden sah der Breslauer Magistrat eine große Gefahr für den eigenen Handel. Seine Vorwürfe richteten sich vor allem gegen den Generalprivilegierten Zacharias Kuh, der angeblich seine Glaubensgenossen, Makler wie Schammesse, so tyrannisiere, dass keiner von diesen mehr mit der christlichen Kaufmannschaft Handel treiben wolle. Die Folge sei, so heißt es 1777 in einer Eingabe an von Hoym, dass die Juden „fast alle Branchen der Handlung an sich allein zögen und die Makler ihnen sowohl die ankommenden polnischen oder russischen Waren und Güter zuerst zuwiesen, als auch die Rückladungen von ihnen

59 Zit. nach ebd., 1336f. 60 So hebt die Begründung für die Generalprivilegierung von Salomon David junior (1766) dessen Export einheimischer Tuchzeuge und Seiden nach Russland hervor, die Tolerierung von Zacharias Lohenstein dessen Anlage einer Muselin- und Raschefabrik. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Archiwum Giełdy Kupieckiej, 414, 83f., 150. 61 So in einer Randnotiz vom 4. September 1763 anlässlich einer Bittschrift von Simon Marcus an den König. Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1275. 62 Zit. nach Baumgart: Schlesien, 460f. 63 Kabinettsordre an Hoym vom 7. Mai 1777. Zit. nach Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1358f.

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Judenplatz (nach 1824 Karlsplatz). Eine der wenigen Darstellungen jüdischen Lebens in Breslau des 18. Jahrhunderts. Sie stammt von dem bekannten Vedoutenmaler Friedrich Bernhard Werner. Die sogenannte Judenbörse zeigt jüdische Geschäftsleute.

nehmen müßten“.64 Der Magistrat forderte deshalb in Überschätzung seiner Kompetenzen die Absetzung Kuhs als Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Auch wenn mit dem Kapital der Generalprivilegierten dem schlesischen Fabrikenwesen aufgeholfen werden sollte, dachte Berlin zunächst daran, durch Ernennung von Breslauer Generalprivilegierten der eigenen, nämlich märkischen, Industrie zu helfen. Der Faktor Moses Ries durfte zum Beispiel in Breslau keine Samtfabrik errichten, weil er in Potsdam bereits eine besaß, deren Produkte unbedingt abgesetzt werden sollten.65 Schlesien war primär als Absatzmarkt für märkische Produkte gedacht, deshalb erhielten auch nicht wenige Berliner jüdische Unternehmer für Breslau die Generalprivilegierung. In der Auseinandersetzung zwischen der Breslauer Kaufmannschaft und den dortigen Generalprivilegierten verhielt sich der Provinzialminister von Hoym gesetzeskonform. Er verbot 1777 Letzteren den Detailhandel, ferner den Berliner und Potsdamer Generalprivilegierten mit Ausnahme Joseph Veitel Ephraims den Erwerb eigener Häuser.66 Gegenüber Berlin aber nahm er im selben Jahr die jüdische Gemeinde Breslau in Schutz, als die Regierung versuchte, die „subsidiarische Schadenersetzung“ entgegen der Judenordnung von 1744 auch auf diese Stadt anzuwenden. Er akzeptierte

64 Zit. nach ebd., 1360f. 65 Agethen: Situation, 323. 66 Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1362.

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den Einwand der Breslauer Judengemeinde, dass es ihr unmöglich sei, das „moralische Verhalten der sich hier befindenden Juden“ genau zu beobachten.67 In allen Synagogen Breslaus mussten jedes Jahr die königlichen Edikte in Bezug auf Betrug und Hehlerei verlesen und publiziert werden, die vom „Juden-Amts-Aufseher“ an den Landrabbiner und von diesem an die zwanzig Synagogen weiterzuleiten waren. Darunter befanden sich 1778 nicht nur die Synagogen der polnischen, russischen und schlesischen Schammesse, sondern auch einige Klaussynagogen, darunter die des Generalprivilegierten „Herrn Moses Heymann“ und des „Herrn Landrabbiner Franckel [!]“, der seit 1754 „königlich geordneter Landrabbiner“ war.68 Offiziell fungierte der Landrabbiner allerdings in der „Landtschul im Pockeyhof “.69 Die Aufzählung der diversen Synagogen mit ihren Rabbinern macht deutlich, dass die 158 jüdischen Familien, die es 1775 in Breslau gab, kaum eine Gemeindeeinheit bildeten. Die Juden in den Synagogen der Schammesse fühlten sich ihren Heimatgemeinden zugehörig. Auch wenn dem Landrabbiner Joseph Jonas Fränckel gemäß Instruktion der Breslauer Kammer vom 28. März 1755 die Amtshandlungen bei Eheschließungen, Entscheidungen in Erbrechtsfällen, die Beaufsichtigung der Kultusangelegenheiten und die „Aufsichten die mosaischen Gesetze betreffend“ zustanden,70 so war ihm doch im Gegensatz zu seinem Berliner, aber auch Glogauer Kollegen die rabbinische Gerichtsbarkeit vorenthalten worden. Bei Streitfällen konnte er nur aufgrund seines persönlichen Ansehens bei allen Breslauer Juden schlichtend eingreifen. Schon wegen dieser begrenzten Amtsgewalt und der mangelnden Kompetenzen des Landrabbiners blieb die Breslauer Judenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts recht uneinheitlich. Fränckels Autorität rührte wohl auch von seiner ökonomischen Unabhängigkeit her. Zwar bezog er aus der Gemeindekasse eine feste Besoldung von 444 Talern, war aber aufgrund seiner Handelsgeschäfte kaum darauf angewiesen.71 Der Provinzialminister von Schlabrendorf schätzte 1764 sein Vermögen auf 100.000 Taler.72 Damit zählte er zu den reichsten Mitgliedern der Gemeinde. Als Generalprivilegierter war er von dem Silberlieferungsquantum nicht ausgenommen, für das er 1774 181 Taler und damit die höchste Summe unter den Breslauer Juden abführen musste.73 Der Aufstieg zu Privilegierten oder gar Generalprivilegierten bedeutete keineswegs eine ökonomisch gesicherte Existenz für alle Zeiten. So war Lazarus Philipp Hirschel, der Sohn des seit dem 6. Mai 1744 privilegierten Wechselnegotianten Philipp Lazarus 67 Ebd., 1325. 68 The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9. Die Edikte wurden vom „JudenAmts-Aufseher“ an die „Judenschulen“ weitergeleitet. Der Titel des Landrabbiners nach Brann: Geschichte, 252. Die Generalprivilegierten mussten im Gegensatz zu den nur Tolerierten mit „Herr“ angeredet werden. 69 Zit. nach Łagiewski: Breslauer Juden, Nr. 15. 70 Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1267; Breuer: Frühe Neuzeit, 241f. 71 Brann: Geschichte, 252f. 72 Ebd., 253 Anm. 4. 73 The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9.

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Hirschel, der das Privileg 1753 geerbt hatte, 1777 „verarmt“ und ohne Handel. Dasselbe galt 1777 für die ehemaligen Münzlieferanten Isaac Aaron Levi, Zacharias Abraham Lazarus und für die Erben des Gerson Lazarus.74 Dagegen hielten die Söhne des privilegierten Abraham Kuh den einmal erreichten sozialen Status und bildeten eine der führenden Handelsfamilien in Breslau.75 Die 1777 aufgeführten zwanzig tolerierten Juden, die ihr Toleranzprivileg fast ausschließlich in den 1760er Jahren erhalten hatten, lebten weitgehend vom Altkleiderhandel, drei handelten mit koscheren Waren.76 Die in einer Liste für 1774 aufgeführten 123 „Tolerirten über das Privileg“ wurden, soweit sie nicht Gemeindeangestellte waren, bis auf elf männliche und drei weibliche Personen, ferner sieben Witwen, alle zur Toleranzsteuer zwischen drei und 44 Talern herangezogen.77 Die nicht zur Steuer Herangezogenen bildeten die Armen der Gemeinde. Damit lag der Prozentsatz der Verarmten bei etwa zwanzig Prozent. Allerdings gab es daneben eine große Gruppe, „welche wegen ermangelnder Caution aus dem Toleranz Etat weggelassen und besonders aufgeführt werden“ sollte.78 Eindeutige Angaben zur sozialen Situation lassen sich jedoch kaum machen. Den Bestrebungen der Breslauer Kaufmannschaft, den Generalprivilegierten irgendwelche Restriktionen aufzuerlegen, trat 1777 der Minister Johann Heinrich von Carmer entgegen, der deren Bedeutung weniger im Handel als in ihrer Bemühung um die Verbesserung der industriellen Infrastruktur des Landes sah. Dabei kategorisierte er in einem Promemoria die Breslauer Judenschaft in sechs Klassen. In Bezug auf die gemäß Judenordnung von 1744 zwanzig Tolerierten forderte er, dass sie sich „jeder Gattung des Handels enthalten“.79 Auf die sogenannten Fix-Entristen, unter die für ihn alle ehemals Privilegierten oder Tolerierten fallen, die „wegen Alter, Krankheit etc. den Handel niedergelegt haben“,80 sei besonders zu achten, weil gerade dieser Status das „Einschleichen unbefugter Juden“ ermöglichen könne. Das gelte auch für die unterste Klasse, die Bediensteten, deren vorgeschriebene Zahl genau eingehalten werden solle. Aus Carmers Ausführungen könnte man schließen, dass Breslaus Öffentlichkeit, artikuliert durch die Kaufmannschaft, sich stärker gegen die bessergestellten Juden richtete als gegen die jüdischen Unterschichten. Doch drang der Magistrat 1774 ganz entschieden darauf, das Famulizwesen in Ordnung zu bringen, das heißt alle Nicht-Zugelassenen sofort auszuweisen, was dann auch konsequent durchgeführt wurde.81 Die Juden, gleichgültig in welchem sozialen Status, wurden ausgegrenzt. Die allgemeine Voreingenommenheit der Breslauer Gesellschaft artikulierte der Magistrat 1766, wenn er in seiner 74 75 76 77 78 79 80 81

Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1219, 1332. Ebd., 1210; The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9. Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1333f. The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9. Ebd. Zit. nach Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1347–1350. Zit. nach ebd. Brenker: Aufklärung, 235–239.

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Argumentation gegenüber der Kammer pauschal von einem „jüdischen Nationalcharakter“ spricht,82 der Unordnung und Unterschleif befürchten lasse. Von Toleranz ist im beginnenden Zeitalter der Aufklärung noch wenig zu spüren, aber die Aufklärung sollte auch hier allmählich einen Wandel sowohl auf jüdischer als auch christlicher Seite herbeiführen. Bemühungen um eine Akkulturation, aber auch deren strikte Ablehnung, waren in der Breslauer Judenschaft vorhanden, was sich durch deren Heterogenität erklärt. Infolge des kontinuierlichen Kontakts zu den ­polnischen Gemeinden war das traditionelle Element sehr stark, infolge der engen, auch verwandtschaftlichen Beziehungen zu Berliner Haskala-Vertretern aber auch der Einfluss der Aufklärung. Ein Kreis junger gebildeter Männer schloss sich 1780 in der „Gesellschaft der Brüder“ zusammen, die Bildung und Aufklärung in der Gemeinde zu verbreiten suchte.83 Diesen Bestrebungen widersetzte sich jedoch der Rabbiner Joseph Jonas Fränckel, der Gelehrsamkeit ausschließlich als Talmudgelehrsamkeit verstand. Breslau war neben Berlin eine der ersten Gemeinden in Deutschland, in denen der Konflikt zwischen Tradition und Moderne virulent wurde und bis hinein in die einzelnen Familien wirkte und ausgetragen wurde; auch in der Familie des Rabbiners Fränckel war dies der Fall. Obwohl sein Schwiegersohn Rabbi Saul traditionell im Talmudstudium ausgebildet worden war, schloss er sich den Maskilim an und bekämpfte die Vertreter des traditionellen Judentums wie den Altonaer Oberrabbiner Raphael Cohen, der wiederum Mendelssohns Schriften angriff.84 1793 entstand in Breslau eine weitere jüdische Aufklärungsgesellschaft, die „Zweite Brudergesellschaft“, die sich stärker für Bildungsbelange einsetzte.85 In Zusammenarbeit mit den Breslauer Aufklärern Friedrich Albert Zimmermann und Johann Gottlieb Schummel hatten sie 1791, unterstützt vom Provinzialminister von Hoym, in Breslau die „Königliche Wilhelmsschule für die Jüdische Jugend“ gegründet, die 120 Schüler besuchten und die von einem Schulkollegium aus zwei christlichen und drei jüdischen Mitgliedern geleitet wurde.86 Das akkulturative Schulprogramm, das weitgehend auf den Aufklärer Johann Gottlieb Schummel zurückging, verzichtete zunächst auf den Talmudunterricht, da die beiden dafür vorgesehenen Lehrer Joel Löwe und Aharon Wolfsohn nicht die Zustimmung des Landrabbiners Fränckel erhalten hatten. Fränckel, der sich für das Talmudstudium und damit für die ausschließliche Tradition jüdischen Wissens verantwortlich fühlte, sah sich hier in Konkurrenz zu dem Schulkollegium. 82 83 84 85

Zit. nach ebd., 233. Brann: Geschichte, 255; ders.: Festschrift zur Säcular-Feier am 21. März 1880. Breslau [1880]. Ders.: Geschichte, 255f. Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1/1: Von den Anfängen bis ca. 1800. Würzburg 1995, 270. 86 Reinke, Andreas: Zwischen Tradition und Assimilation. Die königliche Wilhelmschule in Breslau 1791–1848. In: Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte 43 (1991) 193–212, hier 199; Brann: Geschichte, 258f.; Freudenthal, Max: Die ersten Emanzipationsbestrebungen der Juden in Breslau. In: Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums 37 (1893) 41–48, 92–100, 188–197, 238–247, 331–341, 409–429, 467–483, 522–536, 565–579.

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Der Regierung gegenüber berief er sich auf eine königliche Instruktion von 1755, nach der er für die „Religionsangelegenheiten nach jüdischen ritibus“ verantwortlich sei,87 das Schulkollegium also gleichsam in seine Kompetenzen eingegriffen habe, denn ihm allein stehe das Recht der Prüfung, Anstellung, Beaufsichtigung und Abschaffung eines Talmudlehrers zu. Von der Regierung verlangte er deshalb zu Recht, dass sie „ihn vollständig bey allem schützen wolle, was er nach Maassgabe seines Rabbiner-Amtes verlangen könne“.88 Im Kern ging es bei dieser Auseinandersetzung zwischen Landrabbiner und Regierung um das Recht der Selbstständigkeit der jüdischen Gemeinde im vormodernen Staat. Eine aufgeklärte Beamtenelite wollte diese Selbstständigkeit zugunsten von Reformen einschränken und wurde darin von den Anhängern der jüdischen Aufklärung, den Maskilim, unterstützt. Christian Wilhelm Dohm hatte diese Autonomie in seiner Schrift keineswegs infrage gestellt. Ihm war hierin jedoch von den Maskilim (auch von Mendelssohn) heftig widersprochen worden, die zumindest das Bannrecht für Rabbiner und damit die Möglichkeit, Mitglieder aus der Gemeinde auszuschließen, beseitigt wissen wollten. Nun war dem Breslauer Landrabbiner bereits 1744 durch die Judenordnung dieses Recht und die Gerichtsbarkeit genommen, die Autonomie also schon damals erheblich eingeschränkt worden, sodass sich dessen Kompetenz fast nur noch auf die Überwachung des jüdischen Kultus und der Talmudlehre erstreckte. Daran zumindest wollte Joseph Jonas Fränckel festhalten. Da er jedoch bei allem Traditionalismus ein konzilianter Mensch war, willigte er schließlich in die Anstellung eines Talmudlehrers ein.89 Dass der Talmudunterricht an der neu gegründeten Schule nicht gerade erfolgreich war, ist kaum Fränckel anzulasten, der bald nach dieser Auseinandersetzung am 20. Oktober 1793 starb. Die Berufung eines Nachfolgers löste in der Gemeinde heftige Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Reformern aus, die von der Aufklärung herkamen. Diese Auseinandersetzungen sollten die Geschichte der Breslauer Gemeinde auch in den folgenden Dezennien bestimmen. Da das Stimmrecht sich an den Gemeindesteuern orientierte, war der Einfluss der Maskilim, die weitgehend aus der Gruppe der reichen General- und Privilegierten stammten, recht groß. Gewählt wurde als Landrabbiner Jesaia Löb Berliner, der der Reformrichtung aufgeschlossen gegenüber stand, aber dennoch ein anerkannter Talmudlehrer war.90 Um aber den Einfluss der Traditionalisten zu sichern, wurden die beiden Unterrabbiner aufgewertet und aus dem Etat des Landrabbiners finanziert. Diese Regelung lag durchaus im Sinn der Breslauer Kammer, die zwar von den „abgeschmackten talmudischen Lehrsätzen“ nicht viel hielt,91 da diese angeblich die Aufklärung behinderten, die aber die traditionsbewussten Juden nicht allzu sehr vor den Kopf stoßen wollte. Zu einer ernsthaften Krise in der Gemeinde kam es 87 88 89 90 91

Zit. nach Brann: Geschichte, 260. Zit. nach ebd., 261. Ebd. Ebd., 263. Ebd., 266.

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erst unter Löb Berliners Nachfolger, dem Landrabbiner Levi Saul Fränckel, einem Enkel des ehemaligen Landrabbiners Joseph Jonas Fränckel. Er ging über die Reformvorstellungen der Maskilim weit hinaus und plädierte für eine Universalkirchenreform, das bedeutete eine Vereinigung aller Religionen.92 Damit nahm er einen aufsehenerregenden Vorschlag David Friedländers auf, einem der Meinungsführer der Berliner Haskala, den dieser 1799 dem protestantischen Propst Wilhelm Abraham Teller im Namen von „einigen Hausvätern jüdischer Religion“ unterbreitet hatte.93 Er hatte vorgeschlagen, getauften Juden innerhalb der christlichen Kirche quasi den Status einer jüdischen Sekte einzuräumen. Für Levi Saul Fränckel lag das Verbindende beider Religionen in der gemeinsamen Eschatologie. Im Geheimen hoffte er wohl, dass der Sanhedrin, den Napoleon nach Paris einberufen hatte, die Voraussetzungen für eine Vereinigung von Judentum und Christentum schaffen werde. 1807 ging Levi Saul Fränckel nach Paris, wo er zum Katholizismus konvertierte, wie 1809 in den „Schlesischen Provinzialblättern“ zu lesen war.94 Für die Reformgruppe der Breslauer Gemeinde bedeutete dies insofern einen Rückschlag, als Levi Saul Fränckels Nachfolger Abraham Tiktin eine streng orthodoxe Richtung vertrat, was in der Folgezeit zu dem bekannten Geiger-Tiktin-Streit in der Gemeinde führte.95 Während in Berlin die Aufklärungselite schon in den 1770er Jahren mit jüdischen Persönlichkeiten in Kontakt trat, war dies für die jüdischen Aufklärer in Breslau nicht so einfach gegeben, weil sich das Bürgertum – auch das aufgeklärte – einem solchen Kontakt widersetzte. Soweit ein Kontakt zustande kam wie zwischen Ephraim Kuh, dem ersten neuzeitlichen jüdischen Dichter, der in deutscher Sprache schrieb, und seinen Breslauer Freunden, verbanden diese (wie Lavater im Hinblick auf Moses Mendelssohn) damit die Erwartung der Konversion.96 Offener war in dieser Beziehung der Popularphilosoph Christian Garve, der zu Kuh wie auch zu dem jüdischen Philosophen Salomon Maimon Kontakt pflegte, als dieser von den Berliner Maskilim zum Medizinstudium nach Breslau geschickt worden war. Aus Maimons Lebenserinnerungen lassen sich in etwa die Szene der Breslauer Aufklärer und die Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Aufklärern rekonstruieren. Auf jüdischer Seite waren es der Bankier Lippmann Meier, der Kaufmann Heimann Lissa, Aaron Zadeck, ferner Joel Brill Löw(e), Philipp Levin Siphari und Menachem Mendel Broese. Sie unterstützten die Heraus92 Ebd., 272. 93 Katz, Jacob: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870. Frankfurt a. M. 1986, 13; Lohmann, Uta: David Friedländer. Reformpolitik im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. Kontexte des preußischen Judenedikts vom 11. März 1812. Hannover 2013, 19. 94 Brann: Geschichte, 273f.; zu dessen weiterem Lebensweg vgl. ebd., 275f. 95 Meyer, Michael A.: Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum. Wien 2000, 164–170. 96 Katz: Ghetto, 66; zu Ephraim Kuhs literarischem Werk vgl. Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 271– 275; Horch, Hans-Otto: Ephraim Moses Kuh (1731–1790). In: Herzig, Arno (Hg.): Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004, 148–154.

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gabe der jüdischen Aufklärungszeitschrift „Hameassef “, die in hebräischer Sprache erschien.97 Ferner zählte zu den Breslauer Maskilim der Philosoph Salomon Pappenheimer, der aus Zülz stammte.98 Auf christlicher Seite waren es außer Garve der Mediziner Morgenbesser und der Rektor Lieberkühn, ferner Johann Gottlieb Schummel und Friedrich Albert Zimmermann.99 Garve und Schummel verkehrten auch mit Esther Gad, die etwa 1767 in Breslau geboren wurde und dort bis 1799 lebte. In der Haller Aufklärungszeitschrift „Der Kosmopolit“ und dem „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks“ setzte sie sich für die Emanzipation der Frau und das aufklärerische Bildungsstreben ein.100 Doch bleiben für Breslau die christlich-jüdischen Kontakte in der neuen bürgerlichen Aufklärungselite eher schemenhaft. Deutlicher treten die Bemühungen und Auffassungen aufgeklärter Beamter wie Karl Georg von Hoym, Johann Gottlieb Schummel und vor allem Friedrich Albert Zimmermann zutage, die schließlich zur Errichtung der jüdischen Friedrich-Wilhelms-Schule in Breslau führten.101 Zimmermann hatte nach dem Vorbild von Christian Wilhelm Dohm 1791 eine „Geschichte und Verfassung der Juden im Herzogthum Schlesien“

97 Batscha, Zwi (Hg.): Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und hg. v. Karl Philipp Moritz. Frankfurt a. M. 1995, 196; Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 271; Heppner nennt folgende Persönlichkeiten der Breslauer Aufklärungsszene: Menachem Broese, Lewin Benjamin Dohm, Elias Henschel, Heinrich Philipp Heymann, Tobias Hiller, Simon Hirsch, Josel Pick Rochnowe, Ephraim Kuh, Victor Aaron Lobethal, Joel Brill Löwe, David Veit und dessen Vater. Heppner, Aron: Jüdische Persönlichkeiten in und aus Breslau. Breslau 1931, 20f. 98 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ruiz, Alain: Der politisch-ideologische Werdegang des aufgeklärten „Gelehrten jüdischer Nation“, Chaim Salomon Pappenheimer. In: Grab, Walter (Hg.): Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Tel Aviv 1980, 183–222, hier 188–195. Im jüdischen Aufklärungsdiskurs in Breslau gab es jedoch auch große Divergenzen. So trat Pappenheimers Vater, der als „liberal“ geltende Rabbiner Salomon Seligman Pappenheimer, im Gegensatz zu den anderen Maskilim für die Beibehaltung des frühen Beerdigungstermins ein, was ihm heftige Vorwürfe vonseiten der Kriegs- und Domänenkammer einbrachte. Freudenthal: Die ersten Emanzipationsbestrebungen, 565f.; zu dieser Auseinandersetzung bezogen auch die „Schlesischen Provinzialblätter“ Stellung: „Darstellung der Vorgänge und Resultate, wegen der aufs neue in Anregung gebrachten frühen Beerdigung der Juden bey der jüdischen Gemeinde zu Breslau; vom Monath November 1797 bis Ende May 1798“, Bd. 28 (1798) 21–53. 99 Batscha (Hg.): Salomon Maimons Lebensgeschichte, 196–200. 100 Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 273f.; Hahn, Barbara: Domeier, Lucy (geb. Esther Gad). In: Diek, Jutta/Sassenberg, Marina (Hg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek 1993, 96f.; Esther Gads Vater, Raphael Gad, war am 20. November 1790 von König Friedrich Wilhelm II. das „General Schutz- und Handlungsprivileg mit den Rechten christlicher Kaufleute für sich und seine Nachkommen“ verliehen worden. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Archiwum Giełdy Kupieckiej, 414, 223. 101 Johann Gottlieb Schummel (1748–1813), Prorektor des Elisabeth-Gymnasiums, war zu seiner Zeit ein nicht unbedeutender Autor. Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 305–310; Friedrich Albert Zimmermann (1745–1815), Herausgeber der „Schlesischen Provinzialblätter“, hatte es als ­Schreiber durch Selbststudium zu dieser Position gebracht. Vgl. Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995, 70–75.

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publiziert,102 in der er wie dieser die Randexistenz der Juden durch die christliche Gesellschaft verschuldet sah. Ihre baldige Integration wurde nach seiner Meinung jedoch nicht nur aufgrund des Widerstands der christlichen Gesellschaft verhindert, sondern auch aufgrund der „religiösen Gebräuche“ der Juden und ihrer Verfassung. Im Gegensatz zu Dohm plädierte Zimmermann deshalb keineswegs für eine jüdische innergemeindliche Autonomie mit starken Amtsbefugnissen der Rabbiner, sondern wollte in den jüdischen Gemeinden den „Mosaiten“ – das meint die Reformer – mehr Macht einräumen, „weil sie nicht so strenge an den jüdischen Gebräuchen hängen“.103 In die Gesellschaft konnten nach seiner Auffassung die Juden erst integriert werden, wenn sie einer „vernünftigen Religion“ anhingen.104 Wenn hierin auch die Reformer in der jüdischen Gemeinde Zimmermann beistimmten – die traditionsbewussten Juden gewann er damit nicht. Der preußische Staat, der die Kirchenhoheit über alle christlichen Konfessionen in seinen Territorien behauptete, nahm dieses Recht auch gegenüber der Synagoge für sich in Anspruch. Damit verschärfte er jedoch die Konflikte in den jüdischen Gemeinden. Die schlesische Judenordnung vom 21. Mai 1790, die nach dem Tod Friedrichs II. die Restriktionen gegenüber den Juden einschränken sollte, brachte eher Verschlechterungen als Verbesserungen.105 Intention und Praxis klafften weit auseinander, wie von Rönne und Simon in ihrer Kritik an dieser Ordnung betonen.106 Letztlich waren es auch hier nur fiskalische Gründe, die die Neuordnung bestimmten. Es blieb bei einer DreiKlassen-Einteilung: nämlich in die der Generalprivilegierten, die ihr Wohn- und Handelsrecht auf ihre männlichen wie weiblichen Nachkommen vererben konnten und den christlichen Kaufleuten nahezu gleichgestellt waren. Als zweite Klasse galten die auf 160 reduzierten sogenannten Stamm-Nummeranten, die fast ausschließlich auf den Handel mit Fabriken- und Galanterieprodukten sowie auf den Geldhandel beschränkt blieben, wofür sie der christlichen Kaufmannschaft jährlich fünfhundert Reichstaler zu zahlen

102 �������������������������������������������������������������������������������������� Zimmermann, Friedrich Albert: Geschichte und Verfassung der Juden im Herzogthum Schlesien. Breslau 1791. 103 Ebd., 48. 104 Herzig, Arno: Die Anfänge der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung in der Spätaufklärung. Zur Historiographie Anton Balthasar Königs und Friedrich Albert Zimmermanns. In: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte (1991) 59–75; in ähnlichem Sinn reflektierte die Geschichte der schlesischen Juden der Saganer Superintendent Johann Gottlieb Worbs. Auch er sah in der historischen Aufarbeitung eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der Situation der Juden. Er ging davon aus, dass sie aus ihrem „Elend“ gerettet würden, „je mehr sie selbst freier vom Aberglauben werden und an Geistes- und Herzensbildung und Veredelung wachsen“. Worbs, Johann Gottlieb: Geschichte der Juden in Schlesien. In: Schlesische Provinzialblätter 40 (1804) 209–228, 405–428, 539–555, hier 210; Dohm, Conrad Wilhelm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin/Stettin 1781, 143f. 105 Die Judenordnung vom 21. Mai 1790. In: Zimmermann: Geschichte, 41–58. 106 Rönne, Ludwig von/Simon, Heinrich: Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußischen Staates. Breslau 1843, 226.

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hatten. Sein Recht durfte der Stamm-Nummerant nur auf ein Kind vererben, dessen Name bei der Regierung eingetragen werden musste. Blieb ein Stamm-Nummerant ohne Kinder, so konnte die jüdische Gemeinde dieses Recht an einen Anwärter übertragen lassen. 1811 gab es bereits zwanzig solcher Anwartschaften. Die dritte Klasse bildeten die Breslauer Schutzgenossen, die ein lebenslängliches Wohnrecht hatten, das jedoch nicht vererbbar war, was sie von den Stamm-Nummeranten unterschied. Deshalb bewarben sich Schutzverwandte um frei werdende Stamm-Nummeranten-Plätze. Erhielten sie einen solchen Platz nicht, mussten ihre Kinder mit 16 Jahren die Stadt verlassen, was eine große Härte darstellte, da andere Städte und Staaten sich weitgehend gegen eine Neuaufnahme von Juden sperrten.107 Wie die Stamm-Nummeranten durften auch die Schutzverwandten Handel mit Fabriken- und Galanteriewaren treiben. Geblieben waren nach der Neuordnung auch die hohen Abgaben, die von Juden an den Staat oder an die Stadt zu entrichten waren, nämlich die jährlichen „Toleranz-Gefälle“, die jährlichen „Silberlieferungs-Zuschuß-Gelder“ sowie die sehr hohen Stempel- und ­Kanzleigebühren, die für Konzessionen, Konfirmationen, Bestätigungen und Ähnliches ziemlich häufig zu entrichten waren.108 Die Toleranz- beziehungsweise Schutzgelder wurden jährlich vom städtischen Judenamt unter Hinzuziehung der Gemeindeältesten festgesetzt. Für das Etatjahr 1790/91 musste die Breslauer Gemeinde 6.930 Reichstaler aufbringen, wovon unter anderem die Verwaltung der jüdischen Gemeinde mit 2.898 Reichstalern finanziert wurde. Geblieben waren trotz Neuordnung die Silberlieferungszuschussgelder, die nun nicht mehr an die Breslauer Münze, sondern an die Domänenkasse zu zahlen waren. Für die Breslauer Gemeinde betrug der Anteil 1.624 Taler. Für ihre sozialen Einrichtungen, die Kranken- und Armenverpflegungsanstalt musste die Gemeinde zusätzlich etwa 6.000 Reichstaler aufbringen, während die Kosten für die Friedrich-Wilhelm-Schule von den Zinsen des Stiftungskapitels, dem Schulgeld, aber auch einem Gemeindezuschuss getragen wurden.109 Die Verordnung von 1790 hatte keine Besserung, sondern eher eine Verschlechterung der Situation gebracht, wenn auch die freie Berufswahl ermöglicht wurde. Dem Staat waren nun noch mehr Möglichkeiten gegeben, in die inneren Belange der Gemeinde einzugreifen.110 Die Breslauer Gemeinde erwartete deshalb von dem von Hardenberg vorbereiteten Emanzipationsgesetz eine wesentliche Verbesserung ihrer Situation, nicht nur weil die Abgaben so hoch waren, sondern weil sie von ihnen „qua Juden“ verlangt

107 Die Rechtspraxis der Judenordnung vom 21. Mai 1790 wird eingehend dargestellt in dem ­Schreiben der Ältesten der Breslauer Judengemeinde vom 14. März 1811. In: Freund, Ismar: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812, Bd. 1–2. Berlin 1912, hier Bd. 2: Urkunden, 433–444; zur Genese der Judenordnung vgl. Brenker: Aufklärung, 243–256. 108 Freund: Emanzipation, Bd. 2, 435. 109 The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/11. 110 Freisel, Anke: Aufklärung und Judengesetzgebung in Schlesien zwischen 1740 und 1800. Staatsexamensarbeit am Historischen Seminar der Universität Hamburg 1995, 61–65.

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wurden, sie also aus der Gesamtgesellschaft ausgegrenzt blieben. Das aber empfanden sie „als herabwürdigend“.111 Wenn auch nicht die Emanzipation, so brachte das Hardenbergsche Gesetz vom 12. März 1812 aufgrund der weitgehenden Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung doch für die Breslauer Gemeinde eine große Entlastung. Eine numerische Begrenzung der jüdischen Einwohner Breslaus entfiel in Zukunft, und auch der wirtschaftlichen Entfaltung waren nun kaum mehr Grenzen gesetzt.112 Ein Rückblick auf die Entwicklung der jüdischen Gemeinde Breslaus im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Deutschland zeigt die Schwierigkeiten, wie sie für alle jüdischen Gemeinden im Alten Reich im 18. Jahrhundert typisch waren. Die immer wieder vonseiten der Obrigkeit versuchte Reduzierung der Zahl jüdischer Einwohner sowohl in habsburgischer als auch in preußischer Zeit verschärfte jedoch im Vergleich zu anderen Städten die Situation in Breslau zusätzlich. Ein Bleiberecht in der Stadt entgegen dem immer noch gültigen privilegium de non tolerandis judaeis war nur bedingt aufgrund der wirtschaftlichen Interessen der habsburgischen wie der preußischen Regierung garantiert. Dieses Bleiberecht musste mit hohen Abgaben und in habsburgischer Zeit mit dem Verzicht auf eine eigene Gemeinde bezahlt werden, obgleich in Breslau die Infrastruktur für eine Gemeinde mit Rabbiner, Gemeindebeamten und einer Chewra Kadischa seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert vorhanden war. Eine Gemeinde konnte sich nur in der unter geistlicher Herrschaft stehenden St. Matthias-Vorstadt bilden, über die der lutherische Rat kein Verfügungsrecht hatte. Der Osthandel schuf für die Breslauer privilegierten Juden eine günstige Wirtschaftssituation. Die polnischen jüdischen Messebesucher bildeten in den Häusern ihrer Agenten, den Schammessen, kleine heimliche Gemeinden mit Stubensynagogen, die im Lauf der Zeit auch außerhalb der Messezeiten fortbestanden. Trotz der günstigen Handelsbedingungen waren die Juden in Breslau sozial stark differenziert. Ihre wirtschaftliche Bedeutung bestimmte über ihr eigenes und ihrer Nachkommen Bleiberecht. Durch die Eroberung Schlesiens unter Friedrich II. änderte sich an dieser unsicheren Situation nichts Grundsätzliches bis auf die Tatsache, dass nun eine jüdische Gemeinde offiziell zugelassen war. Die Rechte des Rabbiners aber wurden stark eingeschränkt. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Berlin versuchte Friedrich II., in Breslau die Gemeindeautonomie von vornherein zugunsten der staatlichen Justiz- und Kirchenpolitik zu begrenzen. Im Hinblick auf eine Reduktion der jüdischen Einwohnerzahl setzte der preußische König die habsburgische Politik fort. Bis zum sogenannten Emanzipationsgesetz von 1812 war es nur für die privilegierten, nicht aber 111 Schreiben der Ältesten der Breslauer Judenschaft an Hardenberg vom 28. November 1811. In: Freund: Emanzipation, Bd. 2, 447–449, hier 448. 112 Brann, Marcus: Die Juden in Schlesien. In: Kampers, Franz (Hg.): Schlesische Landeskunde. Leipzig 1913, 133–139; Edikt vom 1. März 1812 in: Freund: Emanzipation, Bd. 2, 455–459; Schwerin, Kurt: Die jüdische Bevölkerung in Schlesien nach der Emanzipation. In: Rhode, Gotthold (Hg.): Juden in Ostmitteleuropa von der Emanzipation bis zum ersten Weltkrieg. Marburg 1989, 85–98.

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für die tolerierten Juden in Breslau möglich, ihre Kinder „anzusetzen“, das heißt ihnen ein Bleiberecht zu verschaffen. Während in der Habsburger Zeit die staatlichen Behörden fast nur an den Abgaben der Breslauer Juden interessiert waren, die Verwaltung aber weitgehend den städtischen Behörden überließen, kam es in preußischer Zeit zu einem ständigen Kompetenzgerangel zwischen der staatlichen Kammer und dem städtischen Magistrat. Die den Magistrat bestimmende christliche Kaufmannschaft versuchte, immer wieder Beschränkungen herbeizuführen, die aber spätestens seit der Amtszeit des den Juden nicht unfreundlich gesonnenen Provinzialministers von Hoym und seiner der Aufklärung nahestehenden Beamten von staatlicher Seite nicht mehr einhellig befürwortet wurden. Doch auch die unter Hoym erlassene Judenordnung von 1790 brachte für die jüdischen Einwohner keine Entlastung, da sowohl die hohen Abgaben als auch das ungesicherte Bleiberecht bestehen blieben. Von Berlin her wirkte schon früh die jüdische Aufklärung nach Breslau und führte hier zu akkulturativen Bestrebungen einer sozial engagierten jüdischen Ober- und Mittelschicht. Sie verursachte aber auch in der Gemeinde schon früh Auseinandersetzungen zwischen den traditionsbewussten Juden, die ihren geistlichen Rückhalt in den polnischen Gemeinden hatten, und der nach Berlin hin orientierten Reformgruppe. Diese Konstellation sollte auch im 19. Jahrhundert Leben und Struktur der Gemeinde weiter bestimmen.

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14. Schlesische Juden als Finanzagenten des Adels im 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert wurden Kapitalanleihen weitgehend nicht durch Banken, sondern durch private Geldverleiher getätigt. Soweit sich Banken etablierten, wurden diese mit weiteren Geschäften verbunden. So war das wohl bedeutendste Bankhaus Breslaus, das Handelshaus Eichborn, 1728 von Ludwig Eichborn als Speditions-, Kommissions- und Wechselgeschäft gegründet worden.1 Friedrich Albert Zimmermann, als Herausgeber der „Schlesischen Provinzialblätter“ und Kammerkalkulator der Breslauer Regierung ein guter Kenner der schlesischen Szene, beschreibt 1794 die Breslauer Banksituation wie folgt: „Die Geschäfte des Banquiers bestehen in Übermachung und Einziehung der Gelder, welche Schlesien, vorzüglich aus dem Auslande für die dahingesandte Waren zu fordern, oder für die von daher eingehende fremde Waren zu bezahlen hat; ferner in dem Wechsel-Spekulationshandel auf fremde Wechselplätze, wenn der Kurs dazu Vorteile verspricht, und die Formierung desjenigen Kredits, dessen sich die in gutem Rufe stehenden polnischen Handlungshäuser auf hiesige Kaufleute bedienen. Die Summen, welche Breslau mit dem schlesischen Gebürgs-Handels-Stande, mit Hamburg, Amsterdam, Wien, London, Paris und mit Warschau solchergestalt verkehrt, bringt jährlich mehrere Millionen Reichstaler.“2 Nicht erwähnt wird hier der lokale oder auch regionale Kapitalmarkt, auf den vor allem der schlesische Adel angewiesen war. Eine aufwendige Lebensführung, zu der man sich aus Repräsentationsgründen verpflichtet glaubte, aber auch der sogenannte Güterschacher, der seit den 1780er Jahren in Schwung kam, brachte die adligen Gutsbesitzer in Geldnöte, die sie auf dem privaten Markt befriedigen mussten. Nach Angabe der „Schlesischen Provinzialblätter“ war der Preis der Güter um diese Zeit um etwa ein Drittel gestiegen.3 Hatte ein Rittergutbesitzer nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) sein Gut für 24.000 Reichstaler erworben, so konnte er es nun für 30.000 Reichstaler verkaufen. Dies förderte den „Güterschacher“. Am Kapitalmarkt beteiligten sich traditionell auch die jüdischen Kaufleute Schlesiens. Da sie stark am Osthandel beteiligt waren, verbanden auch sie Handel und Geldgeschäfte. Glogau und Breslau bildeten dabei im 18. Jahrhundert die Zentren.4 Der Kreditrahmen einzelner jüdischer Geldleiher lag bei 6.000 Rt, der Zinssatz bei fünf 1 �������������������������������������������������������������������������������������������� Webersinn, Gerhard: Gustav Heinrich Ruffer. Breslauer Bankherr – Pionier des Eisenbahngedankens – Förderer schlesischer Wirtschaft. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 11 (1966) 154–196, hier 157. 2 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Zit. nach ebd., 158f. Zu Friedrich Albert Zimmermann vgl. Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995, 70–75. 3 Engelmann, Christian Friedrich: Ueber die steigenden Preise der Landgüter in Schlesien. In: Schlesische Provinzialblätter 3 (1786) 225–239, hier 225f. 4 Zur Geschichte der Juden in Glogau im 18. Jahrhundert Lucas, Franz D./Heitmann, Margret: Stadt des Glaubens. Geschichte und Kultur der Juden in Glogau. Hildesheim/Zürich/New York 1991, 83–105; Dudek, Beata: Juden als Stadtbürger in Schlesien. Glogau und Beuthen im Ver-

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Prozent. Häufig schlossen sich auch mehrere Kreditgeber zusammen.5 Zu den bedeutendsten Bankgeschäften jüdischer Kaufleute zählte im 18. Jahrhundert in Breslau das Bankhaus Kuh. Die Familie Kuh wohnte seit 1664 in Breslau, jedoch nicht in der vom Breslauer Magistrat kontrollierten Innenstadt, sondern auf dem Gebiet des geistlichen St. Matthias-Stifts, auf der linken Oderseite. In Breslau durften sich seit dem privilegium de non tolerandis judaeis des böhmischen Königs Ladislaus Postumus von 1454 keine Juden ansiedeln. Dies änderte sich im 18. Jahrhundert, als sich mit kaiserlicher Erlaubnis die für den Osthandel wichtigen jüdischen Händler im Stadtgebiet niederlassen konnten.6 Für die Zulassung zum Handel in der Stadt aber war der Magistrat zuständig. Von diesem hatte 1739 Daniel Kuh ein Privileg erhalten, das ihn auf sechs Jahre zum Juwelen- und Kleiderhandel in der Stadt berechtigte.7 Nach dem Tod Daniel Kuhs 1748 erhielten dessen Nachkommen, nun unter preußischer Herrschaft, 1776 von König Friedrich II. das Generalprivileg, das sie den christlichen Kaufleuten gleichstellte. Die Familie Kuh verfügte damals nach Angaben des ersten Präsidenten der Oberamtsregierung Breslau über nachweislich 350.000 Rt, die vermutlich aus dem Handel, aber wohl auch aus Geldgeschäften stammten.8 Wie riskant die Geldgeschäfte jüdischer Bankiers vor allem mit dem schlesischen Adel waren, zeigt ein Geschäft, das das Bankhaus Kuh 1764 mit dem Grafen Johann Joseph Leonhard von Goetzen eingegangen war. Die Grafen von Goetzen waren eine der vornehmsten Familien in der Grafschaft Glatz. Graf Franz Anton von Goetzen, der für 60.000 Gulden 1715 drei Rittergüter in Albendorf und damit das dortige Patronatsrecht erworben hatte, hatte 1715 bis 1720 die dortige imposante Wallfahrtskirche gestiftet.9 Sein demnach stattlicher Besitz war nach seinem Tod 1738 an seinen Sohn

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gleich 1808–1871. Hamburg 2009, 52–55. Zu Breslau vgl. den Beitrag „Die Juden Breslaus im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Ziębickie, Nr. 175, 172 f.; Nr. 88, 275f.; Nr. 93, 46. Stern, Selma: Der preußische Staat und die Juden, Tl. 1–4. Tübingen 1962–1975, hier Tl. 3: Die Zeit Friedrich des Großen, Abt. 2: Akten, Halbbd. 2, 1329. Ebd. Ebd., 1322, 1328. Zimmer, Emanuel: Albendorf, sein Ursprung und seine Geschichte bis zur Gegenwart. Breslau 1898, 136–140. Die von Goetzen waren ein brandenburgisches Adelsgeschlecht. Johann von Goetzen war kaiserlicher Feldmarschall-Leutnant; er wurde 1645 von den Schweden in der Schlacht von Jankau (Böhmen) erschossen. 1633 hatte ihn der Kaiser in den Reichsfreiherrenstand und im selben Jahr in den Reichsgrafenstand erhoben. Sein Sohn Johann Georg wurde 1653 von König Ferdinand IV. zum Landeshauptmann der Grafschaft Glatz und 1657 zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt. 1661 erhielt er gegen Zahlung von 15.000 Gulden von Kaiser Leopold die Lehensgüter Scharfeneck und Tuntschendorf. Weitere Güter erwarb er in Mittelsteine und Eckersdorf. Er starb 1679. Seine Güter erbte sein noch minderjähriger Sohn Johann Ernst. Auch dieser erstand weitere Güter, die er bei seinem Tod 1707 seinem damals ebenfalls minderjährigen Sohn Johann Franz Anton hinterließ. Dieser erwarb 1715 unter anderem für circa 61.000 Gulden das Gut Albendorf nebst Hirschzunge und Kaltenbrunn. Vgl. Kögler, Joseph: Die Chroniken der Graf-

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Johann Joseph Leonhard gegangen, der die Erbschaft 1746 antrat. 1742 hatte ihn der neue Landesherr von Schlesien und der Grafschaft Glatz, Friedrich II. von Preußen, zum „Wirklichen Kämmerer“ ernannt. Dahinter steckte vermutlich die Absicht, den zu Österreich tendierenden katholischen schlesischen und Grafschafter Adel für Preußen zu gewinnen. Johann Joseph war mit einer Reichsgräfin von Bredau verheiratet, doch die Ehe blieb kinderlos.10 Durch die beiden Schlesischen Kriege (1740–1742 und 1744–1745) hatten die Besitzungen des Grafen gelitten, zudem führte dieser einen verschwenderischen Lebenswandel, weswegen er 1754 unter Sequestration des Freiherrn Johann Franz von Tschischwitz gestellt wurde.11 Doch war er immerhin aufgrund seines Besitzes kreditwürdig, sodass ihm der königliche Militärbefehlshaber der Grafschaft Glatz, Heinrich de la Motte Fouqué, mit Billigung des Königs 6.000 Reichstaler geliehen, diese aber Anfang 1764 aufgekündigt hatte. Der Graf war zu diesem Zeitpunkt „Erbherr auf Eckersdorf, Garbersdorf, Ober Hannsdorf und Albendorf “.12 Dies schien vermutlich trotz der Sequestur den Gebrüdern Kuh Garantie genug, dem Grafen Johann Joseph Leonhard von Goetzen am 23. März 1764 einen Kredit von 4.000 Species Dukaten (= 12.000 Reichstaler) zu sechs Prozent Zinsen auf ein Jahr zu gewähren. Der Kredit, den der König beziehungsweise die Regierung in Breslau bestätigte, war zweckgebunden, und zwar „mit der ausdrücklichen Bedingung, daß er [der Graf, d. Vf.] dieses Capital zu keinem anderen als obgedachten Endzweck [d. i. „zur Verbesserung und Wiederherstellung der Investorien auf seinen durch den Krieg ruinierten Gütern“] anwenden und wie solches geschehen ist, bei unserem [des Königs, d. Vf.] Kriegs- und Justiz-Rat von Pfeil sofort ausweisen muss“.13 Der Graf garantierte den Vertrag „unter Verpfändung meiner gesamten insonders [...] in der Grafschaft Glatz gelegenen Gütern“.14 Die Breslauer Regierung bestätigte am 5. April 1764, dass die Schuld von 4.000 Species Ducaten auf die Güter Eckersdorf etc. eingetragen worden sei. Doch die erste Zinsrate, die zum 24. September 1764 fällig war, wurde vom Grafen nicht gezahlt, woraufhin sich die Gebrüder Kuh beim König beschwerten und den Kredit endgültig zum 24. März 1765 aufkündigten.15 Zu einem „Verhör deshalb“ am 10. Dezember 1764 erschien der Graf jedoch nicht.16 Über seine Mittelsmänner, den Glatzer Stadtdirektor Christian Josephi, den Breslauer Advokaten Christian Benjamin Uber sowie den Hofrat Jenke, erreichte der Graf oder sein Kurator von Tschischwitz durch Sentenz vom 18. Februar 1765, dass der österreichische Dukaten zu einem günstigeren Wechselkurs mit dem Reichstaler, preußisch Courant, berechnet wurde, was 10 11 12 13 14 15 16

schaft Glatz. Hg. v. Dieter Pohl, Bd. 1–5. Modautal/Köln 1992–2003, hier Bd. 5: Die Chronik der Dörfer, Pfarreien und Herrschaften des Altkreises Neurode, 141–145. Kögler: Chroniken, Bd. 5, 146. Zimmer: Albendorf, 169–175. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, Nr. 6062 (unpag.). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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die Schuldsumme auf etwa 11.635 Reichstaler reduzierte. Eine weitere Sentenz vom 22. November 1765 bezeichnete eine höhere Bewertung des Dukaten als „wucherliche Übersetzung“.17 Als Schuldsumme wurde die wirklich bezahlte Summe von 1.700 Gulden à zwei Reichstaler, zwanzig Silbergroschen und 8.160 Reichstaler, preußisch Courant, festgesetzt. Doch blieb der Graf auch für das Jahr 1765 seine Zinszahlung schuldig, sodass an ihn am 17. Februar 1766 ein Zahlungsmandat von 449 Dukaten erging, das aber nicht beachtet wurde; deshalb erfolgte nach erneutem Gesuch der Gebrüder Kuh am 18. April 1766 ein Dekret, in dem der Justizrat von Pfeil aufgefordert wurde, die seit zwei Jahren ausstehenden Zinsen von inzwischen 449 Dukaten plus Verwaltungskosten „exekutive beizutreiben“.18 Nun beglich der Kurator von Tschischwitz „nach und nach“ diese Summe.19 Doch auch in folgender Zeit erfolgten – wie den Beschwerden der Gebrüder Kuh an den König zu entnehmen ist – die Zinszahlungen unregelmäßig. Im Verlauf der Verhandlungen zeigte sich, dass der Graf von Goetzen auch bei anderen, nicht nur ­jüdischen Geldleihern verschuldet war. So hatte ihm der Wünschelburger Bürger und Pächter Joseph Anton Münnich vom 31. Juli 1747 bis zum 29. Juni 1762 insgesamt 5.500 Rt, preußisch Courant, zu fünf Prozent geliehen und dann noch einmal 1.500 Reichstaler zu sechs Prozent. Doch hatte er „complette 5 Jahr weder Capital zurück noch Zinsen erhalten“.20 Er forderte deshalb am 8. Juli 1767 das Kapital von 5.500 Reichstaler zurück sowie in den folgenden 14 Tagen die Zahlung von 1.500 Reichstaler. Bereits am 23. Juni 1768 hatten die Gebrüder Kuh in einem Brief an den König das Kapital zum Ende des für den Grafen bis zum 1. August 1768 eingerichteten Moratoriums aufgekündigt. Die Forderung belief sich auf 3.743 Dukaten nebst sechs Prozent Zinsen.21 Da der Graf nicht zahlen konnte und eine Versteigerung der Güter, auf die die Schuld eingetragen war, erst dann erfolgen sollte, wenn die Schuldsumme den Wert der Güter überstieg, kam es zunächst zu keiner Zahlung. Wie aus einem Promemoria des Kurators von ­Tschischwitz hervorgeht, wurde per Mandat vom 11. September 1768 dem Kriegs- und Justizrat von Pfeil aufgetragen, „daß insofern Graf und Kurator binnen 14 Tagen [dem] Kläger die eingeklagten Posten nicht bezahlen [...] [er] vermögl. Amtspfänder Ordnung exekutive verfahren und die Rückzahlung betreiben und solche an die Gebr. Kuh franco einsondern solle [...]“.22 Der Kurator aber sah sich bei „dem aller Orten bekannten Geldmangel“ nicht in der Lage zu zahlen23 und trat deshalb mit den Gebrüdern Kuh in Verhandlung. Dabei kam ein Vergleich heraus, der vorsah, dass die Gebrüder gegen eine Maklergebühr, ein sogenanntes Proxeneticum, von einem Prozent einen „anderen 17 18 19 20 21 22 23

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Kreditorem gegen pura cassa pro 2.000 Species Ducaten [...] annehmen und Executionem sistiren wollten“.24 Der „andere Creditor“ war ihr Schwager, der Breslauer jüdische Arzt Dr. Joachim Salomon Koreff, der 2.000 Species Ducaten von der Summe bei fünf Prozent Zinsen übernahm, sodass der Kredit der Gebrüder Kuh nur noch 1.743 Species Dukaten betrug.25 Am 24. Juli 1769 schlossen die Gebrüder mit dem Grafen von Goetzen beziehungsweise seinem Kurator von Tschischwitz ein Abkommen, das vorsah, dass mit Beginn am 24. März 1769 der Graf jedes halbe Jahr zweihundert Species Ducaten bezahlen sollte, bis die Summe von 1.743 Species Ducaten zurückgezahlt worden sei. Inwieweit das geschah, lassen die Akten offen. Doch hatte Dr. Koreff noch 1770 seine Summe von 2.000 Ducaten aufgekündigt, war aber damit nicht erfolgreich, sodass der König am 21. Januar 1771 befahl, dass das Quantum von 2.000 Ducaten entweder in bar oder in Pfandbriefen ausgezahlt werde. Das scheint geschehen zu sein, doch standen am 19. April 1771 die Zinsen für 1769 noch offen.26 Am 29. April 1771 starb Graf Johann Joseph von Goetzen im Alter von 41 Jahren „infolge seines unordentlichen Lebenswandels“,27 wie der Pfarrchronist über den Patronatsherrn berichtet. Noch kurz vor dessen Abgang hatte von Tschischwitz sein Amt als Kurator niedergelegt. Der Graf wurde in der Familiengruft in Eckersdorf beigesetzt. Da er kinderlos starb und der Letzte seines Geschlechts war, erbten seine drei Schwestern die Güter ihres Bruders bis auf das Schloss Scharfeneck, das als Lehen an die Krone fiel und mit dem König Friedrich II. nun mit Friedrich Wilhelm Graf von Goetzen eine protestantische Linie der Grafen von Goetzen belehnte. Die restlichen Güter fielen an die drei Schwestern. Da diese Güter durch die Schulden sehr belastet waren, erhielten die Gläubiger nur achtzig Prozent der von ihnen geliehenen Summen.28 Es muss offenbleiben, inwieweit die Gebrüder Kuh beziehungsweise Dr. Koreff mit noch ausstehenden Summen davon betroffen waren.29 Das Geldgeschäft der Gebrüder Kuh mit dem Grafen von Goetzen, das sich von 1764 bis 1771 (und vermutlich darüber hinaus) hinzog, kann als exemplarisch für die Finanzgeschäfte der schlesischen Juden mit dem dortigen Adel gelten. Es zeugt ­einmal von der ordnungsgemäßen Abwicklung dieser Geschäfte, wobei der König oder auch seine Breslauer Regierung die jüdischen Finanziers bei der Einhaltung der ­getroffenen Abmachungen unterstützte. Der wie im Fall des Grafen von Goetzen verlangte Zinssatz 24 25 26 27 28 29

Ebd. Ebd. Ebd. Zimmer: Albendorf, 189. Ebd. Salomon Koreff scheint durch kaufmännische Transaktionen mit der Familie Kuh mehr verdient zu haben als durch seine medizinische Praxis. Bei seinem Tod 1805 hinterließ er seiner Tochter und seinem Sohn, dem Arzt Dr. David Ferdinand Koreff, angeblich 150.000 Taler. Vgl. Groba, Kurt: David Ferdinand Koreff. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928, 210–230, hier 210, 213. Salomon Koreff war mit Güttel ( Judita) Kuh verehelicht. Vgl. Stern: Der preußische Staat, Tl. 3, Abt. 2, Halbbd. 2, 1330f.

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von fünf oder sechs Prozent war damals allgemein üblich und angesichts des Risikos für den Geldverleiher und der Gewinne, die der Adel bei seinem „Güterschacher“ erzielte, durchaus angemessen. Umstritten bleiben die sogenannten Proxenetica. Dem Bankgeschäft Gebrüder Kuh wurde um 1800 wegen zu hoher Proxenetica der Vorwurf gemacht, „den größten Theil des schlesischen Adels durch ihren Wucher ruinirt zu haben“,30 wovon sie aber die Gerichte freisprachen. Das bei dem Vertrag mit dem Grafen von Goetzen aufgeführte Proxeneticum von einem Prozent für den Kredit des Dr. Koreff von 2.000 Dukaten wurde von den Gebrüdern Kuh als „selten niedrig“ für eine so große Summe bezeichnet.31 In anderen Fällen waren die Proxenetica erheblich höher. Vorwürfe wegen Betrugs gab es vor allem dann, wenn nicht die volle im Vertrag genannte Summe von den Geldleihern ausgezahlt wurde und dies von den ­Kreditnehmern akzeptiert werden musste. Ohne „Dazwischenkünfte eines dientwilligen Maklers“32 war es nach Ansicht eines anonymen Artikelschreibers in den „Schlesischen Provinzialblättern“ von 1807 „nicht mehr möglich, Darlehen zu erhalten“.33 Die „notwendige Folge“ waren dann „unermessliche Proxenetica“.34 Auch das Handelshaus Gebrüder Kuh verfügte über ein weites Netz von Handelsagenten. Für den anonymen Verfasser war es klar, dass der Wucher aus den „Wolfsgruben Israels“ kam35 und dorthin wieder zurückgebannt werden sollte. Die eindeutig antisemitisch gefärbten Äußerungen des anonymen Verfassers zeichnen wohl kaum ein realistisches Bild. Die nichtjüdischen Geldverleiher verhielten sich kaum anders, wie die Prozesse zeigen. Nicht nur als Kreditgeber beziehungsweise -vermittler waren schlesische Handelsjuden in Finanzgeschäften für den Adel tätig, herangezogen wurden sie auch als Agenten, wenn es um verminderte Rückzahlungen von Krediten ging. Um 1800 engagierte für ein solches Geschäft der Reichsgraf Maximilian Friedrich von Plettenberg-Mietingen den Breslauer Handelsjuden Abraham Henschel sowie den Ratiborer Handelsjuden Elias Isaac Guttmann.36 Der Reichsgraf von Plettenberg-Mietingen hatte bei Kreditoren sowohl in Wien als auch im kurkölnischen Westfalen und in den preußischen Staaten eine immens hohe 30 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 46 B Nr. 155 dd (unpag.). 31 Ebd. 32 Anonymus: Ueber den Wucher, bezüglich auf die jetzigen Zeitumstände. In: Schlesische Provinzialblätter 45 (1807) 276–387, hier 281. 33 Ebd., 351. 34 Ebd., 361. 35 Ebd. 36 �������������������������������������������������������������������������������������������� Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Obere Registratur, K 347, Nr. 7 (unpag.). Graf Maximilian Friedrich von Plettenberg-Witten zu Mietingen (1771–1813) war der letzte männliche Spross dieses Plettenberger Familienzweiges. Als Entschädigung für die aufgrund der französischen Okkupation verlorenen Güter erhielt er 1803 die schwäbischen Orte Mietingen und Sulmingen, die zur Grafschaft Mietingen erhoben wurden. 1806 wurde diese Grafschaft jedoch mediatisiert und fiel an das Königreich Württemberg. Aus der Ehe mit Maria Anna von Gallenberg ging die Tochter Maria hervor, die 1833 den k.u.k. Kämmerer Nicolaus von Esterházy de Galantha heiratete.

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Schuldsumme angehäuft. Er plante deshalb, mit neuen Schulden seine alten Gläubiger zu befriedigen. Die neuen Summen erhielt er vermutlich von dem Berliner Hofagenten und Bankier Salomon Nathan junior. Für die Verhandlungen mit seinen Gläubigern setzte er verschiedene Agenten ein. Für die Wiener Vergleichsgeschäfte gewann er als Agenten Abraham Henschel und Elias Isaac Guttmann. Letzterer hatte sich bereits als Kreditgeber im Ratiborer Raum betätigt, so mit einem Darlehen von 12.000 Reichstalern für den Reichsgrafen Moritz von Lichnowsky.37 Seit Frühjahr 1800 waren Henschel und Guttmann für Plettenberg-Mietingen zunächst mit eigenen Pferden und Knechten in Geschäften unterwegs. Die Geschäfte führten sie von Breslau und Ratibor nach Kalisch und Berlin, dann nach Wien. Noch 1800 erfolgten mehrere Geschäftsreisen, nun mit der Post, nach Ratibor, Wien und Berlin, wo sie die Zusammenarbeit mit Salomon Nathan junior aufnahmen. In Berlin wie auch in Wien existierten Kommissionen zur Feststellung der gräflichen Schulden sowie zur Eruierung der Vergleichsmöglichkeiten.38 In Wien versuchten Henschel und Guttmann per Zeitungsannoncen, die Plettenbergschen Schuldner zu ermitteln. Die Verhandlungen dort und in Berlin machten mehrere Reisen erforderlich. Seit August 1803 verhandelte Henschel in Wien, nachdem er vom Grafen Plettenberg für diese Stadt am 22. September 1803 alle Vollmachten erhalten hatte, nämlich „sämtliche Schulden in Wien nach bestem Wissen und Erwägen zu vergleichen [und] in diesem Falle alles abzuschließen, was er für gut findet“.39 Er hatte das Recht, andere zu Hilfe zu ziehen, und sollte dafür schadlos gehalten werden. In Wien nahm Henschel Kontakt mit dem Notar Anton Wenzel Freiherr von Heinke auf, der als Wiener Schulden des Grafen die enorme Summe von 801.350 Gulden – das waren 534.000 Reichstaler – angab. Henschel gelang es mithilfe weiterer Juristen, die mit dem Hof eng verbunden waren, eine Vergleichssumme von 235.172 Gulden (= 156.781 Reichstaler) zu erreichen. Das bedeutete eine Reduktion von 337.219 Reichstalern und hatte zur Folge, dass die Gläubiger nur etwa dreißig Prozent ihrer Gläubigersumme erhielten.40 Henschel trat 1803 (am 13. Dezember) in Wien als „Machthaber des Herren Grafen Plettenberg und des Herren Salomon Nathan jr.“ auf. Letzterer sprach für die Berliner Vergleichskommission. Die Vergleichsgeschäfte betrieb Henschel in enger Verbindung mit dem Reichshofratagenten von Barsch. Der Vergleich kam bis zum 25. Dezember 1803 zustande. Die Schuldscheine sollten gegen Zahlung der reduzierten Summe bis zum 20. Februar 1804 zurückgegeben werden. Es sollte aber den Gläubigern freistehen, den Vergleich für null und nichtig zu erklären. Guttmann, der bisher die Geschäfte in Berlin geführt hatte, kam Anfang 1804 nach Wien, nachdem er am 3. Januar 1804 vom Reichsgrafen von Plettenberg „Macht und Gewalt [erhalten hatte,] 37 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Raciborskie, 27, Nr. 102, 137. Auch bei diesem Bankgeschäft arbeitete Elias Guttmann mit dem „Hofagenten und Banquier Salomon Nathan jr“ zusammen. Ebd., 43. 38 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Obere Registratur, K 347, Nr. 7. 39 Ebd. 40 Ebd. wie auch die folgenden weiteren Zitate und Angaben, soweit nicht anders vermerkt.

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in unserem Namen mit allen und jedem unser Wiener Creditoren, deren Forderungen uns vom 1. Nov. 1797 bis zum 30. November 1801 oder auch nachher entstanden sind, einen Vergleich zu unterhandeln und abzuschließen“ – vermutlich für die Wiener Vergleichsgeschäfte, weil Henschel – so der Graf – „die Vermutung erregt hat, als werde er vor der gänzlichen Beendigung dieses Geschäftes von Wien abreisen“. Deshalb fand es der Graf „für nötig und nützlich einen andersweitigen Special Bevollmächtigten aufzustellen“. Für die Wiener Gläubiger stellte er 100.000 Reichstaler in Aussicht. Von einer Abreise Henschels aus Wien konnte keine Rede sein. Als Guttmann am 15. Januar 1804 nach Wien kam, wohnte er mit Henschel zusammen im Gasthaus Schwarzer Adler in der Leopoldstadt.41 Der Notar von Heinke bestätigte offensichtlich auf das Gerücht hin, Henschel wolle vor Abschluss der Geschäfte aus Wien abreisen, am 24. Januar 1804, dass Abraham Henschel „nur durch angestrengte Bemühungen und unnachgelassene Sorgfalt“ den Betrag von 801.350 Gulden auf 235.172 Gulden heruntergehandelt habe und dass mit dieser Summe die Plettenbergschen „Wiener Schulden getilgt werden“. Henschel genieße zudem das Vertrauen der Wiener Gläubiger. Plettenberg bestätigte deshalb am 17. Februar 1804, dass Henschel zu seiner „größten Zufriedenheit diese ganze Sache besorgt habe“, und stellte zur Tilgung nun die Summe von 116.500 Reichstaler in Aussicht. Zur Regelung der Angelegenheit mit Plettenberg war Henschel im Februar 1804 nach Berlin gereist, wo er auch vor allem Geschenke für die Wiener Advokaten kaufte. Von dort kehrte er nach Wien zurück, um den am 20. Februar 1804 fälligen Vergleich zu prolongieren. Dass die Regelung des Vergleichs bis zu diesem Zeitpunkt nicht zustande kam, lag nicht an den jüdischen Unterhändlern in Wien, sondern an den Gläubigern, die Plettenberg außer in Wien auch in Westfalen und in Preußen (vermutlich in Ratibor) hatte. Zudem hatte der neue Landesherr der Plettenbergschen Stammgüter, der Kurfürst von Hessen-Kassel, für Plettenberg eine Zahlungsbewilligung übernommen. Um den erreichten Vergleich dennoch nicht platzen zu lassen, mussten sich die beiden Finanzagenten bis November 1805 in Wien aufhalten. Dabei wurden sie von Monat zu Monat vertröstet. Während dieser Zeit hatten sie manche Kränkungen zu erleiden, auch bekamen sie keine Entschädigung für die Geschäfte, die sie zu Hause in Ratibor oder auch Breslau hätten erledigen müssen. Aus einem Darlehen von 10.000 Reichstalern für den Reichsgrafen Lichnowsky hatte bei den Rückzahlungsmodalitäten Elias Guttmann ein Guthaben von 930 Reichstalern zu sechs Prozent für seine Frau Rosa abgezweigt, vermutlich um sie während seines Wiener Aufenthalts zu versorgen. Als Geschäftskurator agierte dabei ein Ratiborer Actuarius.42 Für diese Zeit von Februar 1804 bis November 1805, als „die Befriedigung“ der Wiener Kreditoren endlich „vollendet“, stellten Henschel und Guttmann dem Grafen ihre in dieser Angelegenheit entstandenen Ausgaben in Rechnung, behielten sich aber das Recht auf eine Vergütung für ihre Tätigkeit vor. Obgleich die beiden Handelsjuden aufgrund ihrer Bevollmächtigung durch den 41 Ebd. Als gläubige Juden aßen sie in einem koscheren Gasthaus, das dem jüdischen Tratteur (Wechselverkäufer) Emanuel Engel gehörte. 42 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Raciborskie, 27, Nr. 102, 139.

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Bankgebäude E. Heimann, Breslau, Ring 33-34 im Jahr 1919, „im hundertsten Jahr des Bestehens der Firma“. An die Stelle der jüdischen Finanzagenten des 18. Jahrhunderts traten im 19. Jahrhundert die Bankunternehmen jüdischer Bankiers.

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Grafen nicht zu einer detaillierten Aufstellung ihrer Ausgaben verpflichtet waren, ließen sie eine solche von ihrem Anwalt von Goetz erstellen.43 An Spesenkosten für Reisen, Logis, Verpflegung, Pässe und anderes in Wien und Berlin ergab sich für die beiden Agenten eine Summe von 10.275 Reichstalern, wobei nicht ganz ersichtlich ist, ob darin auch ihre „Vergütung“ enthalten war. Insgesamt hielt sich Abraham Henschel zwei Jahre und zwei Monate (August 1803 bis 31. Oktober 1805) in Wien auf, hatte allerdings seit 1800 mit Guttmann zusammen schon mehrere Reisen und Verhandlungen in Sachen des Grafen Plettenberg unternommen. Elias Guttmann befand sich ein Jahr und acht Monate in Wien, davor war er vermutlich von November 1800 bis Januar 1804, also über drei Jahre, für den Grafen in Berlin tätig. Zu den Spesenkosten kamen circa 9.000 Rt, die beide Agenten als Sporteln oder wohl auch als Bestechungsgelder in Wien zu zahlen hatten. Insgesamt ergab sich eine Summe von 27.830 Rt, die aber der Graf offensichtlich nicht zu zahlen bereit war. Henschel und Guttmann ließen deshalb durch den Wiener Juristen Philipp Maria von Goetz einen Prozess beim Wiener Reichshofrat anstrengen, dem stattgegeben wurde. Am 31. März 1806 wurde der Graf vom Gericht im Namen des Kaisers aufgefordert, „die Inpetranten klaglos zu stellen“.44 Das Geld sollte aus der Konkursmasse kommen beziehungsweise aus dem Geld, das aus Entschädigungsobjekten in Schwaben einging oder in Mietingen als bares Geld vorhanden war. Den Konkurs verwaltete als kaiserlicher Administrator Fürst Fugger von Babenhausen. Wie die Sache ausging, muss offenbleiben. Am 6. August 1806 erklärte der Kaiser Franz II. die kaiserliche Würde für erloschen und legte die Reichskrone nieder. Infolgedessen hörte die Existenz aller Reichsinstitutionen, darunter auch der Reichsgerichte und damit des Reichshofrats, auf. Es bleibt offen, ob Henschel und Guttmann vor anderen Gerichten ihren Prozess weiterführten. Zumindest verfügte Graf Maximilian Ferdinand von Plettenberg-Mietingen über Besitz, den nach seinem Tod 1813 seine Tochter erbte. Auch bei dieser lange Jahre dauernden Finanzaktion schlesischer Handelsjuden für den Adel werden die Risiken deutlich, die die Akteure eingingen. Mit der liberalen Gewerbepolitik in dem Emanzipationsgesetz Hardenbergs von 1812 änderte sich auch für die jüdischen Einwohner die Situation in Preußen. Die Juden wurden nun zu gleichberechtigten Wirtschaftsbürgern und waren nicht mehr auf Privilegien vom König angewiesen. 1819 eröffnete Elkan (Ernst) Heimann das erste Bankgeschäft in Breslau, das einem Juden gehörte, nachdem die Mitglieder der Familie Kuh zum Christentum konvertiert waren. Die Heimann-Bank zählte seit den 1840er Jahren zu den führenden Banken in Breslau und trug erheblich zur Verbesserung der Infrastruktur, vor allem durch den Eisenbahnbau, bei.45 43 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHR, Obere Registratur, K 347, Nr. 7. 44 Ebd. 45 Herzig, Arno: Schlesiens Juden im Übergang von der Privilegienwirtschaft zur Marktwirtschaft um 1800. In: ders./Brämer, Andreas/Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien [im Druck].

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15. Jüdische Infrastruktur zur Zeit Friedrichs II. von Preußen in Glogau/Niederschlesien Zu den wenigen Städten im Alten Reich, in denen eine jüdische Gemeinde geduldet wurde, zählte Glogau an der Oder in Niederschlesien. Die Gemeinde konnte – von einer kurzen Unterbrechung abgesehen – auf eine fast kontinuierliche Geschichte seit dem Mittelalter zurückblicken. Dies traf sonst nur für Frankfurt am Main, Prag und Worms zu.1 Doch wurde unter habsburgischer Herrschaft, die in Glogau von 1526 bis 1741 dauerte, ein ständiges Wohnrecht der Juden in dieser Stadt des Öfteren infrage gestellt. Sowohl die schlesischen Stände als auch der Glogauer Magistrat sprachen sich immer wieder gegen eine Duldung der Juden aus. Deshalb war auch in Schlesien wie im gesamten Reich in der Frühen Neuzeit die Existenz von Juden mehrmals gefährdet. Nach dem Capistran-Pogrom 1453 in Schlesien hatten die meisten schlesischen Städte das privilegium de non tolerandis judaeis erworben, das in der Frühen Neuzeit auch solche Städte in Anspruch nahmen, denen diese Privilegierung offiziell nicht verliehen worden war.2 Letztendlich gab es in der Frühen Neuzeit in Schlesien nur drei Orte, in denen Juden ansiedeln konnten: in Glogau, in dem kleinen oberschlesischen Städtchen Zülz sowie in Breslau, wo der Magistrat trotz des oben genannten Privilegs jüdische Händler dulden musste, da diese für den Osthandel der Habsburger von Bedeutung waren. Die ­jüdischen Händler kamen aus verschiedenen osteuropäischen Ländern und bildeten ­deshalb keine einheitliche jüdische Gemeinde; gleichwohl gab es einen Rabbiner.3 Das Herrschaftsgefüge im frühneuzeitlichen Schlesien war komplex. Nach der Mongolenschlacht und dem Tod des Piastenherzogs Heinrich II. 1242 war infolge der piastischen Erbfolge das Herzogtum Schlesien in zahlreiche Teilherzogtümer aufgegangen. Diese waren seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert als Lehen an die böhmische Krone gekommen. Starb eine Piastenfamilie aus, behielt der böhmische König deren Herzogtum als sogenanntes Erbfürstentum. Seit 1490 unterstand Glogau der böhmischen Krone.4 Juden lebten in Glogau seit 1280. Kaiser Rudolf II. verlieh 1593 den Familien von Israel Benedikt, Heinrich Sachs und Abraham Sachs für die Dauer von zwei Jahren 1 Lucas, Franz D./Heitmann, Margret: Stadt des Glaubens. Geschichte und Kultur der Juden in Glogau. Hildesheim 1991, 9–105; Deventer, Jörg: Die Juden in Glogau im frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsprozeß. In: Hettling, Manfred/Reinke, Andreas/Conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003, 30–45, hier 31; Dudek, Beata: Juden als Stadtbürger in Schlesien. Glogau und Beuthen im Vergleich 1808–1871. Hamburg 2009. 2 Herzig, Arno: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 2008, 49–52. 3 Ebd., 101. 4 Abmeier, Hans-Ludwig: Glogau. In: Weczerka, Hugo (Hg.): Handbuch der historischen Stätten. Schlesien. Stuttgart 1977, 127–134, hier 128.

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einen Schutzbrief, dessen Verlängerung aber immer wieder infrage gestellt wurde. Erst ein Vertrag mit Kaiser Leopold I. von 1668 beendete die Unsicherheit. Bis 1725 stieg die Zahl der Nachkommen der drei privilegierten Familien auf 1.564 Personen an. Deren Wohnraum in dem Judenviertel war zwar sehr eng, sie waren aber im Besitz von 36 Häusern.5 Eine wichtige Zäsur, auch für die Juden in Glogau, bildete das Jahr 1741. Nach der Eroberung und Annexion der Stadt6 wie Gesamt-Schlesiens durch Friedrich II. von Preußen wurde in Glogau eine der beiden schlesischen Kriegs- und Domänenkammern eingerichtet.7 Glogau wurde nach Breslau zur zweitwichtigsten Stadt Schlesiens. Wie die Breslauer Judenschaft unter dem Rabbiner Gompertz, so werden auch die Glogauer Juden diese staatliche Veränderung begrüßt haben, da im letzten habsburgischen Jahrzehnt die Pressionen gegenüber den Juden in Schlesien erheblich zugenommen hatten.8 Für den damals amtierenden obersten Beamten Schlesiens, den Oberamtsdirektor Johann Anton von Schaffgotsch, waren die Juden ein „dem gemeinen Wesen höchst schändliches Geschlecht“.9 1738 verfügte ein kaiserliches Dekret die Ausweisung aller nicht-privilegierten Juden aus Schlesien.10 Das betraf zwar die Glogauer Juden nicht, doch war bei dem neuen modus contribuendi, der Aufteilung der Judenabgaben also, der Anteil der Glogauer Juden von 1.350 Talern schlesisch auf 16.400 Taler heraufgesetzt worden. Zudem mussten die Glogauer Juden 3.000 Taler Vermögenssteuer an die Stadt Glogau entrichten.11 Da die Gemeinde die Summe nicht aufbringen konnte, wurde ihre Synagoge geschlossen und versiegelt. Unter preußischer Herrschaft änderte sich die Situation, doch galt es, die Privilegien aus der Habsburger Zeit weiterhin zu sichern. Die Glogauer Kriegs- und Domänenkammer forderte deshalb am 19. Januar 1742 genaue Auskunft über die Zahl und wirtschaftlichen Verhältnisse der dortigen jüdischen Einwohner.12 Der Bericht, der daraufhin am 2. März 1742 an die Kriegs- und Domänenkammer eingereicht wurde, zählt 112 Personen auf, die über Besitz verfügten, und 172 Personen, die keinen Besitz hatten. Sie alle waren Nachkommen der Familienverbände des Benedikt Israel und des Abraham und Heinrich Sachs. Insgesamt gehörten zu diesem Personenkreis 296 Familien, von denen 26 auswärts wohnten.13 Friedrich II. erneuerte am 25. Mai 1743 die überkommenen Privilegien, die den genannten Familien das Recht einräumten, sich im Land frei zu bewegen sowie mit 5 Deventer: Juden, 34, 41; Zimmermann: Friedrich Albert: Geschichte und Verfassung der Juden im Herzogthum Schlesien. Breslau 1791, 24–30. 6 Deventer: Juden, 41. 7 Lucas/Heitmann: Stadt, 75f. 8 Herzig: Schlesien, 112f. 9 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Wrocławskie, Rep 16, Sygn. 309, 29. 10 Lucas/Heitmann: Stadt, 73f. 11 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Głogowskie, Nr. 296. 12 Lucas/Heitmann: Stadt, 75f. 13 Ebd., 76.

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ihren Waren zu handeln. Im Hinblick auf den Zoll wurden sie den christlichen Kaufleuten gleichgestellt, was bedeutete, dass der diskriminierende Judenzoll entfiel. In Zivil- und Strafprozessen war – wie bisher schon – das Glogauer Oberamt zuständig.14 Ihren Friedhof durften die Juden weiterhin benutzen.15 Allerdings wurde ihnen der Kauf von weiteren Häusern untersagt, jedoch konnten die im Besitz jüdischer Familien befindlichen Häuser weiterhin an Juden veräußert oder auch vererbt werden. Die Schutzgeldzahlung wurde beibehalten, während die Stadtkasse leer ausging. Im Gegensatz zu Breslau, wo der König die Rechte des Landrabbiners stark einschränkte, erhielt der Glogauer Rabbiner Jacob Meier Lewin weitgehende Rechte im Hinblick auf die Selbstverwaltung. So war er zuständig für die Regulierung von Streitigkeiten, die sich auf Finanzsachen bezogen. Er konnte bei Nichtbefolgen der von ihm verhängten Strafen sogar den Bann aussprechen. Die Strafgelder gingen an die königliche Kasse, ein Teil aber auch an die Armenkasse der jüdischen Gemeinde. Allerdings scheiterte die juristische Kompetenz des Rabbiners nach 1770 daran, dass dieser zwar in jüdischen Gesetzen „grundgelehrt, geübt und erfahren“ war,16 ihm aber für die Anwendung der deutschen Gesetze die Sprachkompetenz fehlte, da er nur unvollkommen Deutsch sprach und zudem die lateinischen Ausdrücke in den Gesetzestexten nicht verstand. Damit verspielte das Glogauer Rabbinat die weitgehende Gerichtskompetenz, die ihm im Gegensatz zu allen anderen preußischen Rabbinaten zustand. Die Gemeinde vertrat deshalb gegenüber den staatlichen und städtischen Behörden der Ältestenrat, der sich anlässlich von Unglücksfällen beim König oder der Glogauer Kammer für die Belange der Gemeindemitglieder einsetzte.17 Die jüdische Gemeinde Glogau war durch die Privilegierung Friedrichs II. von 1743 unter den jüdischen Gemeinden Schlesiens am besten gestellt. Ihren Mitgliedern war im gesamten Land der Handel gestattet, was diese auch für den Osthandel in Breslau nutzten, wo sie unter Leitung eines Schammes eine kleine Gemeinde mit eigener Betstube gründeten.18 Schon 1737, also noch vor preußischer Zeit, lebten bereits 37 Glogauer Familien in Breslau, 1766 waren es schon 99. Der Breslauer Magistrat versuchte, die Handelsrechte der Glogauer Juden einzuschränken, und hatte damit insofern Erfolg, als die Glogauer Handelsjuden, die nicht in Breslau wohnten, nur drei Tage vor und sechs Tage nach der Messe in Breslau Handel treiben durften.19

14 Ebd., 76f. 15 Ein Stadtplan aus dem 19. Jahrhundert weist den „Alten Jüdischen Begräbnisplatz“ vor der Stadt an der Oder in der Nähe des späteren Bahnhofs aus. 16 Stern, Selma: Der preußische Staat und die Juden, Tl. 1–4. Tübingen 1962–1975, hier Tl. 3: Die Zeit Friedrich des Großen, Abt. 1, 116. 17 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 46 B, Nr 203a, Glogau, den 26. April 1752. 18 The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9. Die Glogauer Synagoge in Breslau befand sich auf der Graupengasse. 19 Lucas/Heitmann: Stadt, 80–82.

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Welche Bedeutung die jüdischen Kaufleute um die Mitte des 18. Jahrhunderts für den Geldhandel in Glogau hatten, wird aus (wenigen) überlieferten Konkursfällen ­deutlich. Der Staat übernahm in diesen Fällen die Verwaltung der Konkursmasse, wobei die Beamten und Advokaten durch die an sie zu entrichtenden Sporteln gut verdienten.20 Die Forderungen der Gläubiger lagen in den meisten Fällen bei zweihundert bis siebenhundert Talern, wobei diese oft gemeinsam agierten, wie beispielsweise im Fall des Konkurses von Joseph Lippmann 1744, bei dem sich 25 jüdische Gläubiger mit einer Gesamtforderung von 273 Talern zusammengeschlossen hatten. Vermutlich handelte es sich dabei um Beteiligungen an den Geschäften des in Konkurs gegangenen Joseph Lippmann.21 Dass dies allgemein Usus war, beweist der Konkurs eines der wohl bedeutendsten Finanziers Glogaus, nämlich die Insolvenz von Moses Samuel Goldschmidt.22 Dieser hatte durch mehrere Konkurse seiner Gläubiger große Verluste erlitten. Zudem war er bei der Belagerung Glogaus im Ersten Schlesischen Krieg ausgeplündert worden; außerdem standen noch „mehrere tausend Taler“ von Gläubigern aus. An seinen Geschäften war auch sein Schwiegersohn Israel, Sohn des Hannoveraner Landrabbiners Isaac Selig Caro (Amtszeit 1737–1755), beteiligt.23 Israel hatte in das Geschäft seines Schwiegervaters 1.436 Taler investiert mit dem Auftrag, „zu seinem Besten und Vorteil zu exploiren in Handlungen oder auf Interessen zu leihen“.24 Daran knüpfte sich die Erwartung, „alles was bemeldte Gelder zu Gewinn bringen werden, es sei durch Handlungen oder durch Ausleihen ist für bemeldten unsern Eidam allein, wie dann auch wenn ein Verlust an seinen Geldern entsteht/ welches Gott verhüten wolle/ so muss unser Eidam solchen Verlust allein tragen, wie bei Verwaltern rechtlich ist“.25 Der Kaufmann Moses Samuel Goldschmidt gewann sein Geld ebenso durch Handel wie auch durch Geldverleih, der zu dieser Zeit sechs Prozent Zinsen brachte. Seine Teilhaber waren sowohl am Gewinn als eben auch an den Verlusten beteiligt. Gekündigt werden konnte die Einlage mit vierteljährlicher Kündigungsfrist. Die besagte Summe durfte von Goldschmidt nicht vererbt werden, er haftete definitiv mit seinem Vermögen und seinen Gütern. Der Vertrag von „Moses von Glogau“ und seiner Ehefrau Marel in Glogau war in hebräischer Sprache aufgesetzt und in Hannover, wo Israel Se-

20 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Głogowskie, Nr. 289, 190. 21 Ebd., 56–60. 22 Moses Samuel Goldschmidt gehörte seit 1737 bis (nachweislich) 1745 zu den Judenältesten von Glogau. Ebd., 107; Lucas/Heitmann: Stadt, 197. 23 ����������������������������������������������������������������������������������������� Gelderblom, Bernhard: Hannover. In: Obenaus, Herbert (Hg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 1–2. Göttingen 2005, hier Bd. 1, 726– 820, hier 734; Isaac Selig Caro zählte zu den „Männern von Weltruf “, die aus dem oberschlesischen Städtchen Zülz stammten. Daher kamen vermutlich auch die Beziehungen der Familie nach Glogau. Rabin, Israel: Die Juden in Zülz. In: Chrzaszcz, Johannes: Geschichte der Stadt Zülz in Oberschlesien. Neustadt/OS 1926, 117–160, hier 148. 24 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Głogowskie, Nr. 289, 88–90. 25 Ebd.

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lig Caro lebte, von dem Hannoveraner „Mathematicus Herr[n] Raphael Levi“ am 27. März 1750 ins Deutsche übertragen worden.26 Als der Konkurs 1752 eintrat, zog das Königliche Oberamt die verfügbaren Gelder und Güter an sich und errichtete ein Depositum, um daraus die Gläubiger zu bezahlen. Zur Verhinderung des Konkurses hatten sich nicht nur die Ältesten der Glogauer Gemeinde an die Regierung gewandt und den erbetenen Aufschub damit begründet, „dass Goldschmidt sich Zeit seines Lebens ehr- und redlich ernähret“.27 Mit den ausstehenden Geldern könne er seine Gläubiger „nach und nach bezahlen“, weshalb mit seiner „Abschaffung“ – das meint den Verlust seines Schutzbriefes – nicht gedient sei. Auch mehrere Gläubiger, nicht nur solche wie Israel Selig Caro, sondern auch Christen, wandten sich in dieser Angelegenheit an die Regierung mit der Bitte um weitere Gewährung des Schutzes (Schutzbriefs) für Moses Samuel Goldschmidt, woran sie als Gläubiger interessiert seien, denn „falls der gedachte Goldschmidt emigriren müsste, wir die Hoffnung [...] bezahlt zu werden, gänzlich verlieren“.28 Selbst die Glogauische Oberamtsregierung trat am 29. August 1751 beim König für Goldschmidt ein, um ihn im Fall des Bankrotts vor dem Verlust des Schutzbriefs zu retten. Auch die Regierung stellte Goldschmidt ein gutes Leumundszeugnis aus: „Nun können wir zwar nicht behaupten, dass der Suplicant für einen solchen Bankrottirer zu halten, welche wie im Codex Fridericanus beschrieben wird, üppig gelebet und mehr als er erwerben könne, verzehret, große Häuser gebauet [...] vielmehr ist notorisch, dass er seit vielen Jahren seiner Handlung mit allem Fleiß nachgegangen, seine onera, Zoll und Accise richtig abgeführet, ingleichen ist uns bekannt und ergeben die Acta, dass er bei verschiedenen vorgewiesenen concursibus [...] gewaltig eingebüßet“.29 Die Glogauer Oberamtsregierung bestätigte damit die Eingabe des Moses Samuel Goldschmidt vom 5. Juli 1751. Dieser wiederholte am 8. Dezember 1751 seine Bitte um Beibehaltung seines Schutzstatus.30 Doch waren der Konkurs und damit der Verlust des Schutzstatus von Goldschmidt nicht aufzuhalten. Der König erlaubte 1753 nach und nach die Auszahlungen der reduzierten Forderungen von Gläubigern, wobei nicht ersichtlich ist, in welchem Verhältnis bei den fünf vorliegenden Auszahlungen aus dem Depositum Forderung und Erlös stehen. Nachweislich wurden 2.212 Taler zurückgezahlt, von denen eine gewisse Helena Regina Poevelin am 28. Januar 1754 mit 1.287 Talern die höchste Summe erhielt. Israel Selig Caro bekam am 2. November 1753 für die Einlage von 1.436 Talern nur 232 Taler; der Schutzjude Salomon Juda aus Glogau bei einer Forderung von 500 Talern 271 Taler. Das Verfahren zog sich hin; noch 1757 waren nicht alle Gelder aus der Depositionskasse ausgezahlt, wie der Advokat Henning als mandatarius communis mit-

26 27 28 29 30

Ebd., 90. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 46 B, Nr. 203. Ebd. Ebd. Ebd.

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teilte. Er vertrat Abraham Fischel, der ebenfalls ein Schwiegersohn und vermutlich auch Teilhaber von Goldschmidt war.31 Im Geschäftsleben waren Juden und Christen auf Gedeih und Verderb verbunden, und im Alltag war man in der Festungsstadt Glogau, wo man sich auf engem Raum kaum ausbreiten konnte, bei allen Vorbehalten auf friedliches Zusammenleben angewiesen.32 Dabei musste die jüdische Gemeinde immer wieder befürchten, dass ihr schmales Terrain in der Nähe von Schloss und Dominikanerkloster noch verringert würde, so beispielsweise 1763, als nach dem Stadtbrand von 1758 der König einen Teil des Schlossgartens für den Bau einer evangelischen Kirche abtreten wollte, wovon vermutlich auch einige Grundstücke jüdischer Besitzer betroffen gewesen wären. In einer Eingabe an den König vom 3. Mai 1763 befürchtete die jüdische Gemeinde nicht nur „den Verlust unser Grundstücke“, sondern auch „viele Inconvenientzen wegen Unterschied der Religion, da nun auf engem Raum eine evangelische Kirche, die Synagoge sowie das Dominikanerkloster“ lägen.33 Das Zusammenleben mit den christlichen Nachbarn verlief weitgehend friedlich. Den Ältesten war daran gelegen, vor allem mit dem Dominikanerkloster einvernehmlich auszukommen und entstehende Konflikte sofort zu beseitigen. Ein Vorfall, der sich am 20. April 1748 auf der Judengasse ereignete, macht dies deutlich. Er zeigt, dass die Judenältesten – der Rabbiner wird dabei nicht erwähnt – über eigene Polizeigewalt verfügten, die im Auftrag der Ältesten vom Schammes oder einem anderen Gemeindebeamten ausgeübt wurde. So hatte die Gemeinde einen Kerker, der sich im Keller des Judenspitals befand und in den vor allem jüdische Diebe eingesperrt wurden.34 Darüber hinaus stand dem Ältesten beziehungsweise dem in seinem Auftrag handelnden Schammes ein Züchtigungsrecht mit der Schulpeitsche zu. Dieses Züchtigungsrecht wurde bei Dieben ausgeübt, aber auch bei dem am 20. April 1748 straffällig gewordenen Jungen Schestel Kargel.35 Der internen Polizeijustiz der jüdischen Gemeinde folgte bei schweren Vergehen dann ein Gerichtsprozess, der von dem königlichen Fiscal geführt wurde. Zu den jüdischen Einrichtungen zählten im Judenviertel neben dem Friedhof eine große und kleine Synagoge sowie das Spital mit Kerker.36 Das rituelle Tauchbad, die Mikwe, lag in einem Privathaus. Die Nähe zum Dominikanerkloster war nicht unproblematisch. Auf Drängen des Kaisers hatte am 27. Januar 1636 der Rat den Verkauf von

31 �������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Głogowskie, Nr. 289, 102–104; zu den Strategien jüdischer Finanzagenten in Schlesien im 18. Jahrhundert vgl. den Beitrag „Schlesische Juden als Finanzagenten des Adels im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 32 Deventer: Juden, 41–45. 33 Lucas/Heitmann: Stadt, 90–100. 34 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Głogowskie, Nr. 285, 40–45. 35 Ebd. 36 ������������������������������������������������������������������������������������������� Deventer: Juden, 45. Zu den Gemeindebeamten zählten ein Rabbiner, ein Kantor, ein Unterkantor, ein Bassist, ein Schammes, zwei Schächter, ein Gemeindeschreiber und ein Totengräber. Vgl. Brann, Markus: Geschichte der Juden in Schlesien. Breslau 1896, 240.

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25 zwischen Burg und Dominikanerkloster gelegenen Bauplätzen gebilligt.37 Damals protestierte der Prior des Klosters am 16. Mai 1638 heftig gegen die Anlage des Judenviertels dicht vor seinem Kloster. In seiner Argumentation bemühte er alle christlichen Vorurteile gegen die Juden. Gottes Strafe sei zu befürchten, wenn man „ein solch gottloses Volk mitten unter den Christen auf geistlichem Grunde duldet“, welche „Gott [...] die hl. christliche Kirche schmähen, alle Rechtgläubigen unterdrücken und wo sie können aufs Listigste betrügen“.38 Dennoch vermochte der Prior die Anlage des Judenviertels nahe dem Dominikanerkloster nicht zu verhindern. Später gab es immer wieder Beschwerden, dass „die in unser Gegend wohnende Judenschaft unsern Convent soviel incomodire“, sei es durch Unrat und üblen Gestank in der Judengasse, vor allem aber, weil man vom Judenspital direkt „in unser Fenster hineinsehen kann“.39 Der Prior forderte deshalb die Anstellung eines katholischen Wächters, der für Ordnung sorgen sollte. Doch hatte man wohl im Lauf der Zeit einen modus vivendi gefunden, zumal die Judenschaft einen jährlichen Zins an die Dominikaner zahlte. Die Dominikaner stellten der Judenschaft sogar Flächen und Gebäude zum Verkauf zur Verfügung, darunter einen Platz für Fleischbänke und die Behausung des „Judenwächters“, den die Judenschaft auf Befehl des Landeshauptmanns anstellen musste, nachdem 1732 im Judenviertel ein Brand ausgebrochen war.40 Das Judenviertel war kein streng von den übrigen Einwohnern abgegrenztes Ghetto, sondern – wie die Pläne aus den Jahren 1722 und 1736 zeigen – ein Ensemble von Häusern jüdischer Besitzer und jüdischer Gemeindeeinrichtungen an der Peripherie der Stadt in unmittelbarer Nachbarschaft zu christlichen Familien. Die sogenannte Judengasse oder „Lange Gasse“ verlief in der Nähe des Schlosses und des Dominikanerklosters. In manchen Quellen wird dieser Bezirk auch als „Judenstadt“ oder „Juden-Revier“ bezeichnet. Den jüdischen Familien gehörten hier 36 Häuser, wobei sich mehrere jüdische Familien den Besitz an einem Haus teilen konnten.41 Die Judengasse wurde sowohl von Juden als auch Christen benutzt, zumal auf der einen Seite „christliche Häuser“ lagen. Bisweilen kam es dabei zu kleinen gegenseitigen Sticheleien. Am 20. April 1748, einem Schabbat, eskalierte ein solcher Vorgang.42 An diesem Tag wurde der Klosterbedienstete Hans Joseph Strips auf die Odergasse nach Holz geschickt. Auf dem Rückweg durch die Judengasse riefen „vor der kleinen Judenschul“ die jüdischen Kinder und Fleischer, die den zu dieser Zeit stattfindenden Gottesdienst wohl nicht besuchten, dem Klosterknecht, einem „einfältigen Menschen“, hinterher: „Hans, Hans, hat das Juden Mädel gestoßen [mit ihm geschlafen, d. Vf.].“ Das habe diesen verdrossen, und deshalb 37 Deventer: Juden, 39. 38 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Głogowskie, Nr. 285, 4–6. 39 Ebd., 19f. Die jährlichen Zahlungen an das Dominikanerkloster betrugen zwanzig Taler, zwanzig Silbergroschen. 40 Deventer: Juden, 45. 41 Ebd., 43. 42 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Księstwo Głogowskie, Nr. 285, 40–84 (hier die folgenden Zitate).

