Dichtung und Wahrheit: Literarische Kriegsverarbeitung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert 9783737004879, 9783847104872, 9783847004875

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Dichtung und Wahrheit: Literarische Kriegsverarbeitung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert
 9783737004879, 9783847104872, 9783847004875

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Veröffentlichung des Universitätsverlages Osnabrück bei V&R unipress Krieg und Literatur / War and Literature Vol. XXI (2015)

Herausgegeben von Claudia Glunz und Thomas F. Schneider Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv / Forschungsstelle Krieg und Literatur

Claudia Glunz / Thomas F. Schneider (Hg.)

Dichtung und Wahrheit Literarische Kriegsverarbeitung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert

Herausgeber / Editor Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv/Forschungsstelle Krieg und Literatur Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft, Universität Osnabrück Markt 6, D-49074 Osnabrück Herausgebergremium / Editorial Board Claudia Glunz, Thomas F. Schneider Redaktion / Editing Claudia Glunz, Janika Fiebig, Karen Murphy, Stephan Pohlmann, Lea Stieve, Maren Stoll Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Committee Prof. Dr. Alan Bance, University of Southampton, Great Britain Dr. Fabian Brändle, Zürich, Schweiz Dr. Jens Ebert, Historiker und Publizist, Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. Frederick J. Harris, Fordham University, New York, USA Prof. Dr. Christa Ehrmann-Hämmerle, Universität Wien, Österreich Prof. Dr. em. Ursula Heukenkamp, Humboldt-Universität zu Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. Walter Hölbling, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich Prof. Dr. Bernd Hüppauf, New York University, New York, USA Prof. Dr. em. Holger M. Klein, Universität Salzburg, Österreich Prof. Dr. em. Manfred Messerschmidt, Freiburg/Br., BR Deutschland Dr. Holger Nehring, University of Stirling, Great Britain Prof. Dr. em. Hubert Orłowski, Uniwersytet Poznan, Polska PD Dr. Matthias Schöning, Universität Konstanz, BR Deutschland Prof. Dr. Roger Woods, University of Nottingham, Great Britain Prof. Dr. Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Great Britain Gestaltung / Layout Claudia Glunz, Thomas F. Schneider Titelbildnachweis Wilhelm Michael Schneider (stehend, dritter von links) während seines ersten Lazarett­ aufenthalts in Blankenburg, Frühjahr 1915 (siehe den Artikel von Dieter Storz); Fotoalbum Schneider, Privatbesitz. KRIEG UND LITERATUR/WAR AND LITERATURE erscheint einmal jährlich. Preis pro Heft EUR 44,99 / Abonnement: EUR 39,99 p.a (+ Porto). © 2015, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-8471-0487-2 | ISBN (E-Book) 978-3-8470-0487-5 ISBN (V&R eLibrary) 978-3-7370-0487-9 | ISSN: 0935-9060

Inhalt



7 Erhard Jöst Opfertod fürs Vaterland Der literarische Agitator Theodor Körner 47 Fabian Brändle »Dieserhalb glaube man nicht das wier die besten Menschen sind!« Zur Autobiographie des Handschuhmachers, Kürassiers und Kriegsinvaliden Johann Christoph Pickert (1787–1845)



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Florian Brückner Dichtung und Wahrheit: Authentifizierungsstrategien, Verschleierung von Fiktionalität und politisierender Wahrheitsanspruch im Kriegsroman der Weimarer Republik

67 Nadine Seidel Wie man Helden ediert Ein Ausgabenvergleich von Manfred von Richthofens Der rote Kampfflieger 91 Dieter Storz »So gefährlich ist der Krieg« Zur Neuausgabe von Wilhelm Michael Schneiders Infantrist Perhobstler 117 John H. Mazaheri À Propos de la guerre dans La Chapelle ardente de Gabriel Marcel 135 Richard Albrecht »Russland und einige Probleme des Sozialismus« Ein politikhistorisches Kapitel des jungen Ernst Bloch

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143 Fabian Brändle Der Krieg im Kloster Zum Tagebuch des bayerischen Pfarrvikars und Abtes Maurus Friesenegger aus dem Dreißigjährigen Krieg 153 Rezensionen Judith Butler. Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen.

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(Ulrich Arnswald) Bruno Cabanes, Anne Duménil (eds.). Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. (Jens Ebert) Jens Ebert (ed.). Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914–1918. (Frank Brendle) Sabine Giesbrecht. Musik und Propaganda. Der Erste Weltkrieg im Spiegel deutscher Bildpostkarten. (Jens Ebert) David A. Jackson. Zwischen Kriegern, Küche, Kirche und Kraut. Die Manöver einer südhessischen Mutter im Ersten Weltkrieg. (Fabian Brändle) Ernst Jünger. Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918. Mit ausgewählten Antwortbriefen der Eltern und Friedrich Georg Jüngers. (Thomas Amos) Ernst Jünger. Kriegstagebuch 1914–1918. (Thomas Amos) Hellmuth Karasek. Briefe bewegen die Welt. Bd. 6: Feldpost. (Jens Ebert) Jan Kilián (ed.). Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649). Alltagsleben in Böhmen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. (Fabian Brändle) Jan Röhnert. Selbstbehauptung. Autobiographisches Schreiben vom Krieg bei Goethe, Heine, Fontane, Benn, Jünger, Handke. (Matthias Schöning) Gislinde Seybert, Thomas Stauder (eds.). Heroisches Elend. Der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen. (Benjamin Ziemann) Yury und Sonya Winterberg. Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg. (Jens Ebert) Joanna Witkowska, Uwe Zagratzki (eds.). Ideological Battlegrounds – Constructions of Us and Them Before and After 9/11. (Laurenz Volkmann)

191 Eingegangene Bücher 240 Autoren dieser Ausgabe

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Erhard Jöst

Opfertod fürs Vaterland Der literarische Agitator Theodor Körner

Körners »Heldentod« Fritz Helfritz, Amtsrat in Iven bei Anklam, der zur Zeit der Befreiungskriege als Lützower Jäger diente, schreibt im Juli 1846 einen Brief an seinen ehemaligen Waffengefährten Friedrich Förster und erinnert sich an ein Scharmützel, an dem er am 26. August 1813 teilgenommen hat. Die Lützower hatten einen feindlichen Transport überfallen und verfolgten die französischen Soldaten. »Ein Theil der von uns den Franzosen abgenommenen Wagen entkam und eilte auf der Straße im Walde davon«, berichtet er und führt weiter aus: Körner rief mir zu – nachdem von Lützow schon Befehl gegeben war, den Feind nicht weiter zu verfolgen: »Bruder Hellfritz, du kennst deine Jäger besser als ich, wir wollen nochmal draufgehen.« Er sprengt fort; dem geliebten Freunde folgte ich mit den Worten: »Ja, Bruder!« Meinem Zuge rief ich zu: »Jäger! Vorwärts!« Die braven Kameraden folgten mit dem Rufe: »Hurrah! Oberjäger! Hurrah!« Unsern Körner aber traf die tödtliche Kugel, etwa dreißig Schritte von mir und meinen Jägern entfernt. Zu mir den Blick gewandt, rief er: »Da hab’ ich Eins – schadet weiter nichts!« und mit diesen Worten endete sein ruhmvolles Leben. Er sank vom Pferde, ich sprenge hinzu, sitze ab, helfe mit Zenker, Freydank und Anderen den Fuß, welcher noch im Bügel hing, herausbringen und in meinen Armen ruhte als Leiche der allen Freunden und Waffengefährten, ja dem gemeinsamen großen deutschen Vaterlande ewig unvergeßliche Theodor Körner.1

Der genannte Freischärler Ferdinand Zenker, später Gutsbesitzer in Brunow bei Neustadt-Eberswalde, bestätigt diese Schilderung von Theodor Körners Tod in 7

Erhard Jöst

einem ausführlichen Schreiben vom 29. Dezember 1863. Die auf Körners Tod bezogene Stelle lautet: Als ich aus dem Gehölz wieder auf das freie Feld auf der linken Seite der Straße gekommen war, bemerkte ich Körner, von Helfritz und anderen Kameraden gefolgt, zum Angriff vorgehend. Die in dem Walde versteckten Feinde gaben Feuer, und nicht weit von mir sah ich Körner vom Pferde sinken. Da er mit dem Fuße im Steigbügel hängen geblieben war, nahm ihn Hellfritz in die Arme, wir Andern standen ihm bei, Körners Schimmel jagte davon.

Für E. J. Haeberlin, der im Jahr 1913 einen Aufsatz über Theodor Körners Tod geschrieben hat, steht aufgrund der Briefe von Helfritz und Zenker fest, »daß Körner im Gefecht gefallen ist, und die Art und Weise, wie er gefallen ist, ist durch sie absolut gesichert.«2 Zwar hat Haeberlin gründlich recherchiert und alle ihm bekannten Schilderungen von Körners Tod zusammengetragen, dennoch bleiben Zweifel. Denn es ist zu bedenken, dass Hellfritz den zitierten Bericht erst 33 Jahre nach dem Vorfall abgegeben hat, und als Zenker schriftlich Stellung bezieht, ist sogar bereits ein halbes Jahrhundert vergangen. In dieser Zeit hat die Nachwelt Theodor Körner längst zum patriotischen Freiheitskämpfer und seinen Tod in der Nähe von Rosenow zum Heldentod stilisiert. Zu Körners Propaganda, wonach es für jeden jungen Mann das höchste Glück ist, sein Blut auf dem Altar des Vaterlandes zu verspritzen, passte die Version am besten, wonach er im Kampf gegen den Feind vom Pferd geschossen wurde. So wie von den beiden Augenzeugen beschrieben, hat Leonard Geyh Körners Tod in einem Ölgemälde festgehalten. Wie ist Körner wirklich gestorben? Es dauerte lange, bis die Eltern über seinen Tod informiert wurden. Den offiziellen Nachruf »im Namen der Freunde und Waffengefährten« verfasste Heinrich Graf zu Dohna-Wundlaken in Wittenburg am 30. August 1813. In Berlin traf die Kunde von Theodors Tod am 3. September ein. Verschiedene Zeitungen verbreiteten die Nachricht, aber es gab auch welche, die sie dementierten. Im Preußischen Korrespondenten erschien die offizielle Meldung erst am 22. Oktober 1813 und hat folgenden Wortlaut: Am 26. August fand Theodor Körner, Adjutant des Majors von Lützow, gleich zu Anfange eines Gefechtes (wodurch in einem, im Rücken der französischen Armee gelegenen Versteck ohnweit Rosenberg an der Straße von Schwerin nach Gadebusch, eine bedeutende Anzahl Wagen mit der Bedeckung den Franzosen abgenommen wurden), den von ihm oft besungenen schönen Soldatentod. Wir verlieren in ihm einen redlichen 8

Der literarische Agitator Theodor Körner

Freund, die vaterländischen Waffengefährten, die litterarische Welt einen hoffnungsvollen Dichter, dessen Talent noch in der Blüte stand. Von zwei schweren Kopfwunden, die er bei Kitzen erhielt, kaum hergestellt, hatte er die Waffen mit eben dem edlen Feuereifer wieder ergriffen, mit welchem er den Musen diente. Sein letztes Gedicht an sein Schwert setzte er kurz vor dem erwähnten Gefechte auf und stürzte dann mit hohem, zu stürmischem Mute gegen die feindlichen Bajonette. Eine Kugel, die vorher den Hals seines Pferdes durchbohrt hatte, traf ihn tödlich in den Unterleib, und nach wenigen Minuten hörte er auf zu atmen; die sehr schnell angewandte Hülfe eines Wundarztes blieb leider ohne Erfolg, und wir haben nur die traurige Pflicht erfüllen können, die körperliche Hülle des liebenswürdigen Mannes nach unserem Stabsquartier Lüb(e)low zu befördern, wo sie mit militärischen Ehrenbezeugungen unter einer Eiche bestattet worden ist.3

Körners Eltern waren unruhig geworden, als die Briefe von ihrem Sohn ausblieben. Auf sein Schicksal bezogene Gerüchte, die ihnen zu Ohren kamen, waren widersprüchlich. Gewissheit hatten sie erst am 8. November, als sie einen von dem Adjutanten Beuth abgefassten Bericht zusammen mit verschiedenen Gegenständen aus dem Besitz ihres Sohnes erhielten. Der Vater veröffentlichte daraufhin am 9. November in der Leipziger Zeitung einen Nachruf. Die Wochen zuvor hatte die Familie in einer unerträglichen Anspannung gelebt. Theodors Schwester Emma schrieb am 27. September 1813 aus Ludwigslust an Frau von Pereira nach Wien: Es ist ganz eigen, daß es so schwer ist, über seine letzten Augenblicke eine ausführliche Nachricht zu erhalten, und wann er den Schuß bekommen. Wir sahen mehrere Offiziere des Corps in Berlin, aber keiner von diesen war bei dem Tode gegenwärtig, und ihre Erzählungen, die sie wieder von anderen hatten, widersprechen sich manchmal. Hier ist die Sage nun allgemein, daß, nachdem man die Transportwagen weggenommen und die Eskorte zu Gefangenen gemacht, Theodor und Hardenberg mit den Worten ›Pardon‹ nochmals auf sie zusprengten, da andere sie gleich hatten niederhauen wollen, und einer der Gefangenen ergreift in diesem Augenblick eine Flinte auf dem Wagen vor ihm, zielt und trifft sogleich Theodor. Derselbe Franzose ist, fürchterlich zugerichtet, hier eingebracht worden, wo ihn das Volk noch gemißhandelt und er wenige Stunden darauf verschieden ist. Wie der gefangene Franzose zu der Flinte hat kommen können, ist mir dunkel in dieser Erzählung, und Graf Dohna-Wundlacken, welcher jetzt noch nicht in Berlin, aber dabei war, wie Theodor den tödtlichen Schuß erhielt, ist der Einzige, welcher uns hierüber Aufschluß geben kann.4 9

Erhard Jöst

Jedenfalls kursierten von Anfang an zwei Versionen von Körners Tod: Nach der einen wurde er im Kampf vom Pferd geschossen und starb den Heldentod, nach der anderen war es ein Meuchelmord. Ein Soldat habe Körner aus dem Zug der Gefangenen heraus erschossen, weil dieser sich überaus abfällig über die französischen Soldaten geäußert habe. Die zweite Version wurde zum Beispiel von dem ehemaligen Lützower und späteren Superintendenten Peter Stiefelhagen verbreitet. Ob Stiefelhagen Augenzeuge war, ist umstritten. Sein Sohn behauptet angeblich, dass sein Vater »bei Körner’s Tode nicht Augenzeuge, auch bei dem Überfall des feindlichen Transports nicht betheiligt war«. Er habe allerdings an seinem Bericht vom unehrenhaften Tod festgehalten. An der Körnerfeier im Jahr 1863 habe er nicht teilgenommen, weil er »nicht Lust gehabt« habe, »sich mit der dort sicherlich herrschenden Version im Widerspruch zu setzen«, zumal er »sich bei der Geltendmachung [seiner eigenen] Ansicht den Anschein der Impietät dem hochverdienten Dichter gegenüber gegeben haben würde.«5 Aber auch diese Version taucht immer wieder auf. Oft zitieren die Autoren von Aufsätzen oder Artikeln Stellungnahmen, die sie in veröffentlichten Erinnerungen von ehemaligen Lützowern oder in anderen Publikationen gefunden haben, oder sie greifen Aussagen auf, die sie von jemand gehört haben, der sie wiederum von jemand anders erfahren hat. Kurz: Die Legendenbildung um Körners Tod ist so verwickelt, dass man nicht mehr entscheiden kann, welche Version die richtige ist. Auch Egon Peschel und Eugen Wildenow stellen in ihrer ausführlichen biografischen Darstellung Theodor Körner und die Seinen fest: Ueber die letzten Augenblick des Dichters gehen die Ueberlieferungen in einer Weise auseinander, daß es fast unmöglich erscheint, das Richtige ausfindig zu machen. So muß es denn genügen, von den Aufzeichnungen der Kampfgenossen Theodors und Augenzeugen seines Todes Kenntnis zu nehmen.

Sie führen die über seinen Sohn erfassten Aussagen des Oberjägers Helfritz und die Berichte der Lützower Zenker und Probsthan an und konstatieren apodiktisch: Auf diese drei Aufzeichnungen darf sich allein eine Darstellung des Todes unseres Dichters gründen. Sie lassen im Grunde genommen nur Zweifel darüber, ob Theodor absichtlich oder unabsichtlich das Signal zum Sammeln unbeachtet ließ. Ob aber das eine oder das andere zutrifft, immer bleibt unserm Helden der unvergängliche Ruhm, im Kampfe für sein deutsches Vaterland sein Leben zum Opfer gebracht zu haben.6 10

Der literarische Agitator Theodor Körner

Interessant ist jedenfalls, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein die Interpreten, die Körners Werke feiern, die glorifizierende Version von seinem Heldentod übernehmen, während diejenigen, die seinen kriegerischen Texten ablehnend gegenüber stehen, stets die Version anführen, der zu Folge der Dichter in unrühmlicher Weise ums Leben kam.7 Durchgesetzt hat sich die Version vom Heldentod, weil diese eben zu dem Heldendichter am besten passt. Sie wurde zudem über die Erzählungen, Romane und Verfilmungen verbreitet, die Körners Leben und Wirken thematisiert haben. Körners Ende ist der Anfang seiner enormen Wirkungsgeschichte. Sie beruht in erster Linie darauf, dass er den Beruf des Dichters und den des Soldaten in Einklang brachte, dass er die in Verse gegossenen Appelle selbst befolgte, dass er seine Dichtung mit seinem Tod auf dem Schlachtfeld besiegelt. Auf dieser Grundlage konnte man ihn von Anfang an zum Märtyrer und profanen Heiligen stilisieren. Ludwig Nagel, der bei Körners Aufbahrung zugegen war, hält in seinem Tagebuch fest: Jeder drängte sich zu der teuren Leiche mit Eichenlaub und Blumen. Der erste unter Deutschlands Jünglingen, hatte er ein Leben voll Genuß und Glanz verlassen für des Vaterlandes Sache. Er fiel, ein Sühneopfer für aller Schuld; das Teuerste und Höchste mag nur das Teuerste lösen. – Sein Name wird leben in deutscher Brust.8

Für die Nachwelt wurde Theodors Tod von Karl Goedecke auf die Formel gebracht: »Die tödliche Kugel nahm einen Mann hinweg und gab der deutschen Jugend das begeisternde Bild eines Helden.«9 »Er ist das leuchtende Vorbild für alle Nachstrebenden geworden, die für Freiheit, Einigkeit und Reich stritten«, schreibt Fritz Löffler im Jahr 1938.10 »Das ist ja das Große unsrer deutsche Kriege«, stellt Reinhold Steig 1895 fest, »daß sich der ›romantische Geist‹ mit kriegerischem Heldenthum verband. Diese Verbindung ehrt und liebt das deutsche Volk an Theodor Körner.«11

Die Berufung zum Dichter und Freischärler Wie kommt es überhaupt dazu, dass ein Dichter, der sich anschickt, die Theaterwelt zu erobern, sein Arbeitsfeld freiwillig verlässt und sich auf das Schlachtfeld begibt? Wieso verlässt er Wien, wo er gerade eine feste Anstellung als Theaterdichter und eine Braut, also sein Lebensglück gefunden hat? Der Tatendrang liegt vor allem in seinem Charakter und in seiner Lebenseinstellung begründet. In dem Gedicht Leichter Sinn hat er sie einmal so formuliert: 11

Erhard Jöst

Sorglos durch die Welt sich schlagen, Immer vorwärts, nie zurück, Auf die Freiheit alles wagen, Bringt dem Herzen Heil und Glück. Schwert und Männerkraft verrostet, Liegt es lange müßig still; Der hat nie das Glück gekostet, Der’s in Ruh’ genießen will.« (Sämtliche Werke, 77)

Und in dem Gedicht Dresden heißt es: Wer sich das Göttliche will und das Höchste im Leben erfechten, Scheue nicht Arbeit und Kampf, werfe sich kühn in den Sturm. (Sämtliche Werke, 154)

Der unmittelbare Anlass zum Eintritt in das Lützowsche Freicorps ist der Beginn des Befreiungskriegs, mit dem Preußen die napoleonische Fremdherrschaft abschütteln möchte. Bereits ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges hatte Theodor in einem Brief an seinen Vater vom 6. Januar 1812 seinen Zukunftsplan dargelegt und angemerkt, dass dieser »nur durch den Krieg mit Preußen geändert werden« könnte, »wo ich, wenn die Sache je ein insurrektionsartiges Ansehen erhielte, meine deutsche Abkunft zeigen und meine Pflicht erfüllen müßte.« Zur Begründung fügt er hinzu: Man spricht so viel von Aufopferung für die Freiheit und bleibt hinter dem Ofen. Ich weiß wohl, daß ich der Sache den Ausschlag nicht geben würde; aber wenn jeder so denkt, muß das Ganze untergehen. Man wird vielleicht sagen, ich sei zu etwas Besserem bestimmt; aber es giebt nichts Besseres, als dafür zu fechten oder zu sterben, was man als das Höchste im Leben erkannt.12

Theodors Stellungnahme erfolgte als Antwort auf einen Brief, in dem der Vater ihm Ratschläge zur Berufswahl erteilt hatte. Christian Gottfried schilderte den »Stand des Kriegers« als den einzigen, in dem »das Streben, emporzukommen, etwas Begeisterndes« habe, er weist aber auch auf das »Drückende des Soldatenstandes« zu Friedenszeiten hin, in denen man »die Fesseln der MilitärSubordination, die Pedanterie und Laune eines beschränkten Vorgesetzten zu ertragen« habe. »Wie anders im Reiche der Wissenschaft und Kunst!« führt er 12

Der literarische Agitator Theodor Körner

weiter aus: »Hier waltet die Freiheit des Geistes«. Und in Bezug auf Theodor schreibt er: Die Seele der Poesie ist in Dir nicht zu verkennen, und in der Behandlung ihres sinnlichen Werkzeuges hast Du Dir praktische Fertigkeit erworben. Deinen Beruf zum Dichter halte ich daher für gegründet und bin weit entfernt, ihn Dir zu verleiden. Macht zu haben über die edelsten Geister seiner Nation, ist ein herrliches Los, und ich habe zu Dir das Vertrauen, daß Du eine solche Macht nicht mißbrauchen würdest.13

Als Lützower Jäger hat Theodor Körner im Jahr 1813 diese beiden Berufe in seiner Person vereint, die zu dieser Zeit höchstes Ansehen in der Gesellschaft genossen: Den Offizier und den Dichter. In dem Gedicht Zum Abschiede heißt es: In diesem großen, heiligen Momente Des Kampfs für Recht und Vaterland, Wo ist die Jugendkraft, die schlummern könnte, In feige Ruhe nüchtern eingebannt? Was auch der Krieg für edle Herzen trennte, Sie bleiben sich in Liebe zugewandt Und werden sich in Liebe wiederfinden, Mag Deutschland fallen oder überwinden. (Sämtliche Werke, 171)

Die preußischen Reformer haben den Befreiungskrieg mit Denkschriften vorbereitet. In einer dieser an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. gerichteten Schrift formuliert Gneisenau forsch: »Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet.« In der Tat werden die Poeten aufgefordert, sich in den Dienst der Politik zu stellen, und viele leisten willig Folge, denn sie sehen auch die Chance, die mit diesem Auftrag verbunden ist: Sie können weit über den kleinen Kreis der an Literatur interessierten Bildungsbürger hinaus wirksam werden. So kommt es, dass massenhaft Kriegslieder geschrieben werden, die weite Verbreitung finden. »Vom Schreibpult oder auch vom Saiteninstrument aus ging diese im Schwung gefertigte Poesie, die im Waffenlärm eine Nation nicht begleiten, sondern erst herstellen sollte, geradewegs in Gemeinbesitz über.«14 Als Theodor Körner von den Kriegsvorbereitungen der Preußen hört, eilt er sofort nach Breslau und meldet sich als Freiwilliger bei Lützows Freikorps. Er verleiht seinen Gedichten den Siegel der Echtheit, weil er nicht nur zur Kriegsteilnahme auffordert, sondern seine Vorstellungen auch vorlebt. Er schreibt als Kämpfer im Feld für das Schlachtfeld. Und er fordert nicht nur dazu auf, sein Blut auf 13

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dem Altar des Vaterlands zu verspritzen, sondern er findet selbst den Opfertod für das Vaterland und verleiht seinen patriotischen Versen dadurch die höchste Glaubwürdigkeit. Johann Wolfgang Goethe brachte es auf die Formel: »Körner kleiden seine Kriegslieder ganz vollkommen.« An das erfolgreiche Konzept der preußischen Reformer erinnerten sich Anfang des 20. Jahrhunderts konservative Künstler und Politiker. Ende der Weimarer Republik gründeten die deutschvölkisch-nationalkonservativen Schriftsteller unter der Führung von Börries Freiherr von Münchhausen den Wartburgbund, eine Dichtervereinigung, die sich von der von ihr als »linksliberal« diffamierten Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin abgrenzen wollte. Im Oktober 1932 fragte Franz von Papen, der damals als Reichskanzler einem Kabinett der Barone vorstand, bei Münchhausen an, »ob er bereit sei, sich als nationalbewußter Dichter für den kulturellen Umbau des Deutschen Reiches einzusetzen« und verglich ihn mit Theodor Körner, »den Stein, Scharnhorst und Gneisenau zu Beginn der Befreiungskriege für eine ähnliche nationale Aufgabe gewonnen hätten.«15

Der Stückeschreiber und Liedermacher Theodor Körner eiferte Friedrich Schiller nach, der, von seinem Vater Christian Gottfried Körner gefördert, einige Monate in dessen Haus in Dresden-Loschwitz logierte. Ebenso wie sein großes Vorbild schrieb er hauptsächlich Dramen und Gedichte. Bereits mit vierzehn Jahren brachte er erste dramatische Versuche zu Papier, seine Berufung zum Theaterdichter fand er als Zwanzigjähriger in Wien, wo er am 26. August 1811 eingetroffen war. In eineinhalb Jahren entstehen die Komödien und Tragödien Die Braut, Der grüne Domino, Der Nachtwächter, Der Vetter aus Bremen (ein Stück, das Goethe als »allerliebst, neckisch und komisch« bewertet hat), Die Gouvernante, Der vierjährige Posten, Toni, Die Sühne, Zriny, Rosamunde, Joseph Heyderich. Niemand stellt sein Talent in Frage, Bedenken werden lediglich in Bezug auf seine Sorgfalt und die übertriebene Effekthascherei geäußert. Wilhelm von Humboldt schreibt an den Vater: »Die einzige Sache, die ich jetzt bei ihm fürchte, ist, daß er zu sehr das Dramatische im Auge hat und darüber das Poetische vernachlässigt.« Und er empfiehlt als »sicherstes Besserungsmittel«, dass Theodor Goethes Angebot annimmt und sich eine Zeitlang in Weimar zu einem »ernsten poetischen Streben« bringen lässt.16 Körners in seiner Wiener Zeit entstandenen Theaterstücke werden zumeist enthusiastisch gefeiert. Sowohl die Komödien als auch die Tragödien werden in den Jahrzehnten nach seinem Tod zahlreich aufgeführt, und zwar nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin, Dresden, Weimar, Prag, Graz. 14

Der literarische Agitator Theodor Körner

Beachtlich ist auch, dass seine Stücke ins Dänische, Holländische, Französische, Ungarische, Polnische und in andere Sprachen übersetzt wurden. Vor allem in Kroatien ist eine überaus lebendige Rezeption von Körner nachweisbar: Man nahm seine Stücke als Muster für den Aufbau eines eigenen Nationaltheaters.17 Freilich gibt es vereinzelt auch ablehnende Stimmen. Beispielsweise schreibt Dorothea Schlegel, als Theodor zum k. k. Hoftheaterdichter ernannt worden ist, dass diese Position dazu führen wird, dass er recht sanft wieder eindämmern [wird] in die allerkotzebueschste Gewöhnlichkeit. [...] Er überschwemmt jetzt das Theater mit Dramen aller Art, die bei ihm wie Pilze aufschießen, in welchen, er mag nun sein Thema aus der Geschichte oder aus der Konversation, aus der Phantasie oder aus der Zeitung nehmen, ihm nichts deutlich vorschwebt, als die Katastrophe, die manchmal eine wahre Explosion ist, wie in seinem Zriny, wo alles in die Luft gesprengt wird. Die drei, vier oder auch fünf Akte vorher sind nichts als Zubereitungen zu einem solchen Feuerwerk.18

Recht gehässig haben die in Zwickau erscheinenden Erinnerungsblätter für gebildete Leser aus allen Ständen am 28. März 1813 Körners Abschied aus Wien folgendermaßen kommentiert: Der Wiener Theaterdichter Körner ist mit einigen seiner jugendlichen Freunde zu dem neuen Freikorps nach Breslau abgegangen. Welche Wohltat für unsere Literatur, wenn noch einige Tausend schlechter und mittelmäßiger Dichter diesem Beispiel folgten!19

Friedrich Hebbel hat in einer Untersuchung Ueber Theodor Körner und Heinrich von Kleist festgestellt, dass Kleist »Alles hat, was den großen Dichter und zugleich den echten Deutschen macht«, während Körner »bloß dafür erglüht«: »Ich würde gern schweigend an seinem Grabe vorübergehen und ihm den Lorbeer lassen, den er sich mit dem Tode erkaufte«. Dennoch stellt er kategorisch fest: »Theodor Körner hatte für‘s dramatische Fach nicht das geringste Talent.«20 Christian Gottfried Körner, der den Aufstieg seines Sohne zum gefeierten Theaterdichter mit Stolz, aber stets auch mit kritischen und mahnenden Kommentaren begleitet, schreibt in einem Brief: Viel hast du empfangen und viel zu hoffen; daher Deine Verbindlichkeit, die Würde Deines Berufes nie zu vergessen. Auf den Flügeln der Dichtkunst soll die gesunkene Nation sich erheben. Dein Geschäft ist, alles Edle und Große und Heilige zu pflegen, wodurch die menschliche Natur sich verherrlicht.21 15

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Franz Grillparzer wird später zu denen gehören, die in Theodor Körner einen bedeutenden Verfasser von Dramen sehen. Fest steht, dass Theodor mit einer erstaunlichen Leichtigkeit in kürzester Zeit literarische Texte verfassen konnte. In einem Brief, am Weihnachtsabend des Jahres 1811 »nachts 3 Uhr« geschrieben, berichtet er seinen Eltern, dass er das Libretto zu einer Das Fischermädchen betitelten Oper »in sieben Stunden zusammengeschrieben« hat. Man stelle sich das einmal vor: In wenigen Monaten schreibt Theodor Körner im Alter von zwanzig bzw. einundzwanzig Jahren sechs Trauerspiele und Dramen, fünf Lustspiele, fünf Libretti für Opern und Singspiele, vier kleinere dramatische Spiele, sechs dramatische Fragmente, außerdem zahlreiche Gedichte und Prosa-Texte. Natürlich lassen sich bei einer solchen Produktion Flüchtigkeitsfehler nicht vermeiden, und Anlass zu Kritik geben bei den Dramen vor allem die Ungereimtheiten bei den Handlungskonstruktionen und der fehlende Tiefgang bei der Gestaltung der Charaktere. Aber die sprachliche Ausdrucksfähigkeit des jungen Dichters beeindruckt: Er schreibt Versdramen, oft werden Dialoge und Monologe sogar durchgängig mit Reimen geschmückt. Theodor Körners Stücke begeistern das Wiener Publikum, so sehr, dass er eine Audienz bei Erzherzog Karl und im Januar des Jahres 1813 die Anstellung als k.k. Hoftheaterdichter am Wiener Burgtheater erhält. Selbst Johann Wolfgang Goethe, der sonst kaum einen Dichter-Kollegen gelten lässt, äußert sich über Körners Dramen überaus wohlwollend22 und bringt in seiner Position als Theaterdirektor in Weimar zwei zur Aufführung, nämlich Die Sühne und Die Braut. Die Themen, die er literarisch verarbeitet, holt sich Theodor Körner aus dem Alltag. Die Erlebnisse und Beobachtungen, die er als Bergmann und dann als Student machen konnte, regen seine Phantasie an, in der Wiener Zeit greift er dann zunehmend historische Vorgänge auf. Er schreibt zunächst Gedichte ganz im Stil der Romantik. Seine Libretti sind mehrfach vertont worden, unter anderem von Franz Schubert. Friedrich von Flotow, dessen Oper Martha auch im 21. Jahrhundert immer mal wieder (in der von Loriot vorgenommenen Inszenierung) aufgeführt wird, hat im Jahr 1833 Körners Libretti Alfred der Große und Die Bergknappen vertont. Auffällig ist, dass Theodor bereits in seinen ersten Texten der Opfertod fürs Vaterland faszinierte, der ihn zunehmend gefangen nimmt und regelrecht zu einer Manie anwächst. In den Gedichten, die er als Jugendlicher verfasste, taucht das Todesmotiv noch vereinzelt auf, dann beherrscht es zunehmend seine Gedanken und steht schließlich in den Gedichten, die er als Lützower Jäger im Feld für das Feld geschrieben hat, permanent im Mittelpunkt. Im Deutschunterricht spielt Theodor Körner, dessen Drama Zriny und dessen Gedichte aus Leyer und Schwert, allen voran Lützows wilde Jagd, im 19. Jahrhundert lange Zeit zu den Pflichtlektüren gehörten, heute keine Rolle mehr. Seine 16

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Theaterstücke werden nirgendwo mehr aufgeführt. Es kommt höchstens vor, dass eines seiner Stücke von zeitgenössischen Autorinnen verarbeitet werden, wie dies Irene Dische und Elfriede Jelinek in ihrer Oper Der tausendjährige Posten oder Der Germanist getan haben, die am 10. März 2012 im Heidelberger Theater uraufgeführt wurde. Sie basiert auf den Singspielen Der vierjährige Posten von Körner und Die Zwillingsbrüder von Georg Ernst von Hofmann und der Musik von Franz Schubert. Der Wiener Komponist hatte Körners Libretto im Mai 1815 als seine zweite Oper vertont. Dische und Jelinek übernahmen die Ouvertüre und zehn Kompositionen aus dieser Oper, die 1896 in Dresden ihre Uraufführung hatte. Ihr Stück greift die unglaubliche Geschichte des Germanistik-Professors Hans Ernst Schneider (1909–1999) auf, der im Dritten Reich in der SA und der SS in hohen Funktionen tätig war. Er arbeitete zum Beispiel für das Amt Ahnenerbe und leitete von 1942 bis 1945 die Dienststelle Germanischer Wissenschaftseinsatz. Im Mai 1945 ließ er sich von seiner Frau bei den Behörden für tot erklären, besorgte sich unter dem Namen Hans Schwerte andere Papiere und schlüpfte in eine neue Existenz. Als Hans Schwerte heiratete er wieder seine Frau, die angebliche Witwe Schneider, und adoptierte den gemeinsamen Sohn. Gleich zweimal erschummelte er sich den Doktortitel, 1958 zudem mit einer falschen Habilitation eine Professur. Von 1970 bis 1973 war er Rektor der TH Aachen und wurde für seine Verdienste mit hohen deutschen und ausländischen Orden ausgezeichnet. Im April 1995 kam er seiner Enttarnung durch Selbstanzeige zuvor. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen Beihilfe zum Mord und wegen Fälschung von Personalien beziehungsweise Falschurkundung auf, die jedoch in beiden Anklagepunkten eingestellt wurden. Das Land NRW nahm die Ernennung zum Professor zurück, entzog ihm den Beamtenstatus, die Pension und den Titel des Ehrensenators, das Bundesverdienstkreuz wurde ihm aberkannt.

Irene Dische kommentierte diesen Fall zutreffend: »Hier überholt die Wirklichkeit die Phantasie des Schriftstellers.«23 Körners Singspiel in einem Aufzug Der vierjährige Posten (Sämtliche Werke, 664–672) fällt eigentlich ganz aus dem Rahmen. Denn während alle seine Bühnenstücke, die den Krieg explizit thematisieren, diesen als den erstrebenswerten Höhepunkt im Leben des Mannes darstellen, wird in dem Singspiel ein Protagonist gefeiert, der »statt des Schwerts den Pflug genommen« hat. Er lebt friedlich in einer Dorfgemeinschaft, während draußen »das Kriegsgetümmel« stürmt. Der Inhalt des Stücks ist schnell erzählt: Im Jahr 1809 wird der französische Soldat Düval in einem deutschen Grenzdorf vergessen, als sein Regiment 17

Erhard Jöst

abzieht, während er auf der Wacht steht. Er gliedert sich in die Gemeinschaft ein, arbeitet als Knecht und heiratet Kätchen, die Tochter des Dorfrichters. Als vier Jahre später sein Regiment wieder in den Ort kommt, droht dem Deserteur nach dem Kriegsrecht die Todesstrafe. Düval sieht das anders: Ich sehe nicht, was ich verbrochen, / Da ich nicht von der Fahne lief. / Dort oben stand ich als Vedette. / Ja, wenn man mich gerufen hätte, / Als der Befehl nach Hause rief! // So aber ward ich ganz vergessen! / Doch blieb ich, dem Befehl gemessen, / Den ganzen Tag lang ruhig stehn / Und als ich mich herunter wagte / Und spät nach meinen Brüdern fragte, / War von Soldaten nichts zu sehn.

Zusammen mit den anderen Dorfbewohnern vertraut er auf das Glück, denn er glaubt: »Was Gott zur Liebe verbunden / Trennt selten ein widrig Geschick.« Weil die Unschuld »verwegen sein« müsse, zieht er listig seine Uniform an und begibt sich mit Gewehr und Tasche auf seinen alten Wachposten. Anfangs scheint ihm die List keinen Erfolg zu bringen, denn als ihn sein ehemaliger Hauptmann erkennt, ordnet er sofort seine Verhaftung an, um ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen, weil er »seine Adler treulos verlassen« habe. Düval widersetzt sich der Verhaftung und droht: »Wer sich mir naht, den trifft mein Schuß«. Erst wenn er ordnungsgemäß von der Wache abgelöst worden sei, werde er sich stellen. Der Hauptmann zeigt sich unnachgiebig: »Umsonst sind eure Bitten, / Im Kriege schont man nicht. / Der Bube wird erschossen, / Das ist Soldatenpflicht.« In dieser schier ausweglosen Situation erscheint der General. Er ordnet Düvals Ablösung an. Als er dessen Geschichte gehört und gesehen hat, dass alle Beteiligten ihm das beste Zeugnis ausstellen, ja selbst der Hauptmann zugestehen muss, dass er ihn »immer brav gesehn« habe, gewährt er ihm nicht nur Pardon, sondern er belohnt ihn auch noch: »Ich laß dir einen ehrlichen Abschied schreiben; / Du magst hier zufrieden und ruhig bleiben! / Ich störe nicht gerne ein Menschenglück. / Die Freude kehre euch wieder zurück!« Der vierjährige Posten ist also ein Stück, das erstaunt, weil man die Verkündung einer solchen Botschaft dem Kriegs-Apologeten Körner gar nicht zugetraut hätte. Schauen wir genauer hin und fragen uns, warum er durch die Anordnung des Generals einem Fahnenflüchtigen Pardon gewährt. Man muss zuerst darauf verweisen, dass Düval ein »braver« Soldat gewesen ist, der seinen Militärdienst so pflichtgemäß und tapfer erfüllt hat, dass er mit einer Medaille ausgezeichnet wurde. Seinem Kätchen gegenüber bekennt er: »Als ich noch im Regimente war, / Da wurde mir’s wohl im lust’gen Getümmel, / Ich freute mich immer auf Kampf und Gefahr«. Die Liebe zu ihr hat ihn mit der Zeit verwandelt: »Doch seit mich zu dir das Schicksal trieb, / Da ist mir die 18

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wilde Lust vergangen, / Da hab’ ich auch mich und mein Leben lieb.« Körner legt demnach die Schlussfolgerung nahe, dass nur derjenige Nachsicht verdient, der zuvor seine Soldatenpflicht erfüllt hat. Bemerkenswert ist zudem, dass es ein Franzose ist, der das lustige Soldatenleben aufgibt, um Landwirt und treuer Ehemann zu werden. Ob sich Körner auch umgekehrt vorstellen konnte, dass ein deutscher Soldat sein Schwert gegen einen Pflug in einem französischen Ort austauscht, ist fraglich. Auffällig ist auch, dass er den Stoff der Desertion nicht ernsthaft aufarbeiten, sondern lediglich als Posse gestalten konnte. In den Kriegsgedichten, die er als Lützower Jäger schreibt, fordert er alle Kämpfer auf, kein Pardon zu geben. Im Lied der schwarzen Jäger heißt es zum Beispiel: »Gebt kein Pardon! Könnt ihr das Schwert nicht heben, / So würgt sie ohne Scheu; / Und hoch verkauft den letzten Tropfen Leben! / Der Tod macht alle frei.« In dem Gedicht Männer und Buben beschimpft er diejenigen, die »ihre Hände feig in den Schoß« legen, wenn der Sturm losbricht, als »ehrlose erbärmliche Wichte«. In dem Gedicht Aufruf appelliert er: »Zerbrich die Pflugschar, laß den Meißel fallen, / Die Leyer still, den Webstuhl ruhig stehn! / Verlasse deine Höfe, deine Hallen: – / Vor dessen Antlitz deine Fahnen wallen, / Er will sein Volk in Waffenrüstung sehn.« Und immer wieder ertönt die Aufforderung: »Wasch die Erde, / Dein deutsches Land, mit deinem Blute rein!« Und: »Der Tempel gründe sich auf Heldentod.« Dass ein Soldat wie in dem Stück Der vierjährige Posten seiner Geliebten wegen das lustige Soldatenleben aufgibt, das ist für Körner undenkbar, sondern die Entwicklung ist immer umgekehrt. Er beschreibt sie zum Beispiel in dem Reiterlied: »So geht’s zum lust’gen Hochzeitsfest, / Der Brautkranz ist der Preis; / Und wer das Liebchen warten läßt, / Den bannt der freie Kreis. / Die Ehre ist der Hochzeitsgast, / Das Vaterland die Braut; / Wer sie recht brünstiglich umfaßt, / Den hat der Tod getraut.« (Leyer und Schwert, Sämtliche Werke, 172–204) Danach befragt, wieso sie zusammen mit Elfriede Jelinek den Fall des Germanisten Hans Ernst Schneider, der die fatalen realsatirischen Auswirkungen des Nationalsozialismus auf den deutschen Hochschulbetrieb aufzeigt, mit zwei Einaktern aus der Romantik kombiniert und zu einem neuen Werk montiert hat, verweist Irene Dische darauf, dass »die Struktur der Originallibretti« gut zu dem passte, was sie erzählen wollte, sodass sie »die vertonten Texte kaum zu ändern brauchte«, weil »sie sich gut mit den neu geschriebenen Dialogen verbinden ließen.« Andrea Schwalbach, die die Heidelberger Uraufführung der Oper inszenierte, verweist zudem darauf, dass »das Biedermeierliche, Naive in Schuberts Musik [...] ein wunderbarer Gegensatz zu der doch sehr abgründigen Betrugsgeschichte in der neuen Dialogfassung« sei: »Die Musik bewahrt einen davor, sich zu sehr mit den Befindlichkeiten der Figuren zu beschäftigen.« Und Dische ergänzt: »Ich finde, dass der mitunter süßliche Duktus der Musik gut zum bitterbösen Stoff passt und eher verstärkend wirkt.«24 19

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Joseph Heyderich oder deutsche Treue (Sämtliche Werke, 553–567), ein Drama in einem Akt, ist das Werk, das Theodor im Februar 1813 als letztes Bühnenwerk geschrieben hat. Es offenbart die agitatorische Intention, die er mit seinen Kriegsdramen verfolgte. Mit diesem Stück griff er eine »wahre Anekdote aus dem österreichischen Feldzug von 1800« auf, von der Professor Wilhelm Ridler, Regierungsrat und Vorstand der Universitätsbibliothek zu Wien, im Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst berichtet hatte. Die Handlung spielt in Voghera nach der Schlacht von Montebello am 9. Juni 1800. Ein Hauptmann, schwer an der rechten Hand verwundet, sitzt in der vom Feind besetzten Stadt neben einem Oberleutnant, der besinnungslos auf einer Stiege liegt. Vergebens bittet er einen Bürger, der vorbei kommt, dem Schwerverletzten zu helfen. Als der Oberleutnant zu sich kommt, berichtet er den Schlachtverlauf und beklagt seine Gefangenschaft, die schlimmer als der Tod sei. Die beiden Offiziere möchten sich gegenseitig helfen. Dem Oberleutnant gelingt es schließlich, den Hauptmann weg zu schicken, damit er sich zu einem Wundarzt begibt: »Geh und rette dich. Dein alter Vater lebt noch, rette dich ihm, rette dich deinem Kaiser!« Nachdem er alleine ist, hält er einen Monolog, in den Theodor Körner die Positionen eingearbeitet hat, die er auch in diversen Briefen zum Ausdruck gebracht hat: Der letzte Abschied! – Tod! ich zittre dir nicht; aber wenn ich mir’s denke, das war das letzte Menschenauge, das mir leuchtete, so schaudert’s doch durch meine Seele. – Also meine Rechnung ist abgeschlossen, mein Testament ist gemacht. – Möge Gott die guten Eltern trösten, wenn der ehrliche Heyderich ihnen mein Vermächtnis bringt; ich bin ruhig; dem Himmel sei Dank, ich darf den Augenblick der Auflösung nicht scheuen. – Hab’ es nicht gedacht, als ich in der Schule den Horaz übersetzte daß ich das dulce pro patria mori an mir selbst prüfen könnte! – Ja, bei dem Allmächtigen, der unsterbliche Sänger hat recht: es ist süß, für sein Vaterland zu sterben! – O, könnt’ ich jetzt vor allen jungen treuen Herzen meines Volkes stehn und es ihnen mit der letzten Kraft meines fliehenden Lebens in die Seelen donnern: Es ist süß, für sein Vaterland zu sterben! Der Tod hat nichts Schreckliches, wenn er die blutigen Lorbeeren um die bleichen [sic!] Schläfe windet. – Wüßten das die kalten Egoisten, die sich hinter den Ofen verkriechen, wenn das Vaterland seine Söhne zu seinen Fahnen ruft; wüßten das die feigen niedrigen Seelen, die sich für klug und besonnen halten, wenn sie ihre Redensarten auskramen, – wie es doch auch ohne sie gehen werde, zwei Fäuste mehr oder weniger zögen nicht in der Wagschale des Sieges, und was der erbärmlichen Ausflüchte mehr sind – ahnten sie die Seligkeit, die ein braver Soldat fühlt, wenn er für die gerechte Sache blutet: sie 20

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drängten sich in die Reihen. Freilich wird’s auch ohne sie gehen, freilich geben zwei Fäuste den Ausschlag nicht; aber hat das Vaterland nicht ein gleiches Recht auf alle seine Söhne? Wenn der Bauer bluten muß , wenn der Bürger seine Kinder opfert, wer darf sich ausschließen? Zum Opfertode für die Freiheit und für die Ehre seiner Nation ist keiner zu gut, wohl aber sind viele zu schlecht dazu! – Schnell zu den Fahnen, wenn euch die innere Stimme treibt! Laßt Vater und Mutter, Weib und Kind, Freund und Geliebte entschlossen zurück! Stoßt sie von euch, wenn sie euch halten wollen – den ersten Platz im Herzen hat das Vaterland! – Was faßte mich für ein Geist? – will die kühne Seele mit diesen heiligen Worten Abschied nehmen? – ich werde schwach – die Stimme bricht. – Wie du willst, mein Gott und Vater! – ich bin bereit!25

Nach Beendigung des Monologs fällt der Oberleutnant wiederum in Ohnmacht und es erscheint Korporal Heyderich (»ein Tuch um den Oberarm, sehr erhitzt und abgespannt«). Er hat sich auf die Suche nach seinem Oberleutnant gemacht, wurde deshalb von seinen Kameraden für einen Deserteur gehalten und durch einen Schuss schwer verletzt. Als der Oberleutnant wieder erwacht, informiert er ihn darüber, dass er sich von seiner Truppe abgesetzt hat, um ihn zu suchen, worauf dieser ihm enttäuscht entgegen hält: »Du verdienst eine Kugel vor den Kopf, Deserteur!« Der Korporal entgegnet: »Herr Oberleutnant, der Schuß, den ich da im Arme habe, thut wehe; aber der Stich, den mir Ihre Worte ins Herz drücken, der thut‘s zehnmal mehr!« Es klärt sich schließlich, dass es dem Korporal nur darauf ankommt, das Leben seines Vorgesetzten zu retten. Niemals sei er ein Deserteur: »Herr Oberleutnant, ich sterbe zwar nicht bei meiner Fahne, aber ich sterbe doch für meine Fahne«. Er holt einen Kaufmann aus seinem Wohnhaus, der sich trotz der Gefahr auf die Suche nach einem Wundarzt macht. Als dieser eintrifft, kann er zwar das Leben des Oberleutnants, nicht aber das des Korporals retten. Der Offizier kommentiert des Tod seines Untergebenen: »Da kniee ich in Schmerz und Begeisterung vor dir, du toter treuer Freund! – Vaterland, sieh her! solche Herzen schlagen in deinen Söhnen, solche Thaten reifen unter deiner Sonne! – Vaterland, du kannst stolz sein!« Joseph Heyderich ist ein Schauer-Stück, mit dem Theodor Körner holzschnittartig seine Propaganda für den Opfertod auf die Bühne gebracht hat. Es ist kaum nachvollziehbar, dass diese vor Pathos triefende Klamotte positive Bewertungen gefunden hat. Nach der Auffassung von Karl Berger fand Körners »Begeisterung für Freiheit und Vaterland in dem kleinen Einakter ›Joseph Heyderich‹ [...] den innigsten poetischen Ausdruck«,26 und Hans Zimmer bedauert im Jahr 1916: »jetzt erscheint das Stück – sehr zu Unrecht!« – höchstens einmal in Festvorstellungen von Kriegervereinen oder Turnerverbänden.« Zimmer hat 21

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bereits im April 1893 beim k.u.k. Kriegsarchiv in Wien Auskünfte hinsichtlich der Stoffvorlage für dieses Stück eingeholt. Aufgrund der Orts- und Zeitangaben (Casteggio am 9. Juni 1800) ordnete das Archiv die dargestellten Vorgänge dem Regiment Stuart in der Brigade des Generalmajors Gottesheim zu: Aus den noch vorhandenen Standes-Akten [...] konnte nur erhoben werden, daß im Jahre 1800 ein Gefreiter Josef Heidrich tatsächlich in diesem Regiment und zwar vom Jahre 1799 bis Juli 1800 bei der Kompanie des Hauptmanns Fürrer von Heimendorf gedient hat.