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– so eine Zeugenaussage – habe er „auf die Juden Jungen gerufen, sie sollten ihn zufrieden lassen“. Hinzu kam, dass der „Judenjunge Schestel, so bei dem Pferdehändler Jude Alexander diene“, den holztragenden Klosterknecht gestoßen habe, ihm gesagt habe, er solle aus dem Weg gehen, und ihn dabei weitergestoßen habe. Daraufhin habe der Klosterknecht den Schestel einen Hundsfott genannt und sei diesem, der in das Haus des Juden Fränkel gelaufen, gefolgt. Als der Klosterknecht über die Schwelle in dieses Haus eintreten wollte, habe – so weiterhin die Zeugenaussage – Schestel „ihm mit einem halben Ziegel vor den Kopf geschmissen, dass er zur Erden gefallen und ohnmachtig geworden“ sei. Daraufhin sei die „Klosterschuhmacherin“ aus ihrem Haus gekommen und habe den Klosterknecht zu dem Barbier gebracht, der ihn verbunden habe. Der Zeuge Heinrich Scholz sei – so seine Aussage – „in die Judenschule, weilen die Juden alle darinnen gewesen, gelaufen“ und habe den Schammes herausgerufen, dem er den Unfall erzählt habe und der mit ihm zu dem Barbier gegangen sei. Der Subprior des Klosters, der inzwischen von dem Vorfall erfahren hatte, habe den Schammes zu sich kommen lassen und ihn beauftragt, „mit den Juden Ältern [zu] sprechen, dass der Junge abgestraft“ werde. Die ganze Judengemeinde aber sollte in Zukunft „den einfältigen Menschen“ zufriedenlassen. Soweit die Aussage. Nach Aussage des Schammes Simon Moses vor Gericht habe dieser sogleich den Ältesten von dem Vorfall berichtet, und diese hätten ihm sogleich befohlen, „dass er zum Pater Prior gehe und sagen sollte, es wäre ihm leid, dass dies geschehen wäre“. Sie wollten den Jungen dafür „brav abstrafen und einstecken lassen“. Auch boten sie an, ein Schmerzgeld zu zahlen, „da der Junge ein armer Mensch wäre, der nichts zu bezahlen hätte“. Damit sei – so der Schammes – „der Prior zufrieden gewesen“. Dieser Junge Schestel Kargel war 17 Jahre alt, hatte keinen Vater mehr und war bei einem Pferdehändler angestellt, der ihm nur das Essen zahlte. Vor Gericht gab er zu, dass er „einen Stein aufgenommen und nach Hansen geschmissen [habe], aber keine Intention gehabt, ihn zu lädieren“. Zur Erklärung führte er aus, „der Teufel müsse den Wurf geführet haben, dass er übel abgelaufen. Es hätte ihm gleich gereuet, da sie beide vorher gute Freunde gewesen“. Wie mit dem Prior vereinbart, wurde Schestel vom „Schul-Klöpper in das Loch über Nacht gestecket“ und am nächsten Tag, wie „der ordinär Schams“ vor Gericht aussagte, „von dem Gassen Schammes recht auskarbatscht“. Bei dem „Schul-Klöpper“, der mit Klopfzeichen an den Türen die Gemeinde zum Gottesdienst rief, und dem „Gassen-Schammes“ handelte es sich wohl um eine Art Hilfspolizei des „ordinären“, also des Hauptschammes. Trotz der Bestrafung im Auftrag der Gemeindeältesten gab es am 28. Mai 1748 doch auch eine Gerichtssitzung unter der Leitung des Fiscals Vollmar, auf der die Zeugen sowie der Angeklagte gehört wurden, deren Ausgang aber nicht überliefert ist.43 Der Konflikt aber scheint mit der Bestrafung des Täters und einer Schadenszahlung an den Prior seitens der jüdischen Gemeinde wohl zur Zufriedenheit aller ausgegangen zu sein. 43 Ebd.

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Die jüdische Gemeinde Glogau konnte die Vorteile ihrer Infrastruktur, die ihr von Friedrich II. eingeräumt worden waren, das 18. Jahrhundert hindurch beibehalten. Noch in der Debatte um die Hardenbergsche Judenemanzipation von 1812 bestätigten die Ältesten der Gemeinde Breslau als Sprecher der schlesischen Judenschaft bei ihren Verhandlungen 1811 in Berlin die Vorteile der Glogauer Gemeindeinfrastruktur. Dabei hoben sie vor allem auf die Rabbinatsgerichtsbarkeit ab, die bei Streitfällen, die nicht über hundert Taler lagen, in erster Instanz Recht sprechen konnte, während in Appellationsfällen aber das Oberlandgericht zuständig war.44 Doch in den amtlichen Quellen tritt das Rabbinatsgericht nicht in Erscheinung. Die jüdischen Kläger wandten sich wohl gleich an die staatlichen Gerichte. Anders mag es bei Erbschaftsangelegenheiten gewesen sein, die ebenfalls vom Rabbinatsgericht entschieden wurden. Hier gab es bis ins 19. Jahrhundert ein spezielles jüdisches Erbrecht. In Ehescheidungssachen und in Angelegenheiten der Synagoge aber musste das Rabbinatsgericht „gemeinschaftlich mit den Ältesten“ entscheiden.45 Um diese Zeit (1812) hatten Glogau wie auch seine jüdische Gemeinde erheblich an Bedeutung eingebüßt. Wegen der französischen Besatzung, die von 1807 bis 1814 dauerte, hatte Glogau seine Vorrangstellung in Schlesien verloren. Die wohlhabenderen Einwohner, besonders die der jüdischen Gemeinde, hatten die Stadt verlassen. Die jüdische Gemeinde fand sich infolge der Okkupationskosten mit hohen Schulden belastet. Es sollte fast ein halbes Jahrhundert dauern, bis die jüdische Gemeinde wieder an Bedeutung gewann und zu den wohlhabenden Gemeinden in Deutschland zählte.46

44 Freund, Ismar: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen, Bd. 1–2. Berlin 1912, hier Bd. 2: Urkunden, 441; Dudek: Juden, 65–72. 45 ������������������������������������������������������������������������������������������� Dudek: Juden, 65–72; Glogau als „Stadt des Wissens und des Glaubens“ verfügte über eine Jeschiwa, für die Stipendienstiftungen für arme Studenten eingerichtet wurden. Vgl. Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum Archiv 1, 75 A, Gl 3, Nr. 15, Bl. 4–6. Die Gemeinde hatte dafür zu sorgen, dass mindestens zwölf Studierende Kost und Logis unentgeltlich erhielten. Brann: Geschichte, 241f. Die Stipendiaten durften nicht als Beisitzer zum Rabbinatsgehalt herangezogen werden. 46 Lucas/Heitmann: Stadt, 322–335.

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16. Jüdische Hochzeiten im Barockzeitalter Als Minderheit inmitten einer häufig feindlich gesinnten Umwelt waren die Juden in Mitteleuropa auf enge familiäre Bindungen angewiesen. Die Familie bot ihnen das, was die Gesellschaft verweigerte: Schutz und Sicherheit. Nicht nur aus religiösen Gründen spielte deshalb die Hochzeit eine wichtige Rolle. Riten und Bräuche, die mit diesem Ereignis verbunden waren, orientierten sich an den Minhagim, den Bräuchen der Gemeinde, die in mündlicher Überlieferung von Generation zu Generation weitergegeben wurden.1 Diese ließen Varianten zu, und so berichten jüdische Autoren des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit über regional unterschiedliche Bräuche. Der Konvertit Paul Christian Kirchner bietet in seinem „Jüdisches Ceremoniel“, das – allerdings noch ohne Bebilderung – zum ersten Mal 1716 im schlesischen Jauer erschien, ein anschauliches Bild von der Trauungszeremonie. Kirchner war zuvor als Rabbiner in Fürth tätig gewesen, 1713 in Bischleben bei Erfurt zum protestantischen Glauben konvertiert und 1714 als Gast pietistisch eingestellter Adliger nach Schlesien gekommen, wo er eine „Bekenntnisschrift“ verfassen sollte. Eine kleine Schrift, die sich mit seinem Übertritt befasste, erschien 1714 in Jauer bei dem Verleger Johann Christian Lorentz sowie im Jahr darauf noch einmal mit geringfügigen Änderungen. Die beiden Schriften waren bekannten schlesischen protestantischen Geistlichen gewidmet, nämlich Magister Christian Kahl, seit 1709 Prediger und Inspektor der im Entstehen begriffenen Hirschberger Gnadenkirche, sowie dem bekannten Liederdichter und Pfarrer an der Schweidnitzer Friedenskirche Benjamin Schmolck. 1716 brachte Kirchner zum ersten Mal sein „Jüdisches Ceremoniel“ ebenfalls in Jauer bei Johann Christian Lorentz heraus. Die jüdischen Bräuche, darunter auch die Trauungszeremonie, kannte er als ehemaliger Rabbiner sehr gut, wobei ihm recht dienlich war, dass er auch die polnischen Bräuche einfließen lassen konnte. Als 1717 sein „Jüdisches Ceremoniel“ noch einmal erschien, diesmal bei Nicolaus Schill in Lauban, lebte Kirchner nicht mehr in Schlesien, sondern in Erfurt, von wo er nach Basel überwechselte. Sehr wahrscheinlich kehrte Kirchner nach 1720 zum Judentum zurück und distanzierte sich wohl von seinem Werk. Die Ausgaben, die nun mit Bildern des Nürnberger Kupferstechers Johann Georg Puschner ab 1724 in Nürnberg erschienen, brachte der dortige Rektor des St. Lorenz-Gymnasiums Sebastian Jakob Jungendres heraus. Kirchner verfasste hierfür keine „Vorrede“ mehr, wie er dies bisher in seinen Ausgaben getan hatte.2 Kirchners Darstellung ist die wohl wichtigste Quelle für jüdische Hochzeitsbräuche in der Barockzeit. Er schildert 1 Güdemann, Moritz: Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Deutschland während des XIV. und XV. Jahrhunderts. Wien 1888 [ND Amsterdam 1966], 12–20; Herzig, Arno: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1997, 55f. 2 Herzig, Arno: Das Interesse an den Juden in der Frühen Neuzeit. Studien zur Kontinuität und zum Wandel des Judenbildes. Hamburg 2012, 52–60.

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Titelblatt der 1716 in Jauer erschienenen Schrift des 1713 zum protestantischen Glauben konvertierten (und vermutlich später wieder rekonvertierten) Fürther Rabbiners Paul Christian Kirchner. Die Darstellungen Kirchners über kultische Bräuche der Juden stießen zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf großes Interesse bei – insbesondere protestantischen – Theologen. Aus der Feder eines Rabbiners erhofften sie sich Aufschluss über das „geheime „Wissen“ der Juden, aber auch Informationen, um für Disputationen und Bekehrungsgespräche gerüstet zu sein.

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die Hochzeitszeremonien, wie sie sich in dem Nürnberg benachbarten Fürth abspielten. Auch die Bildtafeln, die seinem Werk beigegeben wurden, zeigen Situationen in oder vor der Fürther Synagoge.3 Als Kern des Hochzeitsritus lässt sich Folgendes herausstellen: Orientalischer Tradition entsprach es, dass die Eltern die Eheschließung ihrer Kinder anbahnten; doch erforderten dies auch die Zeitumstände im 17. Jahrhundert, da bei einem Zusammenschluss zweier Familien besonders die ökonomische Seite berücksichtigt werden musste. Im Vergleich zum christlichen Kulturkreis stand der jüdische Kulturkreis sexuellen Dingen offener gegenüber.4 Es gab keine Verbote wie den Zölibat – im Gegenteil: Jeder Rabbiner war verpflichtet, zu heiraten. Das sexuelle Leben durfte jedoch nur in der Ehe praktiziert werden. Außerhalb der Ehe galt Sexualität als Unkeuschheit, die die Gemeinde bei Gott verhasst mache, wie auch Kirchner betont.5 Um die Sexualität in der Ehe zu gewährleisten und Jugendliche vor geschlechtlicher Verirrung zu behüten, wurden Ehen sehr früh geschlossen. Das Ehestiften galt als gottgefälliges Werk, die Ehevermittler (Schadchanim oder Schädchen) genossen deshalb in der jüdischen Gemeinde hohes Ansehen. Da bei der Eheschließung die Interessen der Eltern eine wichtige Rolle spielten, zumal die Jungvermählten zunächst noch im Haus der Eltern des Bräutigams lebten und von diesen auch ernährt wurden, hatten die Verlobten nur kurz vor der Hochzeit Gelegenheit, sich kennenzulernen und zu prüfen, ob sie auch Zuneigung zueinander fassten. Doch war ein Zurück zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich schwierig, denn der erste Akt, der der eigentlichen ehelichen Verbindung vorausging, war die Vereinbarung der Ehepakten (hebr. Ketubba, Plural Ketubot) durch die Eltern.6 In diesen Ketubot wurden die von beiden Familien zu zahlenden Mitgiften festgesetzt. Die Ketubba enthielt aber auch Angaben zur finanziellen Versorgung der Frau, sollte sie verwitwen oder die Ehe 3 Herangezogen für diese Untersuchung wurde die Ausgabe Kirchner, Paul Christian: Jüdisches Ceremoniel, oder Beschreibung derjenigen Gebräuche, welche sowol inn- als ausser dem Tempel [...] in acht zu nehmen pflegen. Nunmehro aber bey dieser neuen Auflage mit accuraten Kupfern versehen [...] um vieles vermehret und mit Anmerkungen erläutert von Sebastian Jacob Jungendres. Nürnberg 1726 [ND Hildesheim 1974]. In Nürnberg herrschte seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch den Orientalisten und Polyhistor Johann Christoph Wagenseil (1633–1705), der an der Nürnberger Universität in Altdorf lehrte, ein reges Interesse an Judaica. Aus diesem Grund publizierte der Konvertit Kirchner sein „Jüdisches Ceremoniel“. Doch herrschte auf christlicher Seite Skepsis an der Aufrichtigkeit des Neuchristen. Bei der Neuausgabe des Werkes von 1726 bemerkt im Vorwort der Herausgeber Jungendres: „Man sollte zwar vermeinen/ als ob man hievon bey denen von ihnen [den Juden, d. Vf.] zu uns getretenen Convertiten die beste Nachricht einholen könnte/ und daß auch dergleichen Scribenten, welche uns die Religions-Gebräuche ihrer ehemaligen Glaubens-Genossen schriftlich communicirt/ völligen Glauben verdienten; Allein da wir von der Aufrichtigkeit ihres Herzens/ mit welcher sie die Evangelische Warheit angenommen/ nicht ganzlich überzeugt seyn [...].“ 4 Herweg, Rachel Monika: Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt 1995, 38–45. 5 Kirchner: Jüdisches Ceremoniel, 170; Güdemann: Geschichte, 115. 6 Güdemann: Geschichte, 119.

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geschieden werden. Für den Fall, dass eine der beiden Familien von dem Ehekontrakt zurücktrat, wurde ein Strafgeld festgesetzt, das mit dem talmudischen Ausdruck „Knaß“ bezeichnet wird. Wie wichtig gerade dieser Aspekt war, belegt der Begriff „verknaßen“ für verloben.7 Die Hamburger Kauffrau Glikl Hameln, die von 1645 bis 1724 lebte und von der wir anschaulich geschriebene Lebenserinnerungen besitzen, erzählt, dass sie mit zwölf Jahren von ihrem Vater in Hamburg mit dem circa dreihundert Kilometer entfernt in Hameln wohnenden Chajm Hameln verlobt wurde, den sie zwei Jahre später heiratete. Diese Verlobung und ihre Dauer schildert Glikl knapp: „Mein Vater hat mich verknaßt und ich bin zwei Jahre lang im Knaß geblieben.“8 Ihre Hochzeit stellt sie als großes Treffen der beiden Familien dar, die trotz der schwierigen Reisebedingungen des 17. Jahrhunderts – diese beschreibt sie eingehend – in Hameln zusammenkamen. Auch von den Konflikten zwischen beiden Familien, die dabei zutage traten, berichtet sie ausführlich. Fast hat der Leser den Eindruck, dass es bei diesem Anlass wichtiger war, dass die beiden Familien miteinander auskamen als die beiden Ehepartner. Detailliert werden von Glikl bei der Schilderung dieses Ereignisses die Berühmtheiten beider Familien, insbesondere die Gelehrten, dem Leser vorgestellt. Die einflussreichen jüdischen Familien und vor allem die der Hoffaktoren, die in enger Beziehung zu den Fürstenhöfen standen, waren darum bemüht, hohe Persönlichkeiten als Hochzeitsgäste zu gewinnen. So berichtet auch Glikl von der Hochzeit ihrer Tochter Zipora mit dem reichen Hoffaktor Elias Cleve, an der Prinz Friedrich, der spätere preußische König Friedrich I., teilnahm.9 Die reichen portugiesischen Juden in Hamburg luden zu ihren Hochzeitsfeiern den dortigen kaiserlichen Residenten ein.10 Die Eheschließungen und damit die Verbindungen der großen Familien im 17. Jahrhundert, die sich durch diese Eheverträge auch als Geschäftspartner absicherten, waren zu dieser Zeit zwar von Bedeutung, aber nicht der Normalfall. Die meisten Ehen wurden von einfachen Familien innerhalb der Gemeinde geschlossen, da diese neben der Familie den wichtigsten Bezugspunkt im Leben eines jeden Juden bildete. Auch bei den einfachen Familien, selbst wenn sie nur über bescheidenen Besitz verfügten, wurden Heiratsverträge von einem Schreiber oder vom Rabbiner aufgesetzt. Bei dieser Gelegenheit forderte der Rabbiner die Väter auf, ihre Kinder zu fragen, ob sie einander heiraten und die abgeschlossenen Verträge einhalten wollten. Die Gemeinde nahm intensiv an der Hochzeit teil. So gab der Bräutigam kurz vor der Hochzeit seinen Freunden eine sogenannte Collation, bei der sehr viel Unfug getrieben wurde und die die Gemeindevorsteher mit hohen Strafandrohungen zu verhindern suchten.11 In den Tagen vor der 7 Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-Deutschen übers., mit Erläuterungen versehen und hg. v. Alfred Feilchenfeld. Berlin 1923 [ND Frankfurt a. M. 1987], 35. 8 Ebd. 9 Ebd., 116f. 10 Staatsarchiv Hamburg, Senat, Cl. VII Lit. Hb Nr. 3, Vol. 2 b, Bl. 278 (16. Dezember 1694). 11 �������������������������������������������������������������������������������������������� Darstellung der Hochzeitsriten in Frankfurt a. M. und in Altona in Schudt, Johann Jakob: Jüdische Merckwürdigkeiten [...], Tl. 1–5. Frankfurt a. M./Leipzig 1714–1718, hier Tl. 2, 6. Buch, 25. Kapitel, 1–6; Güdemann: Geschichte, 119; weitere Darstellungen jüdischer Hochzeitsfeiern

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Hochzeit brachte der Rabbiner der Braut das Brautgeschenk des Bräutigams, zumeist einen Gürtel oder Schleier. Auch die Familien brachten dem Brautpaar Geschenke, vor allem Süßigkeiten.12 Dies war mit einem Festmahl verbunden, das mit dem schwer zu deutenden Begriff „Spinnholz“ bezeichnet wurde.13 In Polen – so berichtet auch Paul Christian Kirchner – ließ die Braut dem Bräutigam einen Tallit (Gebetsmantel) und auch einen Sterbekittel überbringen. Die Braut erhielt als Gegengabe gestickte Schuhe und Pantoffeln sowie eine Mütze. Es ist davon auszugehen, dass dieser Brauch auch in Schlesien praktiziert wurde.14 Am Hochzeitsmorgen wurde zunächst der Bräutigam zur Synagoge begleitet. Nach Regionen unterschiedlich war dabei, ob die Züge sowohl des Bräutigams als auch der Braut von Musikanten begleitet wurden, wie dies sowohl auf dem Bild bei Kirchner als auch bei Schudt zu sehen beziehungsweise beschrieben ist.15 Dies war allgemein in östlichen Regionen und damit auch in Schlesien Brauch. In Böhmen, zu dem Schlesien bis 1742 als Nebenland gehörte, gab es eigene jüdische Musikkapellen, die nicht nur bei jüdischen, sondern auch bei christlichen Hochzeiten spielen durften, wie ihnen dies 1641 der Prager Erzbischof durch Privileg zugesichert hatte.16 Nach Ankunft des Bräutigamzuges nahmen die Männer als die eigentlichen Gemeindemitglieder am Gottesdienst teil, bei dem der Bräutigam als Erster zur Tora aufgerufen wurde. Erst nach dem Gottesdienst traf auf dem Synagogenvorhof der Zug der Braut, begleitet von den Frauen der Gemeinde, ein. Sobald der Brautzug am Tor zum Synagogenplatz angekommen war, führten Rabbiner und Vorstand den Bräutigam der Braut entgegen. Dieser fasste die Braut bei der Hand, während die Gemeinde das Brautpaar als Symbol der Fruchtbarkeit mit Weizenkörnern bewarf. Darauf nahm das Brautpaar unter einem Baldachin, der sogenannten Chuppa, Platz. Da die Braut als Frau nicht die Synagoge, sondern nur die Frauenempore betreten durfte, fanden die Hochzeitszeremonien im Hof vor der Synagoge statt, wie dies das Bild bei Kirchner, das die Szene vor der Fürther Synagoge wiedergibt, deutlich zeigt. Dabei wurde der Bräutigam um die Braut wie andererseits die Braut um den Bräutigam herumgeführt. Zur Trauungszeremonie gehörten auch zwei Gläser Wein, über die der Rabbiner den Segen sprach. Das Glas der Braut, das sich

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in Roth, Ernst: Die Geschichte der jüdischen Gemeinden am Rhein im Mittelalter. In: Schilling, Konrad (Hg.): Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Handbuch. Köln 1963, 60–130, hier 116–120; Gay, Ruth: Geschichte der Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg. München 1993, 60f.; Neusner, Jacob: Life Cycle in Judaism. In: ders. u. a. (Hg.): The Encyclopaedia of Judaism, Bd. 1–3. Leiden 2000, hier Bd. 2, 797–823, hier 800f. Grunwald, Max/Herlitz, Georg: Hochzeit und Hochzeitsbrauch. In: Jüdisches Lexikon, Bd. 2. Berlin 1928, 1635–1641, hier 1636. Vermutlich von lat. sponsalia. Güdemann: Geschichte, 119. Kirchner: Jüdisches Ceremoniel, 176. Ebd., 179. Breuer, Mordechai: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: ders./Graetz, Michael: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, 85–247, hier 175.

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nach oben verjüngt, deutet symbolisch auf ihre Jungfrauenschaft. Heiratete eine Witwe, nahm man für die Zeremonie ein normales Glas. Während der Eingangszeremonie unter der Chuppa war die Braut verschleiert und wurde zudem vom Bräutigam unter dessen Gebetsmantel genommen. Der Rabbiner sprach den Segensspruch aus der Tora, die er dabei hochhielt, um anzuzeigen, dass dieser Akt nach Gottes Willen und gemäß dem Gesetz geschah. Das Brautpaar war dabei nach Süden gewandt. Auch die Ketubba wurde verlesen. Danach steckte der Bräutigam der Braut und die Braut dem Bräutigam den Trauring an mit den Worten: „Durch diesen Ring seist Du mir angetraut nach dem Gesetze Moses und Israels.“ Dem folgte ein Segensspruch des Rabbiners, den das Brautpaar nachsprechen musste: „Fürwahr du sollst zu mir geheiliget sein, wie Gott durch Moses Israel befohlen hat.“17 Daraufhin reichte der Kantor dem Paar die Weingläser, aus denen es trank. In manchen Gegenden trank das Paar als Zeichen der ehelichen Vereinigung aus einem Glas. Überall üblich war dagegen das anschließende Zertreten der Gläser unter dem Zuruf „Masel tof “ (Viel Glück). Wie bei Kirchner zu lesen, warf in Fürth der Bräutigam das Glas an die Synagogentür.18 Regional unterschiedlich waren die Bräuche des Fruchtbarkeitswunsches. Während das Werfen mit Weizenkörnern wohl überall vorkam, gab es andernorts weitere Bräuche. So ließ man zum Beispiel in Posen Hühner über die Chuppa fliegen.19 Der Trauungszeremonie vor der Synagoge folgte das Hochzeitsmahl, das ebenfalls Teil der Zeremonie war. Jetzt erst hielt der Rabbiner seine Ansprache, und auch der Bräutigam trug eine sogenannte Derascha vor, die an Bibelverse anknüpfte. Zur Belustigung der Gäste traten Musikanten und Chöre auf, die ein Marschalik anleitete, der auch die Liste der Hochzeitsgeschenke und ihrer Spender verlas. Zum Hochzeitsmahl gehörte auch der Hochzeitstanz, der vom Rabbiner und der Braut eröffnet wurde und dem sich die Vornehmen der Gemeinde dann anschlossen.20 Bei Wohlhabenden dauerte die Hochzeitsfeier sieben Tage. 17 Kirchner: Jüdisches Ceremoniel, 185. 18 Ebd. An der Bingener Synagoge gab es einen sogenannten Traustein, an dem die Hochzeitsgläser zerschlagen wurden. Zum Bild vgl. Gay: Geschichte, 61; eine Hamburger Chronik schildert eine jüdische Hochzeit für das Jahr 1689 wie folgt: „Fängt an mit Tanzen. Dann setzt sich die Braut, der ein Tuch vor die Augen gehalten wird, an einen Tisch nebst den anwesenden Jungfern. Das bedeutet, daß sie ihre Jungfrauschaft beweinet. Dann setzt sie sich auf einen Stuhl, wo ihr ihr Vater oder nächster Blutsfreund den jungfr. Schmuck vom Kopf nimmt u. ihr die Haube oder Frauenzierath aufsetzt. Dann sendet ihr der Bräutigam einen Unterrock u. einen Gürtel u. vergoldet. silberne 2 Fläschchen m. Balsam u. wohlriechendem Wasser nebst andern Gaben, Schuhen, Strümpfen etc. Neben ihr steht ein Becher für d. Geschenke der Freunde. Dann wird die Trauung mit Ringen fortgesetzt, worauf ein Oeselglas mit Wein gebracht wird, woraus zuerst die Braut dem Bräutigam zutrinkt, der dies erwidert, worauf er d. Glas zerbricht, daß der Wein umherfließt. Folgt ein Schmaus.“ Staatsarchiv Hamburg, Handschrift Nr. 472 a. 19 Grunwald/Herlitz: Hochzeit, 1640. 20 Kirchner: Jüdisches Ceremoniel, 186; auch der Bericht über die Hochzeit reicher portugiesischer Juden in Hamburg aus dem Jahr 1694 erwähnt die Gestaltung der Feier durch Musikanten. Vgl. Staatsarchiv Hamburg, Senat, Cl. VII Lit Hb Nr. 3, Vol. 2b, Bl. 278.

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Auch wenn die Zeremonien einem festen Kanon folgten, so waren die damit verbundenen Bräuche doch recht unterschiedlich. Vor allem die symbolischen Bezüge spiegeln eine große Breite. Offenbleiben muss, ob die bei Kirchner sehr detailliert wiedergegebenen Bräuche sich so auch in Schlesien abspielten, da wir keine primären Quellen darüber besitzen und zudem im 17. Jahrhundert kaum jüdische Gemeinden in diesem Gebiet existierten. Auf eine fast ungebrochene Gemeindetradition seit 1299 konnte in Schlesien lediglich die Gemeinde in Glogau verweisen. Trotz des immer wieder gefährdeten Existenzrechts der schlesischen Juden im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert ist davon auszugehen, dass sich in den Gemeinden gemäß den Minhagim ein normales Leben entwickelte. Die Jahresfeste und die Bräuche bildeten den festen Rahmen und vermittelten dem einzelnen Gemeindemitglied Orientierung. Kaum daran zu zweifeln ist, dass in Glogau, Zülz und Breslau die Hochzeitsfeiern im Prinzip so abliefen, wie in den Quellen aus anderen Gemeinden berichtet wird. Zeugnisse wie Ehepakten sind in den Archiven jedoch weder in Breslau und Grünberg noch in Berlin und Jerusalem vorhanden. Auch Berichte über jüdische Hochzeitsfeiern in den drei dafür infrage kommenden Städten sind weder in den Archiven noch in der Literatur überliefert. Hier finden sich allenfalls Feststellungen zu Unregelmäßigkeiten, so die Alimentenklage der Hanne, Tochter des Moses Wolff, gegen den „völlig unvermögenden Juden“ Salomon Morgenstern (1779). Dieser leugnete vor Gericht seine Vaterschaft und gab an, „daß sie [die Klägerin, d. Vf.] vor einiger Zeit selbst gemeldet habe, daß sie sich von einem gewissen Juden Simon Moses von Radno bei Warschau unter dem Versprechen, sie zu ehelichen, habe schwängern lassen“.21 Dieser habe aber nicht Wort gehalten. Quellen wie diese machen deutlich, dass die Minhagim nicht immer eingehalten wurden und dass vor allem die jüdischen Unterschichten sich kaum eine Hochzeit leisten konnten. Die Breslauer Judenkommission hatte es im 18. Jahrhundert häufiger mit Fällen zu tun wie dem des Joseph Schie, der in bitterster Armut gestorben war und zwei uneheliche Kinder hinterließ, für die „wegen schlechter Streiche der Mutter“ die Gemeindekasse aufkommen musste. Doch sind dies die Ausnahmen.22 Die Hochzeiten der jüdischen Ober- und auch Mittelschicht in Schlesien verliefen wohl, wie sie uns der in Breslau geborene und in Glogau aufgewachsene Rabbiner Selig Wolff aufzeigt. Die von ihm für das Jahr 1772 geschilderte Hochzeit fand zwar nicht in Schlesien, sondern im westfälischen Höxter statt, aber an ihr wirkten zwei schlesische Rabbiner mit: „Tags darauf reiste ich mit dem Postwagen blind bis Höxter, hier wohnten reiche Juden, und hatten einen gelehrten Rabbi, der ein Landsmann von mir war, und da Tags darauf eine Juden Hochzeit war und ich dazu eingeladen wurde, weil ich mich vor ein reisenden Juden Rabbi ausgab, nahm ich die Einladung an. Es war wirklich eine prächtige und kostbare Hochzeit, die 4 Tage dauerte, an kostbar Essen und Trinken Überfluß, wir waren an 2 Tafeln getischt an jeder 30 Mann, und noch eine große Tafel vor Gesind und fremde arme Juden, nebst 8 Musicanten. Ein jeder arme Jud bekam 2 21 The Jewish Historical General Archives Jerusalem, GA S 136/9, Fasc. 9. 22 Ebd.

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Tage satt Essen und Trincken nebst ½ Tlr. an Geld. Ich und der Rabbi in loco segneten Braut und Bräutigam auf Häbr. nebst alle anwesende fremde und geladene Gäste, mit ein schönes passendes Lied, musicalisch abgesungen, und von den Musicanten secondiert, und nach dem Essen hielt ich an einer Tafel, und der andere Rabbi an der 2ten Tafel eine passende Predigt oder Rede über die Pflichten des Ehestands und Erziehung der Kinder, in den Jüdischen Glauben. Erst auf Häbr. und dann auf Jüdisch deutsch, das dauerte 1 ½ Stunde. Dann wurden die Gesundheiten, von den Eltern des neu vermählten Paars, dann von Braut und Breutigam in silberne Bächer und mit dem besten koscher Wein gefüllt, unter Jubel und Musik ausgeleert. Dann wurden die Geschenke von mir, dem Rabbi in loco aufgeschrieben, welche die Freunde und geladene Gäste dem neu vermählten Paar zum Andenken verehrte, sie bestanden an silberne Löffel zum [?], große zinnerne Schüßlen, feine porcelein und ander Haus Rath, welches wohl einige 100 Tlr. wert wahr. Zum Schluß wurde gesungen und gedanket vor die Geschenke und dann gebeten und wieder feyerliche Loblieder zu Gott angestimmet, und alle Stunden auf und begleideten B. und B. im Tantz Sahl, welches prächtig geputzt. Es wurde getanzt, gespielt, gesungen und gesoffen bis nach Mitternacht um 3 Uhr berauscht und besoffen brachten die Weiber und Männer das junge Ehe Paar zu Bett. Und alle übrige, jung und alt begaben sich zu Ruhe. [...] Der hiesige Rabbi hat mit mir abgesprochen, alles was wir bekommen werden vor unser Singen und Predigen brüderlich zu Theilen, den 4te und letzten Hochzeits Tag wurde nach dem Essen 2 große zinnerne Teller von den Haus Bedienten im Kreis herum presentirt vor uns beyde Rabbinen, wobey wir Lob und Danck Lieder sangen. Einen jeden von uns wurde eine Schüssel mit dem darauf liegenden Geld gereicht, welches wir mit Dancksagung an uns nahmen. Die ersten 3 Tage [?] und nehmliche Art Koch und Köchin, Aufwarter und Musicanten Trinck Gelder, und da die Gesellschaft nach dem Essen und Trincken wieder ans Spillen und Tanzen ging, begaben wir Rabiner uns in ein Bey Zimmer welches ledig wahr, und theilten unser Schoder Geld, wir hatten jeder 12 Tlr. und einige stüber, wir Trancken noch eine Flasche Wein dann Tee, und dann berauscht oder schicker – besoffen – nach Bett. Den anderen Morgen um 8 Uhr reisten die eingeladene Gäste und entfernte Freunde ab, 2 davon waren gantz reiche Juden mit ihren Frauen aus Paderborn, ich bediente mich dieser guten Gelegenheit, welches sie mir selbste anboten und reiste mit ihnen auf einer Kutsche mit 4 Pferde und wir kamen zeitlich nach Paderborn.“23 Der Bericht dieses schlesischen Rabbiners geht auf die eigentliche Trauungsszene nur am Rand ein: „Ich und der Rabbi in loco segneten Braut und Bräutigam [...].“ Im Mittelpunkt der Schilderung steht das Hochzeitsmahl, wobei offenbleibt, ob diese Trauzeremonie vor der Synagoge oder aber bei der Hochzeitstafel stattfand. Wichtig aber scheint dem Rabbiner der Hinweis auf die „8 Musicanten“, die ihm bei seinem Gesang „secondierten“. Die Predigten, in denen sich die Rabbiner über die Pflichten des Ehe23 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Zit. nach Deventer, Jörg: Das Abseits als sicherer Ort? Jüdische Minderheiten und christliche Gesellschaft im Alten Reich am Beispiel der Fürstabtei Corvey (1550–1807). Paderborn 1996, 174f.

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standes und die jüdische Erziehung der Kinder ausließen, fanden beim Mahl statt, wie auch der Weintrunk des Brautpaares. Die Verlesung der Ketubba wird nicht erwähnt, obgleich es sich um ein reiches Brautpaar handelte, dagegen die Aufzählung der Geschenke. Dem schlesischen Rabbiner scheinen diese Bräuche vertraut, auch die allgemeine Trunkenheit, sodass wir davon ausgehen können, dass in Schlesien die jüdischen Hochzeitsfeiern sich ähnlich abspielten, vorausgesetzt, das Brautpaar konnte sich ein solches Fest erlauben. Die jüdischen Reformer führten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige Neuerungen ein. So plädierten sie dafür, die Hochzeitszeremonie nicht mehr vor der, sondern in der Synagoge durchzuführen. Für die orthodoxen Juden blieben aber die alten Bräuche bestehen.

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17. Der Beitrag der schlesischen Juden zur Kultur des Landes Der Beitrag Schlesiens zur deutschen Kultur basierte zu einem wesentlichen Teil auch auf den kulturellen, ökonomischen und wissenschaftlichen Leistungen, die die ­jüdischen Bürger Schlesiens einbrachten. Diese waren letztendlich – trotz vielfacher Schwierigkeiten – durch die Gesamtgesellschaft in die Kultur Schlesiens integriert. Diesen schwierigen Integrationsprozess gilt es in seinem historischen Werdegang zu beleuchten.1 Der Akkulturationsprozess der schlesischen Juden begann im Zeitalter der Aufklärung. Im Gegensatz zu Berlin bildete sich in Breslau nur in Ansätzen ein christlich-jüdischer Aufklärungszirkel heraus. Dies wird aus den Lebenserinnerungen des jüdischen Philosophen Salomon Maimon deutlich, der am Breslauer Anatomischen Theater Medizin studierte.2 Zu dem christlich-jüdischen Aufklärungszirkel, der sich um den Populärphilosophen Christian Garve scharte, gehörten auf jüdischer Seite der Dichter Moses Ephraim Kuh,3 der Bankier Lippmann Meir, der Kaufmann Heimann Lissa, Aaron Zadeck, Joel Brill Löw, Philipp Levin Siphari sowie Menachem Mendel Broese. Zu den Breslauer Maskilim zählten auch der aus Zülz kommende Philosoph Salomon Pappenheimer, ferner Esther Gad, die in Haller und Berliner Aufklärungszeitschriften publizierte, auf christlicher Seite Christian Garve, die Rektoren Johann Gottlieb Schummel und Philipp Julius Lieberkühn sowie der Mediziner Johann Gottfried Morgenbesser und der Herausgeber der „Schlesischen Provinzialblätter“ Friedrich Albert Zimmermann.4 Die bürgerliche Gesellschaft Breslaus war um 1800 einerseits noch stark konfessionell geprägt, zeigte jedoch andererseits kein Verständnis für die Verächtlichmachung der jüdischen Aufklärung. 1813 hatte der katholische Augenarzt Karl Borromäus Sessa, 1786 in Breslau geboren, unter dem Pseudonym Samson Eidechs ein Theaterstück verfasst, das unter dem Titel „Unser Verkehr“ 1813 auf die Bühne kam. Doch nach der Aufführung wurde es verboten und vom Spielplan genommen. Sessa, der Mitglied 1 In Vorbereitung ist die Herausgabe eines Bandes, der die Ergebnisse einer Gruppe deutscher und polnischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Thema „Jüdisches Leben in Schlesien“ enthält. Die Beiträge reflektieren die Entwicklung und Leistungen des schlesischen Judentums vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart auf den Gebieten der Kultur, Religion und Wissenschaft. Der folgende Beitrag greift auch auf die Ergebnisse dieser Wissenschaftler/innen zurück. 2 Batscha, Zwi (Hg.): Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und hg. v. Karl Philipp Moritz. Frankfurt a. M. 1995, 196; Heppner nennt folgende jüdische Persönlichkeiten der Breslauer Aufklärungsszene: Menachem Broese, Lewin Benjamin Dohm, Elias Henschel, Heinrich Philipp Heymann, Tobias Hiller, Simon Hirsch, Josel Pick Rochnowe, Ephraim Kuh, Victor Aaron Lobethal, Joel Brill Löwe, David Veit und dessen Vater. Vgl. Heppner, Aron: Jüdische Persönlichkeiten in und aus Breslau. Breslau 1931. 3 Horch, Hans-Otto: Ephraim Moses Kuh (1731–1790). In: Herzig, Arno (Hg.): Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004, 148–154. 4 Brenker, Anne-Margarete: Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg/München 2000, 234–239; Grab, Walter: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jacobiner. Wien 1984, 355–390.

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der „Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Kultur“ war, hatte dort bereits aus seinen Werken vorgetragen, aber wenig Anklang damit gefunden.5 Das Stück sollte die jüdische Aufklärung und die jüdischen Akkulturationsbestrebungen lächerlich machen, indem es die Anschauung vertrat, dass Juden mit den Akkulturationsversuchen nur die deutsche Kultur erniedrigten. Alle Versuche junger aufgeklärter Juden – so die Botschaft Sessas –, sich (deutsche) Bildung anzueignen, seien grotesk, ja lachhaft und schließlich zum Scheitern verurteilt.6 Es bleibt offen, inwieweit Sessa mit seinem Stück auch die jüdische Literaturszene seiner Vaterstadt zu karikieren versuchte. Diese hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet. Auf sie weist der Breslauer Aufklärer Georg Gustav Fülleborn im Jahr 1800 in seinem „Breslauischen Erzähler“ hin. Er führt folgende Literaten auf: Joel Löw, der sich auch Joel Brill nannte, ferner Aaron Halle-Wolffsohn, Moses Hirschel, Moses Ephraim Kuh sowie Esther Gad. Diese Autoren rechnen mit zur ersten auf Deutsch ­schreibenden jüdischen Dichtergeneration, die zwar verglichen mit der späteren deutsch-jüdischen Dichtergeneration eines Börne, Heine oder Auerbach eher zweit- oder drittrangig war, aber doch einen wichtigen Schritt zur Akkulturation leistete. Ephraim Kuh, über den Berthold Auerbach einen Roman verfasste, schrieb nicht unbedeutende witzige Epigramme. Die Problematik der Akkulturation und der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie ist auch das Thema von Halle-Wolffsohns Komödie „Leichtsinn und Frömmelei“, die im Stil von Molières „Tartuffe“ die Heuchelei eines manchen Orthodoxen geißelt. Esther Gad, die aus der Breslauer Familie des Generalprivilegierten Raphael Gad stammte, durfte 1786 beim Besuch des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. in Breslau dem König ein Gedicht überreichen, das allerdings nicht von ihr, sondern von dem Berliner Haskil und Dichter Hartwig Wessely stammte. Bei dem nächsten großen Ereignis der Breslauer Judengemeinde, der Eröffnung der Königlichen Wilhelmschule 1791, stammte der „Lobgesang“ dann von ihr. Darin rühmt sie den Mitinitiator der Schulgründung, Staatsminister von Hoym, als edel gesinnten Menschenfreund. Bald darauf verließ sie allerdings Breslau und ging nach Berlin, wo sie in den bekannten Salons der Henriette Herz und der Rahel Levin verkehrte. Sie unternahm zahlreiche Reisen, über die sie aufschlussreiche Berichte verfasste. Esther Gad gilt heute als eine der ersten Frauen, die sich für die Emanzipation der Frauen einsetzte. Fülleborn hebt in seinen Essays von 1800 besonders ihren Briefwechsel mit vielen Gelehrten hervor, darunter „mit dem berühmten Jean Paul“. Fülleborns abschließendes Urteil: „Von ihrem geistreichen und angeneh-

5 Schmidt, Monika: Sessa, Karl Borromäus Alexander [Pseudonym Samson Eidechs]. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1–6. München/Berlin/New York 2009, hier Bd. 2/2, 764f. 6 Meyer, Michael A.: Jüdisches Selbstverständnis. In: ders./Brenner, Michael/Jersch-Wenzel, Stefi (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation, 1780–1871. München 1996, 135–176.



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men Umgange brauche ich Ihnen nichts zu sagen.“7 Vermutlich bezieht sich das auch auf ihre Breslauer Zeit, aus der sie Fülleborn kannte. Trotz der Bemühungen aufgeklärter Beamter brachte die neue Ordnung von 1790 für die schlesischen, vor allem Breslauer Juden keine Verbesserung. Es blieb bei der DreiKlassen-Einteilung von Generalprivilegierten, Stamm-Nummeranten und Schutzverwandten. Von den Stamm-Nummeranten durfte nur ein Kind in Breslau bleiben. Die übrigen Kinder mussten mit 16 Jahren die Stadt verlassen. Bei den Schutzverwandten durfte laut Vorschrift keines der Kinder in der Stadt bleiben. Allerdings wurde das Gesetz in dieser Stringenz wohl nicht angewendet.8 Erst das Hardenbergsche Emanzipationsgesetz vom 12. März 1812 brachte den Durchbruch. Es garantierte zwar nicht die volle Emanzipation, sicherte jedoch den jüdischen Untertanen die freie wirtschaftliche Entfaltung und die uneingeschränkte Mobilität zu, auch wenn die Widerstände in einzelnen schlesischen Städten sehr stark waren. Für Breslau entfiel nun ebenfalls die numerische Begrenzung für jüdische Einwohner, und die Stadt entwickelte sich zu einem der bedeutendsten jüdischen Zentren in Deutschland. Einen Bedeutungsverlust erlebten dagegen die ehemaligen jüdischen Zentren Zülz und Glogau. Die jüdische Gemeinde in Glogau hatte vor allem unter der französischen Besatzung gelitten. Wie ihre Vorsteher in einem Brief vom 26. März 1816 Staatskanzler von Hardenberg klagten, hatte die jüdische Gemeinde, die 1807 nur noch dreihundert Familien stark war, 30.000 Reichstaler an die französischen Besatzer zu zahlen. Das Los traf die Ärmeren, denn die „Wohlhabendsten waren nach und nach von hier weggezogen“, wie es in diesem Brief heißt.9 Von 1800 bis 1848 sank die Zahl der jüdischen Einwohner Glogaus von 1.500 (circa 15 Prozent der gesamten Einwohnerschaft) auf 950 (= 6,2 Prozent), während die Breslaus von 2.900 (= 5 Prozent) auf 7.380 (= 6,7 Prozent) anstieg.10 Das jüdische Wirtschafts- und bald auch Bildungsbürgertum Breslaus bildete künftig einen wichtigen Faktor der Entwicklung des Breslauer Gesamtbürgertums. Dennoch verlief dieser Prozess nicht ohne Schwierigkeiten.11 Der Übergang vom privilegierten zum freien Markt verlangte auch von den jüdischen Unternehmern neue Strategien. Jüdische Geldleiher hatten jahrhundertelang die Rolle als Kreditgeber zumeist für den Adel und das Bürgertum gespielt. Diese Geschäfte waren zwar risikoreich, aber überschaubar gewesen. Nun aber waren die jüdischen Kaufleute als Wirtschafts 7 Zit. nach Och, Gunnar: Jüdische Schriftsteller in Breslau des späten 18. Jahrhunderts. In: Hettling, Manfred/Reinke, Andreas/Conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003, 63–73, hier 70. 8 Vgl. den Beitrag „Die Juden Breslaus im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 9 Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum Archiv 1, 75, 3394, Nr. 16: Gemeinde Glogau, Bl. 35f. 10 Jersch-Wenzel, Stefi: Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur. In: dies./Brenner/Meyer (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte, Bd. 2, 57–95, hier 64. 11 Hettling, Manfred/Reinke, Andreas: Handlungslogiken und Sinnkonstruktionen. Juden im ­Breslau der Neuzeit. In: dies./Conrads (Hg.): In Breslau, 7–21.

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subjekte den übrigen ökonomietreibenden Untertanen gleichgestellt und befanden sich damit in einer Konkurrenzsituation. Die Funktion der Finanzunternehmer änderte sich. Sie hatten nun nicht mehr einzelnen Individuen mit Kapital auszuhelfen, sondern mussten sich im aufkommenden Kapitalismus auf Investitionen großer Unternehmen einstellen, beispielsweise im Rahmen der beginnenden Industrialisierung und des Ausbaus der Infrastruktur durch den Eisenbahnbau, ferner im Zug der Ausweitung der Städte sowie der Verbesserung der Wasserwege. So gelang es dem Bankhaus Ernst Heimann, das seit den 1830er Jahren mit dem Hamburger Bankhaus M. M. Warburg und dem Frankfurter Bankhaus Rothschild zusammenarbeitete, sich mit Aktien am schlesischen Eisenbahnbau zu beteiligen, was dieses Bankhaus bald zu einem der führenden in Breslau machte. Ein ähnlicher Durchbruch im industriellen Sektor gelang dem jüdischen Unternehmer Salomon Kauffmann in Schweidnitz. Der dahinsiechenden schlesischen Textilindustrie, die weitgehend noch auf der Basis von Handarbeit produzierte, verhalf er mit seinen Erfahrungen, die er auf der Londoner Weltausstellung 1851 gewonnen hatte, zur Mechanisierung, sodass die schlesische Textilindustrie bald wieder in Deutschland konkurrenzfähig wurde.12 Es ist den jüdischen Bankiers und Industriellen entscheidend mit zu verdanken, dass die schlesische Wirtschaft aus der lang andauernden Krise zu Beginn des 19. Jahrhunderts herausfand und in den 1850er Jahren wieder zu einer der führenden Preußens wurde. In Oberschlesien engagierten sich jüdische Unternehmer in der Bergindustrie, dem Eisenbahnbau, der Lebensmittel- und Genussmittelindustrie, vor allem aber – und das in ganz Schlesien – im Metall-, Getreide-und Textilhandel. Unter ihnen zählten die Familien Pringsheim, Friedländer, Caro und Huldchinsky zu den führenden Industriellenfamilien in Schlesien, die auch darüber hinaus wirkten. Aufschlussreich ist, dass Mitglieder dieser Familien nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern auch in der Kultur und Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielten.13 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete in den schlesischen Städten, insbesondere in Breslau, das jüdische Wirtschaftsbürgertum einen bedeutenden Teil der Wirtschaftselite. Diese Elite rekrutierte sich weitgehend aus Kaufleuten oder Bankunternehmern. Hatte noch Christian Wilhelm Dohm in seinen Verbesserungsvorschlägen gegen die Neigung der Juden zum Handel polemisiert – ein Vorwurf, den Moses Mendelssohn allerdings zurückwies –, so erhielten die Handelsberufe nun in der Hardenbergschen Ära eine Aufwertung. Diese kam auch dem Sozialprestige der jüdischen Kaufleute in Breslau und anderen schlesischen Städten zugute, zumal sie auf die Werte bürgerlicher Tugenden streng achteten und mit ihrem Besitz gleichermaßen Bildung, 12 Herzig, Arno: Schlesiens Juden im Übergang von der Privilegienwirtschaft zur Marktwirtschaft um 1800. In: ders./Brämer, Andreas/Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien [im Druck]. 13 Schwerin, Kurt: Die Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben Schlesiens. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 25 (1984) 93–177, hier 114f., 126; Palica, Magdalena: Von Delacroix bis van Gogh. Jüdische Kunstsammlungen in Breslau [im Druck].



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soziales Engagement und Gemeinwohlinteresse verbanden. Dominierend blieb in Breslau zunächst das Engagement im Handel. In dieser Sparte waren 1876 fast zwei Drittel der männlichen Breslauer Juden tätig. Um 1909 ging dieser Anteil auf die Hälfte zurück; rückläufig war auch die Zahl der selbstständigen Kaufleute, während die der Angestellten, vor allem aber des Bildungsbürgertums (1876: 3,9 Prozent – 1906: 11,6 Prozent), anstieg. Mit ihrem Durchschnittseinkommen unter den Selbstständigen aus der Gruppe des gehobenen Bürgertums (Kaufleute, Fabrikanten, Bankiers) lagen sowohl 1876 als auch 1906 die jüdischen Bürger deutlich über dem der ­protestantischen und mit großem Abstand über dem der katholischen Einwohner der Stadt. Doch konzentrierte sich das Gros der jüdischen Einwohner Breslaus deutlich unterhalb der ökonomischen Elite der Stadt. Der Satz des Breslauer Ökonomieprofessors Werner Sombart in seinem bekannten Buch „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ (1905), „daß die Juden immer die reichsten Leute waren“,14 trifft für Breslau nicht zu, auch wenn – wie er ausführt – 4,3 Prozent der Breslauer Einwohner, die jüdisch waren, über 20,5 Prozent des Gesamteinkommens verfügten. Als Mitglieder des gehobenen Bürgertums beziehungsweise des gehobenen Mittelstands konnten die jüdischen Bürger im öffentlichen Leben nicht mehr übergangen werden, auch wenn Widerstände gegen die gesellschaftliche Akzeptanz im nichtjüdischen Bürgertum durchaus vorhanden waren. Dies wird deutlich im bürgerlichen Vereinswesen, das sich seit der Revolution von 1848 auch für Juden öffnete. Soweit noch Widerstände existierten – wie beispielsweise in der Zwingergesellschaft – reagierten jüdische Bürger mit der Gründung öffentlicher Bürgervereine, so des Breslauer Humboldt-Vereins, in dem sich bis 1914 das liberale Bürgertum Breslaus sammelte. Der Humboldt-Verein präsentierte ein ausgezeichnetes Bildungsangebot und war – wie der Breslauer Stadtarchivar Heinrich Wendt schreibt – in der Volksbildung unbestritten führend. Wie hier, so leistete das jüdische Bürgertum auch in anderen Breslauer Vereinen einen wertvollen Beitrag zur bürgerlichen Bildung. Dabei konnten die in diesen Vereinen engagierten jüdischen Bürger auf eine wichtige Ressource, nämlich das sich herausbildende jüdische Bildungsbürgertum, insbesondere an der Universität, zurückgreifen.15 Gegen die gesellschaftliche Akzeptanz jüdischer Bürger sträubte sich vor allem das konservative Bürgertum in der Zwingergesellschaft, die als kaufmännische Ressource (Gesellschaft) gegründet worden war, in der jedoch in den 1840er Jahren die Kaufleute nur noch eine Minderheit bildeten, nachdem hohe Staatsbeamte, Offiziere und Adlige die Überhand gewonnen hatten. Zahlreiche Mitglieder kamen zudem aus dem schlesi14 Zit. nach Hettling, Manfred: Sozialstruktur und politische Orientierung der jüdischen Bevölkerung im Kaiserreich. In: ders./Reinke/Conrads (Hg.): In Breslau, 113–130, hier 114f.; Loose, Ingo: Die Juden in der Wirtschaft Schlesiens von der Reichsgründung 1871 bis zur Shoah [im Druck]. 15 Rahden, Til van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860–1925. Göttingen 2000, 112; StolarskaFronia, Małgorzata: Jüdische Künstler aus Breslau [im Druck].

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schen Umland, nicht aber aus Breslau. Als Vertretung der Breslauer Kaufmannschaft hatte um 1850 die Zwingergesellschaft längst ihre Bedeutung eingebüßt. Dies lag an der von dem jüdischen Bankier Ernst Heimann initiierten Breslauer Börse und Handelskammer.16 Auch wenn die jüdische Wirtschaftselite im politischen Leben eine wichtige Rolle spielte – hier besonders in den liberalen Parteien Breslaus –, fiel es selbst den säkularen liberalen Bürgern Breslaus schwer, die jüdische Religion als gleichrangig neben den christlichen Konfessionen anzuerkennen. Der damals in Deutschland einmalige Versuch der Gründung eines Gymnasiums für Protestanten, Katholiken und Juden beweist dies. Der Streit 1868 und in den folgenden Jahren um die Errichtung eines neuen Gymnasiums, des Johannesgymnasiums, durch die städtischen Behörden fand zunächst zwischen Katholiken und Protestanten statt, wobei die katholische Seite eine ­dezidiert antiliberale und antisemitische Tendenz gegen die angebliche „Verjudung“ der Breslauer Kommunalpolitik vertrat. Der spätere Berliner Antisemitismusstreit von 1878 scheint hier vorweggenommen, wenn in der katholischen Presse dagegen polemisiert wurde, „dass sich das jüdische und antichristliche Element vorwiegend auf die Lehrstühle“ schwinge, um „der Jugend das Zaubertränkchen des Fortschritts ins Verderben [...] [zu] mischen“.17 Hier klingt früh (1865) der für die Kulturkampfzeit ab 1872 typische katholische Antisemitismus an, der sich in diesem Fall gegen die Bestrebungen des Breslauer Magistrats richtete, „den von der Stadt zu errichtenden höheren Lehranstalten einen besonderen konfessionellen Charakter nicht beizulegen“18 – so der Beschluss des Magistrats. Dies ermöglichte auch die Anstellung jüdischer Lehrer an öffentlichen Schulen, was durchaus im Sinn der jüdischen Stadtverordneten war, die darin einen Akt der Gleichberechtigung sahen. Die liberal bestimmte Stadtverordnetenversammlung beschloss dann auch 1869, dass die von der Stadt einzurichtenden höheren Schulen und Mittelschulen keinen besonderen konfessionellen Charakter erhalten und auch jüdische Lehrer dort eine Anstellung finden sollten. Dieser Beschluss wurde jedoch von der konservativen Ministerialbürokratie in Berlin gestoppt, zumal nun auch der rechte nationalliberale Flügel der Breslauer Stadtverordnetenversammlung unter Leitung des Historikers und Universitätsprofessors Richard Roepell für eine allgemeine christliche Grundlage der neuen Bildungsstätten plädierte. Mit dem Wechsel im Berliner Kultusministerium, das nun dem aus Schlesien stammenden Liberalen Adalbert Falk unterstand, der in der Folgezeit mittels der Kulturkampfgesetze auch das Schulwesen zu säkularisieren bestrebt war, bekam der Breslauer 16 Rahden: Juden, 118; Webersinn, Gerhard: Heimann, Ernst, Bankier, 13.5.1798–13.5.1867 Breslau (israelitisch). In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8. Berlin 1969, 270f.; Łagiewski, Maciej: Das Pantheon der Breslauer Juden. Der jüdische Friedhof an der Lohestraße in Breslau. Berlin 1999, 157f. 17 Rahden: Juden, 196f.; Stern, Fritz: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007, 47. 18 Rahden: Juden, 198f.



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Magistrat grünes Licht für die Errichtung eines nicht-konfessionsgebundenen Gymnasiums. Am 14. Oktober 1872 wurde das Johannesgymnasium eröffnet, an dem nun auch jüdische Lehrer unterrichteten und jüdische Religionslehre als Prüfungsfach im Abitur anerkannt wurde. Die jüdische Religion war damit in Breslau neben der protestantischen und der katholischen als gleichberechtigt anerkannt.19 Solange der politische Liberalismus in Breslau vorherrschend war – nämlich bis 1918 –, war der bürgerliche Antisemitismus nicht so virulent wie in anderen Städten. 1897 verlieh Breslau als erste Großstadt in Deutschland die Ehrenbürgerwürde an einen jüdischen Bürger, nämlich den Botaniker Ferdinand Julius Cohn.20 Im ­bereits ­zitierten Berliner Antisemitismusstreit 1878 wurden von dem Breslauer Historiker Heinrich Graetz und dem dortigen liberalen Rabbiner Manuel Joël wichtige Argumente gegen Heinrich von Treitschke in Feld geführt, die wohl auch das liberale Bürgertum nicht unbeeindruckt ließen.21 In diesem geistigen und politischen Klima wurde Breslau im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu einem der bedeutendsten jüdischen Zentren in Deutschland. Die Vertreter des immer wieder aufflammenden Antisemitismus verkannten den Beitrag jüdischer Unternehmer, Kaufleute, Wissenschaftler, Künstler und Intellektueller zur industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes. Ohne diesen Beitrag hätte Schlesien kaum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen solchen Aufschwung genommen. Das aber wollten die Antisemiten nicht wahrhaben. Gerade im konservativen und nationalliberal orientierten Bürgertum war der Antisemitismus ein kultureller Code, wie die israelische Historikerin Shulamit Volkov dies treffend kennzeichnet.22 Wie der bekannte „Staatshistoriker“ Treitschke 1878 in seiner bekannten Polemik meinte, sicherten sich die Juden in Wissenschaft, Ökonomie und Kultur die einträglichsten Positionen und verdrängten die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Den prägnantesten Ausdruck fand der bürgerliche Antisemitismus in Schlesien und darüber hinaus in dem wohl bekanntesten Werk des schlesischen Autors Gustav Freytag, dem 1855 zum ersten Mal erschienenen Roman „Soll und Haben“. Die politische Tendenz dieses Romans sollte die Kraft des deutschen Bürgertums und eines leistungsfähigen Bauernstands herausstellen, die nicht mehr kreditfähigen Großgrundbesitzer aber, die sich zudem mit jüdischen Wucherern einließen, als dem Untergang geweiht anprangern. Wie die Lebenserinnerungen des aus Breslau stammenden Nobelpreisträgers Max Born zeigen, wurde dieses Buch auch in jüdischen Familien gern gelesen. Offensichtlich identifizierten sich die Juden des Breslauer Bürgertums nicht mit den 19 Ebd. 20 Ebd., 302f. 21 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Joël, Manuel: Brief an Herrn von Treitschke. In: Boehlich, Walter (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt a. M. 1965, 13–25; Graetz, Heinrich: Erwiderung an Herrn von Treitschke. Ebd., 25–31. Zum katholischen Antisemitismus in Breslau vgl. Blaschke, Olaf: „Das Judentum isoliren!“ Antisemitismus und Ausgrenzung in Breslau. In: Hettling/Reinke/Conrads (Hg.): In Breslau, 167–184. 22 Volkov, Shulamit: Die Juden in Deutschland 1780–1918. München 1994, 120.

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negativen jüdischen Stereotypen bei Gustav Freytag, sondern mit dem aufstrebenden deutschen Bürgertum.23 Die Herausforderung der Moderne führte innerjüdisch in Deutschland zu einer Zerreißprobe. Eines der Hauptzentren in dieser Auseinandersetzung war Breslau. In dem sogenannten Geiger-Tiktin-Streit in den 1840er Jahren, benannt nach den beiden Breslauer Rabbinern und Kontrahenten, standen sich das moderne Reformjudentum und das traditionelle orthodoxe Judentum gegenüber. Beide Flügel hatten in der Stadt ihre Tradition. Bereits in den 1780er Jahren hatte sich als erste Gründung dieser Art in Deutschland in Breslau ein aufgeklärter Zirkel, die „Gesellschaft der Brüder“, gebildet, in der sich Vertreter generalprivilegierter Juden, Kaufleute und Ärzte zusammengefunden hatten. Die Gesellschaft strebte eine soziale und kulturelle Annäherung zwischen Juden und Nichtjuden in der Stadt an. Auch die Reform des traditionellen Gottesdienstes war einer ihrer Programmpunkte. Ihr standen die Orthodoxen in den diversen Synagogen gegenüber, an ihrer Spitze der seit 1821 als Rabbiner angestellte Kaufmann Salomon Abraham Tiktin, der seit seinem Amtsantritt alle Gottesdienstreformen abgeblockt hatte. Der Gemeindevorstand rekrutierte sich dagegen aus reformbereiten Mitgliedern, die 1841 die Wahl des reformorientierten Rabbiners Dr. Abraham Geiger als Hilfs- beziehungsweise als zweiter Rabbiner durchsetzten. Die bald zwischen Tiktin und Geiger, unterstützt von ihren Anhängern, einsetzende Auseinandersetzung hatte, wie Michael A. Meyer in seinem Buch „Antwort auf die Moderne“ schreibt, symbolische Züge. Tiktin galt als Vertreter des unverrückbaren Traditionalismus, Geiger als Vertreter der Moderne. Mit der Auseinandersetzung in Breslau – so sahen es beide Parteien – entschied sich gleichsam für das deutsche Judentum, ob in Zukunft die traditionelle oder die reformbereite Richtung das Sagen haben sollte. Nach langen, nicht immer rücksichtsvoll geführten Auseinandersetzungen stand am Ende die Teilung der Gemeinde in einen orthodoxen und einen Reformflügel, die sich beide als Vereine organisierten, womit Breslau für andere jüdische Gemeinden in Deutschland ein Vorbild war. Beide Richtungen hatten ihre eigenen Synagogen: die Orthodoxen die 1827/29 von Carl Ferdinand Langhans entworfene klassizistische Storchensynagoge, die reformorientierten Liberalen die von dem bekannten jüdischen Architekten Edwin Oppler zwischen 1865 und 1871 errichtete repräsentative neoromanische Synagoge „Am Anger“. Über beiden Vereinen stand der Vorstand, der die nicht-kultischen Angelegenheiten der Gemeinde (Finanzfragen, Schulen etc.) regelte.24

23 Herzig, Arno: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 2012, 168–170. 24 Gotzmann, Andreas: Der Geiger-Tiktin-Streit. Trennungskrise und Publizität. In: Hettling/­ Reinke/Conrads (Hg.): In Breslau, 81–98; Meyer, Michael A.: Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum. Wien/Köln/Weimar 2000, 166; Brämer, Andreas: „Breslau ist in vielfacher Beziehung Vorort und Muster für Schlesien [...]“. Religiöse Entwicklungen in den jüdischen Gemeinden einer preußischen Provinz im 19. Jahrhundert [im Druck].

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In den Jahren von 1866 bis 1872 entstand nach einem Entwurf von Edwin Oppler (1831–1880) in Breslau die Synagoge "Am Anger". Sie gilt als Muster für alle weiteren Synagogenbauten ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die im Stil der Neoromanik erbaut wurden mit einem Zentralgrundriss und einer großen zentralen Kuppel sowie vier Ecktürmen. Andere Architekten entwarfen nach diesem Vorbild zum Beispiel die Synagoge in Glogau. Mit dieser repräsentativen Bauform dokumentierte das schlesische jüdische Bürgertum seinen sozialen Aufstieg und sein gestiegenes Selbstbewusstsein.

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Noch durch eine weitere Institution lieferte die jüdische Gemeinde Breslau einen wichtigen Beitrag für das moderne Judentum in Deutschland, nämlich durch die aufgrund einer Stiftung des jüdischen Breslauer Kaufmanns Jonas Fränckel ermöglichte Gründung der ersten modernen Jüdisch-Theologischen Hochschule (1854). Sie orientierte sich in ihrer Lehrvermittlung nicht an den traditionellen Jeschiwen, sondern am modernen Universitätsbetrieb und wurde damit zum Vorbild für weitere jüdische Hochschulgründungen in Europa und Amerika. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung in Breslau vertrat ihr erster Direktor Zacharias Frankel (1801–1875) eine vermittelnde Position zwischen Reform und Orthodoxie, die für seine Schüler als Rabbiner in den deutschen und österreichischen jüdischen Gemeinden zur Leitlinie wurde.25 Bedeutende Rabbiner und Gelehrte studierten oder unterrichteten an diesem Institut. Neben den Historikern Heinrich Graetz und Marcus Brann waren es bedeutende Talmudforscher und Philosophen, die hier lehrten.26 Unter den Schülern erlangten zahlreiche Rabbiner und Gelehrte internationalen Ruf: Moritz Güdemann, Oberrabbiner in Wien und Verfasser der noch heute als Standardwerk gültigen „Geschichte des Erziehungswesens und der Kultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit“;27 ferner Theodor Kroner, Rabbiner und Kirchenrat [!] in Stuttgart;28 die Historiker Guido Kisch, Ismar Elbogen und Ismar Freund; nicht zuletzt der wohl bedeutendste deutsche Rabbiner des 20. Jahrhunderts: Leo Baeck.29 Juden waren in Deutschland trotz hervorragender Leistungen auf ihrem Gebiet im 19. Jahrhundert Berufungen als ordentliche Professoren an Universitäten verwehrt. Sie mussten konvertieren, und viele taten dies auch, um eine höhere akademische Karriere zu erreichen, so in Breslau einer der ersten Studenten der 1811 neu gegründeten Universität: der Philosoph Christlieb Julius Braniß, der 1822 konvertierte und 1854/55 und 1860/61 Rektor der Breslauer Universität war;30 ferner der Mediziner August W. E. Henschel, der 1852/53 dort Rektor war. Oder aber sie gingen ins Ausland wie der Physiologe Gabriel Valentin, der trotz der Empfehlung von Alexander von Humboldt in Breslau keine Professur erlangte, jedoch mit 23 Jahren einen Lehrstuhl in Bern erhielt.31 Der Breslauer Museumsdirektor Maciej Łagiewski hat für eine Ausstellung 1990 die bedeutenden jüdischen Professoren in zwanzig Porträts vorgestellt, darunter den 25 ����������������������������������������������������������������������������������������� Brämer, Andreas: Die Anfangsjahre des Jüdisch-Theologischen Seminars. Zum Wandel des Rabbinerberufs im 19. Jahrhundert. In: Hettling/Reinke/Conrads (Hg.): In Breslau, 99–112; Weczerka, Hugo: Die Herkunft der Studierenden des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau 1854–1938. In: Zeitschrift für Ostforschung 35 (1986) 88–139. 26 Schwerin: Juden, 111. 27 Wistrich, Robert S.: Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs. Wien/Köln/Weimar 1999, 104–110. 28 Herzig, Arno: Theodor Kroner (1845–1923). In: ders. (Hg.): Schlesier, 196–201. 29 Meyer, Michael A.: Leo Baeck und Schlesien [im Druck]. 30 Scholtz, Gunter: „Historismus“ als spekulative Geschichtsphilosophie. Christlieb Julius Braniß (1792–1873). Frankfurt a. M. 1973. 31 Schwerin: Juden, 166.



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Historiker Jacob Caro und den Orientalisten Siegmund Fränkel.32 Zu den prominenten Studenten der Universität zählen einige Persönlichkeiten, die für die politische Kultur Deutschlands von großer Wichtigkeit waren, so der in Breslau geborene Ferdinand Lassalle, Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, der auf dem Breslauer jüdischen Friedhof an der Lohestraße begraben liegt.33 Durch die Stein-Hardenbergschen Reformgesetze bedingt, hatten sich in fast ­allen Städten Schlesiens jüdische Gemeinden etabliert, deren Mitglieder entscheidend zur Entwicklung des schlesischen Bürgertums beitrugen. Infolge des preußischen Gesetzes vom 23. Juli 1847 „Die Verhältnisse der Juden betreffend“, das unter anderem die Bildung sogenannter Synagogenbezirke vorschrieb – das bedeutete die Zusammenfassung mehrerer jüdischer Gemeinden –, hatten sich in Schlesien 55 solcher Bezirke gebildet, davon allein 38 im oberschlesischen Regierungsbezirk Oppeln.34 Zahlreiche der berühmten schlesischen jüdischen Künstler und Schriftsteller kamen nicht aus Breslau, sondern aus den Provinzstädten. So stammte zum Beispiel der bedeutende jüdische Komponist Schlesiens, Eduard Tauwitz (1812–1894), aus einer Glatzer Musikerfamilie. Obgleich er Jude war, wurde er mit sieben Jahren unter die Glatzer (katholischen) Salveknaben aufgenommen und erhielt von dem dortigen Organisten der (­katholischen) Pfarrkirche Musikunterricht. Von 1839 bis 1843 wirkte er als Kapellmeister in Riga, wo zur selben Zeit sein Landsmann Karl von Holtei das Theater leitete. Seine über zweihundert Lieder, die in seiner Breslauer Zeit als Musikdirektor und Chormeister am Stadttheater entstanden, erfreuten sich vor allem bei den Männerchören, aber auch bei „der kleinen Straßenjugend“ großer Beliebtheit. Später (ab 1846) wirkte er als Musikdirektor in Prag, wo er Opern und auch eine Messe (1863) komponierte. Die Stadt Glatz setzte ihm an der Minoritenkirche ein Denkmal, das nach 1933 die Nationalsozialisten beseitigten.35 Der bekannte Architekt Edwin Oppler, der die neue Synagoge in Breslau (1871) gebaut hatte und der im Kaiserreich als „Modearchitekt“ galt, kam aus Oels.36 Der expressionistische Maler und Dichter Ludwig Meidner (1884–1966), dessen „Apokalyptische Landschaften“ die Katastrophen des Ersten Weltkrieges spiegeln, wurde in Bernstadt geboren. „Ich bin aus Mittelschlesien, lege Wert von dort zu sein, nannte mich sogar gerne einen mittelschlesischen Patrioten [...]. Ich bin Jude und aus 32 ������������������������������������������������������������������������������������� Łagiewski, Maciej: Die Breslauer Juden 1850–1945/Wrocławscy Żydzi 1850–1945 [Ausstellungskatalog]. St. Augustin 1990, 102–110. 33 Na’aman, Shalomo: Lassalle. Hannover 1970; Łagiewski: Das Pantheon der Breslauer Juden. Der jüdische Friedhof an der Lohestraße in Breslau. Berlin 1999, 135f. 34 Herzig: Schlesien, 140; Dudek, Beata: Das Wirtschaftsleben der Juden in Schlesien am Beispiel der Städte Beuthen/OS und Glogau [im Druck]; Heinsohn, Kirsten: Deutsche Juden in Oppeln 1871–1943 [im Druck]. 35 Scheunchen, Helmut: Tauwitz, Glatzer Musikerfamilie. In: Hoffmann-Erbrecht, Lothar (Hg.): Schlesisches Musiklexikon. Augsburg 2001, 736f. 36 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Rohde, Saskia: Edwin Oppler. In: Menzel, Josef Joachim (Hg.): Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2001, 220–227; Kos, Jerzy K: Schlesische Synagogen. Bestandsaufnahme einer zerstörten Baugattung [im Druck].

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einem Geschlecht, das seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in der Gegend von Namslau, Oels und Bernstadt zu Hause war“,37 schreibt er 1960, nachdem er aus dem Londoner Exil zurückgekehrt war.38 Ins Exil gehen musste auch der wohl bedeutendste jüdische Dichter aus Schlesien, Arnold Zweig. Er kam als Sohn eines Sattlermeisters in Glogau zur Welt. In seinem Werk kommt seine jüdisch-kleinbürgerliche Welt zum Ausdruck. Seine Vorfahren waren Landjuden und Schankpächter in Oberschlesien.39 Aus Glogau stammte auch der bekannte Althistoriker Eduard Meier (1796–1855), der allerdings 1817 konvertierte, um Professor werden zu können.40 Auch von den fünf jüdischen Nobelpreisträgern, die aus Schlesien stammten, kamen drei aus der Provinz: Der Mediziner Paul Ehrlich (1854–1915), Nobelpreis 1908, stammte aus Strehlen. Der Physiker Otto Stern (1888–1969), Nobelpreis 1943, war der Sohn eines Mühlenbesitzers und Getreidehändlers aus Sohrau/OS, und der Biochemiker Konrad Bloch (1912–2000), Nobelpreis 1964, kam in Neisse zur Welt. Die beiden anderen Nobelpreisträger, der Chemiker Fritz Haber (1868–1934), Nobelpreis 1919, und der Physiker Max Born (1882–1970), Nobelpreis 1954, stammten aus Breslau.41 Wenn auch bedeutende jüdische Künstler aus der Provinz kamen, so stellte doch auch Breslau aufgrund seiner kulturellen Möglichkeiten bedeutende jüdische Künstler, Literaten und Wissenschaftler, so die Maler Eugen Spiro (1874–1972),42 Clara Sachs (1862–1921)43 und Isidor Aschheim (1891–1968);44 ferner die Autoren Alfred Kerr (1867–1948),45 Paul Mühsam (1876–1960),46 Emil Ludwig (1881–1948),47 Arthur Silbergleit (1881–1943)48 und nicht zuletzt Walter Meckauer (1889–1966).49 Neben dem künstlerischen und wissenschaftlichen Beitrag der schlesischen Juden zur Kultur 37 Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1–3. München 1960–1974, hier Bd. 2, 331. 38 Meyer, Michael A.: Ludwig Meidner (1884–1966). Künstler und Jude. In: Vorträge aus dem Warburg-Haus 5 (2001) 121–164. 39 Müller, Hans-Harald: Arnold Zweig (1887–1968) [im Druck]. 40 Lucas, Franz D./Heitmann, Margret: Stadt des Glaubens. Geschichte und Kultur der Juden in Glogau. Hildesheim/Zürich/New York 1991, 448–451. 41 Schwerin: Juden, 123. 42 Museum Ostdeutsche Galerie Regensburg. München/London/New York 1999, 48f.; Łagiewski, Maciej: Breslauer Juden 1850–1944. Wrocław 1996, 70f. 43 Ebd., 68f. 44 Sachs, Rainer: Aschheim, Isidor. In: Lexikon der bildenden Künstler und Kunsthandwerker Schlesiens bis 1945, Bd. 1. Wrocław 2001, 125f.; Werkstätten der Moderne. Lehrer und Schüler der Breslauer Akademie 1903–1932 [Ausstellungskatalog]. Halle/Saale 2004, 179. 45 Winter, Hans-Gerd: Alfred Kerr (1867–1948). In: Herzig (Hg.): Schlesier, 242–247. 46 Schwerin: Juden, 159; Killy, Walther: Mühsam, Paul, Schriftsteller. In: ders. (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1–13. München 1995–2003, hier Bd. 7, 235; Łagiewski: ­Pantheon, 177f. 47 Lubos: Geschichte, Bd. 2, 306–308. 48 ������������������������������������������������������������������������������������������� Levi-Mühsam, Else (Hg.): Arthur Silbergleit und Paul Mühsam. Zeugnisse einer Dichterfreundschaft. Ein Zeitbild. Würzburg 1994. 49 ������������������������������������������������������������������������������������������� Hildebrandt, Klaus: Walter Meckauer (1889–1966). In: Menzel (Hg.): Schlesier, 375–383; Segner, Michael: Walter Meckauer (1889–1966) [im Druck].



Der Beitrag der schlesischen Juden zur Kultur des Landes

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des Landes war es der mediale Bereich, den jüdische Unternehmer in Schlesien durch Verlagsgründungen entscheidend förderten. Dies geschah bereits in der Zeit vor der Aufklärung.50 Im 19. und 20. Jahrhundert war es Carl Heymann in Glogau, später dann in Berlin. Der Verlag Carl Heymann KG ist heute einer der bedeutendsten Fachverlage für Rechts- und Staatswissenschaft.51 Aus Glogau kam auch der Zeitschriftenverleger Friedrich Wilhelm Levysohn.52 In Breslau waren es die Verleger Max Marcus und Felix Priebatsch – Letzterer auch ein bedeutender Historiker –, die das Verlagshaus M u. H Marcus beziehungsweise die Priebatsche Buchhandlung gründeten.53 Als bedeutendster Literatur- und Zeitungsverleger in Breslau etablierte sich Salo Schottlaender.54 Das Schicksal der meisten schlesischen Nobelpreisträger und Künstler, die ihr Leben nur durch den Gang ins Exil retten konnten, macht deutlich, dass die blühende schlesische Kultur- und Wissenschaftsszene von den Deutschen selbst vernichtet wurde. Mit der Verdrängung und Vernichtung ihrer jüdischen Landsleute zerstörten die deutschen Schlesier auch einen großen Teil ihrer eigenen Kultur. Erste Anzeichen dafür gab es schon nach dem Ersten Weltkrieg. Zwar blieb das schlesische Judentum auch nach dem Ersten Weltkrieg sowohl auf dem wirtschaftlichen als auch auf dem geistigen Gebiet mit führend unter dem deutschen Judentum; doch ist ein gewisses Krisenbewusstsein deutlich, das aufgrund von antisemitischen Ereignissen wie 1923 der Ermordung des jüdischen Journalisten Schottlaender durch rechte Freikorps verstärkt wurde.55 Wie überall in Deutschland und später in Europa vernichteten auch in Breslau die Nationalsozialisten das jüdische Leben. Auch in dieser Stadt gab es trotz der liberalen Tradition keinen nennenswerten Widerstand. Eindrucksvolle Zeugnisse der jüdischen Memorialliteratur geben Zeugnis von den jüdischen Schicksalen in Breslau und Schlesien nach 1933, darunter vor allem die bis 1941 geführten Tagebücher des ehemaligen Studienrats am Breslauer Johannesgymnasium Willy Cohn. Er wurde noch im selben Jahr mit seiner Familie nach Kaunas deportiert und dort ermordet.56 Die Tagebücher bieten eindrucksvolle Zeugnisse für die allmähliche Verdrängung der Breslauer und schlesischen Juden aus der Öffentlichkeit bis zur Vernichtung in den 1940er Jahren. Die akkulturierten jüdischen Bürger Schlesiens konnten nur schwer begreifen, was vor sich ging. Sie glaubten noch weiter 50 Doktór, Jan/Bendowska, Magdalena: Die jüdischen Druckereien und das jüdische Verlagswesen in Schlesien [im Druck]. 51 Lucas/Heitmann: Stadt, 430–435. 52 Ebd., 444–448. 53 Schwerin: Juden, 146–148. 54 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Bonter, Urszula: Die Breslauer Verlagsbuchhandlung von S. Schottlaender. Eine jüdische Verlagsgründung in der frühen Phase des modernen Antisemitismus [im Druck]. 55 Stern: Fünf Deutschland, 79. 56 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. den Beitrag „Die NS-Zeit im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur“ in diesem Band. Conrads, Norbert: Ein Zeuge des deutschen Judentums in Breslau. Willy Cohn (1888–1941) und seine bewegenden Tagebücher. In: Eiden, Maximilian (Hg.): Von Schlesien nach Israel. Juden aus einer deutschen Provinz zwischen Verfolgung und Neuanfang. Görlitz 2010, 23–33.

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an den deutschen Kultur- und Rechtsstaat, als ihn die meisten nichtjüdischen Bürger in Schlesien wie in ganz Deutschland ohne große Skrupel zerstört hatten. Ein Zeugnis hierfür bieten die Lebenserinnerungen des aus Breslau stammenden bekannten Soziologen Norbert Elias.57 Ende 1938 besuchten ihn seine Eltern aus Breslau in England. Obwohl unmittelbar zuvor das Novemberpogrom stattgefunden hatte, wollten sie wieder nach Breslau zurückkehren. Die Begründung des Vaters lautete: „Was können sie mir tun [...] ich habe nie jemandem unrecht getan, habe mich nie in meinem Leben gegen ein Gesetz vergangen.“ Norbert Elias schreibt: „Ich beschwor [meine Eltern, d. Vf.], zu mir nach England zu ziehen“, und kommentiert resigniert das Verhalten seines Vaters: „Er war ein Deutscher. Er hatte immer den Gesetzen gehorcht. Was konnte eine deutsche Regierung ihm anhaben? So fuhren die alten Herrschaften in ihrer Unschuld [...] zurück.“58 Die wenigen jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager, die 1945 in die schlesischen Städte zurückkamen, mussten wie ihre nichtjüdischen deutschen Zeitgenossen Schlesien 1946 verlassen. Die siebenhundertfünfzigjährige Geschichte des deutschen Judentums in Schlesien ging damit endgültig unter. Allerdings bleiben seine Zeugnisse in der Kunst, Literatur, Malerei, Architektur und Wissenschaft erhalten. Zu Recht stellt der Historiker Kurt Schwerin in seinem summarischen Überblick über die Leistungen der schlesischen Juden schlussfolgernd fest: „Nur in wenigen anderen Gebieten Deutschlands nahmen die Juden in solch umfassender Weise am wirtschaftlichen, kulturellen und öffentlichen Leben teil und bewahrten der Provinz ihrer Herkunft oder ihres Wirkungskreises solch eine innige Verbundenheit.“59

57 Korte, Hermann: Norbert Elias (1897–1990). In: Herzig (Hg.): Schlesier, 270–276. 58 Elias, Norbert: Notizen zum Lebenslauf. In: Norbert Elias über sich selbst. Frankfurt a. M. 1990, 166. 59 Schwerin: Juden, 174.





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18. Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941) Wer sich mit dem Leben des Breslauer Historikers Willy Cohn (1888–1941) befasst, der wird vielleicht das Exzeptionelle, das Außerordentliche vermissen. Obgleich als Historiker nicht unbedeutend, so zählt er doch nicht zu den großen jüdischen Historikern Breslaus wie Heinrich Graetz oder Marcus Brann. Als Opfer der Shoah aber gewinnt sein Leben etwas Exzeptionelles. Es mag uns helfen, das Ungeheure etwas verständlicher zu machen; denn es konfrontiert uns mit dem schlimmsten Verbrechen in der Geschichte, das aus einem Kulturkreis hervorging, dem sich Willy Cohn durch Herkunft, Erziehung und Geschichte eng verbunden fühlte. Seine „Lebenserinnerungen“, an denen er bis kurz vor seiner Deportation intensiv arbeitete und um deren „Rettung“ er sich angestrengt bemühte – die Rettung der 3.453 Seiten gelang Gott sei Dank –, sollten, wie er schlicht am 20. November 1938 seinem Tagebuch anvertraut, „die Entwicklung eines Juden aus dem nun untergehenden deutschen Kulturkreis festhalten“.1 Das Ende dieses Kulturkreises, dem er sich zugehörig fühlte, von dem er sich aber trennen musste, stand ihm vor Augen, als er sich nach dem Sinn von Geschichte und von historischer Überlieferung fragte. Was vermittelte ihm, dem gläubigen Juden, engagierten Zionisten und ambitionierten Historiker, in diesem Chaos noch einen Sinn?2 Obgleich er bei aller Akkulturation in seinem Glauben und der Zielsetzung jüdischer Geschichte eine feste Orientierung besaß, fiel es ihm nicht leicht, nach 1933 eine neue Identität zu finden: er als Jude und die anderen – „die arischen Menschen“. Trotz dieser Identität rissen nach 1933 die Kontakte nicht ab, ja man hat als Leser den Eindruck, dass sie sich vor der Katastrophe noch intensivierten, so wenn er am 3. Februar 1941 von einer Unterhaltung mit dem Milchhändler berichtet, der ihn „in ein Gespräch verwickelt“, und Willy Cohn erstaunt feststellt: „Das tun die Arier jetzt sehr gern, weil sie hoffen, eher von uns eine Meinung zu hören, wie es wirklich ist.“3 Vor allem bestanden noch enge Kontakte zu den Wissenschaftlern und Angestellten des Domarchivs und der Dombibliothek, die 1 In Auszügen erschienen Willy Cohns Tagebücher, herausgegeben von Joseph Walk, bisher in zwei Auflagen: „Als Jude in Breslau – 1941“ (Aus den Tagebüchern von Studienrat a. D. Dr. Willy Israel Cohn). Jerusalem 1975. Diese Ausgabe mit einem englischen preface von Ruth Atzmon-Cohn und einer englischen introduction des Herausgebers Joseph Walk war initiiert worden vom „Verband ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel“ und der Bar-Ilan University, Institute for the Research of Diaspora Jewry. Die zweite Auflage mit deutschem Vorwort und deutscher Einführung erschien 1984 im Bleicher-Verlag Gerlingen. Inzwischen ist eine vollständige und ausgezeichnet kommentierte Ausgabe der Tagebücher erschienen. Vgl. Cohn, Willy: Kein Recht, nirgends. Tagebücher vom Untergang des Breslauer Judentums 1933–1941. Hg. v. Norbert Conrads. Köln/ Weimar/Wien 2006, 550 (Zitat). 2 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Zu seiner Biografie vgl. Conrads, Norbert: Einleitung. In: Cohn, Willy: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/Wien 1995, 1–15. Ferner die Einleitung von Norbert Conrads in Cohn: Kein Recht nirgends, IX–XXX. 3 Cohn: Kein Recht nirgends, 898f.

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Eine der wichtigsten Quellen zum Leben der deutschen Juden unter dem Nationalsozialismus sind die Tagebücher des 1941 in Kaunas von den Deutschen ermordeten Breslauer Studienrats Willy Cohn.



Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941)

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ihm bis zu seinem Ende ein wissenschaftliches Arbeiten ermöglichten. Dennoch blieb die Trennung. Bevor wir uns mit den hier aufgeworfenen Fragen näher befassen: zuerst einige biografische Anmerkungen zu dem Historiker Willy Cohn. Er wurde am 12. Dezember 1888 in Breslau geboren. Wie zahlreiche Mitglieder des Breslauer jüdischen Establishments, auch des intellektuellen, war sein Vater aus der Provinz Posen in die Odermetropole gekommen und hatte sich als Kaufmann am Ring etabliert. Die Lage des Geschäfts lässt auf Wohlstand schließen. Cohns Mutter entstammte der Breslauer Musikverlegerfamilie Hainauer. Die Familie war liberal. In Breslau bedeutete dies: Sie besuchte an den hohen Feiertagen die Neue Synagoge, damals die größte Synagoge Deutschlands. Nach dem Besuch des Breslauer Johannesgymnasiums (1895–1906) studierte Cohn in Heidelberg und Breslau Geschichte und Germanistik (1906–1911). In seiner Vaterstadt wurde er im Alter von 22 Jahren mit einer Arbeit über die normannisch-sizilische Flotte promoviert. Der Normannen- beziehungsweise Stauferstaat Süditaliens spielte später in seinen Forschungen eine wichtige Rolle, so vor allem das Zeitalter Kaiser Friedrichs II., was ihm den Spitznamen „Normannen-Cohn“ einbrachte.4 Eine wissenschaftliche Laufbahn an der Universität oder der Pädagogischen Akademie ließ sich nicht realisieren. Eine Berufung als Geschichtsprofessor an die Pädagogische Akademie Breslau, bei der Cohn 1930 in die engere Wahl gezogen worden war, wäre wohl zustande gekommen, „wenn er nicht“, wie er zu Recht vermutete, „Jude gewesen wäre und den Namen Cohn getragen hätte“.5 Trotz der Liberalisierung der Lehrerausbildung in der Weimarer Republik spielten gerade dort konfessionelle Gesichtspunkte eine wichtige Rolle. Nach seinem Staatsexamen 1912 ging er in den Schuldienst und wurde Lehrer an seiner alten Schule, dem Johannesgymnasium. Dieses gehörte zwar nicht zu den alten Breslauer Traditionsgymnasien, war aber in seiner Art als „Simultangymnasium“ einmalig, weil in ihm dem evangelischen, katholischen und jüdischen Bekenntnis das gleiche Recht prinzipiell eingeräumt wurde. Willy Cohn stellte einmal stolz fest, dass „die meisten tüchtigen Breslauer“ von dieser Schule kamen.6 Wenn man an Schüler wie Emil Ludwig, Siegfried Marck, Norbert Elias, Walter Laqueur und Walter Boehlich denkt, ist das sicher nicht übertrieben. Man könnte glauben, dass Willy Cohn nach der nicht zustande gekommenen wissenschaftlichen Karriere nun den Typ Lehrer abgegeben hätte, der als verhinderter Privatdozent nur widerwillig unterrichtete, ein Typ, wie er ja häufig in der Literatur begegnet. Doch das Gegenteil war der Fall, wie wir von seinen Schülern wissen. Wenn man 4 Conrads: Einleitung. In: Cohn: Verwehte Spuren, 6f.; zur Geschichte der Breslauer Juden im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925. Göttingen 2000; Ziątkowski, Leszek: Die Geschichte der Juden in Breslau. Wrocław 2000, 80f. 5 Zit. nach Conrads: Einleitung. In: Cohn: Verwehte Spuren, 7. 6 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd.; zur Einschätzung der Situation der Juden in Breslau durch Norbert Elias vgl. Korte, Hermann: Norbert Elias in Breslau. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie 43 (1991) 3–11.

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sich die anschauliche Darstellungsweise seiner historischen Werke vergegenwärtigt, glaubt man gern, dass er einen interessanten Unterricht vermittelte.7 Von 1914 bis 1918 war Willy Cohn Soldat an der Front in Frankreich. Diese Jahre waren für seine Entwicklung entscheidend. Die „demütigende Zählung preußischer Frontkämpfer“, die der preußische Heeresminister 1916 angeordnet hatte, machte ihm „das alte Judenschicksal wieder deutlich“. „Ich war“ – so schreibt er in seinen Lebenserinnerungen – „in den Krieg gezogen, zwar gewiß schon als bewusster Jude, aber doch als Vertreter der Assimilation, nämlich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Unter dem Eindruck dessen, was ich draußen erfuhr, wurde ich im Laufe der Kriegsjahre, nicht von heute auf morgen, nach sehr langem und ernstem inneren Kampfe Zionist.“8 Der in den ersten Jahren der Weimarer Republik ansteigende Antisemitismus lässt ihm die Rückkehr nach Palästina als „einzige Möglichkeit“ erscheinen.9 Rückblickend merkt er jedoch auch an: „Wie wenige von uns hatten damals gemerkt, daß es in Palästina auch Araber gab und daß die arabische Frage gar nicht so einfach zu lösen war.“10 Durch seinen „Weg zum Zionismus“ fand er auch eine neue Einstellung zum Judentum, vermittelt von Martin Buber und dessen Interpretation des Chassidismus.11 Doch gesteht er auch ein, dass sein Preußentum sein Verhältnis zu den Ostjuden und ihrem gelebten Judentum immer wieder blockiert habe. Neben Zionismus und religiösem Judentum hatte er infolge des Krieges ein drittes Ideal gewonnen: den Sozialismus. Der Aufbau Palästinas war für ihn nur „unter sozialistischem Gesichtspunkt“ denkbar.12 Für ihn hatte das zunächst die Konsequenz, dass er der SPD beitrat und sich in den folgenden Jahren intensiv der SPD-Bildungsarbeit, insbesondere im Hinblick auf die Jugend, widmete. In diesem Zusammenhang verfasste er Biografien über Karl Marx, August Bebel und über seinen Breslauer Landsmann Ferdinand Lassalle.13 Diese Biografien wurden bei der Breslauer Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in die Flammen geworfen.14 Obgleich er Frontkämpfer war, wurde Willy Cohn als Jude und Sozialist 1933 aus dem Schuldienst entlassen. Die Pension, die er bis zu seiner Deportation erhielt, enthob ihn schlimmster materieller Sorgen. Zu seinem Lebensinhalt wurden nun neben dem Leben mit seiner Familie und seinen Kontakten zur orthodoxen jüdischen Gemeinde 7 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Nach Aussagen eines Schülers, des Franziskaners Prof. Dr. Dr. P. Elpidius (Wolfgang) Pax ( Jerusalem), verstand es Willy Cohn, interessante Leute zu Vorträgen für das Johannesgymnasium zu gewinnen, so zum Beispiel Ernst Toller, der nicht nur als Dichter, sondern auch als Mitglied der Münchner Räteregierung für die Schüler von Interesse war. Willy Cohn spricht dieses Verdienst allerdings seinem Kollegen Dr. Wenzel zu. Vgl. Cohn: Verwehte Spuren, 550f. 8 Ebd., 225. 9 Ebd. 10 Ebd., 273. 11 Ebd., 275. 12 Ebd., 277. 13 Ders.: Ein Lebensbild von Karl Marx. Der Jugend erzählt. Breslau 1923; ders.: Ein Lebensbild von August Bebel. Der Jugend erzählt. Breslau 1927; ders.: Ein Lebensbild Ferdinand Lassalles. Der Jugend erzählt. Berlin 1921. 14 Conrads: Einleitung. In: Cohn: Verwehte Spuren, 9.



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die Forschungen zur jüdischen Geschichte, vor allem seine Mitarbeit an der „Germania Judaica“, für deren zweiten Band (bis 1348) er die schlesischen und böhmischen Städte bearbeitete. Daneben verfasste er zahlreiche Artikel für jüdische Zeitschriften oder Presseorgane. Nichtjüdische wissenschaftliche Publikationsorgane standen ihm nicht mehr zur Verfügung, und bald auch die öffentlichen Bibliotheken und Archive nicht mehr, in denen er als Jude nicht mehr arbeiten durfte. Doch Willy Cohn hatte insofern Glück, als ihm bis zu seinem Ende die katholische Dombibliothek beziehungsweise das Diözesanarchiv offenstanden. Es entwickelte sich fast ein freundschaftliches Verhältnis zwischen dem Archivleiter Konsistorialrat Kurt Engelbert und Willy Cohn.15 In engen wissenschaftlichen Kontakt trat er hier auch zu einem katholischen Wissenschaftler, der nach dem Krieg der wohl bedeutendste katholische Kirchenhistoriker werden sollte: Hubert Jedin.16 Mit ihm unterhielt er sich über wissenschaftliche Probleme, aber auch über Politik. Jedin besorgte ihm die neuesten Zeitschriften und lieh für Cohn Bücher bei der Universitätsbibliothek aus. Mit Jedin verband ihn auch, dass dieser „ein ähnliches Schicksal trägt“, denn Jedins Mutter war Jüdin; er selbst war deshalb 1933 als Privatdozent an der katholischen theologischen Fakultät in Breslau entlassen worden.17 Von 1936 bis 1939 war er als Kirchenarchivar in Breslau tätig. Da er 1938 verhaftet worden war, emigrierte er 1939 nach Rom. So sehr sich Cohn für Jedin freute, umso mehr bedauerte er dessen Weggang.18 Er fühlte sich Jedin auch wegen dessen jüdischer Herkunft besonders verbunden.19 Doch Jedins Nachfolger Engelbert zeigte sich nicht weniger um Willy Cohn bemüht und ermöglichte ihm weiter ein Leben als Wissenschaftler. Die wissenschaftlichen Gespräche mit ihm waren Cohn wichtiger als Essen und Trinken, zumal ihm Engelbert ermöglichte, nicht nur für die Artikel der „Germania Judaica“ im Archiv zu arbeiten, sondern ihm auch die Mitarbeit im Archiv anbot, so bei der Ordnung der Regestkarteien, bei Anfragen an das Archiv sowie bei der Lektüre von Korrekturfahnen. Er vermittelte Willy Cohn „das beglückende Gefühl in einem geistigen Betriebe zu stehen“ (Tagebuch 10. Februar 1941).20 Auch über politische Probleme redeten sie 15 Zu Kurt Engelbert als Historiker vgl. Bendel, Rainer: Die Reformation zu Schlesien in der katholischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Kurt Engelbert (1886–1967), Franz Xaver Seppelt (1883–1956), Alfred Sabisch (1906–1977). In: Weber, Matthias/Rabe, Carsten (Hg.): Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag. Würzburg 1998, 83–103, hier 83–90. 16 Zu Jedin vgl. ders.: Lebensbericht. Mit einem Dokumentenanhang. Hg. v. Konrad Repgen. Mainz 1984; Köhler, Joachim: Hubert Jedin (1900–1980). In: Herzig, Arno (Hg.): Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004, 284–295. 17 Cohn: Kein Recht, 655; Herzig, Arno: Die schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau von ihrer Gründung bis zur Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus (1933/34). In: ders.: Beiträge ���������������������������������������������������������������������������������������� zur Sozial- und Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997, 100–141, hier 134, 137. 18 Cohn: Kein Recht, 715. 19 Ebd., 655. 20 Ebd., 902.

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offen, wobei Engelbert indirekt die passive Haltung der katholischen Kirche in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mit dem Hinweis auf die Vernichtung der polnischen Intelligenz entschuldigte.21 Besonders beglückt war Willy Cohn durch die Entdeckung hebräischer Handschriften im Archiv, die als Bucheinbände verwendet worden waren. „Mit Ehrfurcht“ entzifferte er diese hebräischen Pergamente, die „ein halbes Jahrtausend“, wie er schreibt, „kein Jude in der Hand gehabt hat“. Seine Schlussfolgerung: „In diesen Pergamenten hat sich unser Leben erhalten“ (Tagebuch 10. August 1940).22 Willy Cohn, „der mit der Wissenschaft nicht aufhören kann, wenn er einmal damit angefangen hat“ (Tagebuch 5. August 1940),23 sah in seinen Forschungen und Publikationen zur jüdischen Geschichte eine Möglichkeit, zur Fortdauer des jüdischen Volkes beitragen zu können. Denn trotz seiner persönlichen Misere und der Erkenntnis, dass er „ein erledigter Posten“ sei, war er von einem überzeugt: „daß unser Volk gewiß nie untergehen kann und durch alle Schickungen gut durchkommen wird, wenn auch der einzelne zugrunde geht“ (25. Dezember 1940).24 Darin bestärkte ihn auch Leo Baeck, mit dem er sich zweimal in Breslau traf und den er als eine „wirklich überragende wissenschaftliche und jüdische Persönlichkeit“ bewunderte (14. September 1940).25 Mit ihm hoffte er darauf, dass einmal eine objektive Geschichtswissenschaft das Leben und Verhalten der Juden in Deutschland positiv bewerten werde. In diesem Sinn verfasste er seine Lebenserinnerungen (bis 1933), die Zeugnis einer „abgelaufenen Epoche“ geben sollten und mit denen er sich an ein konkretes Publikum wandte, an „Enkel und spätere Generationen“,26 aber auch an nichtjüdische Leser späterer Zeiten. Als er sie im September 1941 abgeschlossen hatte, war seine Sorge, sie unbedingt zu retten. Nicht ohne Stolz schreibt er in seinem Tagebuch, dass Leo Baeck bei einem der Gespräche viel Interesse an seinen Lebenserinnerungen gezeigt habe.27 Cohns Lebenserinnerungen und Tagebücher sind heute – nach ihrer Publikation durch Norbert Conrads (1995 und 2006) – das wohl wichtigste Zeugnis der untergegangenen jüdischen Kultur Breslaus. Sie spiegeln den schwierigen Prozess einer Identitätsbestimmung angesichts der Ausgrenzung, die Willy Cohn fühlte. Er war 1933 nicht orientierungslos, da er sich nicht erst seit damals als überzeugter Jude in einer jüdischen Geschichte fühlte, die es vielfach mit Ausgrenzungen zu tun hatte und in der das jüdische Volk gerade angesichts solcher Ausgrenzungen immer wieder seine Stärke bewiesen hatte. Trost fand er auch in seinem jüdischen Glauben. Der Besuch der Synagoge war für ihn innerstes Bedürfnis, nicht nur Formsache.

21 22 23 24 25 26 27

Ebd., 834. Ebd., 827. Ebd., 825. Ebd., 884. Ebd., 846. Conrads: Einleitung. In: Cohn: Verwehte Spuren, 15, 12. Cohn: Kein Recht, 847.

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Obwohl er in seinem Tagebuch deutlich die Grenze zwischen sich als Juden und den Deutschen sieht, blieb er in engem Kontakt zu nichtjüdischen Menschen, und dies nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet. Wenn er von brüllenden Gestapobeamten oder rüpelhaften Hitlerjungen berichtet, stellt er dies nicht sonderlich heraus, sondern erwähnt es eher nebenher; dagegen erzählt er eingehend von seinen Hausmitbewohnern, die „in Ordnung sind“,28 sich auch um ihn kümmerten und ihn um Nachhilfestunden für ihre Kinder baten; er berichtet von Treffen mit ehemaligen Kollegen auf der Straße, die ihn freundlich begrüßten, von ehemaligen Schülern, die ihn besuchten,29 ebenso wie ehemalige Frontkameraden oder Sammlerfreunde aus der Philatelie. Diese Begegnungen werden sicher alle zutreffen, doch überrascht es, dass die Ausgrenzung von ihm nicht als persönliche, sondern eher als institutionelle Erscheinung dargestellt wird, so als er Bibliotheken und Archive nicht mehr besuchen durfte, als er auf den Parkbänken die Inschrift „Für Juden verboten“ eingebrannt fand, sodass ihm nur noch die Bänke an den Straßenbahnhaltestellen zur Verfügung standen, als er schließlich Breslau nicht mehr verlassen durfte.30 Er scheint die Feindseligkeiten, die es auch in Breslau gegeben hat, bewusst auszublenden. Wenn er sich auch nicht mehr mit Deutschland identifiziert, so bleiben seine Kommentare zur militärischen Entwicklung doch sehr distanziert. Als Historiker war ihm bewusst, wie wenig man Nachrichten in der Presse Glauben schenken darf; es findet sich jedoch keine freudige Bemerkung über eindeutige deutsche Niederlagen, auch wenn er sich 1940 im Klaren darüber war, welche Folgen ein deutscher Sieg haben musste: „[d]as Ende der jüdischen kulturellen Arbeit in Deutschland und die Verpflichtung des Neuaufbaus in Amerika“.31 Zur Identität gehörte trotz aller Ausgrenzung weiterhin seine Liebe zum schlesischen Land; er freute sich stets aufs Neue, wenn er über die Dom- und Sandinsel ging, „über das Bild alter Kultur“32 und war stolz darauf, dass Leo Baeck, der ja in Breslau studiert hatte, „Honneurs meiner geliebten Heimatstadt“, „dem alten Breslau und seinem unvergleichlichen Stadtbilde“ machte.33 Doch die Ausgrenzung wurde eindeutig, als er seit September 1941 den Judenstern tragen musste und „die Luft für uns problematisch wird“.34 Auf dem Weg zur Storchensynagoge, auf dem er zum ersten Mal den Stern tragen musste, hatte er das Gefühl, eine Herzschwäche zu bekommen, aber er wollte an diesem Tag unbedingt gehen, um sich nicht nachsagen zu lassen, er habe wegen Feigheit gefehlt. Dabei stellt er bezeichnenderweise fest: „Das Publikum hat sich durchaus tadellos benommen; ich bin in keiner Weise belästigt worden; man hatte eher den Eindruck, dass es den Leuten peinlich ist.“35 28 29 30 31 32 33 34 35

Ebd., 638. Ebd., 796. Ebd., 845. Ebd., 848. Ebd., 835. Ebd., 847. Ebd., 982. Ebd.

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Das Abzeichen – so konstatiert er – habe die entgegengesetzte Wirkung, als sich die Regierung gedacht hat.36 Obwohl Willy Cohn Zionist war und noch 1937 Palästina besucht hatte, blieb er. Auch darüber hatte er mit Leo Baeck gesprochen, der ihm recht gab, aus Palästina wieder zurückgekommen zu sein. Er selbst – so versicherte Baeck – wolle auch nicht desertieren, obwohl er sechs verschiedene Berufungen aus dem Ausland bekommen habe. In diesem Zusammenhang – so Willy Cohn – sprach sich Baeck „entsetzt über das Versagen der deutschen Rabbiner aus“.37 Einen Widerspruch zu seiner zionistischen Überzeugung sieht Cohn in seinem Verhalten nicht. Er unterstützte die HachscharahBewegung, freute sich über deren Erfolg und bestärkte seine älteren Kinder, als sie sich ihr anschlossen. Er gab Anregungen, von denen andere Nutzen hatten. In seinen Lebenserinnerungen deutet er seine Position mit der des Moses, der das Volk Israel in das gelobte Land führte, aber selbst nur hineinblicken durfte.38 Seiner Frau stellte er frei, mit den kleinen Kindern auszuwandern, war aber froh darüber, dass sie es nicht tat. Die Absicht seines Schwiegervaters, 1940 nach Südamerika auszuwandern, kommentiert er mit dem Satz: „Solche Gedankengänge sind mir fern.“39 Es blieb die Hoffnung, aber die Ahnung von dem schrecklichen Ende verdrängte er nicht mehr. Als im Oktober 1941 die ersten Deportationen von Breslau aus in das Lager Grüssau begannen, machte ihm ein alter Bekannter (Hugo Mamlok) einen Abschiedsbesuch (Tagebuch 12. Oktober 1941). „Seine Haltung“, so kommentiert Willy Cohn das Auftreten dieses Bekannten, „ist sehr würdig und fest. Er glaubt allerdings, daß wir dem Untergang geweiht sind, und wenn man unsere Lage im Augenblick überdenkt, so spricht ja viel für diese pessimistische Auffassung; man will es sich nur in der Regel nicht zugeben! Es sieht so aus, als ob es die Deutschen im gegenwärtigen Augenblick des Krieges ganz und gar auf unsere Vernichtung angelegt hätten. Man kann nur wünschen, daß ihnen dieser Plan mißlingt.“40 Es blieb bis zum Schluss ein Fünkchen Hoffnung, dass es doch noch anders kommen könnte. Willy Cohn wurde am 21. November 1941 mit seiner Familie verhaftet und am 25. November zusammen mit tausend weiteren Breslauer Juden nach Kaunas (Kowno) in Litauen deportiert. Auf Befehl des SS-Standartenführers Karl Jäger wurden tausend Breslauer und tausend Wiener Juden am 29. November 1941 im Fort IX am Rand der Stadt durch Erschießung ermordet. Es waren 1.155 Frauen, 693 Männer und 152 Kinder. Unter den Opfern waren Willy Cohn, seine Ehefrau Gertrud und die beiden Töchter: die neunjährige Susanne und die dreijährige Tamara.41

36 37 38 39 40 41

Ebd. Ebd., 846. Ders.: Verwehte Spuren, 653. Ders.: Kein Recht, 826. Ebd., 991. Conrads: Einleitung. In: Cohn: Verwehte Spuren, 11f.



Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941)

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Willy Cohn war eine komplexe Persönlichkeit, doch als Fixpunkt seiner Orientierung zeichnet sich das Vertrauen auf die Fortdauer des jüdischen Volkes trotz der Gräuel durch die Nationalsozialisten ab. Der objektiven Beurteilung der Geschichte dieses Volkes galt seine wissenschaftliche Arbeit bis an sein Ende, galt auch die Arbeit an seinen Lebenserinnerungen, die die kulturellen Leistungen der Juden in einer Kultur festhalten sollten, die von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Trotz seiner Identität als Jude und trotz aller Ausgrenzungen löste er sich nicht aus dieser Kultur und suchte bei allen Anfeindungen, fast nur das Positive im Verhalten seiner nichtjüdischen Mitbürger zu sehen. Ob ihm dies zum Verhängnis wurde, muss offenbleiben. Die Erinnerung an Willy Cohn wird bewahrt durch seine Lebenserinnerungen und seine Tagebücher. Sie werden ein bleibendes kulturelles Denkmal sein.

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19. Die NS-Zeit im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur Seit Jahrhunderten bildete Schlesien einen Schmelztiegel ost- und westeuropäischen Judentums. Seit dem Aufklärungszeitalter gab es Tendenzen einer Akkulturation, die in den Aufklärungszirkeln der Maskilim und in einer modernen Pädagogik für jüdische Kinder ihren Niederschlag fand. Diese aufgeklärte Pädagogik wurde in der 1791 als jüdische Freischule gegründeten Wilhelmsschule in die Praxis umgesetzt. Als einer der ersten jüdischen Autoren, die in deutscher Sprache dichteten, wirkte in Breslau Ephraim Moses Kuh.1 Ihm folgten weitere bedeutende jüdische Autoren aus Schlesien bis hin zu Alfred Kerr und Arnold Zweig, die ins Exil gehen mussten, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und nach 1941 mit der gezielten Ermordung des europäischen Judentums den schlimmsten Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte herbeiführten. Die nationalsozialistischen Mordaktionen vernichteten das schlesische deutsche Judentum, das im Gegensatz zum deutschen Judentum im Westen nach 1945 keinen Neuanfang mehr erlebte, dessen Geschichte also abrupt beendet wurde. Als einzige Denkmäler der großen Geschichte des schlesischen Judentums überdauerten einige von Carl Ferdinand Langhans gebaute Synagogen, darunter die Breslauer Storchensynagoge, sowie die zahlreichen Friedhöfe, die in den letzten Jahren vielfach restauriert wurden. Es blieben als einzige schriftliche Zeugnisse aber auch die Lebenserinnerungen, die vor allem die Verdrängung und schließlich die Vernichtung der Juden in Breslau eindrucksvoll darstellen. Zwei dieser Zeugnisse sind deshalb von besonderem Wert, weil ihre Verfasser von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Für sie gab es keine späteren Reflexionen, die in den Text hätten einfließen können. Es handelt sich hierbei um die Tagebücher von Willy Cohn und Walter Tausk. Sie sind deshalb von hoher Authentizität, weil sie, mitten aus der zeitgenössischen Bedrohung heraus verfasst, die inneren Spannungen in den Gemeinden oder Familien widerspiegeln. Sie reflektieren das Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt sowie die Verbundenheit mit der deutschen Kultur, die den Autorinnen und Autoren von ihrer Kindheit an vertraut war und von der sie sich nicht trennen konnten. Mit dem Mord an den Juden vernichteten die Nationalsozialisten ein wesentliches Element deutscher Bürgerkultur. Das Schicksal der Juden in Breslau unterschied sich nicht wesentlich von dem in anderen deutschen Städten. Schlesiens Juden, die 1880 mit 52.000 Personen ihre ­höchste Einwohnerzahl erreichten, hatten im Kaiserreich entscheidend zur Herausbildung der Bürgergesellschaft in Schlesien beigetragen. Aufgestiegen aus der marginalen sozialen Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hatten sie sich im Handel, aber auch in der 1 Horch, Hans Otto: Unvollendete ‚Hedschra‘. Zu Leben und Werk des Breslauer Lyrikers Ephraim Moses Kuh (1731–1790). In: Deventer, Jörg/Rau, Susanne/Conrad, Anne (Hg.): Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag. Münster/Hamburg/London 2002, 143–161.



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Industrie etabliert und an der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte dieser Epoche in Schlesien mitgewirkt. Der Erste Weltkrieg bewirkte hier jedoch einen Wandel. Die sogenannte Judenzählung, die 1916 vom preußischen Heeresministerium angeordnet wurde, hatte zahlreichen, mit Begeisterung für Deutschland kämpfenden jüdischen Bürgern gezeigt, dass sie doch nicht dazugehörten. Trotz der völligen Gleichstellung, die die Weimarer Verfassung brachte und die letzte Barrieren in der Politik, im Heer, in der Beamtenschaft und an der Universität für Juden beseitigte, bestimmte doch untergründig ein Gefühl der Gefährdung das schlesische Judentum.2 Den Untergang des Kaiserreiches empfanden viele als das Ende einer goldenen Zeit. Kriegsanleihen und Inflation hatten zahlreiche jüdische Bürger um ihren Wohlstand und auch um ihren politischen Einfluss gebracht. Zudem wanderten zwischen 1919 und 1923 zahlreiche arme Ostjuden ein, sodass der Ausländeranteil in den schlesischen jüdischen Gemeinden bei zehn Prozent lag. Die „Jüdische Volkszeitung“ klagte im Juni 1922 darüber, dass die dauernde Erhöhung der Lebensbedürfnisse Not und Bedrängnis selbst in den Kreisen verursachte, „die bisher ihr bequemes Durchkommen hatten“.3 Auch wenn es schon zur Kaiserzeit einen latenten bürgerlichen Antisemitismus in Breslau gegeben hatte, so nahm dieser nach dem Ersten Weltkrieg auch in akademischen Kreisen radikalere Formen an, zum Beispiel in der Breslauer Ärzteschaft, wo antisemitische Mitglieder versuchten, jüdische Mitglieder als Vorsitzende zu verhindern. Deutlich wurde der Antisemitismus in den im Zug der Demokratisierung eingeführten Elternbeiräten, die sich – wie am altehrwürdigen Elisabethanum – weigerten, jüdische Lehrer einzustellen. Der Einsatz der Freikorps zu Beginn der Weimarer Republik in Schlesien verstärkte die antisemitischen Einstellungen. Während des Kapp-Putsches ermordeten im März 1920 Freikorpsverbände in Breslau sechs jüdische Bürger. Der Bedeutendste unter ihnen war Bernhard Schottlaender, der zwar aus einer der reichsten jüdischen ­Familien Schlesiens stammte, aber als Journalist für das Organ der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die „Schlesische Arbeiter-Zeitung“, tätig war. Schottlaender wurde von den Putschisten gefoltert und schließlich ermordet. Den verstümmelten Leichnam warfen die Mörder in die Oder, wo er erst drei Monate später gefunden wurde. Erschreckend für die jüdischen Bürger Breslaus war die kühle Reaktion der übrigen Breslauer und die Berichterstattung der inzwischen der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) nahestehenden „Schlesischen Zeitung“, die jeden Antisemitismus in diesem Zusammenhang leugnete. Die Radikalisierung des Antisemitismus zeigte sich auch im Juli 1923, als von jugendlichen Randalierern über hundert Geschäfte geplündert wurden, die fast ausschließlich Juden gehörten. Auch diesmal bestritt die „Schlesische Zeitung“, dass es sich um antisemitische Aktionen gehandelt habe.4 2 Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehung zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860–1925. Göttingen 2000. 3 Ebd., 319. 4 Herzig, Arno: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 2008, 198f.

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Noch vor der „Machtergreifung“ im Januar 1933 wurde im Wintersemester 1932/33 an der Universität Breslau bei dem „Fall Cohn“ deutlich, wie stark der nationalsozialistische Antisemitismus das akademische Leben beherrschte und dass die nationalkonservativen Kreise der Professorenschaft nicht willens oder fähig waren, dem entgegenzusteuern. Der Jurist Ernst Cohn war im Sommer 1932 von der Juristischen Fakultät als Ordinarius für Bürgerliches Recht berufen worden. Mit Entrüstung war von Anfang an von der NS-Propaganda kritisiert worden, dass „ein Jude [...] deutsches Recht lehren“ sollte.5 Bei seiner Antrittsvorlesung am 10. November 1932 kam es zu Störungen durch Studenten des rechtsorientierten Waffenrings und der NS-Studenten-Gruppe. Anstatt von vornherein gegen die Randalierer hart vorzugehen, beließ es der Rektor, der Orientalist Karl Brockelmann, bei einer milden Bestrafung. Keiner der Randalierer wurde relegiert. Die jüdischen Studenten standen zwar solidarisch zu Cohn, zogen aber unterschiedliche Konsequenzen aus dem Vorfall. Die meisten von ihnen sahen darin nur eine Episode. Für den Studenten Werner Hayek (1910–1996), der von 1929 bis 1933 an der Breslauer Universität Geschichte und Germanistik studierte, war als Zionist die Lehre aus dem „Fall Cohn“ eindeutig. Im Gegensatz zur Ansicht seines Vaters sah er für sich in Deutschland keine Zukunft mehr. Der „Fall Cohn“ hätte den Verständigen – so Werner Hayek kurz vor seinem Tod 1996 – die Augen öffnen müssen.6 Die Vorgänge im „Fall Cohn“ zeigen, dass die NSDAP bereits 1932 zu einem bestimmenden Faktor der politischen Szene in Breslau geworden war und die nationalistisch ausgerichtete Professorenschaft dabei Steigbügelhalterdienste leistete. Dennoch überrascht, wie schnell – trotz innerer Divergenzen in der NSDAP-Führung – die Gleichschaltung in Breslau nach dem 30. Januar 1933 gelang. Sie war bereits Ende März 1933 perfekt. Wie reflektierten die jüdischen Bürger Breslaus beziehungsweise Schlesiens die antijüdischen Aktionen der neuen NS-Machthaber, die schon nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933 und den bald darauf folgenden Kommunalwahlen das politische und bald auch gesellschaftliche Leben in Schlesien bestimmten? Einblicke in die Situation und ebenso Stimmung erhalten wir – wenn auch nur sehr ausschnitthaft – durch Lebenserinnerungen oder Tagebücher Breslauer Juden. Dazu zählen vor allem die Lebenserinnerungen und Tagebücher des Breslauer jüdischen Studienrats Willy Cohn.7 Willy Cohn wurde 1888 als Sohn des Kaufmanns Louis Cohn in Breslau geboren. Die Lage des elterlichen Geschäfts auf dem Breslauer Ring zeigt, dass Willy Cohn dem Breslauer jüdischen Establishment entstammte. Seine Mutter kam aus der Breslauer Musikverlegerfamilie Hainauer. Willy Cohn besuchte von 1895 bis 1906 das Breslau5 Vgl. den Beitrag „Der ‚Fall Cohn‘ und die Gleichschaltung der Universität Breslau 1932/33“ in diesem Band (hier das Zitat). 6 Deventer, Jörg/Gropp, Ulrike/Herzig, Arno: Interview mit Werner Hayek in der Universität Hamburg am 20. Mai 1996. 7 Cohn, Willy: Kein Recht, nirgends. Tagebücher vom Untergang des Breslauer Judentums 1933– 1941. Hg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/Wien 2006. Ferner ders.: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/ Wien 1995.

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Breslau, Sabowstr. 31/33, Januar 1934. Abschiedscommers von Werner Hayek mit jüdischen Studenten in Breslau. Vorn rechts im Bild der spätere Rabbiner und Archivar der jüdischen Gemeinde in Breslau Professor Dr. Bernhard Brilling.

er Städtische Johannesgymnasium, das deshalb bekannt war, weil sich seine Schülerschaft zu je einem Drittel aus protestantischen, katholischen und jüdischen Schülern zusammensetzte. Nach Studium, Promotion (1911) und Staatsexamen (1912) ging er als Lehrer an seine alte Schule, das Johannesgymnasium. Eine Hochschulkarriere an der Pädagogischen Hochschule scheiterte, vermutlich aus konfessionellen Gründen, da auch während der Weimarer Republik die Professoren an den Pädagogischen Hochschulen unter konfessionellen Gesichtspunkten berufen wurden. Dennoch war Willy Cohn kein verhinderter Privatdozent, der dies seine Schüler spüren ließ, sondern ein begeisterter Gymnasiallehrer, wie seine christlichen und jüdischen Schüler, darunter auch Werner Hayek, bestätigen. Er gab einen modernen Geschichtsunterricht, in dem er nicht – wie üblich – nur Jahreszahlen pauken ließ, sondern lang dauernde Epochenentwicklungen vermittelte.8 Als Frontkämpfer im Westen war Willy Cohn enttäuscht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, da die sogenannte Judenzählung von 1916 ihm gezeigt hatte, dass Juden noch immer nach Sonderrecht behandelt wurden. Er zog daraus eine zweifache Konsequenz. Liberal im Judentum erzogen, schloss er sich nun der konservativ-orthodoxen Richtung an. In seiner politischen Ausrichtung neigte er nach links und wurde Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).9 Aus seiner Parteizugehörigkeit 8 Interview mit Werner Hayek am 20. Mai 1996. 9 Cohn: Verwehte Spuren, 264.

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machte er kein Geheimnis, sondern war für die SPD mit Vorträgen und Publikationen tätig. Auch seine Schüler wussten dies, wie sich sein Schüler Werner Hayek erinnert. Ihnen vermittelte Willy Cohn im Staatsbürgerkundeunterricht, dass der Erste Weltkrieg ein großer Fehler der deutschen Politik gewesen sei, da er hätte vermieden werden können.10 Damit richtete er sich auch gegen die Dolchstoßlegende Hindenburgs, die von den meisten Geschichtslehrern vertreten wurde. Im Sommer 1933 wurde Willy Cohn nach Inkrafttreten des rechtswidrigen Berufsbeamtengesetzes als „politisch unzuverlässig“ entlassen.11 Als Frontkämpfer hätte er trotz seines jüdischen Glaubens noch bis 1934 im Dienst bleiben können. In den ihm nach seiner Entlassung verbliebenen Jahren bis 1941 verfasste Willy Cohn Lebenserinnerungen und führte bis zum 17. Oktober 1941 ein Tagebuch. Beides wurde gerettet. Am 25. November 1941 wurde Willy Cohn mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern nach Kowno/Kaunas deportiert und dort ermordet. Eine weitere wichtige Memorialquelle dieser Zeit sind die Tagebücher des Handelsvertreters Walter Tausk, der ebenfalls dem jüdischen Establishment Breslaus entstammte. Sein Vater hatte die Spinoza-Loge in Breslau mitbegründet.12 Obgleich Tausk zu „buddhistischer Überzeugung“ neigte,13 war er mit dem jüdischen Milieu Breslaus eng verbunden. Seine Tagebücher behandeln mit Unterbrechungen die Zeit von 1933 bis 1940. Auch Walter Tausk wurde – wie Cohn – 1941 nach Kowno/Kaunas deportiert und dort vermutlich ermordet. Die Lebenserinnerungen und Tagebücher von Cohn und Tausk reflektieren die Ereignisse aus dem Moment heraus. Es gab für sie keine Möglichkeit, ex eventu die Ereignisse in einem größeren Kontext zu kommentieren. Das trifft für diejenigen Lebenserinnerungen zu, die nach 1945 entstanden sind. Dennoch ist auch diesen – die meisten entstanden erst in den 1970er Jahren beziehungsweise noch später – ein hoher Quellenwert zuzuerkennen, so den biografischen Äußerungen des Soziologen Norbert Elias, des damaligen Geschichtsstudenten Werner Hayek und der bekannten Cellistin Anita Lasker-Wallfisch (geboren 1925) sowie der Studie von Abraham Ascher „A Community under Siege. The Jews of Breslau under Nazism“,14 der autobiografische Erlebnisse des Autors zugrunde liegen, schließlich den Erinnerungen des bekannten amerikanischen Historikers Fritz Stern (geboren 1926), der seine Kinderjahre bis 1938 in Breslau verbrachte.15 10 Interview mit Werner Hayek am 20. Mai 1996. 11 Conrads, Norbert: Einleitung. In: Cohn: Verwehte Spuren, 1–15; vgl. den Beitrag „Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941)“ in diesem Band. 12 Tausk, Walter: Breslauer Tagebuch 1933–1940. Hg. v. Ryszard Kincel. Mit einem Nachwort von Henryk M. Broder. Leipzig 21995 [11975], 231. 13 Ebd., 73. 14 Elias, Norbert: Notizen zum Lebenslauf. In: Norbert Elias über sich selbst, Frankfurt a. M. 1990, 107–197; Lasker-Wallfisch, Anita: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen. Mit einem Vorwort von Klaus Harpprecht. Reinbek 1997; Ascher, Abraham: A Community under Siege. The Jews of Breslau under Nazism. Stanford 2007. 15 Stern, Fritz: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007.



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Der Begriff der jüdischen Zeitzeugen ist hier etwas weiter zu fassen. Walter Tausk fühlte sich nicht als Jude, sondern als Buddhist. Bereits Fritz Sterns Vater war ­konvertiert und der Sohn evangelisch getauft worden. Aber es herrschte bei beiden durch Familie und Freunde eine enge Verbindung zum jüdischen Milieu. Für Fritz Stern und andere jüdische Konvertiten mag gelten, was Stern über seinen Patenonkel, den Nobelpreisträger Fritz Haber, schreibt: „Haber, der zum Christentum übergetreten war, erinnerte sich stets seiner jüdischen Wurzeln und irgendwie hatte er es fertiggebracht, ein nominelles Christentum mit einer Art Zivilreligion, dem ‚Deutschtum‘ und einer privaten jüdischen Identität zu verschmelzen [...] er hatte es geschafft, wie Tausende jüdischer Männer und Frauen, die bei der Geburt getauft worden waren oder sich irgendwann für die Konversion entschieden hatten – bis das Hitlerregime anstelle der Religion die Rasse zum Bestimmungsmerkmal der Menschen machte.“16 Die jüdische Memorialliteratur bildet eine wichtige Quellenbasis für die Ereignisse der Zeit nach 1933. Die NSDAP-Spitze und ihre Organisationen gingen auch in Breslau brutal in aller Öffentlichkeit gegen ihre politischen und ideologischen Gegner vor. Schon am 9. März 1933, nicht erst wie in den anderen Städten am 1. Mai, wurde das Breslauer Gewerkschaftshaus von der SA besetzt und wurden jüdische Bürger zu Geldspenden erpresst, wogegen diese allerdings protestierten. Auch wurden ­Warenhäuser jüdischer Besitzer geplündert. Am 11. März 1933 drangsalierten SA-Truppen im Gerichtsgebäude jüdische Richter und Anwälte, was allerdings den Protest einiger nichtjüdischer Kollegen hervorrief. Der antijüdische Geschäftsboykott führte – so Walter Tausk, der die Ereignisse präzise schildert – „zu einem Blutrausch der SA [...] zu offenen Plündereien, Gewalttaten, Racheakten, zu Auspeitschungen von Juden im Breslauer Braunen Haus in der Neudorfstraße“.17 SA- und SS-Patrouillen durchsuchten die Cafés und warfen – wie Tausk schreibt – jüdisch aussehende Leute aus dem Lokal. Um die alten politischen Kader schnell auszuschalten und sich an ihnen zu rächen, hatte Polizeipräsident Edmund Heines, ein krimineller Alter Kämpfer, im Süden von Breslau in Dürrgoy ein KZ eingerichtet: „[S]o wanderten sie dann in dieses Lager“ – wie Walter Tausk schreibt – „Gewerkschaftler, Dichter, Redakteure [...] Anwälte und andere Akademiker, auch der Leiter der jüdischen Gemeinde, Dr. Rednitz [Ernst Rednitz, 1882–1952, d. Vf.], der angeblich seine Pflichten als Redakteur vom Jüdischen Gemeindeblatt nicht ordnungsgemäß erfüllt haben sollte.“18 Zu den Opfern, die der Breslauer Polizeipräsident Edmund Heines in Dürrgoy foltern ließ, zählte auch der jüdische Politiker und Rechtsanwalt Dr. Ernst Eckstein, der in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 verhaftet und nach Dürrgoy gebracht worden war. Nach Folterungen starb er dort am 7. März 1933. Wie seine Freunde vermuteten, war er in den Selbstmord getrieben worden. Seine Beerdigung wurde zur letzten großen Demonstration der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in Breslau. 16 Ebd., 127. 17 Tausk: Breslauer Tagebuch, 43. 18 Ebd., 98.

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Schon im Herbst 1932 war von SA-Leuten eine Bombe in Ecksteins Wohnzimmer geworfen worden. Wie durch ein Wunder war er unverletzt geblieben.19 Die antijüdischen Aktionen der Nationalsozialisten, wie sie schon Ende 1932 sich in Breslau ereigneten, so – wie erwähnt – gegen den Juristen Ernst Cohn und den Politiker Ernst Eckstein, erregten unter den jüdischen Bürgern Angstgefühle, die sogar den kleinen Fritz Stern ergriffen.20 Die Aufsplitterung der Sozialdemokratie aufgrund der Gründung der SAP (Sozialistischen Arbeiterpartei), der sich damals auch der junge Willy Brandt anschloss, wurde unter den jüdischen Bürgern, die zu dieser Zeit ja weitgehend SPD-Wähler waren, negativ bewertet. Fritz Sterns Vater bemühte sich, seine Freunde Ernst Eckstein und Ernst (später Ernest) Hamburger zusammenzubringen, um die Trennung rückgängig zu machen. Ernst Hamburger war langjähriger SPD-Landtagsabgeordneter von Breslau und spielte neben dem Ministerpräsidenten Otto Braun und dem Innenminister Carl Severing eine bedeutende Rolle in der preußischen SPD. Doch der Versuch scheiterte. Fritz Stern beurteilt zurückschauend das Scheitern: „Ideologische Differenzen und Parteiinteressen waren stärker als die Notwendigkeit, gemeinsam gegen Hitler Front zu machen: ein Abbild der herrschenden Blindheit im Kleinen.“21 Noch härter ist Willy Cohn in seinem Urteil, in dem er Ecksteins Tod als „Sühne“ für dessen „Schuld“ an der Teilung der SPD bewertet.22 In seinem Tagebuch aber urteilt er über Ernst Eckstein nicht so hart, wenn er am 9. Mai 1933 schreibt: „Der arme Mensch saß seit dem 28. Februar in Schutzhaft und starb dafür, dass er einen anderen Idealismus gelebt hat, als den der gesiegt hat.“ Für Willy Cohn als Tagebuchschreiber hatte dies noch eine weitere Konsequenz, wenn er der Mitteilung hinzufügt: „Man kann nicht einmal hier das aufschreiben, was man empfindet und denkt! Armer Eckstein [...].“23 Auch Tausk berichtet von den „dauernden Prügeleien“ im Konzentrationslager, die Eckstein in den Selbstmord trieben. Zur Ursache: „Er war lediglich als Marxist verhaftet worden.“24 Nach dem März 1933 kam es schrittweise zur Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Für den bereits erwähnten Boykott jüdischer Geschäfte hatte die NSDAP – so Tausk – ein eigenes Verzeichnis jüdischer Geschäfte für Schlesien herausgegeben. Am 1. April 1933 zogen in den schlesischen Städten SA-Leute vor jüdischen Geschäften, Kanzleien und Arztpraxen auf und warnten „Arier“ davor, jüdische Unternehmen zu unterstützen. Die Aktion lief unter dem absurden Motto „Wer beim Juden kauft, hilft dem Weltbolschewismus“. Auch wenn die „Schlesische Tageszeitung“ meldete, dass es zu einer „rücksichtslosen Durchführung des Boykotts“ gekommen sei, erwies sich das Unternehmen als Reinfall und wurde nach einem Tag abgeblasen. Auch Walter Tausk bestätigt in seinem Tagebuch19 20 21 22 23 24

Stern: Fünf Deutschland, 111. Ebd. Ebd. Cohn: Verwehte Spuren, 606. Ders.: Kein Recht, 42. Tausk: Breslauer Tagebuch, 61.



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eintrag vom 3. April 1933: „Die ‚Deutschstämmigen‘ gehen weiter zu Wertheim und zu den Juden kaufen!“25 Abraham Ascher registriert, dass vor allem die Boykottaufforderung der NSDAP von den Patienten jüdischer Ärzte missachtet wurde.26 Gravierender als der Aprilboykott waren für das jüdische Bürgertum die Folgen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, das vorsah, Juden und „politisch unzuverlässige Beamte“ aus dem Beamtenverhältnis zu entlassen. Besonders die jüdischen beziehungsweise „nicht-arischen“ Professoren der Universität, die 25 Prozent des Lehrkörpers stellten, waren davon betroffen. Die NS-Studentenschaft störte nun ungehindert deren Veranstaltungen, solange diese noch im Dienst waren. Auf Initiative der NS-Studentenschaft ging auch die Bücherverbrennung auf dem Breslauer Schlossplatz am 10. Mai 1933 zurück. Dieser „großen Säuberungsaktion in der Studentenschaft“27 – so die „Schlesische Tageszeitung“ am 11. Mai 1933 – fiel auch die Lassalle-Biografie von Willy Cohn zum Opfer. Vonseiten der „arischen“ Professorenschaft gab es nur vereinzelt Solidarisierungen mit den jüdischen Kollegen, ­keineswegs aber vonseiten des Rektors Walz, der am 25. März 1935 in einem vertraulichen Rechenschaftsbericht meldete, dass die „außerordentlich starke Verjudung“ der Universität Breslau durch das „rasch entschiedene Handeln“ des Reichsministers Rust beseitigt und durch „zukunftssichernde Kräfte“ ersetzt worden sei.28 Als nächster Akt der Ausgrenzung folgten die Nürnberger Gesetze von 1935. Infolge dieser wurde den 450.000 „Volljuden“ und 50.000 konvertierten Juden die Reichsbürgerschaft aberkannt und ihnen der Status von „Staatsangehörigen“ zugewiesen. Sexuelle Beziehungen zwischen Juden und „Ariern“ wurden als „Rassenschande“ bestraft. Ausgenommen davon waren bereits geschlossene Ehen, deren jüdischer Teil auch über 1941 hinaus in dem unsicheren Status einer sogenannten Privilegierten Mischehe (über)lebte.29 Doch schon vorher hatte es in Breslau die Anprangerung sogenannter Judenliebchen gegeben. Der Begriff „Anprangerung“ ist hier ganz wörtlich zu verstehen: Sie wurden am Pranger vor dem Rathaus zur öffentlichen Demütigung angebunden. Wie verhielten sich die (ehemals) jüdischen Bürger in diesem ­Verdrängungsprozess? Fritz Stern bestätigt, dass man gleichsam ein „Doppelleben“ führte, dies aber als das „Normale“ akzeptierte, auch wenn Juden ständig mit den Hasstiraden der Nationalsozialisten konfrontiert wurden und in Angst vor Denunziation lebten.30 Antijüdische Parolen oder die Schilder „Juden unerwünscht“ waren nicht zu übersehen. Den Kindern aus liberalen oder konvertierten jüdischen Familien musste von den Eltern erst erklärt werden, dass sie jüdisch oder jüdischer Herkunft waren und was dies bedeutete. Die Aus25 26 27 28

Ebd., 83. Ascher: Community, 86. Cohn: Verwehte Spuren, 89. Vgl. den Beitrag „Der ‚Fall Cohn‘ und die Gleichschaltung der Universität Breslau 1932/33“ in diesem Band. 29 Stern: Fünf Deutschland, 145. 30 Ebd., 149.

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grenzung führte zu einer Intensivierung des innerjüdischen Lebens durch Vereinsarbeit und kulturelle Veranstaltungen. Auch das jüdische Schulwesen intensivierte sich erneut, da schon vor 1938 zahlreiche jüdische Kinder von den öffentlichen Schulen zu den jüdischen Schulen überwechselten. Der Religionsunterricht sollte hier auf Vorschlag des liberalen Rabbiners Dr. Vogelstein in zwei Klassenzügen erteilt werden, einem orthodoxen und einem liberalen. Der Direktor des jüdischen Reform-Realgymnasiums Dr. Max Feuchtwanger widersetzte sich allerdings diesem Vorschlag.31 Trotz – oder vielleicht wegen – der äußeren Bedrängungen intensivierten sich auch die innerjüdischen Parteikämpfe, so zwischen den Orthodoxen und Liberalen, wie dieser Vorschlag des liberalen Rabbiners Vogelstein deutlich werden lässt. Er sei es auch – so unterstellt ihm Willy Cohn –, der in der jüdischen Schule den Einfluss der Orthodoxen und Zionisten nicht zu stark werden lassen wolle. Vogelstein versuche zu verhindern, dass die Kinder in einem kulturellen Ghetto abgeschlossen würden. Auf seine Initiative hin wurde im Frühjahr 1934 in Breslau „Am Anger“ eine neue jüdische Schule errichtet, die in ihrer Schwerpunktbildung auf technische und kaufmännische Berufe ausgerichtet war. 1938 zählte diese Schule über vierhundert Schüler, die jüdische Volks- und Oberrealschule in der Rhedigerstraße circa tausend. Willy Cohn kritisiert diese Doppelstrategie Vogelsteins. Es passe nicht zusammen, dass die Kinder zur Treue zu Deutschland erzogen werden sollten, wenn sie das Land verlassen müssten. Cohns Distanz als Zionist und Orthodoxer zu dem liberalen Rabbiner ist eindeutig. Von dessen Predigten ist er „weniger begeistert“ und attestiert ihm: „Er hat nicht allzuviel zugelernt.“32 Nach den antijüdischen Exzessen von 1933 vollzog sich – wie die berühmte Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die ebenfalls ihre Kinder- und Jungmädchenjahre in Breslau verbrachte, schreibt – „die Verschlimmerung der Lebensbedingungen für Juden [...] ganz allmählich. Nicht von einem Tag auf den anderen. So allmählich, dass überoptimistische Menschen sich einreden konnten, eine Gefahr existiere gar nicht.“ Viele redeten sich ein, „dass dieser Unsinn bald aufhören müßte“. „Die Deutschen können doch ganz einfach diesen Wahnsinn nicht mitmachen“, erklärte zum Beispiel Anita Laskers Vater, der Breslauer Rechtsanwalt Alfons Lasker.33 Vor allem das jüdische Bürgertum – und hierzu zählten die meisten Juden Breslaus – war davon überzeugt, dass trotz des NS-Unrechtsregimes Deutschland weiterhin ein Rechtsstaat sei, der ihnen nichts antun könne, wenn sie nichts „Unrechtes“ täten. Noch Ende des Jahres 1938, also nach dem Novemberpogrom, erklärten die Eltern des ebenfalls aus Breslau stammenden bekannten Soziologen Norbert Elias bei einem Besuch ihres Sohnes in England, wieder nach Breslau zurückkehren zu wollen. Die Begründung des Vaters lautete: „Was können sie mir tun [...] ich habe nie jemandem unrecht getan, habe mich nie in meinem Leben gegen ein Gesetz vergangen.“ Sein Sohn, der ihn „beschwor [...], zu mir nach England zu ziehen“, kommentiert resigniert das Verhalten seines Vaters: „Er war ein Deutscher. Er 31 Ascher: Community, 100f. 32 Cohn: Kein Recht, 156. 33 Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben, 24.



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hatte immer den Gesetzen gehorcht. Was konnte eine deutsche Regierung ihm anhaben? So fuhren die alten Herrschaften in ihrer Unschuld [...] zurück.“34 Noch gravierender war die Verbundenheit mit der deutschen Kultur, die die jüdischen Menschen nicht von Deutschland loskommen ließ. Selbst für den Zionisten und Orthodoxen Willy Cohn war sie neben privaten Gründen ausschlaggebend dafür, dass er 1937 aus Erez Israel, wo er seinen Sohn in dem Kibbuz Givat Brenner besucht hatte, nach Breslau zurückkehrte. Deutsche Bildung und Kultur waren für die akkulturierten Juden fast zu einer Ersatzreligion geworden. So überrascht es nicht, wenn Willy Cohn im Juli 1937 in seinem Tagebuch lapidar mitteilt, dass er in der Buchhandlung Koebner in Breslau „einen Herder erstand“, mit der Begründung: „es ist ein Klassiker, der mir noch fehlt“.35 Oder wenn in der Familie Lasker „fast bis zu Deportation des Vaters und der Mutter (1942)“ 36 – wie Anita Lasker schreibt – sonntags im Familienkreis die großen Werke klassischer Bildung gelesen wurden. Seine Liebe zum schlesischen Land betont Willy Cohn immer wieder. Er freute sich „stets aufs Neue“, wenn er über die Dom- und Sandinsel geht, „über das Bild alter Kultur“37 und war stolz darauf, dass Leo Baeck, der ja in Breslau studiert hatte, „Honneurs meiner geliebten Heimatstadt“, „dem alten Breslau und seinem unvergleichlichen Stadtbilde“ machte.38 Neben dieser kulturellen Verortung ist es die Liebe zur und Verbundenheit mit der schlesischen Heimat, vor allem mit der Stadt Breslau, die in den Tagebüchern und Lebenserinnerungen deutlich wird. In seinem Nachwort zu dem Tagebuch von Walter Tausk spricht Henryk M. Broder zu Recht von der „Heimat als Falle“.39 Trotz aller Einschränkungen blieben Kontakte zu „arischen“ Menschen im Gesellschafts- wie auch im Privatleben, was alle jüdischen Zeitzeugen aus Breslau bestätigen. Fast ist man heute überrascht, wie stark diese Kontakte auch nach 1938 noch waren. Allerdings gab es auch die „Bekannten“, die die Straßenseite wechselten, wenn sie ihren ehemaligen Kollegen oder gar Freunden begegneten. Ende 1935 schreibt Tausk in seinem Tagebuch: „Die gesamte Judenangelegenheit wird von der überwiegenden Zahl der Bevölkerung abgelehnt, die – wie auch jetzt zu Weihnachten – die Einkäufe, in Breslau wenigstens, ‚beim Juden‘ macht.“40 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass überzeugte NS-Anhänger sich brutal gegen jüdische Kinder verhalten konnten, wie Abraham Ascher berichtet.41 In fast allen Erinnerungen werden Kontakte zu einzelnen protestantischen Geistlichen hervorgehoben: bei Willy Cohn zu Propst Oertelt von der Bernhardin-Kirche, „der immer sehr herzlich zu mir ist“.42 Auch Anita Lasker 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Elias: Notizen, 166. Cohn: Kein Recht, 447. Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben, 11. Cohn: Kein Recht, 835. Ebd., 847. Vgl. den Beitrag „Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941)“ in diesem Band. Tausk: Breslauer Tagebuch, 255. Ebd., 118. Ascher: Community, 5. Cohn: Kein Recht, 169.

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und Fritz Stern erwähnen einzelne Geistliche, die sich ihnen gegenüber freundlich erwiesen oder Widerstand leisteten.43 Auf katholischer Seite war es vor allem der Leiter des Diözesanarchivs Kurt Engelbert (1886–1967), der Willy Cohn die Möglichkeit bot, in seinem Archiv wissenschaftlich zu arbeiten, als dieser die anderen wissenschaftlichen Institute nicht mehr betreten durfte. Dem Breslauer Adolf Kardinal Bertram (1859–1945) ging Willy Cohn „aus Taktgründen“, wie er schreibt, aus dem Weg.44 Der Kardinal hatte es bereits 1933 als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz abgelehnt, Juden gegen die NS-Angriffe zu verteidigen. Einzelnen jüdischen Konvertiten wie dem Leobschützer Arzt Carl Rother verhalf er aufgrund seiner Beziehungen zur Auswanderung in die USA, wie in dem Roman von dessen Enkeltochter Irene Dische zu lesen ist.45 Bei Bertrams staatsloyaler Haltung, auch gegenüber dem verbrecherischen NS-Regime, war kaum Kritik am NS-Regime im Hinblick auf die Judenverfolgungen zu erwarten. Sofern die Frage der Emigration nicht einfach verdrängt wurde, wie bei den Eltern von Anita Lasker oder Norbert Elias, mehrten sich in den 1930er Jahren die Schwierigkeiten, ein Aufnahmeland zu finden, wie die Erinnerungen von Fritz Stern und Abraham Ascher zeigen, deren Eltern es aber doch noch 1938, sogar nach 1939 gelang. Es waren vor allem Jugendliche, die der Zionistischen Bewegung nahestanden, die freiwillig oder von den NS-Behörden gezwungen nach Erez Israel auswanderten. So verließ der jüdische Student Werner Hayek schon im Juni 1933 Breslau, ohne seine Promotion abzuschließen. Als überzeugter Zionist hoffte er in Palästina auf eine neue Zukunft. Jedoch geschah seine überstürzte Auswanderung nicht aus freien Stücken. Sie war quasi die Bedingung für die Freilassung von Hayeks Schwiegervater aus der Nazihaft. Seine Universitätslehrer verabschiedeten ihn freundlich. Sein Doktorvater Leo Santifaller gab ihm sogar ein schriftliches Zeugnis, in dem er Hayeks Weggang bedauerte.46 Wie reagierten die jüdischen Bürger auf das Ausgeschlossensein aus der bürgerlichen Gesellschaft? Willy Cohn begegnete der neuen Situation mit zwiespältigem Gefühl. Als guter Patriot hatte er Verständnis für seine „nationalgesinnten Schüler“, die „die Erfüllungspolitik“ ablehnten, und dafür, dass die „neue Generation [...] für die Sünden der Generation vorher nicht versklavt werden wollte“. „Gefühlsmäßig“ ­begreift er das,47 aber er sieht damit auch die Gefahr eines neuen Krieges verbunden. Auch wenn 43 Ebd., 471; Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben, 56; Stern: Fünf Deutschland, 141f. 44 Cohn: Kein Recht, 933. 45 Dische, Irene: Großmama packt aus. Hamburg 2005, 66; Jonca, Karol: Die Vernichtung der schlesischen Juden 1933–1945. In: „Wach auf, mein Herz und denke“. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg von 1740 bis heute/„Przebudź się, serce moje, i pomyśl“. Przyczynek do historii stosunków między Śląskiem a Berlinem-Brandenburgią od 1740 roku do dziś [Ausstellungskatalog]. Berlin/Opole 1995, 317–327. 46 Interview mit Werner Hayek am 20. Mai 1996. Teile seiner fertigen Dissertation nahm er mit nach Israel. Sie wurden 1997 publiziert. Hayek, Werner: Die Geschichte der Juden in Löwenberg/Schlesien (bis 1453). In: Aschkenas 6 (1997) 295–352. 47 Cohn: Verwehte Spuren, 536.



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vereinzelter Kontakt zu ehemaligen Kollegen in den ersten Jahren nach seiner Entlassung weiterbestand, so fühlte er sich doch bald wie „ein Fremder“, nachdem er im September 1933 noch gehofft hatte, „dass es wieder zu einem friedlichen Nebeneinander [von Juden und Nichtjuden, d. Vf.] kommen wird“.48 Im Lauf der Jahre unter der NSHerrschaft fühlte er sich doch mehr und mehr „als Fremder unter den Menschen, die uns Juden doch nur als Feinde ansehen“.49 Doch war er weiterhin am öffentlichen Leben und der öffentlichen Meinung interessiert, vor allem nach Ausbruch des Krieges lauschte er bei seinen Abendspaziergängen auf die Unterhaltungen der „Volksgenossen“ und ihre Äußerungen über den Krieg.50 Bei den vereinzelten Fliegerangriffen auf Breslau im August 1940 musste er mit den anderen Bewohnern in den Luftschutzkeller. Dabei stellt er fest: „Wir haben anständige Leute im Haus.“51 Doch die Ausgrenzung wurde immer prekärer, vor allem seit er ab September 1941 den Judenstern tragen musste. Auf dem Weg zur Synagoge, auf dem er zum ersten Mal den Stern tragen musste, hatte er das Gefühl, eine Herzschwäche zu bekommen. Aber er wollte an diesem Tag ­unbedingt gehen, um sich nicht nachsagen zu lassen, er habe wegen Feigheit gefehlt. Dabei bemerkt er bezeichnenderweise: „Das Publikum hat sich durchaus tadellos benommen; ich bin in keiner Weise belästigt worden; man hat eher den Eindruck, daß es den Leuten peinlich ist.“52 Auch für Werner Tausk verhalten sich die Breslauer – von den Nazibonzen abgesehen – eher solidarisch mit den ausgeschlossenen Juden. Er konstatiert Ablehnung der NS-Maßnahmen, so bei den Arbeitsentlassungen anlässlich der Nürnberger Gesetze oder der „Arisierung“ jüdischer Geschäfte.53 Im Gegensatz zu Willy Cohns Situation wurde Tausks Empfindung des Ausgeschlossenseins aufgrund der Tatsache verstärkt, dass er sich nicht der jüdischen Gemeinde anschließen wollte. Über deren Mitglieder spricht er sehr herablassend und macht die jüdische Gemeinde letztlich für das Scheitern seiner Auswanderungspläne verantwortlich.54 Der Druck von außen auf die jüdische Gemeinschaft führte nicht unbedingt – und das wird auch bei Willy Cohn deutlich – zu einer größeren Harmonie. „In diesem Monat ist man sich noch einsamer als einsam vorgekommen“,55 konstatiert Tausk im März 1939, als den Juden Gold, Silber und Schmuck weggenommen wurde. Treffsicher stellt er im Juni desselben Jahres „die grausamen Anzeichen einen nahen neuen Weltkrieges [fest], der spätestens im September konsequent ausbrechen muss“.56 Treffsicher ist auch sein Urteil darüber, dass dies „den völligen Ruin und Zusammenbruch dieses „Dritten Reiches bedeutet“. Dessen 48 49 50 51 52 53 54 55 56

Ders.: Kein Recht, 154, 82. Ebd., 159. Ebd., 837. Ebd., 838. Ebd., 982. Tausk: Breslauer Tagebuch, 111, 118. Ebd., 121. Ebd., 204. Ebd., 207.

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„Katastrophe“ sei „unvermeidbar“.57 Als der Krieg dann am 1. September 1939 wirklich beginnt, bemerkt er fehlende Kriegsbegeisterung bei den durchziehenden Truppen. Ihre Stimmung sei „niedergedrückt, mißmutig, kriegsunlustig und ‚mit einer Sauwut im Leibe gegen Adolf ‘“. „Das Volk“ – so Tausk – „redet offen und überall von den Zuständen und gibt seinem Unmut in jeder Weise Luft.“58 Den Siegesparolen glaubt Tausk nicht und vermisst offizielle Verlustzahlen. Auch konstatiert er Formen von Widerstand. So finden sich nach seinen Angaben kleine Zettel in den Briefkästen mit der Aufschrift „Wir haben von den Lügen genug. Wir haben genug von dieser Regierung. Volk stehe auf und wähle dir eine Regierung, die dir paßt.“59 Verbunden ist für Walter Tausk der Krieg mit „neue[n] Judenverfolgungen“, beispielsweise wegen des Verbots für Juden, Parkbänke zu benutzen, den Gottesdienst zu besuchen oder nach acht Uhr das Haus zu verlassen „während die ‚Arier‘ um neun im Haus sein müssen“.60 Über die ­Situation der Juden in Polen macht er sich keine Illusionen. Dem Heer folgten SS und Gestapo, „um aufzuräumen“. Judenverfolgungen wie im Mittelalter seien dies – so Tausk. Und noch schlimmer – es herrsche eine „reguläre Bestialität“.61 Man lasse die Juden verhungern. Obgleich als Jude aus der Öffentlichkeit ausgegrenzt, stellt er fest – was demnach alle übrigen Deutschen ebenfalls erfahren konnten: Man höre von heimgekehrten Soldaten, „daß wir unter den Itzigs (eine Verallgemeinerung des Itzig auf alle polnischen Juden) aufgeräumt haben“.62 Das heißt: Man habe „nicht nur Franctireur-Verdächtige und echte Franctireurs [Freischärler, d. Vf.] füsiliert“. Man habe „rund hunderttausend Juden beiderlei Geschlechts ‚gemordet‘. Entgegen den deutschen Berichten, die es von den Polen behaupteten, steht einwandfrei fest: als die deutschen Truppen in Kattowitz einrückten, fielen zwei bis drei Schüsse, worauf die Truppen Kattowitzer Juden in die Synagoge trieben und das Haus verbrannten. Nicht aber: die Polen haben vor ihrem Abzug die Synagoge in Brand gesteckt, und die Deutschen hätten (wie man es hier las) ‚die Trümmer beseitigt‘.“63 In Krakau hätten deutsche Truppen beim Einzug eine Synagoge, die mit Juden angefüllt gewesen sei, in die Luft gesprengt usw. nach bekannten und historisch verbrieften Mustern. Hitler wolle einen „Judenstaat“ gründen, wobei „hartnäckig behauptet wird, Galizien ist dazu ausersehen, nur ist Ostgalizien jetzt russisch. Die Russen werden hiervon schon wegen des Erdöls nichts herausgeben. ‚Väterchen Stalin‘ hat angeblich im Rundfunk zu den Juden gesprochen und ihnen ‚in kurzer Zeit eine Besserung ihres Loses‘ prophezeit.“64 Noch ehe vor dem 1. Oktober 1941 die Auswanderung von Juden aus dem Reichsgebiet total verboten wurde, ordnete der Breslauer Regierungspräsident die erste soge57 58 59 60 61 62 63 64

Ebd. Ebd., 213. Ebd., 218. Ebd., 221. Ebd. Ebd., 225. Ebd. Ebd.



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nannte Wohnungsaktion an. Die jüdischen Einwohner wurden aus ihren Wohnungen ausgewiesen und in Judenhäusern zusammengepfercht. Ab dem 26. Juli 1941 erfolgte die Deportation in Sammellager wie Tormersdorf in der Lausitz. Diese von dem Gauleiter Karl Hanke angeordnete sogenannte Judenwohnungsaktion in Breslau (zwischen dem 31. Juli und September 1941) traf rund siebenhundert Juden, von denen 24 Personen bei dieser Aktion ums Leben kamen. Die Deportationen in die Vernichtungslager begannen in Breslau am 21. November 1941. Am 25. November wurden etwa tausend Breslauer, darunter auch Willy Cohn mit seiner Familie und Walter Tausk, vom Breslauer Odertorbahnhof nach Kowno/Kaunas deportiert. Unter Schlägen der SS-Leute wurden je hundert Personen in einen Waggon gepfercht. In Kowno wurden gleich nach ihrer Ankunft sämtliche Breslauer Juden vom Sonderkommando Dr. Jäger erschossen. Weitere Deportationen erfolgten im April 1942. Nach den Deportationen blieben in Breslau noch zurück: einige Hundert privilegierte Familienmitglieder, ehemalige Kriegsverletzte aus dem Ersten Weltkrieg sowie einige Ärzte. Noch im Januar 1945, als Breslau zur Festung erklärt wurde, musste eine jüdische Gruppe in das KZ Groß Rosen. Der Leiter der Staatspolizeistelle Breslau, Dr. Ernst Gerke, der die Deportationen mitzuverantworten hatte, starb am 7. November 1982 in Eckernförde. Er war nie vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen worden.65 Mit der Deportation endete die über siebenhundertjährige Geschichte der deutschen Juden in Schlesien. Die kleine Gruppe, die die NS-Mordaktionen überlebt hatte, musste im Zug der Vertreibung, wenn auch unter Sonderkonditionen, Schlesien verlassen. Es begann nun eine wechselreiche neue Geschichte der Juden in Schlesien, die vielleicht in neuen Erinnerungsdokumenten festgehalten ist.

65 Jonca: Vernichtung, 326f.

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20. Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose Das Ereignis Wie die meisten großen Gesellenaufstände dieser Zeit hatte auch der Breslauer Aufstand ein eher unbedeutendes Ereignis zum Anlass.1 Am 15. April 1793, einem Montag, erhielten die beiden Gesellen des Schneidermeisters Balz, ein Ungar mit Namen Joseph Michel und ein Sachse, von ihrem Meister arbeitsfrei, da nicht genügend Arbeit vorhanden war. Auf ihrem Spaziergang trafen die beiden den Schneidermeister Scholz, der dem ungarischen Gesellen Arbeit in seiner Werkstatt anbot, die dieser annahm, ohne bei seinem alten Meister zu kündigen. Balz verlangte daraufhin von Scholz die Herausgabe seines Gesellen, blieb jedoch damit erfolglos. Anstatt die Angelegenheit der Zunft, in Breslau „Mittel“ genannt, vorzutragen, wandte sich Scholz gleich an den Vertreter des städtischen Magistrats, den Mittelassessor Hintze. Dieser ließ den ungarischen Gesellen vorführen und drohte ihm mit Gefängnis, falls er nicht zum Meister Balz zurückkehre. Die Breslauer Schneidergesellen sahen in dieser Forderung des Mittelassessors einen Eingriff in ihre Rechte und wiesen Michel an, sich dem zu widersetzen, was dieser dann auch tat. Am 17. April wurde er deshalb wieder vor den Mittelassessor gefordert, und, als er dort seine Weigerung aufrechterhielt, arretiert. Während des Arrests besuchten ihn seine Mitgesellen und ermunterten ihn, bei seiner Weigerung zu bleiben. Nachdem der Ungar nach einer Woche immer noch in Haft gehalten wurde, beschlossen die Gesellen der Schneiderbruderschaft, ihre Arbeit solange niederzulegen, bis er aus der Haft entlassen würde. Daraufhin wurden die Altgesellen vor den Magistrat gefordert, dem sie erklärten, die Arbeit erst wieder aufnehmen zu wollen, wenn der ungarische Geselle entlassen sei. Dieser wurde ebenfalls vor den Magistrat geführt, bekräftigte aber erneut, bei seiner Weigerung zu bleiben, da ihm seine Kameraden gedroht hätten, ihn sonst krumm und lahm zu schlagen. Der Magistrat fühlte sich daraufhin von der Schneiderbruderschaft herausgefordert und versuchte, ihren Widerstand zu brechen, indem er nun alle Gesellen ins Rathaus zitierte und die dort erschienenen 117 Gesellen in Haft abführen ließ. Daraufhin erklärte Michel, Breslau freiwillig verlassen zu wollen, worauf der ­Magistrat einging. Während dieser jedoch den Ungarn nun abschieben wollte, forderten die Altgesellen, ihn zuvor auf die Herberge zu bringen, um ihm wie allen ehrlichen Gesellen die Kundschaft auszuhändigen und ihm ein Ehrengeleit zu geben. An dieser unterschiedlichen Auffassung entzündete sich der Konflikt, der dadurch noch verschärft wurde, dass die Meister bei dieser Gelegenheit in ihren Verhandlungen mit den Gesellen den Samstag als alleinigen Kündigungstermin durchzusetzen versuchten. Die Gesellen wollten es jedoch bei dem alten Herkommen belassen, das ihnen 1 Zur Überlieferung des Aufstands vgl. Herzig, Arno/Sachs, Rainer: Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation. Göttingen 1987, 81–196.

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erlaubte, jeden Tag zu kündigen. Der Magistrat forderte die noch nicht inhaftierten Schneidergesellen ins Rathaus und erklärte ihnen, er wolle den Ungarn aus dem Gefängnis entlassen, ihn in Begleitung der Altgesellen seine Sachen holen und dann fortwandern lassen. Da während dieses Vorgangs die übrigen Gesellen aber auf dem Rathaus festgehalten werden sollten, protestierten diese energisch dagegen, was den Magistrat veranlasste, sie ebenfalls zu arretieren. Dies geschah am 27. April, einem Sonnabend. Die Haftbedingungen waren äußerst schlecht. Die 249 Schneidergesellen bekamen kaum etwas zu essen, die Zellen im Stockhaus und in den Kasematten am Friedrichstor, in die sie eingesperrt wurden, waren überbelegt. Verantwortlich für diese überstürzte Maßnahme des Magistrats waren der Ratsherr Doser, der Syndicus Raticke sowie der Mittelassessor Hintze. Gebilligt wurden die Maßnahmen vom ersten Polizeidirektor Schlutius. Der mit Schlutius im Oberbefehl wechselnde zweite Polizeidirektor Werner, der später zur Zentralfigur des Aufruhrs wurde, trat zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Erscheinung, da während dieser Tage die Polizeigewalt beim ersten Polizeidirektor lag. Dieser überredete offensichtlich den Militärkommandanten von Rabiel, den ungarischen Gesellen wie einen Verbrecher mit Militäreskorte über die Grenze abzuführen, was entschieden über die zuvor vom Magistrat geplante Form der Abschiebung hinausging. Verschärft wurde das Vorgehen zusätzlich aufgrund eines Schreibens des Schlutius, das Michel bei den österreichischen Behörden als Aufwiegler denunzierte. Auch der zweite Polizeidirektor Werner, der am 1. Mai die Polizeigewalt übernehmen sollte, erklärte sich mit dieser Maßnahme einverstanden, während der Provinzialminister von Hoym zumindest nichts Ernsthaftes dagegen einzuwenden hatte. Am Sonntag morgen, den 28. April, wurde der ungarische Geselle in aller Öffentlichkeit mit Eskorte abgeführt, was nicht nur Mitleid in der Bevölkerung hervorrief, sondern auch den Protest der übrigen Gesellenbruderschaften zur Folge hatte, die in diesem Vorgang eine Kränkung ihrer Ehre sahen. Zudem befürchteten sie, von den Gesellenbruderschaften anderer Städte für unehrlich erklärt zu werden, falls sie diesen Vorgang duldeten. Am Montag (29. April) erklärten die inhaftierten Schneidergesellen, solange in Haft bleiben zu wollen, bis ihnen ihr altes Kündigungsrecht schriftlich garantiert, der ungarische Geselle zurückgeholt und seine Ehre wiederhergestellt würde. Die Weigerung wurde für den Magistrat nun bedrohlich, da auch die Gesellen der anderen Bruderschaften in Solidarität zu den Schneidergesellen ihre Arbeit niederlegten. Der Magistratsrat Müller, der die Untersuchung leitete, forderte daraufhin vom Militärkommandanten von Rabiel die Zurückholung Michels. Inzwischen gestaltete sich der Streik zu einem Fest um. Die Tischler- und Schlossergesellen fuhren mit Wagen, auf denen Bierfässer standen, in der Stadt herum und tranken auf das Wohl des Königs und der Handwerksburschen. Der Militärkommandant forderte sie auf, wieder zur Arbeit zu gehen, doch die Gesellen lachten ihn aus. Daraufhin ließ er die vor der Stadt liegenden Reiter des Generalmajors von Dolffs in die Stadt verlegen. Die Gesellen fuhren währenddessen mit ihren Wagen vor die Gefängnisse, in denen die Schneider ­arretiert waren, und versorgten diese mit Lebensmitteln; sie unternahmen jedoch keinerlei Versuche, sie zu befreien, zumal die inhaftierten Gesellen solange in Arrest bleiben woll-



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ten, bis ihre Forderungen erfüllt wären. Kurz darauf trafen der Kommandant von Rabiel und die Generale von Lattorf und von Dolffs im Stockgefängnis ein und hießen die Gesellen gehen. Diese wollten der Aufforderung jedoch nur dann nachkommen, wenn die Deputierten der übrigen Gesellenschaften damit einverstanden wären. Nach Übereinkunft mit den Deputierten erklärten sich die Schneidergesellen zwar bereit, das Gefängnis zu verlassen, aber nicht eher die Arbeit wiederaufzunehmen, bis der Ungar wieder zurückgebracht sei. Auch die in den Kasematten am Friedrichstor inhaftierten Gesellen wurden daraufhin aus der Haft entlassen. In festlichem Umzug wurden die freigelassenen Gesellen durch die Stadt geführt. Obwohl der Kommandant bemüht war, den Konflikt beizulegen, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Soldaten und der Menge, die sich den Gesellen angeschlossen hatte. Der Zorn der Menge richtete sich gegen das Militär, vor allem aber gegen den zweiten Polizeidirektor Werner, von dem es hieß, er habe die Wegschaffung des ungarischen Gesellen veranlasst und außerdem früher die Löhne der Gesellen herabgesetzt, um sich auf diese Weise billig ein Haus bauen zu können. Um Werner dafür zu bestrafen, drangen die Gesellen in das Haus ein, in dem er wohnte, trafen ihn aber nicht an. Sie zerstörten daraufhin seine Kutsche, deren Reste sie zur Staupsäule schleppten. Während sich der Konflikt zuspitzte, war der Provinzialminister von Hoym nicht in der Stadt. In der darauffolgenden Nacht blieb es ruhig. Am frühen Morgen des 30. April versammelten sich die streikenden Gesellen und verlangten von den anderen Gesellen, die die Arbeit wieder aufgenommen hatten, den Streik ebenfalls fortzusetzen. Bis auf wenige Ausnahmen wurde dieser Forderung Folge geleistet. In einem Memorial verlangten die Deputierten und Altgesellen aller Zünfte vom Magistrat, dem ungarischen Schneidergesellen eine schriftliche Ehrenerklärung auszustellen, sie für den Arbeitsausfall zu entschädigen und künftig die Streitigkeiten zwischen Meistern und Gesellen von der Zunft selbst regeln zu lassen. Der Minister von Hoym, der inzwischen in die Stadt zurückgekehrt war, ließ, als er vom Aufstand und von den Vorwürfen gegen Werner erfuhr, diesen, von einer starken Reitereskorte begleitet, auf die Festung Neisse bringen. Bei den auch an diesem Tag stattfindenden Umzügen der Gesellen, denen sich wiederum eine große Menge anschloss, kam es gegen Mittag zum Sturm auf ein Bordell, nachdem die Gesellen von den dortigen Mädchen und der Besitzerin provoziert worden waren. Das Militär versuchte, das Bordell zu schützen; dabei kam es zu blutigen Auseinandersetzungen, die den General von Dolffs veranlassten, eine Kanone an der Ecke Schmiedebrücke/Kupferschmiedestraße aufstellen und laden zu lassen. Die Gesellen errichteten inzwischen an der Ecke Messergasse/Schmiedebrücke eine Barrikade aus umgestürzten Wagen und Karren und verspotteten die Soldaten, blieben ansonsten aber ruhig. Dennoch gab der General Befehl, die Kanone dreimal in die unbewaffnete Menge abfeuern zu lassen. Über zwanzig Menschen wurden tödlich getroffen oder verwundet. Während die Opfer geborgen wurden, ließ der Adjutant vom Lattorfschen Regiment bekanntgeben, dass niemand das Haus verlassen solle. Um vier Uhr nachmittags traf der zurückbeorderte Ungar Michel wieder in Breslau ein. Der Minister von Hoym gab ihm im Beisein der Altgesellen aller Bruderschaften die

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Einen eindrucksvollen und auch objektiven Bericht über den Breslauer Gesellenaufstand von 1793 verfasste der Oberste Meister der Breslauer Schneiderzunft Johann Gottlieb Klose. Der Bericht durfte seinerzeit nicht im Druck erscheinen.



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Hand und erklärte ihn für einen rechtschaffenen Menschen; den Gesellen versprach er, alles zu bezahlen, was sie an diesem und dem vorigen Tag verzehrt hätten. Trotz des vom Militär verkündeten Ausgangsverbots wurde der Ungar zwischen den Altgesellen der Schneiderzunft von Herberge zu Herberge geführt. Im Auftrag des Ministers versprach ein Graf Kameke den Gesellen Satisfaktion, Ersatz der Verzehrkosten, ehrenvolles Begräbnis der Gefallenen, freie Kur der Blessierten und Versorgung der zu Krüppeln Geschossenen, allerdings unter der Bedingung, dass sie sich ruhig verhielten. Die Gesellen versprachen ihm, die Arbeit wieder aufzunehmen, doch nicht alle Bruderschaften kamen diesem Versprechen nach. Die Lage blieb ruhig, aber noch recht angespannt. Das Militär wagte es noch nicht, die Wachmannschaften abzuziehen. Auch das Begräbnis der Erschossenen am 2. Mai fand unter strenger Bewachung statt. Danach nahmen die Gesellen allmählich die Arbeit wieder auf. Obgleich ihnen Straffreiheit zugesichert worden war, verließen einige die Stadt, um eventuellen Verfolgungen zu entgehen.

Die Analyse In der langen Reihe der Gesellenerhebungen des 18. Jahrhunderts nimmt der ­Breslauer Gesellenaufstand von 1793 einen wichtigen Platz ein, war er doch, was die Energie und die Solidarität der Ausführenden, die Gefährdung des bestehenden Systems, den militärischen Einsatz der Ordnungspartei und die Opfer betrifft, der bedeutendste Aufstand im Jahrzehnt der Französischen Revolution in Deutschland. Vergleichbar mit diesem Ereignis sind der Mainzer Gesellenaufstand vom September 1790, der Bremer vom Juni 1791, der Hamburger vom August 1791, der Rostocker von 1791 sowie 1795, der Berliner vom Mai 1795, der Frankfurter vom Juni 1798 und schließlich der Osnabrücker vom Juli 1801.2 Am nächsten kommt ihm noch, verglichen mit der Struktur des Aufstands, der Solidarisierung der Gesellenschaften, dem Vorgehen der Meister und der 2 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grießinger, Andreas: Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981, 87–93; zu Mainz vgl. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Mainzer Erzkanzlei – Archiv, Militaria, Fasc. 102 B (1790/91); Kurfürstliches Rescript an die kurfürstliche Landesregierung, Mainz 5. September 1790. In: Privilegierte Mainzer Zeitung, Nr. 143 (6. September 1790); zu Bremen vgl. Schwarz, Karl: Die Lage der Handwerksgesellen in Bremen während des 18. Jahrhunderts. Bremen 1975, 284–295; zu Hamburg vgl. Herzig, Arno: Organisationsformen und Bewußtseinsprozesse Hamburger Handwerker und Arbeiter in der Zeit 1790–1848. In: ders./Langewiesche, Dieter/ Sywottek, Arnold (Hg.): Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg 1983, 95–108; zu Rostock vgl. Schildhauer, Johannes: Gesellen und Tagelöhnererhebungen in den mecklenburgischen Städten von 1790 bis 1800. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1958) 1256–1268; zu Berlin vgl. Politisches Journal (1795) 578–581; zu Frankfurt am Main vgl. Stadtarchiv Frankfurt a. M., Criminalia 1798, Nr. 3; zu Osnabrück vgl. Merx, Otto: Der Aufstand der Handwerksgesellen auf der Gartlage bei Osnabrück am 13. Juli 1801. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück 26 (1901) 168–276.

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Obrigkeit, schließlich mit dem militärischen Einsatz der Hamburger Gesellenaufstand vom August 1791. Das Protestmotiv dieser großen Aufstände war dasselbe: Es ging primär um die Ehre der Gesellenschaften, was nichts anderes meinte als die Autonomie und die Erhaltung dieser Korporationen. Angesichts der exorbitant ansteigenden Lebensmittelpreise dieses Jahrzehnts, die auch die Subsistenz vieler Gesellen gefährdeten, hätte man eher die Lohnfrage als primäres Motiv erwarten können. Bei den Breslauer Ereignissen spielten sie zwar auch eine Rolle, aber nicht die bestimmende. Was alle Gesellen solidarisch handeln ließ, war der Kampf um die Autonomie der Bruderschaften. Trotz dieser Aufstände um die Autonomie wurden zwei Jahrzehnte später zumindest in Preußen die Gesellenschaften ohne großen Widerstand aufgelöst. Der „Sieg“ der Breslauer Gesellen war also nicht mehr als ein Pyrrhussieg. Trotz der unterschiedlich organisierten Regierungssysteme der einzelnen Städte finden wir bei den Gesellenerhebungen der 1790er Jahre nicht nur eine Übereinstimmung in der Protestmotivation, der Strategie und den Aktionen der Gesellen, sondern auch in den Reaktionen der Ordnungspartei. Sowohl in den Reichsstädten als auch in den größeren Städten der Territorialstaaten hatten die Zünfte einen Sonderstatus. Sie waren zwar meistenteils nicht an der direkten Machtausübung beteiligt, genossen aber weitgehend noch ihre Marktprivilegien. Dies erklärt auch das enge Zusammengehen der Zunftmeister mit der Stadtobrigkeit, sobald es zu Konflikten mit den Gesellenschaften kam. Sowohl in Bremen als auch in Hamburg, sowohl in Augsburg und Osnabrück als auch in Breslau zogen die Zunftmeister sofort die Obrigkeit in die Auseinandersetzung mit den Gesellen hinein, wobei dieser Schritt in Bremen und ebenso in Breslau nicht von allen Meistern getragen wurde.3 Die militärische Organisation der Reichsstädte führte dann dazu, dass sich beim Aufgebot des Bürgermilitärs Meister und Gesellen gegenüberstanden. Während die Gesellen dafür plädierten, „daß kleine Streitigkeiten zwischen Meistern und Gesellen beim Gewerk selbst entschieden werden“, wurden die Meister erst dann zugunsten der Gesellen bei der Obrigkeit vorstellig, „wenn sie durch plötzliche Ermangelung aller Arbeiten in ihrem Gewerke [...] litten“.4 Dass nicht nur die Autonomie der Gesellschaften, sondern auch die der Zünfte auf dem Spiel stand, begriffen die Meister allenfalls in den Städten, in denen eine aufgeklärte Obrigkeit bereits Maßnahmen zuungunsten der Zünfte ergriffen hatte, wie dies in Mainz der Fall war. Hier versuchten 1790 die Meister einen Gesellenaufstand zu nutzen, um ihre alten Zunftprivilegien wiederherzustellen.5 In den Reichsstädten, aber 3 Schwarz: Lage, 284; Herzig: Organisationsformen, 95; National-Zeitung der Teutschen (1798) 855–857; Merx: Aufstand, 170f. 4 Günther, Johann Anton: Ueber den Aufstand der Handwerksgesellen zu Hamburg im August 1791 nebst einigen Reflexionen über Zunftgeist und Zunfterziehung. In: Journal von und für Deutschland 1792, 1–32, hier 19; vgl. auch Quelle Nr. 2.9. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 172–196. 5 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kurfürstliches Rescript vom 5. September 1790. In: Hansen, Johannes (Hg.): Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801, Bd. 1–4. Bonn 1931–1938, hier Bd. 1, 671–674.

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auch im preußischen Breslau, sahen die Zunftmeister ihren Status im Rahmen der alten Ständeordnung nicht gefährdet, obgleich die Diskussion um Abschaffung der Zünfte nicht erst nach den jeweiligen Gesellenaufständen einsetzte.6 Zumindest in Preußen hielt man den sozialen Status des Zunftbürgers durch das Allgemeine Landrecht für rechtlich abgesichert. Auch die Gesellen sahen trotz der Konflikte mit den Zunftmeistern und der Obrigkeit den Bestand ihrer Gesellenschaften nicht ernsthaft in Gefahr, bewiesen doch gerade die Aufstände der 1790er Jahre ihre organisatorische Geschlossenheit und die Bereitschaft fast aller Gesellenschaften zur Solidarisierung, sobald eine von ihnen in Konflikt mit der Zunft oder der Obrigkeit geriet. Die organisatorische Geschlossenheit zeigte sich auch in der Ablehnung der Nicht-Zünftigen beziehungsweise des sogenannten Pöbels, wenn diese Gruppen sich an einem Gesellenaufstand und den damit verbundenen Umzügen zu beteiligen versuchten. In Bremen und Hamburg gelang 1791 die klare Abgrenzung;7 in Breslau und Osnabrück, wo die Gesellen das Mitwirken des Pöbels nicht verhindern konnten, kam es im Nachhinein zu deutlichen Distanzierungen. So erklärten die Breslauer Schneidergesellen im Juni 1793 gegenüber der Untersuchungskommission: „Überhaupt möge wohl der ganze Tumult ein bloßes Werk des Pöbels und des liederlichen Gesindels gewesen sein, welches von der Gelegenheit, um zu stehlen und zu rauben, profitieren wollen.“8 Auch Johann Gottlieb Klose spricht bei den entscheidenden Auseinandersetzungen nicht mehr von Aktionen der Gesellen, sondern von denen des „Pöbels“. Die Solidarität unter den Gesellenschaften erreichte in den 1790er Jahren einen letzten Höhepunkt. Dabei dachte man durchaus über die engen Stadtgrenzen hinaus. Typisch dafür ist die Bemerkung der Breslauer Schlossergesellen, die sich dem Aufstand der Schneidergesellen mit der Bemerkung anschlossen: „[...] die Schneider haben uns in Hamburg bey gestanden. Wir müßten sie auch nicht verlaßen.“9 Auch die negative Seite der Solidarisierung, die Schimpfung, bezogen die Breslauer Gesellen in ihre Überlegungen ein. In ihrem Memorial gaben sie dem Magistrat zu bedenken, dass unter der entehrenden Behandlung eines ausländischen Schneidergesellen künftig alle Breslauer Bürgerkinder auf ihrer Wanderschaft zu leiden hätten. Für die Maurergesellen bildete nach eigenen Angaben die Angst vor dem „Verdruß mit den ausländischen Gewerken“ das eigentliche Streikmotiv.10 In Hamburg hatte 1791 die Schimpfung eines Meisters zu dem großen Streik aller Gesellenschaften geführt. Johann Gottlieb Kloses Feststel

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Kaufhold, Karl Heinrich: Das Gewerbe in Preußen um 1800. Göttingen 1978, 438–445. Schwarz: Lage, 233. Quelle Nr. 2.9. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 172–196. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters J. G. Klose. Ebd., 81–140, hier 101; Nach dem Bericht „Geschichte des Tumults unter den Handwerks-Gesellen und der Gährung unter der Bürgerschaft zu Breslau in der Woche am 28sten April bis 5ten Mai 1793“. In: Neueste Staatsanzeigen (1799) 311–324, hier 316, spielte sich dieser Akt der Solidarisierung in Königsberg ab. Wahrscheinlicher ist jedoch die Angabe bei Klose, die sich auf den großen Hamburger Streik vom August 1791 bezieht. 10 Quelle Nr. 2.7. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 161–167; Günther: Aufstand, 7.

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lungen zu den Folgen der Französischen Revolution in Deutschland verleiteten zu der Schlussfolgerung, dass auch die Breslauer Gesellen unter dem Einfluss der Französischen Revolution gestanden hätten.11 Begünstigt wurde diese Schlussfolgerung ferner durch die Befürchtung des preußischen Königs, hinter den schlesischen Aufständen von 1793 könnten französische Emissäre stecken – eine Befürchtung, die von dem Provinzialminister Karl Georg von Hoym und dem Polizeidirektor beziehungsweise Bürgermeister Werner genährt wurde. Hoym hatte am 12. Februar 1791 in seinem Halbjahresbericht nach Berlin gemeldet: „In Pohlen haben sich verschiedene Emissaires von der Französischen Propaganda-Gesellschaft eingefunden, welche den dortigen Untertanen unter der Hand die Freiheit predigen, und sie durch ausgestreute anonymische Zettel wider ihre Grundherrschaften, um ihnen die Dienste zu verweigern, auf zu wiegeln suchen. Hier in Schlesien sind ­solche Vorkehrungen getroffen worden, daß wenn sich dergleichen Aufwiegler auch hier im Lande betreffen lassen sollten, ihnen sogleich nachgespürt und sie festgenommen werden.“12 Werner lieferte in einem Promemoria, das er am 18. Juni 1793 der Untersuchungskommission einreichte, folgende Version: „Zuförderst behaupte ich, daß schon lange Zeit Jacobiner in Breßlau und im Lande existirt, die bemühet gewesen in Schlesien einen Aufstandt und eine Revolution zu bewürken, ich will nicht erwehnen, daß man schon in Breßlau auf der Spur gewesen, daß berichtigte Jacobiner eingeschlichen, sondern auch Facta anführen, die meine Behauptung darthun und zeigen, daß nichts weniger als ich der Punckt gewesen, der zu einer Revolution Anlaß gegeben; schon vor einigen Monathen wurden in Breßlau Billets ausgestreuet, die nichts weniger als mich zum Gegenstand hatten, sondern die bloß gegen den Adel, gegen alle Ministers eine Aufwiegelung zu bewürcken intendiret. Im Anfang April war in einer Nacht fast an allen Gassen der Stadt und auf denen Haupt Plätzen Zettel folgenden Inhalts angeschlagen. Ihr Bürger und Bauern habet Ihr Frieden, so rebelliret, wir Soldaten werden euch helfen fürchtet euch nicht es muß hier ebenfalls eine freie Republic werden also Bürger Muth, Muth, Muth, Bürger Muth. Diese Anschlage Zettel aber wurden mit Verachtung behandelt, ohngeacht man ganz laut von einem Aufstande sprach, welcher vor sich gehen würde. Zu den [!] Ausbruch der Revolution gab die Arretirung derer Schneider Gelegenheit [...].“13 Werner blieb jedoch den Beweis für diese Behauptung schuldig. Seine Polizei hatte keinen „Jacobiner“ aufspüren können.14 Auch der Aufruhrzettel, den er seinem Promemoria beifügte, verriet keinerlei republikanische Tendenz, sondern prangerte die Zustände an, „worinn seit Friedrichs des Großen Tode das Land durch die jetzige Regierung versetzt ist“. Die Schuld an „Hunger, Noth und Elend“ gab der Verfasser den 11 Grünhagen, Colmar: Die Breslauer Schneiderrevolte von 1793. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 1–48, hier 3f. 12 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 96, Tit. 249 C, Vol. I, fol. 166–168. 13 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1043, fol. 192. 14 Ebd.



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„jetzigen Minister[n] und deren Anhänger Finantz Regierung und dem alles verschlingenden Adel“.15 Sein Vorwurf an den König: Er kümmere sich um nichts, glaube und traue blindlings seinen Ministern, welche sich bereicherten. Diese hätten ursprünglich nichts besessen, ihnen gehöre nun aber die Hälfte der schlesischen Provinz. Ihren Reichtum hätten sie „durch Betrügerei und armer Menschen sauren Schweiß“ erworben. Zu den Folgen dieses Zustands meint der Verfasser: „Doch dies himmelschreyende Elend, Unrecht, die Cabalen, welche die Regierung und der Adel spielt, müßen am Ende eine ähnliche Frantzösische Revolution bewürken.“ Aber sein Programm ist alles andere als revolutionär: „Schaffet die jetzigen Minister ab, und ruft es lebe der König, und sterbe die Regierung.“16 Die Kritik dieses Flugblatts, das versiegelt unter das Publikum gebracht wurde, richtete sich gegen die Korruption des schlesischen Adels und des Ministers von Hoym, wie sie später auch in dem Protest der beiden Beamten Zerboni und von Held laut wurde. Der Assessor Zerboni hatte 1796 in einem Schreiben an den Minister von Hoym diesem seine Günstlingswirtschaft in der nach der Teilung Polens neu gebildeten Provinz Südpreußen vorgeworfen, die Hoyms Verwaltung unterstand. Zerboni wurde daraufhin auf Befehl des Königs in der Festung Glatz eingekerkert; sein Freund, Hans von Held, der seit 1793 als Oberzollrat in Posen lebte, hatte infolgedessen in einem Gedicht zum Geburtstag König Friedrich Wilhelms II. den Untergang des preußischen Staates vorhergesagt, falls die Schmarotzer sich weiterhin bereichern dürften. Das Gedicht zielte deutlich gegen den Minister von Hoym, der in Berlin durchsetzte, dass von Held nach Brandenburg zwangsversetzt wurde. Bei der Festnahme Zerbonis fand die Polizei eine Reihe von Aktenstücken, die auf die Existenz eines Geheimbundes, des sogenannten Evergetenbundes, hinwiesen, dem Zerboni angehörte. Der Evergetenbund bestand mit Zerboni und von Held aus nur insgesamt zehn Mitgliedern, doch selbst diese ließen sich nicht auf ein gemeinsames revolutionäres Programm einschwören. Einige von ihnen sprachen sich entschieden gegen ein Zusammengehen mit den Unterschichten aus und erstrebten nicht die Republik, sondern eine konstitutionelle Monarchie. Auf diese Mitglieder geht wohl auch das von Werner der Kommission überreichte Flugblatt zurück.17 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Der Bericht Hoyms in Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 96, Tit. 249 C, Vol. I: 1786–1791, fol. 166–169; Werners Unterthäniges Pro Memorial und das Flugblatt in Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1043, Bl. 192–197, hier Bl. 192; zur Einschätzung dieser Angaben Markgraf, Hermann: Finanz- und Verfassungsgeschichte Breslaus unter Friedrich Wilhelm II. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 1–80, hier 39–45; zur Haltung des Königs ebd., 58. Zur Rolle des Evergetenbunds Grab, Walter: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt a. M. 1984, 437–445. Zur Rolle der revolutionären Emissäre vgl. Ruiz, Alain: Universität Jena Anno 1793/94. Ein jakobinischer Student und Geheimagent im Schatten Reinholds und Fichtes. In: Schoeps, Julius H./Geiss, Imanuel (Hg.): Revolution und Demokratie

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Auf den Weberaufstand und die Gesellenrevolte von 1793 nahm der Evergetenbund mit seinen „Zetteln“ kaum Einfluss. So war wohl auch die Feststellung der nach dem Aufstand eingesetzten Untersuchungskommission zutreffend, die anmerkte, „daß keine französischen Gesinnungen noch Unzufriedenheit mit der Landesregierung hierbei nur im mindesten im Spiel gewesen [...]“.18 Tatsächlich fehlen in Breslau im Gegensatz zu Mainz, Nürnberg oder Hamburg alle Anspielungen der Gesellen auf die Französische Revolution. In Mainz trugen die Gesellen 1790 neben ihrem Handwerkzeug, Stöcken und Fahnen auch Kokarden, in Nürnberg sangen die streikenden Schneidergesellen bei ihren Umzügen „Freyheits- und Aufforderungslieder“ und in Hamburg tranken sie 1791 während der Umzüge auf das Wohl der Revolution und ließen die „Konvolution“ hochleben.19 Trotz dieser Protestgesten lag den Gesellen der Sturz der Obrigkeit fern. Sie wollten die Autonomie ihrer Gesellenschaften retten, was ihnen wohl kaum gelungen wäre, hätten sie die alte Ständeordnung zum Einsturz gebracht. Die Breslauer Maurergesellen versicherten deshalb dem Untersuchungsausschuss, dass sie „keine Ursachen zur Unzufriedenheit gehabt und aufrührerischen Bewegung [...], indem ihnen Niemand in ihren Gerechtsamen zu nahe getreten“.20 Auch der Stadtdirektor Schlutius sah in dem Aufstand eine Folge der Schneidererhebung, „die in ihren Gerechtsamen beleidiget zu seyn vermeinten“.21 So mag es zweifelhaft sein, ob die Breslauer Gesellen gezielt die momentane militärische Schwäche der Obrigkeit ausnutzten und ihren Aufstand als Fortsetzung der schlesischen Weberaufstände vom März 1793 begriffen. Es fehlt in den Quellen dafür jeglicher Beleg, und auch Klose begründet mit dem Hinweis auf die Bindung der Truppen im Gebirge nur das nervöse Agieren der Obrigkeit, nicht aber das Strategiekonzept der Gesellen. Die Angabe des Kommandanten von Rabiel in seinem Bericht vom 12. Mai 1793, die Gesellen hätten geäußert: „Mit den paar Soldaten würde man schon ferin Geschichte und Literatur. Zum 60. Geburtstag von Walter Grab. Duisburg 1979, 95–132; zur Beziehung der Unterschichten zu den deutschen Jakobinern vgl. Herzig, Arno: Unterschichtenprotest in Deutschland 1790–1870. Göttingen 1988, 98–107; ders.: Sozialprotest zur Zeit der Französischen Revolution in Hamburg und in anderen deutschen Städten. In: ders. (Hg.): Das alte Hamburg (1500–1848/49). Vergleiche, Beziehungen. Berlin 1989, 113–122. 18 Quelle Nr. 2.9. In: Herzig/Sachs: Gesellenaufstand, 172–196; lediglich der anonyme Verfasser des Berichts in den „Neuesten Staatsanzeigen 1799“ berichtet, dass am Montagabend nach der Freilassung der arretierten Gesellen „die besagten Handwerksgesellen, begleitet von einer zahllosen Menge Handlangern und Jungen, auch neugieriger Weibspersonen des Abends um den grossen Ring herumschweiften, und vom Trunk benebelt, der Freiheit manches Vivat brachten“. Ebd., 317. 19 ������������������������������������������������������������������������������������������� Hansen (Hg.): Quellen, Bd. 1, 673; Grießinger, Andreas/Reith, Reinhold: Obrigkeitliche Ordnungskonzeptionen und handwerkliches Konfliktverhalten im 18. Jahrhundert. Nürnberg und Würzburg im Vergleich. In: Elkar, Rainer S. (Hg.): Deutsches Handwerk in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Sozialgeschichte – Volkskunde – Literaturgeschichte. Göttingen 1983, 117, 137; Herzig: Organisationsformen, 97 (hier das Zitat). 20 Quelle Nr. 2.9. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 172–196. 21 ����������������������������������������������������������������������������������������� Schlutius an von Hoym, Breslau. 21. Juni 1793. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1053, Bl. 48–62.



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tig werden“, verrät nicht eine umsichtige Taktik der Gesellen, sondern ihre Verwegenheit, die sich ebenso darin äußerte, dass sie – so von Rabiel – angesichts der geladenen Kanonen riefen: „Die Garnison habe mit Mondschein und Buttermilch geladen und man sollte ihnen den Hintern, welchen sie dabei vorzeigten, schiessen.“22 Den Gesellen war daran gelegen, dass ihr „kleiner Mittelzwist“ um die freie Kündigungsfrist „bei dem Mittel anhängig gemacht und von demselben entschieden worden“ wäre.23 Das ungeschickte Agieren des Magistrats, die bewusst schlechte und entehrende Behandlung der Schneidergesellen während ihrer Haft und die kriminelle Abschie­bung des ausländischen Mitgesellen Michel durch den verhassten Regierungsdirektor Werner führten schließlich zur Eskalation, die ihr Antisymbol in eben diesem Regierungsdirektor Werner fand. Dass der als Günstling König Friedrich Wilhelms II. in sein Amt gekommene Werner den Gesellen so verhasst war, ist einsichtig. Offensichtlich waren eine Reihe Gerüchte im Umlauf, die ihn als Feind der Gesellenschaften darstellten. So glaubten die Maurer- und Zimmergesellen, dass Werner ihnen den Lohn kürzen wollte, um an seinen Hausbauten zu sparen.24 Noch 1797 erzählte man Theodor von Schön in Breslau, dass „der Rock des Polizeidirektors [Werner, d. Vf.] den ersten Aufstand hervorgerufen habe“.25 Gemeint ist damit die Geschichte, dass Werner sich für die Nichtfertigstellung eines Rocks an dem ungarischen Schneidergesellen gerächt habe. Das mochten nachträgliche Deutungsmuster sein, die das Breslauer Bürgertum entlasteten, das Werner für alle Fehlentscheidungen des absolutistisch eingesetzten Magistrats verantwortlich machte. Vielleicht spielte auch ein gewisser Neidkomplex eine Rolle. Werner stammte aus einfachen Verhältnissen einer Breslauer Familie und hatte eine steile Karriere genommen. Die Breslauer Bürger legten ihm vor allem zur Last, dass die noch aus österreichischer Zeit stammende Deputiertenversammlung aufgelöst worden war und dass er alle nur erdenklichen Vorteile aus seinem Amt zu schöpfen suchte. Sie hassten Werners „Herrschsucht, Grobheit und Habsucht“.26 22 Quelle Nr. 2.7. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 161–167. 23 ���������������������������������������������������������������������������������������� Schlutius an von Hoym, Breslau 21. Juni 1793. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1043, Bl. 48. Als Mittel wurden in Breslau die Zünfte bezeichnet. 24 Schlutius an den Cammer-Fiscal, Breslau, 9. Juni 1793. Ebd., Bl. 60; vgl. Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 31–34. 25 Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön. Halle/Saale 1875, 309. 26 So Polizeiinspektor Anton von Radern. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1043, Bl. 104f. Selbst der Verfasser von „Frankreich und Schlesien“, der Werner zu entlasten versuchte, bemerkt: „lhre [der Gesellen, d. Vf.] Wuth kehrte sich jetzt gegen einen Mann, der seit einigen Jahren das Ruder der Stadt mit sehr wilkührlicher Hand regierte, gegen den Geheimrath W. Es gehört viel Talent, oder doch wenigstens die meisterhafteste Redlichkeit dazu, wenn ein Mensch, der von einer sehr niedrigen Stufe zu einer der höchsten Staatswürden stieg, diese Würde in eben der Stadt, in der man noch den Knaben gekannt hatte, mit allgemeiner Achtung behaupten will.“ Frankreich und Schlesien. 1793, 28f. Zur Rolle Werners vgl. Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 31–34.

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Die Sympathie, die die Gesellen trotz ihrer Aktionen bei der Bürgerschaft fanden, richtete sich besonders gegen Werner. Der ungarische Geselle, der auf dessen Befehl „mit thränenden Augen die Ohlauer Gasse heruntertransportiret wurde“, erregte das „Mitleid der Herrschaften“, „welche sich um sein Schicksal erkundigten“ und ihn „beschenkten“.27 Da für die Gesellen die ehrenhafte Rückkehr des Ungarn bald zur alleinigen Forderung wurde, um somit die Ehre der Gesellenschaft wiederherzustellen, wurde Werner zum eigentlichen Gegner, was Klose in seiner Darstellung auch zum Ausdruck bringt. Die Aufforderung an die anderen Gewerke, die Arbeit niederzulegen, begründeten die Schneider speziell mit der Rolle Werners.28 Er symbolisierte hier die Bedrohung der Gesellenschaften durch die Obrigkeit, gegen sein Haus richteten sich die Bestrafungsaktionen. Mit der Vernichtung seiner Kutsche wurde symbolisch seine Macht zerstört; bezeichnenderweise schleppten die Gesellen die Reste der Kutsche zur Staupsäule, dem Ort der öffentlichen Bestrafungen für Vergehen an den Mitbürgern. Hier wurde sie entzweigeschlagen und zerrissen. Das symbolische Verständnis der Gesellen spielt bei der Breslauer Revolte überhaupt eine wichtige Rolle. Auch die Zerstörung des Bordells ist damit in Zusammenhang zu bringen. Es galt offensichtlich als Offiziersbordell; deshalb musste die Bemerkung der Dirnen, „sie brauchten keine Handwerksknotten“,29 besonders aufreizend wirken. Auch der Schneidermeister Balz, dessen Verhalten den Aufruhr verursacht hatte, sollte durch die Zerstörung seines Hauses bestraft werden. Dies verhinderten jedoch die Soldaten. Von starkem symbolischem Bezug waren ebenfalls die Befriedungsgesten Hoyms, der die erregte Stimmung nach der Kanonade zu beschwichtigen versuchte. So wurde der wie ein Krimineller abgeführte ungarische Schneidergeselle Michel in Ehren zurückgeholt, vom Provinzialminister mit Handschlag begrüßt und für einen „rechtschaffenden Menschen“ erkannt30 sowie daraufhin militärisch eskortiert von dem Referendar Grafen Kameke von Herberge zu Herberge begleitet. Werner dagegen wurde aus Breslau abgeschoben. Er musste, geschützt von einer militärischen Eskorte, im offenen Wagen durch die Straßen fahren und dabei die Beschimpfungen der Bevölkerung anhören. Der eigentliche Nutznießer dieses Sturzes war das Breslauer Bürgertum, das nun wieder seine Repräsentantenversammlung zugestanden bekam, der drei Stände angehörten: der Gelehrtenstand, der Kaufmannsstand und der Bürgerstand, in dem auch die Zunftmeister vertreten waren. Als Sieger fühlten sich jedoch die Gesellenschaften. Für sie bedeuteten Werners Abschiebung und spätere Amtsenthebung einen Triumph über die Obrigkeit. An diesen Triumph sollte das Bild auf den Kannen erinnern, die in mehreren Exemplaren überliefert sind. Es stellt in effigie dar, wie der Polizeidirektor in seiner Uniform von den mit Knütteln bewaffneten Gesellen Prügel bezieht. Reali27 �������������������������������������������������������������������������������������������� So in den Aufzeichnungen von Johann Gottlieb Klose. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 99. 28 Ebd., 103. 29 Ebd., 115. 30 Markgraf: Finanz- und Verfassungsgeschichte, 50f.

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Bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Militär in Breslau 1793 stürmten die Gesellen das Offiziersbordell und zerstörten die Einrichtung.