Weiter wird ausgeführt: »Das Regiment nahm an der Schlacht bei Casteggio (Montebello) am 9. Juni 1800 intensiven Anteil [...]. Im Verlaufe der Schlacht hat sich der Oberleutnant Josef Hromada durch eine bravouröse Leistung ausgezeichnet.« Zwar stimme Hromadas Tat nicht mit jener überein, »welche Körner seinen Oberleutnant erzählen läßt«, aber »Anlage und Durchführung, insbesondere aber Zweck und Ergebnis der hier und dort geschilderten Waffentat« seinen »ein im großes gleiches«. Das Militärarchiv erkennt also in Hromada die Person, die Körner in den Mittelpunkt des Handlungsgeschehens stellt, als seine Kameraden werden die beiden Leutnants Stambach und Ottilienfeld identifiziert.27 Nach seiner erstaunlichen Produktivität als Verfasser von Dramen findet Theodor Körner den Höhepunkt seiner Schaffenskraft als Liedermacher. Mit diesem Begriff erfasst man heute am besten die Tätigkeit, der er als Lützower Jäger nachging. Im März 1813 verlässt er Wien. In einem Brief vom 10. März 1813 teilt er seinem Vater den Entschluss mit: Deutschland steht auf; der preußische Adler erweckt in allen treuen Herzen durch seine kühnen Flügelschläge die große Hoffnung einer deutschen, wenigstens norddeutschen Freiheit. Meine Kunst seufzt nach ihrem Vaterlande, – laß mich ihr würdiger Jünger sein! Ja, liebster Vater, ich will Soldat werden [...]. Zum Opfertode für die Freiheit und die Ehre seiner Nation ist Keiner zu gut, wohl aber sind Viele zu schlecht dazu!«

Die Todessehnsucht ist fortan das bestimmende Motiv der Gedichte, die Körners Vater nach dem Tod seines Sohnes unter dem Titel Leyer und Schwert herausgeben wird. In seinem Gedicht Abschied von Wien reimt Theodor Körner: Leb wohl! leb wohl! – Mit dumpfen Herzensschlägen Begrüß’ ich dich und folge meiner Pflicht. Im Auge will sich eine Träne regen. Was sträub’ ich mich? Die Träne schmäht mich nicht. 22

Der literarische Agitator Theodor Körner

[...] Es schwärmten meine Träume nicht vergebens; Was ich so oft gefeiert mit Gesang, Für Volk und Freiheit ein begeistert Sterben: Laßt mich nun selbst um diese Krone werben!« (Sämtliche Werke, 184)

In dem Gedicht Zueignung, das den Band Leyer und Schwert einleitet, gibt der Dichter sogar den Ratschlag: Und sollt’ ich einst im Siegesheimzug fehlen: Weint nicht um mich, beneidet mir mein Glück! Denn was berauscht die Leier vorgesungen, Das hat des Schwertes freie Tat errungen. (Sämtliche Werke, 172)

In Gedichten und Briefen bringt Körner seinen Missmut zum Ausdruck, wenn die Lützower keine Feindberührung haben. Die Gräfin von Pereira informiert er mit einem Brief vom 30. März 1813 über seine Bereitschaft auf dem Schlachtfeld zu verbluten. Denn: Kein Tod ist so mild, wie der unter den Kugeln der Feinde; denn was den Tod sonst verbittern mag, der Gedanke des Abschieds von dem, was einem das Liebste, das Teuerste auf dieser Erde war, das verliert seinen Wermut in der schönen Ueberzeugung, daß die Heiligkeit des Untergangs jedes verwundete, befreundete Herz bald heilen werde. [...] seit der Todesweihe im Gotteshause zuckt mir immer eine Ahnung durchs Herz. (Sämtliche Werke, hg. von Otto Franz Gensichen, 414)

In einem weiteren Brief vom 18. August 1813 berichtet er der »liebsten Freundin«, dass die Lüzower »soeben marschieren«: »In zwei Tagen erwarten wir die Todeshochzeit«.

Körners enorme Wirkungsgeschichte Körners Wirkungsgeschichte ist imposant: Seine Kriegsgedichte wurden in Verbindung mit seinem Opfertod für das Vaterland immer dann besonders propagiert, wenn es darum ging, junge Menschen für Kriegseinsätze zu gewinnen. Der Dichter wird als Sänger und Held zum heroischen Vorbild stilisiert, 23

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er wird zum profanen Hei ligen erhoben, er wird zum Stimulator für den Heldentod benutzt. Zu verschiedenen Zeiten wird er mal von liberaler und sozialistischer Seite, mal von konservativer und nationalistischer Seite für politische Ziele reklamiert. Anfangs sind es vor allem die Studenten, die sich auf Körner berufen. Im Jahr 1829 erfolgte sogar beim Großherzoglichen Kabinett in Schwerin eine polizeiliche Untersuchung wegen »anstößiger Gesinnungsäußerungen«, die in das beim Körnergrab ausgelegte Besucherbuch eingetragen worden waren. Ein Besucher wollte, dass sich die Deutschen ihre Freiheit erkämpfen und »Pfaffenlist und Fürstentrug« abschütteln, ein anderer, der sich als »Jakobiner« bezeichnet, schrieb: »Möge dein Tyrannenhaß, Körner, noch lange herrschende Gesinnung des deutschen Volkes seyn. Möge es das Joch seiner eigenen Unterdrücker zerbrechen, wie diejenige des französischen!« Das Mitglied des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments Robert Blum reiste im Jahr 1848, vier Monate, bevor er in Wien ermordet wurde, nach Wöbbelin und schrieb in das Besucherbuch: »Wer für die Freiheit gibt sein Blut, Der ruhet allewege gut.«28 Körners Grabstätte war im 19. Jahrhundert ein Wallfahrtsort, das hauptsächlich von Turn-, Gesangs- und Schützenvereinen besucht wurde. Den demokratisch und liberal orientierten Gruppen wurde ab dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 von den Militaristen und Nationalisten die Deutungshoheit über Körner entrissen: Nun wurde er als vorbildlicher Kriegsheld gefeiert. Interpreten wie Magnus Jocham instrumentalisierten den Heldendichter zielstrebig für den Ersten Weltkrieg: »Theodor Körners wahrhaft deutsch und kernhaft christlich gesinntes Herz lebt nicht bloß fort in unserem erfolgreichsten Heerführer, dem Generalfeldmarschall von Hindenburg«, sondern sein Herz »lebt fort in ungezählten deutschen Männern und Jünglingen unter den Waffen, seien sie Vorgesetzte oder Untergebene; es lebt fort auch im schlichten, einfachen Soldaten.« An seine Kameraden richtet er eine Frage, an die er eine Anweisung anschließt: »Bist du im Felde auch ein treuer Diener Gottes und Jünger Jesu Christi, wie Körner es war? Dein Gottesdienst besteht in erster Linie in treuer Pflichterfüllung, in Pflichttreue bis zum letzten Atemzug.«29 Diese missbräuchliche Instrumentalisierung wurde im Dritten Reich noch überboten. Anlässlich der Körnerfeier im Jahr 1943 hielt Gauleiter Friedrich Hildebrandt eine Rede, in der er darauf verwies, dass Körner »dachte und handelte wie ein Deutscher als Soldat denken und handeln muss.« Da im Zweiten Weltkrieg das Judentum in den Vordergrund trete, sollten die Deutschen »harte Herzen« haben und sich »die Kraft an den Gräbern der Helden« holen sowie einem Befehl folgen, »der aus dem Blute kommt.«30 Wie sehr Theodor Körner als Vorbild für den Kampf um die deutsche Ehre angesehen wurde, zeigen auch die Einträge in das Besucherbuch des TheodorKörner-Museums in Wöbbelin. »Friede deiner Asche, großer Sänger, muthiger 24

Der literarische Agitator Theodor Körner

Kämpfer. Heil dir, Carl Theodor Körner« hat ein Besucher am 22. Mai 1899 eingetragen, am 11.5. des gleichen Jahres hält ein anderer seine Verehrung in Reimen fest: Tyrthaeus Du dem deutschen Heere Begeisterst Deine Schaar zum Sieg So zogst Du aus mit blanker Wehre Mit Gottvertrauen zum heiligen Krieg. [...] Für‘s Vaterland sankst Du darnieder Auf treuem Mecklenburger Grund Doch weiter klingen Deine Lieder Im deutschen Volk von Mund zu Mund.

Einmal hat ein Besucher einen Zeitungsartikel eingeklebt, der über einen Jungen namens Paul Mauk aus Freiburg informiert, der mit nur fünfzehn Jahren als jüngster Soldat in den Ersten Weltkrieg gezogen und sogleich gefallen ist. Ein Konrad N. trägt im Jahr 1923 diese Verse ein: »Die Reih ist an dir, das Schwert in die Hand, / die Trommel erkling durchs ganze Land: / Die Reihe ist an dir, das Schwert in die Hand / zu kämpfen für Recht und Vaterland. // Das Schwert in die Hand, die Reih ist an dir, / zu tilgen des Welschen Raubesgier. / Das Schwert in die Hand, die Reih ist an dir, / zu schützen die deutsche Art und Zier. [...] Wir wollen kämpfen, treu mit blanker Wehr / Für unsere Freiheit, Deutschlands Ehr.« Auffällig sind die »Führer-Erwartungen«, die Besucher des Körner-Museums zur Zeit der Weimarer Republik öfters in das Besucherbuch eintragen: Man erhofft sich, dass bald jemand wie Theodor Körner auftreten und das deutsche Volk in eine blendende Zukunft führen möge. Aber Körner wurde nicht nur dazu gebraucht, jungen Menschen den Heldentod schmackhaft zu machen, vielmehr wurden seine Gedichte zu verschiedenen Zeiten sowohl von Links als auch von Rechts für politische Ziele reklamiert. Da sich der Dichter als glühender Patriot für die Schaffung eines einheitlichen Vaterlands eingesetzt hat, dieses den Deutschen aber in dem nach dem Wiener Kongress einsetzenden Vormärz-Zeitalter verwehrt wurde, waren es lange Zeit Studenten, Burschenschaftler, Intellektuelle und Liberale, die sich im politischen Kampf auf ihn beriefen. Bekanntlich trug der Theologiestudent Carl Ludwig Sand Körners Gedichtsammlung Leyer und Schwert bei sich, als er 1819 in Mannheim den Lustspieldichter August von Kotzebue erdolchte.31 Im Jahr 1863 wird Theodor Körner anlässlich seines 50. Todestags von Turnern und Mitgliedern von Gesangsvereinen überall gehuldigt, sein ehemaliger Waffengefährte Friedrich Förster preist ihn als Vorkämpfer für die deutsche Einheit. Dem Adel sind 25

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die republikanischen Tendenzen dieser Feiern suspekt. Beispielsweise wird den Schülern des Schweriner Gymnasiums der Besuch der Wöbbeliner Feier verboten, weil man befürchtet, dass sie dort »durch demokratische Reden verführt« werden könnten. Spätestens mit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 wird Körner aber von konservativen und nationalistischen Kreisen für chauvinistische Ziele vereinnahmt. Wenn Theodor Körner heute auch nicht mehr wie ein profaner Hei liger verehrt wird, so bleiben er und die Vereinnahmung seiner Werke doch zwischen Links und Rechts bis in die Gegenwart umstritten.32 Einige seiner Werke wurden in andere Sprachen übersetzt, Kálmán Kovács weist in einem Aufsatz darauf hin, dass Körners »patriotischen Lieder und der ›Freiheitsheld‹-Mythos um den Autor [...] sogar in Südafrika« auftauchten, »wo sie bei der Erschaffung der südafrikanischen Nationalliteratur eine gewisse Rolle spielten«.33 Im 19. und 20. Jahrhundert erschienen zahlreiche Gedichte über Theodor Körner, einige auch in englischer Sprache, außerdem wurde er zum Titelhelden verschiedener Romane, von Theaterstücken und schließlich auch von Spielfilmen. Im 19. Jahrhundert wurde Körner als einer der bedeutendsten deutschen Dichter gefeiert, seine Werke wurden sogar der Weltliteratur zugerechnet. Von ihm stammende Gegenstände wurden zu Reliquien, sein Grabmal in Wöbbelin wurde zum Wallfahrtsort erhoben.34 Die Zeitschrift Die Gartenlaube feierte ihn als einen Patrioten und Wegweiser zum einigen deutschen Vaterland. Die Liberalen verfolgten die Intention, Körner als Kronzeugen anzuführen, der leidenschaftlich für Deutschlands Einigung gekämpft hat. Der Trend der Körner-Rezeption in der DDR geht aus folgenden ausgewählten Einträgen aus dem Besucherbuch der Gedenkstätten Wöbbelin hervor: »Wir, die Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere, sind stolz darauf, die guten Traditionen Theodor Körners weiter fortzusetzen.« (23.08.1963) / »Wir versprechen, genau wie Theodor Körner, unsere ganze Kraft für die Freiheit und das Recht aller Menschen einzusetzen. Im Auftrage der Klasse und der Lehrkräfte K. H., Student der pädagogischen Schule Schwerin 23.04.1964.« / »Mögen sich unsere Menschen dieser Tage eines Theodor Körners würdig erweisen; denn der Ruf an die gesamte deutsche Nation zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ist das Gebot der Stunde, friedlich und demokratisch wollen wir das Neue Deutschland gestalten und kämpfen wie er.« F.K., 21.07.1957 / »Mit Begeisterung singen wir stets das Lied Lützows wilde verwegene Jagd. Lehrer und Schüler der 8. Klasse der Grundschule I Wittenberge, 03.12.1957.« / »Möge bald wieder ein Körner dem deutschen Volke geboren werden! Dr. H. H., 08.08.1958«. Erfreulich ist, dass die Besucher die 1997 neu konzipierte Ausstellung im Körner-Museum, die bewusst Verbindungslinien zu den neben den Wöbbeliner Gedenkstätten beigesetzten Toten aus dem KZ aufzeigt, positiv aufgenommen haben: »Trotz kri26

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tischer Betrachtung der Person und Werke Theodor Körners eine ausgewogene, um Objektivität bemühte Ausstellung, L. K., 17.06.1997.« / »Die Ausstellung ist sehr gelungen und informativ, 10.09.2011.« Bleibt noch zu erwähnen, dass es in der DDR ab 1970 einen Theodor-Körner-Preis gab. Er wurde vergeben für »hervorragende Leistungen bei der Schaffung oder Interpretation von Kunstwerken, die zur Stärkung der Verteidigungskraft der DDR beitragen und für besondere Verdienste bei der Förderung und Entwicklung des künstlerischen Schaffens und der kulturellen Tätigkeit in der Nationalen Volksarmee (NVA)«. Unter den Preisträgern findet man neben Schriftstellern zum Beispiel auch die Schauspieler Armin Mueller-Stahl (1975) und Hans-Peter Minetti (1981). Es fällt auf, dass Körner stets in den Geschichtsbüchern im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen genannt wird. Es wird auch zumeist darauf verwiesen, dass die mit roten Streifen und goldenen Knöpfen versehenen schwarzen Uniformen der Lützower Jäger im 19. Jahrhundert als Farben der demokratischen Opposition und später der deutschen Nationalflagge verwendet werden. Meiner Meinung nach dürfen Körner-Gedichte und darf die Behandlung von patriotischer Lyrik im kritischen Deutschunterricht nicht fehlen. Denn die faszinierende Gefährlichkeit agitatorischer Kriegslyrik lässt sich anhand von Körners Gedichten bestens aufzeigen. Sicherlich unterscheidet sich der musikalische Geschmack der Jugendlichen heute fundamental von dem der Jugend im 19. und 20. Jahrhundert. Aber vielleicht lässt sich gerade aufgrund der Divergenz und aus der historischen Distanz heraus die Wirkungsweise dieser patriotischen Lyrik besser erfassen. Im anschließenden Transfer kann dann die Frage beantwortet werden, mit welchen Mitteln und in welcher Weise Schriftsteller und Musiker in der Gegenwart Jugendliche für politische Ziele agitieren. Körners Gedichte sind sehr oft vertont worden, nicht nur von Franz Schubert und Carl Maria von Weber, mit dessen Vertonung das Gedicht Lützows wilde Jagd den größten Bekanntheitsgrad erreichte. Die Zahl der Schriftsteller, die Körners Kriegslyrik und seine Theaterstücke aus ideologischen oder künstlerischen Gesichtspunkten ablehnen, ist gering. Spöttisch oder ablehnend äußern sich z.B. Heinrich Heine, Friedrich Hebbel, Kurt Tucholsky und Peter Hacks. Dieser macht sich in seiner Ballade Der sterbende Sänger über Körners Heldentod-Manie lustig: Als Preußen, Rußland und Österreich Gegen Frankreich und Deutschland stritten, Da ist ein Jüngling, schwarzlockig und bleich, Mit in den Tod geritten. Laßt Mutter, Braut und Geliebte zurück! – So hatte er gedichtet 27

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Im ›Josef Heydrich‹. Ein schönes Stück Und stark gegen Frankreich gerichtet. Und wie er lag ins Moos gerafft, Da traten starr und geisterhaft Vors Aug ihm hin, das brechende, Drei Frauen, sichtbar sprechende. [...] Von Gadebusch zog gen Schwerin Ein Sarg unter Trommelschlägen. Zwei Eichen rauschen bei Wöbbelin, Dort ist sein Grab gelegen. Ihr schönen Wiener Jüdinnen, Ihr ließt ihm keine Ruh. Und hätt doch können werden Ein zweiter Kotzebue.35

Häufiger berufen sich Dichter in den zurückliegenden zwei Jahrhunderten positiv auf Theodor Körner. Vor allem rufen sie im 19. Jahrhundert seinen Heldentod in Erinnerung, um den Fürsten gegenüber ihre politischen Forderungen vorzutragen. Schließlich soll das geeinte Deutschland realisiert werden, für das er gekämpft hat, für das er gefallen ist. »Die Lyrik der Befreiungskriege von 1813/14«, stellt Ernst Weber zutreffend fest, war eine vornehmlich oppostionelle Literatur, eingebettet in das nationale Konzept der bürgerlichen Reformelite in Verwaltung und Militär mit seinen antifeudalen und sozialreformerischen Elementen. Ihr Einsatz und ihre Zielvorgaben, soweit sie über die Vertreibung der Franzosen hinausgingen, standen im Gegensatz zur Interessenlage der Fürsten. Der Vers Körners in seinem Aufruf »Es ist kein Krieg von dem die Kronen wissen« artikuliert das neue trotzige Selbstbewußtsein des mobilisierten Bürgertums.36

Moderne Aufnahmen von Körners Kriegsliedern sind eindrucksvoll, lösen andererseits sicherlich kontroverse Wertungen aus. Anhand von Körners Bundeslied vor der Schlacht können prototypisch die Ziele und die Wirkungsweise der Lyrik der Befreiungskriege herausgearbeitet werden. Der Sänger trägt bei der bei You Tube ins Internet gestellten Aufnahme die Verse ausdrucksvoll vor. Er möchte die Zuhörer emotional mitreißen, sodass sie sich dem Sog und dem Befehl voll hingeben: »Brüder, hinein in den blitzenden Regen! / Wiedersehn in der besseren Welt!« Vor der deutschen Nationalflagge, die signalisiert, wofür man sein Leben hingeben soll, wird der Text zum Mitlesen eingeblendet. 28

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Zwar kann man Körner nicht dafür verantwortlich machen, dass seine Gedichte im Zusammenhang der von Imperialismus und Nationalsozialismus entfachten Weltkriege zielgerichtet missbraucht worden sind, aber man muss andererseits feststellen, dass er mit seiner Lyrik diesem Einsatz Vorschub geleistet hat. »Als eine Lyrik, die nur Kriegsbegeisterung vermittelte und von der Jugend unbedingte Opfer- und Todesbereitschaft fürs Vaterland forderte«, so schreibt Ernst Weber, mußte sie nach 1849 innerhalb eines Nationalismus populär werden, der sich ganz dem autoritären und imperialen Machtstaat verschrieben hatte. Im Kontext einer mit der Obrigkeit sich arrangierenden Nationalbewegung war ihre Struktur, ihr systemerhaltender Bellizismus dafür verantwortlich, daß sie zur nationalistischen Erziehung ›kampfbegieriger deutscher Jugend‹ eingesetzt werden konnte.37

In den letzten Jahren versucht die NPD, Theodor Körner propagandistisch für ihre politischen Ziele zu vereinnahmen. Sie greift aber nicht nur seine patriotischen und kriegerischen Gedichte auf, sondern sie verbreitet, ausgehend von ihrer Internet-Plattform MUPINFO eine in Verse gegossene Drohung: Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten, vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott. Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten, dann richtet das Volk und es gnade euch Gott.

Das angebliche Zitat, das man auch auf großen Spruchbändern bei Demonstrationen der Pegida immer wieder lesen konnte, ist eine Fälschung, die Körners agitatorischen Stil raffiniert imitiert. Allerdings hat Theodor den adligen Regenten seiner Zeit nie gedroht, im Gegenteil. Zwar finden sich in Gedichten vereinzelt solche Formulierungen wie im Aufruf, in dem es heißt: Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen, Es ist ein Kreuzzug, ’s ist ein heil’ger Krieg. Recht, Sitte, Tugend, Glauben und Gewissen Hat der Tyrann aus deiner Brust gerissen, Errette sie mit deiner Freiheit Sieg! (Sämtliche Werke, 185)

Aber abgesehen davon, dass die Formulierung unzutreffend ist – die Kronen wussten sehr wohl von diesem Krieg und haben zur Teilnahme aufgerufen und 29

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ihre Truppen in die Schlachten geschickt – hat Körner die Kronen und den Adel stets mit Lob und Preis überschüttet. Hoch lebe das Haus Oesterreich! lautet die Überschrift über ein Gedicht aus dem Jahr 1812, mit dem er auf die Schlacht von Aspern eingeht. Dem Prinzen Louis Ferdinand ruft er zu: »Deinen Grabstein kann die Zeit zermalmen, / Doch die Lorbeern werden dort zu Palmen.« Die Königin Luise wird von ihm als »Schutzgeist deutscher Sache«, ihr Name als »das Losungswort zur Rache« stilisiert. In dem Gedicht An den König schreibt er: »Heil dir, mein Fürst, auf deinem Strahlenthrone« und fordert angesichts des Gerüchts, er sei in der Bauzner Schlacht gefallen: »Das treue Volk muß seinen König rächen!« In dem Gedicht Oesterreichs Doppeladler, das er geschrieben hat, als er »verwundet nach Oesterreich zurückkehrte«, heißt es: »Frisch auf, Habsburg! [...] Hoch, Östreich, hoch! – Dein Schwert, dein Karl wird siegen!« (Sämtliche Werke, 197) Theodor Körner hatte keine politische Konzeption, er träumte auch nicht von einer Revolution der bestehenden Gesellschaftsordnung. Es ging ihm allein darum, gegen die Franzosen zu kämpfen und die deutschen Fürstentümer von ihrer Fremdherrschaft zu befreien. In ihrem historischen Roman 1813. Kriegsfeuer über die Völkerschlacht bei Leipzig schildert Sabine Ebert die Geheimdiplomatie, die Intrigen und Strategien der Regenten sowie die schrecklichen Erlebnisse der Bürgerschaft. Sie hat sich die Aufgabe gestellt, »möglichst viel authentisches Material zu verarbeiten und möglichst viele Leute zu Wort kommen zu lassen, die tatsächlich an jenen Ereignissen beteiligt waren.« In der Tat gelingt es ihr, dem Leser die Charaktere, Handlungen und Ansichten der historischen Persönlichkeiten zutreffend vor Augen zu stellen. Auf Theodor Körner trifft dies allerdings nur bedingt zu. Sie beschreibt zum Beispiel das Zusammentreffen des patriotischen Dichters mit dem sächsischen und späteren russischen Generalleutnant Johann Adolph Freiherr von Thielemann in Reichenbach und legt ihm folgende Sätze in den Mund: Das Lützower Freikorps ist eine verwahrloste Truppe, schlecht ausgerüstet, ohne Disziplin und ohne gründliche Ausbildung. [...] Dabei kamen die meisten von uns aus patriotischem Gefühl, um der Sache willen! Wissen Sie, dass die Leute schon Spottverse aus meinem Lied gemacht haben? Nicht Lützows wilde, verwegene Jagd, sondern Lützows mi lde, verlegene Jagd! Und der Major hat die Truppe nicht im Griff.38

Zwar ist diese kritische Einschätzung der Lützower Jäger durchaus zutreffend, aber es ist gänzlich unwahrscheinlich, dass ausgerechnet Körner sie vorgebracht hat. Auch in einem vertraulichen Gespräch wird der Heißsporn sich so niemals geäußert haben. 30

Der literarische Agitator Theodor Körner

Das Erfolgsrezept von Körners Kriegsgedichten basiert auf folgenden Attributen: 1. Zusammen mit kongenialen Vertonungen setzen die Texte Emotionen frei und erzielen eine intensive Wirkung. Die wilden Lützower Freischärler werden vor der romantischen Kulisse des Waldes zu den Verteidigern der deutschen Werte und »zu Vollstreckern vaterländisch-soldatischer Tugenden«.39 2. Alle Gedichte weisen eine stimulierende Frische und einen Tatcharakter auf. Dieser wird durch den wiederholten Einsatz von Imperativen unterstrichen. Körner agitiert mit griffigen Formulierungen und Aufrufformeln. Einige Beispiele: »Auf, deutsches Volk, erwache!« / »Mir nach! mir nach! dort ist der Ruhm, /Ihr kämpft für euer Heiligtum.« // »Durch, Brüder, durch! Dies werde / Das Wort im Kampf und Schmerz! / Gemeines will zur Erde, / Edles will himmelwärts.« // »Frisch auf, mein Volk! Die Flammenzeichen rauchen, / Hell aus dem Norden bricht der Freiheit Licht. / Du sollst den Stahl in Feindesherzen tauchen; / Frisch auf, mein Volk! – Die Flammenzeichen rauchen, / Die Saat ist reif, ihr Schnitter, zaudert nicht!« //Drauf, wackres Volk! Drauf! ruft die Freiheit, drauf!« // Frisch auf, ihr Jäger, frei und flink! / Die Büchse von der Wand! / Der Mutige bekämpft die Welt / Frisch auf den Feind! frisch in das Feld, / Fürs deutsche Vaterland!« // Ins Feld, ins Feld! Die Rachegeister mahnen. // »Auf, deutsches Volk, zum Krieg! / Wachse, du Freiheit der deutschen Eichen, / Wachse empor über unsere Leichen!« (Leyer und Schwert, Sämtliche Werke, 172-204) 3. Da Körner seine Gedichte stets in einem regelmäßigem Versmaß geschrieben und mit Endreimen versehen hat, kann man sie leicht auswendig lernen und gut vertonen. Der Dichter hat sie oft passend zu bereits bekannten Melodien geschrieben und hat sie selbst nach ihrer Entstehung sogleich mit seinen Lützower Kameraden im Feld und bei besonderen Anlässen gesungen und mit seiner Gitarre begleitet. In einem Brief an seine Eltern berichtet er am 26.03.1813: Das Corps singt schon viele Lieder von mir, und ich kann Euch gar nicht beschreiben, wie angenehm das Verhältnis ist, in dem ich lebe, da die gebildetsten und ausgesuchtesten Köpfe aus ganz Deutschland neben mir in Reih’ und Glied stehen.

Der Lützower Friedrich Förster bestätigt Körners Aussagen: Theodor habe einen Chor gegründet, dem er die neu entstandenen Kriegslieder immer zuerst übergeben habe: »War das Lied nicht nach einer bekannten Melodie gedichtet, 31

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Illustration zu Körners Lied Abschied vom Leben, angefertigt als Bild für ein Album von »Ackermanns Schlüsselgarn«, Mech. Zwirnerei Heilbronn. Privatbesitz

so componirte er selbst eine, die er mit richtiger Kenntniß des Generalbasses in vierstimmiger Partitur aufschrieb.«40 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass er bereits als Sechzehnjähriger von den Liedern begeistert war: »Später erhielt ich von meinem Bruder Körner’s Leier und Schwert geschenkt. Ich wußte bald die meisten Lieder auswendig. Ich blieb dadurch angeregt und fing auch bald an von Freiheit und Vaterland zu dichten.«41 Körners Lieder gehörten zum Repertoire der im 19. und 20. Jahrhundert besonders aktiven Männergesangvereine, sie wurden aber auch in den Schulen und im Alltag bei geselligen Anlässen gesungen. Helmut Grieser, der sich in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in seinen Seminaren mit Körners Liedern befasst hat, berichtete mir in einem Brief vom 05.05.1997: So erzählen die Studenten noch heute von der Wirkung, die der gemeinsame Gesang der ›Lützower‹ mit Hilfe des FDJ-Liederbuches während der Rückfahrt von DDR-Exkursionen auf sie ausgeübt habe. Der Bus rollte durch das geteilte Land an Wöbbelin vorbei, und wir spürten etwas von der Gefühlsmächtigkeit einer nationalen Befreiungsbewegung!

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Weitere Abbildungen zum Album von »Ackermanns Schlüsselgarn«, Mech. Zwirnerei Heilbronn. Privatbesitz

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Abb. links: Bierkrug mit den Abbildungen von Lützow und Körner und Szenen zu Körners Liedern. Privatbesitz

Abb. rechts: Das Körner-Standbild in Dresden, 1869 angefertigt von Ernst Hähnel.

4. Körner blieb in bildlichen Darstellungen präsent (siehe Abbildungen auf dieser und den vorhergehenden Seiten). Massenhaft wurden Szenen dargestellt und – beispielsweise als Ansichtskarte – verbreitet, die er in seinen Kriegsliedern beschrieben hat. Oft wurde Körners Heldentod gemalt. Wirkungsvoll haben die Künstler festgehalten, wie der Dichter den im Wald um ihn versammelten Lützower Jägern eines seiner Gedichte vorträgt. In ein solches Bild wurden sämtliche Requisiten aufgenommen, mit denen man die Gefühle der Betrachter wecken konnte: Uniformen, Waffen, Fahnen. Soldaten und ihre Pferde agieren freudig in der Natur. Der Wald dient als Kulisse und als Symbol der deutschen Heimat, die man schützen und verteidigen muss. In dem in Dresden 1871 aufgestellten Denkmal wird Körner von Ernst Hähnel als jugendlicher Held dargestellt: Er präsentiert sich in der Uniform eines Lützower Jägers, mit umgehängtem Mantel, das Schwert in der linken Hand vor die Brust haltend, in der Rechten eine Schriftrolle, den Blick energisch nach vorne gerichtet. Sein Porträt wurde auch auf Porzellanwaren und Bierkrügen verewigt, Szenen wurden nach der Darstellung in seinen Gedichten auf Bildern für Zigaretten- und Margarinen-Alben festgehalten. 34

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5. Körner verharmlost den Krieg nicht nur, er stellt ihn sogar als ein lustiges Jagdvergnügen dar. Nach seinen Darstellungen findet der Mann in der Schlacht seine Erfüllung und im Heldentod das »höchste Glück«. Kriege werden zu notwendigen Kreuzzügen für höchste Ideale und Werte stilisiert. Gott selbst wird zum obersten Kriegsherrn erhoben. Immer wieder werden religiöse Gefühle stimuliert und wie in dem »Gebet während der Schlacht« wird eine tiefe Ergebenheit in den göttlichen Willen betont. Mit Recht stellt der Lützower Jäger Friedrich Förster (vielleicht unbewusst) einen Zusammenhang zwischen studentischem Händel und kriegerischem Kampf her, wenn er schreibt: »Dieses kriegerische Studentenleben im Felde war vornehmlich der Grund und Boden, auf welchem Körners Kriegslieder entstanden.« Einige Interpreten haben darauf verwiesen, dass »hinter (Körners) Kriegsbegeisterung sexuelle Energien stecken«: Nach dem Konzept eines ödipalen Konflikts kann die häufig erwähnte Todesbereitschaft als ein Akt der Selbstbestrafung gedeutet werden, die wiederum als gegen sich selbst gewendete Todesphantasien gegenüber dem Vater zu verstehen ist. Wo immer Körner sich selbst im lyrischen Ich als ein subjektives, erlebendes Ich darstellt, das sich mal als Sänger, mal als Krieger zu erkennen gibt, ist zugleich vom Tode die Rede, der willig angenommen, ja ersehnt wird.

Ich schließe mich daher der von Ernst Weber geäußerten Behauptung an: »Die Motivationsenergien für den Krieg, dies ist aus der Erotisierung des Kampfes zu schließen, werden aus einem unbewältigten psychischen Konflikt gezogen.«42 6. Körner kann man optimal zur politischen Agitation einsetzen. Er wird aufgrund seines kriegerischen Draufgängertums und seines ausgeprägten Patriotismus auch gegenwärtig von Gruppen und Vereinen zum Vorbild stilisiert. Zum Beispiel schreibt der 1963 gegründete Schützenverein »Theodor Körner« Lehmrade, der seine Aufgabe darin sieht, den Schießsport, die Kameradschaft und die Geselligkeit zu pflegen, über seinen Namenspatron: Das Freikorps Lützow ist in seiner normierenden Gestalt Theodor Körner unserem Verein Leitbild, Ideal und Ansporn, der Heimat und dem Vaterland die Treue zu halten! Unsere Jugend aber, die gefährdet ist, ihren Elan in wertlose [!] Vergnügungen zu verpulvern, soll der Geist von 1813 mahnen, die Freiheit zu ehren und als höchstes Gut zu erhalten.

Ein politisch rechts orientierter »Kaiserlicher Patriot« hat am 06.02.2013 als YouTube-User dieDRITTEwahrheit ein Video ins Internet gestellt: »Theodor 36

Der literarische Agitator Theodor Körner

Körner zum 200. Jahre seines Todes«. Friedrich Försters Gedicht Bei Wöbbelin im freien Feld wird mit Musikbegleitung von Teja vorgetragen und mit schönen Landschaftsbildern unterlegt. Zu Beginn des Films kann man lesen: »1813 Beginn der Befreiungskriege / 2013 Beginn unserer Befreiung?« 7. Religiosität: Um die Menschen in ihrem Innersten zu ergreifen und um sie für seine Ziele zu gewinnen, setzt Körner religiöse Rituale ein. Bei der »feierlichen Einsegnung des preußischen Freicorps in der Kirche zu Rogau in Schlesien« am 28. März 1813 wurde ein von ihm geschriebenes Lied gesungen: »Denn, was uns mahnt zu Sieg und Schlacht, / Hat Gott ja selber angefacht. / Dem Herrn allein die Ehre!« Besonders inbrünstig formuliert er seine Intention in dem Gebet während der Schlacht, das mit der Strophe beginnt: »Vater, ich rufe dich! / Brüllend umwölkt mich der Dampf der Geschütze, / Sprühend umzucken mich rasselnde Blitze, / Lenker der Schlachten, ich rufe dich! / Vater du, führe mich!« Die rituelle Anrufung Gottes wird in jeder Strophe wiederholt und modifiziert: »Vater, ich rufe dich! / Gott, ich erkenne dich! / Vater du, segne mich! / Vater, ich preise dich! / Gott, dir ergeb’ ich mich! / Vater, ich rufe dich!« (Sämtliche Werke, 191  f.) Körners Werke werden von seinen Anhängern von Anfang an zum »heiligen Vermächtnis« stilisiert – so die Formulierung von Karl Streckfuß, der sie im Auftrag der Familie 1847 herausgegeben hat. 8. Die Kameradschaft der Soldaten und ihre Zeit im Feld wird zur LagerfeuerRomantik verklärt. Auf diese Weise hat Körner den Lützower Jägern, die im Befreiungskrieg militärisch so gut wie keine Rolle gespielt haben, ihren Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Körners Zeitgenosse Gustav Parthey erzählt: Lützows wilde Jagd von Körner kursierte schon in mehreren Abschriften und wurde nach beliebigen Melodien gesungen; aber die letzte Zeile travestierten die schwarzen Jäger: Das war Lützows stille verlegene Jagd! Weder bei den deutschen Entscheidungsschlachten nach dem Waffenstillstande 1813, noch bei den ruhmreichen Kämpfen in Frankreich im Anfange des Jahres 1814 konnten die Lützower tätig sein.43

In seinem 1942 veröffentlichten Buch Soldatische Geschichte der Deutschen merkt der Korvettenkapitän Paul H. Kuntze an: »Sehr bedauerlich ist es, daß die Geschichte [...] nichts berichtet über das ziemliche Versagen der Freikorps und nur sehr wenig erwähnt über die wundervolle Haltung der Landwehr.«44 Auch der berühmteste Lyriker der Romantik, Joseph von Eichendorff, nahm selbst fast drei Jahre lang an den Befreiungskriegen teil, anfangs war er ebenfalls bei den Lützowern, denen er in seinem Gedicht An die Lützowschen Jäger ein Denk37

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mal gesetzt hat. Körner übertrifft an patriotischer Wirksamkeit den Freiherrn Eichendorff, weil für ihn der Krieg zum Lebensinhalt wird. Während Eichendorff handelte, »ohne Leben mit Poesie zu verwechseln«,45 ist bei Körner genau dies der Fall. Er ist ein Dichter, der das Theater und den Krieg zur Deckung bringt, er agiert in der Realität wie auf einer Bühne. Mit seinem Trauerspiel Zriny probt er das Kriegsspiel auf der Theaterbühne, als Lützower übernimmt er dann selbst eine Rolle. »Verwegen bin ich, tollkühn für die Liebe, / Und hochbegeistert für mein Vaterland!« (Sämtliche Werke, 409 f.), lässt er in diesem Stück den jugendlichen Helden Lorenz Juranitsch sprechen: Es ist eigentlich ein Selbstbekenntnis! Es ist bezeichnend und nicht nur mit der Notwendigkeit der Tarnung zu erklären, dass Theodor Körner, als er nach seiner Verwundung bei Kitzen im Juni 1813 an seine Eltern einen Brief schreibt, diesen mit »Lorenz Juranitsch« unterzeichnet.46 In seinem vermutlich letzten Gedicht, dem Schwertlied, erklärt er das Schwert zu seiner »Eisenbraut«, die ihm die Geliebte ersetzt, und bereitet sich mit ihm auf die »Brautnachts-Morgenröthe« der Schlacht vor. Ferdinand Stolle lässt in seinem 1838 erschienenen Roman 1813 General Blücher auf Körner treffen und schildert die Begegnung so: »Da ist ja unser braver Sachse«, sprach er, dem jungen Dichter treuherzig die Hand schüttelnd. »Ich alter Husar hab’ sonst auf die Poeten nicht viel gehalten, aber weiß Gott, Ihre Verse haben mir das Herz im Leibe umgewandt, man sieht’s gleich, daß sie so recht aus dem Herzen hervorkommen, wie bei dem wackeren Schiller; und was mir absonderlich von Ihnen gefällt«, fuhr er fort, »daß Sie selber mit der Klinge bei der Hand sind, daß die Tat hinter dem Worte nicht zurückbleibt. So laß ich mir den Poeten gefallen.«47

9. Körners Wirkungsgeschichte in Nachdichtungen und als Bühnenfigur: Theodor Körner wurde im 19. Jahrhundert als patriotische Identifikationsfigur multifunktional präsentiert. Zum Beispiel hat Louise Otto-Peters 1863 das Libretto für eine Vaterländische Oper geschrieben, das der Komponist Wendelin Weißheimer vertont hat. Sie lässt den Heldendichter und die Lützower oft in den von Körner geschriebenen Originalversen sprechen, und Weißheimer lässt die Chöre zuweilen nach den Kompositionen von Carl-Maria von Weber singen.48 10. Das entscheidende Kriterium für Körners Wirksamkeit wird sein Heldentod. Mit ihm wird er für seine Anhänger glaubwürdig, denn er hat nun bewiesen, dass er das, was er von anderen fordert, selbst einlöst. Durch seinen Heldentod sei er zu einer »vollendeten Gestalt« geworden, schreibt Wilhelm von Humboldt im August 1814: 38

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Jugend, Dichtung, Vaterlandsliebe, Tapferkeit haben sich zu diesem einen frühen Ende verschlungen. Wäre er leben geblieben, hätte sich das Magische, das jetzt die beiden letzten Eigenschaften haben, in etwas ganz Gewöhnliches verloren, was er mit vielen anderen geteilt hätte, die Entwicklung der Dichtung blieb zweifelhaft, und die Frische der Jugend verging.49

Viele Literaturwissenschaftler vertraten wie Karl Emil Franzos im Jahr 1891 die Meinung, dass Theodor »nicht zu gleich dauerndem Ruhme gelangt« wäre, wenn er nicht den »glücklichsten Tod« auf dem Schlachtfeld erlitten hätte.50 »In der Tat, der wildherzige Reitertod, der Ehrendtod fürs Vaterland auf grüner Halde gibt diesem mit Feuer und Kraft gelebten Dasein erst die rechte Krönung«, schreibt Karl Berger im Jahr 1918.51 Otto W. Johnston verweist in seiner 1990 veröffentlichten Studie über den deutschen Nationalmythos zurecht darauf, dass Körners »Tod nicht mehr nach militärischer Erfolgsleistung beurteilt, sondern vor die Kulisse des Nationalmythos, an dem er mitgearbeitet hatte, gerückt« wurde, damit eine später eintretende Mythosproduktion Leben und Tod, Wahrheit und Dichtung mit der besonderen Einigungspolitik Bismarcks zusammenfügen konnte, um der Nation ein dem Interesse der regierenden Schicht dienendes Bewußtsein aufzudrücken.52

Bei unzähligen Krieger- und Gedächtnisfeiern wurde der Dichterheld der deutschen Jugend als Vorbild vor Augen geführt. Bei der »Jahrhundert-Gedächtnißfeier« für Theodor Körner formulierte Anton August Naaff ein Gedicht An die deutsche Jugend, das die Strophe enthält: Deutsche Jugend aller Gaue, Blicke hin nach Wöbbelin dort, Wo Dein Held und Sänger ruhet, Hingestreckt von fränk’scher Kugel In des Lebens reichsten Tagen, Und erneue, sein gedenkend, Treu den Kampfschwur aller Deutschen!53

Einige Lützower sind 1815 Mitbegründer einer corporierten Studentenverbindung an der Universität Jena und organisieren 1817 das Wartburgfest, auf dem die Teilnehmer Körner hoch leben lassen. Der Horaz-Spruch vom »süßen und ehrenvollen Tod fürs Vaterland« wurde in der Romantik auch von bedeutenden Dichtern aufgegriffen, beispielsweise ging Jean Paul der Frage nach, ob es nicht schön sei, jung zu sterben und meint: 39

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Ich sage nein! Denn es gibt im Blütenalter noch einen schönern Tod, den des Jünglings auf dem Schlachtfelde. Noch nicht vom dumpfen Kerkerfieber des Lebens zum Zittern entkräftet, [...] ohne die matte satte Betrübnis eines Sterbenden stürzt er in den feurigen Schlachttod wie in eine Sonne, von hohen Hoffnungen umflattert, vom gemeinschaftlichen Feuersturm der Ehre umbrauset und getragen, im Auge den Feind, im Herzen das Vaterland. [...] Nein, zwischen sein Sterben und seine Unsterblichkeit drängt sich kein Schmerz, und die flammende Seele ist jetzo zu groß für einen großen, und sein letzter schnellster Gedanke – ist nur der frohe, gefallen zu sein für das Vaterland. Alsdann geht er bekränzt hinauf als Sieger in das weite Land des Friedens.54

Wie Theodor Körner, der mit seinen agitatorischen Versen »Vaterland! dir woll’n wir sterben«, der mit Wort und Tat zur verhängnisvollen Verklärung des Heldentodes beigetragen, der seine Forderung erfüllt hat. »Als er die kriegerischen Parolen seiner Lippen und seiner Feder mit der Hingabe des Lebens besiegelte«, konstatiert Staffan Björck, »fügte er dem literarischen Gehalt seiner Dichtung weder etwas hinzu noch verringerte er ihn; aber er verlieh seinem Aufruf zum heroischen Einsatz für die Sache des Vaterlands den höchsten menschlichen Nachdruck.«55 1902 zog Otto Franz Gensichen in seiner Abhandlung über Theodor Körner als Mensch und Dichter die Bilanz: Goethe und Körner, der älteste und der jüngste unter Deutschlands namhaften Dichtern, waren die verwöhntesten Schoßkinder des Glückes, die es bisher unter den deutschen Poeten gab. Dem einen war es beschieden, bis ins hohe Patriarchenalter alle Fähigkeiten seines reichen Genius ganz zu entfalten und Werke von unvergänglicher Dauer zu schaffen; dem andern war es nicht vergönnt, die »Knospen« seiner Begabung sich zu Blüte und Frucht entwickeln zu sehen, aber ihn umschwebt dafür, wie die sonnigen Lieblingshelden der Sage und Dichtung, auch der Zauber ewiger Jugend, eines makellos reinen Lebens, eines für das Vaterland gestorbenen Heldentodes.56

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Literatur Körners »Sämtliche Werke« gibt es in zahlreichen Ausgaben, die man in AntiquariatBuchhandlungen erwerben kann. In jüngster Zeit hat Ernst-Dietrich Güting eine Edition mit ausgewählten Texten vorgelegt: Theodor Körner. Ausgewählte Gedichte und Lieder. Mit einem Nachwort zum Leben und Werk des Schriftstellers. Lippstadt 1991. Im vorliegenden Aufsatz wird zitiert nach: Theodor Körners sämtliche Werke. Mit einer biographischen Einleitung hg. von Albert Zipper. Leipzig o. J. (1904).

Romane und Erzählungen über Körner (Auswahl) Claus Back. Leier und Schwert. Eine historisch-biographische Erzählung über Theodor Körner. Berlin: Rütten & Loening, 1956. Klara Hofer. Das letzte Jahr. Ein Roman um Theodor Körner. Berlin: Ullstein, 1936. Hans Löwe. Sänger und Held. Eine Erzählung aus dem Leben Theodor Körners. Berlin: Verlag der Nation, 1953. Ulrich Völkel. Mit Leier und Schwert. Roman um Theodor Körner. Berlin (DDR): Verlag der Nation, 3. Auflage 1986.

Spielfilme Theodor Körner. Regie: Franz Porten, 1912. Theodor Körner. Regie: Carl Boese, 1933.

Anmerkungen 1

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E. J. Haeberlin. »Theodor Körners Tod«. Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 35 (1914), 331–361, Zitat 346. Ebd., 349. Zenkers Brief zitiert nach Haeberlin, 348. Emil Peschel, Eugen Wildenow. Theodor Körner und die Seinen. Zwei Bände. Leipzig 1898, Zitat in 2, 112. Zitiert nach Haeberlin, 333.

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7

Brief von Jul. Stiefelhagen vom 11.03.1892 an Otto Gogarten, abgedruckt bei Haeberlin, 342f. Peschel/Wildenow, 2, 111f. Die Berichte über Körners Tod sind zusammen mit Erläuterungen und Kommentaren in den Anmerkungen abgedruckt ab 247. S. Erhard Jöst. »Der Heldentod des Dichters Theodor Körner. Der Einfluß eines Mythos auf die 41

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Rezeption einer Lyrik und ihre literarische Kritik«. Orbis litterarum 32 (1977), 4, 310–340. S. auch: Eckart Kleßmann (Hg.). Die Befreiungskriege in Augenzeugenberichten. München 1973, 130ff., und Otto W. Johnston. Der deutsche Nationalmythos. Stuttgart 1990, 190ff. Die Zeitung Die Gartenlaube will 1863 gar herausgefunden haben, dass Körner von einem Deutschen erschossen wurde, der bei den Franzosen diente: Friedrich Hofmann. »Die Wöbbeliner Festgräber«. Die Gartenlaube 35 (1863). 8 Zitiert nach Peschel/Wildenow, Band 2, 114. 9 Karl Goedecke. Grundrisz zur deutschen Dichtung. 2. Aufl., 7 Bände, 7. Buch. Dresden 1900, 838. 10 Fritz Löffler. Theodor Körner. Dichter und Freiheitsheld. Dresden 1938 (Schriftenreihe: große Sachsen – Diener des Reiches 8), Zitat 69. 11 Reinhold Steig. »Zu Theodor Körners Leben und Dichten«. Euphorion 1895, 86. In der biografischen Einleitung zu der von ihm besorgten Ausgabe der Werke Körners bezeichnet Otto Franz Gensichen es als tragisch, »daß dem herrlichen Jüngling keine große Heldenthat, kein ruhmvoller Tod in einer siegreichen Entscheidungsschlacht beschieden war, sondern ein Verzetteln seiner Kraft in nutzlosen Plänkeleien, ein nicht heroisches Fallen bei einer winzigen Rauferei um einige Fouragewagen«. Er schreibt weiter: »Es liegt eine ergreifende Tragik in Theodor Körners Tode. Er, der geborene Sachse, tritt, weil sein mit Napoleon verbündetes Vaterland ihm keine Möglichkeit zum Kampfe für Deutschlands Befrei42

ung bietet, in das Heer des Staates, mit dem sein Vaterland seit dem siebenjährigen Kriege so tödlich verfeindet war, daß noch in der Schlacht bei Dennewitz am 6. September 1813 gerade die Sachsen sich mit besonderer Berserkerwut auf die Preußen stürzten. Und wie tragische Ironie klingt es, daß am 15. September 1813, als der Dichter schon seit drei Wochen im Grabe ruhte, der Rat seiner Vaterstadt im ›Dresdener Anzeiger für jedermann‹ neben 170 andern ›jungen Burschen‹ auch ›Carl Theodor Körner, Theaterdichter‹, zur Erfüllung der Militärpflicht, also zum Kampfe gegen die Verbündeten, öffentlich aufrief! Die sächsische Militärbehörde mußte von ihrem Standpunkt aus Theodor Körner als ›Deserteur‹ ansehen, der sich in seinem Vaterland der Dienstpflicht entzogen hatte und in das Heer des damals feindlichen Preußen getreten war. Und da das Lützowsche Freicorps seit der Kabinettsordre vom 20. Juli unter dem Befehl des Generals von Bülow stand, so hätte dieser es sehr leicht in der Schlacht bei Dennewitz verwenden können, in der sich auf gegnerischer Seite gerade die Sachsen besonders auszeichneten. Theodor Körner hätte also sehr leicht in die Lage kommen können, gegen seine eignen Landsleute fechten zu müssen.« Otto Franz Gensichen. Theodor Körner als Mensch und Dichter. Theodor Körners Werke. Stuttgart, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt, o. J. (1902), VII–XXXII, Zitat XXIX. 12 Brief von Theodor an seinem Vater vom 06.01.1812, zitiert nach Peschel/Wildenow, Bd. 1, 307.