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ter hatte es eine solche Szene nicht gegeben. Den Sieg über Werner feierte ferner ein Gedicht, das als Parodie eines Kirchenliedes anzusehen ist und in dem die Gesellen als Sprecher auftreten: „Was Werner that, hieß wohlgethan Doch unrecht war sein Wille. Wie er fing unsre Sachen an, Mußten wir halten stille. Er, Breslaus Gott, der in der Noth, Anstatt uns zu erhalten, Verstieß, darf nicht mehr walten.“31 In ähnlich parodistischer Form behandelt der Stich „Breßlaus Bitten“ den Abtransport des einst so mächtigen Polizeidirektors und Günstlings des Königs. Auch wenn der Spruch unter dem Bild von dem Subdiakon Rambach stammt und, offenkundig ernst gemeint, mit Genehmigung des Ministers gedruckt wurde, so wirkt er doch wie eine Parodie auf die Äußerungen des deutschen Nationalgefühls. Dieses wird mit Biederkeit gleichgesetzt und zeigt sich darin, die „edle Ruhe“ nicht zu stören. Als Ironie muss dieser Satz angesichts der gleichzeitigen Ereignisse in Paris empfunden werden. Hier handelte man eben nicht „deutsch und bieder“, was bis zu diesem Zeitpunkt durchaus auch die Sympathie zahlreicher deutscher Zeitgenossen fand.32 Kein Gesellenaufstand des 18. Jahrhunderts kostete so viele Opfer wie der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. 53 Personen, davon die Hälfte Handwerksgesellen, wurden getötet oder tödlich verwundet.33 Der Provinzialminister von Hoym versuchte zunächst, durch Pazifizierungsgesten den Frieden wiederherzustellen. Er versprach, die Zechkosten und den Arbeitslohn der Streiktage zu ersetzen, die Gefallenen auf Staatskosten zu bestatten, die Kurkosten für die Verwundeten zu bezahlen und für die Hinterbliebenen zu sorgen. Diese Zugeständnisse vom 3. Mai 1793 waren wohl weitgehend Taktik, denn die Gesellenschaften waren nach dem 30. April 1793 noch nicht zur Ruhe gekommen, sondern zogen am 1. Mai demonstrativ mit brennenden Tabakspfeifen zum Entsetzen der Bürger auf den Straßen umher. Der „Pöbel“ nutzte die unruhige Situation zu Subsistenzprotesten. So versuchte er den Holzfaktor Klose zu bestrafen, der im 31 Zur Kanne vgl. die Abbildung sowie das Gedicht in Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 211. 32 Bild und Zitat: Herder-Institut Marburg, Sammlung August Sadebeck. 33 Die Angaben über die Zahl der Opfer schwanken, da in den Wochen nach dem Ereignis noch zahlreiche Verwundete starben. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1054: Designationes von denen bei dem Tumult vom 29.–30. April 1793 erschossenen und verwundeten Personen, Bl. 3–5; zur Zahl der 53 Toten vgl. Menzel, Karl Adolf: Topographische Chronik von Breslau, 1.–9. Quartal. Breslau 1805–1807, hier 1. Quartal, 830–846, hier 838; bei dem Gesellenaufstand in Bremen (1791) gab es vier, in Hamburg (1791) drei, in Osnabrück (1801) zehn Tote.



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­ iderspruch zum alten Herkommen für das Auflesen der Abfallrinde Geld verlangte. W Das Militär blieb auch in den nächsten Tagen in Alarmbereitschaft. Nach den Versprechungen Hoyms vom 3. Mai 1793, einem Freitag, nahmen nur die Maurer und Zimmerleute die Arbeit wieder auf, die „Schneider, Schlosser und Tischler arbeiteten die gantze Woche nicht“.34 Am 4. Mai 1793 erließ Hoym deshalb ein scharfes Publicandum, in dem er den Gesellen für den Fall der Fortsetzung des Aufstandes Gefängnis und Festungsbau androhte.35 Dennoch nahmen die Schneidergesellen erst am Dienstag, dem 7. Mai, die Arbeit wieder auf.36 Minister von Hoym betrieb eine Doppelstrategie. Während er auf der einen Seite die Versuche der Bürgerschaft unterstützte, den König, der sich im Kriegslager bei Frankfurt am Main aufhielt, durch eine Gesandtschaft milde zu stimmen – die Deputation verließ am 7. Mai Breslau –, wandte er sich am 3. Mai 1793 an den König mit dem Vorschlag, durch ein energisches Edikt den „Handwerksgrillen“ entgegenzutreten und durch das Auswärtige Amt beim Heiligen Römischen Reich ein Vorgehen gegen die Handwerksbräuche, die gerade in den Reichsstädten aufgrund von altem Herkommen besonders gepflegt würden, anzuregen.37 Tatsächlich versuchte der preußische Gesandte in Regensburg Graf Görz im Juli 1793, den Reichstag für ein neues Zunftgesetz zu motivieren, um 34 �������������������������������������������������������������������������������������������� So in den Aufzeichnungen von Johann Gottlieb Klose. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 130. 35 „Seine Kgl. Majestät haben mit vielem Schmerz und höchst mißfällig vernommen, daß nicht nur die Gesellenschaft des Schneidermittels zu Breslau wegen einer vermutlichen Kränkung über Gerechtsamen am 26. und 27. April sich beikommen lassen aus der Arbeit zu gehen und auf eine tumultuarische Weise dem Urtheile der Obrigkeit vorausgreifen, sondern auch an denen folgenden Tagen die Gesellenschaften einiger anderer Zünfte, welche bei dem Streit gar nicht interessiert gewesen, aus einem mißverstandenen Gemeingeist mit der Gesellenschaft der SchneiderZunft, gemeinschaftliche Sache gemacht, die Arbeit ihrer Meistern verlassen, Aufläufe verursacht und in Zusammenrottierung mit Lehrjungen, Handlangern und anderm liederlichen Gesindel Unfug und Gewalttätigkeiten gegen das Privateigentum verübt [...] sich dem zur Steuerung dieses Unfugs abgeschickten Militärs-Commandos zu widersetzen [gewagt]. [...] Da nun dieses tumultuarische Betragen [...] [ist] festgesetzt worden, daß wenn die Gesellen unter irgendeinem Protest sich gelüsten lassen, einen Aufstand zu machen, folglich auch zusammenrottieren und bis ihnen in dieser [...] Präsentation oder Beschwerde geführt wurde, keine Arbeit mehr tun, an einem Werktage zu feiern und was das bis dahin mißlungenen Unfugs mehr wäre, Frevler und Mißetäter mit Gefängnis und Festungsbau auch nach Beschaffenheit der Umstände [...] [zu bestrafen] [...].“ Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1086, Bl. 9f. Am 7. Mai 1793 folgte ein weiteres Publicandum Hoyms, das sich an alle „außerhalb Breslau befindlichen schlesischen Unterthanen“ richtete. Vgl. Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 203. 36 Ebd., 130. 37 „Es sind von der löblichen Bürgerschaft 3 Zunft-Älteste in den Personen des Lohgerbers Sturm, Zinngießers Müller und Zeugmachers Kober erwählt, welche den Auftrag erhalten eine Reise nach Frankfurt am Mayn vorzunehmen und als Deputirte der gesamten Bürgerschaft Ihrer Königlichen Majestät [...] unterthänigste Suplique [...] daß die gesammte Bürgerschaft an dem vorgewesenen Tumult keinen Antheil genommen, personlich zu überreichen [...].“ Anzeige des Magistrats vom 7. Mai 1793. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1086, Bl. 22; der Brief Hoyms an den König existiert nicht mehr, da die Akte Archiwum Państwowe we

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für die Zukunft alle „Handwerksmißbräuche“ auszuschalten. Dass dieser Versuch jedoch nicht konsequent betrieben wurde – 1793 kam es in Regensburg zu keiner neuen Zunftdebatte –, mag auch mit der Unentschlossenheit der preußischen Behörden zusammengehangen haben. Während sich das Fabrikendepartement für eine Aufhebung der Zünfte einsetzte, erklärte sich das Generaldirektorium für deren Beibehaltung.38 Gegenüber den Gesellen in Breslau reagierte der König in seinem Schreiben vom 9. Mai 1793 mit Androhung einer exemplarischen Bestrafung für die Rädelsführer. Hinter dem Aufstand vermutete er polnische und französische Emissäre und legte Hoym ans Herz, den im Dunkeln schleichenden Aufwieglern und Freiheitspredigern auf die Spur zu kommen. Gleichzeitig kündigte er eine Untersuchung gegen Werner an.39 Offensichtlich befürchtete ein Teil der Gesellen eine bevorstehende Bestrafung und wanderte von Breslau weg. Nach Angaben der einzelnen Zünfte sollen sich Anfang Juni 1793 3.206 Gesellen und 802 Lehrburschen in Breslau aufgehalten haben. 84 von ihnen waren zwischenzeitlich abgewandert. Zu den großen Gesellenschaften zählten die Zimmerleute und Müller mit 480, die Maurer und Steinmetze mit 385, die Schneider mit 282 und die Schuhmacher mit 220 Gesellen.40 Trotz der scharfen Ankündigung des Königs kam es zu keiner Bestrafung der „Rädelsführer“. Die im Juni zusammengetretene Untersuchungskommission konnte keinerlei Einfluss französischer Emissäre feststellen, sondern machte aktenkundig, dass sich die Gesellen staatsloyal verhalten hatten und ihre Hochrufe auf den König und den Minister alles andere als revolutionären Geist verrieten. Es gelang den Gesellen – und das lag offenkundig auch im Interesse der Obrigkeit –, die Schuld an den eigentlichen Vergehen auf den „Pöbel“ abzuwälzen. Da die Kommission aber keine „Aufhetzer“ eruieren konnte, gingen alle Gesellen straffrei aus, obgleich sie sich doch einiger frappanter Gesetzesverletzungen schuldig gemacht hatten. Dieser Ausgang passt zu der recht willkürlichen Bestrafungsstrategie der Regierung Friedrich Wilhelms II.41 Die fast lautlose Beilegung des Konfliktes ist jedoch eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke des Systems Friedrich Wilhelms II. Davon zeugt auch der Versuch, den Aufstand vor dem österreichischen Bündnispartner zu vertuschen, von dem man in Berlin immer noch annahm, dass er noch nicht endgültig auf Schlesien verzichtet habe. Dem kaiserlichen Gesandten in Berlin gegenüber äußerten die Minister kein Wort. Der Wiener Gesandte war für seine Berichte auf einen Gewährsmann in Breslau angewiesen, der allerdings den Aufstand aus der Sicht Hoyms wiedergab.42

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Wrocławiu, MR XIV, 15 d, Vol. I, 1944/45 vernichtet worden ist. Inhaltlich zitiert bei Grünhagen: Breslauer Schneiderrevolte, 39f. Quelle Nr. 2.10. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 196f.; Kaufhold: Gewerbe, 438f. Grünhagen: Breslauer Schneiderrevolte, 40. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1054, Bl. 45–48. Ebd., 1043, Bl. 49. Quelle Nr. 2.3. In: Herzig/Sachs: Breslauer Gesellenaufstand, 143f. Ferner Haus-, Hof- und ­Staatsarchiv Wien, Preußen, Korrespondenz 1793, Fasc. 67, Bericht vom 22. Juni 1793; nach Ansicht dieses Breslauer Gewährsmannes hatte der Aufstand folgende Ursachen: „Der schon in



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Die Gesellen konnten sich durchaus als Sieger fühlen; denn in Zukunft waren sowohl die Mittelmeister als auch der Stadtmagistrat bemüht, jeglichen Konflikt ­zwischen Gesellenschaft und Zunft gleich in seinen Anfängen beizulegen. Als im Mai 1795 ein aus Celle stammender Tischlergeselle eine Lohndifferenz von vier Reichstalern einklagte, zahlte der betreffende Meister nicht nur diese Differenz, sondern auch eine Gebühr von neun Reichstalern Zehrgeldern, die der Geselle zusätzlich verlangte, was nicht dem geltenden Recht entsprach. Zudem wurden der Gesellenschaft die Gerichtskosten von einem Reichstaler erstattet. Die Meister taten dies, um sich nicht dem Vorwurf einer willkürlichen Behandlung der Gesellen auszusetzen. Die Darstellung des Hergangs samt den Gerichtsunterlagen wurde von den Meistern publiziert und diese öffentlich den Zünften anderer Städte zugeschickt. Dennoch legten hundert Gesellen ihre Arbeit nieder und zogen von Breslau weg, „obwohl [die Meister] ungerne [die Gesellen] zu verabschieden sich genöthiget sahen“.43 Trotz dieser Siege hatten die Gesellen den Kulminationspunkt ihrer Macht überschritten, denn bei den künftigen Breslauer Tumulten spielten sie nur noch eine untergeordnete Rolle. Bei dem Aufruhr vom 5. Oktober 1796 legten sie erst am 7. Oktober ihre Arbeit nieder und verlangten Genugtuung, nachdem schon zwei Tage vorher die „Bürger“ und der „Pöbel“ wegen Übergriffen des Militärs an einem alten Schiffer Soldaten und Offiziere beschimpft hatten.44 Als ein Jahr später, im Herbst 1797, fünfhundert Schuhmachergesellen sich „zusammenrottirten mit dem Vorsatze, nicht eher zu arbeimeinen vorigen Briefen Ihnen angezeigte Vorfall mit dem Schneiderburschen diente also lediglich zum Vorwand, einen Ausbruch zu veranlaßen, wozu nebst den aufs äußerste gebrachten Webern das unkluge und eigennützige Betragen verschiedener Breslauer Magistratsglieder auch die Gesellen der meisten übrigen Innungen mit hineingezogen haben mag. – Der erste Ausbruch der Gewaltthätigkeiten ward nunzwar wohl durch schleunige Vorkehrung zweckmäßiger Mittel von Seite der Regierung gedämpfet: allein der Freund der Ordnung, und der Ruhe sah nicht ohne Kummer, daß durch Ausstreuung schändlicher Aufruhrzettel und geheimer Verbreitung verkehrter Begriffe von Freiheit, und Gleichheit ein stilles Mißvergnügen unterhalten und den Geist der Zwietracht immer aufs neue angefacht wurde. – Diese bedenklichen Umstände haben unsern gnädigsten Landesherren ohne Zweifel bewogen, zu dem Theil seiner verwirrten schlesischen Unterthanen zugleich die Sprache des beleidigten Fürsten und des zärtlich besorgten Vaters zu führen [...].“ (Breslau, 18. Juni 1793). Der „erste Ausbruch der Gewaltthätigkeiten“ meint den Aufstand der schlesischen Weber vom März 1793. 43 Benutzt wurde das Exemplar „Geschichts-Erzählung“ aus dem Stadtarchiv Rostock (Rat – Handwerk und Gewerbe. 1.1.3.13-975 „Unruhe unter den Tischlergesellen 1750–1802“). Ich danke Herrn Tilo Propp für den Hinweis. 44 Im Bericht des Breslauer Magistrats vom 6. Oktober 1796 werden die Gesellen als Protestträger nicht genannt. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1046, Bl. 4f. Die National-Zeitung der Teutschen (1796) 1110–1113, hier 1112f., nennt Freitag, den 7. Oktober als Termin, da „die Gesellen sich vereinigten, nicht eher wieder in Arbeit zu gehen, bis die verlangte Genugthuung [für die Übergriffe des Militärs, d. Vf.] erfolgt wäre [...]“: Dagegen berichtet das Politische Journal (1796) 1162 in einem „Schreiben von Berlin vom 15. November“, dass „die Handwerksbursche daselbst [in Breslau, d. Vf.] einen sehr thätigen Antheil an den Unruhen genommen, und viele darauf ausgewandert sind“, dass deshalb das Generaldirektorium beauftragt

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ten, als bis ihrem Willen nachgelebt würde“, machte der Breslauer Gouverneur, Fürst von Hohenlohe, kurzen Prozess und ergriff „ernsthafte Maßregeln [...] alle Einländer, die zum Soldatendienst tauglich waren, an die Regimenter ihres Kantons ab[zu]liefern, den Ausländern aber ihre Kundschaften weg[zu]nehmen und sie über die Gränze bringen [zu] lassen“.45 Ein zweites Mal ließ sich das Militär nicht mehr in solch peinliche Verlegenheit verwickeln wie im April 1793. Zu einem Auflauf, der von Gesellen verursacht wurde, kam es in Breslau erst wieder 1810. Damals machten die Zimmergesellen Anstalten, ihre im Stockhaus sitzenden Kameraden zu befreien. 17 Zimmergesellen wurden daraufhin wegen „gesetzwidrigen Betragens“ arretiert.46 An dem ­Hungertumult von 1807 hatten sich keine Gesellen beteiligt. Träger dieses Tumults waren „Soldaten“ und „Vagabunden“. Rat und Bürgermeister drückten deshalb gegenüber „sämtlichen ­löblichen Mitteln“ ihre „Zufriedenheit“ aus, da sie als „rechtliche Bürger“ an diesen „Unordnungen“ nicht teilgenommen hatten.47 Wie in den norddeutschen Hansestädten, so hatten auch in Breslau, der bedeutendsten Zunftstadt Preußens, die Gesellentumulte in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre an Energie und Erfolgschancen verloren. Im Hintergrund wird die Strategie Preußens deutlich, zusammen mit den norddeutschen Reichsstädten die Gesellenorganisationen zu zerschlagen oder mittels scharfer Edikte die Tumulte im Keim zu ersticken. War die preußische Regierung 1793 noch gezwungen, gegenüber den Gesellen nachzugeben, um nicht während des Koalitionskrieges gegen Frankreich eine innere Front zu provozieren, so verfügte sie nach dem Frieden in Basel (5. April 1795) wieder über das gesamte Militärpotenzial, das nun gegen die aufrührerischen Gesellen und den unruhigen Pöbel eingesetzt werden konnte.48 Als es im Mai 1795 in Berlin zu einem Gesellenaufstand kam, erlaubte zwar der König der Bürgerschaft, durch Vermittlung den Aufstand zu beenden, ließ aber 51 Widerspenstige festnehmen und im Gegensatz zum Ausgang in Breslau drakonisch mit Peitschenhieben bestrafen. Die Untersuchung hatte ergeben, dass sich unter den Aufständischen Gesellen befanden, die bereits an der Breslauer Schneiderrevolte von 1793 teilgenommen hatten.49 Dies veranlasste wohl auch den Staatsminister Graf von Blumenthal, gegen die Handwerksgesellen in allen preußischen Städten vorzugehen, um ihren esprit de corps zu vernichten. Bereits am 29. Juli 1794 hatte die preußische Regierung ein „Allgemeines Patent wegen Abstellung des tumultarischen eigenmächtigen Verfahrens bey Beschwerdeführungen besonders supplicirender Gewerke und Corporationen“ erlassen, dessen Erfolg sich allerdings erst 45 46 47 48 49

worden sei, „ein Gesetz gegen das sogenannte Beschimpfen der Handwerker, zu entwerfen, und der allerhöchsten Vollziehung vorzulegen.“ Vgl. den Beitrag „Holtei und das Breslauer Bürgertum“ in diesem Band. National-Zeitung der Teutschen (1797) 985. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1087, Bl. 29. Ebd., Bl. 8. Grießinger: Das symbolische Kapital, 355–360. Politisches Journal (1795) 578–580.



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nach 1795 zeigte.50 Nach dem Breslauer Oktoberaufstand von 1796 veröffentlichte der König am 18. November des gleichen Jahres für Breslau ein Anti-Tumult-Edikt, das sich entsprechend der Erfahrungen aus diesem Aufstand zwar primär gegen den „zusammengelaufenen Pöbel“ richtete, aber unter Punkt zehn alle Meister aufforderte, „nicht allein stetswährend ihre Gesellen und Lehrlinge in Ordnung zu halten [...], sondern auch möglichst zu verhüten suchen, dass sie an keinem etwaigen Auflauff Antheil nehmen“. Und es folgte die Aufforderung: „Bey dem sich ereignenden Tumult müßen die Gesellen und Lehrburschen ruhig in ihrer Werkstatt verbleiben.“ Sollten sie dennoch aus „Neugier oder Neigung“ am Aufstand teilnehmen, so waren die Meister gehalten, die „Theilnehmer an einem Tumult“ bei der Obrigkeit anzuzeigen.51 Ähnliche Bestimmungen enthielt dann auch das für ganz Preußen gültige Anti-Tumult-Edikt vom 30. Dezember 1798, das bis 1848 die gesetzliche Grundlage für die Niederschlagung von Tumulten bildete.52 Auch in den Reichsstädten, allen voran Hamburg, ging man nun mit scharfen Edikten oder anderen Maßnahmen gegen die Gesellen vor, sodass nicht nur in Breslau, sondern auch in anderen Städten das stärkste Machtmittel der Gesellen, die auf der Basis einer festgefügten Organisation effektvoll durchgeführten Arbeitsniederlegungen und die damit verbundenen Aufstände, die Wirkung verlor.53 Reichsstädte wie Territorialstaaten hoben einfach die Gesellenladen auf und vernichteten dadurch das materielle, aber auch symbolische Zentrum dieser Korporationen. Bei der Zerschlagung der Gesellenschaften hatten die Zunftmeister den Obrigkeiten weitgehend Schützenhilfe geleistet, ohne dabei zu berücksichtigen, dass sich das Vorgehen der Obrigkeiten nicht nur gegen die „Handwerksgrillen“ der Gesellen, sondern generell gegen das Zunftsystem richtete. Als Preußen 1810 durch die neue Gewerbeordnung mit der Abschaffung der Zünfte ernst machte, erklärten die Zunftmeister dem Staat ihre Opposition.54 Bei dem letzten großen Handwerkeraufstand, den Breslau 1817 erlebte, bildeten deshalb nicht die Gesellen, sondern primär die Meister die Trägerschicht. Anlässlich der Ableistung des Militärdiensteides verweigerten diesen am 21. August 1817 119 Breslauer Landwehrmänner. Die Verweigerung führte zu einer nächtlichen Verhaftungsaktion der Rädelsführer und in ihrem Gefolge zu einem Sturm auf das Rathaus und das königliche

50 Abgedruckt in Krüger, Horst: Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preussen. Die mittleren Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Berlin (Ost) 1958, 649–653. 51 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1087, Bl. 24f. Am 7. Oktober 1796 hatte Hoym ein Publicandum ähnlichen Inhalts erlassen. Ebd., Bl. 7. 52 ������������������������������������������������������������������������������������������� Cirkular-Verordnung (Berlin 30. Dezember 1798). Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 96A, 128 E, Bl. 7. Vgl. Lüdtke, Alf: „Gemeinwohl“, Polizei und „Festungspraxis“. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen, 1815–1850. Göttingen 1982, 289. 53 Herzig: Organisationsformen, 99. 54 Vogel, Barbara: Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810–1820). Göttingen 1983, 198f.

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Regierungsgebäude. Als Anführer dieses Aufstands wurden im August 1818 zahlreiche Meister zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.55 Mit der Schneiderrevolte von 1793 endeten in Breslau die großen Gesellenaufstände. Bei den sozialen Protesten des 19. Jahrhunderts bildeten die Gesellen nur noch eine Gruppe unter den Tumultuanten.

55 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta miasta Wrocławia, 1048, Bl. 65–71; Bürkner, Robert/Stein, Julius: Geschichte der Stadt Breslau von ihrer Gründung bis auf die neueste Zeit, Bd. 1–3. Breslau 1851–1852, hier Bd. 2: Geschichte Breslaus vom Jahre 1740 bis zum Jahre 1840, 170–175; Herzig, Arno: Die unruhige Provinz. Schlesien zwischen 1806 und 1871. In: Conrads, Norbert (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin 1994, 465–552, hier 501–509.





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21. Der schlesische Weberaufstand. Das Ende des Sozialen Protests oder der Anfang der Arbeiterbewegung in Deutschland? Am 8. Juni 1844 meldete die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ eher nebenbei unter dem 4. Juni in der Rubrik „Aus Schlesien“: „Soeben hat ein Haufe Weber aus Peterswaldau, Langenbielau und der Umgegend in Peterswaldau (dem Konsistorialpräsidenten Grafen Stolberg gehörig) die Gebäude und Vorräte des Fabrikanten Zwanziger demoliert und zerstört. Die Familie des Zwanziger ist auf das Schloß des Grafen Stolberg geflüchtet. Das angemessene Einschreiten der Prediger Schneider und Knüttel hat vorläufig weiteren Unfug gehemmt, wozu Geldausteilungen des Fabrikanten Wagenknecht, der sein Haus nur durch diese bewahrt hat, beigetragen haben mögen. Es ist Militär aus Schweidnitz requiriert, das jeden Augenblick erwartet wird.“1 Das aus Schweidnitz requirierte Militär schien dem Tenor dieser Meldung nach – auch wenn es noch nicht eingetroffen war – die Dinge nach preußischem Muster wieder ins Lot zu bringen. Doch die Meldungen der nächsten Tage machen deutlich, dass das Sozialgefüge Preußens, wenn nicht ganz Deutschlands, in einer gefährlichen Krise steckte. Dies musste überraschen, galt Schlesien bei zahlreichen Zeitgenossen doch immer noch als eine der reichsten Provinzen Preußens.2 Doch schon 1819 hatte das Hardenbergsche Staatsministerium in einem ­Bericht festgestellt, dass in Schlesien seit etwa dreißig Jahren die technische Entwicklung nicht vorwärts, sondern eher rückwärts gegangen sei. Die Strukturkrise beurteilte man freilich unterschiedlich. Sah die Gruppe der Wirtschaftsreformer um Staatskanzler Karl August von Hardenberg in der schlesischen Krise nur eine vorübergehende Schwäche, bedingt durch die neue Zollsituation, so stufte die Gruppe um Innenminister Friedrich von Schuckmann sie als generelle Strukturkrise ein und plädierte für eine Unterstützung zur Aufstellung von Maschinen, um den Untergang der schlesischen Leinwandindustrie zu verhindern. Schuckmann setzte sich jedoch nicht durch. Die technologische Weiterentwicklung unterblieb, zumal es nur eine einzige Fabrik gab, die bereit war, Maschinen 1 Als wichtigste Quellensammlung mit weiterführendem Literaturverzeichnis vgl. Kroneberg, Lutz/ Schloesser, Rolf: Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der ­zeitgenössischen Publizistik und Literatur. Köln 1979; Zitat aus der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ ebd., 148. Zum politischen und sozialen Kontext vgl. Herzig, Arno: Die unruhige Provinz. Schlesien zwischen 1806 und 1871. In: Conrads, Norbert (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin 1994, 465–552; zur Vorgeschichte und zum Verlauf des Weberaufstands vgl. Meinhardt, Günther: Der schlesische Weberaufstand von 1844. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 17 (1972) 91–112; Büttner, Wolfgang: Weberaufstand im Eulengebirge 1844. Berlin 1982; Kessler, Wolfgang: Der schlesische Weberaufstand 1844. In: Bein, Werner (Hg.): Restauration, Vormärz und Revolution. Schlesien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Würzburg 1985, 29– 32; Hodenberg, Christiane von: Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos. Bonn 1997. 2 Hodenberg: Aufstand, 149–151.

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einzusetzen. Da die Leinenweber für immer weniger Lohn arbeiteten, sahen sich die Kaufleute nicht veranlasst, in die Garnspinnerei oder die Garnweberei zu investieren. Die preußische Regierung rückte deshalb von ihrem technologischen Entwicklungsplan für die schlesische Leinenindustrie ab und plädierte dafür, mittels Kasernierung und weiterer Disziplinierung die Weber zu höherer Produktion anzuspornen. Während die Leinenweber, nicht zuletzt auch aufgrund der längst hinfällig gewordenen feudalen Abgaben, die sie immer noch entrichten mussten, total verelendeten, konnten die Baumwollweber ihre Subsistenz einigermaßen sichern. Die schlesische Baumwollindustrie konzentrierte sich primär auf die beiden Orte Langenbielau (das schlesische Manchester) und Peterswaldau im Kreis Reichenbach. 1837 waren 95 Prozent aller Stuhlweber Heimgewerbetreibende und für Stücklohn beschäftigt, der nach zeitgenössischen Angaben gerade zum Überleben der Leute ausreichte. Die Weber erhielten Garne nebst Muster und Anweisung auf Vermittlung des Faktors oder Expeditors und empfingen bei der Rücklieferung ihr Entgelt.3 Nachdem mit Aufhebung der Kontinentalsperre ab 1815 der europäische Textilmarkt für die englische Konkurrenz offenstand, wurde eine Maschinisierung der Textilindustrie unausweichlich. Reformorientierte Beamte und junge Unternehmer schätzten die Situation realistisch ein, aber die Lösung der sozialen Frage, die damit verbunden war, erschwerte die Entwicklung. Das Beispiel sozialen Elends, das England bot und das sich auch in den ersten frühindustriellen Regionen Preußens, so in Aachen, abzeichnete, beeinträchtigte den Reformwillen. In Schlesien war der junge Unternehmer Karl August Milde (1805–1861) einer der Ersten, der sich mit diesem Problem konfrontiert sah. Als Student in Paris und England hatte er das moderne Industriewesen kennengelernt und war 1825 nach seiner Rückkehr nach Schlesien entschlossen, den gewerblichen Mittelstand zur Maschinenproduktion zu veranlassen, um mit der englischen, aber auch westdeutschen Konkurrenz mithalten zu können. Ebenfalls 1825 hatte er in Breslau die erste mechanische Baumwollspinnerei östlich der Elbe eröffnet. Den sozialen Konflikt, den er damit auslöste, schildert ein Jahr später, 1826, anschaulich der Breslauer Kaufmann Molinari: „Er [Milde, d. Vf.] hat ein großes fünf Stock hohes Fabrikgebäude bauen lassen, in dem er eine Menge Maschinen, die ihm viele Arbeiter ersparen sollen, angebracht, jedoch will der Papa seine solange gehabten und meistens verheirateten Leute nicht gehen lassen, da diese dann unglücklich wären. K. will wissen, daß die Leute, im Fall sie den Abschied bekämen, dem jungen Herrn den Garaus machen wollen.“4 3 Vogel, Barbara: Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810–1820). Göttingen 1983, 220–225; Fechner, Hermann: Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit 1741–1806. Breslau 1907, 150–155; Pönicke, Herbert: Die Familie Alberti in Waldenburg. Ein Beitrag zur schlesischen Wirtschaftsgeschichte. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 17 (1972) 113–142. 4 Herzig: Unruhige Provinz, 489.



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Die frühindustrielle Entwicklung kam in Deutschland nur sehr langsam in Gang. Es fehlte neben dem einheitlichen Zoll- und Wirtschaftsgebiet eine Infrastruktur, die einen Absatz auf dem internen Markt ermöglicht hätte. Erst in den 1850er Jahren besserten sich die Transportmöglichkeiten durch den Eisenbahnbau, der darüber hinaus zum eigentlichen take-off der industriellen Entwicklung führte und die Anlage von Handelskapital in Industriekapital lukrativ machte. Im Gegensatz zur Entwicklung in England hatte in Deutschland die Textilindustrie (insbesondere die mechanischen Baumwollspinnereien und -webereien) diese take-off-Funktion nicht übernommen, da sich für die Kaufleute größere Industriebetriebe in diesem Sektor nicht rentierten, solange das Heimgewerbe mit den Produkten der Industrie konkurrieren konnte. Dies wurde vor allem infolge der enormen Produktionssteigerung der Heimgewerbetreibenden bewerkstelligt, die auf diese Weise die ständig fallenden Löhne zu kompensieren hofften. Es war nicht der allgemeine Kapitalmangel, der die Industrialisierung verzögerte, sondern das geschäftliche Risiko, das den Unternehmer davon abhielt, sein Handelskapital in Industriekapital umzuwandeln, solange er die Produkte aus dem Kauf- und Verlagssystem auf dem Markt absetzen und den Gewinn in gewinnträchtigen Staatsobligationen investieren konnte.5 Dieser konservativen, am Überkommenen festhaltenden Einstellung der Kaufleute/Unternehmer kam eine ähnliche Einstellung der Heimgewerbetreibenden entgegen, die ihre selbstständige Arbeit mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten versuchten und in den einschlägigen „Industriegebieten“ die mangelnden Subsistenzmittel durch die Arbeit ihrer Kinder und ihrer Frauen in den Protofabriken zu kompensieren hofften. Den technologischen Wandel begriffen sie eher als Gefahr: „Wenn die gegenwärtige Einrichtung mit den Spinnmaschinen im In- und Auslande ungehindert fortgeht, so müssen Tausende von Handspinnern ohnfehlbar zu Grunde gehen“,6 erklärte der Weber Hauffe dem Regierungsassessor Alexander Schneer, als dieser 1844 Material für sein Buch „Über die Noth der Leinen-Arbeiter in Schlesien“ sammelte. Entscheidend für die Weiterentwicklung von Manufaktur und Heimgewerbe zur frühindustriellen Fabrik, der Protofabrik, war im technischen Bereich die Kombination von Werkzeug- und Antriebsmaschine, die an die Stelle der bisherigen Steuerfunktion der Maschine durch den Menschen die Steuerfunktion durch den Automaten treten ließ. Der Produktionsprozess wurde damit unabhängig vom Arbeitsrhythmus, den bis dahin der Produzierende bestimmt hatte. Der Übergang ist sicherlich nicht als einmaliger Sprung zu verstehen, der nun etwas qualitativ völlig Neues brachte. Die Kombination von Antriebs- und Werkzeugmaschinen hatte es bis dahin auch schon bei den sogenannten Mühlen oder Hämmern gegeben, also in der Eisenindustrie. Neu war, dass im Übergang zur Frühindustrialisierung die Arbeitsmaschine erheblich verbessert wur5 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Borchert, Knut: Zur Frage des Kapitalmangels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. In: Braun, Rudolf u. a. (Hg.): Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte. Köln/Berlin 1972, 216–236. 6 Schneer, Alexander: Ueber die Noth der Leinen-Arbeiter in Schlesien und die Mittel ihr abzuhelfen. Ein Bericht. Berlin 1844, 11.

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de und handwerkliches Können sich erübrigte; die Arbeit konnte also auch von Frauen und Kindern durchgeführt werden.7 Die maschinelle Entwicklung verlief im Osten Preußens zögerlicher als in seinen Westprovinzen. Hier hatten, insbesondere im Raum Aachen, die liberale napoleonische Gesetzgebung und das französische Absatzgebiet schon unter der Kontinentalsperre die Industrialisierung eingeleitet. Schlesien dagegen war infolge der Westerweiterung Preußens nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich an den Rand gerückt und konnte wegen der schwierigen Transportbedingungen seine Produkte nur stark verteuert auf den westlichen Märkten anbieten. Hinzu kam, dass aufgrund von neuen russischen Zollbestimmungen alte Märkte im Osten verloren gingen. So gab es eine maschinelle Baumwollproduktion seit 1838 nur in der Firma A. Graßmann in Wüstegiersdorf, während die Firma Dierig in Langenbielau 1840 lediglich eine Dampffärberei und mechanische Mangel eingerichtet hatte. Hier wurden die Produkte der Heimgewerbetreibenden weiterverarbeitet.8 Um die Technisierung voranzutreiben, fehlte jedoch zunächst in Schlesien eine Maschinenbauanstalt – ein Mangel, den vor allem der aus Schlesien stammende Leiter der Preußischen Seehandlung in Berlin, Christian Rother, zu beseitigen trachtete. Die Funktion der Preußischen Seehandlung bestand zu dieser Zeit weitgehend in der finanziellen Förderung von Industrieprojekten in Preußen. Mit Krediten der Seehandlung errichteten 1833 der Breslauer Kaufmann Gustav Heinrich Ruffer und der „Bau-Conducteur und Mechaniker“ Hoffmann in Breslau eine Maschinenbauanstalt, die 1836 bereits zweihundert Arbeiter beschäftigte. Doch gelang es ihr nicht, sich gegen die englische Konkurrenz für Textilmaschinen zu behaupten. Erst mit dem Bau der schlesischen Eisenbahnlinien gewann sie ab 1844 durch den Bau von Dampfmaschinen an Bedeutung.9 Trotz der Initiativen Rothers bestimmten im preußischen Finanz- und im Innenministerium seit den 1820er Jahren die Kräfte die Entwicklung, die eine ­Maschinisierung eher zu bremsen als zu fördern trachteten. Das macht eine Denkschrift deutlich, die 1829 in Berlin als Stellungnahme zu den schlesischen Landtagsbeschlüssen von 1828 verfasst wurde.10 Sie betont in Berufung auf Schriften aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert den „Zustand der armen Gebirgsweber, wie sie im steten und ungleichen Kampfe mit dem [!] wenigen auf monopolitische Weise marktenden Handelsherren 7 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1–5. München 1987–2008, hier Bd.  1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, 112–120; Herzig, Arno: Die Reaktion der Unterschichten auf den technologischen Wandel der Proto- und Frühindustrialisierung. In: Archiv für Sozialgeschichte 28 (1988) 1–26, hier 3–5. 8 Herzig: Unruhige Provinz, 488–500. 9 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 494; Webersinn, Gerhard: Gustav Heinrich Ruffer. Breslauer Bankherr – Pionier des Eisenbahngedankens – Förderer schlesischer Wirtschaft. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 11 (1996) 154–196. 10 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 77, Tit. D XXIII d. Ständische Verfassung seit 1823. Stände Schlesien, Bl. 139–155.



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kaum den nothdürftigsten Lohn für unabläßige mühvolle Arbeit erstreben können“.11 Auch die größte Konkurrenz der Schlesier, die irische Leinenproduktion, komme ohne die ­Maschinen aus und habe lediglich „durch größere Sorgfalt im Spinnen, Sortiren und Weben und in der Appretur“ den Vorzug vor dem schlesischen Fabrikat gewonnen. Nur mittels löblicher Sorgfalt könne die schlesische Industrie diesen Konkurrenten erreichen oder überbieten, „eine glückliche Concurrenz unseres Fabrikats wieder herzustellen“. Ausgeglichen werden könne „die verminderte Linnenfabrikation [...] durch erhöhete Baumwollfabrikation, deren Entstehen fast ganz der neuen Zeit angehöret, und welche um so mehr als ein wirklicher Gewinnst für die Natural-Industrie anzusehen ist“, womit die beiden Ministerien durchaus recht hatten. Allerdings dachten sie wohl hierbei weniger an eine fabrikmäßige Produktion, denn den Fortschritt dokumentieren sie mit dem Anstieg der Webstühle (1819: 3.951 – 1825: 6.773), an denen heimgewerblich gearbeitet wurde. Bemängelt wurde schon damals, was dann auch in der Kritik nach 1844 eine wichtige Rolle spielte: die zu geringe Anpassung bzw. Anpassungsfähigkeit schlesischer Baumwollprodukte an die schnell wechselnden Moden.12 Doch auch nach 1844 setzte die Regierung auf eine Ausbildung durch Spinner in Spinnschulen und Flachsbereitungsschulen und dekorierte alle Persönlichkeiten, die sich in Privatinitiative darin hervortaten.13 Die Seehandlung richtete dementsprechend Flachsbereitungsanstalten in Suckau und Patschkey ein, was aber nichts gegen die Konkurrenz der Maschinenproduktion half. Zum Durchbruch in Richtung auf eine nun forcierte Maschinenproduktion führte die Erkenntnis des jüdischen Unternehmers Salomon Kauffmann 1851 auf der Weltausstellung in London, „daß sich für Kattun und ähnliche Stoffe die Handweberei gegenüber der Maschinenweberei nicht halten könne, daß man höchstens noch Barchent und bunte, besonders buntkarierte Ware weiter auf Handstühlen werde machen können“.14 Nach Schlesien zurückgekehrt, richtete er eine mechanische Weberei ein, deren Produkte bald mit den englischen Produkten konkurrieren konnten. Damit leitete Kauffmann einen Prozess ein, der die schlesische Textilproduktion wieder konkurrenzfähig machte, und korrigierte so den Fehler der Langenbielauer Fabrikanten, die in den 1840er Jahren ihr Geld nicht in die Weiterentwicklung der Industrie investierten, sondern für Spekulationen mit Eisenbahnaktien oder zum Bau hochherrschaftlicher Häuser verwendeten.15 Den Konkurrenzdruck versuchten sie mit immer niedrigeren Löhnen, die sie den Heimwebern zahlten, auszugleichen. Nicht die Konkurrenz der 11 Herzig: Unruhige Provinz, 488–500 (hier auch die folgenden Zitate). 12 Meinhardt: Der schlesische Weberaufstand, 109; Boldorf, Marcel: Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750–1850). Köln/Weimar/ Wien 2006, 29–35. 13 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 120, A IV 9, Bl. 92–100. 14 Richarz, Monika (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte. Stuttgart 1976, 306–316, hier 311. 15 Meinhardt: Der schlesische Weberaufstand, 93–95.

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fabrikmäßigen Produktion, sondern der demonstrative und in den Augen der Weber zu Unrecht erworbene Reichtum der Fabrikanten Zwanziger, Fellmann, Hofrichter und Langer führte zu dem gewalttätigen Protest. Die Motive der Weber werden deutlich in dem bedeutendsten Protestlied des Vormärz, dem „Blutgericht“, einer wohl kollektiven Schöpfung, wie die Wiederholung der Motive in den einzelnen Strophen zeigt.16 Die Not der Weber und die Brutalität der Fabrikanten werden krass gegenübergestellt. Der reiche Fabrikant nimmt dem armen Weber das letzte Hab und Gut. Er fährt in Staatskarossen, baut „hoch Paläste mit Türen, Fenstern, prächtig weit“, verachtet die Religion und „hält sich ans Weltgetümmel“.17 Eine pietistische Lebensauffassung und Moral ist in den Vorwürfen deutlich zu erkennen. Als die Peterswaldauer Weber am 4. Juni 1844 zunächst das Haus und das ­Comptoir des Fabrikanten Zwanziger zerstörten und im Vorratslager Garn und Gewebe vernichteten, handelten sie aus „Rache“, wie die „Vossische Zeitung“ bemerkt, aus Rache, die – wie die Weber meinten – „Gott wohlgefällig“ sei.18 Sie agierten damit gemäß der Logik des Sozialen Protests, die sich an den Grundsätzen der Moralischen Ökonomie, nicht aber an der Gesetzmäßigkeit des kapitalistischen Marktes orientierte. Laut der Moralischen Ökonomie hatte der Brotherr für einen angemessenen Unterhalt seiner Arbeiter zu sorgen. Tat er dies nicht, sondern sammelte er auf Kosten seiner Arbeiter Reichtümer, war es gerecht, diesen Reichtum zu zerstören.19 An das Moralgefühl der Zeitgenossen richtete sich deshalb das „Blutgericht“. Der „Gewinn“ werde den „Armen“ weggenommen, die sich „von der Zeit gedrängt [...] in dem Lohn einschränken“. Im Gegensatz zu ihrer bereitwilligen Einschränkung aber hatten die Weber in den vergangenen zwanzig Jahren die historische Erfahrung gemacht, dass die Fabrikanten „übermütig“ wurden und sich die Attribute des Königs und des hohen Adels aneigneten: Staatskarossen, Paläste, Kutscher in Livree und Staatsdomestiken. Der Fabrikant sollte deshalb in seinem Reichtum getroffen werden. Gerhart Hauptmann deutet dieses Motiv in seinen „Webern“ sehr treffend, wenn er den alten Ansorge sagen lässt: „Nimmst Du mir mei Häusl, nehm ich dir dei Häusl. Immer druff !“20 Deshalb wollten die Weber das Haus des Fabri-

16 Älteste Überlieferung des sogenannten Weberlieds durch Wilhelm Wolff in: Püttmann, H[ermann]: Deutsches Bürgerbuch für 1845. Darmstadt 1845 [ND Köln 1975], 199–202 (hier auch die folgenden Zitate). 17 Diesen demonstrativen Reichtum der Fabrikanten bezeugt auch Wilhelm Wolff, wenn er die Häuser der Fabrikanten mit ihren „herrlichen Spiegelscheiben, Fensterrahmen in Kirschbaumholz, Treppengeländern von Mahagonie“ beschreibt. Wolff, Wilhelm: Aus Schlesien, Preußen und dem Reich. Ausgewählte Schriften. Hg. v. Walter Schmidt. Berlin (Ost) 1985, 75. 18 Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 144 (22. Juni 1844), Breslau 17. Juni 1844. In: Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 188–190. 19 Herzig, Arno: Unterschichtenprotest in Deutschland 1790–1870. Göttingen 1988, 48–58. 20 Hauptmann, Gerhart: Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren. Berlin 1892, 90; Knapik, Piotr: Die Rezeption von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ in Schlesien. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990) 179–190.



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kanten auch nicht anzünden, weil dieser sich aus der Versicherungssumme wieder einen neuen Palast hätte bauen können.21 Der Maschinensturm spielte bei dem schlesischen Weberaufstand eine fast nebensächliche Rolle. Im Gegensatz zu den kurze Zeit später ausbrechenden Drucker- und Spinnerrevolten in Prag und Nordböhmen waren in Schlesien die Maschinen nicht das Ziel des Protests. Erst als am zweiten Tag nach dem Eingreifen des Militärs die Erregung der Protestierenden auf ein Höchstmaß gestiegen war, zerstörten diese in der Fabrik Dierig die Jacquard-Webstühle. Den Maschinenstürmern stellten sich dabei die Fabrikarbeiter entgegen, „welche an ihnen [den Maschinen, d. Vf.] ihren reichlichen Unterhalt gefunden haben“.22 Dem Berichterstatter der „Vossischen Zeitung“ zeigten diese Arbeiter, Tränen in den Augen, wie die Rebellen gewirtschaftet hätten. Es war nicht nur die Angst vor einer Explosion, die die Demonstranten von der Zerstörung der Dampfmaschine abgehalten hatte. Die Maschine übte auch eine gewisse Faszination auf sie aus: „Die Eingedrungenen musterten sie, erstaunt und verwundert, tippten sanft an diese und jene Schraube und riefen einander zu: Das sei doch sehr schön.“23 Der schlesische Weberaufstand beeindruckte die Zeitgenossen aufgrund der Entschlossenheit und Geschlossenheit, mit der die Weber ihre Protestaktionen ausführten. Doch trotz der Kommunikations- und Organisationsstrukturen, die sich in wenigen Tagen entwickelten, kam es nicht zu einer Verständigung der Weber im gesamten schlesischen Weberdistrikt. Trotzdem war die Obrigkeit sehr schnell geneigt, Aktionen ausländischer Emissäre zu vermuten. Rädelsführer der Aktionen, nach denen die Obrigkeit fahndete, gab es im eigentlichen Sinn beim Maschinensturm und Fabrikenprotest aber nirgendwo. Einige Wortführer und besonders Aktive wurden häufig unter dem Verdacht der Rädelsführerschaft festgenommen, doch gewann keiner dieser Protestierenden einen so großen Einfluss auf die Mitakteure, dass er die Aktionen bestimmte. Keiner von ihnen entwickelte eine Programmatik, sieht man von den Anklagen ab, die das „Blutgericht“ enthält. „In dem Gedicht: ‚Das Blutgericht in Peterswaldau‘“ – so interpretierte auch die „Vossische Zeitung“ am 22. Juni 1844 die Bedeutung dieses Liedes – „fanden die aufgeregten Gemüter ihren Brennpunkt und gewissermaßen ihre Fahne; es ist ein offenes Manifest aller der Klagen und Beschwerden, welche bis dahin nur verstohlen leise von Mund zu Mund wanderten“.24 Es ist gleichsam das Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses. Dieser schloss, wie beispielsweise in Peterswaldau, nicht aus, dass die Überzeugungskraft der Argumente durch Faustschläge unterstrichen werden konnte.25 Auch fühlte man sich nicht solidarisch mit den Webern aus der

21 Aachener Zeitung, Nr. 165 (14. Juni 1844). Auszug in Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 167–170. 22 Ebd. 23 Ebd., 175. 24 Ebd., 188. 25 Ebd., 190.

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Die Karikatur erschien 1847 in der seit 1845 in München erscheinenden humoristischen Wochenschrift „Fliegende Blätter“. An ihr wirkten Künstler wie Carl Spitzweg, Wilhelm Busch oder Franz Graf von Pocci mit. Neben Karikaturen veröffentlichte die Wochenschrift auch Gedichte und Erzählungen. Die „Fliegenden Blätter“ zeichneten sich durch satirische Darstellungen und überspitzte Aussagen, wie hier zum schlesischen Weberaufstand, zum Elend der Weber und der „offiziellen Abhülfe“ aus.

benachbarten Grafschaft Glatz, denen man den Verkauf ihrer Produkte bei den Langenbielauer Handelsherren verwehren wollte.26 Der Weberaufstand wurde allgemein als das sozialpolitische Ereignis des Vormärz verstanden. Die Kritik der Zeitgenossen richtete sich primär gegen die Fabrikanten, denen in der Presse vorgeworfen wurde, die Verluste bei Aktienspekulationen durch 26 Hodenberg: Aufstand, 30–32.



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Lohndrückerei kompensiert zu haben. Zudem wurde ihre harte und herabwürdigende Art kritisiert, mit der sie den Webern gegenüber auftraten.27 Die Bauern des Schweidnitzer Kreises, denen vom Landrat befohlen wurde, „auf Pferden die Wälder und Schluchten zu durchsuchen und alle Aufrührer, welche sie vorfinden, nach Schweidnitz ab[zu]liefern“,28 hielten wohl eher zu den Webern als zur Regierung. Wilhelm Wolff berichtet von einem Bauern, den er am 9. Juni in Jauernik (Kreis Schweidnitz) traf und der ihm erklärte: „Und wenn ich öber an Waber foalle, ich war gewieß kann sahn.“29 Landesweit entstanden Hilfsvereine. So gründete Peter Christian Beuth einen „Verein für das Wohl der Hand- und Fabrikarbeiter“. Für ihn stand fest, dass das Maschinenzeitalter Männer mit besseren Kenntnissen brauche, als diese bei den Handarbeitern und Tagelöhnern alter Art vorhanden seien. Die Kinderarbeit hielt er für unumgänglich; für den Unterricht der Kinder sollten besondere Fabrikenschulen eingerichtet werden.30 Auf den Weberaufstand geht ferner die Gründung des „Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“ zurück, der wohl bedeutendsten Institution bürgerlichen Sozialengagements. Doch kritisierte schon damals Wilhelm Wolff aus sozialistischer Sicht: „Nur eine Reorganisation, eine Umgestaltung der Gesellschaft auf dem Prinzipe der Solidarität, der Gegenseitigkeit und Gemeinschaftlichkeit, mit einem Wort: der Gerechtigkeit, kann uns zum Frieden und zum Glücke führen.“31 Die Fakten und Folgen des Schlesischen Weberaufstandes gilt es festzuhalten und zu betonen, denn bald nach der Niederschlagung des Aufstandes setzte dessen Mythisierung ein. Die frühsozialistische Theorie dokumentierte das Ereignis nüchtern als Akt der Verzweiflung, der die ehrlichen und gutmütigen Gebirgsbewohner zu „gesetzlosen Schritten getrieben hat“.32 Auch Wilhelm Wolff bietet in seinem Aufsatz „Das Elend und der Aufruhr in Schlesien“, geschrieben Ende 1844, eher eine realistische als eine ­ideologische Deutung. Doch schon der neunzehnjährige Ferdinand Lassalle, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Schlesien lebte, sondern in Berlin studierte, deutet in einem aufschlussreichen Brief an seine Eltern in Breslau den Weberprotest folgendermaßen: „Etwas ganz anderes ist es mit den Peterswaldauer und Langenbielauer Vorfällen. Hier ist es Ernst, blutiger Ernst! Merkt Ihr etwas? Hört Ihr’s gewittern am Horizont? Fürchtet Euch nicht, es wird diesmal vorübergehen, und noch einmal vorübergehen – aber dann wird’s einschlagen! Du schreibst, wir leben in einer bewegten Zeit. Jawohl, sehr bewegt, aber der heiligen Jungfrau sei’s Dank, daß die Zeit endlich zur Bewegung gekommen, daß sie sich aufzuraffen anfängt aus der alten sündhaften Indolenz, in die sie 27 28 29 30 31 32

Meinhardt: Der schlesische Weberaufstand, 93f.; Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 203. Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 184. Wolff: Aus Schlesien, 75. Meinhardt: Der schlesische Weberaufstand, 109f. Wolff: Aus Schlesien, 79. So die damals vom Frühsozialisten Karl Grün geprägte Trier’sche Zeitung, Nr. 171 (19. Juni 1844). In: Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 178–180; Trox, Eckhard: Karl Grün (1817–1887). Eine Biographie. Lüdenscheid 1993, 32f.

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verfallen! Gerissen ist die Zeit aus den Gelenken, aber die neue Hamletnatur fährt im Gegensatz zu der alten so fort: ‚Wohl mir, daß ich geboren bin, sie wieder einzurenken.‘ Oder seid Ihr denn wirklich so stockblind, taub, dumm, an allen Sinnen gelähmt und geschlagen, daß Ihr nicht merkt, was das alles zu bedeuten hat? Die Not, das Unglück, die Entzweiung mit dem gesellschaftlichen Zustand, die sich jetzt in so vielen Phänomenen kundtut, durch so unzählige Prismen bricht, Weberarmut und Aktienschwindel, das ist auf das engste innerlich verknüpft und ein Eines, die Prismen und Strahlenbrechungen nur verschieden, das Licht, der Strahl der eine. Alle diese verschiedenartigen Phänomene sind Möwen, Möwen sag’ ich Euch, Sturmvögel, die da verkünden, daß der Sturm des neuen Geistes im Anzug sei. Wird man mir nun endlich glauben, daß an den modernen Prophezei­ungen doch etwas dran ist? [...] Nein, nein, man täusche sich nicht. Das ist der Anfang jenes Krieges der Armen gegen die Reichen, der fürchterlich nah ist. Das sind die ersten Regungen und Zuckungen des Kommunismus, der theoretisch und praktisch unsere Adern erfüllt und durchdrungen hat. Das sind die ersten krampfhaften Anstrengungen, die der Embryo im Mutterleib macht, wenn er sich losringen will zum Fürsichsein und zur Tageshelle. Das sind die ersten Wehen. [...] Die Weber sind also endlich auf die Idee gekommen, selbst ein Komitee zu bilden zur ‚Abhilfe der Not der armen Weber und Spinner im Gebirge‘, und ich glaube gewiß, daß ihr Plan auf die Länge der Zeit nachhaltiger und gründlicher wirken wird. [...] Und wie bewußt das alles zugegangen. Hast Du gelesen? Als man dem Volk den Vorschlag machte, die Fabrikhäuser niederzubrennen, verwarfen sie dies einstimmig. ‚Denn‘, sagten sie, ‚damit würde unser Zweck nicht erreicht. Die Fabrikanten sind verassekuriert; sie würden den Schaden ersetzt bekommen; und unser Zweck wäre verfehlt, sie so arm zu machen, wie wir selbst sind!‘ Das ist schon nicht mehr rohe Vernichtungswut, das ist schon klare, selbstbewußte Zwecktätigkeit.“33 Die Entzweiung mit der Gesellschaft zeigt sich für Lassalle in den sozialen Missverhältnissen der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft. „Weberarmut und Aktienschwindel“ stehen hier für eine sich ständig wiederholende Krise, womit er die Ursachen für die Katastrophe von 1844 durchaus treffend analysiert. Die ­Peterswaldauer Fabrikanten hatten ihren Gewinn nicht nur in ihren demonstrativen Reichtum, sondern auch in den Aktienmarkt des Eisenbahnbaus investiert und damit 1844 hohe Verluste erlitten. Der Ausgleich dafür erfolgte über eine weitere Lohndrückerei. Diese „Entzweiung mit dem gesellschaftlichen Zustand“ war für den Junghegelianer Lassalle aber nur durch die Identität von Denken und Sein zu lösen. Im Sommer 1843 hatte er diese These in einem Fragment „Grundzüge zu einer Charakteristik der Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung der Hegelschen Philosophie“ dargelegt;34 nun versuchte er, sie in die Politik umzusetzen. Der gesellschaftliche Auseinanderfall aber werde in der Konsequenz der neuen kommunistischen Theorie in den „Krieg der Armen gegen 33 Lassalle, Ferdinand: Nachgelassene Briefe und Schriften. Hg. v. Gustav Mayer, Bd. 1–6. Stuttgart 1921–1925, hier Bd. 1: Briefe von und an Lassalle bis 1848, 101f. (Brief vom 12. Juni 1844). 34 Na’aman, Shlomo: Lassalle. Hannover 1970, 24.



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die Reichen“ einmünden. Nicht ein historisches Gesetz, das von den materiellen Entwicklungen abhängig sei, führe in diesen Krieg – eine materialistische Geschichtsauffassung vertrat Lassalle nie –, sondern das Auseinanderfallen von Denken und Sein. Dabei überschätzte er allerdings die Aktionen der Weber, die sich nach Lassalle in einem „Komitee“ zusammenschlossen, sich im Gegensatz zu den in Breslau Protestierenden also organisierten.35 Die gleiche Fehleinschätzung findet sich bei Marx. Er stellt den schlesischen Weberaufstand in seinem „theoretischen Charakter“ über den der „französischen und englischen Arbeiteraufstände“. Denn: „Der schlesische Aufstand beginnt gerade damit, womit die französischen und englischen Arbeiteraufstände enden, mit dem Bewußtsein über das Wesen des Proletariats.“ Die schlesischen Weber zerstörten – so Marx – nicht nur die Maschinen, „diese Rivalen des Arbeiters“, sondern auch die Kaufmannsbücher, „die Titel des Eigentums“. Nach Marx treffe diese „Bewegung“ nicht den einzelnen „Industrieherren, den sichtbaren Feind“, sondern zugleich „den Bankier, den versteckten Feind“,36 also das kapitalistische System. Konstituierten sich in diesen Aktionen die Arbeiter als Klasse für sich und traten im Klassenkampf gegen die Bourgeoisie an, wie Marx und Engels im Hinblick auf die schlesischen und böhmischen Fabrikemeuten von 1844 behaupten? Der schlesische Weberaufstand enthielt keine Elemente, die frühere Aufstände nicht schon aufgewiesen hätten, weder in der Theorie noch in der Praxis. Der Verlauf entsprach dem der meisten Subsistenzproteste: die Versammlung auf dem freien Feld, der Beschluss, den Normenverletzer zu bestrafen, schließlich die Zerstörungsaktionen, die sich gegen die Attribute des demonstrativen Reichtums richten. Der Maschinensturm spielte sich fast nebensächlich ab. Die Vernichtung der Maschinen war nicht das Ziel der Protestierenden, wie ihr Protestlied, das „Blutgericht“, beweist. Dass das Protestlied vor dem Haus des Fabrikanten vorgetragen wurde, entsprach der Tradition der Katzenmusiken. Auch in den 1790er Jahren sangen die Unterschichten bei ihren Protesten „pöbelhafte Lieder“ vor dem Haus des zu Bestrafenden. Was von Marx als „Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums“ interpretiert wird, den die Protestierenden in „schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise“ herausschrien,37 basierte auf dem tradierten Verständnis, dass der Wucherer, der sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert habe, „gleichgemacht“ werden müsse. Angesichts der krassen Not in Schlesien bedeutete dies, dass die Fabrikanten „so arm zu machen [sind], wie wir selbst sind“.38 Die Forderung dieses Satzes, die von Lassalle als „Kommunismus“, von Karl Grün in der „Trier’schen Zeitung“ als „roher Kommunismus in seiner ganzen negativen

35 Zu Lassalles früher Theorie grundlegend vgl. ebd., 22–30; Lassalle, Ferdinand: Reden und Schriften. Mit einer Lassalle-Chronik. Hg. v. Friedrich Jenaczek. München 1970, 437. 36 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Bd. 1–43. Berlin (Ost) 1956–1990, hier Bd. 1 [131981], 404. 37 Ebd. 38 Lassalle: Nachgelassene Briefe, Bd. 1, 102.

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Gewalt“ gedeutet wird,39 erklärt sich vollständig erst aus dem Kontext. Sie wurde als Argument gegen die Forderung, die Häuser der Fabrikanten anzuzünden, ins Feld geführt: In diesem Fall kämen die Versicherungen für den Schaden auf; der eigentliche Zweck der Aktionen aber, den Fabrikanten mit der Vernichtung seines Reichtums zu bestrafen, wäre dann verfehlt.40 Selbst die Zerstörung der Kaufmannsbücher hatte insofern Tradition, als schon im Bauernkrieg die Giltbücher und bei den Subsistenzprotesten der 1790er Jahre die Kaufmannsbücher zerstört worden waren, wie bei einem Rostocker Protest, der sich 1800 gegen die Kaufleute richtete.41 Beim 1844er Aufstand vernichteten die Weber die Kaufmannsbücher, da dort ihre Schulden festgehalten waren.42 Dass sie mit dem Verzicht auf Brandstiftung klare, selbstbewusste Zwecktätigkeit bewiesen, war ebenfalls nichts Neues. Bei den meisten Protesten und Bestrafungsaktionen gingen die Demonstrierenden sehr überlegt vor und handelten gezielt. So zerstörten sie in den meisten Fällen nur die Artikel, mit denen der Kaufmann „Wucher“ betrieb, oder demolierten die Gegenstände, mittels derer Reichtum offensichtlich zur Schau gestellt wurde. Bei einem Hungerprotest 1800 in der Hafenstadt Rostock forderten die Demonstrierenden vom Postmeister, ihnen die Namen der Kaufleute zu nennen, die größere Summen aus England erhielten, also während einer Hungersnot am Export verdient hatten. In den 1790er Jahren bestand die schwerste Bestrafung in der Zerstörung des Hauses. Damit wurde nicht nur das sinnfälligste Symbol des unredlich erworbenen Reichtums vernichtet, sondern der Wucherer – wie die Protestierenden meinten – jeglichen Schutzes beraubt.43 Die Aktionsformen und Äußerungen der schlesischen Weberaufstände brachten weder in der Theorie noch in der Praxis etwas Neues. Dass das Proletariat sich in den Weberaufständen deutlich sichtbar als eine selbstbewusste Klasse formiert habe, die der Bourgeoisie gegenübergetreten sei, noch ehe diese sich als „Klasse [...] politisch konstituiert“ habe,44 ist also ein unzutreffendes Urteil. Die Einschätzung Engels’, in 39 Das Zitat aus der Trier’schen Zeitung in: Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 180. 40 Wilhelm Wolff schreibt darüber: „Ich darf den Vorschlag einiger Weber: die Häuser anzuzünden und die Verwerfung desselben aus dem Grunde: weil die Beschädigten dann Brandgelder erhielten und es doch darauf ankomme, sie auch einmal arm zu machen, damit sie erführen, wie Hunger thue, als charakteristisch nicht unerwähnt lassen.“ Wolff, Wilhelm: Das Elend und der Aufruhr in Schlesien. In: Deutsches Bürgerbuch für 1845. Hg. v. H[ermann] Püttmann. Darmstadt 1845 [ND Berlin 1975], 174–202, hier 190. 41 Eggers: Reflectierende Aufbewahrung der am 29. October 1800 in Rostock ausgebrochenen zerstörenden Insurrection. Rostock 1801, 29; Herzig, Arno: Die norddeutschen Subsistenzproteste der 1790er Jahre. In: Gailus, Manfred/Volkmann, Heinrich (Hg.): Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990. Opladen 1994, 135–150, hier 142f. 42 „Nicht gegen die Regierung oder Verwaltung, sondern gegen die Schuldbücher der Kaufleute und Fabrikanten. Diese Bücher sollen meist zerschnitten und vernichtet worden sein, wo man ihrer habhaft wurde.“ Allgemeine Preußische Zeitung, Nr. 160 (10. Juni 1844). In: Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 150. 43 Herzig: Unterschichtenprotest, 53f. 44 Marx/Engels: Werke, Bd. 4, 351.



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Deutschland habe die „Arbeiterklasse ihren Anfang mit den Erhebungen der schlesischen und böhmischen Fabrikarbeiter im Jahre 1844 genommen“,45 betont zu sehr das Singuläre dieses Ereignisses und geht von der Bedeutung aus, die es für die erschrockene bürgerliche Gesellschaft des Vormärz erhielt. Es verkennt die Tradition, in der die 1844er Aufstände stehen. Die Theorie der moral economy, die diese Tradition vermittelte, konnte sich mit ihren reaktiven Forderungen allerdings nicht gegen die immer weiter um sich greifenden kapitalistischen Marktregeln behaupten. Hier bestand sicher ein Theoriedefizit gegenüber der kapitalistischen Ideologie. Doch die Tradition des Sozialen Protests vermittelte Organisations- beziehungsweise Kommunikationsformen und Solidaritätserfahrungen, die für die organisierte Arbeiterbewegung von Bedeutung werden sollten. Die Einschätzung der Protestaktionen vonseiten sozialistischer und kommunistischer Theoretiker war ambivalent. Die Aufstände 1844 in Schlesien und Böhmen blieben für Marx, Engels und auch Lassalle die bewunderte Ausnahme. Die negative Einschätzung sonstiger Protestaktionen der Unterschichten war bestimmt von dem radikalen Verdikt von Marx und Engels und auch der anderen Vertreter der Arbeiterbewegung über die größte Gruppe der Unterschichten, das Lumpenproletariat. Diese „passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft wird“ – so das Verdikt im „Kommunistischen Manifest“ – „durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“.46 Damit war der Trennungsstrich deutlich gezogen: auf der einen Seite der klassenbewusste Arbeiter, der die Revolution herbeiführte, auf der anderen Seite der Pöbel, dem alles zuzutrauen war. Die organisierte Arbeiterbewegung der 1840er Jahre achtete mit kleinbürgerlicher Akkuratesse auf diese Trennung und verurteilte die Aktionsformen des Unterschichtenprotests. Der Weberaufstand als das Neue, das Zukunftsweisende, der gleichzeitig in Breslau sich abspielende Sozialprotest der Handwerksgesellen als „Mutwillen fenstereinwerfender Gassenbuben“47 – so stellten sich für Lassalle die schlesischen Protestereignisse im Juni 1844 dar. Dass in Breslau die Behörden die Soldaten nicht aufmarschieren ließen, um „mit Ruten bewaffnet“ die „Gamins nach Haus zu jagen“,48 empörte den jungen Lassalle. Seine Empörung ist insofern verständlich, als es bei den Breslauer Protesten zu antijüdischen Ausschreitungen der Handwerker kam, von denen vermutlich auch Lassalles Familie betroffen war.49 Entscheidend für die Verurteilung des Sozialen Protests vonseiten Lassalles war allerdings weniger das Auftreten der „Gamins“ als die Ziel- und Planlosigkeit der Aktionen, die zu keinen festen Ergebnissen führen konnten. Ange45 46 47 48 49

Ebd., Bd. 8, 22. Ebd., Bd. 4, 472. Lassalle: Nachgelassene Briefe, Bd. 1, 100. Ebd. Vossische Zeitung, Nr. 144 (22. Juni 1844). In: Kroneberg/Schloesser: Weber-Revolte, 194; Wolff: Aus Schlesien, 194.

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Die Fahne des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) wurde 1873 von schlesischen Arbeiterfrauen für das zehnjährige Stiftungsfest der Breslauer Gemeinde des ADAV angefertigt. Die Parole verweist auf die Grundsätze der Französischen Revolution, das Emblem im Lorbeerkranz auf den ersten Zusammenschluss in der Arbeiterverbrüderung während der Revolution von 1848.

sichts des Plans einer fest organisierten Arbeiterbewegung, mit dem sich Lassalle trug, bedeuteten für ihn diese „Putsche, Überraschungen ohne Dauer und ohne Halt“ – wie er schreibt – keine Alternative zu einer „feste[n] soziale[n] Partei“, sondern „hinter diesem Banner“ bilde sich nur eine Masse mit „wilde[m] Appetite“, „ebenso schnell zerronnen wie gewonnen“. Die „Gährung des Hasses und der wilden sansculottischen Wuth“ aber könne zu keiner Lösung der „sozialen Frage“ führen, wie er in seiner bekannten Frankfurter Rede vom 19. Mai 1863 ausführt, die in gedruckter Form als „Arbeiterlesebuch“50

50 Lassalle, Ferdinand: Arbeiterlesebuch. Rede Lassalle’s zu Frankfurt am Main am 17. und 19. Mai 1863, nach dem stenographischen Bericht. Frankfurt a. M. 1863.



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zur Standardlektüre der deutschen Arbeiterbewegung wurde.51 Seine Fehleinschätzung im Hinblick auf die Akteure des schlesischen Weberaufstands von 1844 aber korrigierte er zwanzig Jahre später in seiner Analyse im „Arbeiterlesebuch“, die zur Gründung der ersten sozialdemokratischen Partei, dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, führte. Der schlesische Weberaufstand aber wurde zum Symbol für die spätere Arbeiterbewegung. Zum Repertoire der „lebenden Bilder“, in denen die Sozialdemokraten ihre Geschichte darstellten, gehörte auch der alte Weber, der erschossen wurde, dessen Sohn aber in der Arbeiterbewegung den Kampf weiterführte. Wenn auch mit zwanzig Jahren Verzögerung, führte der schlesische Weberaufstand von 1844 schließlich doch zur Gründung der deutschen Sozialdemokratie.

51 Ferdinand Lassalle’s Reden und Schriften. Hg. v. Eduard Bernstein, Bd. 1–3. Berlin 1892–1893, hier Bd. 2, 561–622 (Zitate 573f.).

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22. Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811 Infolge des Tilsiter Friedens (1807) und der territorialen Neugestaltung Deutschlands nach den Vorstellungen Napoleons hatte Preußen drei Universitäten verloren. War die Aufhebung der bedeutungslosen Universität Duisburg und der erst 1791 ­gewonnenen Universität Erlangen zu verschmerzen, so verlor das Land mit der Universität Halle/ Saale eine der damals bedeutendsten Universitäten Deutschlands. Es blieben die Universitäten Königsberg und Frankfurt/Oder. Die Niederlage hatte den Weg frei für Reformen gemacht. Auch wenn das angebliche Wort des damaligen Königs Friedrich Wilhelm III.: „Es gelte durch geistige Kräfte [zu] ersetzen, was es [Preußen, d. Vf.] an physischen verloren hat“ umstritten ist,1 so bleibt doch die Tatsache, dass Wilhelm von Humboldt, seit 10. Februar 1809 Leiter des Departements für Kultus und Unterricht im Innenministerium, die Universitätslandschaft Preußens neu planen konnte. In seinem Königsberger Antrag vom Mai 1809 auf Errichtung der Universität Berlin ging es Humboldt darum, die in Misskredit geratene Institution Universität gegen die insbesondere von Frankreich favorisierte neue Einrichtung von Spezialschulen zu verteidigen. Nach seinem Vorschlag sollten bei einer Neuordnung des preußischen Universitätswesens die beiden noch existierenden Universitäten Frankfurt/Oder und Königsberg erhalten bleiben sowie in Berlin, das über eine Reihe wissenschaftlicher Institute und Sammlungen verfügte, eine neue Universität eingerichtet werden.2 Für die Finanzierung sollten unter anderem „7.000 Taler des ehemaligen Schlesischen JesuitenFonds“ herangezogen werden.3 Im Hinblick auf die Universität Breslau verfolgte Wilhelm von Humboldt die seit König Friedrich II. gültige Perspektive, diese Universität als theologisch-philosophische Hochschule beizubehalten, deren Fonds aber für andere Universitäten, so für Berlin, zu nutzen. Dabei sollte Breslau – so Humboldts Planung am 28. Mai 1810 – „für das Studium aller katholischen Theologen des preußischen Staates“ zur Verfügung stehen.4 Von der Breslauer Regierung wurde dieser Plan durchaus positiv aufgenommen. Regierungsrat Albert Zimmermann, als Herausgeber der „Schlesischen Provinzialblätter“ äußerst einflussreich bei der öffentlichen Meinungsbil1 Becker, Thomas: Diversifizierung eines Modells? Friedrich-Wilhelms-Universitäten 1810, 1811, 1818. In: Bruch, Rüdiger vom (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 2010. München 2010, 43–68, hier 44. 2 Humboldt, Wilhelm von: Antrag auf Errichtung der Universität Berlin (Königsberg, den 24. Juli 1809). In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1960– 1981, hier Bd. 4: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, 113–120; Langewiesche, Dieter: Humboldt als Leitbild. Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011) 15–37, hier 15–17. 3 Humboldt: Antrag, 120. 4 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 4: betr. die Universität zu Breslau, Bd. I, fol. 2.

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dung, war von Wilhelm von Humboldt und dessen Mitarbeiter, dem Staatsrat Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, in die Planung einbezogen worden. Zimmermann plädierte dafür, für die Theologiestudenten Freitische an den Breslauer geistlichen Stiften einzurichten.5 Von einer Säkularisation der geistlichen Güter, die wenig später am 11. August 1810 per Kabinettsorder befohlen wurde, war zu diesem Zeitpunkt (Ende Mai 1810) weder in Berlin noch in Breslau die Rede. Die Breslauer Regierung schlug als Reformmaßnahme lediglich vor, die sechs dortigen Lehrstühle „mit tüchtigen Männern“ zu besetzen, um auf diese Weise der „durch den Geist des Zeitalters genährte[n] Abneigung gegen das theologische Studium“ Einhalt zu gebieten.6 Alle weiterführenden Pläne, die Breslauer Universität zu einer Volluniversität umzugestalten, wie dies 1807 der Breslauer katholische Aufklärer Johann Joseph Kausch gefordert hatte, waren damit vom Tisch.7 Nicolovius trug am 27. Juni 1810 dem König die für Breslau vorgesehene Einrichtung sowie den Beitrag der geistlichen Stifte, den diese dann leisten sollten, vor, und der König fand am 11. August 1810 diesen Vorschlag „ganz angemessen“.8 Die Situation änderte sich aufgrund der sehr plötzlich erfolgenden Säkularisation der geistlichen Institutionen durch die Kabinettsorder vom 30. Oktober 1810. Hatte Humboldt noch die Beibehaltung der Viadrina in Frankfurt/Oder befürwortet, so schienen sein Nachfolger als Leiter des Kultusdepartements (ab März 1810) Kaspar Friedrich von Schuckmann und auch Nicolovius davon nicht mehr viel zu halten. In einem Bericht an Staatskanzler von Hardenberg wiesen sie am 26. November 1810 darauf hin, dass nach dem Güterverlust der Frankfurter Universität infolge des Tilsiter Friedens die Finanzierung der Universität Frankfurt/Oder nicht gesichert und der Weggang vieler Studenten als „Signal für die Auflösung“ zu werten sei.9 Die letztendliche Entscheidung des Königs, die Viadrina nicht aufzulösen, sondern sie in Breslau mit der dortigen Universität zusammenzulegen, erfolgte wohl im Anschluss an die Argumentation einer Immediateingabe, die am 12. Februar 1811 Schuckmann an den König richtete.10 Es bleibt offen, wer der Initiator dieser entscheidenden Immediateingabe war. Der Breslauer Historiker Richard Roepell, der sich 1861 zur Fünfzigjahrfeier der Neugründung mit der Geschichte der Stiftung der Königlichen Universität zu Breslau – so der Buchtitel – befasste, schreibt dieses Verdienst dem Mitdirektor der Unterrichtsabteilung Johann Wilhelm Süvern zu.11 Süvern war nach Humboldts Abgang der entscheidende Theoretiker der pädagogischen Reform. Der bekannte Philosoph Wilhelm Dil5 Ebd., fol. 3. 6 Ebd. 7 [Andreae, Friedrich (Hg.):] Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. [Breslau 1936,] 1f. 8 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 4, fol. 7–9. 9 Ebd., I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien Nr. 1, Bd. 1, fol. 2f. 10 Ebd., fol. 12; ferner auszugsweise in [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 9f. 11 Roepell, Richard: Zur Geschichte der Stiftung der königlichen Universität zu Breslau. Im Auftrag des Senats der Universität. Breslau 1861, 10 (ohne Quellennachweis).



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they, von 1871 bis 1882 Professor in Breslau, bezeichnet in einem Lebensbild Süvern als „eine[n] der eigendenkenden willensmächtigen Männer, welche die Reform des preußischen Staates nach dem Frieden von Tilsit herbeiführten“.12 Roepell lobt Süverns „treffliche Mitwirkung bei der Gründung unserer Universität“.13 Dennoch stammt nach Aktenlage die Immediateingabe vom 12. Februar 1811 nicht von Süvern, sondern von Humboldts Nachfolger als Chef des Kultusdepartements, Kaspar Friedrich von Schuckmann. Schuckmann kannte die schlesischen Verhältnisse. Er war von 1790 bis 1795 Oberbergrichter in Schlesien gewesen.14 Es ist davon auszugehen, dass Süvern die Immediateingabe entwarf und Schuckmann sie weitgehend übernahm. In einer sehr bildreichen Sprache wird hier die Viadrina mit einem „welkenden“, die Leopoldina mit einem „unreifen, noch nicht zur vollständigen Entwicklung gelangten Körper“ verglichen. Der Zustand der Breslauer Universität erkläre sich aus den „schwach besetzte[n] und beinahe schulmäßig eingerichtete[n] katholisch theologischen und philosophischen Fakultäten, indem [da, d. Vf.] es zu der früher schon projektierten Stiftung der juristischen und medizinischen noch nicht gekommen“ sei.15 Schon die Immediateingabe enthält einen wichtigen Vorschlag, der die neu zu gründende Universität Breslau von allen bisherigen Universitäten unterscheiden sollte: die Gleichsetzung der Konfessionen auf Universitätsebene durch die Einrichtung sowohl einer katholischen als auch einer evangelischen theologischen Fakultät. Damit sollte die herkömmliche konfessionelle Bestimmung einer Universität, die auch noch für Göttingen und Halle galt, beseitigt werden. Dies bedeutete einen weiteren Schritt zur Säkularisierung der Universität. Für die Standortwahl Breslau spielte – wie es in der Immediateingabe heißt – „die Lage des Ortes in Beziehung auf Königsberg und Berlin sowohl als auf die angrenzenden Länder“ eine Rolle.16 Die Universitäten in Preußen sollten also in gleichem Abstand voneinander liegen, Breslau sollte zudem Studenten aus dem Ausland, „besonders aus dem Herzogtum Warschau“,17 anziehen. Breslau – so weiter in der Immediateingabe – habe im Gegensatz zu Frankfurt außerdem den Vorteil, dass die infolge der ­Säkularisierung gewonnenen Gebäude für einen kulturellen und auch geistlichen Zweck verwendet würden, was auch von den Katholiken als eine „wohltätige Folge“ für den „­katholischen Kultus“ angesehen werde. Zudem erfülle die Neugründung der Universität Breslau einen „oft geäußerten Wunsch der Schlesier“, zumal durch die „Vereinigung der neuen 12 Dilthey, Wilhelm: Süvern. In: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 37. Berlin 1892, 206–245, hier 211. 13 Roepell: Geschichte, 10. 14 Friedrich von Schuckmann war in erster Ehe mit der schlesischen Adligen Henriette von Lüttwitz, der Geliebten Goethes, verheiratet. Deren Vater hatte 1790 Goethes Heiratsantrag abgelehnt. Vgl. Scheible, Hartmut: Goethes schlesische Liebe und der alte Casanova, Frankfurter Allgemeine Zeitung 196 (24. August 2011), N4. 15 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien Nr. 1, Bd. 1, fol. 12 (hier die Zitate). 16 Ebd. 17 Ebd.

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Universität [Breslau, d. Vf.] ein bedeutender Teil der Revenuen zukäme, die jetzt an die Viadrina gingen“.18 Die Argumente für die Verlegung der Viadrina nach Breslau und damit für eine Neugründung der dortigen Universität müssen den König überzeugt haben, vor allem da sie von einflussreichen Schlesiern unterstützt wurden.19 Johann Gustav Gottlieb Büsching, der seit November 1810 die Säkularisationsgüter verwaltete, berichtet von der Begeisterung, die dieses Vorhaben in Breslau hervorgerufen habe.20 Am 24. April 1811 erfolgte die entscheidende Kabinettsorder des Königs, die die Verlegung der Viadrina nach Breslau und die Vereinigung mit der dortigen Universität verfügte und den Beginn des Lehrbetriebs an der neuen Universität schon für das Wintersemester 1811/12, also für den Oktober 1811, festschrieb.21 An Schuckmann ging die Aufgabe, die Verlegung und Neueinrichtung in Breslau zu organisieren. Er griff dabei auf einen Vorschlag Humboldts für die Gründung der Berliner Universität zurück, indem er nun auch in Breslau die vorhandenen, hier insbesondere medizinischen Institutionen für die Universität nutzen wollte.22 Die dort tätigen Angestellten sollten ebenfalls für die Lehre gewonnen werden, zumal sie „sich schon durch ihre Vorlesungen auf eine rühmliche Weise ausgezeichnet“ hätten,23 wie die Breslauer Regierung der Berliner Kultusbehörde mitteilte. Offenkundig gab es in Breslau bereits vor der Universitätsgründung medizinische Vorlesungen.24 Von den bisherigen Frankfurter Professoren schlug Schuckmann am 25. Juni 1811 zehn Kandidaten vor, die aus allen Fakultäten kamen.25 Am 3. August, seinem Geburtstag, erließ der König den von Schuckmann ausgearbeiteten Vereinigungsplan.26 Dieser musste zunächst die Statuten ersetzen, die für Breslau erst fünf Jahre später, wieder an des Königs Geburtstag, nämlich am 3. August 1816, erlassen wurden. Immerhin bekamen die Breslauer ihre Statuten früher als die Berliner, die bis zum 26. April 1817 warten mussten. Mag sein, dass Schuckmann hier seine Universitätsgründung bevorzugte.27 Durch den Vereinigungsplan wurde die bisherige Breslauer Einrichtung eines „beständigen Rektors“, 18 19 20 21 22 23 24

Ebd. Ebd., fol. 19. Ebd., fol. 8. [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 13. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76, VIII A, Nr. 492, fol. 1–3. Ebd., fol. 3. Brenker, Anne-Margarete: Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg/München 1999, 195–206. 25 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien Nr. 1, Bd. 1, fol. 38f. 26 Rabe, Carsten: Alma Mater Leopoldina. Kolleg und Universität der Jesuiten in Breslau 1683– 1811. Köln/Weimar/Wien 1999, 371. Der Vereinigungsplan: Geheimes Staatsarchiv ­Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien Nr. 1, Bd. 1, fol. 42–57. Ferner Conrads, Norbert (Hg.): Quellenbuch zur Geschichte der Universität Breslau 1702 bis 1811. Köln/Weimar/Wien 2003, 463–473. 27 Becker: Diversifizierung, 54–56.



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was – wie Schuckmann meinte – „dem Geist der deutschen Universitäten widersprach“, abgeschafft,28 der bisherige Rektor Grollmus in Pension geschickt. Der Rektor sollte nun für eine einjährige Amtszeit vom Senat gewählt werden. Der erste Rektor der neuen Universität wie auch der Kurator wurden jedoch vom König ernannt. Rektor wurde der von der Viadrina nach Breslau gekommene Mediziner Berends, Kurator der (katholische) Graf Wenzel von Haugwitz. Das Amt des Kurators war neu. Dieser sollte das Berliner Kultusdepartement an der Breslauer Universität vertreten. Der Vereinigungsplan regelte ferner die Zusammensetzung des Senats (§ 5) und die Rangordnung der Fakultäten (§ 9), wobei sich die katholische und die evangelische theologische Fakultät jeweils an der Spitze abwechselten. Auch hier achtete man auf den neuen paritätischen Charakter der Universität. Es sollten „alle Professoren, Dozenten, Offizianten und Studierende der Universität ohne Unterschied der Konfession ein Ganzes bilden“ (§ 9).29 Allerdings nahm der Plan auf spezifische katholische Bedürfnisse „zur Beruhigung unserer katholischen Untertanen“ Rücksicht,30 wie der König meinte (§ 6). Es sollten zwei Philosophielehrstühle, einer für katholische und einer für protestantische Studierende, eingerichtet werden. Im Hinblick auf die bisherige schlechte Ausbildung der katholischen Theologen schrieb der Plan für katholische Theologiestudenten ein Propädeutikum vor, das von ihnen verlangte, Vorlesungen in Mathematik, alten Sprachen und Geschichte „mit Nutzen“ zu besuchen (§ 11).31 Der Plan begründete zudem die in Zukunft an die Professoren zu entrichtenden Gehälter, die eine ­Bandbreite von 520 bis 2.000 Talern aufwiesen.32 Am schlechtesten schnitten die katholischen Theologen ab. Hier orientierte sich Schuckmann an den Gehältern, die an der alten Leopoldina gezahlt wurden.33 Die Durchführung der Studienordnung regelte eine vom Berliner Kultusdepartement in Breslau eingesetzte „Academische Organisierungskommission“, die bis zum 22. September 1811 ein interimistisches Reglement entwickelte, um – wie es hieß – die akademischen Verhältnisse nicht „einer gesetzlosen Willkür preiszugeben“.34 Zum Vorsitzenden („Präses“) wurde der Regierungsbaurat Christoph Ludwig Friedrich Schulz ernannt. Für ihn als Präses sprach seine gute Arbeit, die er in der Breslauer Säkularisationskommission geleistet hatte.35 Die Vorschläge dieser Kommission achteten auf eine strikte Trennung von Gymnasium und Universität, die es an der ehemaligen Jesuitenuniversität nicht gegeben hatte. Für das Studium bestimmte das Reglement „den unausgesetzte[n] fleißige[n] Besuch der Collegia“,36 sah aber ein freies Studium mit 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Geheimes Staatsarchiv Berlin, I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien Nr. 1, Bd. 1, fol. 3. Ebd. Ebd. Ebd. Rabe: Alma Mater, 372. Ebd., 368, 376. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 4, fol. 29. [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 14f. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 4, fol. 35.

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nicht vorgeschriebenem Studienplan vor. Allerdings sollten die Studenten auf „Fortschritte in den humanistischen und philosophischen Studien“ achten.37 Neben ihrem „Berufsstudium“ – so heißt es im Text – sollten sie sorgfältig „cultiviert“ werden. Auch wenn aus keiner Vorlage ersichtlich, so waren diese Vorschriften wohl von Süvern beeinflusst. Er arbeitete damals mit Friedrich Schleiermacher die Berliner Universitätsstatuten aus, die gleichsam als „Berliner Modell“ von der Breslauer Universität mit einigen Varianten übernommen wurden.38 Die Breslauer Organisierungskommission hatte mit Semesterbeginn ihre Arbeit beendet. Süvern bedankte sich bei dem Vorsitzenden Schulz, da es ihm vor allem zu verdanken sei, dass die Universität in so kurzer Zeit eröffnet werden konnte. Er habe – wie Süvern schreibt – seine Rolle in der Breslauer Säkularisationskommission „zur finanziellen Begründung und Aushilfe der Universität sorgsam genützt“.39 Schulz durfte deshalb mit den übrigen Kommissionsmitgliedern die Vereinigungsfeier am 20. Oktober 1811 eröffnen. Bei dieser Feier erhielt er als Erster die Ehrendoktorwürde der neuen Universität.40 Für die ausstehenden Statuten wurde 1812 unter Leitung des Breslauer Juristen Professor Mahdin eine Kommission eingerichtet, die ihre Vorschläge, die der Rektor noch einmal bearbeitete, nach Berlin einsandte, wo eine erneute Bearbeitung stattfand. War in dem Statutenentwurf vom 1. Juli 1812 zunächst – wohl mit Rücksicht auf die Frankfurter – der Name der neuen Universität Universitas Litterarum Viadrina Wratislawiensis vorgesehen, so bestimmten die endgültigen Statuten von 1816 als Namen die Bezeichnung „Universität zu Breslau“ beziehungsweise im Lateinischen Universitas Litterarum Wratislawiensis.41 Diesen Namen behielt die Universität fast einhundert Jahre, bis sie sich dann 1911 anlässlich der Hundertjahrfeier nach ihrem Stifter Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau nennen durfte.42 Die neue Universität Breslau ging zwar aus den vereinigten Universitäten Frankfurt/ Oder und Breslau hervor, doch Süvern war bemüht, neue Professoren nach Breslau zu holen.43 So gewann er den Physiker und Meteorologen Heinrich Wilhelm Brandes, der

37 Ebd., fol. 32. Süvern plädierte für eine milde Zugangspraxis an die Universität für Studierende, die keinen ordnungsgemäßen Abschluss eines Gymnasiums vorweisen konnten. 38 Becker: Diversifizierung, 54. 39 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 4, fol. 106. 40 Conrads (Hg.): Quellenbuch, 475f. 41 �������������������������������������������������������������������������������������������� Nadbyl, Bernhard: Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau. Bei Gelegenheit ihrer fünfzigjährigen Jubelfeier am 3. August 1861 im Auftrage des akademischen Senats. Breslau [1861], 22. 42 Ziekursch, Johannes: Bericht über die Jahrhundertfeier der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Breslau, Breslau 1912. In: [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 347f. 43 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Vermieden werden sollte die alte „Familien-Universität“, in der sich Professorendynastien herausgebildet hatten, die die Berufungen quasi in ihren Familien regelten. Die neu zu Berufenden sollten sich allein durch wissenschaftliche Qualifikation ausgezeichnet haben. Vgl. Becker: Diversifizierung, 56. Die Korrespondenz bezüglich der Berufungen: Geheimes Staatsarchiv ­Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 4, Tit. 4, fol. 3–40.



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1798 den kosmischen Ursprung der Meteore nachgewiesen hatte.44 Süvern versuchte, insbesondere Professoren von der ehemals preußischen Universität Halle nach Breslau zu holen. Das gelang nicht immer.45 Glück hatte er jedoch bei Henrik Steffens, den er als Professor für Physik mit einem Jahresgehalt von 1.500 Talern nach Breslau locken wollte. Steffens, der – wie er Süvern am 17. März 1811 schreibt – zunächst auf einen Ruf an die neue Universität Berlin gehofft hatte, bezeichnete dann doch den Ruf nach Breslau als „ein vorzügliches Glück“.46 Über seine negative Einschätzung Breslaus, die sich allmählich änderte, wissen wir aus seinen Lebenserinnerungen.47 Doch die politischen Verhältnisse in Halle (so drohte ihm dort seine Festnahme) sowie seine pekuniäre Situation (auch in Breslau kam er von seinen Schulden nicht herunter) erklären wohl am ehesten sein „vorzügliches Glück“. Professoren der traditionellen Universitäten, die angefragt wurden, so aus Tübingen oder aus Landshut wie Michael Sailer, wechselten jedoch nicht nach Breslau, abgesehen von dem protestantischen Theologen Johann Christian Wilhelm Augusti, der aus Jena kam.48 Von der neu gegründeten Universität Berlin konnte dagegen der Altphilologe Ludwig Friedrich Heinrich Heindorf gewonnen werden. Er gründete im Sommersemester 1812 das erste philologische Seminar an der Universität Breslau.49 Überraschend war die Übernahme einer Professur durch Friedrich von Raumer, den Mitarbeiter Hardenbergs. Wie sein Schwager Henrik Steffens in seinen Lebenserinnerungen berichtet, war Raumer mit den politischen Verhältnissen, wie sie sich seit 1811 entwickelten, unzufrieden und ging deshalb als Professor für Staatswissenschaften nach Breslau. Dorthin kam als Geologe auch sein Bruder Karl von Raumer.50 Die neue Universität Breslau sollte wie die Berliner nach Humboldts Plänen von forschendem Lernen durch die enge Verbindung von Forschung und Lehre geprägt 44 Brandes erhielt die Professur für Mathematik, die seinen Wünschen entsprach, wie er Süvern am 12. Juni 1816 mitteilte. Er erklärte sich mit den achthundert Talern Jahresgehalt einverstanden, „in der Hoffnung, dass Breslau kein überaus teurer Ort ist“, forderte aber tausend Taler Umzugsgeld, da er sein kleines Haus und ein Stück Land in Vegesack bei Bremen verkaufen müsse. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 4, Tit. 4, fol. 6. 45 Nicht zu gewinnen vermochte Süvern den Physiker Ludwig Wilhelm Gilbert, der nach Leipzig ging. Dieser bezeichnet in seinem Brief vom 29. Juni 1811 an Süvern die Universität Breslau als „Ihre [Süverns, d. Vf.] Schöpfung“. Ebd., fol. 7f. 46 Ebd., fol. 30. 47 [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 28f. Bezüglich seiner Lehre schreibt Steffens am 17. März 1811 an Süvern: „Mein eigentliches Fach ist allgemeine combinatorische Naturwissenschaft, die ich teils als Darstellung einer geschichtlichen Entwicklung der Erde, die zugleich eine allgemeine physikalische Theorie der organischen Natur enthält, teils als Physiologie oder allgemeine physikalische Theorie der organischen Natur vortrage.“ Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 4, Tit. 4, fol. 30f. 48 [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 15. 49 Ebd., 25. 50 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd.; Vogel, Barbara: Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810–1820). Göttingen 1983, 89.

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sein. Alle Wissenschaften sollten in der Universitas Litterarum eine Einheit bilden. Die Inhalte bestimmten allerdings die Lehrenden. Insgesamt wurden an die fünf neuen Fakultäten 33 Professoren berufen oder zum größten Teil von den beiden ursprünglichen Universitäten übernommen. Den größten Anteil stellten die Professoren der Philosophischen Fakultät, die ein breites Fachspektrum bot und auch die Staats- und Naturwissenschaften mit abdeckte. Von den insgesamt 18 Professoren dieser Fakultät kamen je sechs aus Breslau oder Frankfurt, sechs waren neu berufen worden. Während die evangelischen Theologen weitgehend aus Frankfurt kamen beziehungsweise neu berufen worden waren, stammten die sechs katholischen Theologen ausschließlich von der Leopoldina.51 Süverns Versuch, den bekannten Theologen Michael Sailer nach Breslau zu holen, war gescheitert.52 Bei den insgesamt vier Juristen der Juristischen Fakultät kamen drei aus Frankfurt, einer wurde neu berufen. Die Medizinische Fakultät setzte sich aus zwei Frankfurter und drei Breslauer Professoren zusammen. Letztere kamen – wie es Schuckmann geplant hatte – aus den bereits in Breslau existierenden medizinischen Instituten.53 Im Gegensatz zu Berlin, wo 1810 der Vorlesungsbetrieb ohne jede Zeremonie begann, hatte in Breslau die „Academische Organisierungskommission“ für den 20. Oktober 1811 eine Eröffnungsfeierlichkeit festgesetzt, die zum einen das Zusammengehen der beiden ursprünglichen Universitäten demonstrieren, zum anderen aber auch den neuen Charakter als paritätische Universität zeigen sollte. Eine säkulare Feier in der Aula bot gleichsam den Ersatz für den traditionellen Gottesdienst in der Universitätskirche. Symbolisch wurde mit dem Bild des Königs, das über dem großen Katheder angebracht war, auf den Stifter der neuen Universität hingewiesen. Auf den Stufen zur rechten Seite des Katheders lagen die beiden Szepter der ehemaligen Universitäten, darunter das der Viadrina geschenkte Szepter Gustav Adolfs von Schweden. Für die neue Universität war ein eigenes vergoldetes Szepter geschaffen worden, das – wie es in der „Schlesischen Zeitung“ heißt – „auf dem mit rothem Samt bedeckten Altartisch“ lag.54 War Frankfurt/ Oder einst die brandenburgische Landesuniversität, so war bildlich nun davon nichts mehr wahrzunehmen. 16 Studierende, als Marschälle verkleidet, bildeten eine Ehrenformation im mittleren Gang der Aula. An ihren Stäben prangten die schlesischen Landesfarben blau und gelb. Auf ihren Schilden stand der neue Name der Universität Viadrina Wratislawiensis, der allerdings – wie bereits bemerkt – 1816 durch die Statuten in Universitas Litterarum Wratislawiensis abgeändert wurde. Die Professoren saßen in den für die Fakultäten bestimmten erhöhten Sitzen an der Seite des Saals, die Theologieprofes-

51 Rabe: Alma Mater, 534. 52 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 1, fol. 160f. 53 Rabe: Alma Mater, 534. 54 ������������������������������������������������������������������������������������������ Der Bericht über die Feier stammt aus der Schlesischen Zeitung vom 20. Oktober 1811. Abgedruckt in Conrads (Hg.): Quellenbuch, 474–477, hier 474.



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soren in ihrer geistlichen Amtstracht, die weltlichen Professoren in Schwarz und – was uns heute nicht recht nachvollziehbar ist – mit einem langen Degen bekleidet. Umrahmt wurde diese Feier mit Musik des bekannten Domkapellmeisters und ab 1815 Lehrers am Kirchenmusikalischen Institut der Breslauer Universität, Josef Schnabel. Die Vereinigung der beiden Universitäten wurde versinnbildlicht durch das feierliche Zusammenlegen der beiden Szepter vor dem Katheder, was unter „eindrucksvoller Musik“ geschah.55 In einer Dankschrift, die im Auftrag des bisherigen Vorsitzenden der „Academischen Organisierungskommission“ Schulz der neue Syndikus Jungnitz verlas, wurde die Gnade des Stifters König Friedrich Wilhelm III. gepriesen, zudem die vom König vollzogenen Ernennungen des Kurators, des Rektors und der Dekane bekannt gegeben. Nach der Eidesleistung des Rektors nahmen Kurator und Rektor auf erhöhten Sitzen Platz, während ein von Kapellmeister Schnabel komponierter Choral gesungen wurde. Den Abschluss der Feier in der Aula bildete die auf Latein gehaltene Rede des ersten Rektors der Universität, Karl August Wilhelm Berends. Der Gründungsakt der neuen Universität war damit vollzogen. Auch wenn es sich hier um eine säkulare Feier handelte: Ganz ohne Kirche kam man doch nicht aus. Von der Aula zog die Festversammlung in die Universitätskirche, wo eine „unzählbare Menge Volkes zusammengeströmt war“,56 wie es in der „­Schlesischen Zeitung“ heißt. Die Universität wurde damit zu einer öffentlichen Institution der Stadt. Den Abschluss in der Kirche bildete damals nicht ein Gottesdienst – einen ökumenischen Gottesdienst, der die Parität betont hätte, kannte man damals noch nicht –, sondern die Aufführung des Ambrosianischen Lobgesanges sowie des Te Deums von Johann Adolph Hasse durch Kapellmeister Schnabel unter Mitwirkung eines „mehr als hundertstimmigen Chores“.57 Wie der Breslauer evangelische Theologieprofessor Joachim Gaß seinem Freund Friedrich Schleiermacher, der ja auch aus Breslau stammte, in Berlin im Dezember 1811 mitteilte, war man allgemein mit dem Beginn des Universitätsbetriebs zufrieden. Allerdings hatte man mit mehr Studenten als den zweihundert Neuinskribierten gerechnet. Professoren, die erst im Lauf des Semesters kamen, fanden deshalb kaum noch Interessenten. Im folgenden Sommersemester 1812 erhöhte sich die Zahl auf dreihundert, wobei die katholischen Theologen mit 77 Studierenden den höchsten Anteil stellten. Trotz der Reform nach Humboldtschem Muster und den neu berufenen Lehrern blieb der Einzugsbereich weitgehend auf Schlesien begrenzt. 77 Prozent der Studierenden kamen aus dieser Provinz. Doch nun bildeten die protestantischen Studenten, die zur Zeit der Leopoldina an auswärtigen Universitäten studieren mussten, mit 178 gegenüber 122 katholischen Studenten den größten Anteil. Neu war ebenfalls, dass nun auch jüdische Studenten die Breslauer Universität besuchten. Ihr Anteil von knapp zwei Pro-

55 Ebd. 56 Ebd., 476. 57 Ebd.

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Zu den bekanntesten Professoren während der Gründungsphase der Breslauer Universität zählt der Naturphilosoph und Schriftsteller Henrich Steffens, der 1813 die Studenten zum Kampf gegen Napoleon aufrief und 1821/22 und 1829/30 Rektor der Universität war.



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zent (acht Studenten) entsprach dem Anteil der jüdischen Bevölkerung in Schlesien.58 Als einer der ersten Studenten der Universität hatte sich der 1792 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Breslau geborene Christlieb Julius Braniß immatrikuliert. Jüdischen Akademikern aber blieb zu dieser Zeit jede akademische Karriere verschlossen. Vermutlich aus diesem Grund ließ sich Braniß – wie Eduard Gans und Heinrich Heine auch – 1822 taufen. 1826 wurde er in Breslau außerordentlicher, 1833 ordentlicher Professor. Zweimal (1854/55 und 1860/61) bekleidete er das Amt des Rektors.59 Trotz des feierlichen Starts der neuen Universität blieben einige Probleme: zunächst die Raumfrage. Der König hatte aus den Säkularisierungsobjekten das Matthias- und das Sandstift zur Verfügung gestellt. Aufgrund der strikten Trennung von Gymnasium und Universität musste das Matthiasstift als (katholisches) Gymnasium eingerichtet werden.60 Das Sandstift aber war vom König für die Universitätsbibliothek und die Kunstsammlung bestimmt. Kompliziert wurde die Situation, als Friedrich Wilhelm III. zu Beginn des Jahres 1812 seine Residenz nach Breslau verlegte und infolgedessen in dem Konviktgebäude, das unter anderem auch für die Wohnungen einiger Professoren – so für Henrik Steffens und Friedrich von Raumer – vorgesehen war, das Kriegsministerium eingerichtet wurde.61 Allerdings sorgte Staatskanzler von Hardenberg im Juli 1812 mit einem Erlass dafür, dass Universitätsgebäude, „insofern sie nicht unbewohnt sind“,62 von Einquartierungen verschont bleiben sollten. Bei der paritätischen Einrichtung der Universität hatte das Berliner Kultusdepartement darauf geachtet, die Empfindlichkeit der katholischen Kirche nicht zu verletzen, handelte es sich doch bei der Leopoldina um eine (ehemals) katholische Universität. Der Organisationsplan sah deshalb auch die Besetzung eines philosophischen Lehrstuhls mit einem der katholischen Kirche genehmen Bewerber vor (wenn man so will, eine Frühform der späteren sogenannten Konkordatslehrstühle). Der Breslauer Fürstbischof Joseph von Hohenlohe-Bartenstein erklärte sich mit dem paritätischen Charakter der Universität durchaus einverstanden, doch beschwerte er sich über die Besetzung der Geschichtsprofessur mit einem Protestanten, der nach des Bischofs Ansicht die katholische Kirche nur aus der Sicht der protestantischen Reformation darstellen werde. Wie könne ein katholischer Theologiestudent da „Liebe und Achtung“ für seine Kirche gewinnen?63 So die Frage des Bischofs an den Staatsrat von Schuckmann, der in seiner Antwort etwas gereizt die Freiheit von Lehre und Forschung verteidigte. Der Geschichtslehrstuhl blieb von 1811 bis 1843 mit einem Protestanten besetzt. Dass aber – 58 [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 29; Rabe: Alma Mater, 379f. 59 ������������������������������������������������������������������������������������� Łagiewski, Maciej: Die Breslauer Juden 1850–1945/Wrocławscy Żydzi 1850–1945 [Ausstellungskatalog]. St. Augustin 1990, 104; Scholtz, Gunter: „Historismus“ als spekulative Geschichtsphilosophie. Christlieb Julius Braniß (1792–1873). Frankfurt a. M. 1973, 3. 60 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 1, fol. 129. 61 Ebd., fol. 135f. 62 Ebd., I. HA Rep. 76 Kultusministerium Va Sekt. 4, Tit. Nr. 2, Bd. 4, fol. 192. 63 Ebd., I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 1, fol. 163f.

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wie ebenfalls vom Bischof beklagt – der mit einem Katholiken besetzte Philosophielehrstuhl wegen der Konversion des Lehrstuhlinhabers Johannes Rohowsky zum Protestantismus den Katholiken verloren ging, war für Schuckmann insofern bedauerlich, als es zu Spannungen unter den akademischen Gelehrten führte. Im Übrigen aber – so Schuckmann in seiner Antwort – sei dies eine bürgerlich erlaubte Handlung.64 Probleme brachte zunächst auch die Integration der neu hinzugekommenen Professoren und Studenten in die Breslauer Stadtgesellschaft, die noch weitgehend konfessionell geprägt war und in der der Adel den bestimmenden Ton angab. Doch gewann die Stadt bald eine „neue ganz andere Physiognomie“,65 wie die Zeitgenossen meinten. Professoren und Studenten integrierten sich trotz mancher Auseinandersetzungen in die Breslauer Bürgerschaft, die in den Professoren „ein belebendes Element des geselligen Lebens“ erblickte.66 Die neu gegründete Institution Universität trug erheblich zur Herausbildung der Breslauer Bürgergesellschaft über die Konfessionsgrenzen hinweg bei. Als intellektuelles Zentrum bot sie dem Breslauer Bildungsbürgertum ein Potenzial für die diversen wissenschaftlichen Bestrebungen, die sich in den zahlreichen Bildungsvereinen dokumentierten. Bei den hohen kriegsbedingten Staatsschulden Preußens blieb die Finanzierung der Universität Breslau problematisch. Ein exakter Haushalt für die Universität Breslau kam erst für das Haushaltsjahr 1818 zustande.67 Kultusminister von Altenstein reklamierte am 8. September 1818 in einem Brief an Staatskanzler von Hardenberg für die Universität Breslau „die eingezogenen geistlichen Güter“.68 Sie seien „an die Stelle des Grundbesitzes getreten, welche sie [die Universität, d. Vf.] früher schon hatte, aber an den Staat abtrat und welche anderntheils von den säkularisierten Gütern in Schlesien ursprünglich zugedacht war“.69 Es handelte sich also einerseits um Güter der ehemaligen Leopoldina, die nach der Aufhebung des Jesuitenordens (in Preußen 1776) an den Staat gefallen waren; andererseits um weitere Säkularisationsgüter, die nach Altenstein durch Kabinettsorder vom 16. März 1812 als Dotation der Universität zugesprochen worden waren. In besagter Order hatte der König den jährlichen Zuschuss für die Breslauer Universität mit Einschluss des Fundus der dort zu errichtenden „Centralbibliothek“ aus der Säkularisationskasse definitiv auf die Summe von 30.000 Talern festgesetzt.70 Der erste vollständige Haushaltsplan für das Jahr 1818 überstieg diese Summe allerdings um das Doppelte. Er betrug für Einnahmen und Ausgaben 68.955 Taler. Die Einnahmen kamen aus Pfandbrieferträgen, beständigen Gefällen, Verpachtungen, der Regierungshauptkasse Breslau, Kollektengeldern sowie Immatrikulationsgebühren. 64 65 66 67

Ebd., fol. 160f.; Rabe: Alma Mater, 375. [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 52. Ebd. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien Nr. 1, Bd. 2, fol. 33–45. 68 Ebd., fol. 27. 69 Ebd., fol. 27–29. 70 Ebd., fol. 30f.



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Letztere beliefen sich allerdings nur auf 150 Taler. Den größten Posten der Einnahmen von 61.422 Talern ergaben die Einnahmen aus „ehemaligen geistlichen Gütern“ in Schlesien,71 die 56.702 Taler betrugen. Die Differenz von 4.690 Talern kam aus Gefällen der ehemaligen Viadrina in Frankfurt/Oder. Bei den Ausgaben bildeten die Besoldungen (Professoren wie Dienstpersonal) mit 40.618 Talern den größten Posten. Dazu kamen Pensionen und Wartegelder mit 5.375 Talern. Die akademischen Institute und Sammlungen erforderten 9.496 Taler, die Zentralbibliothek 5.428 Taler. Auf notdürftige Studenten entfielen 2.190 Taler, auf die Bauten und Reparaturen 1.456 Taler.72 Die Universität blieb in ihrer Ausstattung unzulänglich finanziert, insbesondere in der Medizin und den Naturwissenschaften, sodass der bekannte Physiologe Johann Evangelista Ritter von Purkinje ( Jan Evangelista Purkyně) nach seiner Berufung nach Breslau 1823 nicht einmal über ein eigenes Mikroskop verfügte.73 Doch stabilisierte sich die Universität Breslau auch auf diesem Gebiet und wurde zu einer der wichtigsten Institutionen Schlesiens.

71 Ebd., fol. 33. 72 Ebd., fol. 33–45. 73 Gottwald, Werner: Beiträge zur Geschichte der Medizin in Schlesien 1850–1914. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 21 (1980) 188–222, hier 198. 1839 bekam Purkinje allerdings ein eigenes Institut. Es war das erste eigenständige Institut für Physiologie an einer deutschen Universität. Vgl. Hagner, Michael: Purkyně, Jan Evangelista. In: Killy, Walther (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1–13. München 1995–2003, hier Bd. 8, 91f.

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23. Zwischen Berlin und Breslau. Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) und die Anfänge der Germanistik (mit Jobst Herzig)1

Von der Hagens Bedeutung im Prozess der Institutionalisierung und Disziplinierung der Germanistik2 1858 gründeten der Rostocker Vizekanzler Carl Friedrich von Both (1789–1875) und der Philologe Karl Bartsch (1832–1888), bekannt durch seine Edition des „Nibelungenliedes“, das erste deutsch-philologische Seminar überhaupt.3 Damit vollzogen sie einen entscheidenden Schritt im Prozess der Institutionalisierung und Disziplinierung der „Deutschen Philologie“ an den Universitäten. Bartsch selbst charakterisierte rückblickend „[d]as Bedürfnis, mit den Vorlesungen philologische Übungen zu verbinden“, als schon länger vorhanden, „lange bevor vonseiten der Regierung daran gedacht wurde, denselben eine feste und offiziell anerkannte Form zu geben“.4 Betrachten wir den Institutionalisierungs- und Disziplinierungsprozess der „Deutschen Philologie“, müssen wir, Bartsch folgend, zurückblicken und circa sechzig Jahre vor der Seminargründung in Rostock ansetzen.

1 Teile 1 und 3 verfasst von Jobst Herzig, Teil 2 von Arno Herzig. 2 Der Begriff Germanistik ist in diesem Zusammenhang kritisch zu betrachten, da „die Ausdehnung des Namens Germanisten auf Forscher des Rechts, der Geschichte und Sprache“ – so Jacob Grimm auf der ersten Germanistenversammlung 1846 – erst hier ihren Ursprung fand. Vgl. Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Hg. v. Karl Müllenhoff und Eduard Ippel, Bd. 1–7. Berlin 1864–1884 [ND Hildesheim 1966], hier Bd. 7, 568f. Aber erst seit den 1860er Jahren trat die juristische Bedeutung des Wortes in den Hintergrund, und „Germanist“ wurde als Selbstbezeichnung innerhalb der deutschen Philologie gebräuchlich. Zu dieser Zeit diente der Begriff als Oberbegriff von zwei Disziplinen, die vorher getrennt waren und nun institutionell vereinigt wurden: altdeutsche Philologie mit den Schwerpunkten Altertumskunde, Edition mittelalterlicher Texte und das junge Fach der (deutschen) Literaturgeschichte, die sich unter historischen und ästhetischen Gesichtspunkten vor allem der nachmittelalterlichen Literatur widmete. Der Begriff Germanistik steht im Kontext der hier betrachteten Zeit folglich für eine problematische Einheit und etablierte sich erst im 20. Jahrhundert als Selbstbezeichnung der Wissenschaft; der Begriff Deutsche Philologie dominierte vorerst für die Bezeichnung des neuen Fachs. 3 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Eine gute Darstellung zum Entstehungsprozess des ersten deutsch-philologischen Seminars in Rostock 1858 liefert Krätzner, Anita: Von Christian Wilbrandt zu Karl Bartsch. Institutionalisierung und Disziplinierung der Germanistik in Rostock. In: Boeck, Gisela/Lammel, Hans-Uwe (Hg.): Wissen im Wandel – Disziplinengeschichte im 19. Jahrhundert. Rostock 2011, 61–76. 4 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bartsch, Karl: Über die Gründung germanischer und romanischer Seminare und die Methode kritischer Übungen. In: Verhandlungen der 36. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner in Karlsruhe, vom 27. bis 30. September 1882. Leipzig 1883, 237–245, hier 237.



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Ein Beginn des Institutionalisierungsprozesses kann weder auf einen punktuellen Gründungsakt zurückgeführt werden, noch gibt es eine einheitliche Entwicklung. Die Einrichtung von ordentlichen Professuren verlief über einen Zeitraum von mehreren Jahren von Universität zu Universität individuell, wobei personale, korporative, politische und ökonomische Konstellationen Einfluss nahmen.5 Aus diesen Gründen ist es schwer, ein Modell für diesen Prozess zu erstellen. Klaus Weimar versucht dies anhand von Professorengenerationen;6 Uwe Meves unternimmt eine zeitliche Einteilung,7 wobei er den Prozess der Institutionalisierung als Errichtung von Ordinariaten an den Universitäten charakterisiert und sich somit in die Tradition der Fachgeschichtsschreibung einreiht. Weimars Weg ist wohl der präzisere, da er die Übergänge fließender betrachtet und zudem die wichtigste Konstellation, die zur Entstehung der Germanistik geführt hat, in den Vordergrund stellt: die Personenkonstellation. Eine der Personen, die in diesem Prozess eine zentrale Rolle spielten, war Friedrich Heinrich von der Hagen: Er wurde im Februar 1780 in Schmiedeberg im Kreis Angermünde (Uckermark) geboren und immatrikulierte sich als Student der Rechte 1798 in Halle/Saale. Hier besuchte er unter anderem bei Friedrich August Wolf (1759–1824) Vorträge über die Geschichte und Literatur des klassischen Altertums und baute seine literarische Neigung im Austausch mit seinen Studienfreunden aus. Seine bis dato weit gestreuten Interessen sollten als Referendar am Stadtgericht Berlin eine klare Zielsetzung gewinnen. Wenig angetan von seiner beruflichen Tätigkeit, nahm er am kulturellen Leben Berlins teil und besuchte 1803/04 August Wilhelm Schlegels (1767–1845) „Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst“, die einen Schwerpunkt auf die Geschichte der romantischen Literatur legten. Hier entfaltete sich sein Interesse für die altdeutsche Dichtung und das „Nibelungenlied“. Im Selbststudium veröffentlichte er bereits 1805 eine erste Arbeitsprobe in der Zeitschrift „Eunomia“.8 Nach der preußischen Niederlage im Kampf gegen Napoleon bei Jena und Auerstädt (1806) und dem Frieden von Tilsit (1807), der Preußens Staatsgebiet erheblich reduzierte, waren Staat und Gesellschaft in eine tiefe Krise geraten. Die Krise machte den Weg frei für dringend notwendige gesellschaftliche Reformen. Sie bewirkte aber 5 Meves, Uwe: Die Entstehung und frühe Entwicklung der Germanischen Philologie. In: Auroux, Sylvain u. a. (Hg.): History of the Language Sciences/Geschichte der Sprachwissenschaften/Histoire des sciences du langage. Ein internationales Handbuch zur Entwicklung der ­Sprachforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Teilbd. 1–3. Berlin/New York 2000–2006, hier Teilbd. 2, 1286–1294. 6 ������������������������������������������������������������������������������������������� Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. 7 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Meves: Entstehung, 1286–1295; ders.: Zum Institutionalisierungsprozess der Deutschen Philologie. Die Periode der Lehrstuhleinrichtung. In: Fohrmann, Jürgen/Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, 115–203. 8 Einen ausführlichen Überblick über das Lebensbild von der Hagens liefert Grunewald in seiner Habilitationsschrift. Grunewald, Eckhard: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780–1856. Berlin 1988, 1–33.

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auch eine Besinnung auf die eigene Geschichte, vor allem des Mittelalters, die ihre Steigerung in der Suche nach einer eigenen deutschen Mythologie fand. Diese glaubten die Romantiker im „Nibelungenlied“ und dem nordischen Sagenkreis der „Edda“ entdeckt zu haben.9 Wohl auch von diesem Zeitgeist beflügelt, kam das Bestreben auf, „die ganze Breite der damaligen Möglichkeiten einer Beschäftigung mit deutscher Literatur und Sprache in einer einzigen Disziplin zusammenzufassen“.10 Johann Christoph Schlüter (1767–1841) wurde 1801 zum „ordentlichen Professor des deutschen Stils“ in Münster ernannt.11 Zweck dieser Professur war anscheinend die Verbesserung der Deutschkenntnisse und -fertigkeiten angehender Juristen. Weimar zählt Schlüter zur sogenannten Generation der Generalistenprofessoren, deren Lehrprogramm Rhetorik und Theorie des Stils mit praktischen Übungen, Ästhetik, Poetik, Literaturgeschichte und vereinzelt Übungen in Auslegung deutscher Dichtung umfasste. Deren allmähliche Verdrängung begann mit Georg Friedrich Benecke (1762–1844),12 dem 1805 von der Bibliothek der Börsenhalle in Hamburg eine Stelle als Bibliothekar angeboten wurde. Als der in Göttingen Tätige die in Hannover sitzende Regierung darüber in Kenntnis setzte, wurde umgehend angeordnet, dass er ab sofort als außerordentlicher Professor in der Philosophischen Fakultät zu führen sei. Eine zentrale Schlüsselrolle kommt dabei dem klassischen Philologen Christian Gottlob Heyne (1729–1812) zu, der Beneckes Vorgesetzter war und sehr viel Einfluss besaß. Auf ihn geht Beneckes Beförderung wohl zurück. Göttingen hatte folglich das erste Extraordinariat für „Deutsche Philologie“, auch wenn dies keine Bezeichnung trug, was aber in Göttingen zu der Zeit üblich war.13 Die Freunde Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) und von der Hagen kamen in ihren Berliner Jahren mit ihren Publikationen ebenfalls dem Zeitgeschmack entgegen. Sie fanden damit zwar nicht die Zustimmung ihrer Zunftkollegen, aber doch das Wohlwollen der politischen Führung. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) lobte sie am 9. Juni 1809 in einem Brief an Büsching: „Den Weg, welchen Sie und von der Hagen bei Ihren Ausgaben altdeutscher Schriftsteller einschlagen, scheint mir in jeder Rücksicht das zweckmäßigste.“14 Humboldt meinte damit wohl auch die Absicht der beiden, die Früchte ihrer Forschungen in verständlicher Sprache einem breiten Publikum nahezubringen. Die Kritik der Zunftkollegen ließ Büsching und von der Hagen offensichtlich kalt, war sie doch nicht hinderlich für ihre Karriere. Eine Folge der Krise und des Verlustes der wohl bedeutendsten Landesuniversität, nämlich der von Halle/Saale, war die Gründung der Universität Berlin 1810, die von 9 ���������������������������������������������������������������������������������������� Stich, Fritz: Deutsche Klassik und Romantik. Oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. München 1924, 147; Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 339; Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009, 9–11, 71–75. 10 Weimar: Geschichte, 230. 11 Meves: Institutionalisierungsprozess, 120. 12 Weimar: Geschichte, 234. 13 Ebd., 216f. 14 Zit. nach Hałub, Marek: Johann Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997, 158.

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Lithographie. Als eine der ersten Germanistikprofessuren in Deutschland kann die Professur von Friedrich von der Hagen in Breslau gelten. Bevor er 1811 nach Breslau kam, hatte Friedrich von der Hagen das Nibelungenlied publiziert.

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Wilhelm von Humboldt initiiert wurde. Für die neue Universität schlug von der Hagen am 11. August 1810 vor, die Germanistik als junge Wissenschaft in den Fächerkanon aufzunehmen. Sie sollte die Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Mundarten sowie die Geschichte der deutschen Literatur und das Altertum vertreten. Doch Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der den Strukturplan für die neue Universität geliefert hatte, lehnte den Vorschlag ab, da sich die Germanistik als Wissensgebiet in der Öffentlichkeit noch nicht durchgesetzt habe.15 Doch von der Hagen gab nicht auf und hatte mit einem zweiten Versuch mehr Erfolg. Dafür dürften zwei Gründe ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen bewirkte vermutlich von der Hagens enger Freund aus Hallenser Studienzeiten Friedrich von Raumer (1781–1873), Mitarbeiter des Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (1750–1822), bei ebendiesem die Berufung von der Hagens am 21. September 1810 an die Berliner Universität. Zum anderen hatte von der Hagen wohl darauf verwiesen, dass Benecke in Göttingen eine ähnliche Stelle bekleidete – und Berlin wollte der führenden Universität in Göttingen in nichts nachstehen.16 Allerdings bekam er nur ein unbesoldetes Extraordinariat. Mit Benecke und von der Hagen wurde die „Deutsche Philologie“ im universitären Kontext provisorisch anerkannt, wobei Letzterer noch mehr verstand, politische Strukturen zu nutzen, um für das neue Fach öffentliche Anerkennung und einen festen Platz innerhalb der Universitätswissenschaften zu gewinnen.17 Ob von der Hagen als Lehrer von Karl Bartsch18 sogar indirekten Einfluss auf die erste Seminargründung in Rostock 48 Jahre später hatte, bleibt hypothetisch, aber durchaus denkbar.

Von der Hagen an der Universität Breslau Nach Wilhelm von Humboldts Abgang als Chef des Kultusdepartements ( Juni 1810) und der Säkularisation der geistlichen Güter (August 1810) bekam die Universität Breslau, die bis dahin nur eine theologisch-philosophische Hochschule war, die Chance, zur vollen Universität ausgebaut zu werden.19 Humboldt hatte sich gegen einen solchen Plan ausgesprochen, doch sein Nachfolger als Chef des Kultusdepartements Kaspar Friedrich von Schuckmann (1755–1834) hatte, wohl auf Initiative Johann Wilhelm Süverns (1775–1829), am 12. Februar 1811 in einer Immediateingabe dem König die Neugründung der Breslauer Universität vorgeschlagen. Bereits Ende Februar 1811 war der Plan in Breslau bekannt und rief helle Begeisterung hervor, wie Büsching am 15 Jessen, Hans: Friedrich von der Hagen. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Sigmaringen 1985, 280–288, hier 282. 16 Weimar: Geschichte, 218. 17 Ebd., 219. 18 Dressler, Stephanie: Karl Bartsch. In: König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 1. Berlin 2003, 88–90. 19 Vgl. den Beitrag „Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811“ in diesem Band.



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2. März 1811, vermutlich an Süvern, mitteilte.20 Am 24. April 1811 verfügte der König, die bisherige Universität Frankfurt/Oder nach Breslau zu verlegen und mit der dortigen Universität zu vereinigen. Schon im Wintersemester 1811/12 sollte die neue Universität mit dem Unterricht beginnen. Im November 1810 war Büsching von der Regierung als Beamter nach Breslau geschickt worden, um die infolge der Säkularisation an den Staat gefallenen Bibliotheken, Archive und Kunstschätze zu sichern. Nach Abschluss dieser Tätigkeit wurde er im Juni 1812 mit einem Jahresgehalt von sechshundert Talern zum Archivar ernannt.21 Auch von der Hagen zog es nach Breslau. Bereits am 16. Juli 1811 teilte Johann Kaspar Friedrich Manso (1759–1826), Direktor des Magdalenengymnasiums in Breslau, Karl August Böttiger (1760–1835) in Dresden mit, dass von der Hagen als zweiter Bibliothekar (nach Büsching) nach Breslau komme.22 Von der Hagens Berufung nach Breslau zum Wintersemester 1811/12 erfolgte im Oktober. Im Fundamentaletat der neuen Universität setzte Minister von Schuckmann im November 1811 fest: „800 Reichstaler für den Professor von der Hagen als Unterbibliothekar und Professor an der Universität, außer welchem er noch freie Wohnung hat.“23 Büsching erhielt in derselben Festsetzung als Archivar nur sechshundert Reichstaler. Beide Gehälter mussten noch vom König genehmigt werden. Von der Hagen erhielt zwar nur eine außerordentliche Professur, aber es war die erste besoldete Germanistikprofessur in Deutschland. Freilich lag sie in der Höhe der Besoldung unter der der ordentlichen Professoren, die 1.000–1.500 Reichstaler bezogen.24 Für den Weggang von Berlin nach Breslau war wohl zunächst das feste Gehalt, außerdem die weitere Zusammenarbeit mit Büsching, nicht zuletzt aber die Tatsache ausschlaggebend, dass sein alter Studienfreund Friedrich von Raumer 1811 als Professor für Staatswissenschaften ebenfalls nach Breslau ging. Dieser war es wohl auch, der die Berufung von der Hagens bei Staatskanzler von Hardenberg bewirkt hatte. Seine Lehrtätigkeit in Breslau begann von der Hagen mit zwei Veranstaltungen, eine davon zur „Grammatica litterarum recentioris Europae“.25 Diese Veranstaltung basierte vermutlich auf dem „Literarischen Grundriß zur Geschichte der deutschen Poesie“,26 den er zusammen mit Büsching in Berlin verfasst hatte und der 1812 dort erschien.

20 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 2, Bd. 2, fol. 19. 21 Hałub: Johann Gottlieb Büsching, 39–45. 22 [Andreae, Friedrich (Hg.):] Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. [Breslau 1936,] 15. 23 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. I. Nr. 2, Bd. 5, fol. 174. 24 Raabe, Carsten: Alma Mater Leopoldina. Kolleg und Universität in Breslau 1638–1811. Köln/ Weimar/Wien 1999, 376. 25 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, 53: Index Lectionum vom 21. Oktober 1811, 6–8. 26 Hałub: Johann Gottlieb Büsching, 169.

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Von der Hagens Zusammenarbeit mit Büsching erstreckte sich in Breslau zunächst auf Bibliotheksarbeit. Sie katalogisierten die Buchbestände – immerhin 175.000 Bände –, was beide wohl nicht sehr befriedigte, zumal sie mit ihrem Vorgesetzten Professor Johann Gottlieb Schneider (1750–1822), der am 25. März 1812 zum Leiter der schlesischen Hauptbibliothek ernannt worden war, in Konflikt gerieten.27 1815 gab von der Hagen seine Stellung als Unterbibliothekar auf und widmete sich nur noch seiner Professur und vor allem seinen Publikationen.28 So veröffentlichte er 1813 mit Büsching noch einmal die Lebensbeschreibung des Götz von Berlichingen. In dem Aufruf zur Subskription, den Büsching und von der Hagen in der „Schlesischen Zeitung“ publizierten, hoben sie auf die nationale Bedeutung des Befreiungskrieges ab, auf „eine Zeit, in welcher deutscher Sinn und Geist immer mehr sich wieder zu ihrer alten Herrlichkeit zu gestalten streben“.29 Es galt – so wird hier deutlich –, dem aufkommenden Nationalismus eine Tradition zu schaffen, und da war „das Leben eines wahrhaft Deutschgesinnten“ – so bezeichneten sie von Berlichingen – durchaus die richtige Figur. Die Druckkosten trug die Universitätsdruckerei; der Ertrag war für alle, die „­vaterländischen Fahnen zueilten“.30 Von der Hagen war von der nationalen Begeisterung, in die sein Kollege Henrik Steffens die Breslauer Studentenschaft durch seine Reden versetzt hatte, angesteckt worden. Am 13. März 1813 schrieb er an Ludwig Tieck (1773–1853): „Hier ist jetzt alles in Aufruhr und eine fürchterlich schöne Zeit: ein so allgemeiner Aufstand der Gemüter und Kräfte für Vaterland und Freiheit ist ein Stolz unserer Tage, der uns über uns selbst erhebt [...]. Es muß freilich eine herrliche Lust sein, die Franzosen zu jagen und zu schlagen.“31 Doch so weit wie seine Kollegen Steffens und Karl von Raumer (1783–1865), die begeistert in den Krieg zogen, ging er nicht. Er habe – so schreibt er in demselben Brief – „noch keinen Beruf [Einberufung, d. Vf.]“,32 gehöre aber der Landwehr an. Die „herrliche Lust [...], die Franzosen zu jagen“, von der er gegenüber Tieck schwärmt, verstand er zu zügeln. Er hielt es da eher mit seinem Freund Friedrich von Raumer, der sich als „wissenschaftlicher Offizier“ an der Heimatfront verstand.33 Die Breslauer Professorenschaft setzte sich nach der Neugründung von 1811 aus drei Gruppen zusammen: den Professoren der alten Leopoldina, denen aus Frankfurt/Oder und schließlich den neu berufenen. Letztere waren nach Einschätzung des 1815 nach Breslau gekommenen Altphilologen Franz Passow (1786–1833) „die am lebendigsten und am wenigsten von philistrigem Beigeschmack befallenen Breslauer Akademiker und Gelehrten“.34 Der Kreis traf sich wöchentlich, und seine Mitglieder trugen bei dieser Gelegenheit aus ihren Forschungen vor. Der Kreis war 1815 von dem neu nach 27 28 29 30 31 32 33 34

Ebd., 49. Jessen: Friedrich von der Hagen, 283. [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 68f. Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 60. Zit. nach [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 68f. Ebd. Ebd., 71. Ebd., 91.



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Breslau gekommenen (Literatur-)Historiker Johann Friedrich Ludwig Wachler (1767– 1838) als sogenannte Philomatie gegründet worden. Zu ihm zählten unter anderem Steffens, die Gebrüder von Raumer, von der Hagen, Büsching, Johann Kaspar Friedrich Manso und Joachim Christian Gaß (1760–1831), der Freund ­Schleiermachers. Nach der gemeinsamen Herausgabe der Lebensbeschreibung des Götz von Berlichingen 1813 endete offensichtlich die Zusammenarbeit Büschings und von der Hagens.35 Waren beide nun zu Konkurrenten geworden, nachdem Büsching 1815 eine eigene Übersetzung der „Nibelungen“ herausgebracht hatte? Ende 1815 (mit Erscheinungsjahr 1816) publizierte von der Hagen in Breslau sein „Nibelungen Lied“ als „zweite mit einem völligen Wörterbuche vermehrte Auflage“, die „zum ersten Mal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Handschrift mit Vergleichung der übrigen Handschriften“ erfolgte, wie es im Titel heißt, womit er wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen hoffte. Im Übrigen befasste er sich während der Breslauer Jahre mit altnordischer Literatur.36 Dieses stand auch im Mittelpunkt seiner Vorlesungen, zu denen aber – so im Wintersemester 1813/14 – kaum mehr als neun Hörer erschienen, darunter auch der Dichter Karl von Holtei.37 1816/17 erhielt von der Hagen von der Regierung ein Stipendium für eine Reise, die er zusammen mit seinem Freund Friedrich von Raumer in die ­Schweiz und nach Italien unternahm, worüber er unter dem Titel „Briefe in die Heimat [...]“ berichtete, die in mehreren Folgen in Breslau zwischen 1818 und 1821 erschienen.38 Im November 1817 wurde er durch Kabinettsorder zum Ordinarius befördert.39 Die Universität verfügte damit über das erste Ordinariat für Germanistik in Deutschland. Als 1819 sein Freund Friedrich von Raumer an die Berliner Universität überwechselte, hielt es auch von der Hagen nicht mehr in Breslau. Am 21. Juni 1820 wandte er sich „abermals mit einem Arme voller Bücher und einem Herzen voll Wünsche“ an ­Staatskanzler von Hardenberg.40 Seine Hauptaufgabe der letzten 14 Jahre sei – so versichert er dem Staatskanzler – die Erforschung der Heldenlieder, vor allem des „Nibelungenliedes“ gewesen, das er als „bedeutendstes Schlussstück dieses großen vaterländischen Sagenkreises“ interpretierte.41 1820 brachte er es erneut in Breslau heraus. In der Einleitung hatte er, wie schon in der zur „kleinen Schrift“, die poetische Bedeutung dieses „schon allgemein anerkannten großen Nationalgedichts“ dargestellt. Sein ­Wunsch war seine Versetzung nach Berlin. Er habe, so beteuert er gegenüber Hardenberg, über die hiesigen (Breslauer) Verhältnisse nicht zu klagen, „vielmehr manches Freundliche hier erfahren und auch an meinem Berufe viel erfreuliche Teilnahme ge35 Vgl. das Werkverzeichnis Büschings bei Hałub: Johann Gottlieb Büsching, 166–170; von der Hagens bei Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 371–375. 36 Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 22. 37 Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 24; [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 107–109. 38 Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 22. 39 Ebd., 23. 40 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 LV Schlesien Nr. 1, Bd. 2, fol. 86f. 41 Ebd.

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funden“, jedoch sei er „nie recht heimisch“ geworden. So erfülle ihn nun „der natürliche Wunsch“, „einst wieder in der Heimat bei Verwandten und Freunden zu leben [...] da ich hier sonst einsam geblieben und alle meine ältesten und liebsten Freunde wieder in Berlin sind“.42 Die Rede ist hier nicht von Büsching, der ja weiterhin in Breslau lebte. Von der Hagens Klage über seine Breslauer „Einsamkeit“ mochte übertrieben sein, sie zielte darauf, seine Versetzung nach Berlin zu beschleunigen. Hans Jessen, der Biograf von der Hagens, ­beschreibt diesen im Gegensatz zu dem zurückhaltenden Büsching als „aufgeschlossene[n], übersprudelnde[n] Gesellschafter“.43 Im Philometenkreis fand er sicher unterhaltende Gesprächspartner, und Henrik Steffens erinnert sich an gemeinsame Wanderungen im Riesengebirge.44 Staatskanzler von Hardenberg wäre mit der Versetzung von der Hagens nach Berlin einverstanden gewesen; doch dem widersetzte sich Kultusminister Karl von Altenstein.45 Er gab Hardenberg am 10. Oktober 1820 zu bedenken: „Allein durch die Versetzung des Professors von der Hagen von Breslau an die hiesige [Berliner, d. Vf.] Universität würde ich fürchten, gerade das Charakteristische und Eigentümliche, welches die Universität Breslau bisher hatte, zu schwächen.“46 Das besondere Profil der Breslauer Universität lag für Altenstein in der Mediävistik. Hardenberg allerdings fand, dass „das Fach des Studiums des Mittelalters durch Büsching und von der Hagen [in Breslau, d. Vf.] [...] zu reich besetzt“ sei.47 Altenstein versuchte auf jeden Fall, eine Versetzung von der Hagens an die Universität Berlin zu verhindern. Während er Büsching sehr positiv einschätzte – „er [hat] sich durch Fleiß und Geschicklichkeit ausgezeichnet“48 –, beurteilte er von der Hagen kritischer. Es sei zweifelhaft, „ob der P. von der Hagen eine solche Gründlichkeit und einen solchen Umfang des Wissens namentlich in der Sprachkunde und Literatur und ein so entschiedenes Talent historisch philosophischer Sprachforschung [besitze], dass durch seine Berufung der hiesigen [Berliner, d. Vf.] Universität ein wesentlicher Nutzen erwachsen“ werde.49 Es ging also nicht nur um das Breslauer Profil, das einer Berufung von der Hagens im Weg stand. Doch von der Hagen gab nicht nach. Am 19. April 1821 wandte er sich wieder an Hardenberg, brachte ihm diesmal als Geschenk die „Heldenlieder“, die er seit 1819 in mehreren Folgen mit Tieck herausbrachte und die für ein „größeres Publikum“ gedacht waren.50 Hardenberg schätzte von der Hagen positiver ein als Altenstein. Er lobte in einem Brief vom 13. Mai 1821 an von der Hagen dessen „fortgesetzte[s] nützliche[s] 42 Ebd. 43 Jessen: Friedrich von der Hagen, 284. 44 Steffens, Henrich: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. 1–10. Breslau 1840–1844 [ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1995–1996], hier Bd. 4, 9. 45 Hardenberg an Altenstein (9. August 1820). Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 74 LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 2, fol. 91. 46 Ebd., fol. 95–98. 47 Ebd., fol. 91. 48 Ebd., fol. 116. 49 Ebd., fol. 104f. 50 Ebd., fol. 102.



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Streben vaterländische Altertums-Kunde zu verbreiten“.51 Doch Hardenberg konnte sich wiederum bei Altenstein nicht durchsetzen und musste von der Hagen am 28. Mai 1821 mitteilen, dass eine Versetzung in diesem Augenblick nicht möglich sei.52 Inzwischen war 1822 auch Büsching auf seinen Antrag hin zum Ordinarius befördert worden. In seinem Gesuch an den König um die Beförderung Büschings am 31. Juli 1822 lobt Altenstein dessen Fähigkeiten: „Der P. Büsching als Lehrer bei der Universität hat sich bisher vorzüglich auf Vorlesungen über Diplomatik [Urkundenlehre, d. Vf.] und über altdeutsche Literatur und Baukunst erstreckt und hat sich in diesen Fächern auch als Schriftsteller auf eine beifallswerte Weise bekannt gemacht.“53 Aufgrund dieser Vielseitigkeit Büschings schien Altenstein auch bei einem Weggang von der Hagens das Breslauer Profil gewahrt. Am 28. Januar 1824 erfolgte von der Hagens Berufung als Ordinarius nach Berlin. Er wurde dabei seinem größten und sicher auch fähigeren Kontrahenten Karl Lachmann (1793–1851) vorgezogen, der sich ebenfalls beworben hatte.54

Von der Hagens Rückkehr nach Berlin Von der Hagens Konzentration auf das „Nibelungenlied“ im Rahmen seiner universitären Tätigkeit schwamm „ganz oben auf der patriotischen Welle während der napoleonischen Kriege“ und „bildete eines der Zentren der deutschen Philologie“.55 Und doch hatten sich die Vorzeichen für ihn bei seiner Rückkehr nach Berlin geändert. Zum einen schwand das Interesse an der Behandlung des „Nibelungenliedes“, wohl auch bedingt durch die Karlsbader Beschlüsse 1819, die liberale und nationale Tendenzen bremsten. Zum anderen – und dies kann durchaus auch als eine Folge eben dieser Entwicklung gelten – erfolgte eine Professionalisierung der „Deutschen Philologie“: Sie fiel immer mehr in die Hände eines kleineren Expertenkreises. Zwei Ereignisse waren dafür vor allem konstituierend: Karl Lachmanns Berufung zum Extraordinarius in Königsberg 1818 und insbesondere das Erscheinen von Jacob Grimms (1785–1863) „Deutscher Grammatik“ 1819. Auch wenn sich von der Hagen 1824 in Berlin vorerst gegen Lachmann durchsetzte (Lachmann folgte ihm ein Jahr später als Extraordinarius und erhielt 1827 ein Ordinariat) fiel er eben dieser Professionalisierung, die er 1810 mit seiner ersten Berufung an die Berliner Universität in gewisser Weise mit angestoßen hatte, zum Opfer. Doch wo liegt der Unterschied zwischen von der Hagen und den sogenannten Professionellen? Von der Hagen sah in den altdeutschen Texten vor allem die Möglichkeit der moralisch-politischen Erneuerung. Er wollte – inspiriert von Schlegel – das „Nibe51 52 53 54 55

Ebd., fol. 103. Ebd., fol. 106. Ebd., fol. 108f. Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 25. Weimar: Geschichte, 220.

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lungenlied“ einem breiten Publikum zugänglich machen und somit die patriotische Funktion des Textes hervorheben.56 Benecke, Lachmann und die Grimms verstanden die Texte hingegen als Sprachdenkmäler.57 Dies ergab unterschiedliche Zielsetzungen: Von der Hagen wollte möglichst viele der Texte sammeln und mit den allernötigsten Verständnishilfen vielen Menschen zugänglich machen. Die Textgestalt war dabei eine cura posterior. Seine Editionen sind als Zwischenstücke zwischen Philologie und Breitenwirkung zu verstehen. Die Professionellen hingegen verfolgten ein anspruchsvolleres Verfahren der Edition: Grapheme, Phoneme, Metrik und Grammatik mussten erst (re-) konstruiert werden, sodass normierte und vereinheitlichte Texte entstanden.58 So ist es kein Wunder, dass von der Hagen innerhalb des ausgewählten Kreises an Professionellen immer mehr an Bedeutung verlor und seine Ausgabe des „Nibelungenliedes“ durch die von Lachmann (1826) verdrängt wurde. Der Ton, der bei dem Kampf um die Vorherrschaft innerhalb des neu entstehenden Faches geführt wurde, war alles andere als respektvoll. So äußerte sich Wilhelm Grimm (1786–1859) 1827 in einem Brief an Lachmann wie folgt über von der Hagen: „Was mir an ihm widerstrebt, ist die Art und Weise wie er es [das Edieren, d. Vf.] betreibt, sein Mangel an eigentlich wissenschaftlichem Geist, diese verwünschte Fabrikarbeit, die mir ekelhaft seyn würde, wenn sie noch zehnmal besser wäre.“59 Von der Hagen, Büsching und der Heidelberger Franz Josef Mone (1796–1871) konterten und charakterisierten die Gegenseite als „hochfahrend“.60 Doch der Kampf war ungleich, zumal auch von der Hagens Versuch, eine Fachzeitschrift herauszugeben, bereits 1820 als gescheitert gelten musste. Sein wissenschaftliches Schaffen geriet in Vergessenheit, und keine seiner zahlreichen „Editionen und Bearbeitungen hat [...] in durchgesehener und aktualisierter Neuauflage die Grenze des 19. Jahrhunderts überschritten“.61 Wissenschaftlich gesehen ist von der Hagens Leistung folglich nicht besonders erwähnenswert. Und doch kann er durchaus als eine Art Erwecker des Interesses an altdeutscher Literatur im wissenschaftlichen Kontext gelten, zumal er es verstand, politische Strömungen und Strukturen für den Institutionalisierungsprozess der Germanistik zu nutzen – eine Leistung, die ihm jedoch nicht gedankt wurde.

56 ����������������������������������������������������������������������������������������� Krohn, Rüdiger: Die Altgermanistik im 19. Jahrhundert. In: Fohrmann, Jürgen/Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, 264–333, hier 279. 57 Weimar: Geschichte, 225. 58 Ebd. 59 Zit. nach Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 3. 60 Weimar: Geschichte, 228. 61 Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 338.





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24. Breslaus Universität im 19. Jahrhundert Die Neugründung der Universität Breslau bildete den für Schlesien erfolgreichsten Teil der preußischen Reformpolitik. Die neuen Fakultäten standen nun allen Studierenden offen. In den ersten fünfzig Jahren waren insgesamt 14.062 Studenten immatrikuliert, davon waren 47,7 Prozent protestantischer, 45,7 Prozent katholischer und 6,8 Prozent jüdischer Konfession. Auf Schlesien bezogen, aus dem drei Viertel der Studierenden kamen, entsprachen nach dem Konfessionsanteil in der Bevölkerung von 1849 die katholischen Studenten mit 45,7 Prozent exakt dem Durchschnitt, während die Protestanten im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt von 51,2 Prozent unterrepräsentiert waren, der Anteil der jüdischen Studenten aber erheblich über dem Anteil an der Bevölkerung von einem Prozent lag. Hier mochte eine Rolle spielen, dass die protestantischen Studenten noch am ehesten andere deutsche Universitäten aufsuchten, was auch Friedrich Schleiermacher 1822 in einem Brief an Joachim Christian Gaß konstatiert: „Die meisten Protestanten – so heißt es – haben schon auswärts studiert und scheinen die neue vaterländische Anstalt nur auf kurze Zeit mit ihrer Gegenwart zieren zu wollen.“1 Offensichtlich hielt sich gerade unter den protestantischen Studenten noch lange die Tradition, an auswärtigen Universitäten zu studieren. Der hohe Anteil jüdischer Studenten erklärt sich aus dem Zustrom Studierender, die aus Posen nach Breslau kamen, aber auch aus der Orientierung auf akademische Berufe, die für das jüdische Bürgertum im Prozess seiner Akkulturation typisch war, obgleich für Juden akademische Karrieren im Staatsdienst nach wie vor nicht möglich waren. Der erste Student, der sich in Breslau immatrikulierte, war der jüdische Student Christlieb Julius Braniß, der freilich erst nach seiner Taufe 1833 als Professor für Philosophie Karriere machen konnte und mehrfach Rektor wurde. Der erste jüdische Privatdozent Preußens, der Mediziner Samuel Guttentag, lehrte seit 1815 ebenfalls in Breslau, musste aber 1823 aufgrund eines Erlasses seine Lehrtätigkeit aufgeben, da trotz der bürgerlichen Gleichstellung Juden in akademischen Lehrämtern nicht zugelassen wurden. Wer von den jüdischen Akademikern in Breslau bis in die 1870er Jahre an der Universität Karriere machen wollte, musste sich taufen lassen.2 Der hohe Anteil schlesischer Studenten lässt sich dadurch erklären, dass sich die Universität Breslau in einer Randlage befand und kaum attraktiv für Studierende aus dem Westen Deutschlands war. Dieses Faktum reflektieren auch zahlreiche Professoren in ihren Erinnerungen an ihre Breslauer Zeit. So bemerkt der Historiker Dietrich Schäfer (1845–1929), der vor seiner Berufung nach Jena zwischen 1884 und 1888 in Breslau lehrte: „Als Universität nimmt Breslau eine besondere Stellung ein. Es gibt, von Königs1 Zit. nach Kaufmann, Georg: Die Universität. In: Kampers, Franz (Hg.): Schlesische Landeskunde, Bd. 1–2. Leipzig 1913, hier Bd. 1, 254–262, hier 257. 2 Schwerin, Kurt: Die Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben Schlesiens. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 25 (1984) 93–177, hier 166.

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August Heinrich Hoffmann (Hoffman von Fallersleben) (1798–1874) trug als Germanist wesentlich zur Etablierung des Faches als wissenschaftliche Disziplin bei. Hoffmann hatte mit einem Studium der Theologie begonnen, wechselte dann aber zur deutschen Philologie. Er war von 1823 an Kustos der Universitätsbibliothek Breslau und wurde 1830 als Nachfolger von Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) zum außerordentlichen Professor für deutsche Sprache und Literatur berufen. Die Ernennung zum ordentlichen Professor erfolgte 1835. Aufgrund der Publikation seiner „Unpolitischen Lieder“ verlor er 1842 seine Professur.



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berg abgesehen, wohl keine zweite, deren Studentenschaft im gleichen Umfange einen provinziellen Charakter trägt. Nichtschlesische Studenten sind selten; von den Schlesiern gehen diejenigen, die einigermaßen über Mittel verfügen, doch auch gerne. So setzte sich die Studentenschaft (ich kann natürlich nur von der Philosophischen Fakultät reden) ganz überwiegend aus nicht allzusehr bemittelten Angehörigen der Provinz zusammen. Deren Schulen sind aber vorzüglich; die jungen Leute kommen daher im Allgemeinen mit einer trefflichen Vorbildung auf die Hochschule, so daß man in den Übungen gut mit ihnen arbeiten kann. Sie haben aber häufig nicht mehr Mittel, als gerade zu einem sechssemestrigen Studium reichen; sie sind vielfach gezwungen, schon vorher Stunden zu geben, Korrektur zu lesen oder sich sonst einen Verdienst zu verschaffen. Lebenslustig ist der Schlesier auch. So kommt nicht so selten der Zeitpunkt völliger Mittellosigkeit, wenn an einen formellen Abschluß des Studiums noch nicht gedacht werden kann. Man verschwindet im Hauslehrertum und taucht manchmal nicht früh genug wieder auf, um die unterbrochenen Studien noch in rechter Weise fortsetzen zu können.“3 Sarkastischer klingt da schon das Urteil des ehemaligen Breslauer Privatdozenten Gustav Freytag (1816–1895) über seine ehemaligen schlesischen Kommilitonen, das er 1874 in einem Brief an den Breslauer Historiker Alfred Dove (1844–1916) abgibt: „Das Schlimmste wird wohl der Student sein, denn der Genius des schlesischen Musensohnes neigt mehr zu Karbestriezel (Kirchweihkuchen) und Versemachen als zu ernstlichem Studieren. Dennoch rate ich, den Mut nicht zu verlieren, wenn sich die Hörer auch anfangs als dumme Brüderlein erweisen.“4 Die Armut der Studenten war sprichwörtlich, was wohl mit der allgemeinen Situation der Provinz Schlesien zusammenhing, die wegen ihrer Strukturkrise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Armenhaus Preußens verkommen war. Der als Autor des „Deutschlandliedes“ bekannte Breslauer Germanistikprofessor August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) erinnert sich 1868 an die dortigen Studenten: „In Breslau, wo man nur Brotwissenschaft studiert, wo Studenten so arm sind, daß sie nicht einmal ein Publikum belegen, weil sie 2.1/2 Silbergroschen dann an die Krankenkasse entrichten müssen, wo zwei Studenten, wie man sich erzählt, nur ein Paar Stiefel haben.“5 Offensichtlich war das Germanistikstudium zu dieser Zeit noch keine „Brotwissenschaft“. So kam es, dass Hoffmanns bekanntester Schüler, der Dichter Gustav Freytag, ein „Privatissimum“ über germanische Altertümer in dessen Wohnung als einziger Hörer geboten bekam.6 Zu den Neuerungen der Reformuniversität Breslau gehörte die 3 Schäfer, Dietrich: Mein Leben [1926]. Zit. nach [Andreae, Friedrich (Hg.):] Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. [Breslau 1936,] 313f. 4 Ebd., 296. 5 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Mein Leben [1868]. Zit. nach [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 177. 6 Freytag, Gustav: Erinnerungen aus meinem Leben (1887). Zit. nach ebd., 208–210.

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Etablierung gerade dieses Faches Germanistik, das bereits 1811 hier eingerichtet und seitdem von Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) und Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) vertreten wurde. Wie die Studenten, so litt bis 1871 auch die Universität unter einer fatalen finanziellen Mittellosigkeit. Selbst der bekannte Mediziner Johannes Purkinje (1787–1869), für dessen Berufung sich Goethe eingesetzt hatte, konnte nicht von vornherein über ein eigenes Mikroskop verfügen.7 Nur knapp zehn Jahre nach der Neugründung geriet infolge der Karlsbader Beschlüsse vom 20. September 1819 unter dem Rektorat von Heinrich Steffens (1821/22) die neu gegründete Universität in eine Krise, die ihre Existenz schwer gefährdete. Steffens (1773–1845), einer der bekanntesten Professoren der Universität, hatte eine Schrift gegen die Turnbewegung verfasst, die auf allgemeine Ablehnung gestoßen war.8 Nach den Karlsbader Beschlüssen war vonseiten der Regierung der Senat der Breslauer Universität zu einer Stellungnahme aufgefordert worden. Dieser hatte daraufhin Steffens mit der Abfassung eines Gutachtens über die Haltung der Studenten beauftragt. Das Gutachten lag dem Senat am 18. Dezember 1819 vor, und es wurde beschlossen: „Die Vorstellung ist dem Minister von Altenstein vorzulegen [um] selbige an des Königs Majestät gelangen zu lassen.“9 Wegen seiner Schrift gegen die Turner war Steffens in den Weihnachtsferien 1819/20 zu Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) nach Berlin beordert worden. Der Staatskanzler verlangte Auskunft, ob Steffens von „gefährlichen Unternehmungen der Turner etwas wisse“.10 Dieser verneinte, von dergleichen Absichten zu wissen. Da sich Steffens seit seiner Hallenser Zeit in ständigen Finanznöten befand, hatte er sich häufiger an den Staatskanzler mit der Bitte um Zuschüsse gewandt.11 Hardenberg war dem oft nachgekommen. Nun verlangte der Staatskanzler wohl als Gegenleistung von Steffens Auskünfte über die geheimen Verbindungen.12 Steffens bewies jedoch Charakter. Er lehnte es am 7. Januar 1820 in einem Brief an Hardenberg ab, dreihundert Taler anzunehmen. Lediglich die Reisekosten wollte er erstattet haben.13 Doch Hardenberg ging der Sache wohl zunächst nicht eingehender nach. Dagegen zeigte das Gutachten Wirkung, das Steffens Ende 1819 im Auftrag des Senats entworfen hatte und mit dem ein politisches Treiben unter den Studenten in Abrede gestellt wurde. Der Minister Karl von Altenstein (1770–1840) leitete das Schreiben an Hardenberg wei7 Kaufmann: Universität, 257. 8 Steffens, Henrich: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. 1–10. Breslau 1840–1844 [ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1995–1996], hier Bd. 9, 27–45, hier 37. 9 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Protokolle des Senats 1811–1824, fol. 431. 10 Steffens: Was ich erlebte, Bd. 9, 33. 11 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 74 Staatskanzleramt LV Schlesien NV 1, Bd. 2, fol. 2, 4, 10, 14f., 16f., 19–22. 12 Steffens: Was ich erlebte, Bd. 9, 41–43. 13 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Hauptabteilung VI N2 Hardenberg, Nr. H 12 1/2, fol. 26 (hier allerdings mit der falschen Jahreszahl 1819 – ein Versehen, wie es in Dokumenten kurz nach der Jahreswende häufiger vorkommt).



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ter mit der Empfehlung um Vorlage beim König, da es – wie er vermerkt – „in einem solchen Charakter der Unterwürfigkeit abgefaßt [ist], daß es auf Seine Majestät wohl keinen der Universität Breslau ungünstigen Eindruck machen kann“.14 Doch war damit das Kapitel Demagogenverfolgung an der Universität Breslau nicht ausgestanden. Als es 1820/21 unter Mitgliedern geheimer Verbindungen zu Schlägereien kam, schickte Hardenberg am 20. April 1822 den Regierungsrat Krause nach Breslau, der dem Innenminister Friedrich von Schuckmann (1755–1834) am 9. Mai 1822 einen detaillierten Bericht über „geheime Verbindungen“, „grobe Excesse“, „wiederholte unruhige Auftritte und Tätlichkeiten“ und „Missverhältnisse mit dem königlichen Militär“ zukommen ließ.15 Dies sei mit einer „unbegreiflichen Dreistigkeit und Öffentlichkeit getrieben“ worden.16 Krause hatte am 3. und 5. Mai 1822 den Studenten Karl Hermes vernommen, der ihm Einzelheiten über die Verbindung „Arminia“ mitzuteilen wusste.17 Nach dem Verbot der Burschenschaften war die „Arminia“ zusammen mit der „Borussia“ im November 1819 gegründet worden; beide Verbindungen bildeten zusammen ein Kartell. Am 1. Mai 1820 trennten sie sich jedoch. Farben und Leitspruch der „Arminia“ konnten deren politische Absicht nicht verhehlen: Die Farben Schwarz-RotGold sowie die Parole „Ehre, Freiheit, Vaterland“ machten deutlich, dass es in der Tradition des Wartburgfestes um die „Einheit Deutschlands als eines Reiches“ ging,18 wie der Student Karl Hermes in seinem Verhör gegenüber Krause zugab. Steffens, der bis dahin einem Demagogenprozess aus dem Weg gehen wollte, war durch zwei Reskripte des Ministers von Altenstein (3. Juni und 8. Juli 1822) nun gezwungen, den Prozess gegen 81 namentlich genannte Mitglieder der „Arminia“ zu führen. Am 23. Juli 1822 sprach er zusammen mit Friedrich Wilhelm Neumann und Karl Jungnitz in einer Sentenz die höchste Strafe aus, nämlich die Relegation dieser Studenten auf Lebenszeit für alle deutschen Universitäten.19 Die Sentenz ist insofern in sich widersprüchlich, als im ersten Teil den entlastenden Argumenten der Studenten stattgegeben wird, um dann aber im zweiten Teil überraschenderweise mit folgender Schlussfolgerung fortzufahren: „Aber wenn auch hier nach die Arminia von der Beschuldigung demagogischer Umtriebe freigesprochen werden muss, so ist und bleibt sie dennoch eine unerlaubte an sich schädliche und folglich nicht zu duldende Studentenverbindung“,20 was dann die Höchststrafe rechtfertigte. Es ist schwierig, in Steffens’ Anschauungen eine ­einheitliche politische Linie auszumachen. 1813 hatte er mit seinem Aufruf, gegen Napoleon zu ziehen und Deutschland von seiner Herrschaft zu befreien, die Zustimmung der ­Breslauer 14 15 16 17 18 19 20

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 77, Tit. 13, Nr. 5, fol. 3f. Ebd., Nr. 17, Bd. 1, fol. 9f. Ebd. Ebd., fol. 11–13. Ebd., fol. 13. Ebd., fol. 76–87. Ebd., fol. 79.

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Studenten gewonnen.21 Seine Position im sogenannten Turnerstreit hatte ihn jedoch in Widerspruch zu den meisten Studenten und auch Kollegen gesetzt. Nach dem sogenannten Befreiungskrieg von 1813/14 forderten die Studenten als Ergebnis dieses Krieges die Einheit des deutschen Staates. Für Steffens aber war dies ein „abstraktes Deutschland“, das „von jeder Vergangenheit abgesondert“ sei.22 Das „Eigentümliche der zahlreichen deutschen Stämme“ wäre für ihn in diesem „allgemeinen Deutschland“ untergegangen.23 Die Forderungen der Studenten, wie sie auf dem Wartburgfest (1817) deutlich wurden, waren für ihn geprägt von „Spuren eines politischen Fanatismus“.24 Seine Skepsis gegenüber dem aufkommenden Nationalismus, der nach seiner Ansicht religiöse Züge trug, bestimmte auch seine ablehnende Haltung gegenüber der Turnbewegung, durch die er ebenso die neu geschaffenen Gymnasien aufgrund der politischen Auffassung der Lehrer in Gefahr sah, worin er sich mit Hardenberg einig wusste.25 Steffens geriet mit seiner Urteilsverkündung in einen ernsten Konflikt. Auf der einen Seite war für ihn klar, „das strenge Recht walten zu lassen“,26 auf der anderen Seite aber gehörten für ihn die Studenten, deren Relegation er verkündete, zu den besten und sittlich einwandfreien Studenten, deren bürgerliche Karriere er – auch in Rücksicht auf deren Familien – nicht zerstören wollte.27 Auch wenn Steffens die politische Zielsetzung der Verbindungen ablehnte, so war er doch davon überzeugt, dass die Studenten durch gleiche Neigungen und Interessen zu ihrer „Belustigung“ miteinander verbunden sein sollten.28 In Sorge um die weitere Existenz der neu gegründeten Universität, die infolge dieser und weiterer zu befürchtenden Relegationen ein Drittel ihrer Studentenschaft verloren hätte, wandten sich vor Verkündigung der Urteile Rektor Steffens sowie der Senat am 31. Juli 1822 an den Minister von Altenstein.29 Sie drückten in ihrer Eingabe

21 Herzig, Arno: Henrik Steffens und „die Erhebung von Breslau“ 1813 [im Druck]. 22 Steffens: Was ich erlebte, Bd. 9, 59. 23 Ebd. 24 Ebd., 89. 25 ������������������������������������������������������������������������������������������� Am 2. Juni 1822 hatte Staatskanzler von Hardenberg in einem Schreiben gegenüber Innenminister von Schuckmann aufgrund des Berichts von Regierungsrat Krause folgende Vermutung geäußert: „Euer Excellenz werden daraus ersehen, daß als Urheber und Beförderer jener in Breslau stattfindenden Verirrungen hauptsächlich die dort und in anderen schlesischen Städten angestellten öffentlichen Lehrer und insbesondere diejenigen zu betrachten sind, deren Namen im Laufe der gegen die Demagogen schon früher geführten Untersuchungen oftmals vorgekommen sind. Es wird daher gegenwärtig, wo solche von Neuem als verdächtig und nachteilig wirkend bezeichnet werden, darauf ankommen, näher in Erwägung zu nehmen, ob und inwieweit dieselben ohne Gefahr auf den Posten verbleiben können [...].“ Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 77, Tit. 13, Nr. 17, Bd. 1, fol. 53. 26 Steffens: Was ich erlebte, Bd. 9, 95. 27 Ebd., 98. 28 Ebd. 29 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 77, Tit. 13, Nr. 17, Bd. 1, fol. 88– 100.



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ihre Sorge um die weitere Existenz der Universität aus und betonten, dass es sich bei den Relegierten um „die ausgezeichnetsten und vortrefflichsten Jünglinge“ handele, die geholfen hätten, die „Herrschaft über Roheit und Unwissenheit“ zu gewinnen.30 Die Relegierten kamen aus allen Fakultäten, worunter die Juristen mit dreißig Studenten und die evangelischen Theologen mit 24 Studenten den höchsten Anteil stellten.31 Unter den Relegierten befand sich auch der Sohn des Theologen Albrecht Wachler, was in dem Brief an Altenstein auch betont wurde. Senat und Rektor befürchteten, dass wegen dieser an deutschen Universitäten einmaligen, hohen Strafe die Eltern kaum noch ihre Söhne auf diese Universität schicken würden. In ihrer „Verantwortlichkeit vor ganz Deutschland“ ersuchten sie Altenstein um „Begnadigung“ der verurteilten Studenten.32 Innenminister von Schuckmann und Kultusminister von Altenstein, die bis dahin die Universität Breslau gefördert hatten, schätzten wohl die Folgen, die dieses Urteil für die junge Universität haben musste, nicht anders ein und erreichten beim König am 5. Februar 1824 eine Aufhebung des Urteils. Jeder einzelne Verurteilte musste sich öffentlich von allen Verbindungen lossagen.33 Die Krise war damit behoben, und bis in den Vormärz in den 1840er Jahren blieb es, was die Politik betraf, an der Universität Breslau ruhig. Erst 1842 kam es zu einem erneuten Konflikt, als nämlich August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Professor für deutsche Sprache und Literatur, wegen seiner „Unpolitischen Lieder“ entlassen wurde. In der Revolution von 1848 agierten die Professoren Roepell und Haase aufseiten der Konstitutionellen gegen die wilde Demagogie – gemeint waren damit die Demokraten. Der Historiker Gustav Adolf Stenzel (1792–1854) wurde in die Paulskirche gewählt, in die er gleich von zwei schlesischen Wahlkreisen geschickt worden war. Dort zählte er mit den Historikerkollegen Dahlmann und Raumer zum linken Zentrum. Als Abgeordneter der preußischen Konstitutionellen Versammlung wurde der Breslauer Botaniker Christian Gottfried Nees von Esenbeck (1776–1858) gewählt. Dort war er einer der sozial engagiertesten Vertreter der äußersten demokratischen Linken. Nach der Niederschlagung der Revolution bestrafte ihn die preußische Regierung 1852 mit Entlassung aus seinem Professorenamt unter Wegfall aller Bezüge und Pensionsansprüche. Die Notlage von Nees veranlasste die Philosophische Fakultät, über den akademischen Senat beim Ministerium um Zahlung der Pension vorstellig zu werden. Doch wurde ihr Gesuch abschlägig beschieden. Nun nahm sich die in- und ausländische Presse der Sache an und bewirkte Sammlungen zugunsten des entlassenen inzwischen sechsundsiebzigjährigen Gelehrten, den einst – wie auch Purkinje – Goethe für eine Professur vorgeschlagen hatte.34

30 31 32 33 34

Ebd. Ebd., fol. 81. Ebd., fol. 100. Ebd., fol. 206. [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 251.

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Nees von Esenbeck stand mit seinem sozialen Engagement nicht allein da unter den Breslauer Professoren. Die schwierige soziale Situation dieser Provinz, die durch den Weberaufstand von 1844 überall in Deutschland offenkundig geworden war, hatte sich seit den 1850er Jahren im Zug des Eisenbahnausbaus aufgrund der Neuansiedlung von Industrien allmählich gebessert. Doch war die Situation der Weber im Gebirge keineswegs überwunden, und auch in Breslau gab es nach wie vor eine Wohnungsnot bei den Arbeitern, die schon in den 1840er Jahren der Sozialist Wilhelm Wolff (1809– 1864) der Breslauer Öffentlichkeit in seinem bekannten Artikel über die dortigen Kasematten vorgehalten hatte. Die freisinnige bürgerliche Öffentlichkeit Breslaus glaubte, dies mit den Mitteln des Marktes lösen zu können, und geriet deshalb in Widerspruch zu den sogenannten Kathedersozialisten, zu denen vor allem Lujo Brentano (1844–1931) zählte, der 1872 achtundzwanzigjährig als Extraordinarius für Nationalökonomie nach Breslau berufen worden war und hier bis zu seiner Berufung nach Straßburg 1882 lehrte. Mit der Definition seines sozialen Programms, dass die Lage der Arbeiter auf Grundlage der bestehenden Wirtschaftsordnung gehoben und ihnen ein fortschreitender Anteil an den Segnungen der Kultur verschafft werden könne, geriet er zwischen die Fronten. Sowohl von der bürgerlichen als auch von der Arbeiterpresse wurde er scharf angegriffen. „Es verging keine Woche“, so schreibt er in seinen Erinnerungen 1931, „in der nicht der ‚Volksstaat‘ einen Artikel oder abfällige Bemerkungen über mich brachte“.35 Brentano, der in Breslau neben seinen Pflichtvorlesungen auch eine öffentliche Vorlesung über die Arbeiterfrage hielt, füllte damit den Hörsaal bis auf den letzten Platz, und zwar mit Zuhörern jeglichen Alters, stieß aber auf Ablehnung bei der Sozialdemokratie, die zugunsten des Klassenkampfes Brentanos Mittelweg ablehnte. Auf Plakaten forderte sie ihn auf, ihre Volksversammlung zu besuchen, auf der August Bebel (1840–1913) sprechen werde.36 Die Breslauer Nationalökonomie provozierte damit die Frage nach ihrer wissenschaftlichen Neutralität. Das sozialpolitische Engagement der „Kathedersozialisten“ passte nicht so recht in das akademische Klima des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Dem politischen Engagement der Professoren in der 1848er Revolution folgte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine allgemeine politische Passivität. Nur der Historiker Richard Roepell (1808–1893) wurde von seiner parlamentarischen Tätigkeit so stark in Anspruch genommen, dass im Herbst 1873 zu seiner Unterstützung ein Ersatzordinariat für mittlere und neuere Geschichte eingerichtet wurde.37 Die parlamentarische Tätigkeit mochte für einen Breslauer Professor noch angehen, die Auseinandersetzung auf der politischen Bühne dagegen, dann auch noch mit Sozial35 Ebd., 293. 36 Ebd. 37 Kaufmann, Georg: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Tl. 1: Die Geschichte der Universität Breslau 1811–1911, Tl. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, hier Tl. 2, 366.



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demokraten, war suspekt. Am deutlichsten profilierte sich hier der 1890 nach Breslau berufene Nationalökonom Werner Sombart (1863–1941), der an dieser Universität bis 1906 lehrte, um dann an der Berliner Handelshochschule seine Karriere fortzusetzen. In der Breslauer Kommunalpolitik agierte der parteilose Sombart seit 1896 im Milieu der Freisinnigen Partei, sprach aber gegen deren Wohnungspolitik, indem er das städtische Wohnungselend drastisch herausstellte.38 Auch initiierte er eine Breslauer Ortsgruppe der „Gesellschaft für soziale Reform“. Sombart, der sich selbst als „junger Bourgeois-Gelehrter“ verstand, war in den 1890er Jahren – wie es in seiner Biografie von Friedrich Lenger heißt – „ein respektierter Breslauer Bürger und Kommunalpolitiker, ein erfolgreicher Hochschullehrer, dem lediglich ein Ordinariat verwehrt wurde, ein angesehener Wissenschaftler und populärer Autor sowie ein bekannter Sozialpolitiker“.39 Dennoch war es nicht nur sein Freund, der SPD-Reichstagsabgeordnete Heinrich Braun (1854– 1927), an dessen bekannter Zeitschrift „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ Sombart mitarbeitete, der ihn in den 1890er Jahren drängte, offen der SPD beizutreten, um hier den reformistischen Flügel zu stärken (was Braun die heftige Gegnerschaft von August Bebel, Paul Singer und später Rosa Luxemburg einbrachte). Selbst Max Weber (1864–1920) stand einer solchen politischen Karriere Sombarts positiv gegenüber. Was Sombart letztlich von diesem Schritt abhielt, war seine Konzeption von Sozialpolitik, die auf einer strikten Trennung von Wissenschaft und Werturteil beharrte. Diese sah er durch ein Reichstagsmandat für die SPD gefährdet, während er dergleichen Befürchtungen für die kommunale politische Ebene nicht hegte.40 Gefährdet sah er sie auch nicht durch seine sozialpolitisch engagierten akademischen Veranstaltungen, so sein Seminar über „Schlesiens wirtschaftliche und soziale Zustände“ mit Exkursionen, die in das „Oberschlesische Industriegebiet Gleiwitz und ins Waldenburger BergarbeiterRevier“ führten. Für die konservative „Schlesische Zeitung“ war dies Grund genug, denunziatorisch den staatlichen Behörden zu empfehlen, „bei der Bestätigung von Professoren und bei der Beförderung derselben schärfer zuzusehen“.41 Zu einem SPD-Beitritt kam es nicht, doch arbeiteten sowohl Brentano als auch Sombart auf eine enge Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie hin, um im Reichstag eine breite sozialpolitische Allianz von Bassermann (dem sozialpolitisch engagierten Liberalen) bis zu Bebel zugunsten des Arbeiterschutzes zu erreichen.42 Der „Bourgeois-Gelehrte“ Sombart hatte sich damit – obwohl man dies annehmen könnte – keineswegs an den gesellschaftlichen Rand seiner Breslauer Kollegen und der Breslauer Honoratioren manövriert. Die Honorare, die er erhielt, und auch die Zu38 Lenger, Friedrich: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994, 56. 39 Ebd., 70. 40 Ebd., 49, 93. Vgl. Herzig, Arno: Paul Singer – Heinrich Braun. Zum Revisionismusstreit der deutschen Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg. In: Grab, Walter (Hg.): Jüdische Integration und Identität in Deutschland 1848–1918. Tel Aviv 1984, 123–151, hier 134. 41 Zit. nach Lenger: Werner Sombart, 52. 42 Ebd., 104.

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schüsse sowie das Erbe von seinem Vater erlaubten ihm einen großbürgerlichen Lebensstil, zu dem auch der Erwerb einer Villa in Scheitnig gehörte. Zu seinem Breslauer Freundeskreis zählte unter anderen auch Carl Hauptmann (1858–1921). Sombart setzte damit die Tradition fort, die sein Kollege, der 1881 nach Breslau berufene Nationalökonom und Ordinarius August von Miaskowski (1833–1899), der 1889 nach Wien ging, begründet hatte. Zu dessen Kreis zählten neben den Breslauer Stadthonoratioren die „jungen Professoren“ – so die Frau Miaskowskis in ihrem Buch „Bilder aus dem Wanderleben einer deutschen Professorenfrau“ (1909) –, die später zu den Größen der Berliner Universität gehören sollten: der Jurist Otto von Gierke (1841– 1921), der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833–1911), der Germanist und Mediävist Karl Weinhold (1823–1901), der Althistoriker Eduard Meyer (1855–1930), die Neuzeithistoriker Dietrich Schäfer (1845–1929; vorher Jena) und Max Lenz (1850–1932; später Hamburg), der Botaniker Adolf Engler (1844–1930) und andere.43

Zu den bedeutendsten Gebäuden der Breslauer Universität zählt das ehemalige Jesuitenkonvikt und spätere Kollegiengebäude. Von hier aus rief Henrich Steffens 1813 zum Kampf gegen Napoleon auf. Weitere namhafte Persönlichkeiten, die hier wohnten beziehunsgweise wirkten, waren Joseph von Eichendorff, Friedrich und Karl von Raumer, William Stern und Edith Stein.

Ina von Miaskowski spricht hier ein Problem an, das typisch für die Breslauer Universität im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war: Die Universitas Wratislawiensis, seit 1911 die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität, war eine typische „Sprungbrettuniversität“. Große Gelehrte begannen hier ihre Karriere, um sie in Berlin oder noch weiter im Westen fortzusetzen. Nur wenige kamen – wie der bekannte Dichter 43 Miaskowski, Ina von: Bilder aus dem Wanderleben einer deutschen Professorenfrau [1909]. Zit. nach [Andreae (Hg.):] Aus dem Leben, 311–313.



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und Jurist Felix Dahn (1834–1912) – in ihrem 54. Lebensjahr an diese Universität. Für die meisten galt wohl die Feststellung, die der Historiker Alfred Dove 1875 in einem Brief an Gustav Freytag trifft: „Im ganzen sei es noch einmal versichert, ists hier [in Breslau, d. Vf.] ja wohl leben, aber nicht gut sterben! Neulich beim 50-jährigen Doktorjubiläum von Göppert [dem Botaniker Johann Heinrich Göppert, 1800–1884, d. Vf.] saß dies ganze geistig angehauchte Schlesien zechend beisammen und sprach und sang sich an, daß man glauben mochte, die dritte schlesische Dichter- und Rednerschule hätte ein öffentliches Examen. Es ist eine stete Bewegung in dieser badewannenförmigen Provinz, aber das meiste strudelt schaukelnd wieder drin zurück, was höher in Wellen geht, spritzt aber nach draußen und kommt nicht wieder zurück.“44 Dennoch erinnerten sich die „Nicht-wieder-Zurückgekommenen“ sehr positiv an ihre Breslauer Zeit. 13 Jahre später (1887) später schreibt derselbe Dove aus Bonn an den Breslauer Historiker Colmar Grünhagen (1828–1911): „Und so geht es uns mit Schlesien überhaupt, genau wie Maria Theresia, die auch erst spürte, was sie daran besessen, als es fort war auf Nimmerwiederkriegen. Ich will nicht lügen, daß wir buchstäblich weinen, so oft wir einen Schlesier sehen.“45 Und noch einmal 28 Jahre später (1915) nach einem Treffen mit dem ebenfalls „ehemaligen“ Breslauer Juristen Otto von Gierke in einem Brief an den Juristen Ulrich Stutz (1868–1938), in dem er erklärt, dass die Breslauer Zeit für ihn die glücklichste gewesen sei, wofür natürlich Breslau nichts könne. Aber, so fährt er fort, „wir waren eben jung, bildeten mit Dilthey, Brentano und den anderen einen festen Kreis“.46 Hierin aber lag die einmalige Chance der Breslauer Universität: Wenn viele der Gelehrten Breslau auch wieder verließen, so fielen in die dortige Wirkungszeit doch bedeutende, nicht selten die bedeutendsten Forschungsleistungen dieser Wissenschaftler, von denen selbstverständlich auch die Universität profitierte. Das gilt für den Juristen, Rechtshistoriker und Nobelpreisträger Christian Matthias Theodor Mommsen (1817– 1903), der vor seiner Berufung nach Berlin von 1854 bis 1858 in Breslau lehrte und hier die ersten drei Bände seiner „Römischen Geschichte“ verfasste, wie auch für den Mediziner Johann Purkinje, der von 1821 bis 1850 dort wirkte und nicht nur seine bahnbrechenden Arbeiten zur Gewebelehre verfasste, sondern 1824 als Erster die medizinischen Demonstrationen in der Vorlesung einführte (1850 ging er nach Prag). Nicht anders der „größte Jurist seiner Zeit“ und Rechtshistoriker Otto von Gierke, der in Breslau, wo er von 1882 bis 1884 lehrte, bevor er nach Berlin ging, das Standardwerk zum Deutschen Genossenschaftsrecht verfasste und zudem in der hiesigen Universitätsbibliothek die verschollene Schrift des Johannes Althusius, „Politica methodice gesta“ (1603), entdeckte; ebenso der Mineraloge Karl von Raumer (1783–1865), dem die Erforschung des Riesengebirges und die mineralogische Sammlung zu verdanken ist; ferner der Germanist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der im hiesigen Amt 44 Zit. nach ebd., 298. 45 Zit. nach ebd. 46 Zit. nach ebd., 299.

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seit 1830 die schlesischen Volkslieder sammelte, bevor er 1842 von der preußischen Regierung wegen seiner „Unpolitischen Lieder“ ohne Pensionsanspruch aus dem Amt gejagt wurde.47 Um die Liste mit den Breslauer Leistungen des Chemikers Robert Bunsen (1811– 1899), des Ökonomen Lujo Brentano, der Historiker Alfred Dove, Dietrich Schäfer, Friedrich von Raumer (1781–1873) und Eduard Meyer, des Germanisten Karl Weinhold, des Nationalökonomen August von Miaskowski und der Theologen Johann Baltzer (1803–1871) und Joseph Hubert Reinkens (1821–1896) nicht allzu sehr auszuweiten, sei hier nur auf drei Wissenschaftler hingewiesen: auf den Philosophen Wilhelm Dilthey, der in Breslau die „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883) verfasste und dem es letztlich zu verdanken ist, dass Johannes Brahms (1833–1897) 1880 die Ehrendoktorwürde dieser Universität verliehen bekam, wofür dieser sich 1881 mit seiner akademischen Festouvertüre bedankte; ferner auf den bereits erwähnten Werner Sombart, der hier unter anderem sein Standardwerk „Der moderne Kapitalismus“ (1902) verfasste. Erwähnt sei noch ein jüdischer Wissenschaftler: der Psychologe William Stern (1871– 1938), der hier die bahnbrechenden Werke „Die differentielle Psychologie“ (1911) und die „Psychologie der frühen Kindheit“ (1914) verfasste, bevor er 1915 an die neu zu gründende Universität Hamburg berufen wurde.48 In dem ehemaligen Jesuitenkonvikt, in dem das Psychologische Institut untergebracht war, führte er die experimentellen Versuche durch, die schließlich zur Entwicklung des Intelligenzquotienten führten. Wie William Stern, so verdankt die Breslauer Universität zahlreichen jüdischen Wissenschaftlern ihren anerkannten Ruf, unter ihnen auch sechs Nobelpreisträgern wie Max Born (1882–1970) und Paul Ehrlich (1854–1915), die in Breslau studiert oder gelehrt hatten. Das Schicksal der jüdischen Wissenschaftler an der Universität Breslau unterschied sich nach 1933 kaum von dem an anderen Universitäten. Breslau gehörte neben Berlin und Frankfurt am Main zu den Universitäten, an denen über die Hälfte der entlassenen jüdischen Gelehrten wirkten. Die Entlassung der jüdischen Gelehrten nach 1933 stellt eine wichtige Zäsur in der Geschichte der Breslauer Universität dar. Das positive Image, das sich die Universität im 19. Jahrhundert erworben hatte, war damit verloren.

47 Kaufmann: Festschrift, Tl. 1, 210f. 48 ��������������������������������������������������������������������������������������� Zu Sterns Berufung nach Hamburg und seinem dortigen Wirken vgl. Moser, Helmut: Zur Entwicklung der akademischen Psychologie in Hamburg bis 1945. Eine Kontrast-Skizze als Würdigung des vergangenen Erbes von William Stern. In: Krause, Eckart/Huber, Ludwig/Fischer, Holger (Hg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, Tl. 1–3. Berlin/Hamburg 1991, hier Tl. 2, 483–518.





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25. Der „Fall Cohn“ und die Gleichschaltung der Universität Breslau 1932/33 Noch vor Ausgang der Weimarer Republik kündigte sich im Wintersemester 1932/33 mit dem sogenannten „Fall Cohn“ der Wandel in der von den Nationalsozialisten bestimmten und schließlich gleichgeschalteten Universität an. Der Jurist Ernst Cohn war im Sommer 1932 von der Juristischen Fakultät als Ordinarius für Bürgerliches Recht berufen worden.1 Mit Entrüstung war von Anfang an von der NS-Propaganda kommentiert worden, dass „ein Jude [...] deutsches Recht lehren“ sollte.2 Bei seiner Antrittsvorlesung am 10. November 1932 kam es zu Störungen durch Studenten des rechtsorientierten Waffenrings und der NS-Gruppe. Anstatt hier von vornherein gegen die Randalierer hart vorzugehen, beließ es der Rektor, der Orientalist Karl Brockelmann, bei einer milden Bestrafung. Keiner der Randalierer wurde relegiert, was durchaus zu erwarten gewesen wäre; vielmehr versuchte der Rektor, in Gesprächen mit den Vorsitzenden und Vertretern des Waffenringes und der NS-Gruppe zu erreichen, dass sich die Störungen nicht wiederholten, was diese ihm auch versprachen. Um eventuelle Störungen bei der nächsten Vorlesung Cohns am 17. November 1932 zu verhindern, verfügten Rektor und Senat, nur Studierende zur Vorlesung zuzulassen, die bei Cohn belegt hatten. Die Assistenten der Juristischen Fakultät gaben Eintrittskarten aus, das Portal I des Hauptgebäudes wurde geschlossen und alle Studierenden, die in den Hörsaal wollten, mussten das Eisengitter vor dem Studentensekretariat passieren. Obgleich der Rektor mit den Führern der studentischen Gruppen weiter in Fühlung geblieben war, rechnete er mit neuen Störungen, weshalb er sich bei Beginn der Vorlesung um 9.00 Uhr in seinem Dienstzimmer mit dem Prorektor und zwei Senatoren traf. Der Prodekan der Juristischen Fakultät Fischer begleitete indessen Cohn in seine Vorlesung, die seit 9.20 Uhr durch Absingen von Liedern und Rufen gestört wurde. Fischer fiel dabei ein „Studierender mit markantem Schmiß auf, der während der Vorlesung besonders laut 1 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Ernst Cohn, der in Breslau das Johannesgymnasium besucht hatte, war ein Schüler des dort lehrenden Historikers Willy Cohn. Vgl. Cohn, Willy: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/Wien 1995, 607, 653. Über sein Jurastudium in Breslau und die während der Weimarer Republik dort lehrenden Juraprofessoren gibt Ernst Cohn aus der Rückschau (1966) eine abgewogene Darstellung: Cohn, Ernst J.: Student in den Zeiten der Not. In: Hupka, Herbert (Hg.): Leben in Schlesien. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. München 1962, 241–252; Ernst Cohn, der sich 1929 an der Universität Frankfurt am Main habilitiert hatte, war von der Juristischen Fakultät einstimmig primo loco berufen worden. Zu den Hintergründen des „Falles Cohn“ vgl. Heiber, Helmut: Universität unter dem Hakenkreuz, Tl. 1–2/2. München 1991–1994, hier Tl. 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, 115–132. 2 Paucker, Arnold: Der jüdische Abwehrkampf. In: ders./Mosse, Werner (Hg.): Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Ein Sammelband. Tübingen 1965, 405–499, hier 483f.

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gelärmt“ hatte.3 Kurz nachdem dieser während der Vorlesung den Hörsaal verlassen hatte, stürmten Studenten den Saal. Die Pförtner, die vor der Tür Aufsicht führten, wurden beiseite gedrückt, und der „Strom randalierender Studierender“ drängte in den Hörsaal. Cohn brach daraufhin die Vorlesung ab und wurde „bei dem einsetzenden Tumult“ von dem Prodekan Fischer vor den Hörsaal begleitet. In einem Auto konnte er „mit knapper Not“ einer anstürmenden Studentenmenge entkommen. Der Rektor ließ daraufhin um 9.45 Uhr die Universität schließen. Die in Zivil anwesenden Beamten der Schutz- und Kriminalpolizei rieten ihm angeblich davon ab, die Schutzpolizei offiziell einzusetzen, da bei Widerstand gegen die Polizei die Studenten aufgrund der Notverordnung wegen Terror mit hohen Zuchthausstrafen hätten rechnen müssen. Wieder nutzte Brockelmann nicht die Gelegenheit, mithilfe der Polizei hart durchzugreifen, um die Lehrfreiheit des bedrängten Kollegen zu schützen. Trotz der „verwirrten Umstände“, wie die Situation später bezeichnet wurde, spielten bei späteren Bestrafungsaktionen die Randalierer eine durchaus klägliche Rolle. Ein energisches Durchgreifen hätte durchaus Erfolg gehabt; dennoch beließen es Rektor und Senat in ihrer Sitzung am 17. November 1932 bei der vorübergehenden Schließung der Universität und bei der Androhung eines Einsatzes der Schutzpolizei gemäß der Terrorverordnung bei erneutem Randalieren. Inzwischen waren die Störaktionen rechtsgerichteter Studenten in der Breslauer Universität zu einer öffentlichen Angelegenheit weit über Breslau hinaus geworden. Für den „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ wurden die Vorgänge in Breslau zu einem Testfall dafür, inwieweit in der Republik die Lehrfreiheit eines jüdischen Professors und damit dessen Gleichberechtigung mit den anderen Lehrenden garantiert waren.4 Der Antisemitismus an der Breslauer Universität, an der von Beginn an zahlreiche Juden studierten und seit dem Kaiserreich ebenso lehrten, war nicht eklatanter als an anderen deutschen Universitäten. Jüdische Studierende wurden auch zu Beginn der 1930er Jahre von ihren Mitstudierenden nicht belästigt, obgleich manche kleine Vorfälle deutlich werden ließen, dass es durchaus einen latenten Antisemitismus unter den Studierenden gab.5 Bei den Radauszenen während der Cohn-Vorlesungen kam es allerdings auch zu Ausschreitungen gegen jüdische Mitstudenten. Der CentralVerein verlangte deshalb nach der ersten Störaktion ein behördliches Eingreifen.6 Kritik 3 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18 (Senatsakten), fol. 11–29 (Senatsprotokoll vom 11. November 1932; hier die folgenden Zitate). Bei den Wahlen zur Freien Studentenschaft der Universität Anfang Dezember 1931 hatte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (­NSDStB) 75 Prozent der Stimmen gewonnen. Diese überraschende Mehrheit war 1932 wieder verloren gegangen, was vermutlich auch die Aktionen im „Fall Cohn“ bestimmte. Vgl. Heiber: Universität, Tl. 1, 537 Anm. 545. 4 Paucker: Der jüdische Abwehrkampf, 483. 5 Gespräch des Verfassers mit (dem ehemaligen Breslauer Studenten) Werner Hayek am 20. Mai 1996 in Hamburg. 6 Jüdische Rundschau Nr. 103/104 (30. Dezember 1932), Leitartikel: „Der Streit um Professor Cohn. Ein Fall von gestern, heute und morgen“. Der Artikel ging davon aus, „daß der akademische



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erfuhren der Breslauer Rektor und Senat auch von der deutschen Rektorenkonferenz (3. Dezember 1932) und von der preußischen (15. Dezember 1932), die auf ihren Sitzungen die „sehr milden“ Urteile im Hinblick auf die Unruhestifter kritisierten. Nach den Vorfällen vom 17. November 1932 blieb das Hauptgebäude der Universität bis zum 22. November 1932 geschlossen. Professor Cohn nahm am 25. November seine Vorlesung wieder auf. Dass sie stattfinden konnte, dafür hatte der Geschäftsführende Direktor des Juristischen Seminars Eugen Rosenstock-Huessy gesorgt. Er ließ von Tischlermeister Müller den Aufgang zu Cohns Hörsaal mit einem Stacheldrahtverhau sichern, sodass die Randalierer eingestehen mussten, dass „durch diese Maßnahmen [...] z. Zt. Störungen unmöglich“ seien.7 Im Dezember 1932 ereignete sich dann ein Vorfall, der Rektor und Senat recht ­schnell dazu veranlasste, Professor Cohn zu beurlauben und so fürs Erste die Gefahr von Störungen zu beseitigen. Ernst Cohn hatte sich am 22. Dezember 1932 auf Anfrage der Berliner Zeitung „Der Montag Morgen“ sehr bedingt und recht verklausuliert formuliert für die Möglichkeit der Asylgewährung für Leo Trotzki in Deutschland ausgesprochen. Nach telefonischer Mitteilung des betreffenden Redakteurs an Cohn sei die Frage nach Asylgewährung für Trotzki angeblich an fünfzig Professoren gerichtet worden. Als Cohn die Antwort zunächst ablehnte, gab ihm der Redakteur zu bedenken, dass eine Nichtbeantwortung als Feigheit ausgelegt werden könne. Inwieweit diese Anfrage eine bewusste Falle vonseiten des Journalisten war, muss offenbleiben.8 Als die Senat der Universität Breslau sich nur widerwillig auf Seiten des von NS-Studenten angegriffenen jüdischen Professors stellte“. Vgl. Paucker: Der jüdische Abwehrkampf, 484. 7 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18 (Senatsakten) Senatsprotokoll vom 17. Dezember 1932, fol. 30f.; Heiber: Universität, Tl. 1, 121 (hier das Zitat). Eugen Rosenstock-Huessy (1888– 1973), ein Freund des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929), entstammte einer jüdischen Familie. Nach seiner Konversion zur protestantischen Kirche war er Mitbegründer der Zeitschrift „Die Kreatur“, die als Forum des christlich-jüdischen Dialogs nach dem Ersten Weltkrieg dienen sollte. Während der Weimarer Republik war er einer der führenden Intellektuellen in der Arbeiter- und Erwachsenenbildung. An der Universität Breslau lehrte er seit 1923 als ordentlicher Professor Deutsches, Bürgerliches, Handels- und Arbeitsrecht sowie Soziologie, im Wintersemester 1932/33 war er Geschäftsführender Direktor des Juristischen Seminars (Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Personalakte, S220. E. Rosenstock-Hüssy, fol. 5). Er zählte zu den bedeutendsten Köpfen in der Juristischen und Staatswissenschaftlichen Fakultät. In den Erinnerungen an seine Breslauer Studienjahre erwähnt ihn Cohn allerdings nicht. Jonca, Karol: Idee polityczne i społeczne profesora prawa Eugena Rosenstocka-Huessego. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 57 (2002) 383–392. Vgl. den Beitrag „Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes“ in diesem Band. 8 „Der Montag Morgen“, eine Boulevardzeitung, war nach eigenen Angaben unpolitisch. Ernst Cohn gab gegenüber dem Rektor folgende Darstellung: Er sei von einem Vertreter des Blattes „Der Montag Morgen“ angeläutet und um eine Stellungnahme zu der Rundfrage „Wenn Sie zu entscheiden hätten, gäben Sie Trotzki ein Asyl in Deutschland?“ gebeten worden. Zunächst habe er abgelehnt, habe aber, nachdem der Redakteur ihm sagte, dass die Anfrage an fünfzig Professoren ergangen sei und, wenn er nicht Stellung nähme, dies ihm als Feigheit ausgelegt werden könne, sich zur Abgabe einer Erklärung bereit gefunden. Er nahm an, dass das Blatt dem Hugenbergkonzern ange-

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„Schlesische Zeitung“ am 23. Dezember 1932 Cohns Stellungnahme abdruckte, sah der Rektor nun den „Fall Cohn“ in „ein neues Stadium“ getreten,9 so seine Formulierung in der Senatssitzung am gleichen Tag. Die Formulierung verrät, dass es für Brockelmann schon vorher „einen Fall Cohn“ gegeben hatte, nicht erst seit dem Interview. Obgleich es sich hier um eine private Äußerung Cohns handelte, die mit seiner Lehre nichts zu tun hatte, entschuldigte sich Cohn beim Rektor für seine Äußerung, die zudem entstellt wiedergegeben worden sei. Er selbst stufte sie als eine „Entgleisung“ ein und entschuldigte sie „mit seiner Unerfahrenheit in politischen Angelegenheiten“. Als „Konsequenz“ dachte Cohn sogar daran, „aus dem Preussischen Staatsdienst aus[zu] treten“. Dennoch hielt der Rektor etwas vorschnell eine weitere Lehrtätigkeit Cohns in Breslau nicht mehr für tragbar, da zu erwarten stehe, dass, wenn er sich weiter schützend vor Cohn stelle, die ganze nationale Presse gegen ihn Stellung nähme. In einer gemeinsamen Erklärung vom 23. Dezember 1932 betonten Rektor und Senat zwar ihre bisherige Entschiedenheit für die unbehinderte Lehrtätigkeit des Professors, machten diesem aber den Vorwurf, dass er die „pflichtgemässe Zurückhaltung durch sein unnötiges Hervortreten in einer umstrittenen politischen Frage [hat] vermissen lassen“.10 Auch der Senat hielt „eine weitere Lehrtätigkeit des Herrn Professors Cohn [...] im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung und eines ungestörten Lehrbetriebes für nichttragbar“.11 Außerdem sprachen die Senatoren in einer besonderen Presseerklärung dem Rektor, „einem Mann von bewährter nationaler Gesinnung“,12 gegen den in der Presse und im preußischen Abgeordnetenhaus „unerhörte Angriffe und Beschimpfungen“ erfolgten,13 ihr vollstes Vertrauen aus. Unterschrieben war die

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höre. Auch sei seine Äußerung entstellt wiedergegeben worden. Der letzte Satz müsste heißen: „Ein geistiger Arbeiter kann schutzwürdiger scheinen; an Agitatoren und Nurpolitikern haben wir dagegen wahrhaftig keinen Mangel.“ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, Senatsprotokoll vom 23. Dezember 1932, fol. 30. Zu den weiteren Befragten zählten der Boxer Max Schmeling und der ehemalige preußische Innenminister Carl Severing. Heiber: Universität, Tl. 1, 124. Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, Senatsprotokoll vom 23. Dezember 1932, fol. 30 (alle folgenden Zitate ebd.). Ebd., fol. 32. Der Text der Erklärung: „Rektor und Senat halten es für ihre wichtigste Pflicht, die akademische Lehrfreiheit unbedingt zu schützen. Deshalb sind sie mit aller Entschiedenheit für die unbehinderte Lehrtätigkeit des Herrn Professors Cohn eingetreten. Es wäre eine selbstverständliche Pflicht des Herrn Professors Cohn gewesen unter den besonderen Verhältnissen unserer Universität, alles zu vermeiden, was zu einer weiteren Verschärfung der Lage führen konnte. Leider hat Herr Professor Cohn neuestens diese pflichtgemässe Zurückhaltung durch sein unnötiges Hervortreten in einer umstrittenen politischen Frage vermissen lassen. Deshalb halten Rektor und Senat eine weitere Lehrtätigkeit des Herrn Professors Cohn an unserer Schlesischen Universität im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung und eines ungestörten Lehrbetriebes für nicht tragbar.“ Ebd. Ebd., fol. 33. Ebd.