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Brief von Christian Gottfried Körner, zitiert nach Peschel/Wildenow, Bd. 1, 296 f. Eberhard Lämmert. Preußische Politik und nationale Poesie. Ein Beitrag zur Geschichte der Befreiungskriege. Berlin zwischen 1789 und 1849. Facetten einer Epoche. Ausstellung der Akademie der Künste vom 30.08.-01.11.1981, Akademie-Katalog 132, 43–52, Zitat 45 Zitiert nach: Jost Hermand. Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club. Köln, Weimar, Wien 1998, 234. Brief von Humboldt an Johann Gottfried Körner, zitiert nach Peschel/Wildenow, Bd. 1, 349. Vgl. Marijan Bobinac. »Theodor Körner im kroatischen Theater«. Zagreber Germanistische Beiträge 11 (2002), 59–96. Brief, den Dorothea Schlegel anlässlich von Theodors Ernennung zum Hoftheaterdichter an ihren Schwager August Wilhelm Schlegel schrieb, zitiert nach Peschel/Wildenow, Bd. 1, 360. Zitiert nach Hans Zimmer (Hg.). Körners Leben und Werke. Zweite, kritisch durchgesehene Ausgabe, Leipzig o.J. (1916), Anmerkungen des Herausgebers, 378. F. Hebbel. »Ueber Theodor Körner und Heinrich von Kleist«. Friedrich Hebbel. Sämtliche Werke. 9. Band: Vermischte Schriften I (1830–1840). Berlin 1904, 31–59, Zitate 31 und 54. Zitiert nach Peschel/Wildenow, Bd. 1, 363. Goethe äußert sich in Briefen an Christian Gottfried Körner wie folgt: »Jena, den 23. April 1812. Nachdem schon so manches Liebe und Gute, verehrter Freund, mir

von Ihnen zugekommen, haben Sie mir durch die letzte Sendung eine ganz besondere Freude gemacht. Die beiden Stücke Ihres lieben Sohnes zeugen von einem entschiedenen Talente, das, aus einer glücklichen Jugendfülle mit Leichtigkeit und Freiheit, sehr gute und angenehme Sachen hervorbringt. Diese Stücke waren mir besonders in dem gegenwärtigen Augenblicke höchst erwünscht; [...] Wenn Sie mir etwas von des jungen Mannes Lustspielen schicken wollen, wird es mir sehr angenehm sein, damit ich ihn auch von dieser Seite kennen lerne. Ich wünsche, daß er seine Gegenstände immer so richtig greife wie in den beiden vorliegenden Stücken. – Was die Verse betrifft, so haben auch diese eine erwünschte Fazilität und Klarheit; dabei mag der liebe junge Dichter ja festhalten und nicht künsteln. – Nirgends ist die Pedanterei, und also auch die rhythmische, weniger am Platze als auf dem Theater. Da verlangt man unmittelbare Wirkung und also die größte Deutlichkeit. – Hat er aber ein Stück fertig und will sich selbst ein wenig kontrollieren, so suche er allen hiatus wegzubringen, sowie im Jambus die kurzen Silben an den langen Stellen. – Da er, wie ich aus seinen kleinen Gedichten weiß, die lyrischen Silbenmaße in seiner Gewalt hat, so bringe er sie, wie er auch hier getan, ins rhythmische Drama.« »Karlsbad, den 14. Mai 1812. Ich erhalte von Weimar ein Schreiben, aus dem ich eine Stelle sogleich mitteilen muß: ›Die Sühne ist gestern sehr gut gegeben worden und hat außerordentliche Sensation gemacht.‹ [...] Wenn Ihr lieber Sohn, nach seinem Aufenthalte in dem großen Wien, eine Zeitlang 43

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in dem kleinen Weimar ausruhen will, so soll er uns sehr willkommen sein. Ich wünsche, daß ihn alsdann unser Theater anregt, etwas auf der Stelle zu schreiben, um es sogleich aufgeführt zu sehen, wozu ihm denn die beiden ersten Stücke ganz freundlich vorleuchten werden.« »Weimar, den 16. November 1812. Das kleine Lustspiel Ihres lieben Sohns, die Braut, ist vor einigen Tagen mit dem größten Beifall gegeben worden. Ich war nicht gegenwärtig, sondern in Jena; allein ich wußte wohl den Effekt voraus.« 23 Programmheft zu Der tausendjährige Posten oder Der Germanist. Herausgeber Theater und Orchester Heidelberg, 2012. 24 Ebd. 25 Theodor Körner. »Joseph Heyderich oder: Deutsche Treue. Eine wahre Anekdote, als Drama in einem Aufzuge«. (Februar 1813.) Körners Werke in zwei Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hg. mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Augusta Weldler-Steinberg, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J., Zweiter Teil, 265–284, Zitat 273f. 26 Karl Berger. Zu Theodor Körners hundertstem Todestag. Vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken. München 1918, 329–344, Zitat 342 27 Zimmer (Hg.), Körners Leben und Werke, 424ff. 28 S. René Schilling. »Die soziale Konstruktion heroischer Männlichkeit im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Theodor Körner«. Karen Hagemann, Ralf Pröve (Hgg.). Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel. Frankfurt 44

1998, 121–144. Ders.: Kriegshelden. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945. Paderborn, München, Wien, Zürich 2002 (Krieg in der Geschichte 15), 122f. 29 Magnus Jocham. Theodor Körner der schwarze Jäger. Ein Appell an meine Kameraden im Feld. Freiburg i.Br. 1916, Zitate 78 und 84. 30 »Kranz des Führers für Theodor Körner«. Ludwigsluster Tageblatt 21./22.08.1943. 31 Vgl. dazu beispielsweise den Katalog Einigkeit und Recht und Freiheit der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, hg. vom Bundesarchiv, Außenstelle Rastatt, sowie den Roman Sand oder Der Freiheit eine Gasse von Tilman Röhrig, Bergisch Gladbach 1993. 32 S. Erhard Jöst. »Attacken von rechts und links. Theodor Körner und ein problematisches Erbe«. Kunst und Kultur. Zeitschrift der ver.di, Heft 5/6 (2006), 5. 33 Kálmán Kovács. »Die Rezeption von Theodor Körners Zriny und die Konstruktion von nationalen Mythen«. Svjetlan Lacko Vidulic u.a.. Germanistik im Kontakt. Zagreber Germanistische Beiträge. Jahrbuch für Literatur- und Sprachwissenschaft, Beiheft 9 (2006), 109– 122, Zitat 110. 34 »Der Körner-Kult begann noch während der Befreiungskriege. Die Porzellanmanufakturen verewigten sein Portrait auf Tassen, Tellern, Tabaksdosen und Pfeifenköpfen. Sein Grab, auf dem sein Vater 1814 ein Denkmal errichten ließ, wurde zu einem säkularen Wallfahrtsort. Für seine Pflege sorgte viele Jahre lang der Gerichtsverwalter Ludwig Wiechelt (1821–1895) aus Lud-

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wigslust, dem Körners Mutter zum Dank die Taschenuhr vermachte, die er bei seinem Tod getragen haben soll. Erna Tischbein, Wiechelts Urenkelin, hat sie 1976 mit einem Band handschriftlicher Gedichte Theodor Körners, Briefen von dessen Eltern und (einer) Erklärung von Wiechelts Sohn dem Schiller-Nationalmuseums gestiftet«. Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson. Eine Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs. 01.07.–25.11.2001, Marbach am Neckar 2001 (Marbacher Kataloge 56), 80f. Peter Hacks. »Der sterbende Sänger«. Ders.. Historien und Romanzen. Berlin, Weimar 1985, 32–34. S. auch Peter Hacks. Ascher gegen Jahn. Die Maßgaben der Kunst II., Berlin 2003 (Werke 14), 321–448. S. Klaus Jürgen Fischer. »Zwei Eichen rauschen bei Wöbbelin. Anregungen zur Ballade ›Der sterbende Sänger‹ von Peter Hacks«. Praxis Deutsch 169 (2001), 46–54. Ernst Weber. Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur. Stuttgart 1991, 12. Ernst Weber. »Der Krieg und die Poeten. Theodor Körners Kriegsdichtung und ihre Rezeption im Kontext des reformpolitischen Bellizismus der Befreiungskriegslyrik«. Johannes Kunisch, Herfried Münkler (Hgg.). Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Berlin 1999, 285–325, Zitat 325. S. auch Erhard Jöst. »›Weint nicht um mich, beneidet mir mein Glück!‹ Die Erinnerung an Theodor Körner und der Stellenwert seiner Lyrik«. Österreich

in Geschichte und Literatur (2002), 4–5, 295–308. 38 Sabine Ebert. 1813. Kriegsfeuer. Roman. München 2013, 529 und 892. S. auch im Nachwort zu dem Roman 898f.: »Und der Mythos Lützower! Sie waren wirklich nicht gerade eine Elitetruppe, das wissen alle, die sich ernsthaft mit diesem Thema befassen. Aber aus Propagandazwecken wurden sie von Anfang an dazu erklärt und noch Generationen später immer wieder missbraucht – stets so, wie es gerade in die Zeit passte.« Die Behauptung, wonach Theodor Körner »es leid war, als Symbol für ein Korps zu stehen, das seinem Ruhm nicht gerecht wurde«, wiederholt Sabine Ebert in ihrem Fortsetzungroman 1815. Blut Frieden. München 2015, 328f. 39 Dietmar Klenke. »Bürgerlicher Männergesang und Politik in Deutschland. Teil 1«. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 8 (1989), 458–484, Zitat 464. S. auch: Nikolas Immer, Maria Schultz. »Lützows wildester Jäger. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert«. heroes. heros. Online-Zeitschrift. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 2.2 (2014), 69–92. 40 Ein ungedruckter Bericht Friedrich Försters über Theodor Körner als Soldat und Dichter im Felde. ­ Adolph Kohut. Theodor Körner: Sein Leben und seine Dichtungen. Berlin 1891, 316– 319, Zitat 317. 41 A. H. Hoffmann von Fallersleben. Das große Lesebuch. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt/M. 2011, 284. 42 Weber. Lyrik der Befreiungskriege, 196 45

Erhard Jöst

43 Gustav Parthey. »Lützow und die Lützower«. Die Befreiung 1813.1814.1815, 251f. 44 Paul Kuntze. Soldatische Geschichte der Deutschen. Berlin 1942, 217. 45 Hermann Korte. Joseph von Eichendorff. 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg, 2007, 54f. 46 Dazu Erhard Jöst. »Die Kunst verlangt ein Vaterland!« Theodor Körner und die Wirkungsweise patriotischer Literatur. Hg. von der Projektgruppe »Gedenkstättenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern«. Schwerin 1997, Zweite Auflage 2001, 18. Die Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern hat anlässlich von Körners 200. Todestag einen Brief als Faksimile herausgegeben, den der Dichter am 04.07.1813 an seinen Vater geschrieben und ebenfalls mit »J« unterschrieben hat: Tödliches Spiel auf der Bühne des Lebens. Mit einem Kommentar von Erhard Jöst. Schwerin 2013 (Schweriner Faksimile 1). 47 Ferdinand Stolle. 1813. Historischer Roman. Berlin o.J. (1838), 396. 48 Louise Otto. Theodor Körner. Vaterländische Oper in fünf Akten und einem Vorspiel. Des Königs Aufruf. Musik Wendelin Weißheimer. München 1872. Als ich im November 2014 die Stadt Leipzig besuchte, bin ich über den Katalog Helden nach Maß auf die Oper aufmerksam geworden. S. den Aufsatz von Magdalena Gehring. »›Wir haben einen glänzenden Sieg gehabt.‹ Theodor Körner auf der Opernbühne«. Helden nach

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Mass. 200 Jahre Völkerschlacht bei Leipzig. Katalog zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums. Leipzig 04.09.2013–05.01.2014, Leipzig 2013, 55–59. 49 Wilhelm von Humboldt in einem Brief, zitiert nach Berger, Theodor Körner, 258f. 50 »Zu Theodor Körner’s hundertstem Geburtstage«. Karl Emil Franzos (Hg.). Deutsche Dichtung. 10. Band (1891), 291–297, Zitat 291. 51 Karl Berger. Zu Theodor Körners hundertstem Todestag. Vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken. München 1918, 329–344, Zitat 332. 52 Otto W. Johnston. Der deutsche Nationalmythos. Stuttgart 1990, 192. 53 Das Zwanzigste Jahrhundert. Deutsch-nationale Monatshefte 2 (1891), 1 (Okt.), 14. 54 Jean Paul. »Die Schönheit des Sterbens in der Blüte des Lebens«. Zitiert nach Albert Zipper (Hg.). Körners sämtliche Werke. Leipzig o.J., VII. 55 Staffan Björck. »Schwertertanz mit Theodor Körner. Einige Bemerkungen zur Rolle des Selbstverständlichen und Nicht-Selbstverständlichen bei der Lektüre«. Orbis litterarum 19 (1964), 107–121, Zitat 121. 56 Gensichen, Theodor Körner als Mensch und Dichter, XXXI. S. auch Erhard Jöst. »›Vaterland! dir woll’n wir sterben.‹ Theodor Körner: Dichter und Freiheitskämpfer, Patriot und Idol«. Einst und Jetzt 58 (2013), 13–48.

Fabian Brändle

»Dieserhalb glaube man nicht das wier die besten Menschen sind!« Zur Autobiographie des Handschuhmachers, Kürassiers und Kriegsinvaliden Johann Christoph Pickert (1787–1845)

Sie gehört bestimmt zu den aufregendsten Quellenfunden des letzten Jahrzehnts, die Autobiographie des Handschuhmachers, Kürassiers und Kriegsinvaliden Johann Christoph Pickert.1 Ein Herausgeber des Textes hat die Handschrift im Antiquariatshandel erworben. Die im Jahre 2005 erschienene, sehr schöne, rund 170-seitige Edition Gotthardt Frühsorges und Christoph Schreckenbergs, erschienen in Göttingen bei Wallstein, stieß nicht nur in der Forschung auf reges Interesse, sondern fand auch eine breite Leserschaft. Johann Christoph Pickert (1787–1845) schildert sein leidvolles Leben detailliert, ein Leben aus der Sicht eines Verlierers der Geschichte, eines »Krüppels«, eines Opfers der Napoleonischen Kriege. Seine Lebensgeschichte beinhaltet kritische Bemerkungen zum schmutzigen Alltag des Krieges, will gar nicht passen zur lange Zeit heroischen Geschichtsschreibung über die so genannten »Befreiungskriege«.2 Vieles scheint unzensiert, ungeschminkt, authentisch, manchmal gar sarkastisch und schwarzhumorig, immer aus der Perspektive des »kleinen Mannes« heraus verfasst, der nicht jenen Überblick über die »grosse Geschichte« hatte wie der Feldherr auf seinem sprichwörtlichen Hügel oder der Minister im geheizten Kabinett. Im Folgenden möchte ich in aller Kürze einen Überblick geben über Johann Christoph Pickerts Leben und sein Erleben der »Befreiungskriege« festhalten, sein Deuten einer Kette von Kriegen, die zum nationalen Ursprungsmythos des Kaiserreichs gerannen.3 Zudem scheint mir Pickerts Autobiographie auch geeignet dafür, den Alltag eines »einfachen Mannes« um 1800 zu beschreiben, Themen wie z.B. Sexualität zu skizzieren. 47

Fabian Brändle

Biographische Skizze Johann Christoph Pickert wurde im Jahre 1787 in Neuhaldensleben geboren, einer beschaulichen Kleinstadt in der Nähe Magdeburgs mit rund 3.000 Einwohnern, seit 1680 den Kurfürsten von Brandenburg unterstellt. Wirtschaftlich war die Kleinstadt von Handwerk und »Ackerbürgern« geprägt. Der früh verstorbene leibliche Vater Pickert war Schneider gewesen, und die Mutter Margarethe verstand sich ebenso gut auf dieses Handwerk. Johann Christoph Pickert erkrankte als Kleinkind an den Pocken, überlebte aber glücklicherweise. Nach dem Tod des Vaters heiratete die Witwe nochmals, einen ehemaligen Soldaten. Der Stiefvater war nicht sehr geschäftstüchtig und vertrank das Geld, das seine Frau verdient hatte. Zudem ging er oft fremd. So herrschte oft Not im kleinen Haushalt, materiell und emotional. Der intelligente Johann Christoph war ein guter Schüler. Er las gerne vor, auch teilweise derb formulierte Briefe, und besorgte bald den Geschäftsverkehr für seine Mutter. Nach der Schulzeit trat Pickert bei Meister Köppen in die Handschuhmacher-Lehre ein. Dessen Kenntnisse waren eher bescheiden. Im Jahre 1803 wurde Pickert durch das Kantonsystem4 zum »Leibcarabiner Regiment« (Kürassierregiment Nr. 11) ausgehoben. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1809 trat er freiwillig in preußische Dienste und nahm 1813–1815 an den Feldzügen der »Befreiungskriege« teil. Als Soldat wolle er nicht heiraten, meinte Johann Christoph Pickert rückblickend. Eine lange Lebensphase verbrachte Pickert als Angehöriger in einer Invalidenkompanie mit eigener Polizei- und Kirchenordnung. Der beschädigte Veteran war indessen soweit arbeitsfähig, als er zum Gefangenenwärter taugte. Im Jahre 1828 heiratete er die Witwe Juliana Müller in Brandenburg und avancierte zum Bürger der mittleren Stadt. Am 13. März 1845 starb Pickert an »Schleimfieber«, also wohl an Typhus. Er hinterließ eine Frau und zwei noch unmündige Kinder.

Sexualität Als Kenner popularer (schweizerischer) Selbstzeugnisse wage ich die Aussage, dass Sexualität5 in solchen Texten nur selten zum Thema wird, zumal in zeitlich gesehen frühen Texten: »No sex, we are popular«! Zensur und Selbstzensur trugen zum weitgehenden Schweigen über dieses von Kirchen und Obrigkeit stigmatisierte Thema bei. Umso mehr erstaunten mich einige recht freizügige Angaben in Pickerts Lebensgeschichte. Diese beginnen schon, freilich im Rückblick, nämlich bereits in Kindheit und Jugend. Das »beste Vergnügen«6 in Johann Christoph Pickerts Jugend war es, im Gebüsch versteckt badenden Mädchen zuzuschauen. Einmal erwischten die Mädchen die Voyeure 48

Kriegsinvalide Johann Christoph Pickert

und wollten sich schleunigst anziehen, alleine, die Burschen hatten vorgesorgt und die Kleider versteckt. Genüsslich schildert Pickert das darauffolgende Chaos. Pickert beschrieb auch sein ›erstes Mal‹ mit seiner damaligen Freundin Jule Nicolai. Es kam nach seinen Angaben nicht zum Beischlaf, wie Pickert betonte, nur zu wenn auch heißen Küssen. Dass er seine geliebte Freundin nicht heiratete, lag daran, dass er sich den Vorsatz fasste, »nie als Soldat eine Ehe zu schliessen«.7 Soldaten galten nicht zu Unrecht als schlechte Ehemänner. Man wusste nicht, ob sie lebend oder an Leib und Seele versehrt nachhause zurückkehrten, und die Gewalterfahrungen und Entbehrungen in der Fremde machte sie in der Heimat oftmals zu unberechenbaren Außenseitern. Interessant sind Pickerts Beobachtungen zur Sexualität in Frankreich, Beob­achtungen, die er während eines Feldzugs tätigte. Gemäß Pickert hatte in Frankreich die Frau »die Oberhand«.8 Er sah im Lande der Libertinage nämlich zum ersten Mal, das eine Frau den Kopf ihres Mannes zwischen den Beinen hatte und ihm tüchtig mit den Händen den Hintern hieb, und der Mann schien mir ein Kind, ich rief meine Kammeraten von mir herbei, um eine solche Execution mit anzusehen. Eine solche Behandlung nimmt doch kein Preusse von seiner Frau an, den es wäre ja eine grosse Schande für ihn.9

Mag sein, dass bei Pickerts Schilderung eines Cunnilingus Nationalitätenstereotypen mitschwingen. So war es damals in Deutschland durchaus üblich, »den Franzosen« als »weibisch« und eben »unmännlich« zu verspotten und auch darzustellen.10

Essen, Trinken, Rauchen Die Verpflegung nimmt einen wichtigen Teil ein in Pickerts Schilderungen des oftmals prekären Soldatenalltags. Es ist erstaunlich, wie genau er sich rund 20 Jahre nach seiner Dienstzeit noch an gute, fleischreiche Mahlzeiten erinnert. Doch oftmals war das Essen ungenießbar, so auch im Jahre 1806, als es einen grauenhaft schmeckenden Brei aus Pellkartoffeln gab. Die Soldaten griffen zur Selbsthilfe und schälten Kartoffeln, doch war der Fraß mit Wollhaaren eines Schafs durchsetzt!11 Pickert vermutete, dass dem Eintopf ein ganzes Schaf mitgegeben wurde. In der französischen Gefangenschaft beschränkte sich das Essen auf Kartoffeln für einen Sous »und dazu einen rechten kühel drunk Wasser«.12 Auf eigene Rechnung ergänzten Pickert und seine Kameraden den kargen, eintönigen Speiseplan oftmals um ein Glas Wein zu zwei Sous. Oft dachte er dann an die Kochkünste seiner Mutter, zumal, als er krank darnieder lag und sein Ende nahe sah. 49

Fabian Brändle

Auch die Kleidung war sehr ärmlich, ein zerschlissener Mantel war noch das beste Stück. Wieder im Felde stehend, machte Pickert im Jahre 1813 eine schlimme Erfahrung: Der Tabak war ihm ausgegangen! Ein Dieb hatte seinen ganzen Proviant, darunter vier Pakete ungarischen Blättertabak, gestohlen.13 Schon einmal, im Lazarett liegend, hatte er »Appetit«14 zu rauchen gehabt, damals hatte ihm das Geld zum Vergnügen gefehlt, so musste also die Borke von Eichenholz die Rolle des Tabacks vertreten, und wer uns dampfen sah, der musste glauben wier rauchten den besten Knaster.15

Die angefügten Quellen belegen nicht zuletzt die Verbreitung der um 1800 grassierenden »Tubacksucht« über das Militär.

Ansichten und Deutungen Johann Christoph Pickert sparte nicht an Kritik an seinen Vorgesetzten. So beschrieb er einen Werbeoffizier, der den Auszuhebenden das Blaue vom Himmel versprach, Wein in Hülle und Fülle.16 Er konterte die Rhetorik des Leutnants gekonnt, indem er seine Erfahrungen als Soldat ins Spiel brachte. Pickert wusste beispielsweise gut Bescheid über die grausame Kriegführung in Spanien, wo die einheimischen »Guerillakämpfer« Brunnen vergifteten und Hinterhalte ausführten oder die durchmarschierenden Franzosen aus der Höhe mit Steinen traktierten. Dies zeugt von einigem Wissen auch über ausländische Kriegsschauplätze, Wissen, das teils mündlich, teils über Flugschriften verbreitet wurde. Pickert war kein gefühlloser Soldat und Unteroffizier. Davon zeugt nicht zuletzt sein Mitleid mit einem Pferd, einem dreijährigen Wallach, der bereits schwach war. Pickert päppelte das Pferd auf, das in der Folge zum besten Tier des Regiments avancierte.17 Sehr vielsagend sind Pickerts Betrachtungen über andere Nationen. Sein Frankreichbild ist nicht geprägt von Hass, sondern eher nüchtern und neugierig gegenüber anderen Sitten. Nachdem ihm ein Pole seiner Kompanie ein Stück Brot gereicht hatte, wurde Johann Christoph Pickert grundsätzlich: Dieserhalb glaube man nicht das wier die besten Menschen sind! Es gibt untern andern Nationen auch Menschen, die Mitleid fühlen, und gerne helfen wen sie nur können.18

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Kriegsinvalide Johann Christoph Pickert

Anmerkungen 1

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Gotthardt Frühsorge, Christoph Schreckenberg (Hg.). Johann Christoph Pickert. Lebens=Geschichte des Unterofficier Pickert. Invalide bey der 7.ten Compagnie. Göttingen 2007. Vgl. zu den »Befreiungskriegen« beispielsweise Arnulf Krause. Der Kampf um Freiheit. Die Napoleonischen Befreiungskriege in Deutschland. Stuttgart 2013; Ernst Weber. Lyrik der Befreiungskriege (1812– 1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur. Stuttgart 1991; Gerhard Bauer, Gorch Pieken, Matthias Rogg (Hgg.) . Blutige Romantik. 200 Jahre Befreiungskriege. Dresden 2013. Alexandra Beyer. Auf gegen Napoleon! Mythos Volkskriege. Darmstadt 2013. Vgl. Beispielsweise Otto Dann (Hg.). Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München 1993; Ferdi Akaltin. Die Befreiungskriege im Geschichtsbild der Deutschen im 19. Jahrhundert. Frankfurt/ Main 1993. Vgl. dazu Martin Winter. Untertanengeist durch Militärpflicht. Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert. Bielefeld 2005. Zur Alltagsgeschichte der Soldaten und zur Organisation des Militärs jener Jahre vgl. beispielsweise Wolfgang Gülich. Die Sächsische Armee zur Zeit Napoleons. Die Reorganisation von 1812. Beucha 2008; Stefan

Kroll. Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserwartung. Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee 1728– 1796. Paderborn 2006; Olaf Groehler. Das Heerwesen in Brandenburg und Preußen von 1640 bis 1806. Berlin 1993; Jörg Muth. Flucht aus dem militärischen Alltag. Freiburg im Breisgau 2003. 5 Vgl. die Zusammenfassung von Franz X. Eder. Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. München 2002; Kim B. Philips, Barry Reay. Sex before Sexuality. A ­ Premodern History. Cambridge 2011. 6 Pickert, Lebensgeschichte, 33. 7 Ebd., 41. 8 Ebd., 72. 9 Ebd. 10 Vgl. beispielsweise Michael Jeismann. Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart 1992. 11 Pickert, Lebensgeschichte, 47 12 Ebd., 56. 13 Pickert, Lebensgeschichte, 105. 14 Ebd., 63. 15 Ebd. 16 Ebd., 87f. 17 Ebd., 100. Vgl. zur G ­ eschichte des Pferdes und dessen wechselnder Beziehung zum Menschen Erhard Oeser. Pferd und Mensch. Geschichte einer Beziehung. Darmstadt 2007. 18 Pickert, Lebensgeschichte, 54.

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Florian Brückner

Dichtung und Wahrheit: Authentifizierungsstrategien, Verschleierung von Fiktionalität und politisierender Wahrheitsanspruch im Kriegsroman der Weimarer Republik

Einleitung Die einzig existierende Wahrheit, behauptet Bourdieu in seiner klassisch gewordenen Analyse des sozialen Feldes,1 sei die, dass beständig um sie gekämpft werde. Wahrheit sei ein politischer oder sozialer Machtanspruch, um den verschiedene Akteure mit Hilfe verschiedener Kapitalsorten im sozialen Feld rängen. Diese an Akteure wie an strukturelle Dispositionen des literarischen und politischen Feldes gekoppelten Deutungs- und Rangkämpfe waren dem politischen Diskurs um die Deutung des Erlebnisses des Ersten Weltkrieges in den 1920er Jahren immanent zu eigen. Bellizistische Kriegsromane wie Werner Beumelburgs Gruppe Bosemüller (1930, 280.000 Exemplare bis 1945) bzw. pazifistisch intendierte wie Ludwig Renns Krieg (1928, 100.000 bis 1929) versuchten mit ihren literarischen Übersetzungen des Kriegserlebnisses, den Leser von der Wahrheit ihrer konträren Autorintentionen zu überzeugen. Im Mittelpunkt dieser ›Schlacht um den Leser‹ standen dabei konservative, protofaschistische, demokratische und kommunistische Standpunkte, die es dem Konsumenten qua Kriegsliteratur zu vermitteln galt, wollte der Autor diesen politisch auf seine Seite ziehen. Für eine solche erfolgreiche Inanspruchnahme des Lesers bedurfte es jedoch eines realistischen Darstellungsverfahrens, das den Waffenlauf möglichst wirklichkeitstreu wiedergab und den Leser so von der ›Wahrheit‹ des Dargestellten, der damit verbundenen Deutung und den daraus abzuleitenden politischen Konsequenzen zu überzeugen vermochte. Über welche anthropologischen, produktionsästhetischen und narrativen Qualitäten aber hatte ein solches Darstellungsverfahren zu verfügen und welche politischen Effekte 53

Florian Brückner

vermochte es im Feld der Macht zu entfalten? Zur Annäherung an diese Fragestellung sollen folgende Komponenten in den Blick genommen werden: 1. eine textsortentheoretische Reflexion des historischen Kriegsromans, der sich idealiter für realistische Täuschungssüchte anbot. 2. Die Konzeption einer besonders glaubwürdigen Autorschaft – nämlich jener des dabei gewesenen Kriegsdichters – die dem Geschilderten den Firnis eines authentisch wirkenden Augenzeugenberichts verlieh. 3. Authentifizierungsstrategien, mit Hilfe derer der Autor den fiktionalen Charakter seiner Texte einzuebnen und so den Anschein zu suggerieren verstand, das Geschilderte sei ein schlichter Erlebnisbericht. In einem 4. und letzten Schritt soll gezeigt werden, wie diese ins Literarische eingelassene Authentizität für Autoren im Feld der Literatur in Form von Auflagenerfolgen, damit verbundenem Prestige und Renommee zu einer derartigen Akkumulation symbolischen Kapitals zu führen vermochte, dass solche Autoren als Generationensprecher auch für das Feld der Macht interessant werden sollten.

Die wirklichkeitserzeugenden Qualitäten des historischen Romans Wollten Kriegsromane kollektive Identität spendende Sinnstiftungsprozesse wie jenen des Bellizismus oder Pazifismus hervorbringen, mussten sie den Leser glauben machen, dass der von ihnen imaginierte Waffenlauf jenem der Realität möglichst nahe kam.2 Gerade dazu bot sich das textsortenspezifische Genre des historischen Romans idealiter an, da er sich in seiner Erzählung an die historischen Begebenheiten zu halten hatte, wollte er nicht als historical fiction und damit als bloße Unerhaltungsliteratur rezipiert werden. So hatte sich ein Kriegsroman, der die Kämpfe vor Verdun schilderte, schlichtweg an die historischen Fakten zu halten. Mit dieser hybriden Verstrebung3 fiktionaler Handlungsketten und Charaktere mit einem historisch-faktisch verbürgten Rahmen, auf den sich die reale Welt bezog und begründete,4 war das Werk in der Lage, beim Leser kulturelle Orientierungswerte zu schaffen. Diese für den laienhaften Leser – Kriegsliteratur richtete sich oft an jugendliche Leser – schwer zu fassende Grenzverschiebung eines scheinbar austauschbaren »Geschichtsanteil(s)«5 im historischen Roman war mit besonderer Effizienz imstande, im Rekurs auf historisch-faktisch Verbürgtes dem Leser eine bloße mimetische Funktion zu suggerieren. Gerade bei ideologisch aufgeladenen Textsorten wie jener des Kriegsromans war eine so vorgetäuschte Mimesis im Gewand der in den 1920er Jahren in der Rezeption vielgerühmten politischen Tendenzlosigkeit6 einer Erzählung überaus erwünscht, da jeglicher zu augenscheinliche Verweis auf eine politische Intention des Textes im Leser Misstrauen hervorrufen und ihn aufgrund des vermuteten Manipulationsversuchs von der Lektüre abschrecken konnte – Kassengift für jedes Kunstprodukt. 54

Dichtung und Wahrheit

Das literarisch so angeblich nur Nachgeahmte konnte mit besonderer Effizienz im Politischen wirksam werdende Imaginationen hervorbringen, weil die Mittel der Literatur einen stilisierenden, ja tendenziösen und klitternden Zugriff auf die Geschichte ermöglichten.7 Dieses in der Bilderwelt der Literatur erschaffene »kulturelle Imaginäre«8 vermochte beim Leser der 1920er Jahre (Leserinnen inbegriffen) dann in politisches Handeln umzuschlagen, wenn es dem in der Literatur zum Tragen kommenden »Erfahrungsbegriff«9 gelang, als Mittler zweier Welten aufzutreten, nämlich zwischen dem im Roman literarisch imaginierten Orplid der Front sowie jenem zeitgenössischen Erlebnishorizont des in den historischen Kontext eingelassenen Lesers. So konnte es dem historischen Roman gelingen, das in der Literatur als das Erlebnis einzelner Protagonisten oder Frontgruppen exemplarisch und subjektiv Dargestellte als einen allgemein objektivierbaren Erfahrungsschatz Tausender sozial unterschiedlicher Leser geltend zu machen.10 Auf diese Weise verfügt der historische Kriegsroman mit seiner emotionalisierenden und welterzeugenden Qualität über den besonderen Vorteil, die so literarisch imaginierte, sinnvolle und scheinbar objektivierbare »Kriegserfahrung«11 auf spezifische Weise strukturieren zu können, um sie einer breiten Gesellschaft intersubjektiv kommunizierbar und damit austauschbar zu machen. Und gerade diese intersubjektive Kommunizierbarkeit war für den historischen Kriegsroman von breitenwirksamer, rezeptionsästhetischer Relevanz, als sich über die Kriegsliteratur auch solche Leser ein nachgeholtes Kriegserlebnis anzueignen vermochten, die – wie Frauen und Angehörige der Kriegsjugendgeneration (Jahrgänge ab 1904) – selbst nicht am Krieg teilgenommen hatten. Die innergesellschaftliche Konstituierung eines mit Hilfe der Literatur bewerkstelligten ästhetischen Diskurses des Ersten Weltkrieges versetzte eine Gesellschaft so breitenwirksam in die Lage, sich deutungskulturell über Sinn oder Unsinn dieses europäischen Großkonfliktes auszutauschen.12 Damit ist abschließend und einmal mehr auf den nicht allein unterhaltenden, sondern ausweislich handlungsmotivierenden, gegenwartsorientierenden und politische Effekte zeitigenden Impetus dieser Literaturgattung verwiesen,13 der in seinem Genregrenzgang kulturelle und politische Leitideen und damit einen politischen Handlungsrahmen zu erzeugen vermochte.

Konzeptionen der Autorschaft: Der Kriegsdichter als Panegyriker und Fachmann Die Flut an publizierten Kriegsromanen der 1920er Jahre ließen einen Autortypus hegemonial werden, das sich ebenfalls durch die Kombination faktischer und fiktionaler Komponenten auszeichnete: jenen des Kriegsdichters. Es wäre 55

Florian Brückner

zwar unsinnig zu behaupten, es habe in der Literaturgeschichte bis zum Ersten Weltkrieg keine Kriegsdichter gegeben, die Tod und Zerstörung, Opfer und Heldentum literarisch veredelt hätten; doch Dichte und Intensität, mit der sich Autoren wie Ernst Jünger, Franz Schauwecker, Werner Beumelburg oder Intellektuellenzirkel wie die Standarte, die Mannschaft u.v.a.m. immer wieder desselben Schreibsujets annahmen; die große Zeitspanne ihres Lebens, die diese Autoren allein mit der literarischen Verarbeitung dieses Phänomens zubrachten, bevor ihre Werke thematisch anders gelagerte Linien einzuschlagen vermochten, und in denen der Krieg oft genug – wie in den sich ab 1930 anschließenden Büchern zur Reichsidee zahlreicher soldatischer Nationalisten14 – einfach in neuer Form erzählt wurde, ist literaturgeschichtlich wohl singulär. In diesem Kontext ist es relevant, dass sich dem Leser mit diesem Autortypus eine weitere Beleginstanz für die Wahrheit des Textes aufdrängte. Denn zum produktionsästhetischen ›Goldstandard‹ der 1920er Jahre gehörte es, dass es nur demjenigen über den Waffenlauf zu schreiben erlaubt sein sollte, der ihn selbst erlebt hatte. Der Vorwurf, nicht am Krieg teilgenommen oder sich im sichereren Etappenbereich hinter der Front aufgehalten zu haben, wie er etwa Remarque treffen sollte, galt für ambitionierte Kriegsdichter als das berufsmörderische Totschlagargument schlechthin.15 Und oftmals standen die Autoren mit ihrer eigenen Vita für das literarisch Erfundene ein: Denn über im Krieg selbst erlebte Traumatisierungen verbanden sich in dieser Autorschaft oft genug – etwa bei Jünger und Beumelburg – militärische mit literarischen Ambitionen. Kriegsdichter waren vielfältig verhinderte Offiziere, die in ihrer Kindheit bereits zur Feder gegriffen hatten, und zwar zu einem Zeitpunkt, da sie, wie Jünger in der Fremdenlegion oder Beumelburg in der kaiserlichen Jugendwehrkompanie für 14- bis 16-jährige, die Lebenswelt des Militärs bereits kennen und schätzen gelernt hatten, und die bereits während des Ersten Weltkrieges versuchen sollten, diesen literarisch einzufangen.16 Es war die mit der Kriegsniederlage und mit der Demokratisierung Deutschlands verbundene politische Enttäuschung sowie ausweislich die im Versailler Vertrag festgelegten militärischen Restriktionen des Heeres auf 100.000 Mann, die ihren Konfliktbiographien eine weitere Karriere im Generalstab verwehrte. Was blieb, war mit dem Schreiben oftmals die zweite Leidenschaft und die damit oft Jahrzehnte einher gehende Bewältigung der singulären Schrecken des Ersten Weltkrieges. Sie wurden, wie man sie in Frankreich nannte écrivaint combattant, kämpfende Schriftsteller, und schienen durch die Mittel der Authentizität – etwa durch den in Buchbesprechungen beständig geführten Verweis auf die militärische Vita der Verfasser17 – als Schöpfer in ihren Werken selbst irgendwie präsent zu sein. Sie hatten leibhaftig für die Authentizität ihrer Werke geblutet und so mit ihrer Biographie überwuchert. 56

Dichtung und Wahrheit

In dieser dezidiert biographisch bedingten Konzeption einer militärischen und die Welt fiktionaler Fabulierkunst verbindenden Autorschaft setzte sich die bereits für den historischen Roman konstatierte Zwienatur fort. Denn wollte ein Autor Faktisches mit Fiktivem erfolgreich verbinden, hatten zwei Herzen in seiner Brust zu schlagen: jenes des poeta vates sowie jenes des poeta faber. Der poeta vates war in Platons Ion als der inspirierte, der, wortwörtlich übersetzt, wahrsagende Dichter aufgetreten, der durch göttliche Eingaben zur Literarisierung befähigt gewesen war und es verstanden hatte, auf das Gefühlsleben seiner Leser einzugehen.18 Dieser, modern gesprochen, kreative, fantasiebegabte und zu rezeptionsästhetisch vorweggenommener Empathie fähige Autor hatte es folglich verstanden, den strukturellen Vorteil von Literatur auszuspielen, nämlich durch poetische und emotionalisierende Sprache, durch symbolisch verdichtete wie gleichermaßen den propagandistischen Gehalt seiner Texte verschleiernde Stilisierung in das Gemüt seiner Leser einzudringen und gesellschaftlich breitenwirksame Effekte zu erzielen.19 Mit George Soldan brachte der Leiter der Abteilung für Volkstümliche Geschichtsschreibung des Reichsarchivs – einem maßgeblichen Produzenten von Kriegsliteratur nach 1918 – diese Begabung des Kriegsdichters auf den Punkt: Wer volkstümlich schreiben will, muß nicht zuletzt Dichter sein. Eine besondere Muse muß den Geist befruchtet haben, der unter Festhalten der Tatsachen historisch schreibend gleichzeitig seinen Stoff dramatisch schildert und auf warmen Worten gleitend den Weg zum Herzen des einfachen Mannes finden will. Die Saiten einer Volkseele müssen zum Erklingen gebracht werden, dann erst öffnet sich das Innere und wird dem Einfluß zugänglich, der nun fest sich eintragen kann.20

Nun ist gerade diese fiktionale Fabulierkunst, wie dargetan, im historischen Roman dadurch eingeschränkt, dass sich der Autor an die historischen Begebenheiten und das damit verbundene Fachwissen zu halten hat. Der poeta vates muss sich mit dem poeta faber vereinen, um das so Imaginierte mit Expertenargumenten zu beglaubigen. Aristoteles’ Autorschaft seiner Poetik21 hat dieses auch in der Rhetorik hegemonial gewordene Autorkonzept des befugten, urteilssicheren Experten vorgegeben. Der Kriegsdichter hatte ›Frontspezialist‹ zu sein und bestach nicht allein durch die Kenntnis der gesamten, d. h. der menschlichen wie technischen Kriegsphänomenologie; er war versiert in der Handhabung des fachsprachlichen Duktus von Geräte- und Waffentypen, des typischen Frontsoldatenjargons, er antizipierte Fluglinien von Granaten, unterschied einem Chemiker gleich Granatpulver-, Leichen- und Chlorgerüche und kannnte die unterschiedlichen Gefahren im Sappen-, Stollen- und Stoßtrupp57

Florian Brückner

kampf. Und ein solcher Autor hatte sich an die Regeln zu halten, die sich im Feld der Literatur für sein spezifisches Genre des Kriegsromans der 1920er Jahre herauskristallisiert hatten.

»Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit […]«22 – Möglichkeiten der Neuen Sachlichkeit Diese Regeln gab die in Film, Literatur, Architektur und Fotografie den deutungskulturellen Ton angebende Strömung der Neuen Sachlichkeit vor. Sie war die kulturelle Reaktion auf die verheerenden Dimensionen des vergangenen Krieges, der sich kaum mehr in jener von Naivität, Abenteurertum und Romantik befangenen Sichtweise der wilhelminischen Vorkriegszeit besingen ließ.23 Mit ihr verband sich die Hoffnung, die durch den Ersten Weltkrieg destruierten Normen, Begriffe und Wahrheiten durch eine desillusionierte, objektivere, realistisch-präzise, ja sogar wissenschaftliche Darstellung zu neuen Normen, Begriffen und Wahrheiten zu finden. Neu-sachliche Vertreter hegten den dezidierten Anspruch, den Hiatus von schriftstellerischer Fiktion und realer Faktizität mit Hilfe von Literatur zu überwinden. So schlossen sich zahlreiche Kriegsdichter nach 1918 mit den Postulaten der Neuen Sachlichkeit einer Strömung an, die wie vor ihr, im Zuge sich ähnlich drastisch manifestierender sozialer Probleme, wohl nur Realismus und Naturalismus, den mimetischen Anspruch verfolgte, die Realität wirklichkeitsgetreu einzufangen, um sie besser zu verstehen und so neu zu gestalten. So hatte etwa Ernst Jüngers literarisch gemasertes Kriegstagebuch In Stahlgewittern von 1920 versucht, die Grauen des Kriegsalltags nicht zu kaschieren. Ganz im Gegenteil hatte das Werk die Schrecken der Material- und Volksschlachten dazu verwandt, das Heldentum des einzelnen Protagonisten in umso glänzenderem Lichte darzustellen. Einen wichtigen Baustein im umfangreichen Stilarsenal der Neuen Sachlichkeit bildete die im untersuchten Kontext der Wahrheitserzeugung in den Bereich der Vates-faber-Autorenkreuzung fallende Authentifizierungsstrategie, den Leser glauben zu machen, der Autor sei mit dem Erzähler oder literarischen Protagonisten seines Narrativs kongruent. Ein Autor, der eine solche Objektivitätsillusion vorzüglich vorzutäuschen verstand, gemäß derer das Geschilderte einen autobiographisch verbürgten Realitätsbezug gehabt habe, war Ludwig Renn (1889–1979). Der Protagonist seines pazifistisch grundierten Frontromans Krieg (1928) trug denselben Namen wie der Autor, den die Titelklappe des Romans auswies. Der Autor Renn erweckte so den Eindruck, mit dem im Buch dargestellten Ich-Erzähler Renn – einem gemeinen Frontsoldaten aus einfachem Hause – identisch zu sein, was das Werk als autobiographischen Erlebnisbericht erscheinen ließ. 58

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Tappte der Leser jedoch in eine solche von Autor und Erzähler ausgelegte Deutungsfalle, machte er sich eines flagranten Fehlschlusses schuldig. Denn Ludwig Renn hieß ursprünglich Arnold Friedrich Vieth von Golßenau und entstammte, 1889 in Dresden geboren, einer sächsischen Adelsfamilie. Nach dem Abitur schlug er, ganz Prototyp des militäraffinen Kriegsdichters, eine Offizierslaufbahn ein und kämpfte während des Ersten Weltkrieges an der Westfront. Ab dem 2. Kriegsjahr führte er ein beständig ausgefeiltes Kriegstagebuch, das der gängigen Form exkulpierender Offiziersmemoiren folgte, und weitere stilistische Überformungen ließen den einstmals autobiographischen Text zur späteren Romanform reifen.24 Inwiefern sich hier Unterscheide zwischen tatsächlichem Offizierserleben und literarisch evoziertem Kriegserlebnis auftaten, könnten allein die Avant-Texte klären, die sich im ehemaligen Archiv der Akademie der Künste der DDR befinden. Diese dürften jedoch einen Inhalt wiedergeben, der sich von dem seines Romans erheblich unterscheidet.25 Denn in den Weltkriegsjahren schrieb noch der kriegsaffirmative Offizier von Golßenau, eine Schreibweise, die sich mit der frontsoldatischen Schützengrabenperspektive eines rangniederen, allmählich zum pazifistischen Gedanken findenden Mannschaftsgrads in Krieg interpretatorisch kaum plausibilisieren lässt. Neben Ludwig Renn wusste mit Werner Beumelburg (1899–1963) ein weiterer überaus erfolgreicher Kriegsdichter mit Hilfe einer Widmung, den fiktionalen Charakter seiner Werke einzuebnen. Beumelburg, der ebenfalls seine von der Westfront in die Heimat gesandte Feldpost zu literarischen Kurzgeschichten ausfeilte,26 erzielte mit seinem bellizistischen Frontroman Die Gruppe Bosemüller von 1930 einen immensen Erfolg (280.000 verkaufte Exemplare bis 1945). Der große Roman des Frontsoldaten, wie ihn Stalling nach den ersten Erfolgen im Erscheinungsjahr um Willen des Verkaufserfolgs textsortenspezifischer untertiteln sollte, verdichtete das Schicksal einer siebenköpfigen Frontsoldatengruppe vor Verdun. Das Buch verfolgte die von soldatischen Nationalisten aufgeworfene Frage nach dem Sinn des Krieges, der sich aus der Erziehung der Soldaten zu Kameradschaft, Opferbereitschaft und Vaterlandsliebe im und durch den Krieg ergab. Variierte der Gruppenbestand aufgrund von Verlusten, spannen neben dem titelgebenden Offizier Paul Bosemüller vor allem der 17-jährige Kriegsfreiwillige Erich Siewers und der Gefreite Wammsch den Handlungsfaden. Der jugendliche Siewers übernahm dabei die Kernaussage des soldatisch-nationalistischen Romans, denn er ›reifte‹ im Verlauf des Krieges vom naiven Schuljungen zum sittlich überlegenen, weil Kameradschaft mit seiner Gruppe übenden sowie eine affirmative Haltung zum Krieg einnehmenden Frontsoldaten. Seinen über lange Strecken schwierigen, letztlich jedoch erfolgreichen Adaptionsprozess verdankte Siewers dabei nicht allein seiner Charakterstärke; vielmehr war es der Gefreite Wammsch, der sich als personifizierte Kameradschaft und Vaterfigur des Jungen annahm und ihn auf 59

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die Regeln des Krieges vorbereitete. Wammsch leistete damit die überlebensnotwendige kriegerische Integrationshilfe, ohne die ein Überleben an der Front nicht möglich gewesen wäre.27 Welcher Leser Siewers daher nicht sterben sehen wollte, vereinigte seine Sympathien auf Wammsch. Eben dieses Schicksal, der Tod, ereilte Wammsch jedoch am Ende des Romans. Er starb zur Weihnachtszeit, begraben unter einem Stollen und gab mit dem Opfertod für die Nation in seinem literarisch beschworenen Altruismus sein letztes noch zu gebendes, höchstes Gut. Beumelburg nun griff, wie Renn, mit Hilfe einer Widmung zu einem ähnlichen Täuschungsmanöver, indem er das Buch »[d]em Gefreiten Wammsch« widmete und damit den Leser glauben zu machen versuchte, es habe die literarischen Protagonisten seines Romans wirklich gegeben. Wie sehr Beumelburg mit dieser Wirklichkeitsillusion seines literarischen Kunstwerkes zu spielen verstand, zeigt ein Interview, das der Schriftsteller 1935 einem Schüler für die Berliner Illustrierte Nachtausgabe gab und das als Gruppe Bosemüller plauderte am Kamin. Wie sie sich wieder sahen – sie haben wirklich gelebt, Dichtung und Wahrheit28 betitelt war. In diesem ebnete Beumelburg den literarischen Charakter seines Werkes vollständig ein, indem er seinem jungen Interviewer zu verstehen gab, die Gruppe Bosemüller treffe sich 1935 noch alljährlich in einer Schwarzwälder Kneipe, dem »Ochsen am Titisee«. Dort, nicht etwa auf Beumelburgs Wahldomizil Capri,29 sei im Sommer 1927 im Kreise der Gruppe auch die Idee zum Buch entstanden. Solche Authentifizierungsstrategien erhöhten nicht nur den Appell an jugendliche Leser, es den Protagonisten der Gruppe Bosemüller gleichzutun, sondern machten ihre Erzeuger im literarischen Feld so erfolgreich, dass sie als Generationensprecher und politische Werber sogar für das Feld der Macht interessant wurden.

»Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet«30 – Erfolg im Machtfeld durch Authentizität Denn die so suggerierte Authentizität bildete eine der wichtigsten Grundlagen für den ökonomischen Erfolg dieser Kulturerzeugnisse und damit, im Anschluss an die Feld- und Kapitalsortentheorie Pierre Bourdieus’, für die Akkumulierung symbolischen Kapitals in Form von Prestige und Renommee. Den im literarischen Feld gewonnenen Ruhm vermochten erfolgreiche Kriegsdichter wie Franz Schauwecker, Ernst Jünger oder Werner Beumelburg als politisch ambitionierte Intellektuelle im Feld der Macht wiederum in politisches Kapital umzumünzen,31 in das sie ihre soldatisch-nationalistischen Ideen einer nach dem Vorbild der ›Frontgemeinschaft‹ zu konzipierenden ›Volksgemeinschaft‹ als politische Akteure einzuspeisen vermochten. 60

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Ein typisches Beispiel für diese Diskurskarriere des Kriegsdichters vom Schriftsteller zum politisch intervenierenden Intellektuellen bildete einmal mehr Werner Beumelburg. Er wurde seit seinen Publikationen in der Reihe Schlachten des Weltkrieges,32 Gruppe Bosemüller sowie seiner Weltkriegsmonographie Sperrfeuer um Deutschland (1929, 350.000 bis 1945) ab 1930 derart mit Ruhm überhäuft, dass er 1932 aus den Zirkeln jungkonservativer Projektemacher der von ihm unterstützten Standarte Ernst Jüngers und des Tat-Kreises Hans Zehrers herauszutreten und sein Engagement für einen ›Frontsoldatenstaat‹ auf der Hochebene der Politik fortzusetzen vermochte. Als nunmehr von weiten Teilen der rechtskonservativen Kriegsgeneration anerkannter Fürsprecher trat im Oktober 1932 ein Mittelsmann der Reichsregierung Franz von Papens mit der Bitte an den Schriftsteller heran, die Regierung im Wahlkampf hinsichtlich der im November anstehenden Reichstagswahlen bei der Ventilierung der autoritären Ideen eines ›neuen Staates‹ behilflich zu sein.33 Diese Ideen folgten dem publizistischen Titel Der neue Staat Walther Schottes, der im selben Zeitraum mit einem Vorwort von Papens publiziert worden war und der in der Öffentlichkeit fortan als politisches Programm des Reichskanzlers galt.34 Der mit ordnungspolitischen Beiträgen Konservativer versehene Band artikulierte das Ziel einer tiefgreifenden Verfassungsreform mit dem Ziel, die präsidialparlamentarische Republik in einen autoritär-präsidialen Ständestaat umzubauen. In diesem politischen Planspiel sah sich die Exekutive allein durch den Reichspräsidenten legitimiert, das Parlament in seinem Recht der Regierungskontrolle entmündigt sowie durch ein ständisch organisiertes und vom Reichspräsidenten ernanntes Oberhaus weiterer Kernkompetenzen entledigt. So sollte die Regierung allein dem Reichspräsidenten verantwortlich sein, womit die seit 1930 eingesetzte präsidial-diktatorische Entwicklung mit dem letztendlichen Ziel, zur Monarchie zurückzukehren, forciert werden sollte. Da Papens gegen den Rest der Republik agierendes Programm für seine Verfassungsänderungen eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit benötigte, sei es notwendig, wie der auf Beumelburg zugehende Staatssekretär Franz von Papens, Erwin Planck, bekundete die geistigen Kräfte konservativer Prägung zu sammeln und aus den im ganzen Lande verstreuten Einzelgängern, die in irgendeiner Form das konservative Gedankengut vertraten, eine Bewegung zu schaffen, auf die sich die Regierung von Papen der Öffentlichkeit gegenüber hätte stützen können. Besonders der Reichskanzler persönlich versprach sich von einer solchen Sammlung eine wesentliche Hilfe.35

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Planck fragte Beumelburg an, inwiefern dieser öffentlichkeitswirksame Ideen, Schlagworte und Parolen, etwa Wahlplakate und Flugzettel, beisteuern könnte, um insbesondere Beumelburgs Hauptziellesergruppe jugendbewegter Jugendlicher für die Staatsumbaupläne der Regierung zu gewinnen.36 Beumelburg, der sich als öffentlicher Intellektueller gerne für publikumswirksame Auftritte hergab und dessen Bruder Walther Beumelburg Leiter der Nachrichtenabteilung der Reichsrundfunk GmbH war,37 sagte sein Engagement für eine öffentlich im Rundfunk gehaltene Rede zu. Rund zwei Wochen vor der Reichstagswahl hielt Beumelburg am 25. Oktober die nun als Staat und junge Generation betitelte Rede, mit Hilfe derer es dem gerade einmal 33 Jahre jungen Autor gelang, die in seiner Literatur formulierten Postulate in den politischen Diskurs einzuspeisen. Ihr Inhalt entsprach den gängigen Postulaten des soldatischen Nationalismus, wonach die im Schützengraben entstandene, altruistische Haltung der Deutschen nach 1918 von den egoistischen Kräften der Demokratie und des Liberalismus aufgezehrt worden seien. Er sah die Gefahr, dass sich Kriegs- und Kriegsjugendgeneration voneinander entfernten, und forderte letztere dazu auf, sich unter dem Banner des politischen Führungsanspruchs ersterer zu sammeln. Ferner rief er, im Sinne Papens, zum Ende der Parteienherrschaft und zum Aufbau eines auf den Grundlagen der im Krieg geübten Kameradschaft stehenden neuen Staates auf. Der Frontgeneration gebühre das erste Wort in diesem Aufbau, stünden die ›Ideen von 1914‹ über jenen von 1789, d. h. »dem törichten Glauben an die Gleichwertigkeit aller in der Nation vereinigten Menschen.« (5) Die Rede endete mit dem von Papen an die Jugend geforderten Appell: Hier liegt die Aufgabe, die uns nach geschehener Schlacht [der Reichstagswahl, d. A.] zu vereinigen hat: dem Staat zur Nation, die Nation zum Staat bringen. [...] Ihr [die Jugendlichen, d. A.] seid dazu berufen, von dem letzten großen vaterländischen Ereignis, das sich im Weltkrieg und im Tode Eurer zwei Millionen Kameraden geoffenbart hat, die Brücke zu bilden in eine bessere Zukunft Eures deutschen Vaterlandes! (6f.)

Zusammenfassung Im Vorangegangenen war versucht worden zu zeigen, dass 1. der historische Kriegsroman der 1920er Jahre in seiner Hybridität über besondere literarische, politisch-performative wie anthropologische Qualitäten verfügte, um mit Hilfe eines literarisch imaginierten Realitätsbezugs dem Leser einen politischen Orientierungs- und damit einen politischen Handlungsrahmen zu schaffen; 2. dass es 62

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einer ebenso hybriden, nämlich einer poeta vates und poetea faber vereinigenden Autorschaft des zudem im Kriege tatsächlich zu Felde gezogenen Kriegsdichters bedurfte, um dem literarisch Imaginierten sowohl den pseudoautobiographischen Anstrich eines Erlebnis- und Tatsachenberichts zu verleihen, als auch um diese Illusion mit technischem Fachwissen zu beglaubigen. Entscheidend hierfür wurde 3. die Anlehnung der Autoren an die Postulate der Neuen Sachlichkeit, hier ausweislich die narrative Einzäunung in ein mimetisch-pseudoreales Gehäuse, das etwa mit Hilfe von Widmungen oder der Ineinssetzung von Erzählinstanzen wie Autor, Erzähler oder Protagonist konstruiert wurde. Schließlich 4. der erfolgreiche Währungstausch des im literarischen Feld gewonnenen symbolischen Kapitals in politisches im Feld der Macht. Der Aufsatz möchte abschließend und im Sinne des cultural turn dazu ermutigen, sich diesen, zwischen dem Feld der Literatur und jenem der Macht ergebenden Wechselwirkungen zuzuwenden, sind Autoren wie Franz Schauwecker oder Her­bert Volck bisher noch kaum beforscht. Mag die protofaschistische Literatur deutschnationaler, völkischer und soldatisch-nationalistischer Autoren heute vor dem Glanz der ausweislich von links des politischen Spektrums stehenden Intellektuellen getragenen Goldenen 1920er Jahre verblassen, war es doch ausweislich diese Literatur, die die stärksten Auflagenzahlen erzielte.39 So steht für den Literaturwissenschaftler wie für den Historiker gleichermaßen gerade hinsichtlich dieser Werke zu vermuten, dass sie gesellschaftlich vergemeinschaftende, d. h. milieu- und politische Lager übergreifende Effekte zu zeitigen und ihre Autoren im Anschluss an ihren Erfolg öffentlichkeitswirksam für ihre politischen Ziele zu werben vermochten. In diesem Sinne wäre eine weitere interdisziplinäre, nach den Methoden einer Neuen Kulturgeschichte die Ebene der Kultur mit jener der Politik verknüpfenden Beforschung dieser oft nur inhaltlich und mit einigen Auflagenbelegen erfassten bzw. versehenen Literatur wünschenswert.

Anmerkungen 1

Pierre Bourdieu. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999, 466. Grundlegend zur Kapitalsorten- sowie zur Feldtheorie: Ders. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. Ders. Das politische

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Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz: UVK, 2001. Wolfram Pyta. »Die expressive Kraft von Literatur. Der Beitrag der Weltkriegsliteratur zur Imagination politisch-kultureller Leitvorstellungen in der Weimarer Republik«. Angermion. Jahrbuch für britisch-deutsche Kulturbeziehungen 2 (2009), 57–76. 63

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Dazu auch: Nicolas Beaupré. »Schreiben im Krieg: Die ›Frontliteratur‹ – eine hybride literarische Gattung?«. Wolfram Pyta, Jörg Lehmann (eds.). Krieg erzählen – Raconter la guerre. Darstellungsverfahren in Literatur und Historiographie nach den Kriegen von 1870/71 und 1914/18. Berlin: Lit Verlag, 2014 (Kultur und Technik 26), 129–142. Dazu Christoph Brecht. »›Jamais l’histoire ne sera fixée‹. Zur Topik historischen Erzählens im Historismus (Flaubert).« Daniel Fulda, Silvia Serena Tschopp (eds.). Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin: de Gruyter, 2002. Vgl. auch Tamsin Spargo (ed.). Reading the Past: Literature and History. Basingstoke, New York: Palgrave, 2000, 411–438. Eberhard Lämmert. »Zum Wandel der Geschichtserfahrung im Reflex der Romantheorie«. Reinhart Koselleck, WolfDieter Stempel (eds.). Geschichte – Ereignis und Erzählung. München: Fink, 1973, 503–515. Ann P. Linder. Princes of the Trenches. Narrating the German Experience of the First World War. Columbia: Camden House, 1996, 74–85, 118f. Astrid Erll. Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2003, 57–59, 82–84, 92, 102, 130–135, 155–178. Paul Michael Lützeler. Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte. Sondierung, Analyse, Interpretation. Berlin: Schmidt, 1997 (Philologische Studien und Quellen 145), 170–178.

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Vgl. exemplarisch die aufschlussreiche Kritik zur politischen Tendenzlosigkeit von Alfred Kantorowicz: »Krieg und Krieger«. Die literarische Welt 6 (1930), 9, 5. Grundlegend zu Form und Funktion des historischen Romans sind die Beiträge des Literaturwissenschaftlers und Historikers Ansgar Nünning. Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 1995 (Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans 1). Ders. »Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion. Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans«. Fulda/ Tschopp (eds.). Literatur und Geschichte, 541–569. Vgl. auch Barbara Potthast. Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, 2007. Winfried Fluck. Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790– 1900. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997. Markus Fauser. Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, 58. Karl Ludwig Pfeiffer. Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999. Hier sind vor allem die Arbeiten des Tübinger Sonderforschungsbereichs 437 »Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit« zu nennen. Vgl. hierzu u. a.: Nikolaus Buschmann, Horst Carl (eds.). Die Erfahrung des Krieges.

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Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn: Schöningh, 2001. 12 Vgl. auch Alfred Schütz, Thomas Luckmann. Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979/84. 13 Grundlegend hierzu Wolfgang Iser. »Akte des Fingierens«. Dieter Heinrich, Wolfgang Iser (ed.). Funktionen des Fiktiven. München: Fink, 1983, 121–151. S. auch Fluck, Das kulturell Imaginäre, 12–21. 14 Kurt Sontheimer. »Die Idee des Reiches im politischen Denken der Weimarer Republik«. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13 (1962), 205–221. 15 Vgl. exemplarisch die Diffamierungsstrategien des Völkischen Beobachters: Unbekannt. »Erich Maria Remarque«. Völkischer Beobachter 4 (1929), 3. 16 Die an der Westfront 1916 bis 1918 entstandene Feldpost Werner Beumelburgs befindet sich im Militärarchiv Freiburg (MA-BA) unter den Bestandssignaturen MSG2/12359, MSG2/13440, MSG/12360, MSG2/8120, MSG2/12358. Weitere Privatkorrespondenz aus der Kriegszeit befindet sich im Privatbesitz der Beumelburg-Nichte Kläre Schlarb (Meisenheim/Glan). 17 Vgl. exemplarisch die Besprechung von Werner Beumelburgs Sperrfeuer um Deutschland durch Friedrich Sterntal. »Ein neuartiges Kriegsbuch«. Die literarische Welt 6 (1930), 3, 5. 18 Platon. Ion. Griechisch/Deutsch. Übers. u. ed. von Hellmuth Flashar. Stuttgart: Reclam 1997, 534e. 19 Zu den ambivalenten Räumen von Interpretation und rezeptionsäs-

thetischer Wirkung vgl. meinen Aufsatz: Florian Brückner. »Politische Sinnvermittlungsprozesse in der Literatur. Zur rezeptionsästhetischen Bedeutung des literarischen Kriegsrealismus der 1920er Jahre.« Pyta/Lehmann (eds.), Krieg erzählen, 153–166. 20 George Soldan. Die deutsche Geschichtsschreibung des Weltkrieges. Eine nationale Aufgabe. Potsdam: Reichsarchiv, 1919. Nachlass Hermann Ritter Mertz von Quirnheim. BArch N 2190/15, fol 12–55, hier 34. 21 Aristoteles. Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übers. u. ed. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam, 1994. Zum Poeta-faber-Modell bei Platon: Ion, 530d–533c. 22 »Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es, als die Zeit in der man lebt.« Egon Erwin Kisch. Der rasende Reporter. Berlin: Reiss, 1925, Vorwort. 23 Nicolas Detering, Michael Fischer, Aibe-Marlene Gerdes (eds.). Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Münster: Waxmann, 2013 (Populäre Kultur und Musik 7). 24 Ulrich Broich. »›Hier spricht zum ersten Male der gemeine Mann‹. Die Fiktion vom Kriegserlebnis des einfachen Soldaten in Ludwig Renn: Krieg (1928)«. Thomas F. Schneider, Hans Wagner (eds.). Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum Ersten Weltkrieg. Amsterdam: Rodopi, 2003 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53), 207–216. 25 Hans-Harald Müller. Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman 65

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der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler, 1986, 200. 26 So feilte Beumelburg etwa einen Brief an den Jugendfreund Otto Spies vom 09.04.1918 (Privatbesitz Kläre Schlarb) für die dem Reichsarchiv nahe stehende Deutsche Soldatenzeitung zu einer Kameradschaft evozierenden Kurzgeschichte aus, wobei sich Brief und Kurzgeschichte erheblich voneinander unterschieden: Werner Beumelburg. »Treue«. Deutsche Soldatenzeitung 3 (1921), 36, 2. 27 Exemplarisch eine Szene in Werner Beumelburg. Die Gruppe Bosemüller. Oldenburg: Stalling, 1930, 27. 28 Unbekannt. »Werner Beumelburg erzählt von seinen Frontkameraden. ›Gruppe Bosemüller‹ plauderte am Kamin. Wie sie sich wieder sahen – sie haben wirklich gelebt, Dichtung und Wahrheit.« Berliner Illustrierte Nachtausgabe 8 (1935), 2. Beiblatt vom 3. Juli 1935. 29 Beumelburgs auf Capri verfasste Familienkorrespondenz im Zeitraum 1928 bis 1930 gibt einen vorzüglichen Einblick in die Entstehungsgeschichte von Sperrfeuer und Bosemüller. Privatbesitz Kläre Schlarb. 30 August Neidhardt von Gneisenau (1760–1831). 31 S. Anm. 1, hier Bourdieu: Feld. 32 Die von 1921 bis 1936 von Gerhard Stalling und dem Reichsarchiv in Oldenburg bzw. Potsdam herausgegebenen Schlachten des Weltkrieges erschienen 1921 bis 1936 in 34 Bänden mit einer durchschnittlichen Auflage von 40.000 Exemplaren: Markus Pöhlmann: »›Das große Erlebnis da draußen‹. Die

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Reihe Schlachten des Weltkrieges (1921–1930)«. Schneider/Wagner (eds.), Richthofen, 113–132, hier 120. 33 Werner Beumelburg. Autobiographische Schrift 1925–1936. Privatbesitz Kläre Schlarb, ca. 1950er Jahre, 95–145, hier 119–121. Ebenfalls vorhanden im Nachlass Beumelburgs, Rheinische Landesbibliothek Koblenz, Signatur H Beu 16. 34 Walther Schotte (ed.). Der neue Staat. Berlin: Neufeld & Henius, 1932. 35 Beumelburg, Schrift, 119f. 36 Werner Beumelburg an Erwin Planck. 06.10.1932, Staatsarchiv Oldenburg, Bestand 273-41, Nr. 163. 37 Olaf Simons. Walther Beumelburg. www.polunbi.de/pers/beumelburg-02.html, 2004, letzter Zugriff 04.02.2015. 38 Werner Beumelburg. Staat und junge Generation. Rundfunkrede vom 25.10.1932. Druckfassung Berlin 1932. 39 Jörg Vollmer. Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Berlin: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek, Garystr. 39, 14195 Berlin, www. diss.fu-berlin.de/diss/receive/ FUDISS_thesis_000000001060, letzter Zugriff 04.02.2015, Materialband, 368. Grundlegend ferner Thomas F. Schneider (ed.). Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914–1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch. Göttingen: V&R Unipress, 2008 (Schriften des Erich-MariaRemarque-­Archivs; 23), 10f.

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Wie man Helden ediert Ein Ausgabenvergleich von Manfred von Richthofens Der rote Kampfflieger

Manfred von Richthofen – bzw. sein Mythos – ist in unser kulturelles Gedächtnis1 ikonographisch eingegangen wie kein anderer (schon zu Lebzeiten als Kriegsheld gefeierter) Kampfpilot des Ersten Weltkriegs. Dies belegen nicht nur die nach wie vor regelmäßig erscheinenden Neuausgaben seiner als Tagebuch apostrophierten Kriegs-Episodensammlung Der rote Kampfflieger, sondern auch die ›Früchte‹ der medialen Transformationen, welche diesen Text zur Basis haben: Denn nicht nur durch Namensgebungen für Fluggeschwader der Luftwaffe2 und diverse Straßen 3 ist Manfred von Richthofen gegenwärtig, sein Name erscheint auch regelmäßig in Kunst, Kultur und Medien.4 Es gibt unzählige Bücher und mehrere Filme über den ›roten Baron‹, zuletzt die 2008 mit Matthias Schweighöfer und Til Schweiger in den Hauptrollen verfilmte und bislang teuerste deutsche Kinoproduktion Der Rote Baron.5 Stets fallen – unabhängig vom Medium, in dem inszeniert wird – mit dem Namen Richthofen Tugenden wie ›Mut‹, ›Ritterlichkeit‹ und ›Bescheidenheit‹. Maßgeblich für diese Rezeption ist sein bis heute immer wieder neu aufgelegter Bestseller Der rote Kampfflieger, in dem die mit dem Namen Richthofen verbundenen moralischen Attributierungen ihren Ursprung haben. Die Kriegserfahrung des Autors und die in den Text eingearbeiteten Authentizitätsmarker ließen und lassen dieses Werk bis heute als authentischen Kriegsbericht erscheinen und Richthofen darüber hinaus als eine Art Konglomerat aus ›Figur/Erzähler/Autor‹. Bisher hat man sich dem Mythos um Richthofen meist sozialwissenschaftlich oder historisch genähert und dabei die vorgeblichen Tugenden der historischen Gestalt kontextualisiert. Unter literaturwissenschaftlichen Aspekten sind die Inszenierungen der jeweiligen Tugenden dagegen bisher kaum untersucht worden.6 Dazu ist zunächst anzumerken, dass 67

Nadine Seidel

die Figur Richthofen Tugenden verkörpert, welche offenbar nicht nur mit den Wertvorstellungen des Kaiserreiches und der NS-Diktatur, sondern auch mit denen der (Weimarer wie der bundesdeutschen) Demokratie zu vereinbaren waren bzw. es offenbar noch sind: Tatsächlich wurden Paratexte (meist Vorworte) zu den verschiedenen Ausgaben von so unterschiedlichen Personen wie Kaiserin Auguste, Hermann Göring und Manfred Wörner verfasst. In der Forschung ist diesem Umstand aber bisher kaum Beachtung geschenkt worden, was auch darin begründet liegt, dass dieser Bestseller der Kriegsliteratur als ästhetisch bedeutungslos eingestuft wurde. Dessen ›ästhetische Minderwertigkeit‹ muss allerdings als Teil einer Rhetorik verstanden werden, welche die bis heute verklärende Wahrnehmung des Autors Richthofen und die einzigartige Rezeptionsgeschichte von Der rote Kampfflieger ermöglicht. Um die Mechanismen der Inszenierung des Mythos Manfred von Richthofen kenntlich zu machen, werde ich den Text Der rote Kampfflieger auf zwei Ebenen analysieren: In einem ersten Teil expliziere ich die ethische Kernaussage, nämlich Richthofens Verweis, kein Schießer, sondern ein »Weidmann« zu sein – sich also ethisch korrekt zu verhalten bei seiner »Jagd« auf Menschen. Dieser Hinweis auf ›korrektes‹ Verhalten in Kampfsituationen ist ein der Jagdsprache entliehenes Konstrukt, welches allerdings offenbart, dass Richthofen seine Gegner unter ›Wild‹ subsumiert. In einem zweiten Teil untersuche ich die Paratexte der Ausgaben, die nach Richthofens Tod erschienen sind, also eine Inszenierung post mortem darstellen, von 1920, 1933, 1977 und 1990. Neben einem Kapitelvergleich werden Textkürzungen aufgezeigt, ›authentifizierende‹ Dokumente gewertet sowie die Vorworte und/oder Buchrückentexte (falls vorhanden) untersucht, um dadurch jeweils den Heldentypus auszuloten, welchen die jeweilige Ausgabe von Der rote Kampfflieger bedienen sollte.7 Zwar ist die Modifizierung von Literatur des Ersten Weltkriegs analog zum jeweilig aktuellen Rezeptionsbedürfnis gängige Editionspraxis. Bei dem Ausmaß an Veränderung, dem der Der rote Kampfflieger unterzogen worden ist, muss jedoch schon von »editorischen Fallen«8 gesprochen werden, die entstanden sind. Der Verfasser des Vorworts der 1990er Ausgabe, der frühere NATO-Generalsekretär Dr. Manfred Wörner, ist in eine solche getappt: In seinem Vorwort begegnet er der Vereinnahmung Richthofens durch die Nazis einmal durch die Behauptung, »Richthofen hätte sich mit Abscheu von den begangenen Untaten distanziert«,9 und zitiert zum anderen einen Passus, welcher seines Erachtens zeigt, dass Richthofen eher eine Art Kriegskritik ausspricht: Jetzt ist der Kampf, der sich an allen Fronten abspielt, ganz verteufelt ernst geworden, es ist nichts mehr übrig geblieben von diesem ›frischen, fröhlichen Krieg‹, wie man unsere Tätigkeit anfangs genannt hat […]. Ich 68

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

habe nun so den dunklen Eindruck, als ob aus dem ›Roten Kampfflieger‹ den Leuten ein ganz anderer Richthofen entgegenleuchtet – als mir selbst zumute ist.10

Schneider bemerkt indes treffend, »dass sich diese Stelle in dem ganzen folgenden Text Der rote Kampfflieger nicht auffinden lässt«,11 und zeigt, dass Wörner in der Ausgabe von 1990 – die laut Impressum auf der Originalfassung von 1917 beruht, tatsächlich allerdings eine bereits verkürzte Version darstellt12 – die Vereinnahmung Richthofens durch die Nationalsozialisten mit einem Passus widerlegen möchte, welcher weder in der Ausgabe 1917, noch 1920 oder 1990 erscheint, sondern ausgerechnet und ausschließlich13 in der Ausgabe von 1933, die ja unter anderem einen Teil der von Wörner monierten Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten ausmachte. Dieses Beispiel zeigt, wie tückisch der ›Umgang‹ mit einem Text ist, der so viele Umkodierungen durch Textmodifikationen, Verkürzungen und Hinzufügungen erhalten hat, dass nicht mehr von einem, sondern von mehreren Texten gesprochen werden müsste.

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Der rote Kampfflieger – der Ursprungstext von 1917

I.1

Genese des Textes und grundlegende Orientierung über das Werk

1917 nimmt Manfred von Richthofen den Auftrag an, eine Art ›Kriegstagebuch‹ zu verfassen, um dieses in der Ullstein-Kriegsbuchreihe zu veröffentlichen. Besonderes Gewicht liegt bei den während des Krieges publizierten Texten solcher ›Kriegsreihen‹ auf ›Authentizität‹, welche nur durch die »Augenzeugenschaft«14 der Autoren als gegeben akzeptiert wird. Die intendierte Zustimmung der Rezipienten zum Krieg wurde auch durch literarische Darstellungen, welche der Realität des Ersten Weltkriegs widersprachen, erreicht: Dort wo die Technisierung des Krieges eine neue Kriegsrealität erschuf (mit Anonymität und Massensterben), der der Einzelne nicht selbstbestimmt entgegentreten konnte, ermöglichte diese Technisierung auf literarischem ›Felde‹ genau Gegenteiliges: Hier konnte durch die Figur des (den ›neuen‹ Gattungen Luftwaffe und U-Boot angehörenden) individuell handelnden Piloten oder Kapitäns die Möglichkeit zu Selbstbestimmtheit und Tugendhaftigkeit innerhalb des Kriegsschauplatzes behauptet werden. Zur Zeit der Abfassung von Der rote Kampfflieger ist Richthofen mit 52 Abschüssen ein deutschlandweit bekannter und gefeierter Kriegsheld. Er selbst liefert zu dem später veröffentlichten Text allerdings nur stenographische Vorlagen:15 Zum einen lautet ein Passus des Verlagsvertrages mit Richthofen, dass für die »endgültige Festlegung des Textes mit der Verlags69

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buchhandlung […] der Herr Hauptmann von Salzmann ermächtigt sei«,16 und zum anderen erlaubt Richthofen dem bei Ullstein arbeitenden Journalisten Erich von Salzmann in einer zusätzlichen Vollmacht, »irgendwelche ihm notwendig erscheinenden Änderungen oder Verbesserungen selbständig und ohne Richthofen vorher zu befragen, vorzunehmen«.17 An einigen Stellen tritt die Beteiligung mehrerer Autoren besonders deutlich zutage und zeigt, dass der Text eben nicht Produkt literarischer Unkenntnis (eines sprachlich-inferioren, naiven Autors), sondern im Gegenteil Produkt literarisch-professionalisierter Kenntnis ist und die suggerierte Authentizität als stilisiert angesehen werden muss. Allerdings ist auch zu bedenken, dass Richthofen – wie viel an dem Text auch konturiert oder geändert worden ist – seine Imprimatur erteilt hat. Die 1917 erschienene Erstausgabe, Nr. 30 der Ullstein Kriegsbücher, verkauft sich über 500.000 Mal.18 Die 2008 von Schneider veröffentlichten Zahlen19 rücken Der rote Kampfflieger mit 1,2 Million verkaufter Exemplare an die Spitze der deutschsprachigen Kriegsliteratur des Ersten Weltkrieges. Es gibt mehr als sechzehn verschiedene Ausgaben20 mit mehrfachen Auflagen sowie mehrere Verfilmungen. I.2 Rhetorische Inszenierung: Die Ethik einer ›Menschenjagd‹ Ein Passus im viertletzten Kapitel21 des Textes ist der Schlüssel zur Dechiffrierung von Der rote Kampfflieger. Er findet zwar mehrfach in der Sekundärliteratur Erwähnung, wird dann allerdings m. E. falsch gedeutet:22 Mein Vater macht einen Unterschied zwischen einem Jäger (Weidmann) und einem Schießer, dem es nur Spaß macht, zu schießen. Wenn ich einen Engländer abgeschossen habe, so ist meine Jagdpassion für die nächste Viertelstunde beruhigt. Ich bringe es also nicht fertig, zwei Engländer unmittelbar hintereinander abzuschießen.23

Als Weidmann bezeichnet man den Jäger, der sich den Regeln der Weidgerechtigkeit entsprechend verhält: W. ist eine durch ethisches Pflichtprogramm bestimmte Verhaltensweise des Jägers gegenüber einem als Wild bezeichneten Tier, gegenüber dem jagdverbundenen Mitmenschen und gegenüber der Umwelt.24

Die Referenz auf den Vater, der die Jagd-Ausbildung seiner Söhne übernommen hatte und somit für Richthofen in diesen Belangen hohen Richtwert besitzt, zeigt bei der von Richthofen vorgenommenen Unterscheidung zwischen »Schießer« und »Weidmann«, dass die Weidgerechtigkeit zwar 1917 noch kein juristisches, 70

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

doch ein ethisch verbindliches Kriterium ist. Mit der o.g., allzu leicht überlesbaren Unterscheidung verlässt Richthofen die beschreibende und betritt eine normative Ebene. Ein Rezipient, dem dieser Verhaltens- und Ethikkodex aus der Jägerausbildung nicht bekannt ist, wird Weidgerechtigkeit, sofern er den Begriff nicht überliest, unter ›deskriptiv‹ einordnen oder als Euphemismus. Tatsächlich handelt es sich hierbei um die einzige ethische Wertung Richthofens, die aus Der rote Kampfflieger extrahiert werden kann. Denn im ganzen Text finden sich keine sonstigen Wertungen bezüglich seines Handelns. Richthofen schreibt zwar etwas später: »Erst sehr, sehr viel später habe ich mich dazu überwunden und mich zum Schießer ausgebildet«25 – allerdings suggeriert der Sprachgebrauch den großen Widerwillen Richthofens, sich so – entgegen der ›Weidgerechtigkeit‹ – verhalten zu müssen. Die damals gängige Vorstellung der Pflichterfüllung für das Vaterland, welche besagt, möglichst viele Gegner zu vernichten, scheint Richthofen nicht zu teilen, sonst hätte er Lothars Schießverhalten als effizient und professionell und eben nicht als primär unethisch deklariert. Dass sich der aufgrund seiner Abschusszahlen effizienteste Kampfflieger selbst konterkariert, wenn er von der »viertel Stunde« des Tages spricht, in der seine »Jagdpassion« gestillt werde, liegt auf der Hand, zeigt aber Richthofens unbedingten Willen, ethisch korrekter und somit tugendhafter als sein Bruder dazustehen, indem er die Erfüllung der ›Weidgerechtigkeit‹ beim Töten von Menschen als Tugend ansieht und versucht, sich selbst als weidgerecht darzustellen. Die Jagd nicht nur sprachlich-rhetorisch zu bemühen, sondern auch ethisch, um daraus eine Tugend ›basteln‹ zu können, ist jedoch absurd, da Weidgerechtigkeit zwar blindwütiges Schießen thematisiert und ablehnt, ihm allerdings die Hege und Pflege des Wildes, Naturschutz etc. als wünschenswert gegenüberstellt. Somit könnte die Parallele zur monierten ›Schießwut‹ Lothars noch gezogen werden, allerdings gibt es nichts, was als erstrebenswertes Gegenteil aufgezeigt werden könnte: Zwischen zwei Abschüssen fünfzehn Minuten zu pausieren, trifft es nicht. Der Clou dieses ›normativen Intermezzos‹, welches das Kapitel »Lothar ein ›Schießer‹ und nicht ein Weidmann« darstellt, ist seine Positionierung: Da es als viertletztes Kapitel erscheint, ist sein ›Schlagschatten‹ sehr kurz – sofern es denn verstanden wurde. Wurde der Passus als ›normativ‹ identifiziert, bedarf es dann einer erneuten Lektüre von Der rote Kampfflieger. Als LeserIn kann man eine gewisse ›Abstumpfung‹ gegenüber Richthofens Sprachgebrauch feststellen, da er ebenfalls Tropen aus anderen Feldern in nahezu erschlagender Fülle benutzt.26 Ab Mitte des Textes etwa gewinnen die jagdlichen Metaphern die Überhand, allerdings scheinen sie nach wie vor sprachliches Mittel zum Zweck zu sein. Erst durch Richthofens explizite Inanspruchnahme einer Ethik wird eine neue Lesart des Textes ermöglicht, und Kapitel, die zuvor ›nur‹ sprachlich befremdlich wirkten, offenbaren nun weitere Dimensionen. So zeichnet sich beispielsweise das Kapi71

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tel »Bombenflüge in Rußland« durch den inflationären Gebrauch des Wortes »Spaß«27 aus, welcher befremdet, aber aufgrund von Richthofens ansonsten ironisch-lakonischem Sprachgebrauch nicht besonders hervortritt. Es muss nun die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass der passionierte Jäger Richthofen in diesem Kapitel tatsächlich den Spaß empfunden hat, den er beschreibt und der an eine Treibjagd erinnert: Besonders interessant ist es, auf feindliche Kavallerie zu schießen. Es bringt ungeheure Unruhe unter die Leute. Man sieht sie mit einem Male nach allen Himmelsrichtungen davonsausen.28 [...] alles, was Beine hat, ist nach allen Himmelsrichtungen davon.29 Mein Beobachter schoß feste mit dem Maschinengewehr unter die Brüder und wir hatten einen wilden Spaß daran.30

Nicht nur in diesem Kapitel fühlt sich ein Jäger beim Menschenbild Richthofens an eine Klassifizierung bestimmter Wildarten und an die typischen Formen der Jagd auf sie erinnert, beispielsweise die Unterscheidung von Hoch- und Niederwild: Richthofen unterscheidet31 einerseits »halbwilde Völkerstämme«,32 die Asiaten, die besonders schnell in Angst zu versetzen seien, weswegen sich bei ihnen der Beschuss von oben mit dem Maschinengewehr als ›unterhaltsam‹ herausstellt, da sie nach Richthofens Auffassung besonders schnell fliehen. Diese Form des Angriffs ist bezüglich des erhöhten Tempos ungefähr vergleichbar mit einer Treibjagd auf Hasen, bei der mit Schrot auf den laufenden Hasen geschossen wird und bei dessen Streckenlegung mehrere Dutzend Tiere aufgereiht werden. Einen besonders ›wertlosen‹ Gegner, der aufgrund fehlender Bewaffnung einfach abzuschießen ist, nennt Richthofen dann auch konsequenterweise »Häschen«.33 Der Treibjagd auf Niederwild wird die langsame Pirsch auf ein besonders kapitales Stück Hochwild gegenübergestellt. Entsprechend wird beim ›kultivierteren‹ Gegner, hier dem Engländer, nicht die anonyme Masse mit Bomben beworfen oder mit Maschinengewehrsalven beschossen, sondern der Einzelne rückt in den Fokus. Ihm gilt dann auch die ganze ›Ehrerbietung‹, die bei der eigentlichen Jagd einem kapitalen Stück Hochwild entgegengebracht wird. Alle im Folgenden genannten Beispiele Richthofens handeln von getöteten Menschen und sind nicht den Jagdszenen auf Tiere entnommen. Sie sollen – mit Blick auf die eben dargelegte Ethikvorstellung Richthofens – zeigen, wie konsequent ›weidmännisch‹ und somit nach heutigem Maßstab pervertiert sich der ›Menschenjäger‹ Richthofen verhält. Als erstes bewertet der Jäger das Revier bezüglich Wildvorkommen: »Ich habe in meinem ganzen Leben kein schöneres 72

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

Jagdgefilde kennengelernt […]. Morgens, wenn man aufgestanden, kamen schon die ersten Engländer«.34 Der Jäger hofft dann, jagdlichen Erfolg zu haben: »Das Wetter ist eigentlich sehr schlecht geworden, so daß wir nicht annehmen konnten, noch Weidmannsheil zu haben«.35 Ist ein Treffer nicht tödlich, erfolgt die ›Nachsuche‹, um den ›Fangschuss‹ abgeben zu können. Mit seiner Bemerkung »Die Nachsuche war also schlecht, wie überhaupt bei solchen Schießern«36 kritisiert Richthofen, dass sein Bruder Lothar das von ihm abgeschossene Flugzeug nicht finden kann. Als eine Art letzter Gruß des Jägers wird dem Wild nun der Wildbruch zuteil: »Meinem in Ehren gefallenen Gegner setzte ich zum Andenken einen Stein[37] auf sein schönes Grab.«38 Am Ende eines erfolgreichen Jagdtages werden die geschossenen Stücke aufgereiht und verblasen, wird also die »Strecke« gelegt. »Abends legen wir uns[39] gegenseitig die Strecke vor«.40 Die Trophäe wird, je nach Wert, an besonderen Plätzen aufgehängt. Ein Ehrenplatz erhält bei Richthofen auch die ›Trophäe‹ Major Hawkers: »Sein Maschinengewehr […] ziert jetzt den Eingang über meiner Haustür.«41 Allerdings gibt es auch vertane Jagdchancen: »Es ist sehr schade, daß in meiner Sammlung kein Russe vorhanden ist. An der Wand würde sich seine Kokarde gewiß malerisch machen.«42 Es ist somit offenkundig, dass Richthofens oft zitierte ›Fairness‹ und ›Ritterlichkeit‹ gegenüber dem Feind nicht auf einer philanthropischen ›Ethik der Gnade‹ beruhen, welche – bei gegebenen Umständen – das Leben des Gegners verschont. Vielmehr wird in Der rote Kampfflieger dem in der Kriegsliteratur üblicherweise vorherrschenden ›kriegspragmatischen Tötungsbegriff‹ ein pervertierter Verhaltenskodex als ›besser‹, da ›ethischer‹ gegenübergestellt, welcher von der ethischen korrekten Wildtötung auf das Töten von Menschen schließt und somit letztere unter »Wild« subsumiert.

II

Die editorische Heldenmythisierung – post mortem

II.1 1920: Ein Heldenleben Die 1920 erschienene in Richthofen. Ein Heldenleben umbenannte gebundene Ausgabe enthält weder ein Vorwort noch Illustrationen und umfasst 344 Seiten. Der ursprüngliche Text Der rote Kampfflieger wurde um ein Kapitel und diverse Absätze gekürzt und macht nur ein gutes Drittel des Gesamtumfanges aus. Auf über 200 Seiten folgen paratextuell »Hinterlassene Papiere«, »Aus den Briefen an die Mutter«, »Berichte von Manfreds Bruder«, »Die Mutter über den Knaben Manfred«, »Manfred Richthofens Tod«, »Der letzte Kampf«, »Beileidskundgebungen zum Tode Richthofens«, »Erinnerungen an Richthofen« und »Eine deutsche Mutter zum Tode Richthofens«. Ein Heldenleben ist der – gemäß Verkaufszahlen43 deutlich geschei73

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terte – Versuch, den Helden Richthofen facettenreicher darzustellen, seinen ›Wert für das deutsche Volk‹ durch Abdruck der Nekrologe wichtiger Persönlichkeiten44 zu unterstreichen sowie die bereits im Ursprungstext inszenierten Tugenden zu bekräftigen. Im Vergleich zur Ausgabe von 1917 fehlt das, für die Dechiffrierung von Der rote Kampfflieger als auch für die Explikation des Richthofenmythos als zentral anzusehende Kapitel »Lothar – ein Schießer und nicht ein Weidmann«.45 In den »Hinterlassene[n] Papiere[n]« werden Richthofens Bruder- und Junggesellenrolle mit schalkhaften Gestus thematisiert. So hofft Richthofen aus geschwisterlicher Konkurrenz noch vor seinem Bruder Lothar zu genesen, während dieser ebenfalls danach strebt, als erster wieder fliegen und die persönliche Abschussliste erweitern zu können. Richthofen vermittelt im Kapitel »Meine Vermählung« das Empfinden diebischer Freude über die Falschmeldung, er sei verheiratet, und betont besonders seine Rolle als Sohn durch den juvenilen Spaß, dass auch der eigene Vater auf die Falschmeldung hereingefallen sei. Im Kapitel »Luftkampftaktik« benutzt Richthofen explizit den Terminus »Menschenjagd«46 – dieser ist allerdings ohne Wissen um das Kapitel »Lothar – ein Schießer und nicht ein Weidmann« lediglich als sprachliches Capriccio zu werten. Nach den hinterlassenen Papieren folgt eine Art familiärer Verortung Richthofens: In den »Berichte[n] von Manfreds Bruder« betont Lothar von Richthofen durch Schilderungen militärischer Anekdoten Manfreds soldatische Tugenden und Leistungen. Das Kopfgeld, welches angeblich auf Richthofen ausgesetzt war, findet Erwähnung, es wird eine Explikation der roten Farbgebung anhand einer kleinen ›Entwicklungsgeschichte‹47 versucht und konstatiert: »[A]uch wir hatten uns schon durch viele Abschüsse der roten Farbe würdig gezeigt. Die rote Farbe bedeutete eine gewisse Anmaßung. Das wusste jeder. Man fiel auf damit. Folglich musste man schon etwas leisten.«48 Es folgt eine – dem Stil des Ursprungstextes ähnelnde Inszenierung von Ritterlichkeit und Brüderlichkeit, ebenfalls ›in eigener Sache‹: Wo ist mein Bruder geblieben? Da sehe ich auch schon ein schaurig schönes Bild! In wildem Kampfe die vier Engländer und mein Bruder, sich in Kurven umeinander drehend! Mein Herz bleibt mir vor Angst um Manfred beinahe stehen: Ich habe ja Ladehemmung und kann nicht mehr schießen! Das macht nichts, hier muss geholfen werden! Hat doch mein Bruder die vier Engländer, die mich schon lange abgeschnitten hatten, dauernd beschäftigt, so dass keiner mir hat folgen können! Jetzt bin ich also an der Reihe zu helfen. Mitten unter die Kämpfenden platze ich hinein. Die vier Engländer, die bisher nur den einen Gegner vor sich gehabt hatten, ließen plötzlich von uns ab und flogen nachhause. […] Wie mein Bruder hinterher sagte, hatte er für unser beider Leben nichts mehr gegeben.49 74

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

Lothar erwähnt die eigene Angst und deren Überwindung, also seinen Mut. Dieser wird am Ende durch Manfreds Worte noch einmal erhöht, da jener mit dem Tode der beiden rechnete. Der ritterliche Zusammenhalt der beiden Brüder, die sich gegenseitig schützen und helfen, ›egal, wie ausweglos der Kampf sein mag‹, wird ebenso inszeniert, wie die Feigheit der Engländer (als Gegensatz zum eigenen Mut), die bei einem Verhältnis 4:2 die Flucht ergreifen. Hier finden sich viele rhetorische Mittel, deren sich auch Manfred von Richthofen bei den Inszenierungen seiner Tugenden bedient hatte und die an den Co-Autor der Ausgaben von 1917 und 1920, Erich von Salzmann denken lassen. In »Die Mutter über den Knaben Manfred« übernimmt Kunigunde von Richthofen den Part, die überdurchschnittliche Konstitution des ›Heldenkörpers‹ zu beschreiben, indem sie Beispiele nennt, bei denen der Sohn im Kindesalter stets hätte sterben können, aber es aufgrund der körperlich überdurchschnittlichen Verfassung nicht tat. Es folgen Schilderungen diverser Mutproben, die Manfred als Junge bestanden hatte, sowie ein aufschlussreicher Kommentar zum in dieser Familie herrschenden Jagdethos durch die Beschreibung, dass Manfred »seine Jagdpassion nicht mehr zügeln konnte« und drei Haustiere50, nämlich drei zahme Enten der Großmutter, totschoss. »Diese ersten Trophäen, drei Erpelfedern, hängen noch heute in Manfreds Stube unter all den stolzen Kriegstrophäen. Ich kann sie nicht ohne Rührung ansehen.«51 Bezeichnenderweise ist in dieser Ausgabe als einziges das Kapitel »Lothar – ein Schießer und nicht ein Weidmann« gestrichen worden. Das Kapitel »Manfred Richthofens Tod« hingegen soll die internationale Wichtigkeit dieses Ereignisses spiegeln: So werden englische als auch französische Pressemeldungen in der jeweiligen Sprache abgedruckt. Neben den eingefügten »Briefen an die Mutter« dienen auch diese ›Dokumente‹ der Authentifizierung. Gleiches gilt für die Nachrufe. Zusammenfassend kann zu der Ausgabe von 1920 konstatiert werden, dass dort das Bemühen sichtbar wird, Richthofen als Kriegsheld und somit ›Nationalgut‹ aufzuwerten. Die körperliche ›Unverwundbarkeit‹, die dem damaligen Deutungsmuster des Helden entspricht, wird betont, scheitert jedoch, denn Ein Heldenleben verkauft sich nicht. Durch Kriegsniederlage und dem damit verbundenen Zusammenbruch des Kaiserreichs geraten die während des Ersten Weltkrieges bejubelten Helden in Vergessenheit, mehr noch: Es erschien nicht mehr angebracht, im Angesicht Millionen Toter die singulativen ›Opfertode‹ der vormaligen Helden in den Fokus zu rücken. Deutschen Müttern und (übrig gebliebenen) Vätern stand weniger der Sinn danach, fremde Kinder zu beweinen, denn den Verlust der eigenen zu verarbeiten: Außerdem waren ja nicht nur die ›Helden‹ der Flieger und U-Boote, sondern insgesamt zwei Millionen Tote zu betrauern. Die Erinnerung an das Leid der Vielen ließ eine besondere Würdigung Einzelner unangemessen erscheinen.52 75

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II.2 Ausgabe 1933 Die Ausgabe von 1933 ist in Leinen gebunden und umfasst 262 Seiten. Sie enthält ein erstes Vorwort von Hermann Göring »Manfred von Richthofen zum Gedächtnis« sowie ein zweites von Bolko von Richthofen. Co-Autor dieser Ausgabe ist nicht mehr Erich von Salzmann, sondern Hans Rudolf Berndorff, »der sich durch die Produktion von Unterhaltungs- und Trivialromanen beim Ullstein-Verlag einen Namen gemacht hatte.«53 In dieser Ausgabe wurden drei Schwerpunktsetzungen verfolgt und editorisch – aus nationalsozialistischer Sicht – in optimaler Weise umgesetzt: Erstens sollten die verdienten Helden früherer Tage umcodiert werden zu Vorläufern der nationalsozialistischen Ideologie, da »die Traditionssuche des Nationalsozialismus und der angestrebte Schulterschluss mit den konservativen Helden des Ersten Weltkriegs«54 nur so funktionieren konnte. Zweitens wurde der Krieg mehr in den Vordergrund gerückt und dabei als grausam, aber notwendig und daher wünschenswert apostrophiert. Drittens wurden Richthofens Verwundungen betont, da das Opfer des sich der Nation unterordnenden Helden die gewünschte Hierarchie der Nazis manifestiert: Eine Diktatur, der sich auch jene beugen, die es selbst verdient haben, erhöht und verehrt zu werden. Es entsteht so ein kategorisches double bind: Je größer die Leistung des Helden, desto größer die Verehrung, die ihm entgegengebracht wird, und desto größer das Opfer, welches von ihm verlangt wird: Zweifel, Verwundung und Tod. Da Richthofen all jene Anforderungen inklusive Tod erfüllte, wurde in der Ausgabe von 1933 darauf hingearbeitet, diese einzelnen Facetten weiter zu betonen. Der ursprüngliche Text wurde in Mein Leben im Kriege55 umbenannt. Die einleitenden Kapitel »Einiges von meiner Familie« und »Meine Kadettenzeit« wurden gestrichen, so dass der Text bereits eine kriegsaffirmative Eröffnung aufweist. Hinzugefügt werden die Kapitel »Verwundet«, »Es geht nur um den Kampf«, »Der rote Kampfflieger« und »Gedanken im Unterstand«. »Verwundet« ist als einziges Kapitel aus den »Hinterlassene[n] Papieren« in den ›Primärtext‹ aufgenommen worden, da es einer Zurschaustellung des Heldenopfers dient. Im Kapitel »Es geht nur um den Kampf« wird zu Beginn gebetsmühlenartig ein Terminus wiederholt, was in der dadurch entstehenden Sprachmelodie an bekannte NS-Reden erinnert: Der Kommandeur eines Jagdgeschwaders muss […], der Kommandeur eines Jagdgeschwaders muss […], der Kommandeur eines Jagdgeschwaders muss […], der Kommandeur eines Jagdgeschwaders muss […], der Kommandeur eines Jagdgeschwaders soll.56

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Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

Hier »wandelt sich die Figur […] nunmehr vollständig, wobei völlig ungesichert bleiben muss, ob diese Texte überhaupt von Richthofen stammen«.57 Das folgende Kapitel »Der rote Kampfflieger« ist der Kern der aus NS-strategischer Sicht gelungen zu nennenden Ausgabe: Bewusst wird hier der Titel benutzt, unter dem der Ursprungstext bekannt ist (der aber für diese Ausgabe in »Mein Leben im Kriege« umbenannt wurde), da sich dieses Kapitel auf den ›früheren Text‹, der einen ›früheren Standpunkt‹ darstellen soll, bezieht: Nun habe ich also ein Buch geschrieben. Es heißt »Der rote Kampfflieger«. Täglich laufen Briefe und Karten ein von Leuten, die mir versichern, dass ihnen »Der rote Kampfflieger« gut gefallen hat.58