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Erklärung von den Senatoren Poschmann, Seppelt, Steinbeck, Fischer, Winterstein, Malten, Haase, Gogarten, Obst, Stepp, Havers, Büchner, Bechtel und Sanftleben.14 Der Versuch des Rektors, durch Einwirken auf die rechtsorientierten Studentenverbände die Störungen zu unterbinden, erwies sich als wenig erfolgreich, zumal deren Vertreter ihn offenkundig belogen. Die milden Bestrafungen provozierten geradezu neue Radauszenen. Vermutlich wollte der rechtskonservativ orientierte Rektor gegenüber den Rechtsradikalen nicht scharf durchgreifen. Die Interviewaffäre kam ihm deshalb gelegen. Seine Befürchtungen, dass bei einer strikten Durchsetzung der Lehrfreiheit für Professor Cohn die gesamte nationale Presse gegen ihn Stellung beziehe werde, zeigt, dass er seine nationalkonservative Einstellung über das Gebot der freien Meinungsäußerung setzte. Die Mitglieder des Senats bestärkten ihn in dieser Meinung. Für den 4. Januar 1933 waren Rektor, Prorektor und der Dekan der Juristischen Fakultät im „Fall Cohn“ zu einem Gespräch mit dem Reichskommissar Kaehler nach Berlin bestellt worden. In einer Senatssitzung am 2. Januar 1933 versuchte der Rektor, sich noch einmal die Rückendeckung des Senats zu verschaffen.15 Doch zeigte sich, dass die Meinung im Hinblick auf das Vorgehen gegen Cohn und in der Beurteilung seines Verhaltens nicht mehr so einhellig war wie in der Sitzung vor den Weihnachtsferien. Einige Dekane, so Malten und Haase, wollten nun nicht mehr allein das Trotzki-Interview als Ursache für die Beurlaubung Cohns sehen, sondern warfen diesem nun ohne jegliche Begründung, nur in Berufung auf angebliche studentische Äußerungen, vor, er habe die Studenten provoziert und „durch sein Verhalten gegenüber den Studierenden [...] nicht die genügende Selbstbeherrschung gezeigt“ (Haase).16 Der Mediziner Riesser aber wandte sich entschieden dagegen, „dass jetzt noch nachträglich Fehler von Cohn

14 Ebd.; Prorektor war der katholische Theologe Bernhard Poschmann (1878–1955), ordentlicher Professor für Dogmatik; als Vertreter des Dekans der Katholisch-Theologischen Fakultät nahm an dieser Sitzung der bekannte Breslauer Kirchenhistoriker Franz Xaver Seppelt (1883–1956) teil, der zu der Zeit auch Vorsitzender der Historischen Kommission für Schlesien war. Als engagierter Zentrumspolitiker geriet er 1933 in Konflikt mit der NS-Studentenschaft, die seine Veranstaltungen zu boykottieren drohte. Vgl. Kleineidam, Erich: Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Breslau 1811–1945. Köln 1961, 146f., 153f. 15 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, Senatsprotokoll vom 2. Januar 1933, fol. 35–40. 16 Ebd., fol. 33–40. Der Dekan der Philosophischen Fakultät, der Ordinarius für Klassische Philologie Ludolf Malten, behauptete, „die Studierenden haben sich geäussert, dass er [Ernst Cohn, d. Vf.] sich provokatorisch ihnen gegenüber benommen hätte, was einwandfrei festgestellt sei. Die Einstellung zu Trotzki sei nur der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufe gebracht hätte.“ Ebd., fol. 37; der katholische Theologe Felix Haase (1882–1965), seit 1924 ordentlicher Professor für slawische Kirchenkunde, allgemeine Religionswissenschaft, war Mitglied der ­NSDAP. Nach 1933 wurde er vom Ministerium zum Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät ernannt. Vgl. Köhler, Joachim: Professor Dr. Berthold Altaner und sein Engagement in der Katholischen Friedensbewegung. Quellen zur Entfernung aus dem akademischen Lehramt. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 45 (1987) 205–220, hier 205–207, 209.

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hervorgehoben würden“.17 Abgewogen und weitsichtig war die Meinung des Prorektors Poschmann, der sich für die Aufhebung der Beurlaubung Cohns durch den Minister „aus Gründen der Staatsautorität“ aussprach.18 Wie er, so meinten auch die Professoren Riesser und Büchner, den Senatsbeschluss vom 23. Januar 1932 nicht mehr mittragen zu können. Ihnen war die politische Brisanz des Falles deutlich, indem sie befürchteten, der Staat könne die Freiheit von Forschung und Lehre nicht mehr schützen. Die Gegenpartei, zu der Malten und Haase zu zählen sind, war der Meinung, auf die Selbstverwaltung könne zugunsten der Polizei verzichtet werden. Trotz der divergierenden Meinungen beschloss jedoch der Senat: „1. dass der Senat zu seinem Beschluß vom 23. Dezember 1932 weiter stehe, 2. dass er nicht mehr in der Lage sei, die Tätigkeit des Herrn Cohn weiter zu schützen, 3. dass er verlangen werde, Herrn Cohn bis zum Schlusse des Wintersemesters zu beurlauben, und dass ein Nachurlaub für das Sommersemester aus den schon angeführten Gründen in Frage käme“.19 Überraschend ist, dass der Prorektor trotz seiner Einwände diesem Beschluss zustimmte, während sich die beiden Professoren Dürken und Riesser der Zustimmung enthielten.20 Reichskommissar Kaehler hatte bei der Besprechung in Berlin die Aufhebung der Beurlaubung Cohns angeordnet, ohne dass Rektor und Senat, wie häufiger angedroht, zurückgetreten waren. Cohn gab in der Senatssitzung am 14. Januar 1933 eine Erklärung ab, in der er Rektor und Senat seinen Dank aussprach und sein Verhalten in der Interviewfrage bedauerte, da dadurch „die Schwierigkeiten für die Universität vermehrt worden sind“.21 17 �������������������������������������������������������������������������������������������� Otto Riesser (1882–1949), ordentlicher Professor für Pharmakologie und experimentelle Therapie und Direktor des Instituts für Pharmakologie, war ein Großneffe des bekannten Hamburger jüdischen Juristen und Emanzipationspolitikers Gabriel Riesser. Vgl. Schwerin, Kurt: Die Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben Schlesiens. In: Jahrbuch der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität Breslau 25 (1984) 93–177, hier 168. 18 Ebd. Bernhard Poschmann war trotz seiner konservativen Einstellung nichts an einem Autoritätsverfall der Weimarer Republik gelegen. Nach seiner Ansicht provozierte die Schwäche des Staates den Einbruch des nationalsozialistischen Elements in die Universität. Vgl. Kleineidam: Katholisch-Theologische Fakultät, 102f. 19 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, Senatsprotokoll vom 2. Januar 1933, fol. 39. 20 Ebd.; Bernhard Dürken war ordentlicher Professor für Entwicklungsmechanik und Vererbungslehre. 21 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 40–50; vgl. zu dieser Erklärung die wohl kaum zutreffende Einschätzung in Heiber: Universität, Tl. 1, 127. Der Wortlaut der Erklärung von Ernst Cohn nach dem Senatsprotokoll vom 14. Januar 1933: „Die Gelegenheit, mich dem weiteren Senate gegenüber zu äussern, verpflichtet mich zu lebhaftem Danke. Ich darf Sie bitten, hierbei über einige formelle Sätze hinausgehen zu dürfen. Denn ich gehöre diesem Lehrkörper erst so kurze Zeit an, dass ich den meisten von Ihnen von Person unbekannt geblieben bin, und es könnte daher der Eindruck entstehen, als wollte ich mich meiner Verantwortung durch eine blosse Formel entziehen. Wenn ich Sie daher für kurze Zeit um Ihr Gehör bitten darf, so bitte ich Sie, dies nicht als Anmassung, sondern als ein Zeichen dafür anzusehen, dass ich mich der Bedeutung und des Ernstes der Lage und des Umfanges meiner Verantwortung voll bewusst bin. Ich habe, als ich durch telefonischen Anruf die Zeitungsumfrage vorgelegt erhielt, in der Eile des Au-



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Am 24. Januar 1933 sollte Cohn seine Vorlesung wieder aufnehmen. Am Tag zuvor erkundigte sich der Student Ossig telefonisch bei ihm, ob er am nächsten Tag lesen werde. Cohn antwortete nach eigenen Angaben darauf, dass er keine Veranlassung sehe, den Beginn zu verschieben und dass er diese Mitteilung mache, obwohl er ja nun damit rechnen müsse, dass die Studentenschaft die Möglichkeit habe, ihre Vorbereitungen zu treffen. Der Student Ossig erwiderte ihm daraufhin, dass er falsch informiert sei, wenn er glaube, dass vonseiten der Studentenschaft Vorbereitungen zu Radauszenen getroffen würden.22 Bei der Wiederaufnahme der Vorlesung kam es am 24. Januar 1933 erneut zu Störungen. Cohn konnte allerdings seine Veranstaltung zu Ende führen. Studenten sangen das „Deutschlandlied“. Die Polizei machte mehrere Randalierer namhaft, die sich in der Senatssitzung am 28. Januar 1933 zu den Feststellungen der Polizei äußern durften. Die meisten gaben an, nur mitgesungen zu haben. Wiederum kam es zu recht milden Strafen. Nur in einem Fall wurde die Verweisung von der Universität ausgesprochen, in sechs Fällen beließ man es bei einer Androhung, einem Studierenden wurde das Semester nicht angerechnet. Der von den Studierenden befürchtete Entzug des Gebührenerlasses, der ihnen aus wirtschaftlichen Gründen ein Weiterstudieren unmöglich gemacht hätte, wurde nicht ausgesprochen. Darüber sollten die betreffenden Ausschüsse befinden. Für das erneute milde Strafmaß waren für die meisten Senatoren vermutlich die „verwirrten Verhältnisse“ ausschlaggebend,23 die Professor Schott als Milderungsgrund für die Studierenden anführte. Der Senat hatte offensichtlich vor den politischen Ereignissen dieser Tage kapituliert. Während der damalige Breslauer Polizeipräsident Thaiss bereit war, Rektor und Senat bei einem schärferen Vorgehen gegen die Randalierer zu unterstützen, hofften genblicks geglaubt, dass ich die Anfrage durch eine die Entscheidung offen lassende Antwort besser als durch eine Verweigerung der Antwort erledigen könne. Darin habe ich leider geirrt. Auch war es eine Fahrlässigkeit, dass ich von der Anfrage nicht den Stellen der Universität Kenntnis gegeben habe, die mir bis dahin mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatten. Es ist mir eine schmerzliche Empfindung, dass auf diese Weise der Anschein mangelnder Dankbarkeit und mangelnden Taktes hat entstehen können, während ich gerade umgekehrt mich Rektor und Senat zu aufrichtigem Dank verpflichtet gefühlt habe und verpflichtet fühle. Diesen Dank habe ich schon öfters ausgesprochen und wiederhole ihn gern. Ich bedauere es lebhaft, dass durch mein Verhalten der Eindruck entstehen konnte, als schlüge ich die Pflichten, die das einzelne Glied der Gesamtheit gegenüber hat, gering an, vor allem aber auch, dass nun die Schwierigkeiten für die Universität vermehrt worden sind und der Senat sich vor eine verschärfte Lage gestellt sieht. Ich habe die Gesamtlage dieser Hochschule in der gegenwärtigen Situation würdigen gelernt und darf diese Gelegenheit benutzen, um im Kreise der Kollegen mit Offenheit auszusprechen, dass diese Erkenntnis mich bei allen meinen Schritten künftig leiten wird.“ 22 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 63. Cand. phil. Ossig war Führer der ­Breslauer NS-Studentenschaft; von der Studentenschaft wurde gegenüber dem Staatssekretär Lammers im Kultusministerium die Antwort Cohns als „freche Herausforderung“ hingestellt. Vgl. Heiber: Universität, Tl. 1, 128. 23 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 51–54; Heiber: Universität, Tl. 1, 128.

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­ rstere, dass Berlin ihnen die Entscheidung im „Fall Cohn“ abnehme. Der 30. Januar E 1933 zeigte seine Wirkungen auf die Breslauer Universität. Am 31. Januar 1933 erschienen um 11.00 Uhr zwei Vertreter der NS-Studentenschaft beim Rektor und offerierten ihm eine Resolution in der „Schlesischen Zeitung“, in der sie sich als Hüter für Recht und Ordnung gerierten. Darin verlangten sie die Zurückziehung der Polizei, was am 30. Januar 1933 bereits geschehen war, ferner die Wiedereröffnung des Juristischen Seminars, die Unterbrechung der Vorlesung von Professor Cohn und die Wiederaufnahme der Disziplinarverfahren der gemaßregelten Studenten. Der Rektor verwies darauf, dass die Kompetenz für die Regelung der meisten Punkte in Berlin liege.24 Um 12.00 Uhr fand dann eine Versammlung der „nationalen Studentenverbände“ vor der Universität am Fechterbrunnen statt, bei der „aus Versehen“ am Portal II die Hakenkreuzfahne gehisst wurde – so erklärten die Studenten gegenüber dem Rektor, der die Entfernung anordnete. Die Versammlung war als Sympathiekundgebung für die neue Regierung gedacht, wuchs sich aber bald zu einer Hetze gegen Professor Cohn aus, wie das Senatsprotokoll vom 4. Februar 1933 vermerkt, ohne dass jemand im Senat dagegen protestiert hätte. Cohn setzte sich am Morgen des 1. Februar 1933 mit dem Ministerium in Berlin und dem Vorsitzenden des Hochschulverbandes in Verbindung. Das Ministerium hatte inzwischen eine Untersuchung angeordnet. Ebenfalls am Vormittag des 1. Februar 1933 fand eine Besprechung im Rektorat statt, an der neben dem Rektor der Dekan der Juristischen Fakultät Waldecker, der Geschäftsführende Direktor des Juristischen Seminars Rosenstock-Huessy und Professor Cohn teilnahmen. Dabei ging es um die weitere Strategie im Hinblick auf Cohns Veranstaltungen. Während Rosenstock-Huessy wohl für eine Weiterführung der Veranstaltung plädierte, sprachen sich der Rektor und der Dekan Waldecker vermutlich dagegen aus. Brockelmann gab Cohn eine Erklärung für den Fall, dass dieser seine Veranstaltung ruhen lasse. Diese war als Argumentationshilfe gegenüber dem Ministerium in Berlin gedacht, das ja offiziell noch immer die Weiterführung der Veranstaltungen forderte. Der Rektor argumentierte in dieser Erklärung, die „Sicherheit für Leib und Leben“ der Hörer Cohns könne nicht gewährleistet werden, weshalb er seine Vorlesungen wohl besser für die nächsten Tage „aussetzen“ solle. Brockelmann hatte damit, ohne die Entscheidung aus Berlin abzuwarten, von sich aus der Forderung der rechtsradikalen Studentenschaft nachgegeben. Cohn fügte sich, gab aber die Erklärung an die republikanische Presse weiter, die daraus interpretierte, dass man unter der neuen Regierung seines Lebens nicht sicher sei.25 Am Nachmittag des 4. Februar 1933 entschied das Kultusministerium, dass „keine Bedenken bestehen, daß Herr Cohn seine Vorlesungen aussetzt“.26 Rektor und Senat waren erleichtert, sich mit dieser Angelegenheit nicht mehr befassen zu müssen und die Behandlung auf einen Zeitpunkt zu verschieben, „bis eine amtliche Aufklärung des 24 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 56–63. 25 Die Vorgänge und Zitate sind dem Senatsprotokoll vom 4. Februar 1933 zu entnehmen. Vgl. ebd., fol. 56–63, vgl. auch Heiber: Universität, Tl. 1, 129. 26 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 56–63 (hier auch die folgenden Zitate).



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Falles durch die in der nächsten Woche zu erwartende Ministerialkommission stattgefunden habe“. Dem schloss sich eine längere Debatte „über die den Fall Cohn in der letzten Zeit bewegenden Vorgänge“ an, die laut Protokoll zur „Klärung der Angelegenheit beitrugen“, über die das Protokoll aber nicht weiter berichtet. Unter den Beschlüssen, die man im Verlauf dieser Sitzung fasste, gehörte auch der, „eine nationalsozialistische Tageszeitung im Dozentenzimmer auslegen zu lassen“. Der Fall Cohn war damit offensichtlich erledigt. Die angekündigte Untersuchung fand am 13. Februar 1933 in Breslau statt. Justitiar Klingelhöfer und Ministerialdirigent Haupt vom Berliner Kultusministerium vernahmen 15 Studenten und im Anschluss daran auch Professor Cohn. Doch war damit für die Berliner Bürokratie der Sache Genüge getan; für das Sommersemester blieb Cohn von seiner Vorlesungspflicht beurlaubt. Infolge des Berufsbeamtengesetzes vom 7. April 1933 erledigte sich für das Ministerium und die Universität der Fall von selbst. Mit Berufung auf den Paragraph 3 dieses Gesetzes („nicht-arische Abstammung“) wurde er zum 6. September 1933 in den Ruhestand versetzt.27 Unter den Kollegen riefen die Ereignisse seit dem 28. Januar 1933 keine Stellungnahme zugunsten Cohns in Breslau hervor, bis auf eine kritische Stimme: Der Direktor des juristischen Seminars, Eugen Rosenstock-Huessy, warf dem Rektor und dem Dekan der Juristischen Fakultät „Illoyalität im Falle Cohn“ vor.28 Von anderen Universitäten erfuhr Cohn Unterstützung von zehn bis 15 Hochschullehrern, darunter den Juristen Thoma (Bonn), Röpke (Marburg) und Radbruch (Heidelberg). Auch der ehemalige Breslauer Rektor und bekannte Historiker Johannes Ziekursch fand die „Haltung des Senats unverständlich und ein unlösbares Rätsel“.29 Eine Beurteilung der Haltung von Rektor und Senat im Fall Cohn fällt bei einer Auswertung der Senatsakten sicher nicht so günstig aus, wie dies aufgrund des bisherigen Quellenmaterials geschehen ist. Brockelmann stemmte sich nicht so entschieden dem „Ungeist“ entgegen, um „die akademische Freiheit zu retten“, wie Helmut Heiber behauptet. Sein Versuch, einen Konsens mit den rechtsgerichteten Studenten zu finden, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Waffenring und die NS-Studenten27 Personalakte von Ernst Cohn in ebd., S220, fol. 5. 28 Heiber: Universität, Tl. 1, 130; Rosenstock-Huessys Statement im „Fall Cohn“ in Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 62. 1933 emigrierte er zunächst, wohl erst vorübergehend, in die USA, wo er in Harvard und Dartmouth lehrte. Rosenstock-Huessy, der im Ersten Weltkrieg viereinhalb Jahre in Polen und Frankreich gekämpft hatte, war zunächst gemäß § 5 des Berufsbeamtengesetzes „an eine andere Universität versetzt worden“ (Personalakte ebd., S220: E. Rosenstück-Huessy, fol. 5). Die „durch Versetzung des Herrn Professor Rosenstock-Huessy freigewordene ordentliche Professur“ wurde am 23. März 1934 wieder besetzt. Ebd., S194, fol. 168– 170; am 14. November 1935 wurde er aufgrund der Nürnberger Rassegesetze „in den Ruhestand versetzt“. Als damaliger Wohnsitz wird Säckingen in Baden angegeben (Personalakte in Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S220: E. Rosenstock-Huessy, fol. 5). Vgl. auch Stahmer, Harold M.: Franz Rosenzweigs Letters to Margrit Rosenstock-Huessy, 1917–1922. In: Leo Baeck Institute Year Book 34 (1969) 385–409. 29 Heiber: Universität, Tl. 1, 133f.

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schaft wollten auf jeden Fall den Konflikt. Als Nationalkonservativer empfand Brockelmann eine gewisse Sympathie für diese Gruppe, ihre Vorwürfe gegen ihn beleidigten seine „bewährt nationale Gesinnung“. Der Senat bestärkte ihn hierin, wie die Erklärung vom 23. Dezember 1932 beweist. Der Konflikt, den die rechtsradikale Studentenschaft im Wintersemester 1932/33 gegen den neu berufenen jüdischen Professor auslöste, kam für die Universitätsspitze zu einem sehr ungelegenen Moment; denn das eigentliche Problem, mit dem sich Rektor und Senat zu diesem Zeitpunkt zu befassen hatten, war die Zusammenlegung von Universität und Technischer Hochschule Breslau, die im Sommer 1933 vollzogen werden sollte, dann aber doch nicht zustande kam. Dies mochte Rektor und Senat teilweise veranlasst haben, den „Fall Cohn“ durch allzu große Nachgiebigkeit schnell zu lösen. Zudem befasste sich auch der Preußische Landtag aufgrund zweier parlamentarischer Anfragen mit der Angelegenheit. Cohn selbst war nicht daran gelegen, sich zum Märtyrer zu stilisieren. Seine Erklärung vom 14. Januar 1933 vor dem Senat beweist, dass er sich gegenüber dem Rektor und Senat durchaus loyal, ja kooperativ verhielt. Auf der anderen Seite war sein Auftreten selbstbewusst und nicht ohne Ironie, glaubt man den Beschwerden des Nationalsozialistischen Studentenbundes (NSDStB), der ihm vorwarf, er habe vor der Universität unter ironischen Gesten mit „gezogenem Hute höhnisch grinsend nach allen Seiten“ für die „Ovationen“ gedankt.30 Cohn war – und dies ist nicht nur als Schutzbehauptung zu werten – ein unpolitischer Mensch, ein Einzelgängertyp, der dem Verbindungswesen, auch dem zionistischen, recht kritisch und distanziert gegenüberstand. Als typisch deutsch-jüdischer Bildungsbürger fühlte er sich „der deutschen Kultur viel zu stark verpflichtet“ (Cohn),31 als dass er sich zur Zeit der Weimarer Republik für deutsche Juden eine Alternative außerhalb dieses Landes als erstrebenswert hätte vorstellen können. Seine persönlichen Freunde stammten nicht aus dem jüdischen Milieu. Sie hätten ihm „in dem schweren Jahre 1933 buchstäblich das Leben gerettet“ (Cohn), als er aufgrund des sogenannten Berufsbeamtengesetzes vom April 1933 ohne finanzielle Absicherung aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Im selben Jahr ging er nach England, studierte dort englisches Recht und war später als Barrister in London tätig. Eine späte Wiedergutmachung, wenn es so etwas überhaupt geben konnte, war 1957 seine Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität Frankfurt am Main.

30 Ebd., 129f. 31 Zu den Cohn-Zitaten vgl. Cohn: Student, 249f.; zu seiner weiteren Biografie ebd., 302, ferner Heiber: Universität, Tl. 1, 130. Zur Anfrage im Preußischen Landtag: Der Abgeordnete Kube und Fraktion richteten eine große Anfrage an die Regierung, aufgrund derer „über das Verhalten des Rectors der Universität Breslau gegenüber der Nationalsozialistischen Studentenschaft an der Universität“ Bericht gegeben werden sollte; ferner eine Anfrage des Abgeordneten Winzer und Fraktion „über das Verhalten von Rector und Senat der Breslauer Universität gegenüber dem Professor Cohn“. In: Sitzungsberichte des Preußischen Landtages, 4. Wahlperiode, 1. Tagung (24.5. 1932–4.2.1933). Berlin 1933, Sp. 2284, 2286. Aufgrund der politischen Ereignisse im Januar 1933 kamen die Anfragen nicht mehr zur Befassung.



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Der „Fall Cohn“, bei dem Rektor und Senat der Breslauer Universität gegenüber dem Radauantisemitismus der rechtsradikalen Studentengruppen versagten und die Lehrfreiheit nur sehr unzulänglich verteidigten, lässt die widerstandslose Gleichschaltung der Universität in den folgenden Monaten als fast logische Konsequenz erscheinen, obwohl eine gewisse nationalkonservative Zurückhaltung gegenüber einem allzu schnellen Einschwenken auf den NS-Kurs festzustellen ist. Mit dem Wintersemester 1932/33 endete die Amtszeit Brockelmanns als Rektor. Zu seinem Nachfolger war „im Vollzug der vom Ministerium angeordneten Gleichschaltung“ zum 1. Mai 1933 der Jurist Hans Helfritz gewählt worden,32 der im Sommersemester 1933 dieses Amt antrat. Den „Wünschen der Studentenschaft“, sämtliche Institute mit „Bildern des Herrn Reichspräsidenten und des Herrn Reichskanzlers zu schmücken“, kam er durch eine Aufforderung an die Institutsdirektoren nach. Bei der Umsetzung dieser Aufforderung versuchten dann einige Institutsdirektoren, doch noch einen Ausweg zu finden. Der Direktor des Historischen Seminars, Leo Santifaller, der – wie er sich gegenüber einem jüdischen Studenten äußerte – hoffte, dass der „Spuk bald vorüber sein werde“,33 verlangte die Anschaffung von nur „künstlerisch wertvollen Bildern“,34 worüber sein Kollege von der Kunstgeschichte Dagobert Frey eine Expertise abgeben sollte. Außerdem gab er zu bedenken, dass diese Anschaffung zehn Prozent des Institutshaushalts in Anspruch nehmen würde. Ihn unterstützten darin seine Kollegen 32 Zit. nach Heiber: Universität, Tl. 1, 132 (hier auch die folgenden Zitate). In seinen Erinnerungen schildert Ernst Cohn den 1928 an die Universität Breslau berufenen Staatsrechtler Hans Helfritz als „eindrucksvolle Persönlichkeit“, aber auch als „erbitterte[n] Gegner der Weimarer Republik, der Demokratie und des liberalen Geistes überhaupt“. Gegen den Weimarer Staat und die Verfassung polemisierte er „mit einer von Bitterkeit überströmenden Kritik“. Andererseits aber – so ebenfalls Ernst Cohn – habe Helfritz „durch den von ihm allzu lange begünstigten Nationalsozialismus alsbald nach dem ‚Umbruch‘ schwer gelitten. Er hat sich in der Verfolgungsperiode heldenhaft für Unglückliche eingesetzt und, wie seine Veröffentlichungen aus jener Zeit beweisen, sich standhaft geweigert, auch nur ein Jota seiner Ideologie dem Drucke zu opfern.“ Cohn: Student, 243f. 33 Gespräch des Verfassers mit (dem ehemaligen Breslauer Studenten) Werner Hayek am 20. Mai 1996 in Hamburg. 34 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, F20, 48f. Santifallers Einschätzung der politischen Situation äußerte er in einem Gespräch mit seinem jüdischen Doktoranden. Vgl. Gespräch mit Werner Hayek. Zur Gleichschaltung der deutschen Universitäten vgl. Maier, Hans: Nationalsozialistische Hochschulpolitik. In: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München. München 1966, 71–102; zu demselben Prozess an der Universität Hamburg vgl. Vogel, Barbara: Anpassung und Widerstand. In: Krause, Eckart/Huber, Ludwig/ Fischer, Holger (Hg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933– 1945, Tl. 1–3. Berlin/Hamburg 1991, hier Tl. 2, 3–84; an der Universität Köln vgl. Golczewski, Frank: Die „Gleichschaltung“ der Universität Köln im Frühjahr 1933. In: Haupt, Leo/Mölich, Georg (Hg.): Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft in Köln und im Rheinland. Köln 1983, 49–72; an der Universität Frankfurt am Main vgl. Hammerstein, Notker: Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. 1: 1914–1950. Neuwied 1989.

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Bayerhaus und der Althistoriker Ernst Kornemann, der es zudem als genügend ansah, wenn für alle drei Seminarabteilungen nur ein Bild angeschafft und im großen Übungsraum aufgehängt würde. Bei derlei Aktionen mochte es sich um Kleinigkeiten handeln; gravierender war, dass von der NS-Studentenschaft Veranstaltungen jüdischer oder missliebiger Kollegen gestört wurden, ohne dass Rektor und Senat dagegen einschritten. Betroffen waren davon die Professoren Krzymonski, Ehrlich, Bielschowsky und Fraenkel. Angedroht wurde ein Boykott für die Veranstaltungen des katholischen Kirchenhistorikers Franz Xaver Seppelt und des katholischen Kanonisten Franz Gescher.35 In Berufung auf das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 waren bereits im Sommersemester 1933 entlassen worden: in der Katholisch-Theologischen Fakultät Professor Berthold Altaner und der Privatdozent Hubert Jedin, in der ­Juristischen Fakultät Professor Ernst Cohn. Von den jüdischen Kollegen konnten viele auf ihre Frontkämpferrolle im Ersten Weltkrieg verweisen und so der drohenden Entlassung fürs Erste entgehen.36 Bei den Boykottmaßnahmen blieb es nicht nur beim Postenstehen von SA-Studenten vor den Hörsälen, sondern es kam während einer Vorlesung von Bielschowsky zu einem „gewaltsamen Eindringen in die Augenklinik“.37 Rektor und Senat versuchten eine zaghafte Doppelstrategie. Helfritz verhandelte mit dem Ministerium in Berlin, wobei dieses erklärte, „daß die Lernfreiheit der Studierenden auch Boykottmaßnahmen zuließe“, Behinderungen des Kollegbesuchs aber abgeschafft, vor allem aber „keine Gewaltmittel [gegen die Studenten, d. Vf.] vorgenommen werden dürften“. Als anderen Weg versuchte man über Senatsmitglieder, die der SA angehörten, auf die SA einzuwirken, „daß das Postenstehen der SA vor den betreffenden Hörsälen aufhöre und das Ein35 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 125–138 (Protokoll der Senatssitzung vom 8. Juni 1933). Professor Richard Krzymowski lehrte landwirtschaftliche Betriebslehre und war Direktor des Instituts für Wirtschaftslehre und Landbau; Professor Felix Ehrlich lehrte Biochemie und landwirtschaftliche Technologie und war Direktor des Instituts für Biochemie und landwirtschaftliche Technologie; Professor Alfred Bielschowsky lehrte Augenheilkunde und war Direktor der Universitätsaugenklinik; Professor Ludwig Fraenkel lehrte Gynäkologie und Geburtshilfe und war Direktor der Universitäts-Frauenklinik. Angaben nach dem „Vorlesungs- und Personalverzeichnis der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität für das Wintersemester 1931/32“. Zu Professor Franz Xaver Seppelt vgl. Anm. 14; Franz Gescher war seit 1930 ordentlicher Professor für Kirchenrecht und aktiver Zentrumspolitiker. Vgl. Kleineidam: Katholisch-Theologische Fakultät, 133; Teichmann, Lucius OFM: Theologen proben den Aufstand. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 46 (1988) 171–176, hier 173. 36 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Berthold Altaner war seit 1929 ordentlicher Professor für Alte Kirchengeschichte und Patrologie. Er wurde entlassen, weil er ein führendes Mitglied der katholischen Friedensbewegung war. Vgl. Köhler: Professor Dr. Berthold Altaner, 206. Hubert Jedin wurde entlassen, weil seine Großeltern mütterlicherseits Juden waren. Seine Mutter war vom Judentum zum Katholizismus konvertiert. Vgl. Repgen, Konrad (Hg.): Hubert Jedin. Lebensbericht. Mit einem Dokumentenanhang. Mainz 1984, 5, 72. 37 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, 125–138.



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dringen in die Kliniken sich nicht wiederhole“. So erklärte sich der Mediziner Professor Dr. Knauer „in seiner Eigenschaft als Führer der SA“ bereit, mit dem neuen Breslauer Polizeipräsidenten Heines „Rücksprache zu nehmen“. Auch andere Dozenten, „die der NSDAP angehören“,38 wollten ihren Einfluss im Ministerium geltend machen, wie sie in der Senatssitzung am 8. Juli 1933 zu Protokoll gaben. Die Gleichschaltung der Breslauer Universität, das meint auch die „Ausschaltung jüdischer und politisch unzuverlässiger Professoren“, vollzog sich wie an den anderen deutschen Universitäten ohne Widerstand. Die von den Ausschließungsklauseln des Berufsbeamtengesetzes von 1933 nicht betroffenen Professoren setzten sich für ihre entlassenen Kollegen nicht ein. Ohne Protest nahm die Professorenschaft auch die Zerschlagung der alten Organisationsform und die Ausrichtung auf das Führerprinzip hin. Zahlreiche Professoren, so auch der Rektor Helfritz, hatten der Weimarer Republik ablehnend gegenübergestanden. Sie waren zwar weitgehend keine überzeugten Nationalsozialisten, hatten aber im Hinblick auf die „Gleichschaltung“ kein Alternativkonzept, für das sie sich kämpferisch einsetzen konnten. Der von Berlin im Januar 1934 ernannte neue Rektor, der Jurist Gustav Adolf Walz, der erst zum Wintersemester 1933/34 an die Universität Breslau gekommen war, verlangte von dem Senat, der nun zu einem reinen Beratergremium geworden war, „im nationalsozialistischen Sinne zu arbeiten“.39 Die Probleme der Universität wurden nun nicht mehr diskutiert und es wurde nicht mehr über sie entschieden, sondern es wurde „zur Erledigung [...] geschritten“.40 Die Universität war ein Jahr nach dem „Fall Cohn“ völlig gleichgeschaltet.

38 Der Privatdozent Hans Knauer, Mitglied der NSDAP seit dem 15. August 1931, war noch 1933 zum außerordentlichen Professor befördert und bereits 1934 der Bonner Universitätsklinik als Ordinarius und Direktor aufoktroyiert worden. Zu seinen späteren Affären vgl. Heiber: Universität, Tl. 1, 422–425. 39 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S18, fol. 176–187. 40 Ebd.

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26. Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes Schon nach dem sechsten Semester seines Theologiestudiums an der Universität Breslau wurde Joseph Wittig am 5. Mai 1903 – dem Tag seiner Diakonatsweihe – zum Dr. theol. promoviert. Seine kirchengeschichtliche Dissertation über „Papst Damasus I. Quellenkritische Studien zu seiner Geschichte und Charakteristik“ hatte er bei dem Begründer der Breslauer Kirchenhistorischen Schule Max Sdralek verfasst. Joseph Wittig war also als (Kirchen-)Historiker ausgewiesen. Auch seine Habilitationsschrift erfolgte 1909 im Fach Kirchengeschichte. Schon 1911 wurde er zum außerordentlichen Professor für Alte Kirchengeschichte und Christliche Archäologie und mit 36 Jahren am 14. Januar 1915 zum Ordinarius ernannt. An der katholischen theologischen Fakultät der Breslauer Universität lehrte und forschte er in den Fächern Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Christliche Kunst, versah 1917/18 das Amt des Dekans und war dabei auch in der Seelsorge tätig. Die Indizierung seines Ostern 1922 in der katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“ publizierten Aufsatzes „Die Erlösten“ führte zum Verlust seiner geistlichen Ämter durch den Breslauer Bischof Adolf Kardinal Bertram.1 Da er nicht erneut vor dem Breslauer Generalvikar die professio fidei ablegen wollte, zumal ihm von der Glaubenskongregation in Rom kein konkreter Glaubensirrtum nachgewiesen worden war, erfolgte am 14. Mai 1926 die Exkommunikation „wegen Ungehorsams gegen die Vorschriften, welche die oben genannte Hl. Kongregation zum Schutze der Reinheit des Glaubens erlassen hat“.2 Das bedeutete auch den Verlust seiner Theologieprofessur. Bereits im Wintersemester 1925/26 hatte sich Joseph Wittig beurlauben lassen. Seine Entlassung ohne weitere Bezüge vermochte sein Freund, der bekannte Rechtshistoriker und Soziologe an der Breslauer Universität, Eugen Rosenstock-Huessy, beim preußischen Kultusministerium in eine Emeritierung umzuwandeln. Das bedeutete die Beibehaltung seines Titels, die Möglichkeit, weiterhin zu lehren, sowie vor allem die weitere Zahlung seiner Bezüge. Wittig musste sich dabei allerdings verpflichten, nicht mehr im Bereich Theologie zu lehren. Infolge seiner Exkommunikation fühlte sich Wittig vor allem als theologischer Schriftsteller, der für die einfachen und nicht für die intellektuellen Gläubigen schrieb, „aus der Bahn geschleudert“.3 Seine Bücher, die hohe Auflagen erreichten, wurden nun vermehrt in evangelischen Kreisen gelesen. Es ist beeindruckend, wie eng Joseph Wittig mit der katholischen Kirche dennoch verbunden blieb, wie sehr er unter dem „Ausgestoßensein“, der Nicht-Zulassung zu den 1 Köhler, Joachim: Joseph Wittig (1879–1949). In: Herzig, Arno (Hg.): Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004, 255–262; ders.: Historiker des Lebens. Die Aktualität des Theologen und Kirchenhistorikers Joseph Wittig (1879–1949). In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 56 (1998) 9–26. 2 Wittig, Joseph: Meine „Erlösten“ in Buße, Kampf und Wehr. Habelschwerdt 1924; ders.: Kraft in der Schwachheit. Briefe an Freunde. Hg. v. Gerhard Pachnicke. Moers 1993, 88. 3 Wittig: Kraft, 98.

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Sakramenten, litt, wie er dennoch das religiöse Leben weiterhin praktizierte, auch als er am 22. Juni 1927 Bianca Geissler, die Tochter des Habelschwerdter Bürgermeisters, heiratete und eine Familie gründete. Nicht recht verständlich ist dagegen seine Rückkehr in die erzkatholische Grafschaft Glatz, wo er sich in seinem Geburtsort Neusorge bei Schlegel – weitgehend selbstständig – ein Haus baute. Er musste mit zahlreichen Gegnern unter dem Grafschafter Klerus und dem entsprechenden Einfluss auf die Gläubigen rechnen. Doch ihn „stieß“ – wie er am 28. Mai 1926 seinem Freund, dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber schreibt – die Welt „Gott sei Dank in eine schöne Heimat hinein, wo mich die noch stark kreatürlichen Menschen sehr lieb haben“.4 Als das amtliche Exkommunikationsdekret verbreitet wurde, gab es „einige schwere Tage“. „Aber die Leute bleiben gut zu mir“, schreibt Joseph Wittig am 26. Juni 1926 an Martin Buber. Am 20. Juni 1926 hatte Joseph Wittig eine Erklärung abgegeben, die auch in den „Neuroder Nachrichten“ abgedruckt wurde: „Ich bleibe nach wie vor katholisch und bewahre den Glauben meiner Väter, der auch der Glaube des ganzen Grafschafter Volkes ist.“5 Die Leute von Neusorge waren jetzt nicht nur wieder seine Nachbarn, in deren Mitte er sich wohl fühlte, sondern sie boten ihm auch den Anlass, sich wissenschaftlich mit ihnen zu befassen. Ihr Leben und ihre Sitten interessierten ihn als Volkskundler, und damit eröffnete sich Joseph Wittig eine neue Wissenschaftsdisziplin, sodass er in den 1930er Jahren als Professor für Volkskunde an der Universität Breslau im Gespräch war. Zu einer Befassung mit dieser Thematik hatte ihn sein Freund Eugen RosenstockHuessy veranlasst, der vom 6. bis 13. Januar 1926 für die „Volkshochschulstelle an der Universität Breslau“ eine Schulungswoche für Volkshochschullehrer durchführte und Wittig um einen Vortrag über schlesisches Volkstum gebeten hatte. Dieser ­referierte dabei über das „Volk von Neusorge“.6 Er ahnte damals wohl nicht, dass sich ihm mit diesem Vortrag ein neues wissenschaftliches, literarisches und auch theologisches Betätigungsfeld erschließen sollte: seine Mitarbeit an der von Martin Buber geplanten Zeitschrift „Die Kreatur“. Diese bildete ein bedeutendes und fast einmaliges Kapitel jüdisch-christlicher Kultur. Die Zeitschrift, die zwischen 1926 und 1930 erschien, ging auf die Initiative des Juristen und ehemaligen evangelischen Pfarrers Florens Christian Rang zurück. Rang vertrat die Idee, die auch in der christlichen Tradition immer wieder vertreten wurde und positiv das Verhältnis zum Judentum bestimmt hatte – so zum Beispiel bei dem Nürnberger Reformator Andreas Osiander –, dass die Trennung der Religionen bis in die messianische Zeit fortbestehen werde, bis die Religionen aus ihren „Exilen“ ­befreit werden würden. Bis dahin aber seien die unterschiedlichen Wege der Wahrheit als ex-

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Ebd., 99. Ebd., 101. Ebd., 84f.

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istenziell anzusehen und daher wechselseitig zu respektieren.7 Die unterschiedlichen Auffassungen der Religionen aber seien mittels eines Dialoges zu überbrücken. Und so heißt es im Programm der Zeitschrift in der ersten Nummer 1926/27: „Erlaubt aber und an diesem Tag der Geschichte geboten ist das Gespräch: der grüßende Zuruf hinüber und herüber.“8 Rang, der im Oktober 1924 verstarb, wollte die Zeitschrift ursprünglich „Grüße aus den Exilen“ nennen, doch die Herausgeber, der Protestant Viktor von Weizsäcker, der Jude Martin Buber und der Katholik Joseph Wittig entschieden sich für den Titel „Kreatur“, um zu betonen, was die Unterschiede überbrücke, ohne sie zu negieren: nämlich ihr gemeinsames Anerkenntnis der Geschöpflichkeit der Welt. Die drei Glaubensgemeinschaften wurden als parallele Linien verstanden, die sich – gemäß einer Metapher aus der Physik – im Unendlichen treffen würden. Gemeinsam war ihnen die Sorge um die Schöpfung: „Was uns drei Herausgeber verbündet“ – so heißt es ebenfalls in der Grundsatzerklärung – „ist ein Ja zur Verbundenheit der geschöpflichen Welt, der Welt als Kreatur.“9 Wir werden sehen, dass diese Auffassung expressis verbis auch die Geschichtsschreibung Wittigs in den beiden Chroniken, der Neuroder und der Schlegeler, bestimmte. Aus den Beiträgen der Autoren der „Kreatur“ spricht die existenzielle Wirklichkeit eines persönlichen Glaubens, wobei jede konfessionelle oder polemische Aussage sowie jeder gelehrte theoretische Diskurs vermieden wurde. Auch wenn unter dem Eindruck der Shoah der Religionsphilosoph und Rabbiner Leo Baeck die jüdisch-christliche Symbiose als gescheitert ansah, ist diese aus unserer europäischen Geistes- und Kulturgeschichte nicht wegzudenken. Für die junge Demokratie der Weimarer Republik hatte diese Zeitschrift in ihrer zueinander sprechenden Pluralität exzeptionelle Bedeutung. Sie bezeugte auf einzigartige Weise die Möglichkeit von Interkonfessionalität und menschlicher Solidarität zu einer Zeit, da sich trotz Una Sancta-Idee die christlichen Konfessionen noch polemisch bekriegten – vom christlichen Antisemitismus einmal ganz abgesehen. Joseph Wittig war von seinem Freund Eugen Rosenstock-Huessy für dieses Projekt gewonnen worden. Letzterer übte mit seiner religionsbezogenen Sprachphilosophie einen großen Einfluss auf den Kreis der an der Zeitschrift mitwirkenden Autoren aus.10 Er hatte an Wittig den Plan dieser Zeitschrift herangetragen, und dieser hatte „ohne langes Überlegen und [...] ­Klugsein wollen“, so in einem Brief am 28. Juli 1925 an Martin Buber, zugestimmt. Wittig selbst beschreibt in einem Brief an Carl Muth, den Herausgeber von „Hochland“, im Januar 1926 die

7 Mendes-Flohr, Paul: Zwischen Deutschtum und Judentum. Christen und Juden. In: ders./Barkai, Avraham (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4: Aufbruch und Zerstörung, 1918–1945. München 1997, 154–166, hier 159f. 8 Buber, Martin/Wittig, Joseph/Weizsäcker, Victor von: Vorwort. In: Die Kreatur 1 (1926/29) 1f. 9 Ebd. 10 Mendes-Flohr: Zwischen Deutschtum, 160; Klein, Michael: Eugen Rosenstock-Huessy (1888– 1973). „Die neun Leben einer Katze“ und die Jahre in Breslau. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezská vědecká obec, Bd. 2. Wrocław 2006, 349–377.



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Tendenz der neuen Zeitschrift als „nicht religiös im üblichen Sinne des Wortes, sondern [als] eigentlich ‚weltlich‘ [...] aber mit der unbedingten Grundlage, daß Gott die Welt geschaffen hat“.11 In ihm – Wittig – sah Buber den Katholiken, der wie kein anderer kreatürlich denke und schreibe, sodass er von seinem Mitwirken das Erscheinen der Zeitschrift abhängig machte. Trotz der Exkommunikation war Wittig für Buber weiterhin der Vertreter der katholischen Position. Mit Eugen Rosenstock-Huessy verbanden Wittig weitere wissenschaftliche und sozialpolitische Projekte, darunter die Zusammenarbeit an dem historischen Buch „Das Alter der Kirche“. Sie begann mit RosenstockHuessys Schrift „Religio depopulata“ (1926), in der er den Fall Wittig beleuchtete und Kritik an der Haltung der Kirchen übte, die aufgrund ihres Dogmatismus die Verbindung zum Volk verlören.12 Joseph Wittigs Geschichtsbild war eindeutig durch seine Herkunft von der Kirchengeschichte und seine Mitarbeit an der „Kreatur“ bestimmt. Gott lenke die Geschichte. Nichts geschehe sine concursu divino. Dies führte ihn zu einem „starken Ja gegenüber dem Geschehenden“,13 aber auch zum „Bemühen meine Seele nicht an die Welt zu verlieren“. Das Geschehen der Welt sei durchaus dichotomisch, „denn der Teufel spielt darin auch seine Rolle“. Das gelte auch für die Ortsgeschichte, denn gerade in ihr sah Wittig „die eigentlichen Wege und Führung Gottes, auch in der ganz kleinen und armen [...] Stadt wie Neurode“. Gerade im Hinblick auf diese Äußerung glaubt er in einem Brief 1935 an die Frau Pfarrer Reich jedoch betonen zu müssen, dass er „im Grunde mehr Geschichtler als Theologe“ sei.14 Als Historiker bewies er sich, wenn man ihn bei seinem Quellenstudium betrachtet. „Die strenge Gebundenheit an das wirkliche, wenn auch noch so karge Geschehen und seine schriftliche Bekundung“, habe ihm sehr wohl getan, schreibt er am 18. April 1936 an Martin Buber, und fügt hinzu: „Ich habe alle Stadtbücher mit einem Eifer studiert, als müsse ich in ihnen mein ewiges Heil finden. Ein jeder Name wurde mir eine Offenbarung.“15 Tatsächlich fühlte er sich so in das Geschehen hinein versetzt, dass die Figuren der Neuroder und Schlegeler Ortsgeschichte für ihn lebendig wurden. So heißt es 1940 in einem Brief an die Künstlerin Helene Varges: „Gerade erschlägt vor meinen Augen der Ritter Gunther von Rachnow den Schultheiß Petrus von Slegilisdorf ! Um 1345.“16 So wurde die „historische Arbeit“ für ihn „eine Auferstehung der Toten“,17 wie er in einem Brief 1935 schreibt. Das macht auch die etwas eigenartig klingende Widmung aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis verständlich, die er der Neuroder Chronik auf dem Titelblatt voranstellte: „Ich glaube an 11 Wittig: Kraft, 85. 12 Ders./Rosenstock-Huessy, Eugen: Das Alter der Kirche. Hg. v. Fritz Herrenbrück und Michael Gormann-Thelen. Münster 1998; Wittig: Kraft, 90f. 13 Wittig: Kraft, 243 (hier auch die folgenden Zitate). 14 Ebd., 247. 15 Ebd., 257f. 16 Ebd., 336. 17 Ebd., 254.

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eine Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben.“18 Trotz solcher Vergegenwärtigungen historischer Ereignisse unterscheidet sich die Darstellung in seinen Chroniken von der seiner Erzählungen, die ebenfalls von historischen Ereignissen handeln.19 Wittig konstatiert selbst während seiner Arbeit an der Neuroder Chronik 1935 eine „strenge Abstinenz von jeder Dichtung in diesem Jahr“ und eine „ausschließliche Beschränkung auf die handwerklich-wissenschaftliche Arbeit an der Neuroder Chronik“.20 Dennoch ist es kein abstrakter Stil. Der Leser fühlt sich durch (den Historiker) Joseph Wittig in das historische Geschehen hineinversetzt, allerdings in einer objektivierenden Distanz. Auch wenn nachts beim Aktenstudium die mittelalterlichen Recken der Schlegeler Geschichte anschaulich und fast fassbar vor ihm agierten, so nimmt sich dieser Vorgang in der Chronik dann eher distanziert aus. Dort heißt es: „Der Glatzer Geschichtsschreiber Pfarrer Kögler fand in dem jetzt verlorenen Verzeichnis der Verfemten oder ‚Liber proscriptorum in curia Glacensis‘ die Nachricht, daß Gunther von Rachnow den Schultheiß Petrus von Slegilisdorf ermordet habe und dafür in das Buch der Verfemten geschrieben, also des Landes verwiesen wurde.“21 Joseph Wittig steht in der historiographischen Tradition der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, wie sie Wilhelm Heinrich Riehl in seinem vierbändigen Hauptwerk „Die Naturgeschichte des deutschen Volkes“ (1851–1869) definiert hatte. Riehl wollte „im unmittelbaren Verkehr mit dem Volke diejenigen Ergänzungen meiner [Riehls, d. Vf.] historischen, staatswissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Studien suchen, die ich in den Büchern nicht finden konnte“. Er kreierte damit – wie er es bezeichnet – die „naturgeschichtliche Methode der Wissenschaft vom Volk“.22 Aus diesen individuellen Bezügen von Land und Leuten sollte sich das Bild der bürgerlichen Gesellschaft ergeben. Diese Auffassung stand im Gegensatz zu einer Geschichtstheorie, die den Staat in den Mittelpunkt stellte und das gesellschaftliche Leben nur als Basis der großen ­Staatsaktionen verstand. Die Volkstumsgeschichte hatte nach dem Ersten Weltkrieg, in dem nach Meinung Vieler der Staat versagt hatte, eine neue Blüte erlebt. In Leipzig war 1926 eine „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturforschung“ gegründet worden, deren Stiftungszweck es war, „in strenger Wissenschaftlichkeit die Grundlage des deutschen

18 Chronik der Stadt Neurode. Archivalische Vorarbeiten von Emanuel Zimmer und Udo Lincke. Durchgesehen, ergänzt und geformt von Dr. Joseph Wittig, o.ö. Professor an der Universität Breslau. Neurode 1937 [ND Bamberg 1986], Titelblatt. 19 So zum Beispiel die Erzählung Der Herrgott beim Fiebichbauern. In: Guda Obend. Grofschoftersch Feierobend. Heimatliches Jahrbuch für die Grafschaft Glatz (1937) 31–36. 20 Wittig: Kraft, 252. 21 Ders.: Chronik der Gemeinde Schlegel, Bd. 1–2. Hattingen/Neuss 1983, hier Bd. 1, 70f.; Kögler, Joseph: Beschreibung des Dorfes Schlegel im Neuröder Distrikt. In: ders.: Die Chroniken der Grafschaft Glatz. Hg. v. Dieter Pohl, Bd. 1–5. Modautal/Köln 1992–2003, hier Bd. 5: Die Chroniken der Dörfer, Pfarreien und Grundherrschaften des Altkreises Neurode, 281–298, hier 296. 22 ������������������������������������������������������������������������������������������� Wunder, Heide: Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Historische Anthropologie. In: Dülmen, Richard van (Hg.): Fischer-Lexikon Geschichte. Frankfurt a. M. 1990, 65–86, hier 69f.



Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes

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Volkstums und damit das deutsche Recht objektiv und unangreifbar darzustellen“.23 Indem diesen Forschungsansatz vor allem der spätere Breslauer Ordinarius für Geschichte Hermann Aubin zu einer ethnisch definierten Volks- und Kulturbodenforschung entwickelte, wurde sie bald zu einer Hilfswissenschaft für die NS-Raumpolitik mit ihren fatalen Auswirkungen im Osten Europas. Dieser Auffassung und Vereinnahmung von Riehls „Wissenschaft vom Volk“ durch die Nationalsozialisten stand Joseph Wittig fern. Er ist eher in einer Tradition zu sehen, wie sie heute die Tübinger empirischen Kulturwissenschaftler vertreten, die sich in Anknüpfung an Riehl mit der „Kultur und Lebensweise nicht privilegierter Bevölkerungsgruppen“ befassen.24 Wittig wusste sich in seiner Auffassung von Volk und Volkstum mit Martin Buber einig, dessen „wunderbares Wissen um Volk und Volkstum“ er nach der Lektüre von dessen Buch „Kampf um Israel“ (1933) lobte.25 Auch wenn Wittig durch die Erforschung der Lebensformen der Menschen in seinem Dorf nicht nur der Volkskunde, sondern auch der Geschichte sehr nahe kam, so stellt sich doch dem Historiker die Frage, seit wann er sich konkret mit der Geschichte des Glatzer Landes befasste und was seine Motive dafür waren. Wittigs historische Forschung der Geschichte des Glatzer Landes begann 1932 mit „einer kleinen Entdeckung“,26 die er im Hinblick auf die Schlegeler Madonna machte. Er fand heraus, dass die Madonnenfigur, die die Schlegeler Kirchengemeinde 1885 erworben hatte, ursprünglich „die Gnadenmadonna des Sel Arnestus“ war.27 Es handelte sich also um das Madonnenbild, das einst der Legende nach von dem jungen Arnestus sein Gesicht abgewendet hatte. Diese Legende, die Arnestus in einem Lebensbericht selbst überliefert, spielte vor allem im Madonnenkult der Glatzer Jesuiten in der Gegenreformation eine wichtige Rolle.28 Wittig hielt nach dieser Entdeckung 1933 in Schlegel einen Vortrag, in dem er „in wissenschaftlicher Form“ über „Schlegeler Bauten, Kunstwerke und Künstler“ referierte.29 Aus dem Stoff gestaltete er ferner ein Mirakelspiel „Die schöne Madonna von Schlegel“ in sieben Bildern, das am 23. April 1933 mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Die Forschungen hätten ihn „ein halbes Jahr Zeit gekostet“,30 aber er habe dabei „auch köstliche Entdeckungen aus der Schlegeler Vergangenheit gemacht“,31 teilt er am 23 Zit. nach Mühle, Eduard: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005, 170. 24 Wunder: Kulturgeschichte, 72. 25 Wittig: Kraft, 232. 26 Ebd., 216f. 27 Ebd. 28 Vgl. den Beitrag „Die gegenreformatorischen Strategien der Glatzer Jesuiten und die Barockmalerei“ in diesem Band; Herzig, Arno/Ruchniewicz, Małgorzata: Geschichte des Glatzer Landes. Hamburg/Wrocław 2006, 42; Wittig: Chronik der Gemeinde Schlegel, Bd. 1, 173f. 29 Wittig, Joseph: Die Madonna von Schlegel. Ein Kapitel Heimatkunde. In: Wittig-Nachlass. Soest; Heinke, Artur: Die Grafschaft Glatz. Breslau 1941, 90, 205. 30 Wittig: Kraft, 219–221. 31 Ebd.

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20. März 1933 seinem Freund, dem Maler Hans Franke, mit. Im selben Brief heißt es ferner, dass das durch das Spiel eingekommene Geld für ein „Schlegeler Heimatbuch“ zur Verfügung gestellt werden solle, „das von der Lehrerschaft geplant wird“.32 Wittig wollte dafür weitere Beiträge, nämlich über „Schlegeler Flur- und Hausheiligtümer, die Weberei in Schlegel; Heimsuchungen über Schlegel, Schlegeler Leute“ zur Verfügung stellen.33 Offensichtlich waren dies weitere Früchte seiner Forschungen zur Schlegeler Geschichte. Damit war das Interesse an der Geschichte des Glatzer Landes geweckt. Zur Motivation an dieser Arbeit berichtet er am 31. März 1933 seinem Freund Martin Rade: „Da ich nun für mein Haus und meinen Jungen ein Familien- und Heimatarchiv schaffen will, habe ich ganz toll exzerpiert. Dabei war ich manchmal ganz verzaubert und gebannt von dieser Vergangenheit, die fast sichtbarlich um mich lebendig wurde. So kam ich über die Kümmernisse dieser Zeit [gemeint sind die ersten Monate der NS-Diktatur, d. Vf.] glimpflich hinweg.“34 Und es gab noch ein weiteres sehr wichtiges Motiv für seine Arbeit zur Schlegeler Madonna, wie er am 28. August 1933 Martin Buber mitteilt: „Ihr [der Forschung, d. Vf.] verdanke ich es, daß unser Leben in diesem ­katholischen Lande auch die letzten Reste einer Verfemung überwinden konnte.“35 Wittig und seine Familie waren aufgrund seiner historischen Arbeiten zur Schlegeler Geschichte gleichsam in die Kirchengemeinde wieder aufgenommen worden, auch wenn er weiterhin „ausgeschlossen“ blieb und das „katholische Erbgut“ privat in seinem Haus pflegen musste.36 Der Pfarrer in Schlegel war begeistert und stellte ihm „eine ganze Masse Akten zur Verfügung“.37 Doch aus dem Schlegeler Heimatbuch der Schlegeler Lehrerschaft, für den Sommer 1933 vorgesehen, wurde nichts. Es entsprach wohl nicht dem Geist der NSZeit und wurde deshalb nicht publiziert. Wittig konnte das Material später, ab Sommer 1937, für die Schlegeler Heimatchronik verwerten. Dem Interesse und der Begeisterung, die Joseph Wittig für die Geschichte des Glatzer Landes gewonnen hatte, konnte er nachgehen, als er im Januar 1935 von der Stadt Neurode offiziell den Auftrag erhielt, die Chronik der Stadt zu verfassen. Der Auftrag zu dieser Arbeit, die Wittig, ohne mit einem Honorar entschädigt zu werden, aus „Dank an die Heimat“ leistete, befreite ihn aus einer Krise. Seinem Freund Martin Rade gegenüber spricht er am 5. Oktober 1935 von „einem seltsamen Bann“ der alten Neuroder Urkunden und Akten, so als müsse er in ihnen sein „ewiges Heil“ suchen und finden, und fügt hinzu: „ Ich hätte ja auch sonst nicht weiter leben können. Denn meine bisherige Arbeit wird von niemand mehr begehrt. Ja ich hörte sogar, daß meine Bücher zu jenen der letzten 20 Jahre gehören, die nur gegen Giftschein, also nur für wissenschaftliche Untersuchungen, ausgeliehen 32 33 34 35 36 37

Ebd. Ebd. Ebd., 221–223. Ebd., 227f. Ebd., 239f. Ebd., 222.



Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes

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werden dürfen. So bin ich aus dem Index Romanus noch in den Index Germanicus gekommen [...].“38 Auf die Arbeit, so am 2. Mai 1935 an seinen Freund Martin Buber, freue er sich „wie ein Bräutigam auf seine Hochzeit“.39 Die Arbeit werde für ihn zu einem „Schifflein“, das ihn über die „Untiefen“ dieser Zeit trüge, die ihn „bis ins Innerste erschüttert“ hätten und die „schlimme Zweifel“ in ihm weckten,40 gegen die er sich wehre. Von dieser Arbeit ließ er sich durch nichts ablenken. Immer wieder taucht in seinen Briefen das Bild vom Schifflein oder der „Arche“ auf, „die ihn über die Fluten der letzten 14 Monate getragen“ habe.41 Gegenüber seinem Freund Eugen RosenstockHuessy, der aufgrund der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 seine Professur niedergelegt, nach seiner Verabschiedung 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden und in die USA ausgewandert war, spricht er von dem „Reiz mittelalterlicher Stadtgeschichte“ – Rosenstock-Huessy hatte zu einem ähnlichen Thema seine Dissertation geschrieben –, „der um so stärker auf mich wirkt, als ich darin meine Ahnen, die meiner Frau sogar von 1434 an, wieder treffe“.42 Es gab archivalische Vorarbeiten für die Chronik, so von dem ehemaligen Albendorfer Pfarrer und Chronisten Emanuel Zimmer sowie von dem Privatgelehrten Udo Lincke, worauf Wittig auf dem Titelblatt der Chronik hinweist. Wittig arbeitete jedoch das Quellenmaterial noch einmal gründlich auf und korrigierte Fehler der Vorarbeiten. Die Chronik sollte Ende November 1936 abgeschlossen sein, um noch für das Weihnachtsgeschäft fertig zu werden. Am 15. Oktober hatte Wittig noch fünfzig Seiten „über die letzten 4 Jahre“,43 also die NS-Zeit, zu schreiben. Es waren wohl die schwierigsten Seiten, wie wir noch sehen werden. In der Tradition des Grafschafter Historikers und Pfarrers Joseph Kögler benutzte Wittig den Stil einer Ortschronik. Das bedeutet: Er konzentrierte sich nur auf die Ortsgeschichte. Wenn Einflüsse von außen zu stark werden, möchte er diese am liebsten ausblenden. So spricht er angesichts der Ereignisse des Ersten Weltkrieges von einem „Stillstand der Stadtgeschichte“.44 Die Bürger können nicht mehr aktiv sein, sondern nur noch den Notstand verwalten. Träger der Geschichte sind die Menschen von Neurode mit ihrer Arbeit, ihren Organisationen, ihrem Glauben. „Da ich alles, was sie taten und dachten und sorgten, mittun, mitdenken und mitleiden muß“ – so Wittig in einem Brief am 26. September 1935 – „ist es ein außerordentlich reiches Leben. Bald muß ich mich in die Geheimnisse der Gerstenmälzerei und der Bierbrauerei, bald in die mannigfache Technik der Tuchmacherei einleben, alle Sorten von ‚Feinfein‘ und ‚Kniestreicher‘ bis herab zu den Futterstoffen kennen lernen, Kriege, Feuer, Wasserfluten mitmachen, sodaß 38 39 40 41 42

Ebd., 250f. Ebd., 245. Ebd., 254f. Ebd. Klein: Eugen Rosenstock-Huessy, 355; Rosenstock, Eugen: Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II. Texte und Untersuchungen. Weimar 1912. 43 Wittig: Kraft, 251. 44 Ders.: Chronik der Stadt Neurode, 481.

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mir manchmal das Herz schier stillsteht.“45 Auch stellt Wittig anschaulich die Auseinandersetzung der Bürger mit der Familie der Erbherren, den Stillfried, dar. An dem entscheidenden Kampf zwischen Stadt und Herrschaft im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts war auch ein Vorfahr seiner Frau Anka als Bürgermeister von Neurode beteiligt. Das Buch, in das die Stadt 13.000 Mark investiert hatte, wurde termingerecht im Dezember 1936 herausgebracht. Doch „das Weihnachtsgeschäft in der Stadt [geht] über alles Erwarten schlecht“,46 schreibt Wittig am 10. Dezember 1936 seinen Freunden in der Schweiz. Das sagt jedoch nichts über die Anerkennung, die Wittigs Werk fand. Er wurde zum Ehrenbürger der Stadt ernannt, und wie sich bald zeigte: „Auch Glatz scheint Appetit auf eine solche Chronik zu kriegen“,47 so Wittig in einem Brief am 4. Juli 1937. Tatsächlich bot ihm die Stadt Glatz für ihn und seine Familie eine kostenfreie Wohnung an, falls er die Chronik der Stadt Glatz schriebe. Auch wenn Wittig sich nun in die Situation versetzt sah, „also leblang Chronikschreiber bleiben [zu] müssen“,48 gesteht er am 3. November 1938 in einem Brief: „Ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, eine solch schwere Arbeit, wohl von 5–7 Jahren zu leisten.“49 Aus dem Vorhaben der Stadt Glatz wurde nichts. Doch ein anderer Chronikplan lag Wittig am Herzen: die Chronik seiner Heimatgemeinde Schlegel, für die er ja schon Vorarbeiten geleistet hatte. Im Mai 1937 gewann ihn die Gemeinde Schlegel für das Projekt. Am 21. Juni 1937 fand die entscheidende Besprechung mit Bürgermeister Franke und Gemeindesekretär Janczik statt, am 3. Juli 1937 begann Wittig mit der Arbeit. Auch diese Chronik schrieb er ohne Honorarvergütung, sieht man davon ab, dass die Gemeinde Schlegel ihrem „Chronikschreiber“ den Weg zu seinem Haus ausbesserte. Im ­Vergleich zu der Arbeit an der Neuroder Chronik machte ihm die an der Schlegeler weniger Freude. Bei der Durcharbeit der 36 Jahrgänge des Schlegeler Ortsblatts fühlte „er sich eingebunden wie ein Sklave am Tretrad [...] so öde ist die Arbeit“.50 Angesichts des drohenden Krieges, „der unerträglichen Spannung dieser bedrohlichen Tage“ – so am 30. August 1939 in einem Brief – musste er bei der Bearbeitung der Jahre 1904 bis 1923 „die schrecklichen Zeiten des Krieges, der Inflation und der Brotmarken noch einmal durchleiden“.51 Und ihn befällt die Befürchtung: „Der Krieg kann leicht das Ende aller Dinge werden.“52 Depressionen begleiteten seine Arbeit. Was ihn motivierte, schreibt er am 8. April 1940 in einem Brief: „Ich habe schon jahrelang Stoff gesammelt und durchforscht. Ich gehöre zu den ältesten Schleglern und bin der einzige Traditionsträger. Sterbe ich vor der Niederschrift, so geht die Hälfte meines Wissens um die Vergangenheit 45 46 47 48 49 50 51 52

Ders.: Kraft, 249. Ebd., 262–264. Ebd., 280. Ebd., 299. Ebd. Ebd., 303f. Ebd. Ebd.



Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes

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des Orts verloren.“53 Endzeitstimmung befiel ihn. Was helfe es da noch, „seinen Kindern einen zu großen Ballast von Memorabilien auf[zu]bürden“.54 Doch er sah einen neuen Sinn in seiner Arbeit: „Trotzdem will ich die Chronik von Schlegel fertig schreiben, aber mehr im Sinne des Dankes für alles, was Gott meiner Heimat getan hat [...]“,55 so in einem Brief am 1. Februar 1941. Die Gemeinde tat alles, damit er das Buch zu Ende bringe, und bewilligte im Mai 1941 6.000 Mark für die Drucklegung. Und auch Wittig war entschlossen, „dieses für die Heimatgeschichte der Grafschaft Glatz nicht unwichtige Buch fertig [zu] bringen“ (25. Mai 1941).56 Im Oktober 1941 hat er mit „550 Seiten Reinschrift“ die Schlegeler Chronik „abgeschlossen“,57 wie er schreibt. Im Dezember 1942 war die Chronik „fertig gesetzt“, konnte aber „wegen Papiermangels nicht fertig gedruckt werden“.58 Doch Wittig vermutete hinter dieser Maßnahme einen Schachzug der NS-Kulturpolitik. Bevor der Drucksatz im November 1946 eingeschmolzen wurde, konnten Korrekturfahnen gerettet werden, aufgrund deren Walter Peschel und Horst Stephan die Chronik rekonstruierten. 1983 erschien das Werk in einem einfachen Druck. Die Chronik ist nicht vollständig. Es fehlen drei Kapitel, darunter das Kapitel über „Die politische Umwandlung 1933 und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges“.59 Joseph Wittig sah in seiner Chronik zu Recht wichtige Beiträge zur Heimatgeschichte der Grafschaft Glatz. Wenn er sich in seiner Darstellung auch weitgehend auf die Geschichte der beiden Orte beschränkt, so spiegelt sich doch in ihr die Geschichte des gesamten Glatzer Landes in nuce. Das Schicksal der Menschen, aber auch ihre Aktivitäten im sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Leben können so auch für die Menschen anderer Orte der Grafschaft gelten. Wittig bot eine objektive Darstellung der konfessionellen Verhältnisse und überwand damit die nicht sehr viel älteren historischen Forschungsansätze, die in dieser Beziehung immer noch die Grabenkämpfe des Ultramontanismus beziehungsweise der Kulturkampfzeit führten, wie Pfarrer Zimmer in seiner Albendorfer Chronik (1898).60 Es fand keine Verketzerung der protestantischen Konfession oder der Juden statt. Dabei beleuchtete Wittig immer wieder quellenkritisch die Beurteilungen in den vorliegenden Chroniken und kennzeichnete das bisweilen auch persönliche oder gruppenspezifische Interesse des Verfassers, so in der Darstellung des „Gräflich Pilati’sche[n] Hofkaplan[s] Longinus Simon, der noch“ – so Wittig – „unter dem Einfluss des reaktionären Geistes, der noch im Schloss herrschte“,61 um 1800 die niederen Klassen beschrieb. Das fortdauernde Kirchenpatronatssystem, 53 54 55 56 57 58 59 60

Ebd., 315–317. Ebd., 345f. Ebd. Ebd., 355. Ebd., 364. Ebd., 375. Stephan, Horst: Vorwort. In: Wittig: Chronik der Gemeinde Schlegel, Bd. 1, 1f. Zimmer, Emanuel: Albendorf, sein Ursprung und seine Geschichte bis zur Gegenwart. Breslau 1898, 52–60. 61 Wittig: Chronik der Gemeinde Schlegel, Bd. 1, 198.

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nach dem in der Grafschaft Glatz der (zumeist) adlige Patronatsherr die Geistlichen ­bestimmte, führte noch im 19. Jahrhundert dazu, dass der Klerus die adligen Interessen vertrat und nicht die des „gemeinen Volkes“, aus dem – wie Wittig anmerkt – der „fromme Kaplan“ selbst stammte.62 Oder aber Wittig merkt zur Darstellung des Schneiderbauern in seiner Hofchronik über das Leben der Weber an, dass dieser „natürlich alles mit den Augen des Großbauern ansieht“.63 Während die Ergebnisse und die quellenkritische Darstellung Wittigs für die weitere Forschung zur Geschichte des Glatzer Landes richtungsweisend sind, lässt sich heute eine seiner Thesen nicht mehr vertreten, nämlich die sogenannte Kontinuitäts- oder Germanentheorie. Sie besagt, dass es in Böhmen kontinuierlich eine germanische oder später dann deutsche Bevölkerung gegeben habe. Diese These des Brünner Historikers Berthold Bretholz wurde von dem zeitweilig vor dem Ersten Weltkrieg in Glatz stationierten katholischen Militärpfarrer und Heimatforscher Franz Albert, der trotz dieser unhaltbaren These ansonsten wertvolle Studien zur Grafschaft Glatzer Geschichte geliefert hat, für das Glatzer Land übernommen.64 Anhand von Orts- und Flurnamen versuchte Albert nachzuweisen, dass es keine „slawische Zwischenbesiedlungsperiode“ gegeben habe. Trotz aller Quellenkritik folgte ihm Wittig hierin, was zu einer Fehldeutung der Glatzer Geschichte für die Frühzeit, für die es keine urkundlichen Quellen gibt, führte. Wittig wandte sich damit gegen die – wie er es nennt – „unheilvolle Kolonisationstheorie“,65 die heute allgemein akzeptiert ist und die von einer deutschen Besiedelung im 13. Jahrhundert ausgeht. Trotz dieser Einschränkung ist und bleibt Wittig ein großer Historiker der Geschichte des Glatzer Landes. Eine andere Problematik bei der Einschätzung seiner historischen Leistung ist jedoch wichtiger. Joseph Wittig verfasste beide Chroniken in der NS-Zeit. Seine Auftraggeber waren NS-Funktionäre. Inwieweit also spiegelt sich die NS-Ideologie in den Chroniken Wittigs? Es gibt vier Seiten in der Neuroder Chronik, die „die große Wende von 1933“ in Neurode darstellen und in denen Wittig die NS-Ideologie referiert, so vor allem die nationalsozialistische Blut- und Boden-Theorie.66 Nach ihr galt: „Fremdes Blut und fremder Geist mußten aus dem Körper des deutschen Volkes und des deutschen 62 Bleiber, Helmut/Veit, Hans: Anton Heisig, Pfarrer in Kunzendorf (1842–1857). Zur Haltung eines Grafschafter Geistlichen in der Revolutionszeit 1848/49. In: Herzig, Arno (Hg.): Glaciographia Nova. Festschrift für Dieter Pohl. Hamburg 2004, 208–231, hier 210–220; Wittig: Chronik der Gemeinde Schlegel, Bd. 2, 485–490. 63 Wittig: Chronik der Gemeinde Schlegel, Bd. 2, 505. 64 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bernatzky, Aloys: Germanentheorie. In: ders. (Hg.): Lexikon der Grafschaft Glatz. Leimen/Heidelberg 1984, 72; ders.: Albert, Franz. Ebd., 12. 65 Herzig, Arno: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 2008 (Zitate 12–14). 66 ������������������������������������������������������������������������������������������ Wittig: Chronik der Stadt Neurode, 523–526. Vgl. dazu die kritische Einschätzung von Haunhorst, Benno: „Herrliche Gedanken über Volk und Gott“. Joseph Wittig und der Nationalsozialismus. In: Hainz, Josef (Hg.): Wittig und Michel in der Zeit des Nationalsozialismus. Eppenhain 2013, 75–78.

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Landes ausgesondert werden.“67 Dazu gehörten der Nachweis arischer Abkunft sowie die „Verbannung jüdischen Geistes aus Amt und Handel sowie aus Literatur, Kunst und Musik“.68 „Schwer war es“ – so ein weiterer gravierender Satz in diesem Zusammenhang bei Wittig – „das kirchliche Leben auf dem Boden deutscher Führerschaft und körperlicher und geistiger Rassereinheit zu erneuern und der kirchlichen Spaltung des deutschen Volkes zu begegnen.“69 „Konzentrationslager“ und „Judenverfolgungen“ werden erwähnt, aber es handelt sich dabei um „Greuelmärchen“.70 Auch bietet Wittig in diesem Zusammenhang eine recht fragwürdige Legitimierung des brutalen Vorgehens der SA-Horden gegen die Neuroder Reichsbannerleute, die die Weimarer Demokratie verteidigten. Dabei wurde am 1. März 1933 – also noch vor den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 – der Reichsbannermann Loske erschossen. Die Darstellung des Ereignisses bleibt bei Wittig allerdings recht vage.71 Zur Legalisierung heißt es bei ihm: Im Nationalsozialismus galt nur das als legal, was im Dienst der Nation und der Volksgemeinschaft stand. Legalität dürfe deshalb „nicht aus der Geistesverfassung des ererbten Liberalismus genommen werden“.72 Mit diesem Legalitätsbegriff werden das Führerprinzip, die Zerschlagung der Weimarer Parteien sowie der Gewerkschaften und die Gleichschaltung des Geisteslebens gerechtfertigt. Es ist wohl nachträglich nicht mehr zu rekonstruieren, inwieweit Wittig zu diesen Passagen von seinen Auftraggebern bestimmt wurde. Sie wirken wie ein Fremdkörper in der Gesamtdarstellung und stehen auch im Widerspruch zu den übrigen ­Passagen sowie vor allem zu seiner Korrespondenz aus dieser Zeit. Doch selbst bei den Ausführungen in der Chronik ist eine gewisse Distanzierung des Verfassers deutlich. Wie schon 1914 die Stadtgeschichte von außen bestimmt wurde und es zu einem Stillstand der Stadtgeschichte kam, so wiederholte sich dasselbe 1933, wie Wittig schreibt: „Da wurde die Stadt überflutet von der nationalen Bewegung und wiederum verlor ihre Geschichte den eignen Gang.“73 Und erläuternd zu seiner Position als Chronist fügt er hinzu: „Was in allen Städten Deutschlands geschah, das geschah auch in Neurode, und der Geschichtsschreiber der Stadt muß sein Amt dem Geschichtsschreiber des deutschen Volkes überlassen [...].“74 Es ist also nicht Wittig, auf den diese Passagen zurückgehen, wie er als Chronist gleichsam entschuldigend betont. Dort, wo er als Chronist wieder selbst Geschichtsschreiber ist, nehmen sich die vier nationalsozialistischen Jahre von 1933 bis 1936 keineswegs als ein Siegeszug der neuen Zeit aus. Im Gegenteil: Es sind in seiner Darstellung Jahre sozialer Not und wirtschaftlicher Depression. Auch wenn auf Betreiben der NS-Behörden die Wenzelsgrube wieder eröffnet wurde, wofür Gau67 68 69 70 71 72 73 74

Ebd., 524f. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 523f. Ebd., 524. Ebd., 523.

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leiter und Oberpräsident Helmuth Brückner ebenfalls die Ehrenbürgerwürde von Neurode erhielt, zeigte sich bald – so auch in der Darstellung Wittigs –, dass der Betrieb unrentabel war. Nur zwanzig Neuroder fanden dadurch Arbeit, wie Wittig berichtet, und seine Schlussfolgerung lautet: „Eine Belebung der örtlichen Wirtschaft war kaum erkennbar.“75 Im Übrigen beschränkte er sich in seiner Darstellung auf Institutionsgeschichte oder Faktendarstellung. So seine Feststellung: „Der Unterricht [in der Schule, d. Vf.] wurde mannigfach erweitert und vertieft durch das nationalsozialistische Gedankengut. Die neue Rassen- und Vererbungslehre, die neue Auffassung von Volk, Nation, Staat und Partei, die kritische Stellung zum Alten Testament und zum Schrifttum des Apostels Paulus wurden zur verantwortlichen Aufgabe des Unterrichts.“76 Wie Wittig diese NS-Pädagogik jedoch wirklich einschätzte, wird aus seiner Korrespondenz aus diesen Jahren deutlich. Die hier zitierten Passagen sind nicht aus dem Geist Wittigs geboren. Wittig blieb sich als Demokrat und auch seinen jüdischen Freunden treu. Es ist keine Schutzbehauptung, wenn er am 27. Januar 1937 seinem Freund Martin Buber, kurz vor dessen Auswanderung nach Erez Israel schreibt: „[...] dieses Werk [steht] ganz im Geiste unserer Kreaturarbeit.“77 Dieser Satz kann als ein Schlüsselzitat für die Einschätzung dieses Werkes gelten. Es gibt keine Verfemung anderer Konfessionen oder Parteien, auch wenn Wittigs Position gegenüber der Sozialdemokratie bisweilen durch seine Sicht als „Zentrumsmann“ geprägt war. Aufgeschlossen war er gegenüber dem christlichen Sozialismus, denn für ihn gehörten „Sozialismus als sittliche Idee und Christentum tief innerlich zusammen“.78 So las er als Einziger in Neusorge „eine sozialdemokratische Zeitung“ und gestand (1931): „Sie [die gewerkschaftlich orientierten Arbeiter, d. Vf.] erwecken in mir eine immer lebhaftere Anteilnahme.“79 Sie rechneten ihn zwar nicht zu ihrer Partei, „vertrauen“ – so schreibt Wittig weiter – „mir aber und wissen, daß ich, vor die Entscheidung gestellt, auf ihrer Seite bin“.80 Wittig war Demokrat, wenn er auch Schwierigkeiten mit den Freiheiten der Kultur der Weimarer Zeit hatte. Politisch stand er dem linken Zentrumspolitiker und ehemaligen Reichskanzler (1921/22) Joseph Wirth nahe, an dessen Zeitschrift „Republik“ Wittig sich 1927/28 mit einem Beitrag „Advent der Demokraten“ beteiligt hatte. Dort spricht er sich gegen eine Verquickung von Religion und Parteipolitik als erschwerend für die Schaffung eines „demokratischen Lebensstils“ aus.81 Obwohl im Grunde von seiner Mitarbeit an der „Kreatur“ auf Dialog eingestellt, hatte Wittig allerdings Schwierigkeiten mit dem demokratischen Diskussionsstil. Etwas skeptisch begleitete er ein Arbeiterbildungsprojekt seines Freundes Rosenstock-Huessy, das so genannte Arbeitslager, eine Institution, die 75 76 77 78 79 80 81

Ebd., 536. Ebd., 534. Ders.: Kraft, 264. Ebd., 176–178. Ebd. Ebd. Ebd., 124f.



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hier eine ganz andere Funktion hatte als die späteren Arbeitslager der Nationalsozialisten. Junge Bauern, Arbeiter und Studenten sollten sich in Lagern zusammentun und bei der Arbeit ihre Erfahrungen mit Arbeit reflektieren. Ein solcher Versuch war das Löwenberger Arbeitslager im Frühjahr 1928, über das Wittig seine Schrift „Es werde Volk!“ verfasste.82 In dieser Schrift erregte allerdings Wittigs Feststellung, dass das Löwenberger Geschehen „mehrere Male in einer Flut von Reden, Vorlesungen, Diskussionen, Leitsätzen und Anträgen unterzugehen drohte“,83 Kritik. Gegenüber Martin Buber äußert er darüber aufschlussreich in einem Brief vom 25. September 1928, dass er „mehrere Wochen schwere Arbeit“ mit dieser Schrift verbracht habe, „da“ – wie es dort heißt – „ich nicht selbst in Löwenberg war und deshalb ein ungeheures Material von Protokollen durchstudieren mußte“.84 Es war also eine Beurteilung, die nicht auf eigener Anschauung beruhte. Joseph Wittig war einer der wenigen in seiner Zeit, der uneingeschränkt auch nach 1933 zu seinen jüdischen Freunden hielt, obgleich er – wie er 1946 seinem Freund Rosenstock-Huessy gegenüber äußerte – das Elend, in das dieser 1933 gehen musste, „anfangs nicht genügend verstanden“ habe und „sicher nicht hilfreich genug“ gewesen sei.85 Den brieflichen Kontakt zu seinen jüdischen Freunden hielt er aufrecht, solange es ging, auch den persönlichen Kontakt. So traf er sich noch 1937 mit Martin Buber in Gottesberg.86 Es steht außer Zweifel, dass Wittig trotz seiner projüdischen Einstellung von der „nationalsozialistischen Bewegung“ „umworben und umgarnt“ wurde,87 wie er im Mai 1933 Ernst Simon von der Hebräischen Universität in Jerusalem schreibt, und weiter heißt es in diesem Brief: „Ich habe die Bilder der zerstörten Friedhöfe und Gräber eines Volkes, dem ich von Jugend auf zugetan bin, [vor Augen]. Diese Bilder machen mich zum Feinde der Partei [NSDAP, d. Vf.], deren Geist die ehrwürdigen Denkmäler zerstört hat. Meine Freundschaft mit Martin Buber ist zudem weithin bekannt und ist mir ein gewisser Halt und Schirm. Die nationalsozialistischen Jungen und Freunde achten diese Freundschaft.“88 Mag sein, dass der letzte Satz die Ursache war, dass Ernst Simon Wittig für einen Nazi hielt; dennoch ist die Aussage gegen den Nationalsozialismus eindeutig. Für Wittig schlossen sich die NS-Ideologie, wie sie in Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ dargestellt wurde, und das Christentum aus. Doch war für ihn die Frage – so am 27. März 1934 in einem Brief an Martin Rade – „wird Christus der Starke 82 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Es werde Volk. Versuch einer ersten Geschichte des Löwenburger Arbeitslagers im Frühjahr 1928. Waldenburg 1928. 83 Ders.: Kraft, 138. 84 Ebd., 131. 85 Ebd., 423. 86 Hermeier, Rudolf: Zur Freundschaft Joseph Wittigs mit Martin Buber, Ernst Simon und Emanuel bin Gorion. In: Koćwin, Lesław (Hg.): Joseph Wittig. Człowiek – Religia – Kultura/Joseph Wittig. Mensch – Religion – Kultur. Nowa Ruda/Zielona Góra 2005, 105–131, hier 114. 87 Ebd., 117. 88 Ebd.

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Wissenschaft

Martin Buber und Joseph Wittig bei ihrem letzten Treffen 1937 in Gottesberg bei Waldenburg.

sein? Er muß sich jetzt bewähren.“89 Problematisch war Wittigs Verbindung zu evangelischen Kreisen, die den Deutschen Christen nahestanden und die seit Jahren zu seiner Lesegemeinde zählten, problematisch vor allem seine Freundschaft mit dem Breslauer evangelischen Theologieprofessor Karl Bornhausen.90 Bornhausen, der von der Philosophie des Idealismus herkam, war ein politischer Wirrkopf, und Wittig selbst sah die Widersprüchlichkeit dieser Persönlichkeit. Schon vor 1933 hatte sich Bornhausen der NSDAP angeschlossen und führte 1933 in Breslau den „Kampfbund für deutsche Kultur“.91 Er war es, der bei der Breslauer Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 die Kampfrede hielt. Wittig erfüllte die Einstellung Bornhausens mit „großem Schmerz“,92 wie er am 31. März 1933 Martin Rade schreibt. Bornhausen hatte sogar erwartet, dass Wittig die „Führung des Grafschafter Kampfbundes“ übernehmen werde.93 Daraufhin war es zwischen beiden „still“ geworden, auch wenn es dann doch noch einmal zu einem Treffen kam, nachdem Bornhausen den Kampfbund verlassen und davon „die Nase voll“ hatte.94 Wittig war nach wie vor von Bornhausens „Christustreue“ überzeugt, verurteil-

89 90 91 92 93 94

Wittig: Kraft, 237–239. Ebd., 133. Ebd., 221–223. Ebd., 229. Ebd., 240. Ebd.



Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes

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te aber dessen „Donquichoterie gegen das Alte Testament“,95 was dann 1935 zum endgültigen Bruch führte. Die NS-Ideologie war für Wittig ein „fremder Geist“, den er von seinen Kindern fernzuhalten versuchte. Doch machte ihn der „Kampf dagegen [...] zag“.96 Wie andere Gelehrte auch, die Distanz zur NSDAP halten wollten, sich aber vom politischen Leben nicht gänzlich ausschließen konnten, hatte sich Wittig der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt angeschlossen und musste sich als „Blockleiter“ in „sozialer und karitativer Fürsorge für das Volk in seiner Nachbarschaft kümmern“.97 Inwiefern er dabei, „ohne gefragt zu werden“, in die NSDAP aufgenommen worden war, wie er am 19. Mai 1937 an Herbert Mulert schreibt und wie er es auch in dem 1950 publizierten „Roman mit Gott“ darstellt, muss offenbleiben. Bei öffentlichen Auftritten machte er aus seiner Überzeugung keinen Hehl, sodass es zu heftigen Auseinandersetzungen mit einem NS-Schulungsleiter kam.98 Angewidert war er zudem von dem Denunziantentum, das um sich griff und von dem er sich „mit Schaudern“ abwandte.99 Er flüchtete sich in seine Arbeit an der Chronik, die ihn „wie eine Arche über die Fluten der Zeit trägt“.100 Verschlüsselt schreibt er im März 1936 seinem Freund Rosenstock-Huessy in die USA, er komme sich vor wie ein Fischlein, das aufs Land geworfen sei und dem neue Organe zum Überleben wachsen müssten. Bei ihm vollziehe sich das Wachstum allerdings nicht sehr schnell. Im Februar 1941 – kurz vor Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und den USA – verweist Wittig in einem Brief an Rosenstock-Huessy auf Schriftsteller der christlichen Klassiker, die die Endzeit und Ankunft des Antichristen thematisierten. Am 9. Oktober 1941 schreibt er: „Was sonst in der Welt geschieht, hat stark endzeitlichen Charakter.“101 Es ist deutlich, dass Wittig die NS-Zeit und den Krieg in stark depressiver Stimmung erlebte. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man diese Endzeiterwartung Wittigs und das Auftreten des Antichristen als ein Verzweifeln am Wirken Gottes in der Geschichte interpretiert. Trotz der hier angemerkten zeitbedingten Passagen – so kann man resümierend feststellen – ist Joseph Wittig zu den Historikern zu zählen, die mit ihrem sozialhistorischen Ansatz und der Geschichte der kleinen Leute die kritische Sozialgeschichte der 1960er Jahre vorbereiteten.

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Ebd., 252. Ebd., 276. Ebd., 277f. Ebd.; ders.: Roman mit Gott. Tagebuchblätter der Anfechtung. Moers 1990, 62–64. Ders.: Kraft, 342. Ebd., 255. Ebd., 358.

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V. Literatur

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27. Georg Gloger (1603–1631) O Liebster/ was bedeut das ungewohnte röcheln? Die Furcht der heissen Brust? Der matten Lungen fecheln/ Das so geschwinde keicht? Ach! wo? wo läst du dich? Dein’ Augen? deinen Mund? und was noch mehr/ wo mich? Mich/ deinen andern Dich? So bistu nun geflogen / du schöne Seele du/ und läßst unnachgezogen den Leib/ dein schönes Kleid/ das mit so schöner Pracht der Tugend war gestückt/ und sauber außgemacht. Du Mund/ den Venus selbst in ihre Nectar tauchet / und dem die Gratien ihr Holdseyn eingehauchet: Ihr Augen/ die ihr mich durch euer freundlich sehn zur Gegenliebe zwingt/ und ists ümm euch geschehn / und auch ümm euren mich. Vor hab’ ich finden können / noch meinen Landsmann/ dich/ du Labsal meiner Sinnen.1 Mit diesem Gedicht, dessen Anfangszeilen hier zitiert sind, ehrte Paul Fleming (1609–1640) seinen Dichterfreund Georg Gloger nach dessen frühem Tod. Es ist ein Gedicht, das mehr verrät als nur die Topik eines Kasualgedichts. Sein Name an allen Wänden, der erst mit der Ewigkeit untergeht, wie es im weiteren Verlauf des Gedichtes heißt – dieser Wunsch Flemings sollte sich nicht erfüllen. Glogers Name ist nahezu vergessen und kaum etwas ist über ihn bekannt. Nur wenige Daten dieses Barockdichters aus der Grafschaft Glatz sind gesichert. Das meiste, was wir von ihm und über ihn wissen, stammt aus den Zueignungs- beziehungsweise Gelegenheitsgedichten seines jüngeren, aber bedeutenderen Dichterfreundes Paul Fleming. Die Kirchenbücher seiner Vaterstadt Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz, wo Georg Gloger 1603 geboren wurde, sind für das 17. Jahrhundert nicht erhalten. In den Ratsprotokollen aus dieser Zeit werden jedoch zwei Brüder Gloger geführt. Als sich die Gemeinde Habelschwerdt 1611 eine neue Orgel für die Pfarrkirche St. Michael bauen ließ, errichteten die Tischler Nickel (Niclas) und Peter Gloger den Orgelprospekt, ferner schufen sie eine Winteruhr. Niclas Gloger ist 1613 als Geschworener der Tischlerzunft unter den Ratsmitgliedern überliefert. Die Ratsrechnungen weisen auf einen bescheidenen Wohlstand der beiden Brüder hin. Welcher von beiden der Vater von Georg Gloger ist, muss offenbleiben.2 1 Fleming, Paul: Auf H. Georg Glogers Med. Cand. Seeliges Ableben. In: ders.: Deutsche Gedichte. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1986, 9f. 2 ������������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Państwowe we Wrocławiu, P. A. P. Bystrzyca Kłodzka, Nr. 9: Ordentliche Rath-Protocolle 1612, 1613, 1614, 89f., 94, 99; zum Bau der Habelschwerdter Orgel im Jahr 1610 vgl. auch die Habelschwerdter Chronik eines unbekannten Autors in Archivum Archidiecezjalne we Wrocławiu, Nachlaß Kögler Nr. 71, 194f.

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Literatur

Paul Fleminig (1609–1640) war Arzt und Schriftsteller, wie der Abbildung von 1640 zu entnehmen ist. Fleming wurde 1631 zum poeta laureatus gekrönt. Mit Geog Gloger verband Fleming eine lebenslange Freundschaft. In Erinnerung an seinen toten Freund veröffentlichte Fleming die „Manes Glogeriani“.



Georg Gloger (1603–1631)

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Habelschwerdt erlebte im reformatorischen Zeitalter eine wechselreiche Geschichte. Schwenckfelder und Täufer lebten und wirkten seit den 1530er Jahren hier friedlich nebeneinander. Im Zeitalter des Konfessionalismus setzten sich die Lutheraner durch, die ab den 1560er Jahren im Namen des böhmischen Landesherrn Maximilian II. oder Rudolf II. „die Sekten“ – gemeint waren Schwenckfelder und Täufer – aus der Stadt vertrieben. Als Kaiser Rudolf II. als Patronatsherr 1605 mithilfe der Jesuiten durch den Glatzer Landeshauptmann Heinrich von Logau die Rekatholisierung in dieser Stadt durchzusetzen versuchte, scheiterte er an dem entschiedenen Widerstand der Habelschwerdter. Habelschwerdt blieb lutherisch. Im Lutherjahr 1617 feierte die Stadt mit einem Jubelfest das Bekenntnis und Erbe dieses Reformators und dokumentierte mit dem Bau einer großen Orgel diese Tradition. Bedroht war das lutherische Bekenntnis in diesen Jahren allerdings weniger durch habsburgische Rekatholisierungsversuche als durch den Calvinismus, dem der Habelschwerdter Pfarrer Abraham Zenkfrey (Amtszeit 1586–1604) anhing. Unter dem Druck des Glatzer Landeshauptmanns legte er jedoch 1604 sein Amt nieder und machte damit „dem gantzen lande einen bösen eingang undt anfang, i[h]m undt allen zu spott“,3 wie der Habelschwerdter Chronist missbilligend bemerkt. Zenkfreys lutherischer Diakon Christof Wittwer konnte die Kirche für die Lutheraner behaupten, wenn er auch mit einem Predigtverbot belegt wurde, worüber er sich seit Weihnachten 1605 hinwegsetzte, nachdem der Rekatholisierungsversuch in diesem Jahr gescheitert war. Georg Gloger hatte diese konfessionellen Auseinandersetzungen, die sich in der Grafschaft Glatz in den Jahren nach 1622 zu einer äußerst rigiden Rekatholisierungsphase steigerten, bewusst miterlebt und verinnerlicht, wie seine Huldigungsgedichte an König Gustav Adolf von 1631 beweisen. Im Hinblick auf Glogers Schulbesuch und Ausbildung sind wir auf Vermutungen angewiesen. Ein Huldigungsgedicht auf den Rektor des Breslauer Elisabethaneums, Elias Major, anlässlich von dessen Krönung zum poeta laureatus legt es nahe, ihn als Schüler dieses berühmten schlesischen Gymnasiums zu sehen. Doch ist es nicht ausgeschlossen, dass Gloger zunächst die Habelschwerdter Stadtschule besuchte, die unter ihrem Rektor Melchior Wisaeus (Amtszeit 1604–1621) einen eindrucksvollen Aufschwung genommen hatte.4 Um die beiden (vermutlichen Brüder) Wisaeus, Melchior und David (seit 1610 Stadtpfarrer), hatte sich ein Späthumanistenzirkel gebildet, dem auch der Konrektor Melchior Mellingius angehörte, ein „frommer, gelehrter Mann und fruchtbarer, begabter lateinischer Dichter“,5 so das Urteil des Literaturhistorikers Paul Klemenz. Mellingius hatte in Leipzig studiert (von 1613 bis 1619) und war dort zum Dr. phil. promoviert worden. Er könnte Georg Gloger und seine Brüder Niclas, Peter und David veranlasst haben, ebenfalls die Leipziger 3 Zit. nach Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, 93f. 4 Ebd., 199. 5 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Klemenz, Paul: Der Anteil der Grafschaft Glatz an der deutschen Literatur. In: Blätter für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 1 (1906/10) 281–312, hier 302.

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Literatur

Universität zu besuchen. 1625 immatrikulierte sich Georg Gloger dort als Student des Eingangsstudienfaches Philosophie (dies ist das erste und einzige amtlich bestätigte Zeugnis, das wir von Gloger besitzen). Dem folgte, ohne dass es die Matrikel ausdrücklich erwähnen, das Studium der Medizin.6 Inzwischen hatte infolge der Schlacht am Weißen Berg (1620) seine Vaterstadt Habelschwerdt eine tiefgreifende historische Zäsur erlebt. Alle Bürger, die die böhmische Rebellion unterstützt hatten, wurden bestraft. Ihnen wurde ihr Besitz weggenommen; zudem verloren sie ihre öffentlichen Ämter und wurden gezwungen, den katholischen Glauben anzunehmen. Alle lutherischen Geistlichen und Lehrer mussten die Stadt verlassen (1623), allen Eltern wurde per Edikt befohlen (1628), ihre im Ausland weilenden Kinder zurückzuholen, „damit sie katholisch werden“.7 Auch Gloger und seine Familie traf dieses Schicksal, wie wir aus einem Zueignungsgedicht Flemings für Gloger wissen: Jam post charorum lugubria fata parentum, immo post patriæ funera mœsta, tuæ, non tibi de merito gazæ solvuntur avitæ et testes patriæ sedulitatis opes. Omnia fiscus habet, sed nec tibi copia tuto ad consanguineos visere posse Lares. Relligio parit exsilium. Sic indigus omnium pulsus in egnotum cogeris ire solum.8 Über den beruflichen Werdegang Glogers, sein Leben in Leipzig und die Bildung eines schlesischen Dichterzirkels, zu dem auch Fleming gehörte, wissen wir Einzelheiten nur aus den Kasualgedichten seiner Freunde, vor allem Flemings. Wissenschaftlich qualifizierte sich Georg Gloger als Opponent bei medizinischen Disputationen. Sein Studium schloss er 1631 mit einer Dissertation über das Nachtwandeln ab, ohne dadurch aber den Doktorgrad erworben zu haben.9 Anlässlich dieses Ereignisses schrieb sein Freund Fleming ein Kasualgedicht: „H. Görg Glogers seine Disputation von den Nachtwandlern“.10 Glaubt man einer Zeile aus einem anderen Zueignungsgedicht Flemings aus demselben Jahr, dozierte Gloger öffentlich Medizin: „sive doces medicos 6 Erler, Georg (Hg.): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1806. Leipzig 1909, 137. 7 Zit. nach Herzig: Reformatorische Bewegungen, 147. 8 Fleming, Paul: Lateinische Gedichte. Hg. v. J[ohann] M[artin] Lappenberg. Stuttgart 1863, 16, Z. 3–10 („Nach dem traurigen Schicksal der lieben Eltern, dem Leichenbegräbnis Deines Vaterlandes werden Dir nicht verdientermaßen bezahlt die Schätze Deines großväterlichen Erbes, die Zeugen des väterlichen Fleißes. Alles zog der Fiskus ein, und die Laren konnten nicht die Schätze bei den Verwandten in Sicherheit sehen. Die Religion bereite Dir das Exil. So aller Dinge bedürftig und vertrieben, wirst Du gezwungen, in unbekanntes Land zu gehen.“). 9 Klemenz: Anteil, 304. 10 Fleming, Paul: Deutsche Gedichte. Hg. v. J[ohann] M[artin] Lappenberg, Bd. 1–2. Stuttgart 1865 [ND Darmstadt 1965], 115.