Dieses Kapitel stellt eine extradiegetische Erzählsituation her und verweist den ursprünglichen Text (mit seinem spielerischen Kriegsbegriff) auf eine lediglich intradiegetische, nunmehr überholte Position. Es wird suggeriert, dass Richthofen, wenn er jetzt über den Krieg ernster und desillusioniert spricht, dies aus einer aktuelleren Position aus tut, die wissender ist, als die Position von 1917. Dieser ›Bruch‹ wird geschickt in juvenile Späße und Anekdoten gebettet – welche aber natürlich nicht den Krieg betreffen, da die neue Position dort ja nun eine ernstere ist – und die den ›Späßen‹ im Ursprungstext ähneln. Das Kapitel »Gedanken im Unterstand« greift die Idee einer neuen, aktuelleren Version von Der rote Kampfflieger noch einmal – wieder von einem extradiegetischen Standpunkt aus – auf: Ich habe, wenn ich so liege, an vieles zu denken. Ich schreibe es nieder, ohne dass ich weiß, ob jemand außer meinen nächsten Angehörigen diese Niederschrift jemals zu sehen bekommt. [59] Ich gehe mit dem Gedanken um, dem »Roten Kampfflieger« eine Fortsetzung zu geben, und zwar aus einem ganz bestimmten Grunde. Jetzt ist der Kampf, der sich an allen Fronten abspielt, ganz verteufelt ernst geworden, es ist nichts mehr übriggeblieben von diesem ›frischen, fröhlichen Krieg‹, wie man unsere Tätigkeit anfangs genannt hat.60

Damit ist gemeint: ›wie ich unsere Tätigkeit anfangs genannt habe – und zwar in Der rote Kampfflieger, dessen Darstellungen ich nun korrigieren möchte‹. Das Kapitel (und damit der Text von Manfred von Richthofen) endet, indem die neuen Motive wie ›Verwundung, Opfer, Kriegshärte, Desillusionierung‹ noch einmal zusammengefasst werden: Mir ist nach jedem Luftkampf erbärmlich zumute. Das kommt aber wohl von den Nachwirkungen meines Kopfschusses. Wenn ich meinen Platz auf 77

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dem Flugplatz wieder auf den Boden gesetzt habe, dann mache ich, dass ich in meine vier Wände komme, will niemanden sehen und nichts hören. Ich glaube, so ist es wirklich, es ist nicht so wie sich die Leute, wie die Leute in der Heimat sich das vorstellen, mit Hurra und Gebrüll, es ist alles viel ernster, verbissener.61

Bei den Paratexten ist ebenfalls eine eindeutige militärische Schwerpunktsetzung zu verzeichnen: So wurden alle 1920 erschienenen, zusätzlichen ›Dokumente‹ gestrichen, außer die »Berichte von Manfreds Bruder«62, die formeller in »Berichte des Bruders Lothar Freiherr von Richthofen« umbenannt und um die einzigen zwei nicht-militärischen Anekdoten »Der Talisman bei den Fliegern« und »Anekdoten vom Urlaub« gekürzt, geblieben sind. Das Vorwort von Hermann Göring umreißt kurz die Tugenden und Leistungen Richthofens, um – gekoppelt an ›Vergangenes‹ – dann schnell den Blick auf ›Kommendes‹ zu richten: Deutschland ist erwacht, Deutschland muss und wird seine Weltgeltung wiedergewinnen. Ohne Wehrhaftigkeit gibt es keinen Staat, kann es keine stolze und ehrliebende Nation geben. Für Deutschlands Größe und Macht hat Manfred von Richthofen gekämpft […]. An Manfred von Richthofens großes Vorbild wollen wir uns halten, das Gedenken an ihn soll uns helfen, alle Kräfte einzusetzen, um unser nationales Ziel zu erreichen, Deutschland wieder eine Flugwaffe zu geben, gleichberechtigt und ebenbürtig anderen Nationen, überlegen aber an Geist und Opfermut wie das Jagdgeschwader Richthofen im Weltkriege.63

Im zweiten Vorwort, verfasst von Bolko von Richthofen, wird dieser militärische Gestus zunächst beibehalten. Der aufmerksame Leser fühlt sich im weiteren Verlauf des Vorworts mit Kunigunde von Richthofen konfrontiert, wenn Bolko wortwörtlich über all jene Begebenheiten ›des kleinen Manfred im Alter von acht Jahren‹ spricht, wie es die Mutter in der Ausgabe 1920 getan hat: dass nie die ›Impfblattern‹ bei ihm aufgegangen seien, er sich gut von der Knorpelentfernung am Knie erholt habe und stets als einziger die Äpfel von den höchsten Stellen pflücken konnte: »dann ließ er sich aber nicht vom Stamm herab, sondern von außen an den Zweigen«.64 Bolko schreibt dies über seinen elf Jahre älteren Bruder, der zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt war – also über Ereignisse, die drei Jahre vor Bolkos Geburt stattfanden. Die in der Ausgabe benutzten Briefe, welche zwischen den Kapiteln eingeschoben werden, sind »Aus den Briefen an die Mutter«65 entnommen, sie werden hier allerdings ohne Nennung eines Adressaten abgedruckt. Passt ein Brief zwar thematisch, nicht aber chronologisch zum Text, wurde auch das Datum entfernt. 78

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

Der Tod Richthofens wird in den Kapiteln »Der 21. April 1918« und »Heimkehr« thematisiert. Die dort ausgewählten Nachrufe dienen einzig der Hervorhebung der Ereignisschwere – Emotionen wurden hier gänzlich gestrichen, ist doch nach Aussage dieser Ausgabe nur stringent das eingetreten, was Richthofen vorherbestimmt und seine ›militärische Pflicht‹ war: im Kriege zu sterben. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das, was als Selbst-Stilisierung 1917 begann, hier seinen Abschluss gefunden hat: Es hat eine Umcodierung stattgefunden, und »vom individualistischen, arroganten und menschenverachtenden Jäger ist nurmehr der Mythos der Ritterlichkeit des Luftkampfes übriggeblieben. Das Individuum ist untergegangen in der Masse«.66 II.3 1977: Der rote Kampfflieger Die 1977 als Taschenbuch erschienene Ausgabe war die Nr. 4 der »KuKu«-Reihe67 im Verlag Matthes & Seitz. Das Titelblatt greift die Optik der Erstausgabe auf: Ein durch Siebdrucktechnik erzeugtes rotes Flugzeug auf gelbem Grund. Allerdings zeigt sich bereits hier ein differenzierterer Blick auf das vormals editorisch gewünschte Konglomerat aus ›Autor/Erzähler/Figur‹: Während im Hintergrund die unverwechselbare rote Fokker fliegt, ist im Vordergrund das Konterfei eines Piloten abgebildet, welches anhand der Platzierung nur auf Richthofen schließen lässt. Somit erscheint Richthofen gleich zweimal: als Pilot, der aber auch ein anderer sein könnte, und als ›roter Mythos‹. Genauso verfährt der Text des Titelblatts Der rote Kampfflieger von Manfred Freiherrn von Richthofen und in kapitalen Lettern: DER ROTE BARON. Auf der Rückseite steht »Die Geschichte des legendären Flieger-As in seinen eigenen Worten.« Dies ist die einzige der untersuchten Ausgaben, die den Terminus ›Autobiographie‹ vermeidet und einen Authentizitätsanspruch durch den Begriff »Geschichte« aufweicht. Die Ausgabe ist textidentisch mit der Erstausgabe, allerdings unterlag die Bildauswahl und Dokumentation Friedrich Wilhelm Korff.68 Hier wird ein Standpunkt eingenommen, dessen Hinführung differenzierter ist als in allen anderen Ausgaben, der zu treffenden Beobachtungen und Zwischenergebnissen gelangt, um dann am Ende aber doch das tradierte ›tugendhafte‹ Richthofenbild erneut zu bestätigen. Die Ausgabe umfasst 343 Seiten und ist unterteilt in den 165-seitigen ›Richthofentext‹ und einem Essay von Korff. In den folgenden 13 Kapiteln beleuchtet Korff nun die einzelnen Facetten des Richthofenmythos. Sein Essay ist so gedruckt, dass auf der rechten Seite sein Text steht und auf der linken Seite passende Zitate ausgewählt sind, beispielsweise Passagen aus den verschiedenen Ausgaben von Der rote Kampfflieger oder Zitate aus den Texten anderer ›Beteiligter‹. In dem Kapitel »Killer oder Held«69 untersucht Korff Richthofens Sprachstil und konstatiert: 79

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Richthofens Sprache ist überkontrolliert. Man kann sie mit den Reflexen eines überforderten Körpers vergleichen, der Angst, Bedrückung, aber auch Jubel über Erfolg loswerden, nur Reflexionen darüber nicht an sich herankommen lassen will. […] Seine Kraft ist daher auch am Ende, wo seine Scherze beginnen.70

Da der Sprachgebrauch im Text nicht mit der Gefühlswelt der realen Person Richthofen gleichzusetzen ist, sondern als Produkt eines rhetorischen Prozesses, an dem auch andere Autoren und Ullstein-Mitarbeiter beteiligt waren, gesehen werden muss, irrt Korff, wenn er anhand des Textes Rückschlüsse auf die Person belegen möchte. Mit der Frage »schreibt die Zeilen über das Blut der Germanen ein Korrespondent der ›London Times‹ oder ein königlich preußischer Rittmeister?«,71 kommt Korff der Entstehungsgeschichte des Textes jedoch sehr nahe.72 Das Kapitel »Autoritäten«73 eröffnet mit der Wertung, die Abschiedsworte Wilhelms II. beim Auslaufen der Ostasienexpedition am 27.07.1900 seien »humorlos, dumm und anmaßend« gewesen, während in Richthofens »schweinekalter Gemütlichkeit« noch ein »Aufschwung zum Humor erkennbar«74 sei. Korff nimmt dann die bei Richthofen oft erwähnte Tugend »Mut« genauer in den Blick: Von Überwindung ist selten die Rede. Wird aber jemand so etwas wie ein »Held«, dann unterscheidet er sich von einem Draufgänger gerade durch die Kultur seiner Überwindung. Eine solche Ausbildung wird in der Regel nicht gefördert, sie ist individualistisch und geht im Stillen vonstatten.75

Hier ist nicht erkenntlich, ob dies seiner Meinung nach bei Richthofen der Fall ist oder nicht. In »Zur Jagdweise und zur Symbolik der Farben« wertet Korff dann überraschend Richthofens Verhalten so tugendhaft, wie es der gängige Heldenkult es bereits getan hatte. Korffs Position stellt sich zwar insgesamt als differenzierter heraus, er kommt allerdings zu demselben Schluss wie seine Vorgänger: Den Angriff führt er selbst, tief unten, in einer leuchtend roten Maschine. Die Selbstauszeichnung Richthofens – sein Flugzeug ist vollkommen rot, während die seiner Staffelkameraden sich ein wenig unterscheiden – entspricht der »Primus-inter-pares«-Stellung des König Artus in seiner Runde und ist heraldisch zu nehmen. Die Farben signalisieren kein Imponiergehabe, sondern höfischen Mut, Freund wie Feind »ins Bild zu setzen«. Dies Entgegenkommen ist sehr alt und, wie viele Tugenden des Mittelalters, fast 80

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

vergessen. Es bedeutet, den Gegner durch den eigenen Schmuck zu ehren und ihn möglichst rasch zu orientieren, mit wem er es zu tun hat. Mittelalterlich ist die Rangsymbolik auch noch darin, dass die rote Grundfarbe keinesfalls ein Zeichen des Gruppenprestiges (wie etwa Hoheitszeichen) ist, sondern ein persönlich verliehenes Privileg, an der eigenen Auszeichnung teilzuhaben. Gesprochen wird darüber nicht. Er sagt nichts, verbirgt nichts, aber er deutet an.

Korffs Resümee zu Richthofen mutet umso sonderbarer an, als er ja aus den Ausgaben von 1920 und 1933 zitiert, die das Kapitel »Die rote Farbe« enthalten, in welchem Lothar von Richthofen expliziert, dass die rote Farbgebung bewusst so gewählt war, dass die einzelnen Mitglieder der ›Jasta 11‹ sich zwar untereinander unterscheiden konnten, dies für den Feind, sowohl aus Entfernung als auch aus direkter Nähe, nicht möglich war. Er nennt die Farbgebung darüber hinaus eine »Anmaßung«. II.4 1990: Der rote Kampfflieger Die 1990 erschienene gebundene Ausgabe umfasst auf 142 Seiten eine gekürzte Fassung76 des Textes von 1917 samt »Erläuterungen« im Anhang, Richthofens Testament, umbenannt in Reglement für den Kampfflieger, sowie ein Vorwort von Manfred Wörner. Auf dem Titelblatt des Umschlages ist ein Bild des fliegenden roten Fokker-Dreideckers zu sehen. Der Text lautet: »Der rote Kampfflieger/ Die persönlichen Aufzeichnungen des Roten Barons. Mit vielen historischen Abbildungen.« ›Persönlich‹ und ›historisch‹ sind die entscheidenden Authentizitätssignale. Der Text auf der Rückseite lautet: Manfred von Richthofen, der »Rote Baron«, ist auch mehr als 70 Jahre nach seinem Tod der bekannteste Flieger überhaupt. Bei uns, in den Vereinigten Staaten, in England, in Frankreich und darüber hinaus gilt er als Vorbild für Tugenden, [sic] wie Ritterlichkeit, Ehrlichkeit, Mut und Fairness. Er ist eine Legende. Manfred von Richthofens 100. Geburtstag steht vor der Tür. Es ist deshalb an der Zeit, sich wieder intensiv mit seiner Person zu beschäftigen. Was liegt dabei näher, als das »Original« zu lesen. [sic] In diesem Buch werden seine beiden wichtigsten persönlichen Aufzeichnungen »Der rote Kampfflieger« und das »Reglement für den Kampfflieger« zusammen abgedruckt. Vierzig – zum Teil bisher unveröffentlichte – historische Fotos ergänzen den Text. Die einführende Würdigung Manfred von Richthofens schrieb NATO-Generalsekretär Dr. Manfred Wörner.

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Begriffe wie »Original« oder »Historische Fotos« (die bislang unveröffentlicht waren) sollen ebenfalls den Eindruck von historischer Wahrheit und Authentizität unterstreichen. Das Vorwort bietet dann – neben dem Lapsus mit der fehlenden Textstelle – sogleich eine Überraschung. Nicht Manfred von Richthofen blickt dem Leser vom ersten »bisher unveröffentlichten« Foto der Ausgabe entgegen – sondern Manfred Wörner unter einem antiquiert anmutenden ›Pilotenhäubchen‹. Die im Vorwort verfolgten Intentionen und benutzten Mechanismen sind schnell expliziert: Wörner versucht seine Behauptung, dass Richthofen eine »Symbolfigur für Ritterlichkeit, untadeliges Verhalten und fliegerisches Können«77 sei, zu verifizieren, indem er den Blick auf sich selbst lenkt: Zum einen wird betont, wie ›persönlich‹ sein Verhältnis zu Richthofen ist, zum anderen wird durch Zurschaustellung der eigenen Karriere eine Art Kompetenz, was eine ›adäquate‹ Beurteilung von Richthofen betrifft, behauptet. So ist das Foto nicht als ›narzisstischer Ausrutscher‹ Wörners zu werten, sondern soll eine Parallele zu den Richthofenportraits aufzeigen. Es wird nun auf der folgenden Seite die Kompetenz Wörners betont, um aufzeigen zu können, dass die Sicht auf Richthofen eine ›korrekte‹ und universale ist: Wörner rekapituliert seine berufliche Karriere und fügt – scheinbar wahllos – Sätze ein, in denen der Name Manfred von Richthofen vorkommt: Bis heute hat mich die Persönlichkeit Manfred von Richthofen gefesselt. Das gilt auch für die Zeit während meiner Mitgliedschaft im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages und natürlich während meiner Tätigkeit als Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland. Selbst als Generalsekretär des Nordatlantischen Bündnisses gibt es für mich gelegentlich Bezugspunkte zu Manfred von Richthofen. Immerhin trägt ein NATO-Geschwader der Bundesluftwaffe in Wittmund den Namen Manfred von Richthofens.78

Mit der – qua Vita – ›nötigen‹ Kompetenz ausgestattet, erwähnt Wörner nun die ›Erfahrungen‹, die er aufgrund seiner exponierten Stellung gemacht hat, und die sein Urteil über Richthofen legitimieren sollen: Es ist meine Überzeugung, dass solche Symbolfiguren verbindenden Charakter über die Grenzen der einzelnen Nationen hinweg besitzen. Bei großen Traditionstreffen der Flieger, mit Teilnehmern aus vielen Ländern, konnte ich dies beobachten. […] Für das friedliche Zusammenleben der Völker ist dies von großer Bedeutung. Und wenn die Erinnerung an Manfred von Richthofen hierbei mithilft, dann ist das eines der größten Komplimente, die sich denken lassen.79 82

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

Inwieweit Der rote Kampfflieger dazu beiträgt, ist m. E. nicht schlüssig, wie beispielsweise der letzte Absatz aus dem – zum obigen Zitat – thematisch passenden Kapitel »Englische und französische Fliegerei« zeigt: Dies [Loopings] macht wohl bei der Johannisthaler Sportswoche Eindruck, aber der Schützengraben ist nicht so dankbar wie dieses Publikum. Er verlangt nach mehr. Es soll immer englisches Pilotenblut regnen.80

Das mögen die Herausgeber vielleicht ebenfalls als konträr zu Wörners Diktum angesehen haben, was eine Erklärung sein könnte, warum die letzten beiden Sätze des oben genannten Zitats in dieser Ausgabe gestrichen wurden, obwohl im Impressum behauptet wird, den Text der Erstausgabe nicht modifiziert zu haben. Es folgt nun der zu Anfang des Kapitels erwähnte Versuch, die Vereinnahmung der Nazis durch den Verweis auf Richthofens »erstaunlich […] differenziert[es]«81 Urteilungsvermögen zu relativieren. Dieser Logik folgend resümiert Wörner: Die Taktik von Richthofens ist nicht zuletzt geprägt von seiner Auffassung der soldatischen Ehre. Grundlage war der Respekt auch gegenüber dem Feind. Dieser Respekt verbot es, sinnlos Menschenleben zu zerstören. Wenn möglich landete man neben dem abgeschossenen Gegner und nahm ihn persönlich gefangen. Es gab […] noch Ritterlichkeit, die sich in Einzelfällen sogar bis in den Zweiten Weltkrieg erhalten hat [!].82

Wörners Gedanken zur ›Ritterlichkeit des Zweiten Weltkrieges‹ sollen hier nicht thematisiert werden, der Terminus »sinnlos« in Bezug auf die Zerstörung von Menschenleben suggeriert allerdings, dass nach Auffassung Wörners Richthofen stets ›sinnvoll‹ getötet hat. Im letzten Absatz wird dann ›nachjustiert‹, allerdings ohne die vorherige Aussage zu relativieren: »Ich will mit diesen Aussagen keineswegs die Kriegsführung des Ersten Weltkrieges romantisieren oder gar idealisieren. Jeder Krieg ist fürchterlich und zerstörerisch.«83 Zusammenfassend kann zu dieser Ausgabe konstatiert werden, dass der Eindruck vermittelt wird, dass der Verfasser des Vorwortes nicht weiß, was der Verleger tut (und umgekehrt), dass mit historischen Fakten sehr unreflektiert umgegangen und darüber hinaus Richthofen in nicht nachvollziehbarer Weise als eine Art ›Wegbereiter und geistiger Vater des Friedens‹ präsentiert wird.

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Fazit In dem vorliegenden Beitrag wurde gezeigt, dass die mit Richthofen verbundenen Attribuierungen unschuldig-juveniler, ›tugendhafter‹ Qualitäten, ihren Ursprung in einem – unter rhetorischen Aspekten – hervorragend konstruierten Text fand. Wie pervertiert die dort konstruierte Ethik tatsächlich ist, wurde anhand der Explikation des Jagdtopos aufgezeigt. Dadurch bietet sich eine neue Lesart des Textes an, welche die Jagd aus der metaphorisch-sprachlichen in die normative Ebene einer ›tugendhaften‹ Menschentötung erhebt. Somit basiert das positiv besetzte, im kulturellen Gedächtnis immer noch sehr präsente Bild Richthofens auf der rhetorischen Konstruktion einer Figur, die nichts mit dem Handeln der historischen Person zu tun hat. Der Vergleich der verschiedenen Ausgaben hat diesen Befund bekräftigt, offenbart er doch das editorische Bemühen, Richthofen – je nach aktuellem Rezeptionsbedürfnis  – umzucodieren. Dies gilt sowohl für die frühen Ausgaben 1920 und 1933, die ein Kriegs- und Heldenbild zu manifestieren suchten, als auch für alle späteren Editionen.

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Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

Bibliographie der Ausgaben Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein, 1917. Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Buenos Aires: Schneider, 1918. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: [Verlag unbekannt], 1918. Manfred von Richthofen. Ein Heldenleben. Berlin: Ullstein, 1920. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Vorwort von Hermann Göring; Einleitung von Bolko von Richthofen. Berlin: Ullstein, 1933. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: Deutscher Verlag, 1933. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Im Auftrage des NS-Lehrerbundes in Dt. Einheitskurzschr. hrsg.. Mit einem Vorw. von Hermann Göring. Darmstadt: Winklers, 1933. Manfred Frhr. von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Mit 22 Aufnahmen. Eingeleitet und erg. von Bolko Frhr. von Richthofen. Mit einem Vorw. von Hermann Göring, Berlin: Ullstein, 1933. Manfred Freiherr von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Mit einem Vorwort von Ministerpräsident Hermann Göring. Darmstadt: Winklers, 1934. Manfred Frh. von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Eingel. u. erg. von Bolko Frh. von Richthofen. Mit e. Vorw. von Hermann Göring. Bonn a. Rh.: Buchgemeinde, 1934. Manfred Richthofen. Der rote Kampfflieger. Mit e. Vorw. v. Hermann Göring. Darmstadt: Winkler, 1936. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein, 1936. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein, 1937. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Darmstadt: Winklers Verlag Grimm, 1937 (Ausgaben in deutscher Kurzschrift; 4. Auflage, 7. Aufl. 1941). Manfred Frh. von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Eingel. u. erg. v. Bolko Frh. von Richthofen. Mit e. Vorw. v. Hermann Göring. Berlin: Deutscher Verlag, 1938. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Mit e. Vorw. von Hermann Göring. In deutsche Kurzschr. nach der Schriftform vom 30.1.1936 übertr. von Karl Lang. Darmstadt: Winkler, 1939. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. In Deutsche Kurzschrift nach der Schriftform vom 30.1.1936 übertragen von Bezirksschulrat Karl Lang; mit einem Vorwort von Reichsmaschall Hermann Göring. Darmstadt: Winkler, 1941. Manfred von Richthofen. The Red Baron. Translated by Peter Kilduff. Garden City, N.Y: Doubleday, 1969. Manfred Freiherr von Richthofen. The Red Baron. Transl. by Peter Kilduff. Folkestone: Bailey Brothers & Swinfen, 1974. Manfred Freiherr von Richthofen. The Red Baron. Transl. by Peter Kilduff. Ed. by Stanley M. Ulanof. London: Sphere Books, 1976. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. München: Matthes & Seitz, 1977. 85

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Manfred v. Richthofen. Der rote Kampfflieger: der rote Baron; die Geschichte des legendären Flieger-As in seinen eigenen Worten. M. e. Studie v. Friedrich Wilhelm Korff. München: Matthes & Seitz, 1977. Manfred Freiherr von Richthofen. The Red Baron. Translated by Peter Kilduff; editor, Stanley M. Ulanoff. Fallbrook, Ca.: Aero Publishers, 1980. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. München: Matthes & Seitz, 1982. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Augsburg: Weltbild, 1987. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Kiel: Arndt, 1988. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein A.G., 3. Auflage 1989. Manfred Frhr. von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Augsburg: Weltbild-Verlag, 1989. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Einführung von Manfred Wörner. Hamburg: Germa Press, 1990. Manfred von Richthofen. The red air fighter. Additional material by Norman Franks and N.H. Hauprich. London: Greenhill Books, 1999. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Paderborn: Voltmedia, 2006. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Paderborn: Voltmedia, 2007. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Fairford: Echo Lib, 2008. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Bremen: Europäischer Hochschulverlag, 2010. Fliegerass: der rote Baron: Tonträger: der rote Kampfflieger; die Tagebücher des Freiherren Manfred von Richthofen. Moosburg: Jahnel, 2011. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Paderborn: Salzwasser Verlag, 2011. Manfred von Richthofen, Der rote Kampfflieger. Altenmünster: Jazzybee Verlag, 2012. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Die Erlebnisse des Roten Baron. Berlin: Omnium-Verlag, 2013. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Hamburg: Nikol, 2015.

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Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

Anmerkungen 1 Vgl. Aleida Assmann. »Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses«. Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hgg.). Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin: Walter de Gruyter-Verlag, 2004. 2 Das Jagdgeschwader 71 »Richthofen« (kurz JG 71) ist eines der vier Traditionsgeschwader der Luftwaffe. Stationiert ist das JG 71 »R« auf dem Fliegerhorst Wittmundhafen und stellt die Alarmrotte für den norddeutschen Raum. 3 So gibt es achtmal in Deutschland die »Von-Richthofen-Straße«, fünfmal die »Manfred-von-RichthofenStraße«, zweimal die »Freiherr-von Richthofen-Straße«. 4 Etwa als Hauptfigur mehrerer Computerspiele, als Comicfigur in The Peanuts, in aktueller Jugendliteratur oder Musik. Die Spielzeugindustrie hat ebenfalls Richthofen als Erfolgsgaranten erkannt, so dass auch die großen Konzerne, etwa Sony und Lego, Richthofenprodukte im Angebot haben. 5 Der Rote Baron (The Red Baron). Deutschland 2008; Regie: Nikolai Müllerschön; Drehbuch: Nikolai Müllerschön; Darsteller: Lena Headey, Til Schweiger, Matthias Schweighöfer. 6 Vgl. dazu: Jörn Bernig. »Anachronistisches Kriegsbild, Selbstinszenierung und posthume Heroisierung. Manfred von Richthofen: Der rote Kampfflieger (1917)«. Thomas F. Schneider, Hans Wagner (Hgg.). Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam: Rodopi (Amsterdamer Beiträge

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zur neueren Germanistik), 2003, 97–111; René Schilling. »Der Körper des ›Helden‹. Deutschland 1813 – 1945«. S. Conze, G. Gaus (Hgg.). Körper macht Geschichte – Geschichte macht Körper: Körpergeschichte als Sozialgeschichte. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 1999, 119–140; Thomas F. Schneider. Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914–1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch. Göttingen: V & R Unipress, 2008, 9–12; Nadine Seidel. »Nicht ›Schießer‹, sondern ›Weidmann‹. Wie ein missverstandenes Ethikkonstrukt Manfred von Richthofen zum Helden werden ließ«. Gislinde Seybert, Thomas Stauder (Hgg.). Heroisches Elend. Der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen. Teil 1. Frankfurt/M.: Lang, 2014, 741– 762. Diese Ausführungen basieren teilweise auf meiner unveröffentlichten Staatsexamensarbeit: Nadine Seidel. Der Mythos um Manfred von Richthofen. Unveröff. Staatsexamensarbeit, 2010. Thomas F. Schneider. »Von der editorischen Mythisierung eines Helden. Die drei Ausgaben von Richthofens Der rote Kampfflieger 1917, 1920, 1933«. Juni. Magazin für Politik und Literatur 24 (1996), 156–177, 157. Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger: die persönlichen Aufzeichnungen des Roten Barons mit dem »Reglement für den Kampfflieger«. Einf. Von Manfred Wörner. Hamburg: Germa-Press, 1990, 6. 87

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10 Ebd. 11 Vgl. Schneider, 1996, 157. 12 Schneider nennt die Ausgabe von 1990 eine verkürzte Ausgabe von 1920 (vgl. Schneider, 1996, 157). 13 Die Ausgabe 2006 entspricht leicht gekürzt der Ausgabe von 1933. 14 Vgl. Bernig, 107. 15 Gleichwohl wird im weiteren Verlauf dieser Darstellung die Kennzeichnung ›Autor‹ und nicht ›vermeintlicher Autor‹ für ›Richthofen‹ verwendet, auch wenn nicht belegbar ist, zu wie viel Prozent der Co-Autor Salzmann an Der rote Kampfflieger beteiligt war. 16 Zit. n. Schilling, 1999, 132. 17 Zit. n. René Schilling. Kriegshelden, Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945. Paderborn: Schöningh, 2002, 39. 18 In der Ausgabe von 1933 sind folgende Angaben über bisherige Ausgaben gemacht: »Der rote Kampfflieger erschien erstmalig 1917; ein erweiterter Nachdruck unter dem Titel Ein Heldenleben 1920. Auflage beider Bücher 526.000, dieser neuen Ausgabe 350.000 Exemplare. Demnach beträgt die Gesamtauflage 876.000 Exemplare.« Die Nennung der »Auflagenzahl beider Bücher« macht das verlegerische Fiasko 1920 unkenntlich: einer Verkaufszahl von 500.000 Büchern 1917 steht drei Jahre später die Zahl 26.000 gegenüber. 19 Vgl. Schneider 2008, 9ff. 20 Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein (Ullstein Kriegsbücher), 1917; Ein Heldenleben. Berlin: Ullstein, 1920 (Erweiterter Nachdruck von Der rote Kampfflieger); Der rote Kampfflieger. Eingeleitet und ergänzt von Bolko Freiherr von Richthofen. Mit einem Vorwort von Reichs88

minister Hermann Göring. Berlin: Ullstein, 1937; Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger. Berlin: Deutscher Verlag, 1933; Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein, 1936; Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein, 1937; Der rote Kampfflieger. Darmstadt: Winklers Verlag Grimm, 1937 (Ausgaben in deutscher Kurzschrift; 4. Auflage, 7. Aufl. 1941); Der rote Kampfflieger. Mit einer Studie von F. W. Korff. München: Matthes & Seitz, 1977; Der rote Kampfflieger. München: Matthes & Seitz, 1982; Der rote Kampfflieger. Augsburg: Weltbild, 1987; Der rote Kampfflieger. Kiel: Arndt, 1988; Der rote Kampfflieger. Berlin: Ullstein, 3. Auflage 1989; Der rote Kampfflieger. Einführung von Manfred Wörner. Hamburg: Germa Press, 1990; Der rote Kampfflieger. Paderborn: Voltmedia, 2006; Der rote Kampfflieger. Fairford: Echo Lib, 2008; Der rote Kampfflieger. Bremen: Europäischer Hochschulverlag, 2010. 21 Das Kapitel »Lothar ein ›Schießer‹ und nicht ein Weidmann« knüpft thematisch nahtlos an das vorherige Kapitel »Mein Bruder« an, war Richthofen allerdings der Separa­ tion wert. 22 Vgl. hierzu Joachim Castan. Der rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen. Stuttgart: Klett-Cotta, 2007, 149, 298; Bernig, 105f.; Friedrich Willhelm Korff. »Richthofen«. Der rote Kampfflieger. München: Matthes & Seitz, 1977, 205. 23 DRK, 1917, 174. 24 Knaurs Großes Jagdlexikon, 956. 25 DRK, 1917, 174. 26 Es werden Maschinen und Tiere vermenschlicht (»Tante« für Sau, »Kerl« für Keiler, »stolz« bei Flug-

Manfred von Richthofen. Der rote Kampfflieger

zeug; DRK, 1917, 43, 44, 80), Menschen wiederum entmenschlicht (»Der Engländer war ein großer Kahn« statt ›saß in einem‹; 91) und kein Satz scheint ohne Litotes, Diasyrmus (»die Helden«, 27), Mycterismus (»wie ein Stück Vieh runterknallen«, 32) oder Sarcasmus (»Dies macht wohl bei der Johannisthaler Sportswoche Eindruck, aber der Schützengraben ist nicht so dankbar, wie dieses Publikum.« (DRK, 1917, 111) auszukommen. 27 Vgl. »unheimlichen Spaß«, »besonderen Spaß«, »wilden Spaß«. 28 DRK, 1917, 85. 29 Vgl. ebd., 87. 30 Vgl. ebd., 87. 31 Zu Richthofens eigenartigem Rassismus, der Menschen als unterschiedliche Wildarten klassifiziert, s. Seidel, 2010. 32 DRK, 1917, 85. 33 Vgl. ebd., 99. 34 Vgl. ebd., 94. 35 Vgl. ebd., 124. 36 Vgl. ebd., 174. 37 Ein Bruch wird aus einem Zweig hergestellt, deswegen ist der Vergleich vom Material her nicht stimmig, von der Symbolik allerdings schon. 38 DRK, 1917, 93. 39 Mit »uns« wird hier auf die Jagdstaffel Richthofen und Jagdstaffel Boelcke referiert. 40 Vgl. ebd., 110. 41 Vgl. ebd., 105. 42 Vgl. ebd., 83. 43 26.000 Exemplare. 44 Den Nachrufen ›hoher Persönlichkeiten‹ wird als letztes Kapitel das Gedicht einer »Deutschen[n] Mutter zum Tode Richthofens« gegenübergestellt, um so die gesellschaftliche Ganzheit der Verlustbekundungen zu demonstrieren.

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Vgl. hierzu: Seidel, 2014. Richthofen, Ein Heldenleben, 1920, 172. 47 Lothar beschreibt, dass Manfred am Anfang seiner Karriere mit verschiedenen Brauntönen zwecks Tarnung experimentiert, um dann, angekommen in der Rolle des Anführers, ganz bewusst die rote, auffällige Farbe gewählt habe. 48 Richthofen, Ein Heldenleben, 205. 49 Vgl. ebd., 208. 50 Die Erschießung von Haustieren war damals wie heute nicht waidgerecht. 51 Richthofen, Ein Heldenleben, 241. 52 Schilling, 2002, 291. 53 Schilling, 1999, 132. 54 Schneider, 1996, 164. 55 Somit wird schon im Titel die neue Gewichtung des Kriegsmotivs betont. 56 DRK, 1933, 196f. 57 Schneider, 1996, 165. 58 DRK, 1933, 199. 59 Dies ist m. E. einer der plumperen Authentifizierungsversuche dieser Ausgabe. 60 DRK, 1933, 203. 61 DRK, 1933, 204; DRK, 2006. 62 Richthofen, Ein Heldenleben, 203. 63 DRK, 1933, 2f. 64 Ebd., 18; Richthofen, Ein Heldenleben, 237. 65 Richthofen, Ein Heldenleben, 173. 66 Schneider, 1996, 166. 67 »Kultur- Kuriosa«. 68 Friedrich Wilhelm Korff, geb. 1939: Philosoph und Schriftsteller mit Professur an der Uni Hannover. 69 DRK, 1977, 189. 70 Vgl. ebd., 191. 71 Vgl. ebd., 191. 72 Salzmann war zwar kein Korrespondent der London Times, allerdings Journalist der Vossischen Zeitung. 89

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DRK, 1977, 195. Vgl. ebd., 195. Vgl. ebd., 195. Obwohl im Impressum zu lesen ist: »Der Text ›Der rote Kampfflieger‹ basiert auf der Original-Fassung von 1917«.

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DRK, 1990, 6. Vgl. ebd., 5. Vgl. ebd., 6. Vgl. ebd., 112. Vgl. ebd., 6. Vgl. ebd., 7. Vgl. ebd., 7.

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»So gefährlich ist ein Krieg« Zur Neuausgabe von Wilhelm Michael Schneiders Infantrist Perhobstler1

Der Erste Weltkrieg hat in den zwei Jahrzehnten, die ihm folgten, Hunderte von literarischen Texten hervorgebracht, die damals große Aufmerksamkeit fanden. Nur wenige davon werden heute noch gelesen oder sind über die Kreise der einschlägig Interessierten hinaus noch bekannt. Die Spitzenposition hält natürlich Im Westen nichts Neues, und daran wird sich auch nichts mehr ändern. Die Gegenposition unter den noch akzeptierten Texten nimmt Ernst Jüngers In Stahlgewittern ein. Dieses Werk kann sich zwar nicht mit der Verbreitung von Remarques klassischem Werk messen, wird insbesondere nicht an den Schulen gelesen, besticht aber durch seine sprachliche Brillanz und die enge Verbindung des Autors mit seinem Stoff. Ludwig Renns Krieg und Edlef Köppens Heeresbericht findet man noch im Buchhandel. Auch Alexander Moritz Freys Pflasterkästen sind wieder erhältlich. Arnold Zweigs Bücher über den Weltkrieg gehören einer anderen Kategorie an als die Frontbücher, auf die wir uns hier beschränken. Für die vom Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt veranstaltete Neuausgabe des Infantrist Perhobstler von Wilhelm Michael Schneider2 war es nicht entscheidend, dass das Buch von Soldaten der bayerischen Armee handelt. Das »Bayerische« sollte in der zeitgenössischen Rezeption des Werks zwar eine bescheidene Rolle spielen, war aber von außen an den Text herangetragen, der allenfalls ein regional-pfälzisches Kolorit hat. Bestimmend für die Neuherausgabe war neben der Qualität des Textes die günstige Quellenlage, da die Akten der bayerischen Armee im Gegensatz zu denen der preußischen im Zweiten Weltkrieg nicht untergegangen sind. Mit Hilfe dieses Materials kann man zeigen, wie eng das Buch mit der Lebenswirklichkeit seines Verfassers zwischen 1914 und 1918 verknüpft ist. Bei keinem anderen deutschen Kriegsbuch dürfte 91

Dieter Storz

dieser Nachweis in solcher Dichte möglich sein – vielleicht mit der Ausnahme der Pflasterkästen, die ein solches Unterfangen wohl lohnen würden. Schneiders Kriegsbuch erschien im Frühjahr 1929, also wenige Monate nach Im Westen nichts Neues. Der Verfasser nannte sich Wilhelm Michael, ein Pseudonym, das aus seinen Vornamen gebildet war. Unter diesem Namen ist der Roman auch im Lexikon der Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg aufgeführt.3 Möglicherweise geht die Anregung zur Bildung dieses Pseudonyms auf den Verlag zurück, der im selben Jahr das Buch eines gewissen Max Heinz herausbrachte, bei dem es sich auch um ein Vornamenpseudonym handeln könnte.4 Schneider war kein professioneller Schriftsteller, sondern arbeitete, als sein Roman erschien, bei der I.G.-Farben in Frankfurt am Main als Prokurist. Der Infantrist Perhobstler verkaufte sich gut. Das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel meldete bereits am 25. Mai 1929 mit einer großen Anzeige auf dem Umschlag, dass sich das 16.–20. Tausend im Druck befinde.5 Insgesamt erreichte die Auflage 60.000 Exemplare.6 Vogt-Praclik druckt eine zeitgenössische Liste mit den Auflagenzahlen von 37 Kriegsbüchern ab, in denen Schneiders Werk immerhin den achten Platz einnimmt.7

I.

Autobiografischer Gehalt des Romans

Der Infantrist Perhobstler sticht aus der Fülle der Kriegsromane durch seinen dokumentarischen Charakter heraus. Der Leser empfängt von den ersten Seiten an den Eindruck, dass er es nicht mit einer frei gestalteten Parabel zu tun hat, die einen vorbestimmten Handlungsbogen beschreibt, sondern mit einer realen Soldatenbiografie, die den Zufällen des Krieges folgt. Der Autor Schneider wurde am 4. Dezember 1891 als drittes von acht Kindern des Essigfabrikanten Ludwig Schneider und seiner Frau Franziska im pfälzischen Altrip, Bezirksamt Ludwigsburg, geboren.8 Die Rheinpfalz gehörte damals zu Bayern. Er besuchte die Oberrealschule im badischen Mannheim und absolvierte eine kaufmännische Ausbildung. Am 5. Oktober 1914 wurde Schneider »ausgehoben«. Nach kurzer Ausbildung kam er am 27. Januar 1915 an die Front. Mit 22 anderen Soldaten seines Ergänzungstransports gelangte er zur 10. Kompanie des 23. Bayerischen Infanterieregiments. Sechs dieser Soldaten kamen wie er aus Altrip: die »Tagner«9 Michael Hauck, Adam Kirsch, Emil und Ludwig Schneider, der Maurer Karl Rief und der Maschinist Jacob Schneider. Ob Wilhelm Schneider mit seinen Namensvettern verwandt war, ist nicht bekannt. Der Name Schneider ist 92

Wilhelm Michael Schneiders Infantrist Perhobstler

Schneider (dritter von links) im Januar 1915, unmittelbar vor dem Ausmarsch ins Feld. Bei dem zweiten Mann von rechts handelt es sich wahrscheinlich um Adam Kirsch, der im Buch als klein und kräftig geschildert wird. Fotoalbum Schneider, Privatbesitz

in Altrip sehr häufig. Die »Landsleute«, wie er Männer aus dem gleichen Ort oder Stadtviertel nennt, sollten in seinem Roman eine wichtige Rolle spielen. Schon am 14. Februar wurde Schneider durch ein englisches Infanteriegeschoß am linken Unterschenkel verwundet und kam in das Reservelazarett Besteherrnhaus in Blankenburg. Zwei Monate später wurde er zum Ersatztruppenteil nach Kaiserslautern entlassen, wo er längere Zeit blieb. Vom 11. Juni bis zum 14. August 1915 fand auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg der erste »Lehrkurs zur Heranbildung von Offiziers-Aspiranten des Beurlaubtenstandes« statt, also von Männern, die für die Laufbahn des Reserveoffiziers vorgesehen waren.10 Dorthin wurde Schneider kommandiert. Er empfahl sich aufgrund seiner Schulbildung: Mit dem Abschluss der 10. Klasse hatte er das »Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung für den EinjährigFreiwilligen-Dienst« erworben, das die Voraussetzung für die ReserveoffiziersLaufbahn bildete. Am Ende des Lehrgangs wurde er zum Vizefeldwebel befördert und anschließend zum »Offiziersaspiranten« ernannt. Angesichts seiner geringen militärischen Erfahrung war das eine rasche Karriere. Im September kehrte Schneider ins Feld zurück. Am 18. März 1916 wurde er im Hohenzollernwerk – im Roman als »Hohenzollernschanze« bezeichnet –, einem stark befestigten und heftig umkämpften 93

Dieter Storz

Schneider (stehend, dritter von links) während seines ersten Lazarettaufenthalts in Blankenburg, Frühjahr 1915. Fotoalbum Schneider, Privatbesitz

Infanteriestützpunkt bei La Bassée, durch einen Minensplitter an der rechten Schläfe verwundet. Dies hatte abermals einen monatelangen Aufenthalt in Deutschland zur Folge. Erst im November musste er wieder zu seinem Regiment. In der Frühjahrsschlacht von Arras wurde Schneider am 14. April 1917 von einem Granatsplitter am rechten Knie getroffen, was ihm erneut einen längeren Lazarettaufenthalt mit anschließender Genesungszeit einbrachte. Im Juli wurde er zum Leutnant der Reserve befördert, was die Anlage eines Offiziers-Personalakts zur Folge hatte, der im Bayerischen Kriegsarchiv erhalten ist und eine wichtige Quelle für die Beschäftigung mit dem Roman bildet.11 Der nunmehrige Leutnant der Reserve Schneider kehrte nicht mehr zu seiner alten Truppe zurück, sondern kam zum 27. Bayerischen Infanterieregiment, einer im Juli 1916 neu aufgestellten Einheit, die seit dem Oktober 1916 im Rahmen der damals ebenfalls neu formierten 12. Bayerischen Infanteriedivision in Rumänien eingesetzt war. Im Mai 1918 wurde die Division in den Westen verlegt, wo sie vom 27. Mai bis zum 13. Juni an der Angriffsschlacht bei Soissons und Reims teilnahm. Am 1. Juni wurde Schneider durch einen Granatsplitter am Hinterkopf verletzt, blieb aber bei der Truppe. Fünf Tage später setzte ihn ein Gewehrsteckschuß in den linken Oberschenkel endgültig außer Gefecht. Für ihn war der Krieg vorbei. Auch den letzten Kriegssommer verbrachte er in Deutschland. 94

Wilhelm Michael Schneiders Infantrist Perhobstler

Die Kriegslaufbahn des Protagonisten Perhobstler ist mit der seines Autors identisch. Beide werden in gleicher Weise durch Verwundungen mit anschließenden Heimataufenthalten gegliedert. Man kann sogar nachweisen, dass diese Verwundungen sich in Biografie und Roman bis in Einzelheiten gleichen. So hat Perhobstler nach seiner Verwundung in der Hohenzollernschanze durch nachlässige Wundversorgung einen starken Blutverlust erlitten, den die Ärzte mit »Kochsalzlösung in die Adern« auszugleichen suchten, »damit das Herz noch etwas zu pumpen hatte.« (188) In Schneiders Krankenblatt, das bei seiner Aufnahme ins Feldlazarett 8 des II. Bayerischen Armeekorps am 19. März 1916 angelegt wurde, liest man, der Patient habe »reichlich Blut verloren« und deshalb einen »Kochsalztropfeinlauf« erhalten.12

Personal des Romans Der Autor hat dem Ich-Erzähler des Romans seine eigene Biografie unterlegt. Aber auch sonst besitzt das Personal des Buchs reale Vorbilder, die mitunter mit ihrem Klarnamen auftauchen, oft aber anonymisiert werden. Durch die Informationen, die der Text liefert, können sie jedoch in vielen Fällen entschlüsselt werden. Zwei »gute« Generäle, deren Namen nicht fallen, lassen sich aufgrund ihrer Stellung als Divisionskomandeure identifizieren. Es sind dies Karl Ritter von Wenninger und Karl Freiherr von Nagel zu Aichberg. Wenninger führte vom März 1915 bis zum Juni 1917 die 3. Bayerische Infanteriedivision. Nagel war letzter Kommandeur der 12. Bayerischen Infanteriedivision. Schneider nennt sie »Väter« (140, 247, 257). Scharf fällt dagegen die Kritik an einem anderen General aus, Hugo Ritter von Huller, der beide Divisionen zeitweilig führte und dessen Spitznamen »Bayernschreck« (256) wir erfahren. Für Leser um 1930 waren diese Personen identifizierbar, und Huller († 12. Juli 1931) war noch am Leben, als der Roman erschien. Um die Jahreswende 1916/17 hat Schneider eine unerfreuliche Begegnung mit einem arroganten Leutnant Neu: Er war ein kleiner Notabiturient und hatte sich aktiv einschreiben lassen. Als er noch Fahnenjunker-Unteroffizier und ich schon Vize[feldwebel] war, da war er froh um das ›Du‹ mit mir. Als er Leutnant war, sagte er einmal zu mir: »Sie, ich muß mir einen anständigeren Gruß von Ihnen ausbitten!« (209)

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Tatsächlich findet sich in der Stellenbesetzungsliste des Bataillons ein aktiver Offizier, auf den diese Beschreibung paßt,13 nur heißt er dort nicht »Neu«, sondern »Alt«. Perhobstlers Bataillonskommandeur im 23. Infanterieregiment, der »Major«, taucht nur mit seinem Rang auf. Das war Friedrich von Weech,14 der als zwar tapferer, aber menschlich unerfreulicher Offizier mit schlechten Manieren geschildert wird. Während dieser Major nur hart und unkultiviert ist, handelt es sich beim »Major L.« um eine abstoßende Erscheinung, der seine Soldaten übel beschimpft und auch körperlich misshandelt. (77) Dieser Major bildet auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg Maschinengewehr-Schützen aus, als Perhobstler dort seinen Aspirantenkurs absolviert. Die Spur, die Schneider hier legt, ermöglicht die Identifizierung des Vorbilds: Leiter der MG-Lehrkurse des II. Bayerischen Armeekorps in Hammelburg war Major Anton Ritter und Edler von Taeuffenbach.15 1915 wurde gegen ihn ein Verfahren wegen »Mißbrauchs der Dienstgewalt« eingeleitet,16 was die Schilderung seines Verhaltens im Roman bestätigt. Seinen richtigen Namen hat im Roman dagegen »Oberst Weiß«, dem der Autor »verrückte Strenge« nachsagt. Er begegnete Perhobstler wie Schneider 1915 als Kommandeur des Ersatzbataillons in Kaiserslautern und als Leiter der Ausbildungskurse in Hammelburg. (74f.)17 Wichtiger als Offiziere sind im Roman Mannschaftssoldaten. Die günstige Überlieferungslage der bayerischen Armee gestattet es auch hier, eine ganze Reihe von ihnen zu identifizieren. Von Mannschaften und Unteroffizieren sind zwar keine individuellen Personalakten erhalten, wohl aber die Personalverzeichnisse ihrer Truppenteile, die Kriegsstammrollen. Einige dieser Soldaten tauchen im Buch mit Klarnamen auf, so »August Schön«18 oder »Adam Kirsch«,19 mit dem Perhobstler ein freundschaftliches Verhältnis verband. Karl Rief20 veränderte er in »Reif«. Andere »Landsleute« werden nur mit Vornamen genannt, wie »Michel« Michael Hauck21 oder »Emle« Emil Schneider22. Man könnte auch umgekehrt sagen, dass keine einzige Figur des Romans nachweislich fiktiv ist oder auch nur den Eindruck erweckt, das zu sein. Schneiders Verfahren, mit realen Menschen zu arbeiten, gibt dem Personal des Romans eine ganz eigene, authentische Struktur. Das Erscheinen und vor allem das Verschwinden dieser Menschen folgen keiner Erzählstrategie, sondern den Zufällen des Krieges. Der Ich-Erzähler ist die einzige Person, die im Text vom Anfang bis zum Ende präsent ist.