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publicus inter heros“.11 Zu dem von Gloger initiierten Dichterkreis gehörten Schlesier und Sachsen. Offensichtlich war dieser wie die nach italienischem Vorbild 1617 vom Fürsten Ludwig I. von Anhalt-Köthen gegründete „Fruchtbringende Gesellschaft“ als Palmenorden mit Dichternamen und Emblemen konstituiert worden.12 Georg Gloger war „Pylades“ – so nennt ihn zumindest Fleming –, sein Emblem war das einer Palme am Wasser, auf dem ein Schwan schwimmt.13 Aus einem Brief Flemings an den Wittenberger Professor August Büchner wissen wir, dass Gloger seinen Kreis und vor allem Fleming mit Martin Opitz bekannt machte, als dieser 1630 auf einer Reise nach Frankreich Leipzig besuchte.14 Wann Gloger Opitz, dessen „Buch von der deutschen Poeterey“ 1624 wichtige Maßstäbe für die deutsche Dichtung setzte, kennengelernt hatte, muss offenbleiben. Opitz’ Kriterien wurden nun auch zum Maßstab für den Glogerschen Dichterzirkel.15 Galt für diesen bis dahin noch in späthumanistischer Tradition Latein als Dichtungssprache, so war es auch bei Gloger nun Deutsch, das für seine Dichtung bestimmend wurde. Der Übergang vom Späthumanismus zum Barock war damit eingeleitet.16 Mit seinen deutschsprachigen Zueignungs-, Hochzeits- und Liebesgedichten bewegte sich Gloger, was die Bilder und die Anspielungen auf den antiken Mythos betrifft, in der Tradition des Petrarkismus. Die dichterische Eleganz seines Vorbildes Opitz oder seines Freundes Fleming erreichte er allerdings nicht. Die Bilder, mit denen er seine enttäuschte Liebe zum Ausdruck bringt („Ode“, „Über seine unglückliche Liebe“, „Von ihr“), sind recht konventionell; das Versmaß lässt einen glatten Fluss vermissen. Das Urteil des Herausgebers seiner Gedichte, des Hamburger Archivars Johann Martin Lappenberg, ist durchaus berechtigt, wenn er feststellt, dass „Gloger mehr in der Schule der Römer, als derjenigen seiner Schlesier gelernt hatte, und wie tief seine poetische Begabung, wenn auch manchem seiner Zeitgenossen gleichzustellen, unter der seines Freundes [Fleming, d. Vf.] stand“.17 Glogers Œuvre umfasst 75 Gedichte, davon 41 lateinische, 18 deutsche und acht sowohl auf Deutsch als auch auf Latein verfasste.18 Zu seinen Lebzeiten wurde wohl keines dieser Gedichte veröffentlicht; aber Fleming hatte sie gesammelt. Aus dessen Nachlass publizierte sie 1863 Johann Martin Lappenberg als Beilage zu Flemings Gedichten. Von Glogers Kasual- und Liebesgedichten unterscheiden sich deutlich zehn Gedichte, 11 Ders.: Lateinische Gedichte, 22. 12 Dülmen, Richard van: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Frankfurt a. M. 1986, 20–22. 13 Vgl. Johann Martin Lappenbergs Kommentare zu Gloger und dessen Dichtung in Fleming: Lateinische Gedichte, 489–550, hier 541. 14 Ebd., 537. 15 Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1/1: Von den Anfängen bis ca. 1800. Würzburg 1995, 145. 16 Georg Glogers Deutsche Gedichte und Georg Glogers Decas. In: Fleming: Deutsche Gedichte, 654–675. 17 Anmerkungen ebd., 832; Klemenz: Anteil, 305. 18 Klemenz: Anteil, 304.

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Literatur

Titelbild des in Brieg bei Augustin Gründer gedruckten und in Breslau bei dem Buchhändler David Müller verlegten „Buch von der deutschen Poeterey“ (1624). In dieser Schrift wandte sich Martin Opitz (1597–1639) von dem antiken Versmaß ab und suchte nach Grundsätzen für eine der deutschen Hochsprache entsprechenden Form der Metrik.



Georg Gloger (1603–1631)

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als „Decas“ bezeichnet, in denen er auf Latein und Deutsch die zeitgenössische Belagerung Dresdens durch Tilly und dessen Niederlage, herbeigeführt vom schwedischen König Gustav Adolf, überschwänglich feiert. Seine eigenen Erlebnisse und die seiner Familie schwingen hier mit: Auf der Wahlstatt unterliegt die falsche und böse Sache dem Sieg der Guten. Gerächt wird hier auch, was sich einst in Habelschwerdt im Zug der Rekatholisierung zugetragen hatte. Gott aber steht aufseiten der Protestanten: Denn als die Schlacht ward aus, und nun die Feind erlagen, Da gebe Gott fast selbst sein Ja und Wille drein, Als sich bey heller Luft dreymal der Donnerwagen So sanfte hören ließ, als soltens Worte seyn. Dreymal und weiter nicht. Hierauf wird alles stille, Und sah am Himmel man den Regenbogen gehn. Wie solte nun der Sieg nicht seyn des Herren Wille, Weil umb und über uns so klare Zeichen stehn? Wir gläuben festiglich, daß Gott sey selbst zugegen, Und seine große Macht werd unsre Feind erlegen.19 Georg Gloger überlebte diesen Sieg Gustav Adolfs am 17. September 1631 bei Breitenfeld, nordwestlich von Leipzig, nur um einen Monat. Er starb am 16. Oktober 1631.20 Das Abschiedsgedicht, das sein Freund Paul Fleming ihm widmete, wirkt wie ein Liebesgedicht auf eine verstorbene Geliebte. So bleib ich dir vermæhlt. So ewig Flemings Buhlen die zarte Poesie wird seyn in Phoebus Schuln so soll dein hertzer Nam an allen Wänden stehn und mit der Ewigkeit mein Gloger untergehn.21 Glogers Name lebt fort durch seine enge Freundschaft mit Fleming, den er für die schlesische Dichterschule gewann, sodass sich dieser aus dem Erzgebirge stammende Poet selbst als schlesischer „Landsmann“ fühlte.22 Die Freundschaft zwischen beiden ging auf den Winter 1628/29 zurück, als beide Studenten ein Zimmer in Leipzig bewohnten. Gloger entdeckte Flemings dichterisches Talent und führte ihn zur Dichtung. Der Tod seines sechs Jahre älteren Freundes muss Fleming tief getroffen haben. Mit seinen „Manium Glogerianorum libri“ inszenierte er einen Glogerkult. In sieben Büchern 19 Das Gedicht in Fleming: Deutsche Gedichte, 670f. 20 Nach Auskunft des Stadtarchivs Leipzig vom 20. Januar 1997 konnten in den einschlägigen Beständen „keine Angaben über Georg Gloger ermittelt werden“. 21 Auf H. Georg Glogers [...] Seeliges Ableben, 9. 22 Fleming: Deutsche Gedichte, 490.

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Literatur

sammelte er seine Gedichte auf den verstorbenen Freund, die er „Manes Glogeriani“ betitelte und denen er unterschiedliche Titel wie „liber Amorum“, „liber Desidiorum“ usw. gab.23 Liber VIII der „Manes“ enthält die Zueignungsgedichte der Mitglieder von Glogers Leipziger Dichterzirkel, darunter auch eines seines Glatzer Landsmannes ­Johann Christoph Lobhartzberger.24 Rezipiert wurde Glogers schmales Œuvre erst im 19. Jahrhundert, als 1863 der Hamburger Archivar Johann Martin Lappenberg das Gesamtwerk des 1640 in Hamburg verstorbenen Fleming herausbrachte und in einer Beilage auch Glogers Gedichte publizierte. Die schlesischen Literaturwissenschaftler Hermann Palm (1877)25 und Paul Klemenz (1906)26 widmeten ihm kürzere Untersuchungen. Auf diesen beiden ­basieren alle später erfolgten Darstellungen.27

23 Vgl. Lappenbergs Kommentar in Fleming: Lateinische Gedichte, 537–539. 24 Fleming: Lateinische Gedichte, 676f. 25 Palm, Hermann/Schmidt, Erich: Paul Fleming und Georg Gloger. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Breslau 1877 [ND Leipzig 1977], 104–110. 26 Klemenz: Anteil. 27 Schindler, Karl: So war ihr Leben. Bedeutende Grafschafter aus vier Jahrhunderten. Leimen 1975, 9–19.





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28. Holtei und das Breslauer Bürgertum Als 1819 Karl von Holtei als Schauspieler sein Debüt auf der Breslauer Bühne gab, fand dieser Auftritt eines Adligen weder den Beifall seiner adligen Standesgenossen noch den des Breslauer Bürgertums. In seinen Lebenserinnerungen „Vierzig Jahre“, die er um 1844 aufzeichnete, reflektiert er die Situation von 1819 wie folgt: „Die vornehme Welt war erbittert [...] daß ich mir nicht einen andern Namen gab [...]. Die Adeligen hielten, dass ich es nicht thun wollte, für eine Frechheit [...]. Aber nicht nur der Adel, auch die Kaufmannschaft, der Bürgerstand waren gegen mich [...]. Man muss den schlesischen, den Breslauischen Kastengeist jener Tage – denn ich bin fest überzeugt, heut zu Tage ist Alles anders – gekannt haben [...].“1 Holtei bietet hier eine knappe Analyse der Breslauer Sozialstruktur. Im Hinblick auf das Bürgertum unterscheidet er zwischen Kaufmannschaft und Bürgertum. Beide bilden in ihrem Selbstverständnis – nach Holtei – keineswegs einen gemeinsamen Dritten Stand, wie er sich in Frankreich während der Revolution gebildet und als ­Nation definiert hatte. Als Bürgerstand bezeichnet Holtei das ehemalige Zunftbürgertum, dessen Privilegien zu dieser Zeit durch die Hardenbergsche Gewerbereform von 1810 zwar aufgehoben waren, das aber – wie wir noch sehen werden – zäh um seine Standesprivilegien kämpfte und damit seinerseits den „Breslauischen Kastengeist“ aufrechtzuerhalten suchte. Als Vertreter dieser Gruppe oder dieses Standes kann der von Holtei erwähnte Töpfermeister Höhnisch gelten, bei dem sich Holtei während seines Theaterdebüts einmietete. Allerdings kann Höhnisch kaum noch als klassischer Zunftmeister angesehen werden. Nach Holteis Schilderung war dessen Werkstatt eher eine kleine ­Fabrik, also nicht mehr ein Zunftbetrieb im herkömmlichen Sinn. Höhnisch hatte sich mit seinem Betrieb also schon auf die neue Gewerbefreiheit eingestellt. Allerdings huldigte dieser „brave, redliche Bürgersmann“2 und „Stadtrat“ – so bezeichnet ihn Holtei – noch dem alten „Breslauischen Kastengeist“.3 Das Sein bestimmte bei ihm noch nicht das Bewusstsein. Für ihn war Holtei als Adliger der „Gnädige Herr“, und dass dieser – wie Höhnisch sich ausdrückte – „sonntags auf dem Gänsestall“, also dem Theater, „Spaß vormachen helfen sollte“, wollte ihm – „den alten schlesischen Bürgersitten“ gemäß – nicht gefallen.4 Holteis knappe Analyse der Breslauer Sozialstruktur muss in den Kontext dieser Zeit, also der ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts, eingeordnet werden: Wie stellte sich Breslaus Gesellschaft zu dieser Zeit dar, wie verstand sie sich selbst und wie war Holteis Beziehung zum Breslauer Bürgertum? 1 Holtei, Karl von: Vierzig Jahre, Bd. 1–6. Breslau 1862, hier Bd. 2, 384. Vgl. auch Dziemianko, Leszek: Der junge Karl von Holtei. Leben und Werk. Wrocław/Dresden 2007, 167. 2 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 2, 383. 3 Ebd., 384. 4 Ebd.

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Literatur

1811 charakterisierte Johann Gustav Gottlieb Büsching im Zusammenhang mit der Neugründung der Universität Breslaus Gesellschaft wie folgt: „Entweder der Kaufmann oder das Militär waren hier [in Breslau, d. Vf.] vorherrschend“,5 wobei mit „Militär“ wohl der Adel gemeint ist. Dieser besetzte die bestimmenden Stellen im Heer und in der Verwaltung, obgleich infolge der Stein-Hardenbergschen Reformen sich nun auch Bürgerlichen Aufstiegsmöglichkeiten in diese Stellungen boten, wie das Beispiel der beiden Breslauer Oberpräsidenten Merckel und Pinder zeigt. Für Breslaus Stände war es noch ein langer Weg bis zur Herausbildung einer Bürgergesellschaft. Büsching hoffte, dass aufgrund der Neugründung der Universität 1811 die Trennung in der Gesellschaft aufgehoben und dass nun ein „geselliges und angenehmes Leben“ durch die Gelehrten in den öffentlichen und privaten Zirkeln sich entwickeln werde.6 In der Tat trug die neu gegründete Universität durch die Berufung auswärtiger Professoren zu einer Verstärkung des Breslauer Bildungsbürgertums bei. Die Stadt habe „eine neue ganz andere geistige Physiognomie bekommen“,7 urteilt ein Zeitgenosse. Ebenso waren die Breslauer bemüht, „die Fremden in dem sehr abgeschlossenen Schlesien“ zu akkulturieren,8 bemerkte ein Freund Holteis, der Historiker August Kahlert. Und auch der Geologe an der Breslauer Universität, Karl von Raumer, bestätigte, dass die neue Professorenschaft von den Breslauer Honoratioren „als belebendes Element des geselligen Lebens“ aufgenommen wurde.9 Die Überwindung des „Breslauischen Kastengeistes“,10 wie ihn Holtei bezeichnet, zugunsten einer Bürgergesellschaft verlief nicht konfliktfrei.11 Mehrere Revolten in der Zeit um 1800 belegen dies. 1793 fand ein Gesellenaufstand statt, der 53 Tote forderte. 1796 folgte als nächstes ein Konflikt zwischen Militär und Bürgerschaft, und 1817 kam es zur sogenannten Breslauer Revolution, wie Holtei dieses Ereignis nennt.12 Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793 entzündete sich an einer Lappalie, die aus heutiger Sicht nicht mehr ganz verständlich ist. Es ging den Gesellen bei ihrem Protest, der über fünfzig Todesopfer forderte, um das symbolische Kapital ihrer Ehre, also um den angemessenen Platz in der Ständegesellschaft. Das brutale Durchgreifen des Mili5 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 4, Tit. 1, fol. 18; vgl. den Beitrag „Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811“ in diesem Band. Zu Büsching vgl. Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997, 39–45. 6 [Andreae, Friedrich (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. [Breslau 1936,] 52. 7 Ebd., 54f. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 2, 384. 11 Ebd., Bd. 3, 17. 12 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. den Beitrag „Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose“ in diesem Band.



Holtei und das Breslauer Bürgertum

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tärs auf Veranlassung der adligen Offiziere erklärt sich aus der brenzligen Situation dieser Revolte zur Zeit der Französischen Revolution. Die Armee, die in Breslau stationiert war und die sich als wesentlicher Ordnungsfaktor der Stadt verstand, war im Krieg gegen das revolutionäre Frankreich eingesetzt, sodass der Provinzialminister von Hoym eine weitgehende Pazifizierungsstrategie anwandte, um sein Herrschaftssystem nicht gänzlich zu gefährden. Dazu gehörte auch die Einrichtung der Breslauer Repräsentantenversammlung 1794, in der drei Stände, nämlich Gelehrte, Kaufleute und Bürger (das meint das Zunftbürgertum), vertreten waren.13 Diese Dreiteilung auf städtischer Ebene entsprach dem zur selben Zeit erlassenen Allgemeinen Preußischen Landrecht, das den Staat zwar als Anstalt der bürgerlichen Gesellschaft definierte, aber dazu im Widerspruch die altständische Gesellschaft fortschrieb.14 Trotz der bald darauf einsetzenden Entwicklung zur bürgerlichen Klassengesellschaft, die dieses Gesellschaftskonzept obsolet machte, hielt in Schlesien die Präponderanz des Adels bis ins 20. Jahrhundert. „Doch führte die Schneiderrevolte von 1793“ – so 1908 der bekannte Breslauer Historiker Johannes Ziekursch – „zu einem gehobenen Selbstbewusstsein der Breslauer Bevölkerung, das sich dann 1796 in einem Auflauf gegen das zu brutalen Übergriffen geneigte Militär“ entlud.15 Die Ursache für den erneuten Aufruhr, in den nicht nur die Gesellen, sondern auch die Breslauer „Bürgerschaft“ involviert war, lag in der brutalen Behandlung eines alten siebzigjährigen Oderfischers, der von einem betrunkenen Offizier geprügelt wurde. Angeblich hatte der Fischer im Schilf versteckte Deserteure nicht angezeigt. Die Schläge, die der Alte auf dem Weg von Marienau bis ins Stadtzentrum einstecken musste, erregten das immer größer werdende Publikum, sodass – wie es in der „Topographischen Chronik“ von Karl Adolf Menzel aus dem Jahr 1807 heißt – „die Bürgerschaft [glaubte,] wegen des verhafteten Fischers, der unter der Jurisdiktion des Magistrats stehend, Vorstellungen sowohl bei dem Stadtdirektor als bei dem Kommendanten machen zu müssen“.16 Die schnöde Abweisung durch Letzteren führte bei dessen Heimritt zu Übergriffen des „Pöbels“, wie es bei Menzel heißt. Der Kommandant wurde mit Steinen beworfen, und ein Kutscher versuchte sogar, ihn vom Pferd herunter zu ziehen. Das Regiment von Dolffs, auf das bereits die Übergriffe von 1793 zurückgingen, besetzte das Rathaus. Immerhin „auf nachdrückliches Begehren und Ansuchen der Bürgerschaft“17 – so die Definition bei Menzel – wurde das Regiment aus der Stadt abgezogen und durch die bürgerliche Schützengilde ersetzt. Auf Befehl König Friedrich Wilhelms II., dem der Vorfall gemeldet wurde, bekam der Kutscher an der Breslauer 13 Ebd. 14 ���������������������������������������������������������������������������������������� Koselleck, Reinhard: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart 21975 [11967], 29, 32. 15 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ziekursch, Johannes: Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und die Städteordnung Steins. Jena 1908, 75. 16 Menzel, Karl Adolf: Topographische Chronik von Breslau, Breslau 1805–1807, hier Nr. 107, 840–850. 17 Ebd.

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Staupsäule siebzig, die anderen „Rädelsführer“ fünfzig, vierzig beziehungsweise dreißig Hiebe auf den nackten Rücken.18 Bei der „Topographischen Chronik von Breslau“ von Karl Adolf Menzel aus dem Jahr 1807 handelt es sich um die erste Darstellung der Breslauer Stadtgeschichte aus bürgerlicher Sicht. Menzel war seit 1804 Lehrer am Elisabeth-Gymnasium und Direktor der bekannten Rhedigerschen Bibliothek. 1824 avancierte er zum Leiter des ­schlesischen höheren Schulwesens. Er verstand seine Geschichte als „Beitrag zur Kenntniß der Entwicklung des deutschen Bürgerthums“, wie der Untertitel lautet.19 In seiner „Topographischen Chronik“ von 1805 bis 1807 lässt er das Breslauer Massaker von 1793 durch einen edlen Bürger beenden, „dessen Namen“ – so heißt es bei ihm – „mit Unrecht nicht aufgezeichnet worden ist“.20 Nachdem es durch einen Kanonenschuss schon dreißig Tote gegeben hatte, habe sich dieser „edle Bürger“ vor das Kanonenrohr gekniet mit der Aufforderung: „Um Gotteswillen hört auf oder erschießt mich zuerst!“21 Der Bürgerstand, der in diesem Zusammenhang von Menzel beschworen wird, konstituierte sich durch die Abgrenzung zum „Pöbel“. Immanuel Kant hatte ­angesichts der zahlreichen Unterschichtenproteste zur Zeit der Französischen Revolution das „bürgerliche Ganze“ vom „rottirenden Pöbel“ unterschieden. Kant definierte den Pöbel als „die wilde Menge im Volk“.22 Auch Menzel plädierte dafür, den Gesellentumult von 1793 nicht mit einem „Bürgeraufruhr“ zu verwechseln.23 Kam es zu Aktionen gegen die Obrigkeit, so war es 1793 für Menzel der „Pöbel“, der als „wütender Haufe“ die Soldaten zum Exzess reizte.24 Desgleichen war es 1796 wiederum „der Pöbel“, der „eine Kompagnie Infanterie mit Steinen zurücktrieb“.25 Diese Deutung findet sich dann auch in den folgenden bürgerlichen Darstellungen der Breslauer Stadtgeschichte, so 1851 in Bürkners und Steins „Geschichte der Stadt Breslau“.26 18 Ebd. 19 Ders.: Geschichte der Stadt Breslau. Ein Beitrag zur Kenntniß der Entwicklung des deutschen Bürgerthums. Breslau 1807–1810. Zu Karl Adolf Menzel vgl. Schwarzer, Otfried: Karl Adolf Menzel. In: Friedrich Andreae u. a. (Hg.): Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts. Sigmaringen 2 1985 [Breslau 11926], 173–183. Vgl. den Beitrag „Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose“ in diesem Band. 20 Menzel: Topographische Chronik, Nr. 107, 838. Bei Bürkner, Robert/Stein, Julius: Geschichte der Stadt Breslau von ihrer Gründung bis auf die neueste Zeit, Bd. 1–3. Breslau 1851–1852, hier Bd. 2: Geschichte Breslau’s vom Jahre 1740 bis zum Jahr 1840, 89, bleibt der „edle Bürger“ immer noch anonym. Ernst Weiß, G. Adolf: Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit. Breslau 1888, 1087, nennt den Namen dieses „unerschrockenen, edlen Bürgersmann[s] aus der Masse“: „Es war der Tischlerälteste Meister Rahn.“ 21 Menzel: Geschichte, 173. 22 Herzig, Arno: Unterschichtenprotest in Deutschland 1790–1870. Göttingen 1988, 13 (hier die Zitate). 23 Menzel: Topographische Chronik, Nr. 107, 837. 24 Ebd., 841. 25 Bürkner/Stein: Geschichte, Bd. 2, 88f. 26 Ebd.



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Trotz dieser Konstruktion vom friedlichen „bürgerlichen Ganzen“ und dem davon geschiedenen „rottirenden Pöbel“ war es 1817 das Zunftbürgertum, das in Breslau revoltierte. Infolge der Hardenbergschen Gewerbereform von 1811 hatte das Breslauer Zunftbürgertum seine Privilegien eingebüßt. Das bedeutete den Verlust der Gewerbegerechtigkeiten. Die meisten Zünfte hatten die Meisterstellen für hohe Summen als sogenannte Gerechtigkeiten oder Bänke an ihre Mitglieder verkauft. So kostete eine Bäckerbank zum Beispiel 4.230 Taler. Der Wert aller Gerechtigkeiten betrug in Breslau 1.165.320 Taler. Eine Gerechtigkeit oder Bank konnte vom Besitzer verkauft oder beliehen werden, war also eine sichere Kapitalanlage. Im Breslauer Bürgertum kursierte damals der Satz: „Ein Haus kann abbrennen, eine Gerechtigkeit nicht!“ Die Ablösung dieser Gerechtigkeiten sollte durch den Staat geleistet werden. Doch zog sich dies jahrzehntelang (bis 1845) hin. Bis 1816 war vielfach noch nicht einmal der Taxwert festgelegt worden, was unter den Handwerksmeistern für große Unruhe sorgte.27 Der Unmut entlud sich 1817, als die wehrfähigen Bürger – bis auf zwei – den Militärdiensteid mit Verweis auf ihren bereits geleisteten Bürgereid verweigerten. Am nächsten Tag wurden morgens die Wortführer dieser Aktion aus den Betten geholt und auf die Festung Neisse gebracht. Diese Aktion sollte geheim gehalten werden; doch versammelte sich bald an der Staupsäule eine große Menschenmenge, die das Rathaus und später auch das Regierungsgebäude (Hatzfeldpalais) stürmte. Dabei wurden die Aktenbündel aus dem Fenster in die johlende Menge geworfen. Oberpräsident Merckel und der Stadtkommandant von Hünerbein setzten Militär ein, und es kam zu harten Zusammenstößen zwischen den Aufständischen und dem Militär. Es gab einige Tote und viele Verletzte. Die circa zweihundert Eidverweigerer leisteten dann schließlich doch den Militäreid, da man ihnen mit der Verstoßung aus dem Bürgerstand drohte.28 Diese „Breslauer Revolution von 1817“,29 wie Holtei sie bezeichnet, fand im Breslauer Publikum keine ungeteilte Zustimmung. In seinen Lebenserinnerungen ­zitiert Holtei seinen Freund, den Kanzleidirektor Walther, der die Niederschlagung des Bürgeraufstands mit den Worten kommentierte: „Gott sei Dank, daß meines Herrn und Königs Stellvertreter endlich einmal Ernst machen gegen diese infame Kanaille.“30 Diese „Breslauer Revolution“ war nach bürgerlicher Deutung also eine Aktion der „Kanaille“. Für Bürkner/Stein bestand diese Kanaille aus „Weibern, Handwerksburschen und Tagelöhnern“.31 Trotz des Mythos vom edlen Bürger und der Abgrenzung zum Pöbel entwickelte sich die Integration eines geschlossenen Bürgerstandes in Breslau nur recht langsam. Da gab es zum einen noch die Differenz zwischen Katholiken und Protestanten in der 27 Herzig, Arno: Die unruhige Provinz. Schlesien zwischen 1806 und 1871. In: Conrads, Norbert (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin 1994, 465–552, hier 471. 28 Bürkner/Stein: Geschichte, Bd. 2, 175; Weiß: Chronik, 1122f. 29 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 3, 17. 30 Ebd. 31 Bürkner/Stein: Geschichte, Bd. 2, 89.

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bürgerlichen Gesellschaft sowie zum anderen die Ausgrenzung der Juden. Das Breslauer Bürgertum war ausschließlich protestantisch geprägt. Impulse von katholischer Seite auf das gesellschaftliche Leben der Stadt, vom katholischen Schulwesen abgesehen, gab es kaum. Die katholischen Aufklärer schlossen sich im Umfeld der Leopoldina zusammen. Sie waren naturwissenschaftlich, theologisch, pädagogisch und literarisch aktiv. Katholische Aufklärer wirkten – von vereinzelten Ausnahmen, so dem Mathematiker Anton Michael Zeplichal, abgesehen – in der ökonomisch-patriotischen Gesellschaft kaum mit.32 Doch im Gegensatz zu dem verbissenen Antijesuitismus der Berliner Aufklärer um Nicolai sahen die Breslauer Aufklärer um Garve den Katholizismus gelassener. Nach der Neugründung der Universität 1811 gewannen auch die Katholiken einen stärkeren Einfluss auf das Breslauer Bildungsbürgertum. Das Judentum akkulturierte sich nach 1848. Durch die Humboldtsche Universitätsreform wurde das Niveau dieser Bildungseinrichtung sehr gesteigert. Wie in Holteis Lebenserinnerungen dokumentiert, musste nun, um zum Studium zugelassen zu werden, vor den Professoren eine Maturitätsprüfung abgelegt werden. Die Breslauer Studienordnung von 1811 sah die „freie Wahl der Lehrer und der Vorträge“ vor33 und verpflichtete die Studenten „zum unausgesetzte[n] fleißige[n] Besuch der Collegia“.34 Holteis Biografie zeigt, wie weit Anspruch und ­Realität auseinander liegen konnten. Doch war Holtei wohl auch in dieser Beziehung ein Grenzgänger. Es gab unter seinen bürgerlichen Freunden auch solche, „die“ – wie er schreibt – „in der Literatur leben, ohne ihre Brodstudien zu vernachläßigen; die bei strengem Ernste gegen sich selbst, tugendhaft bleiben, ohne Moral predigen zu wollen“.35 Sein Freund Friedrich Scholz, Predigersohn aus Bernstadt, gehörte zu ihnen. Er wurde später Stadtgerichtsdirektor in Oels. Holtei projiziert hier im Hinblick auf seinen Freund die Vorstellung eines Bürgers, der Bildungsambitionen und bürgerlichen Beruf auf einen Nenner zu bringen vermochte. Holtei selbst erfüllte dieses Ideal wohl kaum. Auch andere Studenten kamen diesem Humboldtschen Bildungsideal nicht nach und mussten erst einen Lernprozess mitmachen. Die Studenten, die von der nun aufgehobenen Frankfurter Universität nach Breslau kamen, waren dazu zunächst nicht bereit. Sie huldigten ihrem traditionellen Pennalismus, der sie in ihrem Selbstverständnis nicht nur von den Bürgern abgrenzte, sondern sie auch auf die „Philister“ herabsehen ließ. Sie provozierten auf der Straße und im Theater bewusst Zusammenstöße mit den Bürgern. Um es hier nicht zu fortgesetzten Spannungen kommen zu lassen und – wie es in einem Gutachten der Professoren heißt – „die keimenden Differenzen zwischen den Studenten und den Bürgern“ auszugleichen, richteten die Professoren 32 Brenker, Anne-Margarete: Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg/München 2000, 72f., 336. 33 Bürkner/Stein: Geschichte, Bd. 2, 89. 34 Vgl. den Beitrag „Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811“ in diesem Band. 35 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 2, 306.



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für die Studenten Clubs ein, in denen sie mit den Breslauer Bürgern verkehrten.36 Die „300 Universitätsfreunde“,37 so Holtei, die mit ihrem Applaus Holteis erstem Auftritt als Schauspieler zu einem mäßigen Erfolg verhalfen, vermitteln einen Eindruck von der Bedeutung, die Breslaus Studenten im öffentlichen Leben haben konnten. Studium und Theater sowie seine adlige Herkunft und die damit verbundenen Familienbeziehungen verschafften Holtei während seiner Breslauer Jahre bis 1823 Kontakte zu den führenden Kreisen der Breslauer Gesellschaft, vor allem zu Beamten, Gelehrten und Studenten sowie zu evangelischen Geistlichen. Interessanterweise hatte er kaum Kontakt zu Mitgliedern des führenden Breslauer Bürgerstands, der Kaufmannschaft, es sei denn, sie zählten zu den Gutsherren wie sein Obernigker Nachbar, der Gutsherr Schaubert, oder der Gutsherr des Nachbardorfes Heidevilxen, das – so Holtei – „den Erben eines angesehenen Breslauer Kaufmanns gehörig“.38 Im Widerspruch zu ihren eigenen Emanzipationsansprüchen ahmten Industrielle und Kaufleute, nicht nur in Schlesien, sondern auch im Westen Deutschlands, den Lebens- und Gesellschaftsstil der Adligen nach. Schauberts Mutter, die – wie Holtei schreibt – „in ehrsamer Breslauer Bürgerlichkeit aufgewachsen war“,39 führte einen Lebensstil nicht nur wie eine Adlige, sondern wie eine „verwitwete Fürstin“.40 Im Sommer besuchte sie ihre Söhne, die alle „Ländereien“ besaßen. Am liebsten kam sie auf das Gut ihres Sohnes in Obernigk, „wo sie selbst mit ihrem verstorbenen Gatten residiert hatte“,41 so Holtei. Als Gutsleute waren die Kaufleute nun gleichsam aus ihrem Stand herausgetreten und wurden vom Adel als gleichrangig akzeptiert, wie das Verhalten von Holteis Onkel beweist. Auch von den übrigen Bürgerlichen wurden sie in dieser abgehobenen Position gesehen und die dadurch entstandenen Standesschranken anerkannt. Deutlich wird dies an dem Verhalten des von Holtei geschätzten Obernigker Predigers Woite. In Weinlaune hatte ihm der Gutsherr Schaubert Bruderschaft und das Du angeboten, aber „hundertmal“ – wie Holtei schreibt – „wenn sie sich nach solchem Ereignisse der Zärtlichkeit wiedersahen, führte er [Woite, d. Vf.] den alten Stil wieder ein und redete den ‚Erb- und Gerichtsherren‘ [und für den Prediger vermutlich auch Patronatsherrn, d. Vf.] nur in der dritten Person an, wobei er den Adel, den unser Freund Schaubert bloß im Herzen trägt“,42 mit der „doppelsinnigen“ Anrede Herr von Obernigk umging. Der „Adel bloß im Herzen“ trug Schaubert – so Holtei – auf die Stufe des Geburtsadels, was auch einiges über Holteis Einschätzung des Adelsstandes aussagt, nach dessen Vorstellungen er erzogen 36 Vgl. den Beitrag „Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811“ in diesem Band. 37 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 2, 398. 38 Ebd., 14. 39 Ebd., 19. Die Kaufmannsfamilie Schaubert wurde nach der Revolution von 1848 geadelt. Der Gutsherr Carl Wolfgang Schaubert hatte 1835 die Entwicklung Obernigks zum Kurort eingeleitet. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ders.: Briefe aus und nach Grafenort. Altona 1841, 176f.

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Jugendbildnis Karl von Holteis

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worden war. Doch wollte Holtei nicht nur den Adel wegen seines „Breslauischen Kastengeistes“ anklagen. „Der reiche Breslauer Kaufmann“ – so Holtei – „benahm sich gegen den geringeren Beamten, den Künstler, den Gelehrten wahrlich nicht besser. Der ganze Zustand war, gelinde gesagt, ein abscheulicher.“43 Dass Holtei in seinen Lebenserinnerungen aus den 1840er Jahren feststellt, dass „junge Leute der Gegenwart [...] Mühe haben, [das] zu begreifen“,44 beweist die allmähliche Überwindung des Standesdünkels. Den Wandel sah er interessanterweise durch die verbesserte Mobilität und Kommunikation herbeigeführt, die mit der Schnellpost, „den gewaltigen Vorboten der Eisenbahnen“, gegeben war.45 Holteis Kontakt zu bürgerlichen Kreisen in Breslau war durch seine Beziehungen zu evangelischen Geistlichen, höheren Beamten sowie Gelehrten gegeben. Sein ­Wunsch, selbst evangelischer Geistlicher zu werden, hatte wohl mehr mit Theater als mit Theologie zu tun. Ernst zu nehmen war dies nicht. Die Breslauer „Philister“, so seine Feststellung, die in ihm einen „Ausbund von Leichtsinn, Inkonsequenz und ­Albernheit“ sahen,46 nahmen diesen Widerspruch auch nicht ernst. Doch brachte ihm dieser ­Wunsch „einige Bekanntschaften mit Geistlichen“ – wie er schreibt –, „an denen es in unserem Hause und unserer Familie niemals gefehlt hatte“.47 Holteis exaltiertes Verhalten ließ jedoch dergleichen Bekanntschaften mitunter scheitern. Holtei als – wie er sich bezeichnet – „geborener Protestant“ war an den Konflikten in der damaligen lutherischen Kirche in Breslau nicht interessiert,48 so an der 1817 von König Friedrich Wilhelm III. verordneten preußischen Union, die bei den Altlutheranern auf entschiedenen Widerspruch stieß.49 Holtei reflektiert diese Kontroverse jedenfalls nicht in seinen Lebenserinnerungen. In seiner romantischen Auffassung stand er sowohl der rationalistischen Theologie als auch dem Altluthertum des Breslauer Bürgertums fremd gegenüber. Wie sein Freund Ludwig Tieck – dieser allerdings bereits in den 1790er Jahren – den Katholizismus als Herzenssache entdeckte, folgte ihm Holtei hier 1819 während seines Grafenorter Aufenthalts. In der Grafschaft Glatz lebte – trotz eines gewissen Rationalismus ­unter den Pfarrern – doch ein ungebrochener Barockkatholizismus, der sich in Bruderschaften, Wallfahrten und der sakralen Landschaft dokumentierte. „Nirgends“ – so schreibt Holtei 1839 in seinen „Briefen aus und nach Grafenort“ – „so viele Kapellen, 43 Ders.: Vierzig Jahre, Bd. 2, 385. 44 Ebd. 45 Ebd., 386. 46 Ebd., 352f. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Herzig: Unruhige Provinz, 527f. Dagegen befasste sich Holteis Lehrer und Freund Henrich Steffens eingehend mit dem Konflikt der Altlutheraner, mit deren Wortführer Johann Gottfried Scheibel er befreundet war. Vgl. Steffens, Henrich: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. 1–10. Breslau 1840–1844 [ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1995–1996], hier Bd. 10, 86–95.

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Marienbilder, Votivtafeln, Kruzifixe, Wallfahrten, Kreuzwege, fromme Bruderschaften, Vereine und Stiftungen als hier“.50 Damit beschreibt er in wenigen Worten den Grafschafter Barockkatholizismus, von dem er sich als „Ketzer“ „weniger [...] beängstigt“ fühlte.51 Es war der „eigentümliche Geist“ dieser religiösen Landschaft, der ihn anzog.52 Seine spätere Frau, die Schauspielerin Louise Rogee, die er in Grafenort kennenlernte, war eine „gute katholische Christin“.53 Ihr gemeinsamer Sohn Heinrich, der 1836 in Grafenort starb, war allerdings gemäß dem damals in Preußen gültigen Kirchenrecht nach der Religion des Vaters, also protestantisch, getauft worden. Seinen Lebensabend beschloss Holtei bei den Barmherzigen Brüdern in Breslau, ohne dass er zur katholischen Kirche konvertiert war. Ähnlich wie mit seinen religiösen war es mit Holteis politischen Ambitionen bestellt. Sie waren – zumindest was seine Breslauer Studentenzeit betrifft – nicht ernst zu nehmen. Durchgängig ist seine konservative, ja restaurative oder gar reaktionäre Einstellung. Er befürwortete die Heilige Allianz, und seine frühen Stücke verraten einen ungebrochenen Royalismus.54 Eher eine Caprice und nicht politische Überzeugung war seine Mitgliedschaft in der Burschenschaft und der Turnbewegung. Er wollte damit den Professoren einen Gefallen tun, die ihn glimpflich durch das Maturitätsexamen gebracht hatten und die – wie er schreibt – „sämtlich Gegner des 50 51 52 53

Holtei: Briefe, 124. Ebd. Ders.: Vierzig Jahre, Bd. 2, 230. Ebd., 242. In seiner Pfarrchronik bemerkt der damalige Grafenorter Pfarrer Anton Heinrich (Amtszeit 1806–1831), der der Theaterleidenschaft seines Patronatsherrn Graf Hieronymus von Herberstein distanziert gegenüberstand, für das Jahr 1814: „Es befand sich seit drey Jahren, so oft der Reichsgraf zu Herberstein das hiesige Majorat besuchte, und sich hier aufhielt in seiner Gesellschaft eine Frau Nahmens Pedrillo, ihr Geschlechtsnahme war Eigensatz, eine Schauspielerin, früher am Berliner, später am Wiener Hoftheater woselbst der Graf sie kennengelernt hatte. Sie hatte ein Mädchen bey sich, von 15 Jahren, welche Sie ihre Pflegetochter nannte. Noch hatte dieses Mädchen keinen zusammenhängenden Unterricht in der Religion genossen, weil der Aufenthalt der Madam Pedrillo immer unstätt gewesen war. Da nun Madam sich im laufenden Jahr abermahls mit dem Grafen, von May bis in den November hier aufhielt, so wurde mir das Mädchen, Louise, mit Nahmen zum Unterricht übergeben, und ich wurde ersucht, ihr nach ertheilter hinlänglicher Belehrung, das hl. Abendmahl zu reichen. Dieses geschah am 4ten November um 9 Uhr des Morgens, und zwar auf einer Figuralmesse [Messe mit Orchesterbegleitung, d. Vf.], hielt ich nach der geistlichen Communion zuerst eine Anrede an die zur Confirmirende, worauf Sie die feyerliche Verheißung, ein tugendhaftes Leben führen zu wollen, laut von sich geben mußte. Während der Communion wurde vom Chor ein Lied von der Feldmusik begleitet abgesungen. Nachdem die Messe vollendet war, hielt ich eine zweyte Anrede an Sie, in welcher ich Sie auf die Gefahren ihrer künftigen Laufbahn /: Sie war zu einer Schauspielerin bestimmt, aufmerksam machte und Sie vor denselben zu bewahren bemüht war.“ Archiwum Parafii w Gorzanowie, Tagebuch der Pfarrer zu Grafenort [...], A. R. No. 2. Pf. A. Zu Holteis Grafenorter Zeit vgl. BauklohHerzig, Sonja: Karl von Holtei und das Schlosstheater in Grafenort. In: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz 5 (2006) 1–11; Dziemianko: Der junge Karl von Holtei, 156–160. 54 Dziemianko: Der junge Karl von Holtei, 310–315.



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Theaterbühne im Schloss Grafenort zur Zeit Holteis, als unter dem Grafen Johann Hieronymus von Herberstein das Theaterleben in der Grafschaft Glatz einen Höhepunkt erlebte. An der Bühne wirkten der Schauspieler Karl Seydelmann (1793–1843), der in Grafenort seine Schauspiellaufbahn begann sowie Karl von Holtei (1798–1880) und Holteis Ehefrau Louise Rogee (1800–1825). Holtei führte am Theater in Grafenort ebenso klassische wie Boulevardstücke auf, aber auch kleine Opern. Die musikalische Leitung hatte der Grafenorter Kantor Josef Simon (1770–1840) inne. Die Dorfbewohner hatten zu den Theateraufführungen Zutritt. Holtei leitete das Theater bis 1844. Seine letzte Inszenierung war sein Stück „Die Majoratsherrn“.

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alten verrosteten Universitäts-Treibens“ und deshalb Gönner und Förderer des gerade entstandenen Burschenwesens waren.55 Holtei wusste, dass dies politisch nicht ganz ungefährlich war. Der Deutschtümelei und dem Antisemitismus, die für manchen Burschenschafter bezeichnend waren, war Holtei abgeneigt. Was ihn wohl reizte, war die extravagante Tracht: die langen Haare, das Barett, der deutsche Rock und die Stulpenstiefel, weniger die politischen Ideen. Auch der Fechtboden interessierte ihn nicht sonderlich. Die Mensur schwänzte er zugunsten der Vorträge des „sanften Büsching“ über altdeutsche Kunst und Literatur.56 Unter den Kollegs interessierten ihn die Geisteswissenschaften, obgleich er eigentlich Jurist war. Begeistert war er vor allem von Henrich Steffens, dessen Vorträge ihn „Menschen und Dinge um ihn her“ vergessen ließen.57 Bald gehörte er auch zu Steffens’ engerem Zirkel, der zum Tee zu ihm nach Hause eingeladen wurde. Zu den Einladungen in bürgerliche Häuser, die – wie angemerkt – zur Integration der Breslauer Studenten in die städtische Gesellschaft beitragen sollten, gehörten die Einladungen in die Häuser des Justizkommissarius Meyer sowie seines Kollegen Stöckel. Letzterer war – wie Holtei schreibt – „begeistert für alles, was ihn entzückte, unerbittlich gegen Alles, was ihm schlechter schien“.58 Zu dem „Schlechteren“ zählten für ihn offensichtlich die Juden. Stöckel gehörte offenkundig zu den Antisemiten der Restaurationszeit, die auf alle Fälle die Emanzipation der Juden zu verhindern suchten. Bei einer Clubsitzung im Haus des Justizkommissars Meyer machte Stöckel aus seinem Judenhass kein Geheimnis und polemisierte gegen „die löbliche Judenschaft Breslaus im Allgemeinen“ und Holteis Freund Johann Wilhelm Loebell im Besonderen.59 Holtei verteidigte diesen – wie er schreibt – „von mir geehrten, sehr geehrten Mann, der übrigens längst getauft war“.60 Der Historiker und Philologe Loebell war, um als Lehrer tätig sein zu können, konvertiert. Trotz der preußischen Judenemanzipation von 1812 und Hardenbergs Versuch, den Juden auch alle akademischen Berufe zu öffnen, waren diese Möglichkeiten nach den sogenannten Befreiungskriegen von staatlicher Seite wieder eingeschränkt worden. Nach seiner Konversion war Loebell Geschichtslehrer an der Kriegsschule in Breslau, promovierte 1818 an der dortigen Universität und erhielt 1829 einen Ruf als Professor für Geschichte an die Universität Bonn.61 Gegen die Anwürfe Stöckels verteidigte Holtei seinen Freund „in ruhiger Fassung“, was – wie er anmerkt – 55 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 2, 292–295. 56 Ebd., 288. 57 Ebd., 296f. Steffens stand Holteis Schauspielkunst sehr distanziert gegenüber, hielt aber viel von dessen dichterischem Talent. Dass Holtei ihn in einer seiner Komödien „dem Gelächter preisgegeben“ habe – offensichtlich ging es dabei um Steffens’ „naturphilosophische Betrachtungen“ –, nahm er ihm nicht übel. Steffens: Was ich erlebte, Bd. 9, 332–339. 58 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 3, 12. 59 Ebd., 14f. 60 Ebd. 61 Killy, Walther: Loebell, Johann Wilhelm. In: ders. (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1–13. Darmstadt 1995–2000, hier Bd. 6, 438.



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nicht seine Art war.62 Holtei führte Stöckels Antisemitismus auf dessen Beruf als Justizkommissar zurück, in dem er „manchen jüdischen Wucherer“ – so Holtei – als Prozessgegner kennengelernt habe.63 Dies war ein typisches Stereotyp, das nicht zutraf. Die Quellen aus dieser Zeit belegen, dass die jüdischen Geldleiher in Schlesien nicht mehr als fünf bis sechs Prozent Zinsen nahmen, was Holtei übrigens auch für das Geld aus seiner mütterlichen Erbschaft erhielt. Dass viele schlesische Adlige und auch Bürgerliche im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert einen rasanten „Güterschacher“ betrieben und häufig bei wechselnden Bodenpreisen und einer nicht gerade sparsamen Lebensführung Konkurs gingen, war nicht den jüdischen Geldleihern zuzuschreiben. Holteis Onkel und auch Joseph von Eichendorffs Vater sind gute Beispiele dafür. Doch auch Eichendorff, vor allem aber Achim von Arnim und wie hier Holtei schrieben die Schuld an den Konkursen der adligen Gutsbesitzer den Juden zu.64 Trotz dieser Einschätzung war Holtei kein Antisemit wie viele seiner dichtenden Zeitgenossen. Doch außer zu Loebell, der wie erwähnt konvertiert war, hatte er in Breslau keinen Kontakt zu den dortigen Juden, deren Oberschicht sich nach der Aufklärung in einem längeren Prozess in die bürgerliche Gesellschaft akkulturierte.65 Engeren Kontakt zu Juden gewann Holtei in Wien und dann vor allem in Berlin. Bereits in Wien hatte er im Ludlambund, einer Künstlervereinigung, Moritz Saphir kennen gelernt, mit dem ihn in Berlin dann zunächst eine nicht unproblematische Freundschaft verband. Saphir gab in Berlin von 1826 bis 1829 die „Berliner Schnellpost“ heraus, in deren Theaterkritiken er auch nicht Holteis Tätigkeit am Königstädter Theater verschonte. Holtei hatte sich Saphirs Plan, in Berlin eine Zeitschrift zu gründen, widersetzt, zumal er von Saphirs „schwülstiger und hyperpoetischer Manier“ nicht sehr angetan war.66 Dass Holtei Saphirs Zeitschriftenpläne bei der Königstädter Theaterleitung hintertrieb, empfand er selbst als „unfreundschaftlich“.67 Dennoch blieb Saphir ihm in „unverstellte[r] Herzlichkeit“ zugetan.68 Mit dem Erscheinen der „Schnellpost“ (1. Januar 1826) kühlte sich vonseiten Holteis das freundschaftliche Verhältnis ab. Er musste 62 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 3, 14f. 63 Ebd. 64 Frühwald, Wolfgang: Autoren. In: Horch, Hans Otto/Denkler, Horst (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Tl. 1–3. Tübingen 1988–1993, hier Tl. 1, 345; vgl. auch Herzig, Arno: Schlesiens Juden im Übergang von der Privilegienwirtschaft zur Marktwirtschaft um 1800. In: ders./Brämer, Andreas/Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien [im Druck]. 65 Vgl. den Beitrag „Der Beitrag der schlesischen Juden zur Kultur des Landes“ in diesem Band. 66 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 3, 321–325; Killy, Walther: Saphir, Moritz Gottlieb (1795–1858). In: ders. (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 8, 517; Meyer, Michael A.: Deutsch werden, jüdisch bleiben. In: ders./Brenner, Michael/Jersch-Wenzel, Stefi (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation, 1780–1871. München 1996, 208–260, hier 231–234. 67 Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 3, 321–325. 68 Ebd.

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sich eingestehen, dass er Saphirs Fähigkeiten unterschätzt hatte. Mit seinem Witz und Spott traf dieser durchaus ein Bedürfnis des Berliner Publikums und wurde hierin auch von Berliner Größen wie dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel sowie dem Juristen Eduard Gans und dem Dichter Willibald Alexis unterstützt.69 Saphirs Spott traf auch Holtei, was diesen verständlicherweise sehr verletzte, auch wenn er über manche Artikel – wie er schreibt – lachen musste. Schließlich schrieb er Saphir ein „förmliches Absagebriefchen“,70 das er selbst sehr kindisch und albern fand und wobei ihm klar war, dass bei den Anfeindungen Saphir „himmelschreiendes Unrecht geschehen war“.71 Bezeichnend für Holtei ist, dass er trotz seiner Polemik gegen Saphir nie in ein judenfeindliches Klischee verfiel, wie wir dies bei Achim von Arnim und Clemens von Brentano finden. Für Holtei zählten die Juden offensichtlich zur bildungsbürgerlichen Gesellschaft. Vermutlich hatte er sich hier von dem intellektuellen Antisemitismus der Mittwochsgesellschaft, in der er verkehrte, nicht anstecken lassen. Dass es für ihn „Wucherjuden“ gab,72 wie er im Hinblick auf Stöckels Äußerung schreibt, hängt wohl auch damit zusammen, dass Holtei alles andere als ein homo oeconomicus war, der in das nun beginnende kapitalistische Zeitalter hineingepasst hätte. Der Handel war ihm zuwider, wie eine kleine Episode aus seiner Elevenzeit in Obernigk verdeutlicht. Was er auf dem Kornmarkt von Jauer erlebte, weckte in ihm einen „tiefeinwurzelnden Hass, eine gründliche Verachtung gegen die Händler, die auf jede Weise den Preis der Früchte herabzudrücken suchten und in ihrer Kunstfertigkeit zu feilschen, zu tadeln, zu bieten [...] die habsüchtigste Gier an den Tag legten [...] und ich sah“ – so fährt er fort – „durch solche Szenen die letzten Blüten abgestreift vom Stande des Landmanns“.73 Doch auch bei dieser Schilderung fehlt eine spezifische Erwähnung der sogenannten Kornjuden, die sonst allgemein mit den hier von Holtei beklagten Geschäftspraktiken angeführt wurden. Die Verkaufspraktiken auch der Gutsbesitzer, die er in seiner Obernigker Elevenzeit kennenlernte, blieben ihm fremd, und deshalb verlor das bürgerliche Leben für ihn nie den Charakter des Philistertums. Die Welt der Ökonomie stand im Gegensatz zur Welt der Poesie. Doch verfolgte ihn Erstere immer wieder. Als er 1839 in Grafenort die Theatersaison eröffnen wollte, war Graf Hieronymus von Herberstein noch nicht eingetroffen, und er musste mit dem Oberverwalter vorlieb nehmen. Resigniert stellt er dabei fest: „Aber – es ist mit Keinem zu reden. Ihr ökonomisches Geschäft nimmt jede Richtung des Gesprächs in Beschlag [...] Frag ich den Oberverwalter: wie geht’s? so antwortet er: Raps! Sag ich zu seinem Sohn Theodor: guten Morgen! erwidert dieser: Raps! und mach ich dem Amtsschreiber meinen Bückling, lächelt derselbe mich sehr artig an und äußert: Rips-Raps, Reps, Rips. Weiter vernehm ich nichts im ganzen Schloßhofe [...]. Und nähme ich Flügel der Morgenröthe 69 70 71 72 73

Ebd., 325. Ebd., 330. Ebd. Ebd., 15. Ebd., 24f.



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und flöge hinauf gen Hüttengut, so würden die Thiere des Waldes, anstatt zu zwitschern, glaub ich, nur rapsen, repsen und ripsen.“74 Diese Sommerfrucht, der Raps, so seine resignierte Feststellung, verscheuche „die Poesie des sommerlichen Landlebens“.75 Holtei verschloss sich der bürgerlichen Welt und ihrer Ökonomie, die auch das idyllische Landleben bestimmte. Wie die Ökonomie des Bürgertums, so ließ ihn auch die aktuelle Politik unberührt. Eine ganz knappe Bemerkung in seinen Lebenserinnerungen lässt das vermuten: „die Breslauer Revolution vom Jahr 1817“ – so seine Begründung – die er miterlebt hatte, „verschweigt“ er in diesem Buch „aus guten Gründen“.76 Wie seine Lebenserinnerungen für die Breslauer Jahre erkennen lassen, war Holtei ein recht unpolitischer Mensch. Die politischen Ereignisse in Breslau interessierten ihn nicht. Nur so ist wohl das „Verschweigen aus guten Gründen“ zu verstehen. Holtei besaß eine politische Anschauung, die von einem konservativen Royalismus geprägt war, der sogar reaktionäre Züge aufwies, wenn man an sein Eintreten für die Heilige Allianz denkt. Diese Grundeinstellung schloss nicht aus, dass er sich emotional für politische Ideen begeisterte, die der Politik der Heiligen Allianz zuwiderliefen, so bei seinem vorübergehenden Enthusiasmus für die Burschenschafts- und Turnerbewegung wie auch seiner Polenbegeisterung und seinen kleinen Scharmützeln mit der Zensur. Dahinter verbarg sich kein aktives politisches Engagement. Vom Theater abgesehen, interessierte er sich in seinen frühen Breslauer Jahren auch nicht für das öffentliche gesellschaftliche Leben der Stadt. Von einer Teilnahme an dem regen Vereinsleben der Stadt ist nirgends die Rede. Bürgerliche Anerkennung bedeutete ihm nichts, wie er nach dem Theaterskandal 1823 in einer öffentlichen Erklärung ausführt: „Der dramatische Künstler“ solle sich nicht in „Gesellschaften drängen“ und „über dem Haschen nach bürgerlicher Bedeutung“ sein eigentliches Ziel – gemeint ist offenkundig das Engagement für das Theater – aus den Augen verlieren.77 Mit dem Theaterskandal von 1823 endete Holteis Breslauer Zeit. Niedergeschlagen und psychisch angegriffen fand er Zuflucht – wie er schreibt – „in der schönen, reinen Bergluft“ von Grafenort,78 die ihm besser bekam als die durch die Ohle verpestete Luft Breslaus.

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Ders.: Briefe, 7f. Ebd. Ders.: Vierzig Jahre, Bd. 3, 17. Zit. nach Dziemianko: Der junge Karl von Holtei, 215. Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 3, 173.

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29. Die Angelus Silesius-Rezeption durch Wilhelm Bölsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts In seinem Aufsatz „Die Verbreitung deutscher Literatur durch schlesische Buchdrucker und Buchhändler“ weist Hans-Joachim Koppitz auf die zwei Epochen hin, in denen Schlesiens Literaturgeschichte überregionale Bedeutung gewann: das Barock und den Naturalismus.1 So unterschiedlich beide erscheinen mögen, so gab es doch eine Beziehung vom Naturalismus zur Mystik des Barocks, als ab der Mitte der 1890er Jahre der Kreis um Gerhart Hauptmann (1862–1946) in Schreiberhau sich mythischen, ja mystischen Stoffen zuwandte.2 Zu diesem Kreis gehörte auch Wilhelm Bölsche (1861– 1939), der wie ein Irrlicht durch die Literatur der Kaiserzeit geistert. Als Autor und ­Mitinitiator der Berliner „Freien Volksbühne“, die der Sozialdemokratie nahestand, hatten Bölsche und sein Freund Bruno Wille (1860–1928) versucht, ihr sozialistisches und kulturreformerisches Kunstprogramm in das Kulturprogramm der SPD einzubringen, waren aber von der Partei abgewiesen worden. Die Mehrzahl der Genossen wollte keinen Naturalismus, den Bölsche und Wille 1890 in ihrem Gründungsaufruf für die „Freie Volksbühne“ als „Kunst des Proletariats“ anpriesen.3 Bei der Statutenberatung verlangte die Mehrheit „volkstümliche Stücke“.4 Bruno Wille gründete deshalb in Übereinstimmung mit Wilhelm Bölsche 1892 die „Neue Freie Volksbühne“, bei deren Auswahl der Stücke nur die Kunst ausschlaggebend sein sollte, nicht aber der Klassencharakter. Immerhin kamen durch die Volksbühne Gerhart Hauptmanns „Weber“ und „Der Biberpelz“ (1893) zur Aufführung. Doch wirkte Wilhelm Bölsche weniger aufgrund seines Naturalismuskonzepts auf die Sozialdemokratie denn als Populator des Darwinismus. Seine populären Darstellungen „Das Liebesleben in der Natur“ (1898) und die „Entwicklungsgeschichte der Natur“ wurden zu Bestsellern in den Bibliotheken der Arbeiterbewegung, nachdem diese durch Karl Kautsky (1854–1938) den Sozialdarwinismus als Erklärungsmodell für die gesellschaftliche Entwicklung entdeckt hatte.5 Das Engagement für den Naturalismus 1 Koppitz, Hans-Joachim: Die Verbreitung deutscher Literatur durch schlesische Buchdrucker und Buchhändler. In: Myosotis. Zeitschrift für Buchwesen 2 (1997) 33–46, hier 33. 2 Szymanski-Störtkuhl, Beate/Ilkosz, Jerzy: Baumhaus und Turmvilla. Zur Architektur der Künstlerkolonie im Riesengebirge. In: Bździach, Klaus (Hg.): Die imposante Landschaft. Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert/Wspaniały krajobraz. Artyści kolonie artystyczne w Karkonoszach w XX wieku. Berlin/Jelenia Góra 1999, 104–126. 3 Wille, Bruno: Erziehung des Proletariats zur ‚wahren Kunst‘. In: Rüden, Peter von (Hg.): Beiträge zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1848–1918. Frankfurt a. M./Wien/Zürich 1979, 5–35, hier 29f. 4 Ebd. 5 Steinberg, Hans-Josef: Lesegewohnheiten deutscher Arbeiter. In: Rüden (Hg.): Beiträge, 261– 280, hier 279; Hamacher, Wolfram: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg 1993, 20.



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Der Schriftsteller Wilhelm Bölsche (1861–1939) publizierte im renommierten Verlag Eugen Diederichs 1905 den „Cherubinischer Wandersmann“ von Johannes Scheffler, genannt Angelus Silesius (1624–1677), und interpretierte das Werk aus zeitgenössischer Sicht der ­Jahrhundertwende.

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hatte Bölsche und Wille in Berlin zu Freunden Gerhart Hauptmanns werden lassen, der sie ins Riesengebirge einlud, wo sie mit den beiden Brüdern Hauptmann seit 1895 ­gleichsam eine Künstlerkolonie bildeten.6 Mit dem älteren Carl Hauptmann (1851– 1921) verband Wilhelm Bölsche die monistische Auffassung Ernst ­Haeckels (1834– 1919), die von einer Einheit der Materie und der Seele, der Natur und des Gottwesens ausging.7 Dies führte Bölsche zum Spiritismus, mit dem sich sein Roman „Die Mittagsgöttin. Ein Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart“ (1891) auseinandersetzt.8 Die zeitgenössische Rezeption dieses Romans sah die Darstellung des Haupthelden Wilhelm „im Spannungsfeld von Mystik und Rationalität“.9 Tatsächlich – so Bölsche in seinem Vorwort – sei diese Figur „wie eine Pulvertonne mit Verlangen nach Mystik geladen“.10 Doch löste der Spiritismus nicht die letzten Rätsel und führte auch nicht zur Harmonie von Pantheismus und Naturwissenschaft. Dem fühlte sich der Giordano Bruno-Bund verpflichtet, den Bölsche 1900 mit Bruno Wille, Ernst Haeckel, Rudolf Steiner und anderen gründete.11 Die Kritik an der Großstadt und am bloßen Materialismus führte zu eigenartigen esoterischen Zirkeln, die in Ablehnung der Großstadt eine Einheit von Naturverbundenheit und romantischer Sehnsucht nach Innerlichkeit als letztlich mystischem Erlebnis anstrebten. Im Riesengebirge formierte sich ein solcher Zirkel um die Sagenhalle, die Bruno Wille und der Maler Hermann Hendrich (1854– 1931) initiiert hatten und die in Schreiberhau errichtete wurde. Ihr soziales Engagement hatten Wilhelm Bölsche und Bruno Wille dennoch nicht aufgegeben. So mitbegründeten sie 1902 die „Deutsche Gartenstadtgesellschaft“, die auch dem einfachen Arbeiter ein eigenes Haus und Garten ermöglichen sollte. Allerdings standen auch dahinter die Ablehnung der Großstadt und der Versuch, den entwurzelten Arbeiter zur Natur und damit zur Innerlichkeit zurückzuführen.12 Diesem Welt- und Lebensgefühl entsprach die Hinwendung zur Mystik, vor allem zu den schlesischen Autoren des 17. Jahrhunderts. Carl Hauptmann studierte die Schriften Jakob Böhmes und erlebte sich gleichsam als Wiedergeburt dieses Mystikers, wenn er auch mit seinen Termini wie „Schauenseele“, „Erleuchtung“, „Sehnsucht“ recht unpräzise blieb.13 Als Wilhelm Bölsche 1904/05 für den anspruchsvollen Eugen Diederichs-Verlag in Jena eine bibliophile Ausgabe von Angelus Silesius’ „Cherubinischer Wandersmann“ nach der Ausgabe von 1675 herausgeben sollte, befasste er sich in einem 6 Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1–3. München 1960–1974, hier Bd. 3, 197f. 7 Ebd., 198. 8 ����������������������������������������������������������������������������������������� Bölsche, Wilhelm: Die Mittagsgöttin. Ein Roman aus dem Geisteskampf der Gegenwart. Stuttgart 1891. Neuausgabe in ders.: Werke und Briefe, Bd. 1–2. Hg. v. Gerd-Hermann Susen. Berlin 2005–2012, hier Bd. 2. 9 Bölsche: Mittagsgöttin, X. 10 Ebd. 11 Hamacher: Wissenschaft, 21. 12 Szymanski-Störtkuhl/Ilkosz: Baumhaus, 105–109. 13 Lubos: Geschichte, Bd. 3, 201.



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einleitenden Essay mit dem Thema „Über den Wert der Mystik für unsere Zeit“.14 Die monistische Auffassung der Einheit von Natur und Gotteswesen bestimmte Bölsches nicht widerspruchsfreie Auffassung von der Mystik. Er setzte zunächst als Hypothese, dann aber als Realität eine Tiefenschau, die nicht in die Kausalität der äußerlichen Weltvorgänge einzuordnen sei. Die Mystik als Grundphänomen der Menschheit sei innere Erlösung außerhalb aller Zeit- und Raumerfahrung. Wer Raum und Zeit aufhebe, erlebe das vollkommene Glück, die höchste Seligkeit. Dies sei nicht durch den Verstand zu bewerkstelligen, sondern nur als Tiefenschau. Bölsche sah die Liebe als Angelpunkt, in dem sich das Zeitige und das Ewige deckten. Die Tiefenschau hebe alle naturwissenschaftlichen und mathematischen Gesetze auf. Das Gesetz der Asymptote, nach dem sich Gerade und Hyperbel auch im Unendlichen nicht treffen, wurde bildlich gesprochen von Bölsche aufgehoben: Die Mystik suche die ewige Seligkeit im Zeitlichen.15 Recht selektiv versuchte Wilhelm Bölsche, sein Mystikverständnis auf die Geschichte anzuwenden. Johannes Scheffler, der sich mit einem programmatischen Namen Angelus Silesius nannte, sah er am Ende einer nahezu vierhundertjährigen Tradition der deutschen Mystik, die er mit Meister Eckhart beginnen ließ. Nachdem der Germanist Franz Pfeiffer (1815–1868) 1857 erstmals Eckharts deutschsprachiges Werk veröffentlicht hatte, begann die weltanschauliche Vereinnahmung.16 Meister Eckhart faszinierte auch linke Intellektuelle wie Gustav Landauer (1870–1919).17 Dieser hatte mit Bölsche und Wille die „Neue Freie Volksbühne“ mitbegründet. 1891 war er mit der Gruppe der „Jungen“ aus der SPD ausgeschlossen worden. Landauer faszinierten – und das entsprach seiner jüdischen Herkunft – die spirituellen Elemente des Judentums, aber auch die Mystik Meister Eckharts, den er ins Deutsche übersetzte und 1903 ebenfalls im Verlag Eugen Diederichs publizierte. Meister Eckhart, von dem die Papstkirche 1329, ein Jahr nach seinem Tod, 17 Sätze als häretisch und elf als häresieverdächtig verurteilt hatte, galt vielen – freilich nicht Gustav Landauer – als Prototyp deutscher Religiosität. Auch für Bölsche verkörperte Eckhart gleichsam die Vermählung vom Grundgeist des Christentums mit echtem deutschem Geist. Erst durch die Mystik sei Deutschland zum Christentum bekehrt worden.18 Die historische Kirche – so Bölsche – habe es nicht geschafft, aus den Herzen wie aus einem Stein Feuer zu schlagen, erst der Vermählung von Christentum und deutschem Geist in der Mystik sei dies gelungen. Die Kirche der Mystiker war nach Bölsche gleichsam eine Kirche der Außenseiter, denn die katholische 14 ������������������������������������������������������������������������������������������ Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Nach der Ausgabe letzter Hand von 1675 vollständig hg. und mit einer Studie „Über den Wert der Mystik für unsere Zeit“ eingeleitet von Wilhelm Bölsche. Jena 1904, 1921. Für die Untersuchung wurde die Ausgabe von 1921 herangezogen. 15 Ebd., I.LXIX. 16 Steer, Georg: Eckhart von Hochheim, auch Meister Eckhart, Dominikaner, Philosoph, Theologe, Prediger, Mystiker. In: Killy, Walther (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1–13. Darmstadt 1995–2000, hier Bd. 3, 13–15. 17 Brandt, Peter: Landauer, Gustav, Schriftsteller, Philosoph. Ebd., Bd. 6. Darmstadt 1997, 215. 18 Bölsche: Über den Wert der Mystik. In: Angelius Silesius: Cherubinischer Wandersmann, L.

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Johannes Scheffler (1624–1677) konvertierte 1653 zum katholischen Glauben und legte das öffentliche Bekenntnis am 12. Juni in der Matthiaskirche in Breslau ab. Dem Namen Johannes Angelus, den er mit dem Übertritt zur katholischen Kirche erhielt, fügte er in seinen Schriften den Zusatz Silesius bei. Scheffler, der sich schon während seines Medizinstudiums intensiv mit den mittelalterlichen Mystikern befasst hatte, erhielt entscheidende Impulse von dem zeitgenössischen schlesischen Mystiker Abraham von Franckenberg (1593–1652).

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Kirche – gemeint ist die vorreformatorische – habe es nicht verstanden, „den Frühling der Seele“ in sich aufzunehmen.19 Aber auch die Reformation brachte keine Fortsetzung der Tiefenschau. Eine Wende – so Bölsche – kam erst mit dem „großen Dichter“ Angelus Silesius:20 Er habe die alte deutsche Mystik noch einmal zu einem Höhepunkt geführt. Dieser Mystiker sei gleichsam geschichtslos, da er in das ungeschaffene Meer der bloßen Gottheit eintauchte, also über Raum und Zeit stehe: „Ich bin so groß wie Gott, er ist so klein wie ich.“21 Mit diesem oder zahlreichen Zitaten ähnlicher Art belegt Bölsche die einzigartige Kunst des Angelus Silesius, der für ihn ein „wahrer Meister der Logik und der Schärfe“ war, freilich „gebannt von der Innenschau“.22 Bölsche überbewertet sicher den Rang von Johannes Scheffler, wenn er für „die gesamte Mystik der Menschheit keinen klareren dichterischen Ausdruck“ feststellen kann als die Verse des „Cherubinischen Wandersmann“.23 Es ist für ihn „eine faustische Dichtung der Menschenseele“.24 Allerdings hat auch Bölsche ein Problem, wenn er – wie die meisten Interpreten – das 1675 zum ersten Mal publizierte sechste Buch des „Cherubinischen Wandersmanns“ in „unvereinbarem Kontrast“ zu der Tiefenschau des sonstigen Werkes sieht.25 Aus dem Herrendichter wurde für ihn ein Dienerdichter, der wie ein Schüler eine notgedrungene Hausaufgabe verfasst habe. Dennoch blieb Angelus Silesius für Bölsche ein großer Dichter, allerdings mit zwei Seiten wie ein Januskopf: einmal „der größte Dichter der Tiefenschau“, dann (aber immerhin) „der größte Dichter der christlichen Dogmatik“.26 Auch für Bölsche liegt Schefflers „streng mystische Periode“ vor seiner Konversion vom Protestantismus zum Katholizismus im Jahr 1651.27 Doch die Erklärung, die Bölsche für die Konversion Schefflers und dessen Entwicklung zu einem „orthodoxen Fanatiker“ bietet,28 trägt kaum zur Aufklärung dieses komplexen Sachverhaltes bei. Scheffler konvertierte zum Katholizismus, weil sich nach Bölsche im Katholizismus die frühe Mystik entwickelt habe, während der Protestantismus diese nicht aufgenommen habe. Dass freilich Angelus Silesius im Katholizismus nicht zum „Reformator“, sondern zum Fanatiker wurde, blieb auch Bölsche „schleierhaft“.29 Er wurde zum „entseelten dürren Reis“,30 da er die Liebe verloren habe, die die Basis der Mystik sei. Dennoch bleibe der „Cherubinische Wandersmann“ ein „köstlicher Trank“ aus verschüttetem Keller“ vor 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd., LX. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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allem für den, der „Gott nicht im Dom, sondern in der einsamen Stille“ suchte.31 Derjenige könnte auch den „ganzen Cherubinischen Wandersmann“ lesen, „den Engel und den Poltergeist“,32 „immer aber wird ihn der ganze Dichter freuen“.33 Es wird wohl deutlich, dass Bölsche alles daran setzte, Angelus Silesius als den größten Dichter der Tiefenschau zu verteidigen. Zeitgenossen von Bölsche und auch spätere Interpreten, soweit sie nicht den katholischen Dichter Angelus Silesius apologetisch verteidigen, zeichneten das Bild des Dichters kritischer. Die Größe und Einmaligkeit, die Bölsche Angelus Silesius attestierte, wurde von der allgemeinen Rezeption doch sehr in Zweifel gezogen. Der wohl beste Johannes Scheffler-Kenner und Interpret Georg Ellinger, der 1927 bei Korn in Breslau eine Schefflerbiografie herausbrachte, nachdem er seit 1895 die Werke des Angelus Silesius publiziert hatte, kommt zu dem Schluss, dass Scheffler nicht viel Eigenes biete, sondern fremden Ideenschatz verarbeite und dabei besonders auf der Ideenwelt des Czepko-Kreises fuße. Auch betont er die starke Abhängigkeit Schefflers von Meister Eckhart und Valentin Weigel (1533–1588).34 Weigel, Scheffler und auch Jakob Böhme fußen auf Meister Eckhart, auch wenn dessen Predigten zu ihrer Zeit noch nicht im Druck vorlagen, die Mystiker des 17. und 18. Jahrhunderts also auf eine der zahlreichen Handschriften zurückgreifen mussten.35 Es war Eckharts Neuplatonismus, das Ausfließen Gottes in die Geschöpfe, den Angelus Silesius aufnahm, aber auch die Lehre Eckharts von der „abgeschiedenheit“, der gänzlichen Entäußerung des Menschen. Das meint die Aufgabe seines Eigenwillens, damit er „gottvar“ = gottfarbig, also gotthaft werde.36 Nur wenn der Mensch von sich selbst frei sei, könne Gott in ihn „eingebildet“ werden,37 könne er die Gottebenbildlichkeit erlangen. Die völlige Verschmelzung mit Gott suchte auch Angelus Silesius. Eckharts Forderung, um von sich selbst frei zu sein, müsse der Mensch auch von Gott frei sein, um dadurch seine Ebenbildlichkeit zu erreichen – dieser Gedanke findet sich auch bei Angelus Silesius, wenn er verlangt, Gottes bloß und Gottes ledig zu sein, um die wahre Ruhe zu finden. Doch unterscheiden sich Meister Eckhart und Angelus Silesius grundsätzlich in dem Erlebnis der Mystik. Während für Eckhart das mystische Erlebnis primär ein Akt des Intellekts war, erlebte Angelus Silesius die Mystik intuitiv, als Akt des Empfindens, ohne einen Zweck damit zu verbinden.38 Als er 1675 mit dem sechsten Buch jedoch auch einen Zweck beabsichtigte, nämlich die Gewinnung der Ketzer, verlor sein Werk an

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Ebd. Ebd. Ebd., LIX–LXIX. Ellinger, Georg: Angelus Silesius. Ein Lebensbild. Breslau 1927, 93–102. Vgl. Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 162–165. 35 Steer: Eckart von Hochheim, 14. 36 Ebd. 37 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Koch, Josef: Zur Analogielehre Meister Eckharts. In: Ruh, Kurt (Hg.): Altdeutsche und Altniederländische Mystik. Darmstadt 1964, 275–308, hier 300. 38 Steer: Eckart von Hochheim, 13.



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poetischer Potenz.39 Bis zum Jahr 1675 hatte Angelus Silesius schlechterdings eine Entwicklung durchlaufen, die ihn vom sensitiven Mystiker zum fanatischen Konfessionalisten werden ließ. Als „Engel und Poltergeist“ bezeichnete ihn Bölsche. Als Poltergeist spielte er in den konfessionellen Verhältnissen Schlesiens, in denen sich die von Angelus Silesius immer noch beschworene Liebe nur in gegenseitiger konfessioneller Toleranz zeigen konnte, eine nicht gerade rühmliche Rolle. Johannes Schefflers Konversion bedeutete für die Katholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien ein großes Plus und traf das schlesische Luthertum, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine existenzielle Krise erlebte, sehr hart. Im Gegensatz zu den Territorialstaaten im Reich, in denen sich gemäß des Augsburger Religionsfriedens der Protestantismus nach dem Willen des jeweiligen Herrschers ungehindert entfalten und zu einem wesentlichen Stützpfeiler fürstlicher Politik entwickeln konnte, mussten die Protestanten in Schlesien auf die habsburgische Politik Rücksicht nehmen. Die katholischen Habsburger waren seit 1526 die domini terrae, denen das cuius regio eius religio zustand. Schon die lutherische Reformation, die seit den 1520er Jahren in Schlesien gepredigt wurde, verzichtete in Lehre und Kultus auf eine allzu scharfe Abgrenzung zur Alten Kirche. Habsburgische Kirchenpolitik war es im 16. Jahrhundert, in Schlesien zunächst die Sektiererkirchen, die Täufer und Schwenckfelder, zu beseitigen, die Lutheraner aber weitgehend unbehelligt zu lassen. Dazu trug vor allem die Politik Kaiser Maximilian II. bei, der geheime Sympathien für das Luthertum hatte und den lutherischen Geistlichen die Auseinandersetzung mit den Schwenckfeldern übertrug. Erst nach dem Sieg der katholischen Partei 1620 in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag versuchten die Habsburger, die Gegenreformation in Schlesien durchzusetzen. Allerdings schützte der sächsische Kurfürst, Johann Georg I., Parteigänger des Kaisers, aber auch Hüter des Protestantismus in Deutschland, die schlesischen Lutheraner bis zum Westfälischen Frieden von 1648. Dieser Frieden beließ den schlesischen Protestanten nur noch wenige Schutzräume. Relativ sicher waren sie in den Territorien, in denen noch Mitglieder aus den Häusern der Piasten oder der Podiebrad regierten. In den der Krone direkt unterstehenden schlesischen Herzogtümern waren sie in den 1650er Jahren, als Angelus Silesius konvertierte, fast schutzlos preisgegeben. Ihnen wurden die Kirchen weggenommen, und sie unterstanden, obzwar Lutheraner, den katholischen Pfarrgeistlichen. Ein eigenes lutherisches Kirchentum gab es in diesen Territorien nicht. Doch auch intern war das schlesische Luthertum nicht gefestigt. Es litt unter den Flügelkämpfen der einzelnen lutherischen Parteien, zudem wandten sich führende schlesische Fürsten, Vertreter der geistigen Elite, aber auch zahlreiche lutherische Geistliche dem Calvinismus zu, der um 1600 in Schlesien erheblich an Terrain gewann, ohne bis 1648 als offizielle Konfession zugelassen zu sein.40 Hatte das schlesische Luthertum bis dahin eine offene Position vertreten, so siegte nun eine harte Orthodoxie, die in den 39 Ellinger: Angelus Silesius, 204f. 40 Herzig, Arno: Konfession und Heilsgewissheit. Schlesien und die Grafschaft Glatz in der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2002, 13–36.

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verbliebenen lutherischen Territorien das Luthertum schützen wollte. Doch diese Orthodoxie befriedigte viele Seelen nicht. Sie suchten Gott in mystischen Zirkeln. Diese waren vielfach von Adligen initiiert worden, wurden aber von einfachen Menschen wie dem Görlitzer Schuhmacher Jakob Böhme (1575–1624) beeinflusst. Bedeutende mystische Zirkel bildeten sich um den Adligen Abraham von Franckenberg (1593–1652) auf dessen Schloss Ludwigsdorf in der Nähe von Oels. Zu dem Kreis gehörten Johannes Scheffler, Johann Theodor von Tschesch (1595–1649), Siegmund von Schweinichen (1589–1664) sowie Daniel Czepko von Reigersfeld (1605–1660).41 In Abgrenzung zur lutherischen Orthodoxie suchte dieser Kreis in der Mystik eine Synthese von Frömmigkeit und Weisheit, wobei naturphilosophische Elemente eine wichtige Rolle spielten. Johannes Scheffler hatte sich diesem Kreis angeschlossen, nachdem er sich nach seinem Studium in den Niederlanden und in Italien 1649 als Leibarzt des Herzogs Sylvius Nimrod von Württemberg-Oels in Oels etablierte.42 Ohne Vermittlung durch eine Kirche suchte dieser Kreis den unmittelbaren Weg zu Gott, die geheimnisvolle Einigung der Seele mit Gott.43 In Kontakten zu diesem Kreis mystischer Esoteriker entstanden die ersten Bücher des erst 1675 so bezeichneten „­Cherubinischer Wandersmann“, die Scheffler angeblich in vier Tagen niedergeschrieben hatte. Der Kreis um Franckenberg kannte in seinem religiösen Erleben keine Grenzen, weder Zeit noch Raum, und so dichtete Angelus Silesius: „Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse/ Und mich in Gott, und Gott in mich zusammenfasse“.44 Der Hof in Oels war gut lutherisch. Herzog Sylvius Nimrod von WürttembergWeitlingen hatte die Tochter des letzten in Oels regierenden Podiebrad, Elisabeth Maria von Oels, geheiratet und ab 1649 (bis 1664) die Herrschaft in diesem Territorium angetreten. Als Wächter lutherischer Orthodoxie wirkte der Hofprediger Christoph Freitag.45 Doch auch am Oelser Hof gab es im Umfeld der Herzogin einen mystischen Zirkel, ohne dass sich die Herzogin durch Dichtung hervortat. Aber ihr Hoffräulein Elisabeth von Senitz (1629–1679) tat es. In ihrer Dichtung wird die „Distanz zwischen dem Gottessohn und der Menschenseele [...] aufgehoben durch eine innige, sinnliche und erotisch angehauchte Anschauung des göttlichen Körpers und die Liebesgeständnisse der Seele“46. Die Nähe zu Angelus Silesius ist auffallend – kein Wunder, dass Gedichte der Elisabeth von Senitz, die größtenteils nur handschriftlich überliefert sind,

41 Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 158–165; Breuer, Dieter: Angelus Silesius, eigentlich Johannes Scheffler. Epigrammatiker, Lyriker, Kontroversschriftsteller. In: Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1, 136. 42 Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 159. 43 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Viëtor, Karl: Johann Scheffler. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928, 78–89, hier 81. 44 Zit. nach ebd., 83. 45 Lubos: Geschichte, Bd. 1/1, 164. 46 Czarnecka, Mirosława: Elisabeth von Senitz (1629–1678). In: Herzig, Arno (Hg.): Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004, 110–114, hier 112.



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Angelus Silesius zugeschrieben wurden.47 Trotz Ablehnung seitens der Orthodoxie konnte sich also auch im Luthertum im Geheimen mystisches Gedankengut verbreiten, doch offiziell wirkte eine Zensur. Diese bekam Scheffler zu spüren, als Freitag ihm verbot, Verse eines katholischen Mystikers zu drucken.48 Doch war das kaum der Grund für Schefflers Konversion, auch wenn er daraufhin den Hof in Oels 1652 verließ und nach Breslau übersiedelte. Scheffler hatte sich in der lutherischen Kirche nie heimisch gefühlt. Die Rechtfertigungslehre Martin Luthers war mit seinem mystischen Erlebnis von Religion kaum in Einklang zu bringen.49 In Breslau traf er nun mit bedeutenden Vertretern der habsburgischen Konfessionspolitik zusammen. Die Strategie der habsburgischen Konfessionspolitik wurde bestimmt von zwei Extremen: Gewalt und Ästhetik. Es sollte nur den einen wahren Glauben, die katholische Kirche, geben. Wer dem entgegenstand, sollte, soweit es die politische Situation zuließ, mit Gewalt entfernt werden. Dies betraf vor allem die evangelischen Geistlichen und Lehrer. Aber auch Tausende einfache Gläubige wurden bisweilen gewaltsam ins Exil gezwungen. Der eine katholische Glauben – und das war die andere Seite – sollte nach außen hin prachtvoll in Erscheinung treten, sei es durch Dichtung, Malerei oder Architektur, durch Bildstöcke, Wegkreuze und Brückenfiguren oder durch eindrucksvolle Prozessionen und Wallfahrtszüge. Das gesamte Herrschaftsgebiet sollte zu einer sakralen Landschaft werden, sobald die Häresie und die Türkengefahr endgültig überwunden waren. Zu Ausführenden dieses politischen Programms wurden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Schlesien die Bischöfe von Breslau, die geistlichen Orden, insbesondere die Zisterzienseräbte, die Jesuiten sowie die Franziskaner.50 In Breslau übernahm Scheffler die Stelle eines Arztes am St. Matthias-Stift, dem damals als Prior Heinrich Hartmann vorstand. Dieser betrieb mit allen Mitteln die Katholisierung Breslaus. Sein Stift wurde aufgrund seiner Kontroverspredigten zu einem Zentrum der Gegenreformation.51 Wohl unter seinem Einfluss und durch die Schriften des Jesuiten und Kontroversschriftstellers Jodokus Kedd (1597–1657) konvertierte Johannes Scheffler am 12. Juni 1653 in der Matthiaskirche zum katholischen Glauben und nannte sich nun Angelus Silesius. Seine Verteidigungsschrift, die Scheffler anlässlich dieses Schritts 1653 in Ingolstadt herausbrachte, übersetzte Kedd ins Lateinische. Sie erreichte mehrere Auflagen.52

47 Ebd., 114. 48 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Reichert, Ernst Otto: Johannes Scheffler als Streittheologe. Dargestellt an den konfessionspolemischen Traktaten der „Ecclesiologia“. Gütersloh 1976, 57. 49 Ellinger: Angelus Silesius, 92. 50 Herzig: Konfession, 115. 51 Breuer: Angelus Silesius, 136; Ellinger: Angelus Silesius, 91. 52 Becker-Cantarino, Barbara: Johann Scheffler und die Kontroverse um seine Tuercken-Schrifft. In: Czarnecka, Mirosława u. a. (Hg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928–1992). Wrocław 2001, 71–78, hier 72.

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Zu seinem eigentlichen Mentor aber wurde Sebastian von Rostock (1607–1671), ab 1664 Bischof von Breslau, doch bereits seit 1649 Archidiakon an der dortigen Kathedralkirche. In dieser Funktion führte er auf der einen Seite die habsburgische Reduktionspolitik durch, das bedeutete, er nahm den Protestanten die Kirchen weg, die vor dem Normaljahr 1542 einmal katholisch waren, bevor sich die Gemeinde dann der lutherischen Reformation zugewandt hatte. Auch um die Ausweisung evangelischer Christen war er bemüht. Auf der anderen Seite aber vertrat er auch die ästhetische Strategie. Die eigentliche Barockphase Breslaus erfolgte zwar erst unter seinem Nachfolger Kardinal Friedrich von Hessen, doch Sebastian von Rostock hatte sie eingeleitet. Er habe geschulte Baumeister, Kunstmaler und viele Handwerker beschäftigt, heißt es in seiner Leichenpredigt.53 Rostock erkannte, welche Bedeutung Scheffler für die ästhetische Komponente der Gegenreformation haben konnte. So förderte er die Herausgabe von Schefflers „Geistreichen Sinn- und Schlußreimen“ 1657, die erst in der erweiterten Ausgabe von 1675 dann den Titel „Cherubinischer Wandersmann“ erhielten. Die ersten Bücher der „Sinn- und Schlußreime“ sind geprägt vom mystischen Gedankengut des Franckenberg-Czepko-Kreises: Gottes Dasein ist durch das des Menschen bedingt, mit der Vernichtung des Menschen ist auch der Untergang Gottes besiegelt.54 Trotz solcher gewagter Sätze erteilte Sebastian von Rostock 1656 als Official und Generalvikar von Breslau nicht nur die kirchliche Approbation, sondern es gelang ihm offensichtlich auch in Wien, wo das Büchlein erschien, den bekannten Jesuitendichter Nikolaus Avancinius zu gewinnen, der 1657 Dekan der dortigen theologischen Fakultät war. Avancinius attestierte dem Buch Lieblichkeit und Spiel der Poesie vermischt mit Frömmigkeit und heiligem Wohlergehen, sodass er hoffe, dass der Leser sich erquicke und die heiligen Sinne der Seele aktiviere. Deshalb hielt er es für wichtig, das Buch der Öffentlichkeit zu übergeben.55 Rostock hielt es wohl für besser, das Buch nicht in Schlesien, sondern in der Metropole des Kaiserreiches erscheinen zu lassen. Zwischen dem Erscheinen der „Sinn- und Schlußreime“ und ihrer erweiterten und endgültigen Form im „Cherubinischer Wandersmann“ 1765 liegen 18 Jahre, in denen sich Angelus Silesius zu einem fanatischen Glaubenskrieger entwickelte, der auch in exaltierter Form den katholischen Glauben propagierte. Als 1662 zum ersten Mal seit der Reformation eine Prozession durch Breslau zog, trug Scheffler ein Kreuz und eine Dornenkrone für „die Bekehrung der Stadt“.56 Auch bei einer späteren Fronleichnamsprozession wiederholte er dieses Schauspiel.

53 Laslowski, Ernst: Sebastian von Rostock. In: Andreae u. a. (Hg.): Schlesier, 65–70. 54 Ellinger: Angelus Silesius, 137f. 55 Bautz, Friedrich: Nicolaus Avancini, auch Avancinius, Theologe, Dogmatiker, Lyriker. In: Killy (Hg.:) Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1, 226f.; Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, LXXXVIII. 56 Viëtor: Johann Scheffler, 78.



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Der Glaubenswechsel machte Angelus Silesius jedoch nicht – wie häufig bei Konvertiten – zu einem einsamen Menschen, sondern sowohl der Kaiser als auch Fürstbischof Sebastian von Rostock vermittelten ihm hohe Ämter, sodass sein Sozialprestige nun deutlich über dem am Hof von Oels stand. Der Kaiser ernannte ihn zum kaiserlich-königlichen Hofmedicus, und Sebastian von Rostock machte ihn, als er Bischof wurde, zum Hofmeister. Angelus Silesius, seit 1661 katholischer Priester, mochte diese Anerkennung genossen haben, doch zu seinem asketischen Leben, das er nun praktizierte, passte dieses Hofamt kaum, sodass er es bald aufgab.57 Doch stand er weiterhin im Zentrum katholischer Macht, deren gegenreformatorisches Programm er nun fanatisch verfocht. Solange er mit seiner Dichtung keine Bekehrungszwecke verfolgte, konnte er ergreifende Kirchenlieder verfassen, die heute noch gesungen werden, wie „Ich will Dich lieben meine Stärke“. Konfessioneller Fanatismus musste in diesem Zeitalter keineswegs die religiöse Poesie beeinträchtigen, wie die Biografien auch anderer Dichter, so Philipp Nicolai (1556–1608) oder Paul Gerhard (1607–1676), zeigen. Neben Sebastian von Rostock war es der Grüssauer Zisterzienserabt Bernhard Rosa (1624–1696), der noch prägnanter als der Breslauer Bischof die habsburgische Konfessionspolitik mit ihren beiden Strategien vertrat. Seit 1660 Abt von Grüssau, trat er für eine strikte Katholisierungspolitik in seinem Stiftsland ein. Wer sich nicht fügte, wurde zur Auswanderung gezwungen. So vertrieb er siebenhundert lutherische Einwohner aus seinem Stiftsdorf Reichshennersdorf, die in die benachbarte Lausitz zogen.58 Mit Sebastian von Rostock hatte sich Bernhard Rosa 1660 auf ein gemeinsames Vorgehen gegen die Protestanten geeinigt.59 Doch war Abt Rosa nicht nur eine Gewaltnatur, sondern auch ein mystisch empfindender Mensch, der die Schönheit der katholischen Kirche in herrlichen Werken der Malerei und Architektur demonstrieren wollte. Der Protestantismus sollte gleichsam in einer sakralen Landschaft untergehen, die von Heiligenbildern, Prozessionen und den Aktivitäten der von ihm gegründeten Josephsbruderschaft bestimmt wurde. Für die bildliche Ausgestaltung hatte er den ehemaligen brandenburgischen Hofmaler Michael Willmann (1630–1706) gewonnen, der 1661 das Grüssauer Passionsbuch gestaltete und später die dortige Josephskirche ausmalte, die Abt Bernhard Rosa hatte bauen lassen.60 Nach dem Tod von Sebastian von Rostock 1671 wurde Rosa Schefflers Mentor. Angelus Silesius faszinierte Rosas gewaltsame Reduktionspolitik, aber auch dessen ästhetisches Programm, so die von Letzterem prächtig ausgestalteten Wallfahrtsprozessionen. Wohl von Rosa angeregt, verfasste Scheffler seine antipro57 Laslowski: Sebastian von Rostock, 69. 58 Lutterotti, Nikolaus von: Bernhard Rosa. In: Andreae u. a. (Hg.): Schlesier, 89–95; Herzig, Arno: Die Propstei Warmbrunn als Fundation der Familie Schaffgotsch. In: Bahlcke, Joachim/ Schmilewski, Ulrich/Wünsch, Thomas (Hg.): Das Haus Schaffgotsch. Konfession, Politik und Gedächtnis eines schlesischen Adelsgeschlechts vom Mittelalter bis zur Moderne. Würzburg 2010, 211–222. 59 Ellinger: Angelus Silesius, 188. 60 Kloß, Ernst: Michael Willmann. In: Andreae u. a. (Hg.): Schlesier, 95–104, hier 99.

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testantischen Kampfschriften, die er in Auswahl 1677 unter dem Titel „Ecclesiologia“ auf Kosten von Bernhard Rosa in Glatz publizierte.61 Es gehörte zu den wichtigsten gegenreformatorischen Strategien der Jesuiten, über Druckereien zu verfügen. In Schlesien gelang ihnen dies erst durch die Druckerfamilie Schubart. In Neisse leitete Johann Schubart eine Offizin. Aktiver und erfolgreicher war sein Sohn Ignatz Konstantin Schubart (tätig bis 1687). Dieser wollte zunächst in Breslau eine Druckerei eröffnen, war damit aber gescheitert. Vermutlich mit Unterstützung der Jesuiten gelang ihm dies jedoch zu Beginn der 1670er Jahre in Glatz. Nachdem Glatz und die Grafschaft nach 1622 gewaltsam katholisiert worden waren, wurde die Stadt nun zu einem Zentrum der Gegenreformation für Schlesien. Es bleibt offen, inwieweit Bernhard Rosa dieses Unternehmen unterstützte. Die Dedikation, die Angelus Silesius dem Abt in seiner 1677 in Glatz und Neisse bei Schubart gedruckten „Ecclesiologia“ widmete, lässt darauf schließen. Sie lautet: „Überreichungs-Schrift an den Hochwürdigen Herren Verleger, Herren Bernhard Rosam“. Rosa agierte hier mit als Verleger. In seiner „Köstlichen Evangelischen Perle“, die ebenfalls bei Schubart 1676 in Glatz erschien, beklagt sich Angelus Silesius in dem Vorwort über „den Mangel eines Verlegers“ und bedankt sich bei „drey fromme[n] Geistliche[n]“, die das Geld „zum Verlag darvor hergeschossen“ haben.62 Sicher ist damit auch Bernhard Rosa gemeint. Ignatius Konstantin Schubart (nachgewiesen 1675–1680) mit seinem Verlag in Glatz und Neisse wurde zum eigentlichen Verleger von Angelus Silesius. Bislang sind 44 Silesiusdrucke bei Schubart in Glatz und Neisse nachgewiesen.63 Neben Kampfschriften, aber auch der Sammlung geistlicher Lieder war es vor allem der „Cherubinische Wandersmann“, der erstmals unter diesem Titel von Glatz aus 1675 weite Verbreitung fand. Angelus Silesius hatte ein sechstes Buch hineingefügt, das aber in „mystischer Innigkeit“ den anderen weit nachsteht.64 Manche Aussage der ersten fünf Bücher gefiel ihm wohl nun nicht mehr. Auch verleugnete er seine enge Beziehung zu Meister Eckhart, indem er ihn nicht erwähnte. Zudem entschuldigt er sich in seiner Vorrede für „viel seltsame Paradoxa oder widersinnige Reden“.65 Leicht könnten die Aussagen über „göttliche Gleichheit und Vergötterung oder Gottwerdung“ im „verdammlichen Sinn“ verstanden werden.66 Er beruft sich deshalb ausführlich auf kirchentreue Mystiker wie Johannes Tauler (1300–1361), Jan van Ruysbroek (1293–1381), Bernhard von Clairvaux (1090–1153). In deren Sinn wollte Angelus Silesius verstanden werden, wenn 61 Kozieł, Andrzej: „Man Gott hinweg nihmt wenn man seine Bildnüsse hinweg nihmt“. Johannes Scheffler (Angelus Silesius) jako polemiczny teolog i jego obrona religijnych obrazów. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezská vědecká obec, Bd. 2. Wrocław 2006, 115–136, hier 135. Vgl. den Beitrag „Die gegenreformatorischen Verlagsstrategien in Schlesien“ in diesem Band. 62 Angelus Silesius: Köstliche Evangelische Perle. Glatz 1676, unpag. 63 Koppitz: Verbreitung, 38, 44. 64 Ellinger: Angelus Silesius, 206. 65 Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, X. 66 Ebd., LXXXIII.



Die Angelus Silesius-Rezeption durch Wilhelm Bölsche

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er betonte, dass der Mensch „dasjenige sei, was Gott ist“, und zwar „aus Gnaden“ und nicht „von Natur“.67 Mit dieser Interpretation war das „gottvar“ des Meister Eckhart erheblich abgeschwächt. Für Angelus Silesius war die Stellung des Menschen in ihrer Gottebenbildlichkeit nicht aus Gnade Gottes gegeben, sondern indem er sich in seiner Reflexion dessen bewusst werde.68 Diese Einschränkung geschah vermutlich unter dem Einfluss von Bernhard Rosa. Das Höllenmotiv wird im sechsten Buch mit zu einem zentralen Motiv. „Der verdammte Uebeltäter“ verschwindet „in Leviathans Schlund“.69 Dasselbe Motiv gestaltete der von den Glatzer Jesuiten erzogene und geförderte Maler Johann Georg Heinisch (1647–1712) in einem Altarbild für eine Prager Kirche. Die triumphierende Kirche war noch nicht so gefestigt, dass sie nicht auch mit der Hölle drohen musste.70 Für Wilhelm Bölsche beweist sich hier der „Poltergeist“ Scheffler, der den Menschen zeigen wolle, wo es nicht lang gehen sollte. Doch könne – so Bölsche – der Leser „getrost auch das ganze Buch des Wandermanns“ zur Hand nehmen, das Bölsche im „Originaltext der zu Glatz 1675 gedruckten [...] Ausgabe“ bot.71 1921 publizierte der Verlag Eugen Diederichs das Werk noch einmal. Es scheint, als habe auch nach dem Ersten Weltkrieg trotz aller Nöte das Interesse an Angelus Silesius nicht nachgelassen. 4.000 Exemplare waren inzwischen verkauft worden, und der Verlag brachte weitere 2.000 auf den Markt. Wilhelm Bölsche versah diese neue Ausgabe allerdings nicht mehr mit einem neuen Vorwort. Für ihn waren nach wie vor seine Aussagen über Angelus Silesius von 1904 gültig.

67 68 69 70

Ebd. Ebd. Ellinger: Angelus Silesius, 208. Vlnas, Vít/Dobalová, Sylva (Hg.): Guide to the permanent exhibition of the Collection of Old Masters of the National Gallery in Prague at the Convent of St. George. Mannerist and Baroque art in Bohemia. Prague 2005, 34; Baumgarten, Jens M.: Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien. Hamburg/München 2004, 173–202. 71 Bölsche: Über den Wert, LX.