Truppenteile So, wie die Personen des Romans reale Vorbilder haben, aber nur teilweise mit ihren wirklichen Namen auftauchen, hält es der Autor auch mit der militärischen Struktur, in der er sich bewegt. Die Nummern der Regimenter, denen Perhobstler 96

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angehört, werden nicht mitgeteilt. Im ersten Teil des Romans gibt es »Siebzehner«, »Achtzehner« (27) und »Zweiundzwanziger« (40), aber das ist nicht die Einheit Perhobstlers. Den Zeitgenossen bereitete deren Entschlüsselung aber keine Schwierigkeiten. 1929 wusste man noch, dass diese drei Regimenter zur 3. Bayerischen Infanteriedivision gehört hatten, deren viertes Infanterieregiment die Nummer »23« trug. In dieser Einheit erlebt Schneider wie sein alter ego die ersten Kriegsjahre. Nach seiner Verwundung im April 1917 kommt Perhobstler zu einem anderen Truppenteil. Dass es sich dabei um das 27. Bayerische Infanterieregiment handeln muss, kann man durch einen Vergleich der Erzählung mit der einschlägigen kriegsgeschichtlichen Literatur ermitteln.23

Topografie. Ereignisse Schneiders Ortsangaben sind exakt und im Unterschied zur Behandlung von Personennamen nie verschlüsselt: St. Eloi, Bousbecque, Hollebeke, Carvin, Monchy, Ville-en-Tardenois – all diese Orte findet man auf der Landkarte und in der Geschichte des Weltkriegs. Dass Borsa, in den Waldkarpaten gelegen, im Roman Bossa heißt, ist wohl auf einen Hörfehler Schneiders zurückzuführen. Die von Schneider geschilderten Ereignisse sind bis in die Einzelheiten hinein belegbar. Die englische Minensprengung in der »Hohenzollernschanze«, die einen Teil der 11. Kompanie des 18. Bayerischen Infanterieregiments vernichtete, hat am 2. März 1916 tatsächlich stattgefunden. Bei dem Versuch, den verlorenen Stellungsteil zurückzuerobern, verloren die Soldaten Stiefel und Strümpfe in dem aufgeweichten Boden: Wir konnten nur springen und unsere Stiefel und Strümpfe im kalten, nassen Märzboden stecken lassen. (155)

Diese Episode beschreibt auch das Kriegstagebuch des Bataillons: da die sumpfige Beschaffenheit des Bodens (verschiedene Leute hatten die Stiefel verloren) das Vorarbeiten ungemein erschwerte, kam der Angriff über die ersten Ansätze nicht hinaus.24

Bei diesem Angriff schoss die deutsche Artillerie in die eigene Infanterie: Fünfzehner-Granaten fuhren uns plötzlich feurigheiß um die Köpfe. Eine saß mitten in uns. Dem Köhler mit dem Bart riß es den Kopf weg, dem 97

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langen Schilling riß es die Brust ein und dem Lechler, der immer gesagt hatte: »I hab’ mit den Engländern nix« – zerhackte es die Schädeldecke. Ich war ganz dicht dabei. [...] Es waren deutsche Fünfzehner-Mörser. (155)

Auch dieser Zwischenfall wird im Kriegstagebuch des Bataillons beschrieben.25 Die Namen der drei Gefallenen, die Schneider erwähnt, findet man in der Kriegsstammrolle seiner Kompanie. Es sind dies Albert Köhler, geboren am 2. Dezember 1883 in Finkenbach (Pfalz), Hermann Schillings, geboren am 7. Oktober 1896 in Elberfeld ,und Karl Friedrich Lechler, geboren am 3. August 1887 in Hasselbach (Mittelfranken). Die Kriegsstammrolle erwähnt Artilleriegeschosse als Todesursache, nicht aber, dass es eigene waren.26 Für Perhobstlers Abstecher an die Ostfront, den er im Herbst des Jahres 1916 unternimmt, als er einen Ersatztransport dorthin begleitet, findet sich im Personalakt des Autors kein Beleg. Auch überrascht es, dass der Ersatztruppenteil eines an der Westfront eingesetzten Regiments Personal in den Osten schickte. Die Akten des Ersatzbataillons zeigen denn auch, dass diese Transporte durchweg in den Westen entsandt wurden – mit einer Ausnahme: Am 10. Oktober 1916 verließ der 89. Ergänzungstransport seit Kriegsbeginn die Garnison, und dieser war für die Ostfront bestimmt. Transportführer war Vizefeldwebel Schneider, Begleitunteroffizier der Unteroffizier Kiefer,27 der im Buch »Kief« heißt.

Abweichungen von der Autorbiografie Auch das Massaker, das rumänische Soldaten an deutschen Verwundeten anrichten, ist historisch: Die Reihe wankte. Flankenfeuer. Flucht. Verwundete blieben liegen. Es war zum Heulen. Wer nicht fliehen konnte, war verloren. Tierisch fielen die Rumänen über die Verwundeten her. Alle wurden niedergemacht. (255)

Eine Meldung des Bataillons, am 19. August 1917 um 5.30 nachmitttags abgegeben, bestätigt den Vorfall: Der Massenangriff [der Rumänen], der bis zu zehn Gliedern Tiefe geführt wurde, führte zu heftigen Nahkämpfen, wobei viele von unseren Verwundeten niedergestochen wurden.28

Indes kann Schneider diese Dinge nicht selbst gesehen haben, weil er sich im August 1917 noch nicht in Rumänien befand. Auch andere Gefechte, die Per98

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hobstler als Miterlebender beschreibt, kann der Autor nicht erlebt haben, so die Einnahme des Lehmhügels von St. Eloi im März 1915. (51–56) Im Roman schließt dieser Angriff den ersten Feldeinsatz des Protagonisten ab, der dabei verwundet wird. Schneider selbst war schon früher verwundet worden, bei einem gescheiterten handstreichartigen Versuch zur Einnahme des Lehmhügels, der im Roman als Nebenhandlung auftaucht. (41f.) Zum Zeitpunkt des entscheidenden Sturmangriffs befand sich Schneider im Lazarett.

Dokumentationsanspruch des Textes Remarques Roman Im Westen nichts Neues sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, dass sich der Text historisch-topographisch nicht überprüfen lasse. Man bezweifelte, dass der Autor die von ihm geschilderten Ereignisse selbst erlebt haben konnte.29 Schneider legt dagegen großen Wert darauf, seinen Text nicht als erfundene Geschichte, sondern als Tatsachenbericht erscheinen zu lassen. Mehrfach nennt er sein Erzählen »berichten« (125f., 212). Das wichtigste Mittel zur Bekräftigung dieses Anspruchs ist natürlich die topografische und ereignisgeschichtliche Verortung der Erzählung. Gerade die Vorenthaltung von Namen – »Major L.«! – lässt den Leser an die Authentizität des Mitgeteilten glauben. Die gleiche Funktion hat die Thematisierung des Erinnerungsvermögens: Perhobstler kann sich nicht mehr auf den Namen eines Rekruten besinnen, »der eine große Nase hatte« (40). Bei der Beschreibung einer dramatischen Situation fragt er: »Und was hat der Perhobstler denn getan?!«, und antwortet sich selbst: »Ich kann es nicht mehr genau sagen.« (100) Das Erreichen der Erinnerungsgrenze beglaubigt auf raffinierte Weise die Wahrheit des Textes als Ganzem, der so von der Erinnerung des Autors gedeckt erscheint. In beiläufiger Chronistenart erwähnt Schneider die Auszeichnung des »Majors« mit dem Militär-Max-Josephsorden, den er für die Erstürmung des Lehmhügels von St. Eloi erhalten hatte: »damit ich es nicht vergesse« (82). Schneider baut in seinen Text auch Dokumente ein. Er druckt einen Tagesbefehl seiner Division ab (244f.) und erwähnt, wieder verhüllt, »eine bekannte Kunstzeitschrift«, die den »Bayernschreck« Huller als Eroberer Rumäniens verherrlicht hatte. (256) Diese Zeitschrift war das Heft 2 der Jugend von 1918, die mit einem Porträt Hullers auf der Titelseite erschienen war. Wenn man Schneiders Buch als Stellungnahme zu Remarque begreift, so bildet der dokumentarische Habitus seines Textes den wichtigsten Unterschied zu Im Westen nichts Neues. Damit reagierte er auf »den wohl wichtigsten Wertmaßstab des allgemeinen Leserbewußtseins wie der gängigen Rezeptionspraxis«: »Wahrheit, Wirklichkeit, Objektivität, Realität, Echtheit, Tendenzlosigkeit« 99

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erwarten Leser nämlich nicht nur von Sachtexten, sondern auch von literarischen Texten.30 Nach der Meinung von Literaturwissenschaftlern zeichnen sich solche Texte allerdings dadurch aus, »daß sie nicht unmittelbar auf Figuren, Gegenstände, Sachverhalte der außertextlichen Welt bezogen sind, dieser vielmehr andere, erfundene Welten entgegensetzen« und »sich durch ihre zwar in gewisser Weise realitätsanalogen, doch eben nicht realen Bezugsfelder autonom« verhalten.31 Philologen beurteilen literarische Texte als Kunstwerke. Der durchschnittliche Leser will dagegen wissen, ob der Text stimmt, ob er »wahr« ist. Wenn von diesem Standpunkt aus Kritik an Remarques Kriegsbuch geäußert wurde, verbirgt sich dahinter nicht nur ein politisches Ressentiment, sondern auch eine abweichende, vom seinem Verlag bewusst geschürte Lesererwartung.32 Dies führt zu der Frage, ob man den Frontromanen über den Ersten Weltkrieg authentische Aussagen über diesen Krieg entnehmen kann. Paul Fussell sah in den Kriegsbüchern fiktive Texte, die literarischen Regeln folgten, aber keine an Tatsachen orientierte Autobiographien. Als dokumentarische Beschreibungen von Wirklichkeit maß er ihnen nur wenig Wert zu.33 Thomas F. Schneider urteilte ähnlich: Die Texte der Kriegs- und Antikriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg stellen sich bei näherer Analyse als unauflösliche Konglomerate aus Fiktion und angeblicher ›Wahrheit‹ dar, wobei es der Spitzfindigkeit auch des heutigen Lesers überlassen bleibt, die ›Unwahrheiten‹ zu erkennen. Was bleibt, sind atmosphärische Beschreibungen, Standardszenen wie u.a.‚ das ›Trommelfeuer‹, der ›Fronturlaub in der unverständigen Heimat‹, und Standardfiguren wie der ›Kamerad‹, die ›Mutter der Kompagnie‹ und die ihnen übergestülpten Ideologien.34

Auch Hans-Harald Müller, der sich intensiv mit der literarischen Verarbeitung des Ersten Weltkrieges auseinandergesetzt hat, kam zu dem Ergebnis, dass diese Textgruppe in fiktionaler Rede, obwohl auf die erzählte Zeit zwischen 1914 und 1918 beschränkt, nicht das ›authentische‹ Kriegserlebnis der Verfasser in der Kriegszeit [beschreibt], sondern [...] die Frage zu beantworten [sucht], welchen Sinn das Kriegserlebnis in der Gegenwart am Ende der Weimarer Republik besitzt.35

Bedenkt man die sehr starken Übereinstimmungen zwischen Schneider und seiner Romanfigur, wird man zögern, den Roman fiktional im herkömmlichen Sinn zu nennen, also »formal realitätsentlastet im Sinne des Erfundenseins von 100

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Schneider 1916 als Vizefeldwebel. Er präsentiert sich dem Fotografen in tadellos sitzender Uniform mit sichtlichem Stolz. Fotoalbum Schneider, Privatbesitz 101

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Personen, Gegenständen, Geschehnissen, nicht verifizierbar an außertextlicher Wirklichkeit«.36 Viele seiner Schilderungen und Personen sind historisch belegt, der Text ist also »verifizierbar an außertextlicher Wirklichkeit«. Schneiders Buch könnte man eine literarisch überformte Autobiographie nennen. AndraschekHolzer bewältigt das Dilemma einer präzisen Bezeichnung dieser »Genera mixta« mit dem Begriff »Kriegsprosa«.37

II.

Themen. Ethos

»Infantrist« Die meisten Kriegsbücher sind aus der Infanteristenperspektive geschrieben, und das in einem doppelten Sinn. Infanterie als Truppe meint die zahlenstärkste Waffengattung des Ersten Weltkrieges. Auf sie entfiel der weitaus größte Teil der blutigen Verluste. Ihr Kriegserlebnis wurde daher für den Charakter dieses Krieges insgesamt repräsentativ. Sodann ist der Soldat der Kriegsbücher fast immer ein Mannschaftssoldat. Dass solche Texte sich auf die Sicht »von unten« festlegen, ist ein Novum der Kriegsbücher über den Ersten Weltkrieg.38 Um 1930 ist diese Haltung bereits zur Konvention geworden.39 Das bekannteste Beispiel für diesen Perspektivenwechsel ist Ludwig Renn,40 eigentlich Arnold Friedrich Vieth von Golßenau, der seinen Krieg aus der Perspektive des einfachen Soldaten erzählt, während er selbst diese Zeit als adliger Offizier in einem sächsischen Garderegiment41 erlebt hat. Schneider lässt über seinen Standpunkt gar keinen Zweifel aufkommen. Der Infantrist gibt seinem Buch schon den Namen. Zwar läßt er den »AllerweltssassaInfantristen Perhobstler« mit dem Aufstieg zum Vizefeldwebel früh den »Beförderungstod« sterben, (78) doch leitet ihn weiterhin die Perspektive des einfachen Soldaten. Die Beförderung zum Leutnant strebt er nicht an, weil ihm das die gesellschaftliche Gleichberechtigung im Offizierskorps einträgt, sondern um sich einen Soldatentraum zu verwirklichen, nämlich den Feldwebel in der Hierarchie zu übersteigen. (209) Ob der historische Schneider auch so gedacht hat, muss offen bleiben. Immerhin lässt sich seine Kommandierung zu einem Lehrgang für Offiziersaspiranten, dem nur eine zweieinhalbwöchige Felddienstleistung vorausgegangen war, kaum ohne einen starken persönlichen Ehrgeiz erklären. Während es von Perhobstler heißt, er habe seine Rangabzeichen als Vizefeldwebel so unauffällig wie möglich gestaltet, (78) hat sich Schneider in dieser Uniform dem Photographen mit sichtlichem Stolz präsentiert.

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Heeresmissstände Schneider setzt sich in seinem Buch immer wieder mit dem auseinander, was man nach 1918 die »inneren Heeresmißstände« nannte. Insofern liest sich der Roman weithin wie eine Exemplifikation von Martin Hobohms klassischem Werk,42 das ebenfalls im Jahr 1929 erschien. Von der Art und Weise, wie in der Armee die Disziplin durchgesetzt und die Autorität der Vorgesetzten aufrecht erhalten wurde, entsteht im Buch ein ziemlich dunkles Bild. Immer wieder zeigt Schneider, dass diese Autorität mit Privilegien verbunden war, die sachlich nicht bloß nicht gerechtfertigt waren, sondern dem allgemeinen Heeresinteresse geradezu schadeten. Scharf fällt seine Kritik an der Besserstellung der Offiziere bei der Verpflegung aus:43 Alle Offizierskasinos und Offiziersmessen zu Lande und zu Wasser hätten bei Todesstrafe verboten werden müssen. (263)

Die historische Forschung hat herausgearbeitet, dass das Offizierskorps der bayerischen Armee in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg seinen Klassencharakter nicht etwa abmilderte, sondern analog zum preußischen weiter ausbaute.44 Für den Abstand zwischen Offizieren und Mannschaftssoldaten gibt der Roman viele Beispiele. Dabei klaffen in der Welt der »Herren« elitärer Anspruch und Wirklichkeit aus der bürgerlichen Perspektive Perhobstlers merklich auseinander. So liebt der »Major« das obszöne Lied vom Titicacasee, das Perhobstler als »Dreck« bezeichnet und dem er die soliden Infanteristenlieder gegenüber stellt, die »ihnen«, den Offizieren, zu vulgär sind. (82). Schneiders Kritik gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit, dass er ein differenziertes Bild zeigt. Neben üblen Generälen gibt es auch gute, neben despotischen Feldwebeln treten »vernünftige« auf (72). Ob Schneider es als Leutnant besser gemacht hat, wissen wir nicht. Jedenfalls zeigen Perhobstler und die anderen jungen Kriegsoffiziere in der letzten Kriegsphase ein anderes Verhalten: Wir wollten nur richtige Führer unserer Leute sein. Keine Vorgesetzten, sondern ihre Helfer und Berater, wo es notwendig war. Das schloß natürlich ein gesalzenes »Donnerwetter!« nicht aus. Wir wollten mehr Gemeinschaft mit den Leuten, auf die wir selbst oft bis zum Äußersten angewiesen waren, und mit denen wir zu leben und zu sterben hatten. (263)

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Tod und Töten Schneiders Buch ist auch ein Denkmal der trauernden Erinnerung für seine gefallenen Kameraden, und zwar nicht in einem allgemeinen Sinn für die Opfer des Krieges insgesamt, sondern für konkrete Menschen.45 Die Toten des Romans: Durz, Köhler, Lechler, Adam Kirsch, Michel und Krapp, sind keine literarischen Erfindungen, sondern Personen, die tatsächlich gelebt haben. Sinngebungen für das massenhafte Sterben um Perhobstler herum bietet der Roman keine. Typisch ist die Beschreibung von Emil Horns Tod, den der Ich-Erzähler »noch warm und schon tot« im Hohenzollernwerk beim sogenannten Schrapnelleck findet: Er war seit August vierzehn ununterbrochen dabei gewesen und hatte es bis zu dieser Wasserlache im Februar 1916 gebracht. Diese Dreckecke war das Ende seiner Heldenlaufbahn. (148)

Zwei Personenkreise, die Perhobstler umgeben, verschwinden im Lauf des Krieges: Zunächst sind das die Kameraden, die mit ihm eingezogen wurden, von denen einer nach dem andern fällt. Wir waren sieben Landsleute in einer Gruppe. Alle sieben von der Photographie mit den sechs Toten. (10 f.)

Nach seiner Beförderung zum Vizefeldwebel verliert er auch diese Menschen nach und nach an den Krieg: Nun waren alle Offiziere und Vizefeldwebel weg. Acht oder neun an der Zahl. Die Hohenzollernschanze hatte sie gefressen. Die meisten tot, einer blind, ich allein wieder k. v. zur Stelle. (198)

Neben dem Tod der Kameraden und der ständigen Gefährdung des eigenen Lebens setzt sich Perhobstler intensiv mit dem Töten auseinander. Er ist ein guter Gewehrschütze und geht immer wieder der »Kopfjägerei« nach. Damit beginnt er schon bei seinem ersten kurzen Feldeinsatz vor dem Lehmhügel von St. Eloi. Das entsprechende Kapitel nannte Schneider »Ich fange an zu morden«. Dass Perhobstler, der Kinder so gern hatte, nie an die Kinder der Männer denken musste, auf die er sein Gewehr richtete, führt ihn zu einer allgemeinen Einsicht: »So gefährlich ist ein Krieg.« (112) Das Töten hat Schneider belastet. 1929 knüpfte er einen Briefwechsel mit Thomas Mann an, von dem sich zwei Antwortbriefe erhalten haben.46 In einem davon zitiert Mann einen Brief Schneiders, in dem dieser von »meinen vielen 104

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toten Engländern um mich herum« spricht und offenbar ein Verlangen nach »Absolution« äußerte. Mann, der diesen Roman als autobiografisches Dokument auffasste, hat sie ihm jedenfalls erteilt: Ich möchte fragen, wie im Theaterstück: »Ist’s möglich, kann dieser Vorwurf Ihr Gewissen drücken?« Absolution? Die liegt in dem, was Sie ausgestanden, bestanden haben wie ein Mann, Sie und die vielen andern. (391f.)

Sinn des Krieges Die Frage, wofür der Krieg geführt wird, berührt der Roman nur am Rand. Die Notwendigkeit, sich der eigenen Haut immer wieder zu erwehren, ergibt sich für den Erzähler aus der Mittellage Deutschlands. Perhobstler sieht sich hier in einer langen Generationenfolge: [...] es muß wohl so sein, daß einer meiner Vorfahren gegen die Hunnen war. Einer bei den Kreuzzügen, einer bei Jörg von Frundsberg, einer bei Herzog Bernhard von Weimar im Dreißigjährigen Krieg, einer beim Alten Fritz, einer als Bayer bei Napoleon bis tief in Rußland drin. Einer war 48 dabei. Mein Großvater 70. (89)

Für die politische Position, die Schneider in seinem Roman andeutet, ist es bezeichnend, dass er sich, was den Dreißigjährigen Krieg angeht, der protestantischen Seite zugesellt und, für einen Pfälzer nicht ungewöhnlich, in die Tradition der Revolution von 1848 stellt. Der Weltkrieg erscheint im Roman als schicksalhaftes Geschehen, dem sich der wehrfähige und wehrpflichtige Teil des deutschen Volkes stellen musste und mit dem er sich abzufinden verstand. Trotz der Zurückweisung heroisierender Stilisierungen verlangt Schneider Anerkennung für die soldatische Leistung der Kriegsteilnehmer. Gollbach teilte 1978 die Kriegsromane in »kriegskritische« und »kriegsbejahende« Bücher ein. Für Texte, die sich in diese Typologie nicht einfügten, entwickelte er als dritte Kategorie die der »ambivalenten« Kriegsromane, denen er Schneiders Buch zurechnete.47 Indes passt Schneiders Buch in diese Kategorisierung gar nicht hinein. Das Pro und Contra des Krieges wird dort nicht erörtert. Der Krieg ist einfach »da«.

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Kameradschaft Die Kameradschaft, genauer gesagt die Kameradschaft der Frontsoldaten, gehört zu den großen Mythen, die sich um den Ersten Weltkrieg gebildet haben. Remarque sprach in Im Westen nicht Neues vom »Besten [...], was der Krieg hervorbrachte«.48 Schneider entwirft ein differenziertes Bild vom Umgang der Soldaten miteinander. Sarkastisch schreibt er, »das Herrlichste im ganzen Krieg« seien »der Appetit und das Essen« gewesen. (15) Vorbildlich sei das Verhalten der Pioniere untereinander und der Infanterie gegenüber gewesen, während sich die Infanteristen nur »selten« so betragen hätten, abgesehen von den »Landsleuten«, also Soldaten aus dem gleichen Dorf oder Stadtteil. (39) Gewalt, auch Diebstahl ist unter den sogenannten Kameraden jedenfalls nicht ausgeschlossen. Auch Perhobstler muß sich mehrfach in Schlägereien behaupten (z.B. 13–15) und stiehlt dem Philipp Herter aus Ludwigshafen den Tornister, nachdem er den seinen auf eben diese Weise verloren hatte und nun seine Ausrüstung wieder vervollkommnen muss. (23) Diebstahl von Ausrüstungsgegenständen war in der Armee tatsächlich nicht ungewöhnlich. Franz Schauwecker schildert es in seinem Frontbuch als allgemeines Verhalten, und er liefert auch die Begründung dazu:49 Der gemeine Soldat hat an der Front zum überwiegenden Teil kein persönliches Eigentum, sondern Ausrüstungsstücke, Staatseigentum. Die Frage des Mein und Dein ist also wirklich nicht ganz so einfach zu beantworten. Mein Tornister könnte ebensogut der meines Nachbarn sein und umgekehrt [...].

III. Rezeption Schneiders Weltkriegsroman fand in ganz unterschiedlichen politischen Lagern Anklang. Friedrich Georg Jünger, den national gesinnten Kreisen zugehörig, in denen sich auch sein Bruder Ernst bewegte, sah in der Romanfigur einen klassischen Repräsentanten des deutschen Weltkriegssoldaten: Ehrlicher Perhobstler, guter ungeleckter Bär, dessen rauhes Fell auch durch den exakten Schnitt der Offiziersuniform durchzottelt, wer wäre dir in Vergangenheit und Gegenwart noch nicht begegnet! Hast du nicht in die verschollenste Schlacht noch deinen Streitkolben und deine Arkebuse getragen! Trefflicher Schütze und Sohn deutscher Erde, dem beim Anblick der kleinen Kinder die heißen Tränen ins Auge drangen. Wie erquickend ist dein Mangel an Urbanität, wie kostbar deine Ungeschliffenheit, wie liebenswert deine Gestalt, die den Duft von Wald und Korn und immer gehaltreicher Scholle verbreitet.50 106

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Schneider, wohl mit seinem Buch, um 1930. Fotoalbum Schneider, Privatbesitz 107

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Thomas Mann, fest auf dem Boden der Republik stehend, zeigte sich in seinem Brief an Schneider vom 7. Juli 1929 geradezu ergriffen von dem Buch. Es gehöre zu den stärksten und wahrhaftigsten (ich war nicht dabei, aber die Wahrheit ist nicht zu verkennen, auch wenn man sie nicht kontrollieren kann), und man empfindet es als Wohltat mit, daß jetzt mit solchen Wahrheitsbüchern den Zahllosen, die nicht zu schreiben wissen, »ihr Schicksal von der Seele geschrieben wird«, wie Sie es in Ihrem Briefe sagen.51

Auch andere Vertreter des demokratischen Deutschland beeindruckte der Infantrist Perhobstler. Der Rezensent der Deutschen Republik, Ernst Leonard, sah in dem Werk »ein aufwühlendes, ehrliches Dokument des Krieges«, das den Krieg nicht zeige, »wie wir ihn sehen, sondern wie wir ihn gelebt haben.« Er hoffte, das Buch werde Remarques Auflagenhöhe erreichen: Denn durch eine durchlöcherte Welt kann man hier gut in die Hintergründe blicken. So war es! So war der Krieg, so und kein bißchen anders. So roh, so atemberaubend und beinahe so selbstverständlich.52

Die »Wahrheit« bildete die wichtigste Kategorie bei der Aufnahme der Frontromane durch das Publikum.53 Leonard wollte »aus diesem Buch keine Literatur machen. Denn es ist ein aufwühlendes, ehrliches Dokument des Krieges. [...] Das ist der Krieg selbst.«54 Pater Erhard Schlund, der als Feldgeistlicher bei der 3. Bayerischen Infanteriedivision eingesetzt war, kannte den Schauplatz von Schneiders Erzählung aus eigener Anschauung und bestätigte ihre Zuverlässigkeit: Von den Schilderungen Michaels in Carvin muß ich sagen, daß alles genau stimmt, ich kann die Straßen bezeichnen und sogar die französischen Zivilbewohner mit Namen nennen, von denen Michael erzählt.55

Einige Besprechungen erwähnten eine geradezu photographische Genauigkeit der Schilderung: »Etappe, Stabsoffiziere, Grabenoffiziere, Truppe in Ruhe, Truppe im Gefecht werden blendend photographiert«56 und zwar durch eine »schonungslos offene und unretuschierte Photographie«.57 Der Germanist Arno Schirokauer58 übertrug dieses Bild in der Literarischen Welt auch auf die Schilderung seelischer Zustände: »eine sehr ursprüngliche und urwüchsige Natur erzählt, nein photographiert ihre Bluträusche«.59 Die Rezensenten zogen Vergleiche zwischen Schneiders Buch und anderen damals intensiv diskutierten Werken. Der General-Anzeiger Ludwigshafen 108

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a.Rh. sah in Schneiders Text »das bayerische, ja man darf sagen das pfälzische Gegenstück zu Renns ›Der Krieg‹«.60 Es war »die Absichtslosigkeit des Berichts«, was das Stuttgarter Neue Tagblatt die Verbindung zu Renn ziehen ließ.61 Arno Schirokauer, im Krieg selbst schwer verwundet, maß Schneiders Roman an Renn und Remarque, dem er bescheinigte, »eine immense Kriegsepik geschrieben« zu haben. Doch werde dessen Buch »immer dann behaglich, wenn seine Grauenhaftigkeit grade zu erschüttern begann. Seine Entsetzlichkeiten werden homöopathisch eingeflößt.« Bei Renn, so empfand Schirokauer, war das anders, weshalb er Schneiders Roman »das bayerische Gegenstück zu Renn« nannte.62 Im Westen nichts Neues bildete angesichts seines ungeheuren Verkaufserfolges und des Aufsehens, das es erregte, gewissermaßen den Urmeter bei der Einstufung anderer Frontromane. Ein Pfälzer Blatt schrieb, dass sich »Michael zuweilen mit Remarque auf ein und derselben Linie« treffe, aber mit den geschilderten Verhältnissen persönlich viel enger verbunden sei und deshalb »die wirkliche Wahrheit des deutschen Soldaten« sagen konnte.63 Ähnlich urteilte Artur Hennig in der Tilsiter Allgemeinen Zeitung.64 Hennig stand Remarques Roman positiv gegenüber, den er als das authentische Vermächtnis des Frontkämpfers bezeichnete. Wegen seines überlegenen Realismus stellte er Schneiders Buch jedoch über das Werk Remarques: »durch die elementare Art seines Berichtes [lässt es] dieses ungeheure Geschehen in seiner Größe und Gewalt in uns auferstehen«. Andere Stimmen lehnten zwar Im Westen nichts Neues ab, gelangten aber doch zu einem positiven Urteil über den Perhobstler-Roman. Der Rezensent der Pfälzischen Rundschau empfand »nach den ersten Sätzen wieder einen etwas faden Geschmack auf der Zunge – das begann wie Remarque«. Doch dann stellte er beim Weiterlesen fest, daß sich der Verfasser [mehr und mehr] frei von zeitgemäßen Vorurteilen [macht], mehr und mehr [...] sich als ein echter und rechter Landsknecht, als ein tapferer, zäher und anständiger Frontsoldat

entpuppt. Zwar erinnere in Stil und Darstellung des Buches manches an Remarque, aber dafür »besitzt es ein Gegengewicht – die Gesinnung!«65 Ähnlich urteilte der Bayerische Kurier, der die Militärkritik Schneiders akzeptierte, weil der Verfasser »durchaus vaterländisch« denke und sich seine Schilderungen »nicht gegen das Militär schlechthin wie bei Remarque« richteten.66 Von wenigen Ausnahmen abgesehen67 fand der Infantrist Perhobstler bei der zeitgenössischen Kritik freundliche Aufnahme, und zwar in verschiedenen politischen Lagern. Rezensenten mit einem rechten Standpunkt nahmen die Kritik an den Zuständen in der Alten Armee meistens hin, weil sie von einem tapferen Soldaten geäußert wurde, während linke bzw. republikanisch ausgerichtete Stim109

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men die schonungslose Darstellung des Kriegselends und das humane Pathos des Autors schätzten. Den Test auf »Wahrhaftigkeit« bestand das Buch glänzend.

IV. 1934: Perhobstler geht mit der Zeit Der Infantrist Perhobstler passte nicht in den Staat, der sich nach dem 30. Januar 1933 etablierte. Eine neue Ausgabe des Romans, die 1934 erschien,68 reagierte auf die gewandelten politischen Umstände. Schon äußerlich hob sich der Band von früheren Ausgaben ab. Diese kamen in weißem Leineneinband und waren in Antiqua gesetzt, während die neue Ausgabe in grünlicher Leinwand gebunden und in Fraktur gedruckt war. Größere Bedeutung besitzen freilich die Veränderungen des Textes. Darin wurden zahlreiche Stellen entschärft, die den neuen Herren missfallen konnten. So heißt das Kapitel »Ich fange an zu morden« nun »Ich fange an«. Major L. verschwindet aus dem Buch. Der bittere Ton, in dem Perhobstler in der ursprünglichen Fassung von der Armee spricht, erscheint nun abgemildert. Der Roman endet in der neuen Fassung von 1934 mit einem Satz, der eine Prophezeiung des neuen Deutschland sein soll: Und so bist du, deutsches Volk, ausgeschaltet aus der gestaltenden Geschichte, bis das große Feuer dich durchglüht und jeden, jeden kleinen Teil so fest an den anderen gebunden hat, daß dich keine schwarzmahlenden Mühlen mehr zermahlen können.

Zwar bestimmen immer noch der kritische Abstand zum Militärapparat und die Trauer um die vielen Toten den Leseeindruck. Das humane Pathos ist verblasst, nicht getilgt. Die Spontaneität der Erzählung, ihr Bekenntnischarakter wurde durch die Überarbeitung aber wesentlich beschädigt, so dass neben der ethischen auch die ästhetische Qualität des Textes gelitten hat. Diese Anpassungen konnten den Roman indes nicht retten. Die Reichsarbeitsgemeinschaft Deutscher Werkbüchereien69 führte den Infantrist Perhobstler in einer Liste von »wenig empfehlenswert[en] bzw. ungeeignet[en]« Büchern und bat 1936 um seine Entfernung aus den Bibliotheksbeständen.70 In der 1935 erschienenen Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums,71 die eine einheitliche Handhabung der Zensur ermöglichen sollte, tauchte der Roman aber noch nicht auf. Diese Liste erwies sich als unzulänglich und wurde 1939 durch eine neue Zusammenstellung ersetzt.72 Diese enthielt nun den Infantrist Perhobstler und führte ihn unter dem Autornamen »Wilhelm Michael«.73 Alle von der Liste erfassten Werke waren in allen Auflagen verboten, in unserem Fall also auch die überarbeitete von 1934.74 Weil die Liste stets das Erscheinungsjahr der letzten Auflage zitierte,75 nannte sie 110

Wilhelm Michael Schneiders Infantrist Perhobstler

ironischerweise gerade jene politisch korrekte Ausgabe, mit der Autor bzw. Verlag versucht hatten, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Nach 1945 zog die DDR den Roman aus dem Verkehr.76 Die Bundesrepublik hat ihn vergessen.

Fazit Wenn es stimmt, dass die Kriegsbücher über den Ersten Weltkrieg »den kollektiven psychischen Status der Beteiligten, deren kollektive und subjektive Reaktion auf extreme Erfahrung sowie auf die Wahrnehmung ihrer veränderten Qualität« zu zeigen vermögen,77 dann gilt das ganz besonders für Schneiders Buch. Zur Einordnung der Frontromane zwischen Fiktion und Autobiographie hat Astrid Erll ein »Skalenmodell« vorgeschlagen.78 Auf einer solchen Skala wäre Schneiders Buch recht nahe an einer Autobiographie, angesichts der ebenfalls nachweisbaren fiktionalen Anteile jedoch noch ein Stück vom Anschlag entfernt. Auch die ideologische Dimension des Textes könnte man mit einer Skala veranschaulichen. Zwischen den Polen der heroisierend-nationalen Texte und denen, die aus dem Geist der Weimarer Republik heraus entstanden sind, befindet sich der Infantrist Perhobstler in seiner ursprünglichen Gestalt ganz bei Weimar. Schneider war sich dessen bewusst. Sonst hätte er sich mit der Bitte, sich für sein Buch einzusetzen, nicht an Thomas Mann gewandt. Da der Roman, wie die Rezeption gezeigt hat, sowohl vom soldatisch-nationalen als auch vom demokratischen Lager freundlich aufgenommen wurde, markiert er eine der in Deutschland so seltenen Positionen, die eine Vermittlung zwischen den Lagern hätten einleiten können. Gewiss ist es richtig und notwendig, die Kriegsbücher über den Ersten Weltkrieg als Dokumente ihrer Entstehungszeit und nicht naiv als authentische Botschaften aus dem Krieg selbst zu lesen. Wie die Zeitsituation auf Bücher einwirkt, zeigen gerade die Varianten des Perhobstler-Romans, die durch das Jahr 1933 getrennt werden. Das schließt aber nicht aus, dass Autoren wie Schneider ernsthaft versucht haben, an die Extremerfahrungen ihrer Biografien so nahe wie möglich heran zu kommen. Dass diesem Streben und insbesondere der Mitteilung solcher Erfahrungen Grenzen gesetzt sind, wird im Roman selbst reflektiert. Würde der erinnernde Zugriff auf die Vergangenheit nur noch als Funktion der Zeit begriffen, in der diese Erinnerung stattfindet, führte das, zu Ende gedacht, dazu, das Resultat solcher Beschäftigung überhaupt als Fiktion zu begreifen. Zum heuristischen Nutzen einer solchen These wollen wir uns indes ausdrücklich bekennen. Jeder Blick zurück schaut durch einen Filter, der spiegelt.

111

Dieter Storz

Anmerkungen 1

Dieser Aufsatz ist die überarbeitete und gekürzte Fassung eines früheren Aufsatzes: Dieter Storz, »›Infantrist Perhobstler‹. Ein vergessener Frontroman der Weimarer Republik«. Josef Johannes Schmid (Hg.). Arte & Marte. In Memoriam Hans Schmidt. Eine Gedenkschrift seines Schülerkreises. Bd. 2. Herzberg 2000, 469–533. 2 Wilhelm Micheal Schneider. Infantrist Perhobstler. Mit bayerischen Divisionen im Weltkrieg. Neu herausgegeben mit Anmerkungen, Bilddokumenten und einem Nachwort von Dieter Storz, Wien 2014. 3 Thomas F. Schneider, Julia Heinemann, Frank Hischer, Johanna Kuhlmann, Peter Puls. Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914–1939. Göttingen 2008, 450. 4 Max Heinz. Loretto. Aufzeichnungen eines Kriegsfreiwilligen. Berlin 1929. 5 »Dies ist ein Bekenntnisbuch von rücksichtsloser Ehrlichkeit. Michael hat den bayerischen Renn geschrieben. Etappe, Stabsoffiziere, Truppe in Ruhe, Truppe im Gefecht werden blendend photographiert. Unvergeßlich sind Kapitel, die eine seelische Situation beleuchten, durch sie wird das Buch wirken, durch sie wird es leben, wenn die Konjunktur in Kriegsbüchern längst vergessen ist. (Die Literarische Welt)«. In der gleichen Ausgabe des Börsenblattes meldete der Propyläenverlag bereits die Auslieferung des 501.–510. Tausend von Im Westen nichts Neues (4133). 6 Wilhelm Michael Schneider, in: Kurpfalz 12 (1961), 1. 112

Kornelia Vogt-Praclik. Bestseller in der Weimarer Republik 1925–1930. Eine Untersuchung. Herzberg 1987, 49. 8 Die Ausführungen zu Herkunft und militärischer Laufbahn folgen Schneiders Offiziers-Personalakte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv [fortan: Bayer. KA], OP 28341. 9 Tagelöhner; Arbeiter ohne festes Arbeitsverhältnis. 10 Bayer. KA, Kommandantur Hammelburg 1, Geschichte des Truppenübungsplatzes Hammelburg 1897–1919. 11 Bayer. KA, OP 28341. 12 Ebd. 13 Bayer. KA, 23. IR, Bd. 31, III. Bataillon, Kriegstagebuch Januar 1917. 14 Personalakt Weech, Bayer. KA, OP 29427. 15 Bayer. KA, Kommandantur Hammelburg 1. 16 Bayer. KA, Personalakt Taeuffenbach, OP 21914. 17 Bayer. KA, Personalakt Andreas Weiß, OP 35320; Weiß bekleidete abwechselnd beide Posten. 18 Geb. am 21.11.1894, Taglöhner; gefallen am 23.06.1916, Bayer. KA, Kriegsstammrolle 2006, Nr. 549. 19 Geb. am 15.01.1894, gefallen am 18.03.1916, Bayer. KA, Kriegsstammrolle 2014, Nr. 415. 20 Geb. am 25.02.1894, gefallen am 29.01.1918, Bayer. KA, Kriegsstammrolle 2014, Nr. 419. 21 Geb. am 24.09.1894, gefallen am 14.03.1915, Bayer. KA, Kriegsstammrolle 2014, Nr. 413. 22 Geb. am 15.06.1894, gefallen am 14.03.1915, Bayer. KA, Kriegsstammrolle 2014, Nr. 420. 7

Wilhelm Michael Schneiders Infantrist Perhobstler

Robert Ruchte. Das K.B. 27. Infanterie-Regiment. München 1932. 24 Bayer. KA, 23. Infanterieregiment, Bund 31, Akten III. Bataillon, Eintrag vom 04.03.1916. 25 Ebd. 26 Bayer. KA, Kriegsstammrolle 2014. 27 Bayer. KA, 23. Infanterieregiment, Bund 6, Ersatzbataillon, 1445. 28 Bayer. KA, 27. Infanterieregiment, Bund 3. 29 Hans-Harald Müller. Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, 67ff.; besonders drastisch die Einlassung von Hans Zöberlein im Völkischen Beobachter vom 14.08.1929: »Im Westen nichts Neues. Die Antwort eines Frontsoldaten an Remarque«. Zur Diskussion über Authentizität/Faktizität bei Remarque vgl. Thomas F. Schneider. Erich Maria Remarques Roman »Im Westen nichts Neues«. Text, Edition, Entstehung und Rezeption (1928–1939). Tübingen 2004, 293–295, 373–398. 30 Matthias Prangel. »Das Geschäft mit der Wahrheit. Zu einer zentralen Kategorie der Rezeption von Kriegsromanen der Weimarer Republik«. Jos Hoogeven, Hans Würzner (Hgg.). Ideologie und Literatur(wissenschaft). Amsterdam 1986, 47–78, 57f. 31 Ebd. 32 Thomas F. Schneider, »Im Westen nichts Neues«, 280–282. 33 Paul Fussell. The Great War and Modern Memory. New York, London 1975, 207. 34 Thomas F. Schneider. »Zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktion. Zur deutschen Kriegsliteratur im Ersten Weltkrieg«. Rolf Spilker, Bernd Ulrich (Hgg.). Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte 23

Krieg 1914–1918. Bramsche 1998, 142–153, 152f. 35 Müller, Der Krieg und die Schriftsteller, 303; so auch Thomas F. Schneider, »Im Westen nichts Neues«, 423. 36 Prangel, »Geschäft mit der Wahrheit«, 60. 37 Ralph Andraschek-Holzer. »Österreichische Prosa zum Ersten Weltkrieg im Vergleich«.Wolfram Dornik, Julia Walleczek-Fritz, Stefan Wedrac (Hgg.). Frontwechsel. Österreich-Ungarns »Großer Krieg« im Vergleich. Wien, Köln, Weimar 2014, 163–189, 173f. 38 Kurt Möser. »Kriegsgeschichte und Kriegsliteratur. Formen der Verarbeitung des Ersten Weltkrieges«. Militärgeschichtliche Mitteilungen (1986), 2, 39–51, 39f. 39 Ebd., 42. 40 Ulrich Broich. »›Hier spricht zum ersten Male der gemeine Mann‹. Die Fiktion vom Kriegserlebnis des einfachen Soldaten in Ludwig Renn: Krieg (1928)«. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53 (2003), 207–216. 41 Leib-Grenadierregiment Nr. 100. 42 Martin Hobohm. Soziale Heeresmißstände als Teilursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918 = Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages. 4. Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918. 2. Abt.: Der Innere Zusammenbruch. Bd. 11,1, Berlin 1929. 43 Ebd., 123–150, Kapitel »Ungleiche Ernährung«. 44 Hermann Rumschöttel. Das bayerische Offizierkorps 1866–1914. Berlin 1973, 91–101. 113

Dieter Storz

45 Zur Bedeutung des Totengedenkens als »›Ur-Szene‹ des kollektiven Gedächtnisses« vgl. Astrid Erll. Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier 2003, 7, 115. 46 Abgedruckt in Storz, »Infantrist Perhobstler«, 525f., sowie im Nachwort der Neuausgabe (391f.). 47 Gollbach, Wiederkehr, 256. 48 Zit. nach Thomas F. Schneider, »Im Westen nichts Neues«, 45; zu dieser Stelle vgl. Thomas F. Schneider, »›Krieg ist Krieg schließlich‹. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (1928)«. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53 (2003), 217–232, 227; zur Bedeutung der Kameradschaft für Remarque vgl. Müller, Krieg und die Schriftsteller, 55 ff. 49 Franz Schauwecker. Das Frontbuch. Die deutsche Seele im Weltkriege. Halle 1927, 185f. 50 Friedrich Georg Jünger. »De bello maximo«. Der Tag (Berlin), 02.06.1929. 51 Storz, »Infantrist Perhobstler«, 525f. 52 Deutsche Republik 3 (1929), H. 50, 14.09.1929, 1591f. 53 Prangel, »Geschäft mit der Wahrheit«; dazu auch Müller, Krieg und die Schriftsteller, 3ff., Erll, Gedächtnisromane, 95, 129. 54 Deutsche Republik 3 (1929), H. 50, 14.09.1929, 1591f. 55 P. Erhard Schlund. »Der Kriegsroman und die Religion im Kriege«. Academia. Monatsschrift des CV der Katholischen Deutschen Studentenverbindungen 42 (1929), 15.08.1929, 87–90, 89. 56 General-Anzeiger Ludwigshafen a. Rh., 03.05.1929. 57 Badischer Beobachter, 24.12.1930. 114

58

http://de.wikipedia.org/wiki/Arno_ Schirokauer, 17.03.2015. 59 Die Literarische Welt, 03.05.1929. 60 General-Anzeiger Ludwigshafen a. Rh., 03.05.1929; so auch Die Literarische Welt, 03.05.1929. 61 Stuttgarter Neues Tageblatt, 03.07.1929. 62 Die Literarische Welt, 03.05.1929. 63 General-Anzeiger Ludwigshafen a. Rh., 03.05.1929. 64 Artur Hennig. »Kriegsbücher und kein Ende ...«. Tilsiter Allgemeine Zeitung, 09.06.1929. 65 Pfälzische Rundschau, 12.05.1929. 66 Literarische Beilage zum Bayerischen Kurier, Februar 1930. 67 Besprechung in der Greifswalder Zeitung, 26.06.1930. 68 Die neue Ausgabe ist wie die früheren undatiert. Wir übernehmen die Angabe des Deutschen Bücherverzeichnisses für die Jahre 1931–1934, 282. Das Bücherverzeichnis spricht zwar von einer »ungekürzten Sonderausgabe«, doch liegt hier offenkundig eine Verwechslung vor, denn der angegebene Umfang von 290 Seiten passt genau zu der hier besprochenen überarbeiteten Fassung. Eine Sonderausgabe mit leichten Veränderungen am ursprünglichen Text hat es tatsächlich gegeben. Auf sie wird im Nachwort der Neuausgabe eingegangen. 69 Bei den Werkbüchereien handelte es sich um die Bibliotheken von Unternehmen, vgl. Jan-Pieter Barbian. Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Frankfurt/Main 1993, 357ff. 70 Bundesarchiv Berlin, Reichskulturkammerakte Wilhelm Michael Schneider, R 56 V/72, Blatt 39 u. 76, Schreiben vom 20.05.1936. 71 Ein Exemplar im Institut für Zeitgeschichte, München.

Wilhelm Michael Schneiders Infantrist Perhobstler

Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, Stand 31.12.1938, Leipzig o. J. [1939]; auch von dieser Liste findet man ein Exemplar im Institut für Zeitgeschichte, München. 73 Ebd., 95. 74 Ebd., Vorbemerkung. 75 Ebd. 72

Liste der auszusondernden Literatur. Hg. vom Ministerium für Volksbildung der deutschen Demokratischen Republik. 3. Nachtrag. Berlin 1953. 77 Möser, »Kriegsgeschichte und Kriegsliteratur«, 49. 78 Erll, Gedächtnisromane, 130, Anm. 170. 76

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John H. Mazaheri

À Propos de la guerre dans La Chapelle ardente de Gabriel Marcel

La revue hebdomadaire La Petite Illustration consacrait son numéro du 7 novembre 1925 à la publication de La Chapelle ardente de Gabriel Marcel, une pièce en trois actes représentée pour la première fois le 25 septembre de cette année-là par le Théâtre des Jeunes Auteurs au Vieux-Colombier à Paris. Dans son »Introduction«, Robert de Beauplan, en la comparant à quelques pièces antérieures de Marcel, estime qu’ »Il n’y a aucune obscurité dans cette œuvre, dont la construction et la progression dramatiques sont parfaites«.1 Je ne dirai rien au sujet de la »perfection«, vu que c’est un jugement personnel et subjectif,2 mais pour ce qui est de la clarté, il me semble pourtant qu’il y a dans cette pièce suffisamment d’ambiguïté pour permettre différentes interprétations. R. de Beauplan cite aussi à l’appui de son argument un autre critique, Benjamin Crémieux, lequel avait écrit dans l’Europe Nouvelle: »La Chapelle ardente est le premier essai décisif de Marcel pour sortir des sujets un peu exceptionnels, jeter brusquement des individus jusque-là moyens et ordinaires dans la situation la plus tragique, et les mettre malgré eux aux prises avec les plus hautes difficultés morales et humaines« (cité par Beauplan, C1). Je ne puis qu’approuver cette appréciation, et je suis également d’accord avec Adriano Tilgher, un autre critique de l’époque, qui écrit au sujet du théâtre de G. Marcel en général: Le sujet fondamental de ses drames est le conflit des sentiments qui se poursuit dans l’âme de ses personnages. Ceux-ci acquièrent peu à peu la conscience de ce qui se passe en eux: ce conflit leur apparaît comme une antinomie qui déchire la vie de l’esprit, comme un combat d’idées qui va jusqu’au bout, brise les liens les plus forts créés par les lois de la nature, de l’affection et détache le mari de la femme, le fils des parents […]. (cité par Beauplan, C1) 117

John H. Mazaheri

Ce que je me propose justement de faire ici, c’est de montrer comment à propos de la guerre une famille se trouve déchirée, et comment un conflit moral oppose la femme à son mari. R. de Beauplan écrit encore au sujet de l’auteur de cette pièce que, Avec une rigueur implacable, il analyse l’âme d’une mère qui ne peut pardonner au monde entier d’avoir perdu son fils à la guerre et que sa douleur même rend monstrueuse. Il lui faut, autour d’elle, des larmes et de la souffrance. Elle voudrait arrêter la vie et enlever aux autres toute possibilité de bonheur. (Beauplan, C2)

D’abord, cette mère ne me semble pas du tout »monstrueuse«. Aline est même une femme très sensible. Mais là n’est pas la question. Mon but, en me penchant essentiellement sur les dialogues entre le mari et la femme, consiste à mettre en évidence les deux points suivants: d’un côté l’incommunicabilité ou l’incompréhension mutuelle et, de l’autre, la pensée de l’auteur relative à la guerre. Ainsi, pour revenir encore à Beauplan, je ne saurais approuver son jugement au sujet du dramaturge, suivant lequel ce dernier »ne s’apitoie pas sur les victimes«, qu’ »Il ne suscite pas notre compassion« et qu’ »il lui suffit de développer comme un théorème et jusque dans leurs dernières conséquences les effets de cette psychose exceptionnelle« (Beauplan, C2). Quoi qu’il en soit, le thème de la guerre, auquel se trouvent associés ceux de la mort, de la vanité et de l’égoïsme, est sans doute aussi un thème majeur dans cette pièce. Quant à la voix de l’auteur, elle est implicite et plutôt ambiguë. Mais on verra que ce philosophe est loin d’être aussi indifférent ou distant que ne le pensait notre critique.3 Enfin, notre lecture se bornera à celle de l’Acte I, puisque c’est là que se pose essentiellement la question de la guerre. D’autres thèmes deviendront plus importants dans les actes suivants.