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Verzeichnis der Erstdrucke 01. Der Reformator Johann Sigismund Werner (1491–1554) und die Reformation der Schwenckfelder im Herzogtum Liegnitz und in der Grafschaft Glatz. In: Harasimowicz, Jan/Lipińska, Aleksandra (Hg.): Dziedzictwo reformacji w księstwie legnicko-brzeskim/Das Erbe der Reformation in den Fürstentümern Liegnitz und Brieg. Legnica 2007, 77–89. 02. Die Vier-Reiche-Lehre und das baldige Ende der Weltgeschichte. Die Leichenpredigt des Habelschwerdter lutherischen Pfarrers Caspar Elogius zum Tod Kaiser Maximilians II. 1576. In: Meyer, Dietrich (Hg.): Erinnertes Erbe. Beiträge zur schlesischen Kirchengeschichte. Festschrift für Christian-Erdmann Schott. Herrnhut 2002, 180–190. 03. Schlesien und die Grafschaft Glatz im Zeitalter des Konfessionalismus. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 75 (1996) 1–22; außerdem in Köhler, Joachim/Bendel, Rainer (Hg.): Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum, Teilbd. 1–2. Münster/Hamburg/London 2002, hier Teilbd. 1, 493–510. 04. Das Erleben des konfessionellen Zeitalters im Spiegel der Grafschaft Glatzer Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Weber, Matthias/Rabe, Carsten (Hg.): Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag. Würzburg 1998, 27–46. 05. Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Rupprecht. Zum Kryptoprotestantismus in der Grafschaft Glatz. In: Mohr, Rudolf (Hg.): „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“. Festschrift für Dietrich Meyer. Köln 2000, 269–291. 06. Die Jesuiten im feudalen Nexus. Der Aufstand der Ordensuntertanen in der Grafschaft Glatz im ausgehenden 17. Jahrhundert. ������������������������������������������������ In: Prague Papers on History of International Relations (1999) 41–62. 07. Die Entstehung der Barocklandschaft in der Grafschaft Glatz. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 38/39 (1997/98) 285– 403; außerdem tschechisch u. d. T.: Vznik barokní krajiny v Hrabství kladském. In: Kladský sborník 2 (1998) 163–173. 08. Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts. In: Czarnecka, Mirosława u. a. (Hg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928–1992). Wrocław 2003, 63–69. 09. Die gegenreformatorischen Strategien der Glatzer Jesuiten und die Barockmalerei. In: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz 7 (2008) 1–10; außerdem in Silesia Nova. Vierteljahresschrift für Kultur und Geschichte 6/1 (2009) 21–27. 10. Die Rezeption Gustav Adolfs in Schlesien. In: Harasimowicz, Jan/Oszczanowski, Piotr/Wisłocki, Marcin (Hg.): Po obu stronach Bałtyku. Wzajemne relacje między Skandynawią a Europą Środkową/On the Opposite Sides of the Baltic Sea. Rela-

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tions between Scandinavian and Central European Countries, Bd. 1–2. Wrocław 2006, hier Bd. 1, 63–68. Die erzwungenen Reisen der schlesischen Konfessionsflüchtlinge im 17. Jahrhundert/Wymuszone podróże śląskich konwertytów w XVII wieku. In: Górski, Adam (Hg.): Kulturowe aspekty podróżowania/Kulturelle Aspekte des Reisens. Świdnica 2009, 13–19. Die gegenreformatorischen Verlagsstrategien in Schlesien. In: Orbis Linguarum 38 (2012) 137–143. Die Juden Breslaus im 18. Jahrhundert. In: Hettling, Manfred/Reinke, Axel/Conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003, 46–62. Schlesische Juden als Finanzagenten des Adels im 18. Jahrhundert. In: Schlesische Geschichtsblätter. Zeitschrift für Regionalgeschichte Schlesiens 38/2 (2012) 41– 48. Jüdische Infrastruktur zu Zeit Friedrichs II. von Preußen in Glogau Niederschlesien [Erstveröffentlichung]. Jüdische Hochzeiten im Barockzeitalter. In: Czarnecka, Mirosława/Szafarz, Jolanta (Hg.): Hochzeit als ritus und casus. Zu interkulturellen und multime­dialen Präsentationsformen im Barock. Wrocław 2001, 59–66. Der Beitrag der schlesischen Juden zur Kultur des Landes [Erstveröffentlichung]. Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941). In: Gillis-Carlebach, Miriam/ Grünberg, Wolfgang (Hg.): „... der den Erniedrigten aufrichtet aus dem Staube und aus dem Elend erhöht den Armen“. Die Fünfte Joseph Carlebach-Konferenz. Unvollendetes Leben zwischen Tragik und Erfüllung. Hamburg 2002, 98–107. Die NS-Zeit im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur. In: Gülber, Mark H. u. a. (Hg.): Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag. Tübingen 2009, 269–282; außerdem in Eiden, Maximilian (Hg.): Von Schlesien nach Israel. Juden aus einer deutschen Provinz zwischen Verfolgung und Neuanfang. Görlitz 2010, 10–22. Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation. Göttingen 1987 [zusammen mit Rainer Sachs]. Der schlesische Weberaufstand. Das Ende des Sozialen Protests oder der Anfang der Arbeiterbewegung in Deutschland? In: Herzig, Arno: Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997, 82–98. Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811 [Erstveröffentlichung]. Zwischen Berlin und Breslau. Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) und die Anfänge der Germanistik [zusammen mit Jobst Herzig]. In: Hałub, Ma-



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rek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezská vědecká obec, Bd. 5. Wrocław 2012, 241–254. Die Universität Breslau im 19. Jahrhundert = erweiterte Fassung des Beitrags: Die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau. Von ihrer Gründung bis zu Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus (1933/34). In: Hałub, Marek/ Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska ������������������������������������������������ republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezská vědecká obec, Bd. 1. Wrocław 2004, 529–554. Der „Fall Cohn“ und die Gleichschaltung der Universität Breslau 1932/33. In: Sachs, Rainer (Hg.): Amator Scientiae. Festschrift für Dr. Peter Ohr. Wrocław 2004, 359–368. Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes. In: Hałub, Marek/MańkoMatysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische ­Gelehrtenrepublik/ Slezská vědecká obec, Bd. 4. Wrocław 2010, 379–397. Georg Gloger (1603–1631). In: Jahrbuch der Grafschaft Glatz 52 (2000) 69–74. Holtei und das Breslauer Bürgertum. In: Dziemianko, Leszek/Hałub, Marek (Hg.): Karl von Holtei (1798–1880). Leben und Werk. Fragestellungen – Differenzierungen – Auswirkungen. Leipzig 2011, 219–235. Die Angelus Silesius-Rezeption durch Wilhelm Bölsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezská vědecká obec, Bd. 3. Wrocław 2008, 399–412.

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Verzeichnis der Schriften von Arno Herzig zur historischen Schlesienforschung (1987–2013) 1987 Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation. Göttingen 1987 [zusammen mit Rainer Sachs]. 214 Seiten. 1994 Grafenort. Geschichte und Erinnerungen. Oldenburg 1994 [zusammen mit Veronika und Paul Heinze, Waltraud und Siegfried Patzelt). 360 Seiten. Geschichte Grafenorts. Ebd., 17–103. Die unruhige Provinz. Schlesien zwischen 1806 und 1871. In: Conrads, Norbert (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin 1994, 465–552. 1995 „Wach auf, mein Herz, und denke“. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg von 1740 bis heute/„Przebudź się, serce moje, i pomyśl“. Przyczynek do historii stosunków między Śląskiem a Berlinem-Brandenburgią od 1740 roku do dziś [Ausstellungskatalog; �������������������������������������������������������������� ���������������������������������������� mit Wiesław Lesiuk wissenschaftliche Redaktion]. Berlin/Opole 1995. 601 Seiten. Schlesien und Preußen im 18. und 19. Jahrhundert/Śląsk i Prusy w XVIII i XIX w. Ebd., 61–68. 1996 Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996. 251 Seiten. Der Junghegelianer Ferdinand Lassalle und der schlesische Weberaufstand 1844. In: Lambrecht, Lars (Hg.): Philosophie, Literatur und Politik vor den ­Revolutionen von 1848. Zur Herausbildung der demokratischen Bewegungen in Europa. Frankfurt/M. 1996, 505–510. Schlesien und die Grafschaft Glatz im Zeitalter des Konfessionalismus. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 75 (1996) 1–22; außerdem in Köhler, Joachim/ Bendel, Rainer (Hg.): Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum, Teilbd. 1–2. Münster/Hamburg/London 2002, hier Teilbd. 1, 493–510. 1997 Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997. 222 Seiten.



Verzeichnis der Schriften von Arno Herzig zur historischen Schlesienforschung

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Sozialprotest der schlesischen Landbevölkerung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Ebd., 39–58. Der schlesische Weberaufstand. Das Ende des Sozialen Protests oder der Anfang der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ebd., 82–98. Landjuden – Stadtjuden in Schlesien und Westfalen. Ebd., 14–36; außerdem in Richarz, Monika/Rürup, Reinhard (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Tübingen 1997, 91–107. Die schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau von ihrer Gründung bis zur Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus (1933/34). Ebd., 100–141. Zur Historiographie der Grafschaft Glatz bis 1945. Ebd., 180–195. Braunauer Ländchen und Grafschaft Glatz. Geschichtliche Beziehungen. In: AGGMitteilungen. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 1 (1997) 14–17. 1998 Emma Ihrer (1857–1911). Eine Politikerin aus Glatz. In: Jahrbuch der Grafschaft Glatz (1998) 143–148. Das Erleben des konfessionellen Zeitalters im Spiegel der Grafschaft Glatzer Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Weber, Matthias/Rabe, Carsten (Hg.): Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag. Würzburg 1998, 27–46. Die Entstehung der Barocklandschaft in der Grafschaft Glatz. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 38/39 (1997/98) 285–403; außerdem tschechisch u. d. T.: Vznik barokní krajiny v Hrabství kladském. In: Kladský sborník 2 (1998) 163–173. 1999 Das Riesengebirge. Geschichte und Kultur bis 1945/Karkonosze. Kultura i historia do 1945 roku). In: Bździach, Klaus (Hg.) Die imposante Landschaft. Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert/Wspaniały krajobraz. Artyści kolonie artystyczne w Karkonoszach w XX wieku. Berlin/Jelenia Góra 1999, 19–28. Die Jesuiten im feudalen Nexus. Der Aufstand der Ordensuntertanen in der Grafschaft Glatz im ausgehenden 17. Jahrhundert. In: Prague Papers on History of International Relations (1999) 41–62. 2000 Georg Gloger (1603–1631). In: Jahrbuch der Grafschaft Glatz 52 (2000) 69–74. Der Oberlangenauer Bauernchronist Christoph Rupprecht. Zum Kryptoprotestantismus in der Grafschaft Glatz. In: Mohr, Rudolf (Hg.): „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“. Festschrift für Dietrich Meyer. Köln 2000, 269–291. Die Herausbildung eines deutschen Nationalismus in Schlesien im 19. Jahrhundert. In:

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Anhänge

Ruchniewicz, Krzysztof/Tyszkiewicz, Jakub/Wrzesiński, Wojciech (Hg.): Przełomy w historii. XVI Powszechny zjazd historyków polskich. Wrocław 15–18 września 1999 roku. Pamięntnik, Bd. 1–3. Toruń 2000–2004, hier Bd. 1, 239–252. 2001 Das Tal der Schlösser und Gärten. Das Hirschberger Tal in Schlesien – ein gemeinsames Kulturerbe/Dolina zamków i ogrodów. Kotlina Jeleniogórska – wspólne dziedzictwo. Jelenia Góra 2001 [zusammen mit Olgierd Czerner wissenschaftliche Redaktion]. 414 Seiten. Die Propstei Warmbrunn als geistliche Herrschaft im Hirschberger Tal und ihre Untertanen (1403–1810)/Probostwo w Cieplicach jako duchowna władza i jej podwładni (1403–1810). Ebd., 119–127. Georg Gloger (1603–1631). In: Menzel, Josef Joachim (Hg.): Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2001, 57–61. Sophie von Hatzfeld (1805–1881). Ebd., 215–219. Max Kayser (1853–1888). Ebd., 241–246. Emma Ihrer (1857–1911). Ebd., 247–253. Historische und rechtliche Aspekte zur Vertreibung der Schlesier 1945/46 aus deutscher Sicht. In: Vertreibung? Aussiedlung? Das gemeinsame Schicksal der Bewohner der Grafschaft Glatz. Ein Tagungsband. Görlitz 2001, 36–56. Jüdische Hochzeiten im Barockzeitalter. In: Czarnecka, Mirosława/Szafarz, Jolanta (Hg.): Hochzeit als ritus und casus. Zu interkulturellen und multime­dialen Präsentationsformen im Barock. Wrocław 2001, 59–66. 2002 Konfession und Heilsgewissheit. Schlesien und die Grafschaft Glatz in der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2002. 192 Seiten. Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941). In: Gillis-Carlebach, Miriam/ Grünberg, Wolfgang (Hg.): „... der den Erniedrigten aufrichtet aus dem Staube und aus dem Elend erhöht den Armen“. Die Fünfte Joseph Carlebach-Konferenz. Unvollendetes Leben zwischen Tragik und Erfüllung. Hamburg 2002, 98–107. Die Vier-Reiche-Lehre und das baldige Ende der Weltgeschichte. Die Leichenpredigt des Habelschwerdter lutherischen Pfarrers Caspar Elogius zum Tod Kaiser Maximilians II. 1576. In: Meyer, Dietrich (Hg.): Erinnertes Erbe. Beiträge zur schlesischen Kirchengeschichte. Festschrift für Christian-Erdmann Schott. Herrnhut 2002, 180–190. 2003 W kraju Pana Boga. Źródła i materiały do dziejów Ziemi Kłodzkiej od X do XX wieku/ Im Herrgottsländchen. Quellen und Materialien zur Geschichte des Glatzer Landes vom 10. bis zum 20. Jahrhundert. Kłodzko/Glatz 2003 [zusammen mit Małgorzata Ruchniewicz]. 597 Seiten; zweite, ergänzte Ausgabe Kłodzko 2010. 550 Seiten.



Verzeichnis der Schriften von Arno Herzig zur historischen Schlesienforschung

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Die Juden Breslaus im 18. Jahrhundert. In: Hettling, Manfred/Reinke, Axel/Conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003, 46–62. Schlesische Geschichte – chronologisch. In: Bassewitz, Gert von/Tschechne, ­Wolfgang: Schlesien. Hamburg 2003, 100–103. Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts. In: Czarnecka, Mirosława u. a. (Hg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928–1992). Wrocław 2003, 63–69. 2004 Glaciographia Nova. Festschrift für Dieter Pohl. Hamburg 2004 [Herausgeberschaft]. 359 Seiten. Geschichte des Glatzer Landes vom Mittelalter bis zum Untergang des Alten Reiches 1806. Darstellung und Quellen. Ebd., 17–70. Schlesier des 14. bis 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch 2004 [Herausgeberschaft]. 383 Seiten. Johann Sigismund Werner (~ 1491–1554). Ebd., 47–55. Ernst von Bayern (1500–1560). Ebd., 56–59. Theodor Kroner (1845–1923). Ebd., 196–201. Die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau. Von ihrer Gründung bis zur Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus (1933/34). In: Hałub, Marek/ Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezská vědecká obec, Bd. 1. Wrocław 2004, 529–554. Der „Fall Cohn“ und die Gleichschaltung der Universität Breslau 1932/33. In: Sachs, Rainer (Hg.): Amator Scientiae. Festschrift für Dr. Peter Ohr. Wrocław 2004, 359–368. Neisse im konfessionellen Zeitalter. In: Kunicki, Wojciech/Witt, Monika (Hg.): Neisse. Kulturalität und Regionalität. Nysa 2004, 13–28. Die Vereinigung von Leopoldina und Viadrina 1811. In: Die tolerierte Universität. 300 Jahre Universität Breslau 1702 bis 2002. Katalogbuch. Hg. v. Norbert Conrads. Stuttgart 2004, 244–254. Flucht und Vertreibung aus Schlesien. In: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948. Mit einer Einleitung von Arno Surminski. Hamburg 2004, 118– 149. Schlesien im 18. Jahrhundert. Das Jahrhundert Friedrich Bernhard Werners. In: Harasimowicz, Jan/Marsch, Angelika (Hg.): Friedrich Bernhard Werner 1690–1776. Życie i twórczość/Leben und Werk. Legnica 2004, 19–37. Schlesien. In: Räume und Grenzen. Traditionen und Konzepte der Landesgeschichte. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/140 (2003/04) 179–188.

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2005 Das Zeitalter des Konfessionalismus (1525–1651). In: Jung, Franz (Hg.): Auf dem Weg durch die Jahrhunderte. Beiträge zur Kirchengeschichte der Grafschaft Glatz. Münster 2005, 59–77. Die Grafschaft Glatz. Ein historischer Überblick. In: AGG-Mitteilungen. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 4 (2005) 3–9. Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005, 159–184. Die Auseinandersetzungen der Konfessionen in der Grafschaft Glatz am Beispiel des Habelschwerdter lutherischen Pfarrers Caspar Eulogius (1530–1593). In: Kultur und Geschichte der Grafschaft Glatz 57 (2005) 88–94. 2006 Geschichte des Glatzer Landes. Hamburg 2006. 593 Seiten; polnisch u. d. T.: Dzieje Ziemi Kłodzkiej. Wrocław 2006. 568 Seiten; zweite Auflage Wrocław 2008 [zusammen mit Małgorzata Ruchniewicz]. 568 Seiten. Die Rezeption Gustav Adolfs in Schlesien. In: Harasimowicz, Jan/Oszczanowski, ­Piotr/Wisłocki, Marcin (Hg.): Po obu stronach Bałtyku. Wzajemne relacje między Skandynawią a Europą Środkową/On the Opposite Sides of the Baltic Sea. Relations between Scandinavian and Central European Countries, Bd. 1–2. Wrocław 2006, hier Bd. 1, 63–68. 2007 Schlesien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts/Śląsk w pierwszej połowie XIX wieku. In: Zeit-Reisen. Historische Schlesien-Ansichten aus der Graphiksammlung Haselbach/Podróże w czasie. Dawne widoki Śląska na grafikach z kolekcji Haselbacha [Ausstellungskatalog]. Görlitz 2007, 31–42. Die Geschichte des Glatzer Landes im Alten Reich. In: AGG-Mitteilungen. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 6 (2007) 15–17. Der Reformator Johann Sigismund Werner (1491–1554) und die Reformation der Schwenckfelder im Herzogtum Liegnitz und in der Grafschaft Glatz. In: Harasimowicz, Jan/Lipińska, Aleksandra (Hg.): Dziedzictwo reformacji w księstwie legnicko-brzeskim/Das Erbe der Reformation in den Fürstentümern Liegnitz und Brieg. Legnica 2007, 77–89. 2008 Die Angelus Silesius-Rezeption durch Wilhelm Bölsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczo-



Verzeichnis der Schriften von Arno Herzig zur historischen Schlesienforschung

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nych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezská vědecká obec, Bd. 3. Wrocław 2008, 399–412. Die gegenreformatorischen Strategien der Glatzer Jesuiten und die Barockmalerei. In: AGG-Mitteilungen. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 7 (2008) 1–10; außerdem in Silesia Nova. Vierteljahresschrift für Kultur und Geschichte 6/1 (2009) 21–27. 2009 Die NS-Zeit im Spiegel der jüdischen Memorialliteratur. In: Gülber, Mark H. u. a. (Hg.): Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag. Tübingen 2009, 269–282; außerdem in Eiden, Maximilian (Hg.): Von Schlesien nach Israel. Juden aus einer deutschen Provinz zwischen Verfolgung und Neuanfang. Görlitz 2010, 10–22. Die Monokonfessionalisierung Schlesiens als politisches Programm der Habsburger vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Harc, Lucyna/Wąs, Gabriela (Hg.): Religia i polityka. Kwestie wyznaniowe i konflikty polityczne w Europie w XVIII wieku. Wrocław 2009, 87–96. Zur Geschichte der Grafschaft Glatz. In: Franke, Arne/Schulze, Katrin: Schlösser und Herrensitze in der Grafschaft Glatz. Ein Architektur- und Parkreiseführer. Würzburg 2009, 13–18. Die Grafschaft Glatz und die Grafschafter aus der Sicht des jüdischen Studienrats Dr. Willy Cohn zur Zeit des Nationalsozialismus. In: AGG-Mitteilungen. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 8 (2009) 64–71. Die erzwungenen Reisen der schlesischen Konfessionsflüchtlinge im 17. Jahrhundert/ Wymuszone podróże śląskich konwertytów w XVII wieku. In: Górski, Adam (Hg.): Kulturowe aspekty podróżowania/Kulturelle Aspekte des Reisens. Świdnica 2009, 13–19. 2010 Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Hamburg 2008. 255 Seiten; zweite und dritte Auflage Hamburg 2010, 2012. 256 Seiten. Joseph Wittig (1879–1949). Erinnerungen an einen bedeutenden Breslauer Universitätsprofessor. In: Akademisches Kaleidoskop. Vierteljahresschrift der Universität Wrocław 8/1 (2010) 10–11. Joseph Wittig und die Geschichte des Glatzer Landes. In: Hałub, Marek/MańkoMatysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/ Slezská vědecká obec, Bd. 4. Wrocław 2010, 379–397. Franz Volkmer (1846–1930). In: Borchardt, Karl (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 10. Insingen 2010, 159–164 [zusammen mit Małgorzata Ruchniewicz]. Stand und Perspektiven der Schlesienforschung. In: Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen 4/5 (2008/09) [2010], 415–422.

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Die Propstei Warmbrunn als Fundation der Familie Schaffgotsch. In: Bahlcke, Joachim/ Schmilewski, Ulrich/Wünsch, Thomas (Hg.): Das Haus Schaffgotsch. ­Konfession, Politik und Gedächtnis eines schlesischen Adelsgeschlechts vom Mittelalter bis zur Moderne. Würzburg 2010, 211–222. Die Bernheim-Petition für die Rechte der jüdischen Minderheit in Oberschlesien und die Haltung des Völkerbundes 1933. In: Prague Papers on the History of International Relations 1 (2010) 174–179. 2011 Kleine Geschichte des Glatzer Landes. Freiburg/Görlitz 2011 [zusammen mit Małgorzata Ruchniewicz]. 83 Seiten. Holtei und das Breslauer Bürgertum. In: Dziemianko, Leszek/Hałub, Marek (Hg.): Karl von Holtei (1798–1880). Leben und Werk. Fragestellungen – Differenzierungen – Auswirkungen. Leipzig 2011, 219–235. Theodor York (1830–1875). Breslau und die deutsche Sozialdemokratie. In: Silesia Nova. Vierteljahresschrift für Kultur und Geschichte 8/2 (2011) 16–18. Der preußische Staat und die Neugründung der Universität Breslau 1811. In: Silesia Nova. Vierteljahresschrift für Kultur und Geschichte 8/3–4 (2011) 7–16. 2012 Ś�������������������������������������������������������������������������������� ląsk i jego dzieje. Wroclaw 2012 [zusammen ������������������������������������� mit Krzysztof und Malgorzata Ruchniewicz]. 304 Seiten. Die Bedeutung des schlesischen Judentums. In: Silesia Nova. Vierteljahresschrift für Kultur und Geschichte 9/1 (2012) 42–52. Zwischen Berlin und Breslau. Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) und die Anfänge der Germanistik [zusammen mit Jobst Herzig]. In: Hałub, Marek/MańkoMatysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/ Slezská vědecká obec, Bd. 5. Wrocław 2012, 241–254. Schlesische Juden als Finanzagenten des Adels im 18. Jahrhundert. In: Schlesische Geschichtsblätter. Zeitschrift für Regionalgeschichte Schlesiens 38/2 (2012) 41–48. Die gegenreformatorischen Verlagsstrategien in Schlesien. In: Orbis Linguarum 38 (2012) 137–143 2013 Das Alte Schlesien. Hamburg 2013.





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Bildnachweis Cover: Gemälde des 1816 in Breslau geborenen Malers Philipp Hoyoll, der nach seiner Teilnahme an der Revolution von 1848/49 im Jahr 1853 nach England emigrieren musste. Sozialer Protest 1846 vor einem Bäckerladen am Breslauer Neumarkt. Die preußische Infanterie schoss dabei auf die Protestierenden. Bildnachweis: picture alliance Abb. 1: „Ein neuwer recht christlicher Catechismus“ von Johann Werner. Zum ersten Mal gedruckt 1546. Das abgebildete Titelblatt stammt von einer Ausgabe aus dem Jahr 1600. Werner war Prediger in Rengersdorf (Kreis Glatz) von 1540 bis 1554. Er starb 1561. Bildnachweis: Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, V. Abb. 2: Kardinal Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) war 1622 zum Erzbischof von Prag gewählt und 1626 zum Kardinal ernannt worden. Er ordnete nach der Rekatholisierung der Grafschaft Glatz, die zur Erzdiözese Prag gehörte, die dortigen kirchlichen Verhältnisse. Bildnachweis: Herzig, Arno/Ruchniewicz, Małgorzata: Geschichte des Glatzer Landes. Hamburg/Wrocław 2006, 164. Abb. 3: Titelbild der „Glaciographia oder Glätzischen Chronika“, Leipzig 1625. Der Theologe und Prediger Georg Aelurius (1596–1627) verfasste die Chronik nach seiner Ausweisung aus Glatz 1622 in seiner Geburtsstadt Frankenstein. 1624 beendete er die Chronik, die bereits ein Jahr später in Leipzig bei Gregor Ritzsch gedruckt und durch den Breslauer Verleger David Müller vertrieben wurde. Bildnachweis: Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, X. Abb. 4: Die Trauerpredigt des lutherischen Habelschwerdter Geistlichen David Wisaeus auf Ursula Hasin, die Frau eines Kollegen in Mittelwalde. Im Gegensatz zu seinen Predigten erschien die vermutlich von ihm verfasste Chronik von Habelschwerdt nicht im Druck. Bildnachweis: Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, VII. Abb. 5: Einblattdruck der Altwilmsdorfer Wallfahrt von 1720. Mit der Erfindung der beweglichen Lettern entstanden die Einblattdrucke als wichtiges Kommunikationsmittel der Frühen Neuzeit. Die Wiedergabe des Ortes Altwilmsdorf entspricht nicht der Realität. Bildnachweis: Privatsammlung Arno Herzig Abb. 6: Grafische Darstellung der Schlossanlage von Grafenort von Friedrich Bernhard Werner von 1738. Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Renaissance-Schloss wurde in den 1650er Jahren von den italienischen Baumeistern Carlo Lurago und Andrea Carova ausgebaut. Die Gartenanlage ist in barocker repräsentativer Manier gestaltet und wie auf die umgebende Landschaft aufgelegt. Zugleich sind erste Anklänge an die nach dem Dreißigjährigen Krieg sich herausbildende landschaftliche Gartengestaltung erkennbar. Bildnachweis: Herzig, Arno: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz. Hamburg 1996, XV. Abb. 7: Bernhard Rosa (1624–1696) war ab 1660 Abt des Zisterzienserklosters Grüssau und wirkte als Reformer seines Ordens und Gründer der Josephsbruderschaften, die als integrierende Kraft in der habsburgischen Konfessionspolitik wirkten. Zugleich war Rosa auch ein Wegbereiter des Barocks in Schlesien. Durch seine Initiative entstanden zahlreiche kirchliche Bauwerke, unter ihnen die Josephskirche in Grüssau mit einem Zyklus von Fresken des Barockmalers Michael Leopold Lukas Willmann, geboren 1630 in Königsberg, gestorben 1706 in Leubus. Bildnachweis: Ellinger, Georg: Angelus Silesius. Ein Lebensbild. Breslau 1927, o. S.

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Abb. 8: Gemälde, im Auftrag der Glatzer Jesuiten von Karl Dankwart ausgeführt. Für die Jesuiten als Nachfolger des von dem Prager Erzbischof Arnestus von Pardubitz gestifteten Glatzer Chorherrenstifts spielte der Arnestuskult im Rahmen ihrer Rekatholisierungspolitik eine wichtige Rolle. Arnestus hatte als Knabe die Schule der Johanniter in Glatz besucht, wo sich nach seinen Angaben beim Chorsingen Maria von ihm abgewandt hatte. muss noch ergänzt werden Bildnachweis: Foto: Muzeum Ziemi Kłodzkiej, Tomasz Gmerek. Abb. 9: Als Erzbischof von Prag empfängt Ernst (Arnestus) von Pardubitz vor dem Hintergrund der Stadt Glatz den Segen Marias. Bildnachweis: Foto: Muzeum Ziemi Kłodzkiej, Tomasz Gmerek. Abb. 10: Titelbild der „Historia beatissimae Virginis Glacensis“ von Johannes Miller aus Glatz. Die von dem Jesuiten verfasste Schrift über die wundertätige Marienstatue greift zurück auf die von Arnestus von Pardubitz überlieferte Geschichte seiner Marienerscheinung. Die von Miller verfasste und auf Chroniken beruhende „Historia“ wurde 1690 im Verlag von Andreas Frantz Pega in Glatz gedruckt. Sie ist ein Beispiel für die in der Zeit der Rekatholisierung wieder eingeführten Marienwallfahrten zur Stabilisierung des katholischen Glaubens. Bildnachweis: Privatsammlung Angelika Marsch Abb. 11: Darstellung der Gnadenkirche in Hirschberg von Friedrich Bernhard Werner im Rahmen einer Serie von Ansichten der Gnaden- und Friedenskirchen in Nieder- und Oberschlesien. Der Titel lautet: „Prospect der Evangelischen Kirche, vor der Stadt Hirschberg in Nider Schlesien, genandt Zum Creutz-Christi“. Die Gnadenkirche in Hirschberg wurde nach dem Vorbild der Katharinenkirche in Stockholm errichtet. Damit drückten die Protestanten ihren Dank gegenüber König Karl XII. von Schweden aus, einem Großneffen König Gustav II.. Der Baumeister der Gnadenkirche, deren Bauzeit neun Jahre betrug, war der Liegnitzer Martin Frantz. Bildnachweis: Privatsammlung Angelika Marsch Abb. 12: Ansicht von Friedrich Bernhard Werner. Der Titel lautet: „Prospect der Evangelischen Kirche vor der Stadt Schweidnitz, in Nider Schlesien genand zur H. Dreyfaltigkeit”. Die von Werner veröffentlichten Ansichten der drei Friedens- und sechs Gnadenkirchen waren die frühesten Darstellungen dieser Gotteshäuser, die nur vor den Toren der Städte erbaut werden durften. Die Friedenskirche in Schweidnitz zeichnet sich von den anderen Gotteshäusern durch ihre Größe aus. Der Innenraum fasste 3.000 Sitzplätze und 4.500 Stehplätze. Die Kirche entstand in den Jahren 1657/58. Ein Jahr später folgte der Anbau der großen Sakristei. Bildnachweis: Privatsammlung Angelika Marsch Abb. 13: Titelblatt „Cherubinischer Wandersmann“ der Ausgabe von 1675. Das Werk von Angelus Silesius ist die bedeutendste Schrift der Gegenreformation, die im Glatzer Verlag von Ignatz Schubarth erschien. Bildnachweis: Angelus Silesius. Sämtliche poetische Werke, hg. v. Hans Ludwig Held, Bd. 1, München 31952, o. S. Abb. 14: Judenplatz (nach 1824 Karlsplatz). Eine der wenigen Darstellungen jüdischen Lebens in Breslau während des 18. Jahrhunderts. Sie stammt von dem bekannten Vedoutenmaler Friedrich Bernhard Werner. Die sogenannte Judenbörse zeigt jüdische Geschäftsleute. Bildnachweis: Privatsammlung Angelika Marsch Abb. 15: Bankgebäude E. Heimann, Breslau, Ring 33–34, im Jahr 1919, „im hundertsten Jahr des Bestehens der Firma“. An die Stelle der jüdischen Finanzagenten des 18. Jahrhunderts traten im 19. Jahrhundert die Bankunternehmen jüdischer Bankiers. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, # 3309. Abb. 16: Titelblatt der 1716 in Jauer erschienenen Schrift des 1713 zum protestantischen Glauben konvertierten (und vermutlich später wieder rekonvertierten) Fürther Rabbiners Paul Christian Kirchner. Die Darstellungen Kirchners über kultische Bräuche der Juden stießen zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei Theologen, vor allem bei protestantischen Geistlichen, auf großes Interesse.



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Aus der Feder eines Rabbiners erhofften sie sich Aufschluss über das „geheime „Wissen“ der Juden, suchten aber auch nach Informationen, um für Disputationen und Bekehrungsgespräche gerüstet zu sein. Bildnachweis: Herzig, Arno: Das Interesse an den Juden in der Frühen Neuzeit. Hamburg 2012, 45. Abb. 17: In den Jahren von 1866 bis 1872 entstand nach einem Entwurf von Edwin Oppler (1831– 1880) in Breslau die Synagoge „Am Anger“. Sie gilt als Muster für alle weiteren Synagogenbauten ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die im Stil der Neoromanik erbaut wurden mit einem Zentralgrundriss und einer großen zentralen Kuppel sowie vier Ecktürmen. Andere Architekten entwarfen nach diesem Vorbild zum Beispiel die Synagoge in Glogau. Mit dieser repräsentativen Bauform dokumentierte das schlesische jüdische Bürgertum seinen sozialen Aufstieg und sein gestiegenes Selbstbewusstsein. Bildnachweis: Hammer-Schenk, Harold: Synagogen in Deutschland, Bd. 2. Hamburg 1981, Abb. 159. Abb. 18: Eine der wichtigsten Quellen zum Leben der deutschen Juden unter dem Nationalsozialismus sind die Tagebücher des 1941 in Kaunas von Deutschen ermordeten Breslauer Studienrats Willy Cohn. Bildnachweis: Cohn, Willy: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/Wien 1995, Vorsatzbild. Abb. 19: Breslau, Sabowstraße 31/33, Januar 1934. Abschiedscommers von Werner Hayek mit jüdischen Studenten in Breslau. Vorn rechts im Bild der spätere Rabbiner und Archivar der jüdischen Gemeinde in Breslau, Professor Dr. Bernhard Brilling. Bildnachweis: Privatsammlung Arno Herzig Abb. 20: Einen eindrucksvollen und auch objektiven Bericht über den Breslauer Gesellenaufstand von 1793 verfasste der Oberste Meister der Breslauer Schneiderzunft Johann Gottlieb Klose. Der Bericht durfte seinerzeit nicht im Druck erscheinen. Bildnachweis: Herzig, Arno/Sachs, Rainer: Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation. Göttingen 1987, nach [S.] 16. Abb. 21: Bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Militär in Breslau 1793 stürmten die Gesellen das Offiziersbordell und zerstörten die Einrichtung. Bildnachweis: Herzig, Arno/Sachs, Rainer: Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation. Göttingen 1987, nach [S.] 16. Abb. 22: Die Karikatur erschien 1847 in der seit 1845 in München erscheinenden humoristischen Wochenschrift „Fliegende Blätter“. An ihr wirkten zahlreiche Künstler mit, unter anderem Carl Spitzweg, Wilhelm Busch und Franz Graf von Pocci. Neben Karikaturen veröffentlichte die Wochenschrift auch Gedichte und Erzählungen. Die „Fliegenden Blätter“ zeichneten sich durch satirische Darstellungen und überspitzte Aussagen wie hier zum schlesischen Weberaufstand zum Elend der Weber und der „offiziellen Abhülfe“ aus. Bildnachweis: Fliegende Blätter 6/138 (1847) 142. Abb. 23: Die Fahne des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde 1873 von schlesischen Arbeiterfrauen für das zehnjährige Stiftungsfest der Breslauer Gemeinde des ADAV angefertigt. Die Parole verweist auf die Grundsätze der Französischen Revolution, das Emblem im Lorbeerkranz auf den ersten Zusammenschluss in der Arbeiterverbrüderung während der Revolution von 1848. Bildnachweis: Friedrich-Ebert-Stiftung Abb. 24: Zu den bekanntesten Professoren während der Gründungsphase der Breslauer Universität zählt der Naturphilosoph und Schriftsteller Henrich Steffens, der 1813 die Studenten zum Kampf gegen Napoleon aufrief und 1821/22 und 1829/30 Rektor der Universität war.

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Gemälde von Christian August Lorentzen aus dem Jahr 1804. Bildnachweis: Steffens, Henrich: Was ich erlebte: Hg. v. Willi A. Koch. Leipzig 1938, Vorsatzblatt. Abb. 25: Als eine der ersten Germanistikprofessuren in Deutschland kann die Professur von Friedrich von der Hagen in Breslau gelten. Bevor er 1811 nach Breslau kam, hatte Friedrich von der Hagen das Nibelungenlied publiziert. Bildnachweis: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Abt. Sammlungen, Fotosammlung, F. v. d. Hagen Nr. 1. Abb. 26: August Heinrich Hoffmann (Hoffman von Fallersleben) trug als Germanist wesentlich zur Etablierung des Faches als wissenschaftliche Disziplin bei. Hoffmann hatte mit einem Studium der Theologie begonnen, wechselte dann aber zur deutschen Philologie. Er war von 1823 an Kustos der Universitätsbibliothek Breslau und wurde 1830 als Nachfolger von Johann Gustav Gottlieb Büsching zum außerordentlichen Professor für deutsche Sprache und Literatur berufen. Die Ernennung zum ordentlichen Professor erfolgte 1835. Aufgrund der Publikation seiner „Unpolitischen Lieder“ verlor er 1842 seine Professur. Bildnachweis: Hoffmann von Fallersleben. Ausgewählte Werke in vier Bänden. Hg. v. Hans Benzmann, Bd. 1. Leipzig [1905], o. S. Abb. 27: Zu den bedeutendsten Gebäuden der Breslauer Universität zählt das ehemalige Jesuitenkonvikt und spätere Kollegiengebäude. Von hier aus rief Henrich Steffens 1813 zum Kampf gegen Napoleon auf. Weitere namhafte Persönlichkeiten, die hier wohnten bzw. wirkten, waren Joseph von Eichendorff, Friedrich und Karl von Raumer, William Stern und Edith Stein. Bildnachweis: Friedrich Bernhard Werner: Topographie der Stadt Breslau geschrieben von Ryszard Len, Via-Wydawnictwo 1998, 31. Abb. 28: Martin Buber und Joseph Wittig bei ihrem letzten Treffen 1937 in Gottesberg bei Waldenburg. Bildnachweis: Privatsammlung Arno Herzig Abb. 29: Paul Fleming (1609–1640) war Arzt und Schriftsteller, wie der Abbildung von 1640 zu entnehmen ist. Fleming wurde 1631 zum poeta laureatus gekrönt. Mit Geog Gloger verband Fleming eine lebenslange Freundschaft. In Erinnerung an seinen toten Freund veröffentlichte Fleming die „Manes Glogeriani“. Bildnachweis: Fleming, Paul: Ausgewählte Dichtungen. Hg. v. Heinrich Stiehler. Leipzig o. J, o. S. Abb. 30: Titelbild des in Brieg bei Augustin Gründer gedruckten und in Breslau bei dem Buchhändler David Müller verlegten „Buchs von der deutschen Poeterey“ (1624). In dieser Schrift wandte sich Martin Opitz (1597–1639) von dem antiken Versmaß ab und suchte nach Grundsätzen für eine der deutschen Hochsprache entsprechende Form der Metrik. Bildnachweis: Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Tübingen 1963 [Neudrucke Deutscher Literaturwerke NF 8], Titelblatt des Neudrucks. Abb. 31: Jugendbildnis Karl von Holteis. Bildnachweis: Privatsammlung Arno Herzig Abb. 32: Theaterbühne im Schloss Grafenort zur Zeit Holteis, als unter Graf Johann Hieronymus von Herberstein das Theaterleben in der Grafschaft Glatz einen Höhepunkt erlebte. An der Bühne wirkten der Schauspieler Karl Seydelmann (1793–1843), der in Grafenort seine Schauspiellaufbahn begann, sowie Karl von Holtei (1798–1880) und Holteis Ehefrau Louise Rogee (1800– 1825). Holtei führte am Theater in Grafenort klassische und Boulevardstücke auf, aber auch kleine Opern. Die musikalische Leitung hatte der Grafenorter Kantor Josef Simon (1770–1840) inne. Die Dorfbewohner hatten zu den Theateraufführungen Zutritt. Holtei leitete das Theater bis 1844. Seine letzte Inszenierung war das Stück „Die Majoratsherrn“. Bildnachweis: Privatsammlung Arno Herzig Abb. 33: Der Schriftsteller Wilhelm Bölsche (1861–1939) publizierte im renommierten Verlag Eugen Diederichs 1905 den „Cherubinische[n] Wandersmann“ von Johannes Scheffler, genannt Angelus



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Silesius (1624–1677), und interpretierte das Werk aus zeitgenössischer Sicht der Jahrhundertwende. Bildnachweis: Ullstein Bilderdienst Abb. 34: Johannes Scheffler (1624–1677) konvertierte 1653 zum katholischen Glauben und legte das öffentliche Bekenntnis am 12. Juni in der Matthiaskirche in Breslau ab. Dem Namen Johannes Angelus, den er mit dem Übertritt zur katholischen Kirche erhielt, fügte er in seinen Schriften den Zusatz Silesius bei. Scheffler, der sich schon während seines Medizinstudiums intensiv mit den mittelalterlichen Mystikern befasst hatte, erhielt entscheidende Impulse von dem zeitgenössischen schlesischen Mystiker Abraham von Franckenberg (1593–1652). Bildnachweis: Angelus Silesius. Die Geschichte seines Lebens und seiner Werke. Urkunden. Hg. v. Hans Ulrich Held. München 1922, o. S.

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Personenverzeichnis Aelurius, Georg 27, 31, 57–59, 61f., 66–69, 71f., 74, 137 Albert, Franz 358 Albrecht Hz. von Bayern 33 Alexis, Willibald 388 Altaner, Berthold 346 Altenstein, Karl von 310, 320f., 326–329 Althann, Michael Wenzel (I) Gf. von 122 Althann, Michael Wenzel (II) Gf. von 122 Ampassek (Ampasseggio), Adam Christian von 83 Angelus Silesius → Scheffler, Johannes Annenberg, Johannes Arbogast Gf. von 80, 83, 113, 116, 125 Anther, Nikolaus 163 Arndt, Paul 108f. Arnim, Achim von 387f. Arnim, Hans Georg von 147 Ascher, Abraham 248, 253f. Aschheim, Isidor 232 Atzmon-Cohn, Ruth 235 Aubin, Hermann 353 Auerbach, Berthold 222 Augusti, Johann Christian Wilhelm 305 Baeck, Leo 230, 240–242, 253, 350 Baltzer, Johann 334 Bartsch, Karl 312, 316 Baumgarten, Jens 13 Baumgarten, Konrad 160 Bebel, August 238, 330f. Bechtel, Heinrich 339 Bellarmino, Roberto 135 Benecke, Georg Friedrich 314, 316, 322 Berends, Karl August Wilhelm 307 Berlichingen, Götz von 318f. Berliner, Jesaia Löb 186f. Bertram, Adolf Kard. Ebf. von Breslau 254, 348 Beuth, Peter Christian 289 Beyerhoff, Hans Adam 123 Biedermann, Georg 63 Bielschowsky, Alfred 346 Blimel, Caspar 119 Bloch, Konrad 232 Bodin, Jean 38 Boehlich, Walter 237

Böhme, Jakob 392, 396, 398 Bölsche, Wilhelm 390–403 Börne, Ludwig 222 Böttiger, Karl August 317 Bohati, Georg 101 Born, Max 227, 232, 334 Bornhausen, Karl 362 Both, Carl Friedrich von 312 Bracciolini, Poggio 160 Brahms, Johannes 334 Brandes, Heinrich Wilhelm 304f. Braniß, Christlieb Julius 230, 309, 323 Brann, Marcus 230, 235 Brase, Georg Franz 109 Braun, Heinrich 331 Braun, Otto 250 Brauner, Friedrich 106 Brenker, Anne 13 Brentano, Clemens von 388 Brentano, Lujo 330f., 333f. Brenz, Johannes 26 Bretholz, Berthold 358 Brockelmann, Karl 246 Broese, Menachem Mendel 187f., 221 Brückner, Helmuth 360 Brus von Müglitz, Anton, Ebf. von Prag 30, 34 Buber, Martin 238, 349–351, 353–355, 360– 362 Buckisch und Löwenfels, Gottfried Ferdinand von 54, 148 Büchner August 371 Büren, Moritz von 94 Bürkner, Robert 378f. Büsching, Johann Gottlieb 302, 314, 316–322, 324, 326, 376 Bunsen, Robert 334 Caligula, röm. Ks. 37 Campo, Arnold 101 Canavale, Francesco 114, 121 Canisius, Petrus 135 Carafa, Carlo 44 Carmer, Johann Heinrich Casimir von 184 Caro, Fam. 101, 206, 224 Caro, Isaac Selig 206f. Caro, Jacob 231



Personenverzeichnis

Carova, Andrea 101, 114, 117, 120–123 Carova, Jacobus 122f. Celtis, Konrad 19 Chmielnicki, Bogdan 169 Christoph, Hz. von Württemberg 28 Clairvaux, Bernhard von 402 Claudius, röm. Ks. 37 Clemens VIII., Papst 95, 137 Clemens XIV., Papst 144 Cleve, Elias 215 Cochläus, Johannes 161 Cohen, Raphael 185 Cohn, Ernst 246, 250, 335–347 Cohn, Ferdinand Julius 227 Cohn, Gertrud 242 Cohn, Louis 246 Cohn, Susanne 242 Cohn, Tamara 242 Cohn, Willy 235–257, 335 Conrads, Norbert 8, 240 Crato von Crafftheim 62 Cromerus, Martin 58, 60 Cruziger, Johann 161f. Cureus, Joachim 62 Cusanus, Nikolaus 160 Czepko von Reigersfeld, Christian 150, 155, 158f. Czepko von Reigersfeld, Daniel 54, 150, 155, 396, 398, 400 Dahlmann, Friedrich Christoph 329 Dahn, Felix 333 Dankwart, Karl 138f., 141, 143f. Dasselmann, Johannes 106 Denkel, Georg 79–81 Deventer, Jörg 13 Dierig, Fa. 284, 287 Dietrich von Fürstenberg, Bf. von Paderborn 94 Dilthey, Wilhelm 332–334 Dische, Irene 254 Dohm, Christian Wilhelm von 186, 188f. Dohm, Lewin Benjamin 188 Donig, Christoph von 98 Dove, Alfred 325, 333f. Droschke, Wolfgang 161 Dürken, Bernhard 340 Duhr, Bernhard 104 Dyon, Adam 161

423

Eckel, Fabian 19f., 22, 26, 62, 67 Eckersdorf, Hans von 137, 141 Eckhart von Hochheim 396 Eckstein, Ernst 249f. Ehrlich, Felix 346 Ehrlich, Paul 232, 334 Eichborn, Ludwig 193 Eichendorff, Joseph von 332, 387 Eising, Andreas 31, 35, 69f., 95 Eising, Georg 34 Elbogen, Ismar 230 Elias, Norbert 234, 237, 248, 252, 254 Elisabeth Maria, Hzgn. von Oels 398 Ellinger, Georg 396 Elogius, Caspar 30–38, 69, 91 Elogius, Esther 32 Emser, Hieronymus 162 Engel, Emanuel 200 Engelbert, Kurt 239f., 254 Engels, Friedrich 291–293 Engler, Adolf 332 Ephraim, Joseph Veitel 180, 182 Ernst von Bayern, Ebf. von Salzburg, Gf. von Glatz 27, 32, 60, 67, 77 Ernst von Pardubitz, Ebf. von Prag 95, 137– 142, 144, 353 Elyan, Caspar 160 Esterházy de Galantha, Nicolaus von 198 Fabricius, Fridericus 62, 136 Falk, Adalbert 226 Faltone (Fatchone), Geronimo 114, 121 Fechtner, David 30, 32f. Fellmann, Fa. 286 Ferdinand I., Ks. 22, 32, 37, 40–44, 128 Ferdinand II., Ks. 47f., 79f., 99, 114, 128, 149, 156 Ferdinand III., Ks. 45, 88, 113 Ferdinand IV., Kg. 194 Ferdinand Karl, Bf. von Breslau 143 Feuchtwanger, Max 252 Fischel, Abraham 208 Flacius, Illyricus 29 Fleming, Paul 367f., 370f., 373f. Franck, Sebastian 63 Franckenberg, Abraham von 394, 398 Franckenberg, Marian 75 Frankel, Zacharias 230 Fränkel, Jonas Joseph 180 Fränkel, Levi Saul 187

424

Anhänge

Fränkel, Siegmund 231 Fraenkel, Ludwig 346 François, Etienne 56 Franke, Hans 354 Franz II., Ks. 202 Franz Ludwig, Hz. von Pfalz-Neuburg, Bf. von Breslau 47, 130, 143 Freiberger, Arnold 136 Freitag, Christoph 398f. Freund, Ismar 230 Frey, Dagobert 345 Freytag, Gustav 227f., 325, 333 Friedländer, David 187 Friedländer, Fam. 224 Friedrich von Hessen, Bf. von Breslau 130 Friedrich I., Kg. in Preußen 215 Friedrich II., Kg. von Preußen 13, 126, 153, 169, 175, 178f., 191, 194f., 197, 204, 211 Friedrich II., Hz. von Liegnitz 19f., 22, 26 Friedrich III., Hz. von Liegnitz 27 Friedrich IV, Kfst. von der Pfalz, Kg. von Böhmen 73, 77, 88 Friedrich August, Kg. von Polen 151 Friedrich Wilhelm II., Kg. 188, 222 Friedrich Wilhelm III., Kg. 299 Fuchsberg, Karl von 55, 80 Fülleborn, Georg Gustav 222f. Fugger von Babenhausen, Fst. 202 Gad, Esther 188, 221f. Gad, Raphael 188, 222 Gallenberg, Maria Anna von 198 Gans, Eduard 309, 388 Garve, Christian 187f., 221, 380 Gaß, Joachim Christian 307, 319, 323 Gegler, Hans 24 Geiger, Abraham 187, 228 Geissler, Bianca 349 Georg I., Kg. von England 151 Georg III. Gf. von Oppersdorf 45 Georg d. Fromme, Mkgf. von Jägerndorf 41 Georg Rudolf, Hz. von Liegnitz 146 Gerhard, Paul 401 Gerke, Ernst 257 Gerstmann, Martin von, Bf. von Breslau 161 Gescher, Franz 346 Gierke, Otto von 332f. Gilbert, Ludwig Wilhelm 305 Glashoff, Frank 85 Gloger, Georg 367–374

Gloger, Niclas 367 Gloger, Peter 367 Göbel, Friedrich, Johann, Gregor 74 Göppert, Heinrich Robert 333 Götten, Edmund von 123f. Goethe, Johann Wolfgang von 301, 326, 329 Goetz, Philipp Maria von 202 Goetzen, Franz Anton von 194f. Goetzen, Friedrich Wilhelm Gf. von 197 Goetzen, Johann Ernst Frhr. von 194 Goetzen, Johann Georg Frhr. von 194 Goetzen, Johann Joseph Leonhard Gf. von 194f. Gogarten, Friedrich 339 Goldheim, Carl von 64, 178 Goldschmidt, Marel 206 Goldschmidt, Moses Samuel 206–208 Gompertz, Bendix Ruben 171, 174–177, 179f., 204 Graetz, Heinrich 227, 230, 235 Grimm, Georg 105 Grimm, Jacob 312, 321f. Grimm, Wilhelm 322 Großmann, Gottlob 153 Grün, Karl 289, 291 Grünhagen, Colmar 333 Grunewald, Eckhard 313 Güdemann, Moritz 230 Gürtler, Hieronymus 19 Gustav II. Adolf, Kg. von Schweden 87, 145– 154, 306, 369, 373 Guttentag, Samuel 323 Guttmann, Elias Isaac 198–200, 202 Haase, Felix 339f. Haase, Friedrich 329 Haber, Fritz 232, 249 Haeckel, Ernst 392 Hagecius, Wenceslaus 58, 60 Hagen, Friedrich Heinrich von der 312–322, 326 Hainauer, Fam. 237, 246 Hainttel, Martin 158 Halle-Wolfsohn, Aaron 222 Hamburger, Ernst 250 Hameln, Chajm 215 Hameln, Glikl 215 Hanisch, Hans 119 Hanke, Johann 112 Hanke, Karl 257



Personenverzeichnis

Hardenberg, Karl August von 14f., 190, 202, 211, 223f., 231, 281, 300, 305, 309f., 316f., 319f., 326–328, 375f., 386 Harrach, Ernst Adalbert von, Ebf. von Prag 51f., 120, 122 Hartmann, Heinrich 399 Hasse, Johann Adolph 307 Haugwitz, Wenzel Gf. von 303 Hauptmann, Carl 332, 392 Hauptmann, Gerhart 286, 390, 392 Havers, Wilhelm 339 Hayek, Werner 246–248, 254 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 388 Heiber, Helmut 343 Heimann, Elkan (Ernst) 201f., 224, 226 Heimann, Heinrich Philipp 188, 221 Heimann, Moses 180 Heindorf, Ludwig Friedrich Heinrich 305 Heine, Heinrich 222, 309 Heines, Edmund 249, 347 Heinisch, Johann Georg 403 Heinke, Anton Wenzel Frhr. von 190, 200 Heinrich, Anton 384 Heinrich II., Hz. von Schlesien 203 Held, Hans von 269 Helfritz, Hans 345–347 Helmrich, Georg 19 Helwig, Martin 161 Hendrich, Hermann 392 Henschel, Abraham 198–200, 202 Henschel, August W.E. 230 Henschel, Elias 188, 221 Herberstein, Hieronymus Gf. von 384f., 388 Herberstein, Johann Friedrich Gf. von 100, 115f., 119, 122 Herberstein, Maria Maximiliane Gfn. von 116, 124 Hermes, Karl 327 Herz, Henriette 222 Hess, Johannes 20, 48 Heymann, Carl 233 Heymann, Heinrich Philipp 188, 221 Heymann, Moses 183 Heyne, Christian Gottlob 314 Hiller, Tobias 188, 221 Hilscher, Balthasar 50 Hilten, Johannes 36 Hirsch, Jacob 177 Hirsch, Simon 188, 221 Hirschel, Lazarus Philipp 183

425

Hirschel, Moses 222 Hirschel, Philipp Lazarus 183f. Hitler, Adolf 250, 256, 355 Hoffmann, Fa. 284 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 324f., 329, 333, 420 Hoffmann von Leuchtenstern, Siegesmund 123 Hofmann, Christian 118 Hofrichter, Fa. 286 Hohenlohe-Bartenstein, Joseph von, Bf. von Breslau 278, 309 Holtei, Heinrich von 381 Holtei, Karl von 15, 231, 319, 375–389 Hos(e)mann, Abraham 60 Hoym, Karl Georg Heinrich von 181f., 185, 188, 192, 222, 262f., 268–272, 274–276, 279 Hubrich, Franz 76, 79, 81–84 Huldchinsky, Fam. 224 Humboldt, Alexander von 230 Humboldt, Wilhelm von 15, 299–302, 305, 307, 314, 316, 380 Hus, Jan 47 Ignatius von Loyola 139 Israel Benedikt 203f. Itzig, Ephraim Daniel 180 Jäger, Karl 242, 257 Jaschke von Eisenhut, Caspar 143 Jean Paul [Richter] 222 Jedin, Hubert 239, 346 Jenisch, David 66 Jerin, Andreas von, Bf. von Breslau 161 Jessen, Hans 320 Joel, Manuel 227 Jogwer, Andreas 119 Johann von Pernstein Gf. von Glatz 26 Johann Christian, Hz. von Brieg 146, 149 Johann Georg I., Kfst. von Sachsen 397 Johannes (der Täufer), Hl. 24 Johannes IV. Roth, Bf. von Breslau 160 Joseph I., Ks. 180 Josephi, Christian 195 Jungendres, Sebastian Jakob 212, 214 Jungnitz, Karl 327 Kahl, Christian 212 Kahlert, August 376

426

Anhänge

Kameke, Karl Gf. von 265, 272 Kant, Immanuel 378 Kargel, Schestel 208, 210 Kariger, Adam 122 Karl V., Ks. 37, 47 Karl VI., Ks. 175 Karl X., Kg. von Schweden 150 Karl XII, Kg. von Schweden 151, 153 Karl von Habsburg, Bf. von Breslau und Brixen 137, 143 Karl Borromäus, Bf. von Mailand 135, 143 Karl Ferdinand, Bf. von Breslau 143 Karl Friedrich, Hz. von Münsterberg-Oels 146 Kastner, Michael 78, 108 Katschker, Georg → Aelurius, Georg Kauffmann, Salomon 224, 285 Kausch, Johann Joseph 300 Kautsky, Karl 390 Keck, Hieronymus 43, 79–83, 144 Kedd, Jodokus 399 Kerr, Alfred 232, 244 Keyl, Matthias 58, 66 Khlesl, Melchior, Bf. von Wien 47 Kirchner, Paul Christian 212–214, 216–218 Kirmeser, Christoph 48, 60, 70, 95, 137, 144 Kirsten, Johannes 33 Kisch, Guido 230 Klahr, Michael d. J. 120 Klar, Simon 119 Klemenz, Paul 369, 374 Klinke, Martin 106f. Klösel, Tobias 80 Klose, Johann Gottlob 261–280 Knauer, Hans 347 Koch, Stephan 64 Kögler, Joseph 61, 63, 71, 75f., 79, 84, 352, 355 Koppitz, Hans-Joachim 390 Koreff, David Ferdinand 197 Koreff, Joachim Salomon 197f. Kornemann, Ernst 346 Kraft von Crafftheim, Johann → Crato von Crafftheim Krautwald, Valentin 19f., 22f. Krentzheim, Leonhard 62 Kroner, Theodor 230 Krzymonski, Richard 346 Kuh, Fam. 173, 194–198, 202 Kuh, Abraham 184 Kuh, Daniel 177, 180, 194 Kuh, Ephraim Moses 187f., 221f., 244

Kuh, Judita 197 Kuh, Zacharias 181f. Lachmann, Karl 321 Lachnicht, Melchior 87 Łagiewski, Maciej 230 Lammers, Hans Heinrich 341 Lamormaini, Wilhelm 50 Landauer, Gustav 393 Langer, Chrysostomus 157 Langer, Fam. 286 Langer, Georg 123 Langhans, Carl Ferdinand 177, 228, 244 Lappenberg, Johann Martin 371, 374 Laqueur, Walter 237 Lasker, Alfons 252 Lasker-Wallfisch, Anita 248, 252–254 Lassalle, Ferdinand 231, 238, 251, 290f., 293f. Lattorf(f ), Philipp Friedrich Lebrecht von 263 Lavater, Johann Caspar 187 Lazarus, Gerson 184 Lazarus, Zacharias Abraham 184 Leimgruben, Martin 77 Lenger, Friedrich 331 Lengfeld, Anton Joseph 123 Lenz, Max 332 Leopold I., Ks. 204 Levi, Isaac Aaron 177 Levi, Raphael 207 Levin, Rahel 222 Levysohn, Friedrich Wilhelm 233 Lewin, Jacob Meier 205 Lichnowsky, Moritz Gf. von 199f. Lieberkühn, Philipp Julius 188, 221 Liebischen, Kaspar 45 Liechtenstein, Philipp Rudolf 45, 157 Liesch von Hornau, Johann Balthasar, Bf. von Breslau 118, 143f. Linck, Hieronymus 61 Lincke, Udo 355 Lippmann, Joseph 206 Lissa, Heiman 187, 221 Lobethal, Victor Aaron 188, 221 Lobhartzberger, Christoph 374 Lobkowitz, Leopold Popel Gf. von 95 Loebell, Johann Wilhelm 386f. Logau, Friedrich von 69 Logau, Heinrich von 60, 369 Logau, Kaspar von, Bf. von Breslau 161 Lohenstein, Daniel Caspar von 146



Personenverzeichnis

Lohenstein, Zacharias 181 Lorentz, Johann Christian 212 Löw(e), Joel Brill 187f., 221 Löwenstern, Apelles von 133 Loy, Caspar → Elogius, Caspar Loy, Esther → Elogius, Esther Lucae, Friedrich (Pseud. Friedrich Lichtstern) 149f. Ludwig I. von Anhalt-Köthen 371 Ludwig II., Kg. von Böhmen 160 Ludwig, Emil 232, 237 Lüttwitz, Henriette von 301 Lurago, Carlo 101, 113, 115, 117, 120f., 141 Luther, Martin 19f., 22, 25, 29, 36f., 66, 73, 81, 133, 160–162 Lutsch, Hans 166 Luxemburg, Rosa 331 Maimon, Salomon 187, 221 Major, Elias 369 Malten, Ludolf 339 Mamlok, Hugo 242 Mansfeld, Peter Ernst, Graf von 45 Manso, Johann Caspar Friedrich 317, 319 Marck, Siegfried 237 Marcus, Max 233 Maria Theresia, Ksn. 48, 175, 333 Mariano, Marco 101, 113 Martin, Franz 34 Marx, Karl 238, 291, 293 Massow, Joachim Ewald von 179 Mathey, Jean Baptiste 174 Maximilian II., Ks. 30, 34, 36f., 42, 91, 369, 397 Meckauer, Walter 232 Meckenburger, Heinrich 118 Medeck, Martin, Ebf. von Prag 95 Meidner, Ludwig 231 Meier, Eduard 232 Meier, Lippmann 187 Melanchthon, Philipp 22, 26, 36–38 Mellingius, Melchior 369 Menasse Ben Israel 171 Mendelssohn, Moses 185–187, 224 Menzel, Christoph 119 Menzel, Karl Adolf 377f. Merckel, Friedrich Theodor 376, 379 Metzinger, Anna Margaretha 143 Metzinger, Johann Christoph 143 Meves, Uwe 312

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Meyer, Eduard 332, 334 Meyer, Michael A. 228 Miaskowski, August von 332 Miaskowski, Ina von 332 Michel, Joseph 261–263, 271f. Middeldorpf, Hinrich 154 Milde, Karl August 282 Miller, Johannes 68, 75, 136, 139, 141–143 Moibanus, Ambrosius 48, 161 Mommsen, Christian Matthias Theodor 333 Mone, Franz Josef 322 Morgenbesser, Johann Gottfried 188, 221 Morgenstern, Salomon 218 Moses, Simon 210, 218 Motte Fouqué de la, Heinrich 195 Mühsam, Paul 232 Müller, David 57, 59372 Müller, Johannes 159 Münchow, Ludwig Wilhelm von 179 Münnich, Joseph Anton 196 Mürer, Hirsch Salomon 177 Mulert, Herbert 363 Muth, Carl 350 Mutono, Carl 121 Napoleon I., Ks. 187, 299, 308, 313, 327, 332 Neaetius, Christoph 30, 32, 42, 67, 77 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried Daniel 329f. Nero, röm. Ks. 37 Neumann, Friedrich Wilhelm 327 Nicolai, Friedrich 380 Nicolai, Philipp 401 Nicolovius, Heinrich Ludwig 300 Nößl, Merten 119 Nonner, Christoph 102, 104, 107f. Olearius, Adam 159 Opitz, Martin 54, 131, 371f. Oppler, Edwin 228f., 231 Osiander, Andreas 349 Otte, Casper 119 Otto I Gf. von Northeim 62 Paleotti, Gabriele 135 Palm, Hermann 374 Pannwitz, Bernhard von 98 Pannwitz, Caspar von 27 Pannwitz, Christoph von 27 Pannwitz, Jörg von 27

428

Anhänge

Pappenheimer, Chaim Salomon 188, 221 Pappenheimer, Salomon Seligmann 188 Paschasius von Osterberg, Daniel 126 Passow, Franz 318 Patzak, Bernhard 116 Pax, Elpidius (Wolfgang) 238 Pega, Andreas 50, 141–143, 163, 165 Peschel, Walter 357 Peschke, Christoph 99 Pfeiffer, Franz 393 Pfeil, Adam Friedrich Frhr. von 195f. Piccolomini, Octavio 121 Pick, Joel 188, 221 Pick, Marcus Berel 177 Pilch, Józef 120 Pinder, Julius Hermann 376 Plettenberg-Mietingen, Maximilian Friedrich Gf. von 198f., 200, 202 Podharsky, Maximilian von 119 Poevelin, Helena Regina 207 Pohl, Dieter 57 Pohl, Johannes 123 Polius, Nicolaus 58, 60 Polonius, Petrus 58 Pompejus, Otto 113 Poschmann, Bernhard 339 Praunstein (Braunstein), Simon 98 Priebatsch, Felix 233 Pringsheim, Fam. 224 Promnitz, Balthasar von 65, 161 Promnitz, Georg von 57, 63, 65f. Pubschütz, Hans von 30f., 42 Purkynĕ, Johann ( Jan) Evangelista, Ritter von 326, 329, 311, 333 Puschner, Johann Georg 212 Rab, Georg 28 Rachnow, Gunther von 351f. Radbruch, Gustav 343 Rade, Martin 354, 361f. Radern, Anton von 271 Rang, Florens Christian 349f. Rau, Susanne 13 Raumer, Friedrich von 305, 309, 316–319, 334, 376 Raumer, Karl von 318f., 329, 332f., 376 Rechttreu, Christian 147 Rednitz, Ernst 249 Regius, David 71 Reich, Balthasar 108

Reinhard, Wolfgang 39f., 55 Reinheckel, Andreas 161 Reinkens, Josef Hubert 334 Reinsberger, Augustin 101, 123 Richter, Jean Paul Friedrich → Jean Paul Riehl, Wilhelm Heinrich 352f. Ries, Moses 182 Riesser, Gabriel 340 Riesser, Otto 339f. Rivander, Zacharias 62 Rochnowe, Josel Pick 188, 221 Röder (Adelsfamilie) 100 Röger, Carl 61 Rönne, Ludwig von 189 Roepell, Richard 226, 300f., 329f. Rogee, Louise 384f. Rohowsky, Johannes 310 Roner, Georg 122 Rosa, Bernhard 46, 50, 53, 131f., 143, 157, 163, 165, 401–403 Rosenstock-Huessy, Eugen 337, 342f., 348– 351, 355, 360f., 363 Rosenzweig, Franz 337 Rostock, Sebastian, Bf. von Breslau 52, 400f. Rother, Carl 254 Rother, Christian 284 Rottenberg, Johannes Christoph 104, 106 Rottmayr, Johann Michael 133 Rotzmann, Jerge 119 Rudolf II., Ks. 34f., 41f., 48, 53, 69, 72, 128, 203, 369 Rudolf von Rüdesheim, Bf. von Breslau 160 Ruffer, Gustav Heinrich 284 Rupprecht, Christoph 76–92, 145 Rupprecht, Heinrich 79 Rupprecht, Johannes 81f., 83f. Ruysbroek, Jan van 402 Sachs, Abraham 203 Sachs, Clara 232 Sachs, Heinrich 203f. Sachs, Michael 60, 62 Sachs, Rainer 14, 122 Sailer, Michael 305f. Salomon, David jr. 181 Salomon, Juda 207 Salomon, Nathan jr. 199 Salza, Jacob von, Bf. von Breslau 161 Santifaller, Leo 254, 345 Saphir, Moritz 387f.



Personenverzeichnis

Sartorius, Thomas 118 Schäfer, Dietrich 323, 332, 334 Schaffgotsch, Hans Ulrich Frhr. von 146 Schaffgotsch, Johann Anton Gf. von 173, 204 Schatz, Johann Christoph 107–111 Schaubert, Carl Wolfgang 381 Scheffer, Vitus 130 Scheffler, Andreas 54 Scheffler, Anton 137 Scheffler, Johannes 50, 133, 163–165, 390–403 Schellendorf, Christoph von 31, 34, 42 Schie, Joseph 218 Schill, Nicolaus 212 Schilling, Heinz 39 Schlabrendorf, Ernst Wilhelm von 181, 183 Schlaffer, Heinz 133 Schlegel, August Wilhelm 313 Schleiermacher, Friedrich 304, 307, 316, 319, 323 Schlüter, Johann Christoph 314 Schmeling, Max 338 Schmolck(e), Benjamin 212 Schnabel, Josef 304, 307 Schneer, Alexander 283 Schneider, Johann Gottlieb 318 Schön, Theodor von 271 Schönaich, Johannes, Frhr. von 53 Scholtz, Pankratz 57, 60–62, 66–68 Scholz, Friedrich 380 Scholz, Heinrich 210 Schottlaender, Bernhard 233, 245 Schreiber, Elias Dionysius 120, 124 Schubart(h), Ignatius Konstantin 143, 164f., 402 Schubart(h), Johann 163, 402 Schubart(h), Sebastian 20 Schuckmann, Kaspar Friedrich von 15, 281, 300–303, 306, 316, 328f. Schulz, Christoph Ludwig Friedrich 303f., 307 Schummel, Johann Gottlieb 185, 188, 221 Schwartz, Wilhelm 150 Schwenckfeld, Caspar von 19–29, 40, 62, 128 Scultetus, Andreas 54 Sdralek, Max 348 Sembling, Georg von 98, 137 Senitz, Elisabeth von 398 Seppelt, Franz Xaver 339, 346 Sessa, Karl Borromäus (Pseud. Samson Eidechs) 221f. Severing, Carl 250, 338

429

Siegel, Wenzel 106 Silbergleit, Arthur 232 Siminsky, Johannes 109 Simon, Ernst 361 Simon, Heinrich 189 Simon, Josef 385 Simon, Longinus 357 Singer, Paul 331 Siphari, Philipp Levin 187, 221 Sitsch, Johannes von, Bf. von Breslau 161 Slegilisdorf, Petrus von 351f. Sleidan, Johannes 36, 38 Sombart, Werner 225, 331f., 334 Spiro, Eugen 232 Springer, Daniel 171 Stalin, Josef 256 Steffens, Henrik 305, 308f., 318–320, 326– 328, 332, 386 Stein, Edith 332 Stein, Julius 378f. Steinberg, Michael 62 Steiner, Georg 108 Steiner, Rudolf 392 Stenzel, Gustav Adolf 329 Stephan, Horst 357 Stern, Fritz 248–251, 254 Stern, Otto 323 Stern, William 332 Stillfried, Bernhard II. von 111, 113, 115, 121, 123 Stolberg-Wernigerode, Ferdinand Gf. von 281 Stoltz, George 119 Strips, Hans Joseph 209Stutz, Ulrich 333 Süvern, Johann Wilhelm 15, 300–306, 316f. Sylvius I. Nimrod, Hz. von Württemberg-Oels 398 Sylvius, Franz 19 Syreno, Carl 121 Tauler, Johannes 402 Tausch, Christoph 133, 141 Tausk, Walter 244, 248–250, 253, 255–257 Tauwitz, Eduard 231 Teller, Wilhelm Abraham 187 Thebelius, Georg 22 Theomim, (Fränckel), Chajm Jonah 173 Thomas, Nicolaus 68, 71 Thurn, Franz Bernhard Gf. von 65, 77f. Tieck, Ludwig 318, 320, 383 Tiktin, Abraham 187, 228

430

Anhänge

Tilly, Johann ’t Serclaes von 87, 373 Toller, Ernst 238 Trautmannsdorff, Johann Friedrich Ludwig Gf. von 155 Treitschke, Heinrich von 227 Trotzki, Leo 337, 339 Trozendorf, Valentin 19, 23, 161 Tscheterwang, Wentzel 63 Tschirnhaus, David Heinrich von 122 Tschischwitz, Johann Franz Frhr. von 195–197 Tympius, Matthias 135 Uber, Christian Benjamin 195 Valentin, Gabriel 230 Varges, Helene 351 Veit, David 188, 221 Vid, Ladislaus 104 Vogelstein, Heinemann 252 Volkov, Shulamit 227 Wachler, Albrecht 329 Wachler, Johann Friedrich Ludwig 319 Wagenseil, Johann Christoph 214 Walk, Joseph 235 Wallenstein, Albrecht von, Hz. von Friedland und Sagan 45, 53 Walz, Gustav Adolf 251, 347 Warburg, M.M. (Bankhaus) 224 Weber, Max 331 Weigel, Valentin 396 Weimar, Klaus 313f. Weinhold, Karl 332, 334 Weizsäcker, Viktor von 350 Weller, Christoph 43–45, 49, 136, 163 Welzel, Melchior 53, 158 Werner, Abel 24

Werner, Bernhard 24 Werner, Friedrich Bernhard 113f., 117, 122, 153, 159, 182 Werner, Johann Sigismund 19–29 Wessely, Hartwig 222 Wilhelm I., Kfst. von Hessen-Kassel 200 Wille, Bruno 390, 392 Willmann, Michael 54, 132, 136, 139, 401 Wirth, Joseph 360 Wisaeus, David 72, 74, 85f., 369 Wisaeus, Melchior 369 Wittich, Hieronymus 26 Wittig, Joseph 15, 348–364 Wittwer, Christof 369 Wladislaw IV., Kg. von Polen 88 Wolf(f ), Friedrich August 313 Wolf(f ), Hanne 218 Wolf(f ), Hans 77f. Wolf(f ), Moses 218 Wolf(f ), Nicel 77 Wolf(f ), Selig 218 Wolf(f ), Wilhelm 289, 292, 330 Worbs, Johann Gottlieb 189 Zadeck, Aaron 177, 187, 221 Zalten, Hans 105 Zalten, Tobias 108 Zenkfrey, Abraham 69, 369 Zeplichal, Anton Michael 380 Zeuschner, Georg 68f., 71 Ziekursch, Johannes 343, 377 Zimmermann, Friedrich Albert 185, 188f., 193, 221, 299f. Zwanziger (Fabrikant) 281, 286 Zweig, Arnold 232, 244 Zwingli, Ulrich 22



431



Ortsverzeichnis Aachen 282, 284 Albendorf (poln. Wambierzyce) 8, 100, 106, 115, 126, 144, 194f., 197, 355, 357 Altbatzdorf (poln. Starków) 89, 97, 100 Altdorf 214 Altranstädt 8, 46f., 129, 133, 151 Altreichenau (poln. Stare Bogaczowice) 100 Altwilmsdorf (poln. Stary Wieslisław) 30, 61, 95–97, 99–112, 114f., 126, 137, 144 Arnsdorf (bis 1670) → Grafenort Auerstädt 313 Augsburg 28, 37, 39, 56, 72, 87, 90, 93, 145, 266 Bad Altheide (poln. Polanica Zdrój) 99f., 112 Bad Landeck (poln. Lądek Zdrój) 34, 123, 154 Bardo → Wartha Basel 212, 278 Berlin 169, 180, 182f., 185–187, 191f., 199f., 202, 211, 218, 221–223, 226f., 233, 265, 268,f., 276, 278, 284, 289, 299–307, 309, 312–317, 319–321, 326–328, 331–334, 337, 339, 347, 380, 387f., 390, 392 Bernstadt (poln. Bierutów) 231f., 380 Beuthen/Oder (poln. Bytom Odrzański) 50, 58 Biała Prudnicka → Zülz Bielawa → Langenbielau Bierutów → Bernstadt Bingen 217 Bischleben 212 Boguszów → Gottesberg Bolesławiec → Bunzlau Bonn 333, 343, 347, 386 Brandenburg 39, 46, 151, 175, 194, 269, 306, 401 Braunsberg 72 Breitenfeld 145, 373 Bremen 150, 266f., 274, 305 Breslau (poln. Wrocław) 10, 13, 15, 27, 32, 41– 43, 46, 48–50, 52f., 57, 59, 65, 78, 96, 99, 118, 128–130, 133, 137, 141, 143f., 146f., 149f., 152, 154, 159f., 162, 165, 169–195, 197–205, 211, 218, 221–242, 244–257, 261, 263–80, 282, 284, 289, 291–294,

299–311, 315–321, 323–349, 353, 362, 369, 372, 375–389, 394, 396, 399–401 Brieg (poln. Brzeg) 41, 46, 152, 372 Brno → Brünn Brünn (tsch. Brno) 125, 358 Brzeg → Brieg Brzeg Dolny → Dyhernfurt Büren 94 Bunzlau (poln. Bolesławiec) 43, 50 Bystrzyca Kłodzka → Habelschwerdt Bytom Odrzański → Beuthen/Oder Ciepłowody → Tepliwoda Cieszyn → Teschen Długopole Dolne → Niederlangenau Długopole Górne → Oberlangenau Domaszków → Ebersdorf b. Mittelwalde Dresden 39, 317, 373 Dürrgoy 249 Duisburg 299 Dyhernfurth (poln. Brzeg Dolny) 179 Dzierżoniów → Reichenbach Ebersdorf b. Mittelwalde (poln. Domaszków) 74, 76, 79–83, 100f., 124 Eckernförde 257 Eisenach 36 Eisersdorf (poln. Żelazno) 100, 106 Erfurt 212 Erlangen 299 Frankenstein (poln. Ząbkowice Śląski) 32, 58f., 64, 137, 147 Frankfurt/Main 28, 203, 224, 265, 275, 294, 334, 344 Frankfurt/Oder 15, 87, 161, 299–302, 304, 306, 311, 317f., 380 Fraustadt (poln. Wschowa) 157 Fürth 212–214, 216f. Gabersdorf (poln. Wojbórz) 62 Givat Brenner 253 Glatz (poln. Kłodzko) 8f., 12f., 19, 21, 26f., 30f., 36, 38–55, 57–78, 80, 82–84, 87– 128, 130–133, 136–145, 157, 162–165,

432

Anhänge

194f., 231, 269, 288, 349, 352–357, 361, 367, 369, 374, 383, 385, 402f. Glogau (poln. Głogów) 14, 53, 62, 128–130, 158, 176, 183, 193, 203–211, 218, 223, 229, 232f. Głogów → Glogau Głuszyca → Wüstegiersdorf Gniewoszów → Seitendorf Görlitz (poln. Zygorzelec) 13, 398 Göttingen 301, 314, 316 Goldberg (poln. Złatoryja) 19, 23, 50 Góra → Guhrau Gorzanów → Grafenort Gottesberg (poln. Boguszów) 361f. Grafenort (poln. Gorzanów) 63, 89, 102, 110, 115, 117–122, 124f., 127, 383–385, 388f. Groß Rosen (poln. Rogoźnica) 257 Grünberg (poln. Zielona Góra) 50, 218 Grüssau (poln. Krzeszów) 46, 53, 132, 143, 154f., 157, 163, 242, 401 Guhrau (poln. Góra) 157 Habelschwerdt (poln. Bystrzyca Kłodzka) 30f., 34, 38, 55, 57, 62–74, 76, 78, 82, 84–87, 90f., 122, 124, 145, 158, 349, 367, 369f., 373 Halbendorf (poln. Ustronie) 100, 106 Halle an der Saale 188, 221, 299, 301, 305, 313–316, 326 Hamburg 9, 10, 12, 159, 169f., 173, 215, 217, 224, 250, 265–267, 279, 314, 332, 334, 336, 340, 345, 371, 374 Hameln 215 Heidelberg 237, 322, 343 Heidersdorf 41 Heidevilxen (zu Obernigk, poln. Oborniki Śląskie) 381 Heinrichau (poln. Henryków) 45, 53, 158 Heinzendorf (poln. Skrzynka) 78 Henryków → Heinrichau Hirschberg (poln. Jelenia Góra) 149, 152, 156, 212 Hirschzunge 194 Höxter 218 Hohndorf (poln. Wyszki) 77 Idzików → Kieslingswalde Iglau (tsch. Jihlava) 35 Ingolstadt 161, 399

Jankau (poln. Janków) 194 Jaszkowa Górna → Oberhannsdorf Jauernig (Kr. Schweidnitz) (poln. Javorník) 289 Javorník → Jauernig Jelenia Góra → Hirschberg Jena 29, 305, 313, 323, 332, 392 Jihlava → Iglau Kaliningrad → Königsberg Kalisch (poln. Kalisz) 199 Kalisz → Kalisch Kaltenbrunn (Kr. Glatz) (poln. Studzienna) 194 Karlsburg (rum. Alba Iulia) → Weißenburg Katowice → Kattowitz Kattowitz (poln. Katowice) 256 Kaunas (russ. u. poln Kowno) 233, 236, 242, 248, 257 Kieslingswalde (poln. Idzików) 38, 157 Kłodzko → Glatz Kluczbork → Kreuzburg Königsberg (russ. Kaliningrad) 132, 267, 299, 301, 321 Königshain (poln. Wojciechowice) 100 Kowno → Kaunas Kreuzburg (poln. Kluczbork) 129 Krosnowice → Rengersdorf Krzeszów → Grüssau Krzyżanów → Kreuzburg Kunzendorf (poln. Trzebieszowice) 63, 100 Lądek Zdrój → Bad Landeck Langenbielau (poln. Bielawa) 281f., 284f., 288f. Langenbrück (Kreis Habelschwerdt) (poln. Mostowice) 81 Lauban (poln. Lubań) 212 Legnica → Liegnitz Leipzig 19, 50, 59 145, 153, 158, 171, 305, 352, 369–371, 373f. Leszno → Lissa Lichtenwalde (poln. Poręba) 77 Liebau (poln. Lubawka) 154 Liegnitz (poln. Legnica) 20, 22f., 26–28, 41, 46, 49, 53, 152f., 155 Lissa (poln. Leszno) 157 Łomnica → Lomnitz Lomnitz (poln. Łomnica) 118, 122 London 193, 224, 232, 285, 344



Ortsverzeichnis

Lubań → Lauban Lubawka → Liebau Ludwigsdorf (poln. Ludwikowice Kłodzkie) 398 Ludwikowice Kłodzkie → Ludwigsdorf Lützen 87, 146, 149, 153 Magdeburg 38, 87, 145 Maidelburg 99 Mainz 160, 265f., 270 Maria Schnee 114 Maria Zell 131, 136 Melling (poln. Mielnik) 123 Międzygórze → Wölfelsgrund Mielnik → Melling Mietingen 198, 202 Mikowice → Mügwitz Mittelsteine (poln. Ścinawka Średnia) 100, 43, 154, 194 Mittelwalde (poln. Międzylesie) 74, 78, 80, 86, 122 Mostowice → Langenbrück Mügwitz (poln. Mikowice) 99f. München 87, 90, 145, 162, 188 Münster 8, 45, 88, 135, 150, 155, 314 Nachod (tsch. Náchod) 116, 121 Namslau (poln. Namysłów) 232 Namysłów → Namslau Neisse (poln. Nysa) 43, 125, 130, 139, 143, 161–163, 232, 263, 379, 402 Neuheide (Teil von Bad Altheide) (poln. Polanica Zdrój) 124 Neurode (poln. Nowa Ruda) 100, 121, 122, 124, 349–352, 354–356, 358–360 Neusorge (poln. Drogoszów) 349, 360 Neustadt OS (poln. Prudnik) 156f. Neuwaltersdorf (poln. Nowy Waliszów) 33, 80 Nicäa 26 Niederlangenau (poln. Długopole Dolne) 78 Niederschwedeldorf (poln. Szalejów Dolny) 95, 97, 99f., 106 Niemcza → Nimptsch Nimptsch (poln. Niemcza) 32 Nowa Ruda → Neurode Nowa Wieś Kłodsko → Neudorf Nowy Waliszów → Neuwaltersdorf Nürnberg 28, 161, 212, 214, 270, 349 Nysa → Neisse

433

Oberhannsdorf (poln. Jaszkowa Górna) 195 Oberlangenau (poln. Długopole Górne) 57, 63–66, 74, 76f., 79, 82, 84f., 90, 145 Obernigk (poln. Oborniki Śląski) 381, 388 Oberschwedeldorf (poln. Szalejów Górny) 99 Obersteine (poln. Ścinawka Górna) 100 Oborniki Śląskie → Obernigk Oels (poln. Oleśnica) 155, 231f., 380, 398f., 401 Ołdrzychowice Kłodzkie → Ullersdorf Oleśnica → Oels Olmütz (tsch. Olomouc) 36, 160 Olomouc → Olmütz Opava → Troppau Opole → Oppeln Oppeln (poln. Opole) 231 Orzesche (poln. Orzesze) 154 Orzesze → Orzesche Osnabrück 45, 88, 150, 155, 265–267, 274 Otmuchów → Ottmachau Ottmachau (poln. Otmuchów) 143 Paderborn 94, 219 Paris 7, 38, 187, 193, 274, 282 Passau 101, 125 Peterswaldau (poln. Pieszyce) 281f., 286f., 289f. Pieszyce → Peterswaldau Polanica Zdrój → Bad Altheide, s. a. Neuheide Poręba → Lichtenwalde Posen (poln. Poznań) 217, 269, 287, 397, 403 Potsdam 180, 182 Poznań → Posen Prag 30, 32–35, 38f., 42, 44f., 51, 53, 69, 71, 73, 79, 83, 87, 95, 97f., 101, 113, 115, 118, 120, 123, 125, 128, 135, 137f., 146, 149 Prudnik → Neustadt OS Racibórz → Ratibor Radków → Wünschelburg Radno 218 Ratibor (poln. Racibórz) 198–200 Regensburg 30, 125, 275 Reichenbach (Eulengebirge) (poln. Dzierżoniów) 34, 147, 282 Reichhennersdorf 155, 401 Rengersdorf (b. Glatz) (poln. Krosnowice) 21, 23, 27f., 76, 85, 100, 106 Riga (let. Rīga) 72, 231 Ringelstein 94

434

Anhänge

Rogoźnica → Groß Rosen Rom 101, 113, 239, 348 Rostock 265, 292, 312, 316 Roztoki → Schönfeld Rückers (poln. Szczytna) 62, 124

Trient 53, 93, 130, 135f., 161 Troppau (tsch. Opava) 64, 71, 118 Trzebieszowice → Kunzendorf Tübingen 305 Tuntschendorf (poln. Tłumaczów) 111, 194

Sagan (poln. Żagań) 45, 53, 106, 189 Sankt Gallen 319 Sarny → Scharfeneck Scharfeneck (poln. Sarny) 111, 194, 197 Schlaupitz 34 Schlegel (poln. Słupiec) 100, 123, 349–354, 356f. Schlichtingsheim (poln. Szlichtyngowa) Schmiedeberg (Uckermark) 313 Schönfeld (poln. Roztoki) 123 Schreiberhau (poln. Szklarska Poręba) 390, 392 Ścinawka Górna → Obersteine Ścinawka Średnia → Mittelsteine Seitendorf (Landkreis Habelschwerdt) (poln. Gniewoszów) 77 Skrzynka → Heinzendorf Słupiec → Schlegel Sobótka → Zobten Sohrau (poln. Żory) 154, 232 Soritsch 100 Speyer 41 Stare Bogaczowice → Altreichenau Starków → Altbatzdorf Stary Wieslisław → Altwilmsdorf Strasbourg → Straßburg Straßburg (frz. Strasbourg) 22, 330 Studzienna → Kaltenbrunn Stuttgart 230 Sulmingen 198 Szalejów Dolny → Niederschwedeldorf Szalejów Górny → Oberschwedeldorf Szczytna → Rückers Szklarska Poręba → Schreiberhau Szlichtyngowa → Schlichtingsheim

Ullersdorf (poln. Ołdrzychowice Kłodzkie) 57, 78 Ustronie → Halbendorf

Tepliwoda (poln. Ciepłowody) 55 Teschen (poln. Cieszyn) 46, 55 Thorn (poln. Toruń) 88 Tilsit (russ. Sowjetsk) 299–301, 313 Tłumaczów → Tuntschendorf Tormersdorf (poln. Prędocice) 257 Toruń → Thorn

Voigtsdorf (poln. Wójtowice) 33 Vollbrexen 94 Wambierzyce → Albendorf Warschau (poln. Warszawa) 193, 218, 301 Warszawa → Warschau Wartha (poln. Bardo) 114, 131, 144 Weißenburg (bis 1715) 89 Werdeck 100 Wien 8, 47, 89, 110f., 119, 125, 151, 171, 193, 198–200, 202, 230, 242, 276, 332, 384, 387, 400 Wilkanów → Wölfelsdorf Wittenberg 20, 22, 26, 29, 148, 160, 171, 371 Wölfelsdorf (poln. Wilkanów) 122 Wölfelsgrund (poln. Międzygórze) 154 Wojbórz → Garbersdorf Wojciechowice → Königshain Wójtowice → Voigtsdorf Worms 203 Wrocław → Breslau Wünschelburg (poln. Radków) 55, 100, 115, 196 Wüstegiersdorf (poln. Głuszyca) 284 Wohlau (poln. Wołow) 47, 152 Wołow → Wohlau Wschowa → Fraustadt Wyszki → Hohndorf Ząbkowice Śląski → Frankenstein Żagań → Sagan Żelazno → Eisersdorf Zgorzelec → Görlitz Zielona Góra → Grünberg Złatoryja → Goldberg Zobten (poln. Sobótka) Żory → Sohrau Zülz (poln. Biała Prudnicka) 173, 176, 188, 203, 218, 221, 223

NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM BAHLCKE



EINE AUSWAHL

BD. 14 | HORST WEIGELT VON SCHLESIEN NACH

BD. 11 | JOACHIM BAHLCKE (HG.)

AMERIKA

HISTORISCHE

DIE GESCHICHTE DES

SCHLESIEN FORSCHUNG

SCHWENCKFELDERTUMS

METHODEN, THEMEN UND PERSPEKTI-

2007. X, 320 S. 30 S/W-ABB.

VEN ZWISCHEN TRADITIONELLER

GB. MIT SU.

LANDESGESCHICHTSSCHREIBUNG UND

ISBN 978-3-412-07106-6

MODERNER KULTURWISSENSCHAFT 2005. XX, 740 S. GB.

BD. 15 | CHRISTIAN LOTZ

ISBN 978-3-412-20105-0

DIE DEUTUNG DES VERLUSTS ERINNERUNGSPOLITISCHE KONTRO -

BD. 12 | ROLAND GEHRKE (HG.)

VERSEN IM GETEILTEN DEUTSCHLAND

AUFBRÜCHE IN DIE

UM FLUCHT, VERTREIBUNG UND DIE

MODERNE

OSTGEBIETE (1948–1972)

FRÜHPARLAMENTARISMUS ZWISCHEN

2007. X, 327 S. GB.

ALTSTÄNDISCHER ORDNUNG UND

ISBN 978-3-412-15806-4

MONARCHISCHEM KONSTITUTIONALISMUS 1750–1850 SCHLESIEN – DEUTSCH-

BD. 16 | NORBERT CONRADS

LAND – MITTELEUROPA

SCHLESIEN IN DER FRÜHMODERNE

2005. VIII, 344 S. 4 S/W-ABB. GB.

ZUR POLITISCHEN UND GEISTIGEN

ISBN 978-3-412-20405-1

KULTUR EINES HABSBURGISCHEN LANDES

BD. 13 | WILLY COHN

HG. VON JOACHIM BAHLCKE

KEIN RECHT, NIRGENDS

2009. XVI, 436 S. 20 S/W-ABB. GB.

TAGEBUCH VOM UNTERGANG DES

ISBN 978-3-412-20350-4

BRESLAUER JUDENTUMS 1933–1941 HG. VON NORBERT CONRADS.

BD. 17 | ROLAND GEHRKE

2006. 2 BDE. BD. 1: XXX, 1–525 S. BD. 2: V,

LANDTAG UND ÖFFENTLICHKEIT

527–1121 S. 17 S/W-ABB. AUF 16 TAF. 2 K T.

PROVINZIALSTÄNDISCHER

AUF VORSATZ. GB. MIT SU.

PARLAMENTARISMUS IN SCHLESIEN

ISBN 978-3-412-32905-1

1825–1845 2009. XII, 525 S. 9 S/W-ABB. GB.

SF938

ISBN 978-3-412-20413-6

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NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE BD. 18 | GÜNTER ERBE

BD. 22 | MAXIMILIAN EIDEN

DOROTHEA HERZOGIN VON SAGAN

DAS NACHLEBEN DER SCHLESISCHEN

(1793–1862)

PIASTEN

EINE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE

DYNASTISCHE TRADITION UND

KARRIERE

MODERNE ERINNERUNGSKULTUR VOM

2009. X, 254 S. 10 S/W- UND 10 FARB.

17. BIS 20. JAHRHUNDERT

ABB. AUF 16 TAF. GB.

2012. X, 460 S. 28 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20415-0

ISBN 978-3-412-20694-9

BD. 19 | ANDRZEJ MICHALCZYK

BD. 23 | MATEUSZ J. HARTWICH

HEIMAT, KIRCHE UND NATION

DAS SCHLESISCHE RIESENGEBIRGE

DEUTSCHE UND POLNISCHE NATIO-

DIE POLONISIERUNG EINER

NALISIERUNGSPROZESSE IM GETEILTEN

LANDSCHAFT NACH 1945

OBERSCHLESIEN (1922–1939)

2012. XII, 285 S. 12 S/W-ABB. GB.

2010. VIII, 306 S. 4 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20753-3

ISBN 978-3-412-20611-6 BD. 24 | ROLANG GEHRKE (HG.) BD. 20 | ANDREAS RÜTHER

VON BRESLAU NACH LEIPZIG

REGION UND IDENTITÄT

WAHRNEHMUNG, ERINNERUNG UND

SCHLESIEN UND DAS REICH IM SPÄTEN

DEUTUNG DER ANTINAPOLEONISCHEN

MITTELALTER

BEFREIUNGSKRIEGE

2010. X, 346 S. 3 S/W-ABB. GB.

2014. CA. 280 S. GB.

ISBN 978-3-412-20612-3

ISBN 978-3-412-22159-1

BD. 21 | JAN HARASIMOWICZ

BD. 25 | ARNO HERZIG

SCHWÄRMERGEIST UND

DAS UNRUHIGE SCHLESIEN

FREIHEITSDENKEN

KRISENDYNAMIK UND KONFLIKT-

BEITRÄGE ZUR KUNST- UND

LÖSUNG VOM 16. BIS ZUM

KULTURGESCHICHTE SCHLESIENS IN

20. JAHRHUNDERT

DER FRÜHEN NEUZEIT

HG. VON JÖRG DEVENTER UND

HG. VON MATTHIAS NOLLER UND

C HRISTINE SCHATZ

MAGDALENA P ORADZISZ-CINCIO

2014. 434 S. 34 S/W-ABB. GB.

2010. XVIII, 418 S. 74 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-22392-2

SF938

ISBN 978-3-412-20616-1

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KLAUS GARBER

DAS ALTE BRESLAU KULTURGESCHICHTE EINER GEISTIGEN METROPOLE

Das alte Breslau war weit über seine Grenzen hinaus ein unerschöpfliches geistiges Zentrum, das Strömungen aus ganz Europa in sich vereinte. Klaus Garber nähert sich diesem Kosmos über die Institutionen und Menschen, die die intellektuelle und künstlerische Physiognomie Breslaus prägten. Sein Buch ist vor allem eine Einladung, den immensen kulturellen Reichtum der Stadt reisend und lesend in Augenschein zu nehmen. 2014. 597 S. 38 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22252-9

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INGE STEINSTRÄSSER

WANDERER ZWISCHEN DEN POLITISCHEN MÄCHTEN PATER NIKOLAUS VON LUTTEROTTI OSB (1892–1955) UND DIE ABTEI GRÜSSAU IN NIEDERSCHLESIEN (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHENUND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, BD. 41)

Pater Nikolaus von Lutterotti trat 1912 in die Benediktinerabtei Emaus in Prag ein. Nach dem Ersten Weltkrieg wagte dann ein großer Teil der Prager Mönche die Neubesiedlung der ehemaligen Zisterzienserabtei Grüssau in Niederschlesien. Lutterotti machte sich hier einen Namen als Exerzitienmeister, Prediger und als anerkannter Kunsthistoriker. Sein Lebensweg wird in dieser Biographie v. a. unter politischen Fragestellungen nachgezeichnet. Hierbei sind die Etablierung Polens als kommunistisch geprägter Staat, die Problematik der Bevölkerungsverschiebung von Ost nach West sowie die komplizierte kirchliche Lage in der Erzdiözese Breslau nach 1945 von besonderer Bedeutung. 2009. XVI, 685 S. 36 S/W-ABB. AUF 20 TAF. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20429-7

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Willy Cohn

Kein ReCht, niRgends BResl aueR tageBüCheR 1933–1941 eine ausWahl heR ausgegeBen von noRBeRt ConR ads

Der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888–1941) ist der wichtigste Autor seiner Gene ration für das jüdische Breslau. Er kannte die Stadt und die jüdische Gemeinde wie kaum ein zweiter. Mit seinen hier in einer Auswahl vorge legten Tage buchaufzeichnungen, die er im geheimen bis zu seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten 1941 führte, liegt erstmals ein umfassender Augen­ zeugenbe richt über den Untergang der drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands vor. 2008. 369 S. 17 S/w-Abb. Auf 16 TAf. Gb. miT Su. iSbN 978-3-412-20139-5

»Mit der Veröffentlichung seiner Tagebücher ist Willy Cohn nun ein Denk­ mal gesetzt – als dem, nach Victor Klemperer, wichtigsten Chronisten des Schicksals jüdischer Deutscher in Zeiten der finstersten Barbarei.« Volker Ullrich, DIE ZEIT »Aufschlussreicher als Klemperer.« Walter Laqueur, Die Welt

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