* Au lever du rideau, nous voyons Aline, une bourgeoise d’un certain âge, assise dans son salon à la campagne. Or elle a récemment perdu son fils, Raymond, à la guerre. La scène se situe en effet peu de temps après la Première Guerre Mondiale, et elle est donc toujours en deuil. Si elle a appelé Louise, c’est qu’elle avait été fortement contrariée en voyant dans le jardin, à travers la porte-fenêtre, les jouets d’enfance de son fils disparu, et qu’elle voulait que la bonne lui en fournît une explication. Qui les avait fait sortir du grenier pour les donner à Jacquot? Quoique celui-ci fût son petit-fils, la vue de ces objets étant trop douloureuse 118

La Chapelle ardente de Gabriel Marcel

pour la mère, elle les aurait laissés où ils étaient pour le moment. Ces jouets avaient pour elle une valeur sentimentale particulière que ne comprennent pas les autres membres de la famille, et surtout pas sa fille Yvonne. C’est elle qui avait décidé, sans demander l’avis de sa mère, de donner les jouets à son propre fils. Dès ce début, l’auteur nous met ainsi devant une situation bien ordinaire de la vie familiale, simple en apparence, et pourtant un peu tragique. Un détail qui n’intéresse qu’un philosophe existentialiste ou un romancier réaliste. Il ne s’agit encore ni de mort, ni de guerre, mais de l’incompréhension mutuelle chez les membres d’une même famille. Cette solitude que chacun éprouve au quotidien est une question essentielle de la pièce. Bref, cette mère a été tellement bouleversée par la mort de son fils, que tous les objets qui lui appartenaient, surtout ceux des douces années de son enfance, comme justement ces jouets, lui semblent précieux. Ce sont pour elle presque comme des reliques. Elle comptait en fait »faire faire un meuble« pour les y mettre (I, 3, 3). Yvonne perçoit bien une certaine religiosité associée à ce sentiment maternel, mais elle ne comprend toujours pas sa mère, uniquement parce qu’elle est différente, ou peut-être parce qu’elle n’aimait pas son frère de la même manière. C’est pourquoi, d’un ton sarcastique, elle lance ce mot à Aline: »Tu n’as pas la religion du passé, tu en as la superstition« (I, 3, 3).4 Mireille, la belle-fille, comprend beaucoup mieux cette femme malheureuse: »Il faut respecter ces sentiments-là«, dit-elle à Yvonne (I, 3, 3), mais c’est aussi parce qu’elle veut faire plaisir à sa belle-mère et se rapprocher davantage d’elle. C’est aussi pour cela qu’elle a soudain décidé de l’appeler »Maman« (I, 2, 2). Cependant, cela ne prouve pas qu’elle puisse vraiment se mettre à la place de celle-ci. Quand Aline pense à son fils en revoyant ses jouets d’enfance, ce sont des idées de tendresse et de bonté qui lui viennent à l’esprit. Mireille aimait sans doute beaucoup son mari, plus encore peut-être que ne l’aimait la sœur, mais les jouets en question ne peuvent pas avoir pour elle, malgré toute sa bonne volonté et gentillesse, la même valeur qu’ils ont pour la mère. C’est pourquoi Aline lui dit: »Non, toi, tu ne l’as pas eu à toi tout petit, tu ne le revois pas comme je le revois, moi… quand on les lui apportait dans son lit, quand il jouait au jardin, quand il les prêtait, quand il les donnait […] il aimait tant donner« (I, 4, 3). Ainsi, elle aimait son fils d’autant plus qu’il était, selon elle, particulièrement bon et généreux, déjà enfant. Le dernier mot, »il aimait tant donner«, exprime non seulement une grande qualité morale chez le petit, mais aussi chez la mère. Elle apprécie donc la charité et le partage des biens. Alors si elle semble rude envers Mireille, c’est en raison de son profond chagrin. Cela l’a sans doute rendue un peu dure et égoïste, mais l’auteur ne semble pas du tout la condamner pour autant. L’attitude du personnage est assez commune, somme toute. G. Marcel nous demanderait même peut-être de nous mettre à la place d’Aline et d’être indulgents et compréhensifs. C’est justement ce qui dépasse le mari. 119

John H. Mazaheri

Qu’Aline ne comprenne pas Octave, elle non plus, cela est certain, mais l’incompréhension de l’un n’a pas la même valeur que celle de l’autre. Cette réciprocité ne les rend pas égaux au niveau des sentiments. Si l’égoïsme semble être le point commun, il est d’une nature différente. En effet, si Aline ne pense qu’à son propre malheur, Octave ne pense qu’à sa propre gloire. Il y a bien là une différence fondamentale. L’auteur, qui n’est ni Aline, ni Octave, nous montre d’un côté une femme malheureuse et endeuillée, et de l’autre un homme vaniteux, quoique »normal«. Il est évident que ce qu’éprouve Aline est un sentiment positif, puisqu’il s’agit d’amour. Elle est attristée que son fils, si jeune, ait été tué. Et Octave, lui, ne pense même pas à cette tragédie qu’est la perte d’un enfant. La seule chose qui le préoccupe, ce sont ses »bons« souvenirs de guerre, la gloire, l’orgueil du vainqueur, enfin des choses qu’il veut publier pour satisfaire sa propre vanité. Mais il croit aussi honorer la mémoire de son fils. Bref, ce conflit entre les deux époux fait que dès l’entrée d’Octave sur la scène (I, 5) la tension monte. Aline, en cachant aussitôt les photographies de son fils, dont elle voulait faire cadeau à Mireille, est presqu’en colère à la vue de son mari. Elle pense qu’il n’aimait pas vraiment son fils, et qu’il est également indifférent envers elle puisque son état à elle ne le touche pas apparemment. Elle pense sans doute, et elle n’aurait pas tort, qu’Octave est un homme égoïste et vaniteux, mais cela n’est pas nécessairement l’opinion de l’auteur. Elle ne voulait pas qu’il les voie, ces photos, puisqu’il ne semblait point affligé par ce malheur familial, et puis, qui sait? Il voudrait peutêtre même utiliser ces photos pour son livre. En effet, la raison pour laquelle il est venu les voir, sa femme et sa bru, justifie ce sentiment d’Aline. Il ne se rend absolument pas compte de l’état malheureux dans lequel se trouve celle-ci. D’ailleurs, nous voyons bien que ce qu’elle vient de cacher brusquement ne l’intéresse même pas. Une simple et unique question, »Qu’est-ce que c’est« (I, 5, 3), suivie de la réponse laconique d’Aline, »Aucun intérêt«. Cela ne va pas plus loin. Aucune curiosité à ce sujet de la part d’Octave. Et oubliant immédiatement cela, il revient à son motif, ce qui l’a fait venir au salon. Et donc s’adressant aux deux femmes à la fois, il déclare: »Je viens faire appel à votre mémoire: vous rappelez-vous, par hasard, ce qu’est devenu le lieutenant de Cluny? Il a dû passer au 154e, en février dix-huit. Mais depuis? Il me semblait que nous avions appris […]« (I, 5, 3). La sèche réponse d’Aline, »Je n’ai aucune idée là-dessus« (I, 5, 3), n’est qu’une réaction normale à l’indifférence d’Octave envers son état. Par ailleurs, elle ne s’intéresse sincèrement point à ce livre qu’écrit son mari, car il est au sujet de cette même guerre qui a emporté son fils. Comment pourrait-elle l’aider dans un tel moment? Comment ne comprend-il pas que cela est déplacé, sinon cruel? Mais lui, entièrement préoccupé par sa propre vie, par sa fierté d’ancien soldat, par ses souvenirs de guerre, par ses succès militaires, ne voit rien d’autre. Par ailleurs, comment le spectateur ou lecteur pourrait-il faire abstraction des circonstances 120

La Chapelle ardente de Gabriel Marcel

et ne pas donner plutôt raison à la mère, sans pour autant être antimilitariste ou pacifiste? Octave, si éloigné mentalement de sa femme, s’explique en se tournant vers Mireille, dont il a besoin comme secrétaire: »Il faudra que j’écrive au dépôt. C’est pour mon bouquin, vous comprenez; je parle du lieutenant de Cluny à propos de la tranchée de Francfort« (I, 5, 3). Or Mireille veut bien l’aider à écrire des lettres, ce qui révèle qu’elle n’est pas aussi vulnérable sur ce sujet que sa belle-mère. Et puis, ne se sent-elle pas également obligée envers les deux beaux-parents? Nous voyons chez elle une certaine grandeur d’âme qui la met moralement au-dessus des autres personnages, du moins jusqu’ici. La conversation qui s’engage ensuite entre les deux femmes, une fois Octave sorti, est particulièrement importante en ce qui concerne le thème de la guerre. Si Aline ne veut pas que Mireille aide Octave, c’est parce qu’elle pense que sa belle-fille n’est pas consciente de la véritable signification de ce livre. Cela devrait la toucher elle aussi, en tant que veuve de guerre, pense-t-elle. »Et puis, la seule idée de ce livre me fait horreur« (I, 5, 4), avoue-t-elle enfin à Mireille. Devant les hésitations de celle-ci, qui aimerait aussi rendre service à son beau-père, Aline ajoute, à la fois pour se justifier et pour dissuader sa bru de son idée: Et j’aurais cru que tu partageais mon sentiment; nous sommes d’accord, en général… le fortin de la Madeleine, la tranchée de Francfort (Avec un sanglot.), la cote 136… il veut perpétuer le souvenir de ces tueries, de ces boucheries… et tu l’aiderais? [...] Non, mon petit, tu ne feras pas ça! (I, 5, 4)

Il faudrait comparer ces paroles avec celles d’Octave quand il faisait allusion à ces mêmes évènements. Or justifiant ses démarches pour obtenir des renseignements au sujet des soldats qu’il avait commandés, il disait: Ces gens qu’il faut relancer trois… quatre fois… avant d’obtenir une réponse… Oh! mais j’ai de la persévérance… Tous ces pauvres bougres du 427, ce sont un peu mes enfants, et il faudra bien que je sache ce qu’ils sont devenus, tous tant qu’ils sont. D’abord, un régiment pareil… pensez donc, en trois ans, pas une tache, pas une défaillance… Si on ne l’avait pas dissous au lendemain des hostilités, je n’aurais pas donné ma démission. (I, 5, 4)

L’écart entre les deux époux est, comme on peut le constater, considérable: l’un parle d’héroïsme, et fait implicitement l’éloge de son métier et son talent de chef militaire, tandis que l’autre qualifie les combats dont son mari est si fier de »tueries« et de »boucheries«. En prononçant »la tranchée de Francfort«, elle ne peut retenir son »sanglot«. C’est là apparemment que son fils a été tué. C’est justement dans cet écart que réside la tragédie: la mère pense à son fils chéri, le père à ses 121

John H. Mazaheri

exploits. Il pense aussi naturellement à son régiment et au mérite de ses soldats. En tout cas l’une pleure, pendant que l’autre fanfaronne. Au lecteur de décider au sujet de la voix de l’auteur, car notre interprétation peut varier suivant notre vision du monde. Mais il me semble qu’une femme qui pleure pour l’amour de son fils disparu est une scène plus touchante que celle d’un militaire rappelant orgueilleusement ses exploits. Il est vrai que l’expression »Un régiment pareil« est autant louer le commandant que ses subordonnés, mais comment n’est-il pas, lui, en deuil de son enfant? Un autre point que j’aimerais signaler, c’est que pour Aline la guerre est un fléau, quel qu’en soit le motif. Et puis la France ne vaut pas mieux que l’Allemagne dans cette guerre de 1914–1918. Le nationalisme, et non le patriotisme, est remis ainsi implicitement en question par elle. En effet, si les guerres en général, puisqu’ici elle fait même allusion à des victoires françaises, sont des »tueries«, on ne saurait les justifier. L’opinion de l’auteur, à en juger d’après son »Autobiographie«, est en fait différente. G. Marcel, loin d’être pacifiste, était bien du côté de la France et blâmait l’Allemagne. Nous reviendrons sur ce point dans la Conclusion de cet essai. Il a cependant le mérite de présenter de façon assez impartiale son personnage plus ou moins pacifiste. Lorsqu’Octave revient au salon, c’est pour montrer la brochure de son livre à sa femme et à sa bru, et leur demander leur avis sur la qualité de la pésentation. Il ne se rend toujours pas compte que ce qui y figure, à savoir les photos et les lettres de son fils, font souffrir sa femme. Elle est pourtant »raidie dans une sorte de désespoir crispé« (I, 5, 4). Le manque de compréhension de cet homme est ainsi présenté comme quelque chose de plus triste encore que celui de sa femme envers lui. En effet, elle souffre littéralement, tandis que lui n’est que satisfait de son travail. Aline fait même semblant de ne pas exprimer son véritable sentiment pour ne pas froisser son mari, mais la manière dont elle regarde tout cela, malgré elle, devrait, s’il y avait quelque amour véritable chez Octave pour son épouse, le rendre conscient de la gravité de son action. Mais rien! Il est même étonné du manque d’enthousiasme de sa femme pour son projet. C’est Mireille qui tâche d’arranger les choses, car elle essaie de les comprendre tous les deux. Ainsi, dit-elle, en s’adressant à Octave: »Vous n’avez pas la même façon d’être malheureux« (I, 5, 4). Ce qui signifie que pour elle, Octave aussi est malheureux d’avoir perdu son fils. Et donc, en voulant publier ce livre, il voudrait en même temps lui rendre hommage. Cependant, ce sentiment généreux de Mireille ne justifie toujours pas Octave, d’autant plus que nous avons bien perçu de l’orgueil et un sentiment patriotique extrême chez lui. S’il est vrai qu’il voudrait par la publication de son livre honorer aussi bien la mémoire de son fils que tout le régiment auquel ce dernier appartenait, n’empêche que lui-même voudrait aussi du même coup être glorifié. Par ailleurs, contrairement à ce que pensait Beauplan, nous voyons qu’Aline n’est pas seulement bonne dans l’ensemble envers les 122

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membres de sa famille, mais aussi envers d’autres gens, comme par exemple la »mère Noël«, endeuillée elle aussi pour les mêmes raisons. En effet »son gars«, qui faisait aussi partie du régiment d’Octave, a disparu comme Raymond (I, 6, 4). Voici comment Aline en parle à sa belle-fille s’apprêtant à aller retrouver le petit Jacquot dans le jardin: »Vas-y, ma chérie, tu viendras me prendre tout à l’heure pour aller chez la mère Noël; je lui ai promis de lui apporter un panier de cerises. Elle aura plaisir à te voir, pauvre femme« (I, 6, 4). Nous arrivons enfin au comble du tragique dans le dialogue entre Octave et Aline, lorsqu’ils se trouvent seuls pour la première fois à la scène 7 de l’Acte I, mais les choses deviennent plus claires aussi. Nous pourrions enfin mieux saisir la voix de l’auteur dans cet important tête à tête. Nous y apprenons ainsi que c’est par l’encouragement d’Octave que le fils, qui apparemment n’aimait pas la guerre, s’y est engagé. En feuilletant la brochure, Aline est agitée, »ses mains tremblent« (I, 7, 4), et nous en savons les raisons. Si son mari »la regarde avec une sorte d’angoisse« (I, 7, 4), c’est parce qu’il doit éprouver un vague sentiment de culpabilité. En tout cas, pour le moment, il n’en est pas encore conscient, mais il ne sait pas comment calmer sa femme, sans pour autant approuver son comportement. Puis, soudain, Aline a »un sursaut« en lisant une lettre reproduite dans la brochure. Elle l’intrigue à juste titre. D’abord, Octave s’était bien gardé de lui montrer cette lettre de leur enfant, alors qu’il se trouvait à la guerre. D’où l’ »embarras« (I, 7, 5) du mari. Le fils y disait: »Je me serais toujours repenti de n’avoir pas suivi ton conseil«, puis cet autre mot, »Merci de m’avoir montré le chemin« (I, 7, 5). D’après la date de la lettre, Aline devine immédiatement que si son fils était allé à la guerre, c’était à l’instigation d’Octave, lequel lui avait même »conseillé de devancer l’appel« (I, 7, 5). Par conséquent, sa mort serait un peu causée par le père. Celui-ci essaie alors de se justifier en disant à sa femme: »Rappelle-toi son état d’esprit: il était hésitant, bourrelé, c’était lors de ma permission de décembre seize… Il est venu me dire un soir… c’était ici justement… ›Papa, que ferais-tu si tu étais à ma place?‹« (I, 7, 5). La suite de cette conversation doit être citée entièrement si l’on veut saisir la voix de l’auteur, car une certaine explication s’impose devant l’ambiguïté des propos échangés: Aline: Donc, un mot de toi aurait suffi à le retenir? Octave: Aline! Aline: Tu tenais sa vie dans tes mains à ce moment-là? Octave: Il me demandait de lui parler franchement, d’homme à homme… Aline: D’homme à homme! Regarde-le… (Elle montre la photographie de Raymond sur la table.) Octave: Je n’avais pas le droit de tromper son attente. 123

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Aline: Tu as abusé de ton prestige, de sa faiblesse, de la peur qu’il avait de déchoir à tes yeux… Octave: Je lui ai fait comprendre qu’il était entièrement libre. Aline: Quelle hypocrisie! Octave: Je te jure que je n’ai pas exercé la moindre pression sur lui. Aline: La guerre lui faisait horreur; il n’aurait pas été difficile d’obtenir de lui qu’il renonçât à s’engager. Octave: Tu n’y as pas réussi. Aline: Par ta faute… Oh! et puis, moi, à ce moment-là, je n’étais pas moi-même, je vivais comme dans un cauchemar. (Un silence.) Il comptait sur toi pour le dissuader de partir. (I, 7, 5)

Le lecteur peut se demander si Octave est tout à fait sincère, et si Aline l’accuse à tort d’hypocrisie. D’abord, nous avons été mis au courant d’une chose que cette mère ne savait pas: le fait qu’avait eu lieu entre le fils et le père un entretien lors duquel Octave avait conseillé à son enfant de s’engager comme volontaire. Il aurait pu ne pas le faire, comme Aline le lui fait remarquer. Mais l’argument du mari est qu’il voulait faire plaisir à son fils, qu’il ne voulait pas le traiter comme un enfant, qu’il ne voulait pas le décevoir par un conseil de »lâche« (un mot qu’il emploiera d’ailleurs un peu après), et qu’enfin il voulait lui montrer sa confiance en lui et l’inciter à la bravoure – toutes ces idées étant comprises dans le mot, »Je n’avais pas le droit de tromper son attente«. Et même si, comme il l’affirme, il avait »fait comprendre« à son fils »qu’il était entièrement libre« d’agir à sa guise, il n’empêche qu’il lui avait quand même conseillé d’enrôler dans l’armée et de faire la guerre. Il n’a peut-être pas volontairement »exercé la moindre pression sur lui«, mais un seul mot de sa part suffisait, et il n’a pas hésité à le dire, ce mot d’encouragement. Donc, n’y a-t-il pas là une certaine mauvaise foi, ou un peu d’»hypocrisie« de sa part, comme le croit Aline? De plus, elle nous apprend que Raymond détestait la guerre (»la guerre lui faisait horreur«). Elle accuse donc son mari d’avoir »abusé« de son »prestige« auprès du fils, lequel ne voulait pas être sous-estimé du père (»la peur qu’il avait de déchoir à tes yeux«). La vérité, insiste-t-elle, est que le garçon n’avait pas envie de faire la guerre, mais qu’il voulait être estimé de son père, et que par conséquent, ce dernier aurait facilement pu »obtenir de lui qu’il renonçât à s’engager«. L’enfant »comptait« même, dit-elle, sur ce père très admiré »pour le dissuader de partir«. Elle va peut-être un peu trop loin ici, et c’est là d’ailleurs qu’Octave n’y tenant plus – après tout c’est un militaire, et sa façon de voir les choses est différente de celle de sa femme, mais cela ne le justifie toujours pas – change soudain de ton, et prend une attitude offensive:

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Octave: Tu outrages sa mémoire, tu fais de lui un lâche. Aline: Un pauvre enfant qui voyait clair. Octave: La guerre lui faisait horreur, dis-tu? Qui est-ce qui a aimé la guerre? Aline: Toi… Ce que tu disais l’autre jour au docteur Morel: ›Nos plus belles années…‹ Octave: Ça n’a aucun rapport. Ce n’est pas la guerre qui était belle, c’était le danger, l’amitié dans le danger. Une femme ne peut pas comprendre.  Aline: Tant mieux pour elle; et puis, écrirais-tu tes mémoires si tu n’avais pas aimé la guerre? Octave: Ce ne sont pas mes mémoires. Ce sont les annales de mon régiment, c’est par fidélité. Aline: Les autres, je vois bien comme ils sont; ils n’en parlent jamais, c’est comme s’ils en avaient honte… Mais toi… tu ne peux même pas laisser les morts dormir en paix. Octave: C’est à moi de perpétuer le souvenir de leur endurance, de leur héroïsme, de leur… Aline: Des mots. Et c’est à cause de ces mots-là que tout recommencera… jusqu’à ce qu’il ne reste plus personne. (I, 7, 5)

Là encore, les arguments d’Aline, malgré la riposte d’Octave, peuvent sembler plus solides que les siens. Bien sûr qu’elle ne comprend pas l’idéologie de son mari. Elle ne comprend pas qu’un officier justifie la guerre, du moins celles qu’il estime »justes«, et qu’il croie aux valeurs militaires de courage, d’héroïsme, de patriotisme, etc.. C’est cette incompréhension mutuelle qui constitue l’élément tragique principal de cette pièce. Toutefois, l’auteur veut transmettre un autre message en même temps. Qui a davantage raison dans ce dialogue? Et si personne n’a totalement raison, que pense le dramaturge lui-même de tout cela, et de la guerre en particulier? Est-il même possible de saisir clairement sa pensée à travers les dialogues présentés? Je dirais que cela est faisable dans une certaine mesure. Nous avons par exemple pu constater plus haut qu’il y avait quelque faiblesse dans les raisonnements de l’homme par rapport à ceux de la femme. Octave a-t-il raison de blâmer sa femme en lui reprochant qu’elle fait de leur fils »un lâche«? Tout ce qu’elle a dit à son sujet, c’est qu’il avait »horreur« de la guerre. Pour un militaire, c’est peut-être de la »lâcheté« que ce sentiment-là, mais serait-ce le justifier  pour autant? Aux yeux de la mère, le jeune homme était plutôt »clairvoyant«. Chaque lecteur, suivant sa philosophie, donnera raison à la femme ou au mari, mais G. Marcel, lui? Ce n’est peut-être pas encore évident. Il faut continuer la lecture. Octave pense que personne n’aime la guerre, que lui125

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même ne l’aime pas non plus, mais, implicitement, il déclare que c’est parfois une nécessité. Aline croit au contraire qu’il aime au fond la guerre, non par esprit de justice, ou pour l’amour de la patrie, ou pour des raisons humanitaires, mais simplement pour des raisons personnelles. Autrement dit, la vanité seule explique, selon elle, ce goût pour la guerre. Voici comment elle exprime ces idées: d’abord, elle rappelle un mot de son mari, ayant un jour dit à son ami, le docteur Morel, au sujet de cette même guerre qui a coûté la vie à leur enfant, qu’elle représentait leurs »plus belles années«. Cela avait dû paraître particulièrement cruel à cette femme endeuillée et affligée. Peut-on considérer la justification d’Octave (»Ce n’est pas la guerre qui était belle, c’était le danger, l’amitié dans le danger«) comme moralement acceptable, et cela d’autant plus qu’il ajoute à cela une remarque injuste et misogyne (»Une femme ne peut pas comprendre«)? L’amitié, oui…, mais le danger? Devant la faiblesse de l’argumentation, mais aussi à cause du mépris affiché envers sa femme, voire toutes les femmes, la réplique sarcastique d’Aline (»Tant mieux pour elle«) ne paraît pas dure, en tout cas aux yeux d’un lecteur d’aujourd’hui. Puis, elle donne un autre exemple à l’appui de son idée relativement à l’esprit belliqueux de son mari: la rédaction de ses mémoires, ce livre qu’il veut justement publier, quel en est le motif profond? Naturellement, pour Octave, cela part d’un sentiment positif et généreux. D’abord il fait remarquer à sa femme qu’il ne s’agit pas de ses »mémoires« à lui, mais des »annales de mon régiment«. Ce dernier mot (»annales«) suggère naturellement une idée plus désintéressée. Il pense plus aux autres qu’à lui-même, prétend-il: »C’est par fidélité« envers ses soldats, c’est pour »perpétuer le souvenir de leur endurance, de leur héroïsme…«. Cependant pour Aline, les véritables raisons sont l’orgueil et la vanité de son mari. Elle lui dit sans ambages que les »beaux« mots qu’il a employés ne veulent rien dire, et que ce ne sont que des »mots«. Elle termine par cette déclaration très pessimiste: »Et c’est à cause de ces mots-là que tout recommencera… jusqu’à ce qu’il ne reste plus personne«. Sans doute, la fin de cette phrase est exagérée, mais la première partie est bien réaliste, surtout lorsqu’on songe à la guerre mondiale suivante, beaucoup plus atroce encore, et éclatant à peine une quinzaine d’années après la publication de La Chapelle ardente. Dans la dernière partie de cette scène importante sur le thème de la guerre, Aline revient à son malheur personnel et à la responsabilité de son mari dans cette tragédie. Elle est sans doute dure à son égard, quoique son argumentation soit plus solide que la sienne, et même si sa condamnation de la guerre semble justifiée. De toute façon, jusqu’ici, le texte lui donne apparemment plus raison qu’à son mari pour des raisons qui relèvent du cœur. Par ailleurs, l’incompréhension réciproque due à deux visions sociales différentes, voire à deux morales opposées, continue et fait qu’Octave, en se basant sur sa propre définition de la vertu, accuse sa femme de »renier« leur enfant (I, 7, 5). Il 126

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considère que quelqu’un qui refuserait d’aller à la guerre pour la défense de sa patrie est un poltron et un traître. Et elle, de son côté, pense que son mari, sous un prétexte moral, est non seulement quelqu’un d’hypocrite et égoïste, mais qu’il a été en partie responsable de la mort de leur fils. Voici la suite de cette conversation importante: Octave: […] Tu m’accuses de n’avoir pas assez veillé sur lui… Ah! pourquoi est-il venu au 427?  Aline: Comme si tu ne l’y avais attiré! Octave: Il m’a demandé de l’y admettre, c’est lui qui a choisi d’y venir. Aline: Il n’a rien choisi, il s’est laissé faire, il ne s’est pas défendu… C’est comme le jour où… (On la sent secouée par des sanglots contenus.) la cote 136… Octave: Cette mission-là, il avait imploré pour qu’on la lui confiât. Aline: Il ne pouvait faire autrement… C’est un engrenage… Non, non, Octave, je sais ce que tu vas dire, mais je ne veux pas… tu entends… je ne veux pas. Octave, très pâle: Alors, moi, je ne l’ai pas aimé? Aline: Moins que ton prestige. Octave: Je n’ai pas souffert? Aline: Une douleur d’homme, c’est un insigne…ça se met à la boutonnière… Oh! ne le nie pas. J’ai vu certaines lettres que tu as écrites… après… le mot fierté revenait à chaque ligne: »Je suis fier… nous sommes fiers d’avoir donné à la France…« Octave, fortement: C’est la vérité. Aline: Oui, eh bien, c’est la preuve que j’ai raison. Quand on a souffert ce que je souffre, moi… on n’a pas de ces beaux sentiments, il ne reste pas de quoi se les offrir, c’est hideux la souffrance, et ça ne se met pas en alexandrins. (I, 7, 5)

Ici elle fait allusion à des vers écrits en effet par son mari et qu’elle avait trouvés par hasard, des vers qu’il avait eu l’intention de faire graver sur la tombe de son fils. Ces paroles d’Aline ont été très dures pour lui, et ainsi »d’une voix secouée par l’émotion« (I, 7, 5) il se défend en insistant sur sa bonne foi et sur le fait que lui aussi est »malheureux«. Cette dispute ne peut mener nulle part, puisque chaque personnage vit dans un monde différent, c’est-à-dire que chacun a une conception différente du bien et du mal. Mais l’auteur dans tout cela, qu’en penset-il au fond? Marcel essaie de cacher ses propres sentiments et se contenter d’être observateur. Mais est-ce vraiment possible? Ce que dit Octave au début, »tu m’accuses de n’avoir pas assez veillé sur lui«, ne correspond pas à la vérité. Aline 127

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ne lui a pas reproché cela, mais essentiellement d’avoir donné, dès le départ, un mauvais conseil à Raymond. Pourquoi l’avoir encouragé à s’engager dans cette entreprise meurtrière? Elle ne comprend bien sûr pas la mentalité militaire. Il me semble que l’auteur nous fait comprendre cela, mais ne défend pas pour autant la cause d’Octave. Cependant, il est beaucoup plus indulgent envers lui que ne l’est Aline. Il doit admettre que tous les deux sont de bonne foi et accablés, mais que le malheur de la femme est plus justifié que celui du mari. Ce sur quoi je me base pour cette interprétation, c’est que les sentiments de la mère sont présentés dans l’ensemble comme plus forts que ceux du mari. Elle ne peut supporter la brutale disparition de son enfant. La tragédie est même double, pense-t-elle: d’abord ce jeune homme avait le droit de vivre, lui aussi; de plus sa disparition fait souffrir toute une famille, en particulier sa mère qui l’adorait. Comment alors, dans ces circonstances, peut-on écrire des vers, demande-t-elle à juste titre à son mari? Celui-ci est secoué par ces mots, mais sa réponse n’est pas vraiment convaincante. Il affirme qu’il est sincère, qu’il voulait faire graver les vers en question sur la tombe, etc., mais ses paroles ne peuvent pas nous toucher autant que l’intense douleur de la mère. Le »427« représentait réellement un grand danger pour le jeune homme, et le père en était parfaitement conscient. Pourquoi alors avoir voulu y admettre son fils? C’est qu’au fond sa mort éventuelle n’aurait pas été pour lui, militaire, quelque chose de très effrayant. Après tout, c’était pour la gloire, c’était un grand honneur… C’était servir la patrie. Voilà ce à quoi il pensait avant tout. C’est pour les mêmes raisons qu’il avait aussi consenti à lui confier »la cote 136«, mission particulièrement risquée. C’est là d’ailleurs qu’il a dû périr. Lui n’était pas trop conscient de la mort, étant trop jeune. Par contre, il avait un grand besoin d’être admiré de son père. D’où sa témérité. Bref, chez Octave – Aline n’a pas tort – les idées d’honneur, de gloire et de fierté l’emportaient sur l’amour et les sentiments paternels. Il pouvait donc souffrir la mort de son fils, à condition qu’elle fût pour ce genre d’idées.5 Aline lui prouve facilement que le mot »fierté« lui a importé plus que tout, ce qu’il ne nie pas. D’ailleurs, notons-le aussi, pas une seule fois, au cours de ce dialogue tendu, Octave ne parle d’amour de la patrie, de la défense de son pays par amour de l’humanité, de la justice. Pas une seule fois, non plus, la guerre qu’il justifie n’est analysée: il ne parle ni du concept de guerre, ni de cette guerre de 1914–1918 en particulier. En prenant tous ces points en considération, il n’est peut-être pas impossible de deviner la pensée de l’auteur: les »sanglots contenus« de la malheureuse mère sont pour lui plus touchants que les arguments abstraits du père. Lui, il aurait été simplement plus indulgent qu’Aline envers Octave. C’est grâce à André, entrant soudain par la porte-fenêtre, que cette scène de dispute peut enfin prendre fin. Ce que nous apprenons dans la scène 9 par lui, à la fois un proche parent et camarade de guerre de Raymond, c’est qu’Octave avait eu l’idée de publier son livre, comprenant des lettres intimes 128

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et des carnets de guerre, à l’époque où son fils était encore en vie. De plus, ce dernier était au courant du projet de son père et, selon André, il ne l’approuvait pas, pensant que ce serait un geste »indiscret« (I, 9, 6). Cela, bien sûr, ne fait que donner encore plus raison à Aline au sujet de la publication, mais également justifier davantage son jugement concernant les traits de caractère de son mari (un certain égoïsme, de l’orgueil, etc.).

* La suite de la pièce ne nous apprend rien de plus sur notre sujet, et il est donc temps de tirer quelques conclusions sur cette lecture. Le fait est que nous ne pouvons pas savoir très clairement la pensée de G. Marcel au sujet de la guerre en général en nous basant uniquement sur son théâtre. Il faudra, si l’on s’intéresse vraiment à cette question, chercher ailleurs, dans d’autres sortes d’écrits, comme par exemple dans son »Autobiographie«. Dans La Chapelle ardente, le but de l’auteur était, non pas révéler au public sa propre opinion socio-politique et sa philosophie de la guerre, mais nous mettre plutôt devant une situation familiale à la fois ordinaire et tragique. Il essaie de se mettre à la place de ses divers personnages. Il aime également ses deux protagonistes, Octave et Aline, mais il donne peut-être, malgré lui, davantage raison à la femme, et cela pour des raisons sentimentales, non philosophiques ou politiques. Il déplore surtout le fait que dans cette vie quotidienne, qui est aussi la nôtre, la communication soit souvent difficile, sinon impossible. C’est de là que viennent, pense-t-il, tous les malheurs sociaux. Disons enfin un mot au sujet de Gabriel Marcel lui-même et de ses idées personnelles sur la Première Guerre Mondiale et sur la guerre en général à l’époque où il rédigeait La Chapelle ardente. Dans son »Autobiographie«, document révélateur, G. Marcel reconnaît avoir été d’abord enthousiasmé par la victoire des alliés, quoique cette »euphoria after the victory of 1918 did not last more than a year« (Schilpp 3). Ce qui montre qu’il n’avait pas été indifférent à la guerre. Il n’avait pas été un pacifiste non plus comme certains intellectuels de l’époque. Cependant, »I should add that the circumstances in which I lived through the First War, even though as a noncombatant, led me to view a new outbreak as necessarily catastrophic« (Schilpp 3). Ce qu’il déplore au fond, c’est l’aspect destructeur de la guerre. Ainsi, dit-il, »I have never lost for one second a sense of the exhausting sacrifices – exhausting far beyond the powers of recuperation – the war had cost my country and more generally what we then called the civilized world« (Schilpp 3). Il ne remet donc pas en question la violence ou le fratricide du point de vue d’un humaniste ou d’un chrétien fidèle au Nou129

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veau Testament. Les »sacrifices« concernent seulement la France et le monde dit »civilisé«. L’Allemagne en fait-elle partie dans son esprit à cette époque-là? Ce n’est pas très clair ici. Il reste même délibérément ambigu sur ce sujet, car il aurait pu dire que la guerre avait beaucoup coûté des deux côtés, surtout quand il parle de ces évènements cinquante ans plus tard et après toute une vie soi-disant chrétienne. Cette malheureuse période de 14–18 a en tout cas si profondément marqué le philosophe-dramaturge qu’il la considère après tant d’années comme »an incurable trauma« (Schilpp 3). Par ailleurs, un sujet obsédant aussi bien dans sa vie que dans son théâtre est celui de la mort, non pas la sienne, mais celle d’autrui, celles des gens auxquelles il fut attaché.6 Dans sa pièce, La Chapelle ardente, écrite peu de temps après la Guerre, nous pouvons donc avancer sans hésiter qu’il éprouve de la compassion pour son personnage d’Aline. Elle a été, elle, contrairement à son mari, traumatisée par la perte de leur fils. De même, dans son »Autobiographie«, G. Marcel ne manque pas d’insister sur le traumatisme que lui causa la mort de sa mère, alors qu’il n’était qu’un tout petit enfant, mais »It would surely be better to speak of a certain affective tonality of my first years preceding the death of my mother after two days of illness, on the fifteenth of November, 1893; I was going on four« (Schilpp 5).7 Et en pensant à l’auteur d’À la Recherche du temps perdu, il ajoute: »That tonality, which could best be rendered musically, is linked to a certain côté, or ›way‹, in the Proustian sense of the word« (Schilpp 5).8 En 1969, à l’âge de 80 ans, G. Marcel parle encore avec émotion de la mort de sa mère, quoiqu’il »recall absolutely nothing of those two desolate days, the fourteenth and the fifteenth of November 1893. What was I aware of? What did I sense? What did I surmise? Impossible to remember…« (Schilpp 5). Et cependant, il y a des choses dont il se souvient, l’atmosphère du deuil, la tragédie de la mort telle qu’un enfant la ressent,9 et, plus tard, les visites au cimetière de Passy, »where I was taken at long intervals to visit Mother’s tomb and where I was to read so often the lines composed by my father« (Schilpp 6). Des vers bien tristes qu’il n’est pas nécessaire de reproduire ici. Il pense que son hypersensibilité est en partie due à ce »trauma provoked by my mother’s death« (Schilpp 8). La mort d’un côté, la politique de l’autre. C’est à ces deux idées que s’associent en effet la guerre chez G. Marcel. Autrement dit, il est à la fois concerné par les problèmes personnels et sentimentaux (le traumatisme causé par la perte des êtres chers, que ce soit dans une guerre ou non), et les problèmes sociaux. Sur ce dernier point, sa pensée, ambiguë dans son théâtre, est assez claire dans son »Autobiographie«. Voyons, par exemple, ce qu’il dit au sujet de la période immédiatement précédant la guerre de 1914–1918, soit sur l’importante crise impérialiste d’Agadir:

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La Chapelle ardente de Gabriel Marcel

[…] like everyone else, I was shaken by the Agadir tragedy in 1912. But I wanted to believe, it seems to me, that in an era of advanced civilization like ours, none of the great powers, not even Germany, would dare to initiate an armed conflict. (Schilpp 19)

Il ne remet nullement en question l’impérialisme. Le mot même de »tragédie« à propos d’Agadir est équivoque. En fait, le philosophe ne ressent toujours rien en 1969 pour le peuple marocain de l’époque. Il exprime aussi un certain mépris pour l’Allemagne (»not even Germany«), comme si ce pays était pire que ses rivaux dans sa soif d’expansion. Puis, une fois la »Grande Guerre« déclarée, alors qu’il se trouvait à la montagne, dans le Valais, en compagnie de son ami Jean Wahl, il se rappelle qu’ils se demandaient: »What would this war be like, this war that now seemed inevitable? And what did it hold for us?« (Schilpp 19). Non, Gabriel Marcel était loin d’être pacifiste, pas même au moment où il écrivait ces lignes, même si, ainsi qu’il le confesse, »I knew I was not able to bear arms, and I could scarcely imagine myself among combatants«. Il n’en donne d’ailleurs aucune raison particulière, mais ajoute: »But the idea of remaining a mere spectator seemed intolerable. I relive those first days of August 1914, under a cloudless sky« (Schilpp 19–20). Se sentait-il coupable, à l’âge de 24 ans, de ne pas la faire cette guerre, alors que son parti était pris et qu’il était du côté da son pays? Avait-il vraiment peur de mourir, comme le pensait plus tard un L. Brunschvicg? Etait-il un peu comme Raymond dans sa pièce avant que son père l’encourageât à s’engager? En tout cas, le rappelle-t-il, »All the wrong, it seemed to me, was on the side of our enemies. All the right was on the French side. I was heartened by the sight of the patriotic élan of soldiers and civilians facing this trial joyously« (Schilpp 20). Marcel signale que s’il ne se fit pas soldat, du moins essaya-t-il dans la mesure du possible d’aider les familles des combattants disparus (Schilpp 20). Et, avoue-t-il, »I think this task affected my later work. It undoubtedly contributed to the development not only of a sense of and need for personal contacts, but also of a boundless compassion for the distress to which each day testified anew« (Schilpp 20). La compassion qu’il éprouvait pour les malheureuses gens affectées par la guerre, il la montre bien aussi dans La Chapelle ardente. Pour revenir à la question du pacifisme, le philosophe déclare clairement: »To be sure, dogmatic pacifism was alien to me; but the war revealed itself under such a desolate aspect that it became an object of indignation, a horror without equal« (Schilpp 20). D’abord, qu’entend-il par l’expression »dogmatic pacifism«? Est-ce à dire qu’il était pour la paix, mais qu’il ne pouvait pas dans ce conflit ne pas prendre parti? Il déplore sans doute les malheurs qu’éprouvent ses concitoyens, mais ne ressent absolument rien pour les familles allemandes ou les soldats allemands également victimes de la guerre. Voici, en effet, comment il dépeint ses sentiments de l’époque: 131

John H. Mazaheri

Yet at the same time I felt with utter constance and with utmost precision what I, a noncombatant, owed to those who risked death or mutilation every day at the front for a cause that was ours. A militant pacifism seemed to me, under these circumstances, a kind of betrayal. Hence the perhaps excessive severity with which I judged the famous essay by Romain Rolland, »Au dessus de la mêlée’«. (Schilpp 21)10

G. Marcel pensait en fait que la France avait raison dans cette guerre et qu’il fallait qu’il défendît son pays dans la mesure du possible. Les notions de »militant pacifism« et »dogmatic pacifism« sont selon lui également inacceptables. Ainsi, avoue-t-il, »I could not countenance any Frenchman having the right to remove himself in whatever fashion from the drama in order to view it from above« (Schilpp 21). Nous voyons que, comme à propos d’Agadir, il n’était guère question pour notre philosophe chrétien de remettre en question les actions du gouvernement français. Le pacifisme selon lui est à rejeter, voilà tout. Et quoiqu’après 50 ans, il pense qu’il a été un peu trop sévère envers R. Rolland, son opinion sur la guerre n’a au fond guère changé. En un mot, quoique la politique n’occupe pas explicitement une place très importante dans le théâtre de G. Marcel, elle ne lui est pas du tout indifférente. Ainsi, dans son »Autobiographie«, on apprend beaucoup plus sur ses idées politiques, ouvertement de droite et conservatrices, que sur sa théologie. Dans La Chapelle ardente, le dramaturge cache délibérément sa propre pensée. Là, ce qui l’intéresse le plus n’est ni une réflexion philosophique et morale sur la guerre en général, ni une réflexion politique ou historique sur la Première Guerre Mondiale en particulier, mais plutôt les effets de la guerre sur la vie quotidienne des gens. Notons toutefois qu’il se soucie seulement des hommes de son pays, et non de l’humanité en général, ce qui devrait étonner de la part d’un penseur et artiste chrétien.11

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La Chapelle ardente de Gabriel Marcel

Notes 1

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Robert de Beauplan. »La Chapelle ardente au théâtre du VieuxColombier«. Gabriel Marcel. La Chapelle ardente. La Petite Illustration [numéro spécial], 263, 07.11.1925, p. de couverture 1 (C1). Toutes mes citations proviennent de cette première édition. La pièce reparaît plus tard en volume dans G. Marcel. Trois Pièces: Le Regard neuf, Le Mort de demain, La Chapelle ardente. Paris: Librairie Plon, 1931, 187–266. Ce que l’on apprend ici, c’est que l’action à l’Acte I a lieu en 1920. Le dernier acte, le troisième, aura lieu un an plus tard – fait déjà mentionné dans la première édition. Dans une »Autobiographie« écrite en 1969 et publiée plus tard en anglais aux USA, Gabriel Marcel raconte ceci: »During those years [il s’agit des années qui suivirent la Grande Guerre] it seems to me I absented myself from philosophy, to which I was to return a little later. The theater occupied the best of my thinking, and I chafed under the difficulty I had getting produced. Fortunately, La Chapelle ardente was presented at the Vieux Colombier sponsored by the eminent critic Henry Bidou, who told me he considered it a masterpiece. But it did not meet with the degree of success I had hoped for. Admittedly, the casting left something to be desired. I had requested Mme Falconetti for the part of Mireille, but her consent came after the part had already been given to an actress who, though certainly conscientious, lacked brilliance. Mme Jeanne Lion, who played the principal role of the mother, had the

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singular merit of writing me several months later that she feared she had betrayed my thought. This was no doubt true, but the fault lay with Gaston Baty, the director, who was inclined to see a clinical case in that painfully human character. Georges and Lidmilla Pitöeff [sic]said that they had found the play tedious, and this impression, resting on a lack of comprehension, mortified me«. Gabriel Marcel. »An Autobiographical Essay«. Paul Arthur Schilpp, Lewis Edwin Hahn (eds.). The Philosophy of Gabriel Marcel. La Salle/Il.: Open Court, 1984, 3–68, ici 26–27. L’Autobiographie a été traduite par Forrest Williams. Katharine Rose Hanley écrit à propos de Gabriel Marcel que »His approach to dramatic and philosophic inquiry begins with a person’s lived experience of a situation of conflict. Through dramatic dialogue and/or imagined intellectual discussion, the situation is viewed from differing perspectives from which various interpretations arise […].« Katharine Rose Hanley. »Marcel: The Playwright Philosopher«. Renascence: Essays in Values in Literature 55 (2003), 3, 241–256, ici 252. Sauf indication contraire, c’est moi qui souligne dans les citations. Vanité que tout cela, dirait la Bible, livre qui deviendra, quelque temps après la représentation de cette pièce, fondamental pour Gabriel Marcel – sa conversion eut lieu en effet en mars 1929; voir Gabriel Marcel. Journal métaphysique (1928–1933) in Être et Avoir I. Paris: Aubier-Montaigne, 1968, 15–16. 133

John H. Mazaheri

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Un jour, en 1937, rapporte-t-il dans son »Autobiographie«, Léon Brunschvicg lui avait un peu reproché sa peur de la mort, et Marcel lui avait répondu que »what counted for me was not my death, but that of the beloved.« Schilpp, 38. Souligné par l’auteur. »Losing his mother awakened Gabriel’s preoccupation with the presence of loved ones from beyond death […].« K. R. Hanley, 241. Souligné par l’auteur. »I still seem to hear the murmurs of Granny and of members of the family who had come to extend their condolences.« Schilpp, 5.

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Souligné par l’auteur. Dans sa vie, il prend parti politiquement, comme nous le voyons dans son »Autobiographie«. L’Allemagne était pour lui le pays ennemi, voilà tout. Il déclare ainsi de façon nette son sentiment après 1918: »The relief was unfortunately of short duration. Very soon – no doubt by 1920 – I was to become obsessed by the thought that all could recommence some day if measures were not taken to make it impossible for Germany to rearm.« Schilpp, 22.

Richard Albrecht

»Russland und einige Probleme des Sozialismus« Ein politikhistorisches Kapitel des jungen Ernst Bloch

Die deutsche Parole »Gegen den Zarismus« diente – ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole »Gegen den Militarismus« – dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhaß zu mobilisieren. (Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914)

Geplant war zunächst ein größerer wissenschaftlicher Aufsatz über die RosaLuxemburg-Rezeption Ernst Blochs. Der nicht unbequellt verfahren sollte. Bloch widmete wohl Experimentum Mundi (Gesamtausgabe Band 15) dem Andenken Rosa Luxemburgs. Die jedoch »im Werk Ernst Blochs namentlich kaum auftaucht.«1 Münster erinnerte unter Verweis auf Blochs Vademecum für heutige Demokraten an frühe politische Aufsätze Blochs. Und deren »so gut wie totale Übereinstimmung« mit Positionen Luxemburgs, etwa zur »sozialistischen Demokratie«.2 Blochs im September 1918 abgeschlossene und Anfang 1919 bei Der Freie Verlag Bern gedruckte Vademecum-Broschüre3 gilt dem Bloch-Biographen Zudeick als Zusammenfassung der »Quintessenz seiner publizistischen Tätigkeit«4 seines ersten westschweizer Exils. Speziell aus dem Rußland-Kapitel des Vademecums5 zitierte Zudeick, nicht ohne Blochs »Realitätsverlust im Exil«6 anzumerken, vier Passagen. Und erkannte damit auch die Bedeutsamkeit dieses 18-seitigen siebten Broschürenkapitels. Das nach dem letzten, achten und 21-seitigen, über »Das verspätete Deutschland und seine mögliche Regeneration«7 sowohl formal das zweitlängste als auch inhaltlich das Kapitel ist, in dem es dem Autor als exiliertem Sympathisanten der im April 1917 gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) nicht nur 135

Richard Albrecht

Titelblatt der Blochbroschüre (1919).

um Deutschland, Deutschlands »Kriegsschuld« am ersten »großen Weltfest des Todes« (Thomas Mann) und den »preußisch-deutschen Militarismus« als »Kulturkomplex« (Emilio Willems) mit junkerlicher Macht, Staatsbürokratie und feudalisierter Bourgeoisie ging8 – sondern um mit der Entwicklung Rußlands 1917/18 diskutierte »Probleme des Sozialismus«. Hier geht es um kurze inhaltliche Konturierung; deshalb gehe ich auch nicht ein auf die besondere Bloch-Text-Tönung mit seiner zunächst chaotisch erscheinenden Mischung aller möglichen Sprachebenen und Sprechhaltungen [als] ständiges Unterbrechen der gängigen Syntax, Wechsel von Parataxe und Hypotaxe, Ineinanderschieben von Vergleich, Gleichnis, Metapher, altertümliche Wendungen, ausuferndes Fabulieren im Wechsel mit äußerster Kürze.9

Im Blochtext standen zwei Programmpunkte im Vordergrund: die These von der Alleinschuld Deutschlands am Weltkrieg […] und die Forderung nach Sturz der Preu136

Ernst Bloch zu Russland

Bloch 1967. Zeichnung: Wilma Ruth Albrecht (mit freundlicher Genehmigung) ßischen Monarchie und des preußischen Systems als der Wurzel allen Übels in Deutschland und dieses Weltkrieges.10

Kontextuell und subtextuell gibt es weitere inhaltliche Topoi: die Kritik des von Bolschewiki um Lenin entwickelten Zimmerwalder Leitkonzepts des »rücksichtslose[n] Kampf[es] gegen den Imperialismus (Sozialimperialismus) als erste Vorbedingung zur revolutionären Mobilisation des Proletariats und der Wiederaufrichtung der Internationale«;11 das Verhältnis von in Rußland fehlender bürgerlicher Revolution zur angestrebten sozialen und deren Gefährdung infolge nicht entwickelter Demokratie (1976 verwandte Bloch die Formel: »Es kann keine Revolution geben, die nicht 1789 in den Knochen hat«);12 die 137

Richard Albrecht

am Beispiel Rußlands angesprochene fehlende, schon von Marx selbst am preußischen Beispiel vernachlässigte, sozioökonomische Analyse der Agrarfrage; die allgemeine Bedeutung neuer kapitalistischer Entwicklungen der Arbeitsorganisation im wirtschaftsmilitaristischen »Taylorsystem« in Deutschland; und die auch kulturell unterfütterte westwärts gerichtete Nachkriegsentwicklung Deutschlands in Europa auf Grundlage einer Selbstanklage aller Deutscher zur Überwindung des Krieges durch Versöhnung der Welt mit Deutschland sowie Deutschlands mit der Welt in Abgrenzung zum östlichen autokratischen Herrschaftssystem sowohl Preußens als auch des Zarismus, gegen den sich vor und während des Krieges die kulturimperialistische Propaganda der deutschen Reichsleitung richtete. Formal zu bedenken ist, dass Bloch seine Aussagen im Russland-Kapitel eher assoziativ-narrativ reiht als analytisch-systematisch entwickelt, dass sein Russland-Bild wie das Luxemburgs, von Tolstoi- und Dostojewskij-Lektüren13 im Clichésinn von »russischer Seele«14 geprägt, idealisiert ist und dass seine aus der Vorstellung der Nachkriegsentwicklung abgeleitete Betonung der Vernachlässigung des Geistig-Spirituellen im Marxismus wie moralisierende Kritik wirkt. Blochs Text beginnt mit aktuellen politischen Aussagen und endet mit (hier faksimilierten, aber nicht gesondert referierten) literarisch gesättigten Bildern zur Entwicklung Russlands 1917/18.15 Zentral bei aller Kritik an Kapitalismus, Krieg und Kriegsschuld ist der »preußische kapitalistische Gegenwartsstaat.«16 Die einleitende Passage betont, dass der Krieg »aus anderem als dem Kapitalismus entstand«, dass dem Autor Lenins Theorie und Politik »rätselhaft« sei, dass die »soziale Revolution« unwiderruflich »durch Rußland in die Welt gekommen« sei, ihre »Weiterführung« besonders in Deutschland »durch die bolschewistische Politik Rußlands selbst verhindert« würde, »sofern plündernder Soldatenpöbel kein schaffendes Proletariat ist und darum diesem erkrankten, autokratischen Sozialismus die Propagandakraft nahm« – zumal »durch bloße Aufklärung und Propaganda eine Revolution im streikfestesten Obrigkeitsstaat« nicht eingeführt werden könne, weil die »Kräfte gerade des deutschen Kapitalismus, einzigartig gestärkt durch preußische staatskapitalistische Organisation, unermeßlich sind.« Deshalb sei der »Kampf gegen Preußen« »vom Standpunkt eines radikalen internationalen Sozialismus« Grundvoraussetzung jeder sozialen Revolution in Deutschland.17 Die drei argumentativen Passagen Blochs enthalten seine doppelte – immanente wie transzendente – Marx(ismus)kritik. »Agrarprobleme«18 benennt als Theoriedefizit, dass schon Marx die Agrarfrage übersehen und »lediglich den industriellen Kapitalismus durchdacht und eingleisig erledigt« habe. Bloch verweist auf das alte russische Dorf mit seinem »Rest bäuerlicher Gemeinfreiheit, kommunistischer Agrarwirtschaft« und seine »Bauernmystik« des 138

Ernst Bloch zu Russland

Epochensprungs. Die auch Lenin »als Marxist« zugunsten eines »hochkapitalistischen« Fabriksystems mit »preußisch-zaristischer ›Diktatur des Proletariats‹« aufgab. Zur »Schuldfrage«19 grenzt sich Bloch gegen »russische und andere Zimmerwaldisten« ab: der Krieg sei »aus rein ökonomischem Kalkül nicht zu erklären«. Besonders gegen die These des »scharfsinnigen, marxistisch orientierten Soziologen« Lederer (1915): Der Krieg suspendiere, was damals »Gesellschaft im Staat« [societá civile] hieß, und organisiere sie in militaristischer Weise neu als – vermeintliche – »Schicksalsgemeinschaft« nach dem Modell des Heeres, besteht Bloch auf einer nur noch in PreußenDeutschland möglichen Besonderheit, die er an die »Gestalt Ludendorffs« bindet und so verallgemeinert: Die Schuldfrage hänge »durchaus an Personen und ihrer Gesinnung«. Sie sei nicht herabzusetzen auf »spukhafte Allgemeinheiten des Wirtschafts- oder auch Staatsprozesses.« Diesen Grundtenor nimmt Bloch im letzten ideengeschichtlichen Teil unter dem Stichwort »Problem der eliminierten Christlichkeit und Geistlichkeit im Marxismus überhaupt«20 auf. Und der angebliche »deutsche Philosoph der Oktoberrevolution« (Oskar Negt) polemisiert erneut gegen »Sozialdiktatur« der Bolschewiki und wertet die »Beibehaltung der zaristischen Staatsmacht als bloßen notwendiger Übergang« zum Macherhalt.

Blochbroschüre (1919), Schlussakkord des Russlandkapitels. 139

Richard Albrecht

Je nach Schwer- und Standpunkten lässt sich auch der Russlandtext im Vademecum (wörtlich übersetzt: Folge mir) unterschiedlich lesen: Sozialdemokratische Ideologen läsen Blochs Warnung vor den bolschewistischen neuen Zarenautokraten als weitsichtigen Vorläufer des Totalitarismuskonzepts, Faschismushistoriker im militanten Antipreußentum die vorweggenommene Kritik nationalsozialistischer Bündnispolitik zur Machtübernahme 1933. Und wie Marxismuskritiker den Autor als einen der ihren reklamierten, so auch Marxisten Bloch als Vordenker der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Was mich betrifft, so sehe ich keinen antagonistischen Widerspruch zwischen der theoretisch auf Allgemeines und »konkrete Totalität« bezogenen Lenin’schen Imperialismustheorie und Blochs luxemburganalogem Plädoyer für den Kampf gegen den Feind im eigenen Land …

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Ernst Bloch zu Russland

Literatur Angelika Balabanoff. »Die Zimmerwalder Bewegung 1914–1919«. Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 12 (1926), 310–413; ibid, 13 (1927), 232–282. Ernst Bloch. Vademecum für heutige Demokraten. Bern 1919, 89 pp. Ernst Bloch. Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917–1919. Hg. Martin Korol. Frankfurt/M. 1985, 669 pp. Emil Lederer. »Zur Soziologie des Weltkrieges«. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), 3, 347–384. W. I. Lenin. »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß« [1917]. Ders. Ausgewählte Werke II. Berlin 1983, 643–770. Karl Liebknecht. Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze. M. e. Rede von Wilhelm Pieck. Berlin 1952, 551 pp. Rosa Luxemburg. »Tolstoi als sozialer Denker« [1908]. Dies. Schriften über Kunst und Literatur. Hg. Marlen M. Korallow. Dresden 1972, 31–38. Arno Münster. »Ernst Bloch und Rosa Luxemburg. Kritische Erörterung zu einer politischen Wahlverwandtschaft«. Bloch-Almanach 21 (2002), 71–95. Oskar Negt. »Ernst Bloch – der deutsche Philosoph der Oktoberrevolution. Ein politisches Nachwort«. Ernst Bloch. Vom Hazard zur Katastrophe. Politische Aufsätze aus den Jahren 1934–1939. Zusammengestellt von Volker Michels. Frankfurt/M. 1972, 429–444. Oskar Negt. »Erbschaft aus Ungleichzeitigkeit und das Problem der Propaganda«. Ernst Bloch zum 90. Geburtstag. Es muß nicht immer Marmor sein. Erbschaft aus Ungleichzeitigkeit. Berlin 1975, 9–34. Emilio Willems. Der preußisch-deutsche Militarismus. Ein Kulturkomplex im sozialen Wandel. Vorwort Réne König. Köln 1984. Doris Zeilinger. »Das Prinzip als Gebietskategorie und starker Anfang. Zu einem Luxemburg-Bezug bei Bloch«. VorSchein 22/23 (2003), 218–234. Peter Zudeick. »Sprache und Komposition bei Ernst Bloch«. Bloch-Almanach 1 (1981), 69–90. Peter Zudeick. Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch – Leben und Werk. Moos & BadenBaden ²1987.

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Richard Albrecht

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9

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Zeilinger 2003; Nachweise in An­­ merkung 9. Münster 2002, 90f. Bloch 1919; textidentisch Bloch 1985, 475–539. Zudeick 1987, 77–82. Bloch 1919, 50–67; Bloch 1995: 506–517. Zudeick 1987, 81. Bloch 1919, 68–89; Bloch 1985, 517–530. »Preußen allein ist der Krieg«, so Bloch 1918/19; s. Bloch 1985, 553. Zudeick 1981, 77; s. Blochs Forschungsbericht 1918/19, Bloch 1985, 532–559.

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So Korol; s. Bloch 1985, 42f. Balabanoff 1926, 321f. Bloch 1985, 44. Luxemburg 1972, 31. Zudeick 1987, 77. Bloch 1919, 66f.; Bloch 1985, 516f. Bloch 1919, 66; Bloch 1985, 516. Bloch 1919, 50-54; Bloch 1985, 506–508. 18 Bloch 1919, 54–56; Bloch 1985, 509f. 19 Bloch 1919, 56–62; Bloch 1985, 510–513. 20 Bloch 1919, 62–66; Bloch 1985, 514–516.

Fabian Brändle

Der Krieg im Kloster Zum Tagebuch des bayerischen Pfarrvikars und Abtes Maurus Friesenegger aus dem Dreißigjährigen Krieg

Das Tagebuch des Maurus Friesenegger (1590–1655) aus dem Kloster Heiligenberg/Andechs gehört gewiss zu den aufwühlendsten Texten, die aus jenen katastrophalen Jahrzehnten auf uns gekommen sind.1 Detailreich und präzise schildert der Pfarrvikar, Subprior und Abt (ab 1640) den Alltag des Dorfes Erling rund um sein Kloster Heiligenberg, die Untaten der Soldateska ebenso wie die Überlebensstrategien der Dorfbewohner. Brände, Zerstörungen, Naturkatastrophen, Mäuseund Wolfsplagen, Hungersnöte, die Pest und die Ruhr zeichnen ein gleichsam apokalyptisches Bild dieser Zeit. Autor Maurus (Geburtsname Matthäus) Friesenegger wurde 1590 in Dießen am Ammernsee als Bäckersohn geboren. Im Jahre 1612 schloss er seine Gymnasialstudien am Jesuitengymnasium München ab. Mit 24 Jahren legte Friesenegger seine Profess im Benediktinerkloster Heiligenberg (Andechs) ab. Er arbeitete zunächst im Klosterseminar und als Novizenmeister, übernahm dann von 1627 bis 1639 das Pfarrvikariat Erlings, um schließlich von 1640 bis 1655 als Nachfolger Pater Michael Einslins als Abt des bekannten, in der Nähe Münchens gelegenen Wallfahrtsklosters zu wirken. Maurus Friesenegger war auch literarisch sehr aktiv. Seine lateinische Chronik Ephemerides Andecenses sive res gestae memoriae dignae de Monte sancto et Pago Erlingano congestae stellte er im Jahre 1649 fertig. Der Abt selbst hat diese Chronik gekürzt und ins Deutsche übersetzt (»Tagebuch von Erling, und Heiligenberg vom Jahre 1627–1648 inc.«).2 Die Überlieferungsgeschichte des Manuskripts ist über viele Ecken verlaufen. Der Numismatiker und Heimatforscher Franz Maria Ferchel fand das Manuskript 143

Fabian Brändle

anlässlich einer Wanderung bei einem »sehr würdigen Manne im Oberland«.3 Er schrieb es ab und gab es im Jahre 1833 bei Giel in München heraus.4 In der Folge benutzten mehrere Heimatforscher diese Edition in lokalgeschichtlichen Studien. Im Jahre 1901 entdeckte Pater Augustin Engl von Andechs beim Lehrer Joseph Richard Bührlen in Ettal das Manuskript. Er erwarb es nach längeren Verhandlungen für 50 Mark. Bührlen hatte das Manuskript von einem Postboten Rangger in Oberammergau erworben.5 Eine wohl Ende des 18. Jahrhunderts angefertigte Abschrift der deutschsprachigen Handschrift Frieseneggers ist im Besitz der Familie Sonner in Polling. Im Jahre 1974 gab Pater Willibald Mathäser das Tagebuch bei Hugendubel in München neu heraus, versehen mit sachkundigen Anmerkungen. Im Jahre 2007 entschloss sich der Münchner Allitera-Verlag zu einer schönen Neuausgabe, aus der in der Folge zitiert werden wird. Im weiteren Sinne ist der Text dem Genre der Klosterdiarien zuzurechnen. Nicht nur die lokalhistorische Forschung hat den immensen Quellenwert des Tagebuchs erkannt. Bereits 1971 hat der bayrische Historiker Hermann Höger6 einen Aufsatz darüber veröffentlicht. Und jüngst hat der Historiker Lauro Martines in seinem breit angelegten, sowohl struktur- als auch mikrogeschichtlich argumentierendem Werk Blutiges Zeitalter Friesengeggers Tagebuch als besonders aussagekräftige Quelle über die Schreckenszeit des Dreißigjährigen Krieges herangezogen.7 Im Folgenden interessiere ich mich für Gewalt- und Leiddarstellungen im Werke Frieseneggers, aber auch für Überlebensstrategien der bäuerlichen Bevölkerung Erlings. Nicht die Schlachten, Winkelzüge und Strategien der Generäle sind also Thema dieser Skizze, sondern das Erdulden und Erleiden des Krieges durch den »kleinen Mann« (und die »kleine Frau«), durch Zivilistinnen und Zivilisten.

Krieg, Pest, Hunger: Der Krieg im Kloster und vom Kloster aus gesehen Bayern und Schwaben haben unendlich gelitten während des Dreißigjährigen Krieges.8 Schlachten, Belagerungen, Brandschatzungen, Kontributionen, Einquartierungen und alle denkbaren Misshandlungen der Bevölkerung haben die beiden historischen Regionen über den Rand des Abgrunds sehen lassen, sie ruiniert und total erschöpft. Die »Politik der verbrannten Erde« zeitigte Wirkung, gleich, ob die Erde von Kaiserlichen oder von fremden Truppen verbrannt wurde. Nicht nur Pommerland war 1648 abgebrannt. Was Wunder also, dass apokalyptisches Gedanken- und Ideengut auftauchte, auch in und um Erling und den Heiligenberg.9 So schreibt Maurus Friesenegger am 16. Oktober 1629 über eine »wunderliche Luft-Erscheinung, die ebensoviel Schröcken, als Auslegungen verbreitete«.10 Mochte die eine oder andere »Ausle144

Abt Maurus Friesenegger über den Dreißigjährigen Krieg

gung« der merkwürdigen Himmelserscheinung apokalyptisch inspiriert sein, so deutete Abt Maurus Friesenegger den Krieg und seine Schrecken konventionell als Strafe Gottes, als Zuchtrute des Höchsten: »Da die Menschen sich auf vielfältige Art wider Gott vergehen, sucht Gott dieselben auch auf vielfältige Weise wieder zurecht zu weisen.«11 Anders verhielt sich im Jahre 1638 ein »neuer Prophet«12, der nach einem Erdbeben in Kalabrien [...] dieses Übel für ganz Deutschland, und Europa auf den 23. Juli verkündete, welches eine allgemeine Bestürzung unter den Menschen, und die ängstlichste Erwartung des traurigsten Sterbetages Europens verursachte. Es muss doch etwas kommen, das dem Übel einmal ein Ende macht.13

Das Kloster war zu dieser Zeit mit über tausend Menschen angefüllt.14 Menschen, die sich dort Schutz und Almosen versprochen hatten, eine Hoffnung, die trügte, denn das berühmte Kloster Heiligenberg wurde mehrmals Ziel von ruchlosen Anund Übergriffen. Die fremden, mehrheitlich schwedischen Soldaten hausten dort wie die ›wilden Tiere‹, insgesamt zweimal, das erste Mal im Jahre 1632: Übrigens war im ganzen Kloster eine abscheuliche Verwüstung; keine ganze Tür, kein Schloß, kein Kasten, kein Schrank, kein Fenster, das nicht zerbrochen war; alle Gänge, alle Zimmer, das Refectorium, Dormitorium, Colloquium waren mit Stroh, zerschlagenen Tür- und Kästen-Splittern, mit Pferd- und Menschen-Unrat, mit Gestank und Grausen, so angefüllet, daß 5 Mann 10 Täge genug zu tun gehabt, das Kloster nur vom größten Unrat zu reinigen. Vom ganzen Hausrat, von Kuchel- und Tischgeräten war nichts mehr da, oder zerbrochen. Von der Menge von Betten fand man kaum eines, und das andere, und diese ohne Leinenzeuge, ohne Kissen, und Polster. Von anderen lagen die Federn in den Gängen und Zimmern, mit anderem Unrat zerstreuet. Man kann aber wirklich nicht sagen, ob die Auswärtigen, oder einheimischen Diebe mehr geraubet haben.15

Für den frommen Abt war es Gottes Willen, dass das Kloster damals und andermal niemals Feuer fing und niederbrannte. Die »Gottlosen«16 selbst hätten sich darüber gewundert und diese Merkwürdigkeit an mehreren Orten erzählt: Ein echtes Wunder in Zeiten des Krieges! Bereits 1632 hatten die Schweden in Bayern gewütet und auch das Kloster Heiligenberg versehrt: Das Gotteshaus war voll Gestank und Pferd-Mist, auf den Altären Überbleibsel von Futter, die Opferstöcke alle zerbrochen, und die Grabstätte des 145

Fabian Brändle

Stifters geöffnet, jedoch waren die Altäre, und die Bildnisse derselben alle unverletzet, ausgenommen die Bildnisse des hl. Rasso, die gestümmelt, und mit Kot bedecket, außer dem Gotteshaus gefunden worden. Was an Kirchenwäsche, und Paramenten geraubet worden, ist von keinem grossen Wert, da alles Bessere aus dem Wege geräumet worden.17

Die lutheranischen schwedischen Eroberer betätigten sich als Bilderstürmer, und das rund 100 Jahre nach der Reformation. Gleichsam wunderlich war es, dass ein Heiligenbild nicht von der Stelle bewegt werden konnte. Da die Plünderer und Bilderstürmer hinter dem Bild einen Schatz vermuteten, gelangten sie an ihren Obersten, der sie jedoch abwimmelte und meinte, man führe keinen Krieg gegen die Heiligenbilder.18 Immerhin war es den Mönchen gelungen, den wertvollen Klosterschatz samt Reliquien in Sicherheit zu bringen. Der Reliquienschatz, im Kern drei Hostien, hatte bereits im 12. Jahrhundert die Wallfahrt hervorgerufen. Im Winter 1632 erging der erneute kurfürstliche Befehl, die heiligen Reliquien einzupacken und in Sicherheit zu bringen. Dies geschah umgehend, und die Reliquien wurden nach Burghausen gebracht.19 Der »Schatz der heiligen Gefässe von Andechs« wurde noch mehrmals abtransportiert und gelangte gegen Ende des Krieges via Salzburg und München mehr oder weniger unbeschadet ins Kloster zurück. Weniger Glück als der Klosterschatz hatten indessen die Erlinger Dorfbewohner, die sich ja wie angedeutet mehrteils im Kloster versteckt hielten und dort bangten. Ihr Dorf litt unbeschreiblich, auch unter Raub und Plünderungen. »In den besseren Zeiten«,20 so Friesenegger, habe das einst habliche Dorf rund 500 Seelen gezählt. Im Jahre 1634 waren es deren noch 190!21 Viele, gemäß den Angaben des Diaristen mehr als 300, waren verhungert, an Seuchen gestorben, geflohen oder ermordet worden: Noch elender als im Kloster sah es im Dorf aus. Das obere Wirtshaus, das schöne Richterhaus, das neue Schulhaus, in allem 43 Häuser, fast das ganze obere Dorf lag in Asche, wozu die Feinde am 24ten Mai [1632, F. B.] Feuer angelegt hatten. Und niemand durfte retten, alles Bitten, alles Heulen war fruchtlos. Einige sagten, dass es darum geschehen, weil die Erlinger die begehrte Brandschatzung nicht bezahlen wollten, oder konnten, andere wegen den 2, die neulich von den weilheilmschen Reitern getötet worden, worunter einer von großem Adel war. Nebst den Häusern ist auch der Turm, und die Dachung der U. L. Frauen Kirch und viele Paramente von dieser und der St. Veits-Kirchen mit verbrunnen.22

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Abt Maurus Friesenegger über den Dreißigjährigen Krieg

Die Erlingerinnen und Erlinger waren in die Wälder geflohen, wo sie aber auch nicht gänzlich sicher waren. Besonders verwerflich fand Chronist Friesenegger (und findet der Historiker) die brutale Gewalt gegen »alte Presthafte, und Einfältige«, gegen Greise und geistig Behinderte: Von derley Gattung sind in Erling 12 Personen ihre Schlachtopfer geworden, die sie nach vielen Plagen, und Martern getötet, deren die einen über 60, 80, auch 90 Jahre alt, und presthaft, die anderen aber sehr einfältig, und gut waren. Unter den Lebenden waren die einen sehr verwundet, die andern presthaft geschlagen, die meisten von Hunger abgemergelt. Andere Greueltaten, wobei es auf Unzucht, und Schande und Gotteslästerung ankam, lassen sich aus bisher Gesagtem leichter abnehmen, als sagen. Zum Beispiel dienet die Tat in Traubing mit einem alten Mann und Weib, das sie abscheulich geschändet, und darnach gestimmelt, dem Mann aber die Augen ausgestochen, und darnach beide ins Feuer geworfen haben.23

Zu den ansonsten oft namenlosen Opfern solcher Mörderbanden gehörte auch der Weber Laurentius Maul, Vater von sieben Kindern, der erschossen wurde.24 Nach dem Abzug (verbündeter) spanischer Truppen, die in Erling und Umgebung einquartiert worden waren, stellte Friesenegger auf Geheiß der Obrigkeit eine recht genaue Schadensliste zusammen. Diese fügte er auch der Chronik an. Die Schäden an Land, Flur, Mobilien, Hab und Gut waren tatsächlich gewaltig und beliefen sich auf weiter über 10.000 Gulden!25 Seuchen wie die Pest fanden in den ausgehungerten und somit stark geschwächten Menschen leichte Opfer.26 Soldaten und Flüchtlinge verbreiteten die Pesterreger von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt. Im Juli 1634 starb eine ca. 20jährige junge Frau aus Dettenschwang in Erling an der Pest. Sie hatte im Umkreis ihres Heimatdorfes um Almosen gebettelt und war bei ihrem Onkel, dem so genannten »Raucher«, eingekehrt. Bald darauf erkrankten und starben die Söhne des »Rauchers«, schliesslich der »Raucher« selbst sowie seine Frau. Die noch minderjährigen, tapferen Söhne begruben ihre Angehörigen, steckten sich jedoch ebenfalls an und verstarben bald danach: Das Übel griff immer weiter, und ein Haus nach dem andern an. Sehr viele starben, gesund war niemand, wenigst all so matt, und entkräftet, dass es die höchste Not hatte, jemand auszuwarten, und noch mehr Not, nur so viel Getraid auszuschlagen, als zum Brot, und äußerster Notdurft nötig war. Die Toten blieben oft viele Tage liegen, weil niemand gesunder da war. Und endlich mussten halt Eltern Kinder, Kinder Eltern, Freunde ihre nächsten 147

Fabian Brändle

Freunde begraben. Es war keine Nacht, wo nicht ein, zwei, oder drei Tote ohne alle Zeremonie, oft in einer Grube eingescharrt wurden.27

Nicht nur die Pest, auch andere Seuchen griffen um sich, sie bestunden in gänzlicher Entkräftung, Dissenteria, ungarischem Fieber, ungewöhnlicher Hitze, Gliederschmerzen und Geschwulsten. Zudem wurden mehrere Erfrorene auf den Wegen, und Feldern gefunden. Was das Übel vermehrte, war, dass die Kranken niemand mehr besuchte, und die Toten niemand begraben wollte.28

Man lebte inmitten der »Kleinen Eiszeit«,29 und sämtliches Brennholz war von den Soldaten gestohlen worden, auch Planken und Zaunlatten waren ausgerissen worden. Da auch die Soldaten froren und oft in Lumpen gingen, beraubten sie die Einheimischen ihrer letzten Kleider, Schuhe, Strümpfe, »und ließen ihn auf Schnee und Eis bei der größten Kälte hinlaufen.«30

Überlebensstrategien Zu meinen, die Erlinger Bauern hätten ihr Schicksal demütig angenommen, ihren Lebenssinn im Leiden gesehen, wäre weit gefehlt. Sie wählten vielmehr verschiedene Überlebensstrategien. Zum einen etwa flohen viele, zumal während des Tiefpunktes der Dorfgeschichte, im Jahre 1634, nachdem selbst das Haferund Kleiebrot bereits im Frühjahr ausgegangen war: »Daher starben manche an Hunger, und manche verließen Haus und Gut, und suchten ein Brot im Auslande, besonders in Österreich, mit Betteln.«31 Namentlich das nahe gelegene Tirol versprach Almosen.32 Das harte Los des Bettlers und der Bettlerin durchlebten viele ihren Lebtag lang, die Straße wurden manchen über Generationen hinweg zur Heimat. Viele endeten am Galgen, andere auf Galeeren, wieder andere als gepresste Soldaten in den Heeren des Dreißigjährigen Krieges.33 Manche junge Männer ließen sich auch freiwillig anwerben, wie Friesenegger vermerkt.34 Sehr viele Flüchtlinge durchzogen das Land, auch aus Schwaben. Diese meinten, »dass wir noch im Paradiese seien«,35 so sehr verwüstet war ihre Heimat. Flucht ins Tirol und »Flucht« in die Armeen also. Doch zeigten sich die Bauern auch zum Widerstand bereit. Die Menschen fanden nicht nur Zuflucht im geheizten Kloster, sie verbarrikadierten das Gebäude auch und versahen sich mit Gewehren und Steinen, um es gegen marodierende Truppen zu verteidigen.36 Mehrmals nahmen »Freibeuter« und Räuberbanden Reißaus, nachdem sich ihnen 148

Abt Maurus Friesenegger über den Dreißigjährigen Krieg

Frauen und Männer entschlossen mit Steinen und Waffen entgegengestellt hatten.37 Manchmal eskalierte auch die bäuerliche Gewalt, so im Jahre 1633, nachdem kroatische Truppen einige Schweden getötet oder gefangen genommen hatten. Zwei Schweden hatten sich in einem Kornspeicher versteckt, wurden entdeckt und sofort getötet, der eine gar lebendig begraben.38 Weil die Felder nur wenig bebaut werden konnten – Knechte, Zugtiere wie Ochsen und Pferde waren rar, die Bauern selbst oft erschöpft – […] machten die Erlinger gemeinsame Sache, und spanneten ihre wenigen Pferde zusammen, und baueten fast die ganzen Felder. Die übrigen, die nicht arbeiteten, bewachten das Feld wider den Einfall der Freibeuter, und beschützten mit verschiedenen Waffen die Arbeitenden.39

Die Einheimischen zeigten sich nicht nur soildarisch, sondern auch erfinderisch, wenn es ums Essen ging. Sie verzehrten Kräuter, Kleienbrot und anderes mehr.40 Die ebenfalls hungernden Soldaten aßen Hunde, Katzen, Kraut und Salatstengel, Wurzeln.41 Da die Katzen nun das Mausen lassen mussten, kam es mehrmals zu entsetzlichen Mäuseplagen.42

Schluss Es gäbe noch vieles zu berichten über Maurus Frieseneggers faszinierendes Tagebuch des Dreißigjährigen Kriegs, Berichte über tyrannische Feldherren wie den schwedischen General Baner, Berichte über Helden wie den General von Werth, Berichte über 40stündige Friedensgebete, geweihte Wasser, die Mäuse fernhalten sollten. Ich habe mich in meiner Skizze indessen auf Beschreibungen des Leids der Mönche im Kloster Andechs und die unvorstellbaren Torturen der Dorfbewohner Erlings konzentriert. Die Erfahrungen der physischen und psychischen Gewalt, von Hunger, Krankheiten und seelsorgerischer Vernachlässigung – es fehlte oft an Messwein und an Oblaten – hinterließen einen dörflichen Mikrokosmos kurz vor dem Abgrund. Es sollte noch Generationen dauern, ehe sich Erling, Bayern, das Reich von den dramatischen demographischen Verlusten erholten. Es erheischt unseren Respekt, wenn wir sehen, wie zäh die Mönche und die Bauern weitermachten, ihre Felder pflügten, wenn nötig sich selber vor den Pflug spannten und ihr weniges Hab und Gut auch bewaffnet verteidigten. Manche flohen, endeten als Soldaten oder als Bettlerinnen und Bettler. Dass aber das Leben weiterging in Erling, verwundert den Historiker nach der Lektüre Frieseneggers im Grund genommen am meisten. 149

Fabian Brändle

Anmerkungen 1

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Pater Willibald Mathäser (Hg.). Maurus Friesenegger. Tagebuch aus dem 30jährigen Krieg. Nach einer Handschrift im Kloster Andechs. München 2007. Willibald Mathäser. »Abt Maurus Friesenegger und sein Tagebuch aus dem 30jährigen Krieg«. Ders. (Hg.), Friesenegger, 107–110. Zitiert nach ebd., 107. Franz Maria Ferchel (Hg.). Chronik von Erling und Heiligenberg während dem dreißigjährigen Kriege: nach dem Manuscript des damaligen Prälaten Maurus Friesenegger. München 1833. Mathäser, »Abt Maurus Friesenegger«, 108f. Hermann Hörger. »Die Kriegsjahre 1632 bis 1634 im Tagebuch des P. Maurus Friesenegger, nachmaligen Abtes von Andechs (1640–1655)«. Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 34 (1971), 866–876. Lauro Martines. Blutiges Zeitalter. Europa im Krieg 1450–1700. Darmstadt 2015, besonders 210– 215. Vgl. auch Martin Scheutz, . »›… im Rauben und Saufen allzu gierig‹. Soldatenbilder in ausgewählten Selbstzeugnissen katholischer Geistlicher aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs«. L‘homme 12 (2001), 1, 51–72. Vgl. beispielsweise Franz Maier. Die bayerische Unterpfalz im Dreißigjährigen Krieg. Besetzung, Verwaltung und Rekatholisierung der rechtsrheinischen Pfalz durch Bayern 1621 bis 1649. Frankfurt/M., Bern 1990; Rudolf Schlögl. Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert. Göttingen 1988; Werner Ebermeier.

Landshut im Dreißigjährigen Krieg. Das Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner im historischen Zusammenhang. Landshut 2000; Bernd Roeck. Als wollt die Welt schier brechen. Eine Stadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Kriegs. München 1991 (über Augsburg). 9 Vgl. beispielsweise aus mehrheitlich protestantischer Warte Wilhelm Schmidt-Biggemann. »Apokalypse und Millenarismus im Dreißigjährigen Krieg«. 1648. Krieg und Frieden in Europa. Band 1. Münster 1998, 259–263. 10 Mathäser (Hg.), Friesenegger, 13. 11 Ebd., 52f. 12 Ebd., 67. 13 Ebd. 14 Ebd., 23 (1632): »Selbst Mann, Weib, und Kinder verließen ihre leeren Häuser, und wohnten im Kloster.« Vgl. auch ebd. 38 (1634): »In dem Kloster befanden sich über die tausend Menschen, alle Zimmer waren voll geschoppt, einer lehnte sich an den andern. Es war Winter und kein Ofen, kein Bett […].« 15 Ebd., 18. 16 Ebd. 17 Ebd., 17f. 18 Ebd., 18. 19 Ebd., 16. 20 Ebd., 53. 21 Ebd., 54. 22 Ebd., 19. 23 Ebd., 20. Allgemein zu Gewalt gegen Zivilistinnen im 17. Jahrhundert vgl. Maren Lorenz. Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650–1700). Köln 2007. Allgemein zu Vergewaltigungen in Kriegs-

Abt Maurus Friesenegger über den Dreißigjährigen Krieg

und Friedenszeiten vgl. Joanna Bourke. Rape. A History from 1860 to the Present Day. London 2008. 24 Mathäser (Hg.), Friesenegger, 27 (April 1633). 25 Ebd., 51f. 26 Vgl. beispielsweise Jens Jacobsen. Schatten des Todes. Die Geschichte der Seuchen. Darmstadt 2012; Manfred Vasold. Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa. Stuttgart 2012. Vgl. auch den spannenden Bericht eines katalanischen Gerbers: James Amelang (Hg.). A Journal of the Plague Year. The Diary of the Barcelona Tanner Miquel Parets, 1651. New York 1991. 27 Mathäser (Hg.), Friesenegger, 53. 28 Ebd., 45 (1634). 29 Vgl. Wolfgang Behringer. Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit zur globalen Erwärmung. München 2007, 117–162.

30 Mathäser (Hg.), Friesenegger, 36. 31 Ebd., 46. 32 Ebd. 33 Vgl. Gerhard Ammerer. Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime. Wien 2003. Die Flüchtlingsproblematik im Dreißigjährigen Krieg harrt meines Wissens noch einer Gesamtdarstellung. 34 Mathäser (Hg.), Friesenegger, 46. 35 Mathäser (Hg.), Friesenegger, 28 (1633). 36 Ebd., 35 (1633). 37 Vgl. beispielsweise Mathäser (Hg.), Friesenegger, 47(1634). 38 Ebd., 27 (1633). 39 Ebd., 26 (1633). 40 Ebd., 28 (1633). 41 Ebd., 37 (1633). 42 Vgl. beispielsweise ebd., 60f. (1635).

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Judith Butler. Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Aus dem Englischen von Reiner Ansén, Frankfurt/Main: Campus, 2010, 180 pp., 19,90 € [978-3-593-39155-7]. Die weltbekannte amerikanische Philosophin Judith Butler, Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley, befasst sich in der vorliegenden Abhandlung mit den Grenzen der menschlichen Fähigkeit zum Mitleid sowie der Wahrnehmbarkeit von Leben und Tod bei bestimmten Gruppen und Individuen. Ihre These lautet, dass insbesondere die Wahrnehmung von Leben und Tod durch politische Interessen bestimmt sei, die auf selektive Weise medialer Beeinflussung unterliegen würde. Als Resultat seien in der westlichen Welt die Gefühle angesichts des menschlichen Leids nicht gerecht verteilt. Wir seien mehr betroffen, wenn wir aus den Medien – hier sind explizit die dominierenden Massenmedien gemeint – vom Tod unserer Soldaten als etwa vom Schicksal getöteter Zivilisten erfahren, wie in den jüngsten Kriegen im Irak und Afghanistan überdeutlich wurde, die der Hintergrund der vorliegenden Intervention der Denkerin sind. Offensichtlich empört und ohnmächtig angesichts der Bilder, die die amerikanische Öffentlichkeit aus dem irakischen Abu Ghraib oder Guantánamo erreichten, wirft Butler dem Westen Ungleichheit bei der Betrauerung der Toten im Krieg vor; und dies, obwohl die Toten anderer Bevölkerungen nicht weniger ein universelles moralisches Recht auf Wahrnehmung hätten. Dabei knüpft die Autorin an die These ihres Buchs Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence (London: Verso 2004; dtsch. Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005) an, die besagt, »dass spezifische Leben nur dann als beschädigt oder zerstört wahrgenommen werden können, wenn sie zuvor überhaupt als lebendig wahrgenommen worden sind.« (9) 153

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Im Umkehrschluss meint Butler zugleich folgern zu können: Wenn bestimmte Leben gar nicht als Leben gelten oder von Anfang an aus gewissen epistemologischen Rastern [frames] herausfallen, dann werden diese Leben im vollen Wortsinn niemals gelebt und auch niemals ausgelöscht. (9)

Ob diese weit reichenden Schlüsse berechtigt sind, wird noch Gegenstand dieser Besprechung sein. Vorläufig kann man nur festhalten, dass Judith Butler die Frage der medialen Macht als maßgeblich für die Ergebnisse der unterschiedlichen Wahrnehmungen menschlichen Leids ansieht. Butler versucht also zu erklären, warum wir unterschiedliche Gefühle für das Leid unterschiedlicher Menschen hegen und warum wir dieses Leid unterschiedlich wahrnehmen. Insbesondere im Krieg sei immer schon ein Deutungsrahmen gegeben, der einige Leben mehr wert als andere erscheinen lässt. Dieser Deutungsrahmen wird um weitere Rahmen oder Raster im Krieg erweitert, die den gewaltsamen Konflikt als politisch gerechtfertigt und notwendig erscheinen lassen sowie unsere visuelle Erfahrung so strukturieren, dass wir als Rezipienten von Nachrichten immer schon zwischen Leben unterscheiden können, »die wir wahrnehmen […], und solchen, die wir nicht wahrnehmen können«. (11) Im Kern ist Judith Butler also der Meinung, dass »[d]ie epistemologische Fähigkeit zur Wahrnehmung eines Lebens […] in Teilen davon ab[hängt], dass dieses Leben gemäß Normen hervorgebracht wird, die es allererst als Leben oder überhaupt als Teil des Lebens qualifizieren.« (ebd.) Hiermit ist wohl gemeint, dass ein Leben, das phänomenologisch nicht als Leben wahrgenommen wird, auch nicht als solches definiert werden kann und folglich in der Wahrnehmung des Einzelnen zugleich nicht sterben kann. Wird Wahrnehmung des »anderen Lebens« nicht aufgebracht, kann dieser in der spezifischen Wahrnehmung auch nicht existieren. Insofern herrscht für Butler zwischen den Rahmen oder Rastern der medialen Vermittlung und der individuellen Wahrnehmungsfähigkeit eine Korrespondenz, die immer schon normativ gesetzt sein muss. Zugleich aber geht sie davon aus, dass zwischen der materiellen Realität und der Wahrnehmung ein Korrelat bestehen müsse, dass sich in politischen Entscheidungsprozessen zeigen würde. Die Abhängigkeit von Normen der Wahrnehmung ergebe sich daher aus den so genannten Rahmen oder Rastern, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit ebenso wie unser Denk- und Interpretationsvermögen nicht nur nachhaltig beeinflussen, sondern vielmehr erfolgreich manipulieren. Dies führt den Leser zwangsläufig zur Frage, was »ein Leben« denn nach Butler überhaupt sei. Hierzu gibt die Autorin aber keine zufrieden stellende Antwort. Ihre postulierte Behauptung, dass manche Leben nicht vorkommen, ja nie gelebt worden seien, 154

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wenn sie keine mediale Präsenz besitzen, scheint doch ein wenig weit hergeholt zu sein – obwohl die Autorin genau dies aussagt, wenn sie behauptet, »dass es Leben und Tod nicht ohne Bezug auf den einen oder anderen Rahmen gibt.« (15) Wenn man Butler dennoch zu folgen versucht, hieße dies, konsequent zu Ende gedacht, dass die massenmedialen Bilder durch die ihnen zugrunde liegenden Rahmen oder Rastern verhindern, dass man die eigentlichen Bilder überhaupt noch als Bilder sehen kann. Die normativ vorbestimmten massenmedialen Bilder sorgen nämlich demnach dafür, dass man die eigentlichen Bilder gar nicht mehr sieht bzw. wahrnimmt. Anklänge an Niklas Luhmann scheinen hier durchzuschlagen. Epistemisch aber lässt sich bezweifeln, dass Leben, wenn es nicht medial anerkannt wird, kein Leben mehr sei und nicht von anderen Menschen als solches Leben wahrgenommen würde. Nicht alle Wahrnehmung und Anerkennung erfolgt massenmedial, wie Butler wohl fälschlicherweise annimmt. Aber auch selbst die Behauptung, dass es »eigentliche Bilder hinter den Bildern« überhaupt realiter gebe, ist eine Wahrnehmung Butlers, die nicht zwangsläufig von jedermann geteilt werden muss. Hier zeigt sich das epistemische Problem in Butlers Argumentation grundlegend. Verstärkt wird dieses weiterhin noch, indem die Autorin wörtlich beansprucht: Es geht nicht nur um das Problem, einen größeren Kreis von Menschen in den Geltungsbereich bestehender Normen aufzunehmen, sondern vielmehr darum zu klären, wie bestehende Normen Anerkennung ab- und ausgrenzend zuweisen. (14)

Man fragt sich hierbei schon, wie dies überhaupt funktionieren soll, wenn bereits die Wahrnehmung von »eigentlichen Bildern hinter den Bildern« im Sinne der Autorin eine ähnliche Sichtweise bedingt, denn sonst lässt sich logischerweise auch nicht beschreiben, was sich nicht wahrnehmen lässt, und nicht wahrnehmen, was das Auge nicht in »eigentlichen Bildern« sieht. Wie können aber Bilder das Sehen der »eigentlichen Bilder« verhindern? Wie können bestehende Normen in Form von Rahmen oder Rastern Anerkennung ab- und ausgrenzend zuweisen? Welche Kriterien gibt es – außer dem singulären Kriterium der Wahrnehmung der Autorin selbst? An diesem Punkt bleibt Butler jegliche Antwort schuldig. Es reicht hier kaum, darauf zu verweisen, dass ein Leben »a ls L eb en intelligibel sein« (ebd.) und »gewissen Konzeptionen des Lebens entsprechen [muss], um anerkennbar zu werden.« (ebd.) Dies ist selbstredend eine zwingende Voraussetzung, erklärt aber nicht den Vorgang, welche Normen und mit welcher Begründung Leben als Leben anerkennen. Diesen epistemischen Widerspruch bemerkt die Autorin Butler wohl, denn sie greift diesen auf, ohne ihn aber aufzulösen: 155

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Wird ein Leben gemäß den Normen hervorgebracht, nach welchen Leben anerkannt wird, impliziert das nicht, dass sämtliche Aspekte dieses Lebens nach solchen Normen hervorgebracht werden, noch auch wird damit die Möglichkeit eines ausgesetzten und phantomhaften Restes von ›Leben‹ ausgeschlossen, eines Restes, der jede normative Instanz des Lebens gleichsam vorführt und heimsucht. (15)

Spätestens hier ist man so schlau wie zuvor. Die Argumentation von Butler ist zirkulär: Es gibt etwas, was unsere Anerkennung als Leben hervorruft, aber wir wissen nicht, was dies genau ist. Dennoch ist dieses Etwas in den Rahmen und Rastern der Massenmedien eingebunden, obwohl wir es nicht benennen können, denn sonst wären unsere Bilder nicht manipuliert, die es bekanntlich aber nach Butlers Wahrnehmung sind und die die »eigentlichen Bilder« verdecken, obwohl die Autorin nicht einmal ansatzweise benennen kann, warum dem so sein soll und was diese manipulierte Wahrnehmung denn belegt. So reiht sich bei ihr leider eine Aporie an die andere, insbesondere da die vermeintliche Macht der Manipulation sich ebenso nicht darstellen lässt. Als Konsequenz dieser zirkulären Schlüsse lässt sich die Gewalt der Nichtanerkennung von Leben und das Auslöschen dessen nicht länger von außen einem Subjekt zuschreiben, sondern ist immer schon inhärent Teil dieses Subjekts. In diesem Moment ist aber zugleich Butlers Ausgangsfrage hinfällig, die die Frage nach der Betrauerbarkeit menschlichen Leids bei bestimmten Gruppen und Individuen war, die nicht mediale Anerkennung erfahren. Wenn die Gewalt der Anerkennung von Leben und das Auslöschen des Lebens an das Subjekt gebunden sind, erübrigt sich zwangsläufig jeglicher Versuch einer Argumentation, wie die Autorin versehentlich selbst belegt: Der Gedanke, wonach der Rahmen implizit die Interpretation leitet, klingt in gewisser Weise an die Bedeutungsvariante der falschen Beschuldigung an. Die Erfassung durch ein Raster bedeutet, dass um eine Handlung herum ein »Rahmen« konstruiert wird, sodass der Betrachter unvermeidlich in diesem Rahmen schon einen Schuldigen sieht. Bestimmte Arten der ordnenden Darstellung einer Handlung führen zu bestimmten Deutungsschlüssen über die Handlung selbst. (16)

Dennoch stellt die Autorin die Frage nach den Bedingungen für das Gedeihen und den Fortbestand eines Lebens, die ein gefährdetes gegenüber einem betrauerbaren und somit lebenswerten Leben ausmachen. Diese Frage lässt sich aber nicht stellen, wenn der Betrachter unvermeidlich im Rahmen bzw. Raster bereits 156

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den Deutungsschluss über die Handlung sieht. Warum einer, der die Dinge nur so sieht, wie der Rahmen um die Handlung es erlaubt, nun diesen infrage stellen soll, erschließt sich insbesondere dann nicht, wenn die Autorin hinzufügt, dass man diesem Rahmen nicht entkommen kann: Der Anschein wird von einer Macht manipuliert, und man kann dem Rahmen oder Raster nicht entkommen, man ist erfasst und steht als Beschuldigter da, vorverurteilt ohne gültigen Beweis und ohne die Möglichkeit einer wirklichen Wiedergutmachung. (18)

Es ist offensichtlich, dass Butlers gesamter Theorieansatz heftig wankt. Ohne dass erkenntlich wird, wie der Rahmenwechsel vonstatten geht – Butler behauptet nur, dass sich Rahmen selbst durchbrechen, um sich durchzusetzen und andere Wahrnehmungsmöglichkeiten entstehen zu lassen (vgl. 19) –, wird von der Autorin der Ausbruch aus dem Gefängnis des Rahmens propagiert, der eine Befreiung darstellen, die Kontrollmechanismen über Bord werfen und eine neue Zielrichtung erlauben würde (vgl. 18f.). Auch wenn der Vorgang sich weder von selbst erschließt, noch von Butler erklärt werden kann, so meint sie diesen nichtsdestoweniger in der Realität – jenseits ihrer individuellen Wahrnehmung – konkret manifestieren zu können, wenn sie behauptet: Genau das passierte, als die Bilder kniender und gefesselter GuantánamoHäftlinge in die Öffentlichkeit gelangten und für Empörung sorgten; das Gleiche geschah erneut mit der weltweiten Veröffentlichung digitaler Bilder aus Abu Ghraib im Internet, die zu einem weit reichenden Stimmungswandel gegen den Krieg beitrugen. (19)

Wie immer also dieser Vorgang initiiert wurde, hierzu vermag Butler absolut nichts zu sagen, behauptet dieselbe Autorin aber nichtsdestoweniger über das dann einsetzende weitere Prozedere detaillierteste Aussagen machen zu können: Wenn ein Rahmen sich von sich selbst löst, wird eine unhinterfragte Realität infrage gestellt und treten die verborgenen Pläne jener Autorität zutage, die den Rahmen zu kontrollieren suchte. Daraus ist zu ersehen, dass es nicht lediglich um neue Inhalte gehen kann; vielmehr müssen wir auch mit vorgefundenen Wirklichkeitsdeutungen arbeiten, um zu zeigen, wie diese sich selbst durchbrechen können. (ebd.)

Dem Rezensenten erschließt sich nicht, wie jemand die Auswirkungen eines Vorganges als Resultat in allen Nuancen zu beschreiben können glaubt, deren 157

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Ursache er nicht einmal ansatzweise zu benennen im Stande ist. Frau Butler durchsteigt den gesamten Vorgang der Rahmenablösung, der den Rahmen der Wahrnehmung in unserem Alltag unterwandert hat und konsequenterweise zu beseitigen ist, und erfasst gleichsam die dann einsetzende neue Wirklichkeitsdeutung, kann aber bedauerlicherweise nicht erläutern, wie dieser Vorgang ursprünglich initiiert wurde bzw. was ihn initiiert hat. Das ist sehr gespenstig. Vielleicht ist aber auch nur primär der Wunsch der Vater des Gedankens, denn die Autorin hält ohne Beleg unvermindert an folgender Mutmaßung fest: Meiner Ansicht nach wird der Krieg in ganz bestimmte Rahmen gestellt, um Affekte in Verbindung mit der differenzierenden Betrauerbarkeit von Leben zu kontrollieren und zu steigern, während der Krieg inzwischen zugleich den Rahmen für das Denken des Multikulturalismus und für Debatten um die sexuelle Freiheit abgibt – Bereiche, die man gemeinhin nicht mit »Foreign Affairs« in Verbindung bringt. (32)

Dieser Kontext ist insofern interessant, da Butlers Kritik am Rahmen sich zwar aus den tatsächlichen Kriegsereignissen ableitet, aber das Ziel der Kritik ein ganz anderes ist – nämlich: Eine neue gesellschaftspolitische »Ausrichtung der Politik der Linken« (34), eine neue Reflexion der gesellschaftlichen Bande unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung von verschiedenen Leben und der Frage der Gewaltanwendung, und eine generelle Differenzierung von schützens- und nicht schützenswertem Leben im westlichen Diskurs, der bekanntlich universale moralische Ansprüche hegt, aber diese universale Kategorien offensichtlich nicht anwendet, wenn es um die unterschiedliche Betrauerbarkeit der verschiedenen Leben geht. Diese Ziele – die man in Teilen nachvollziehen, in anderen Teilen aber ebenso verwerfen oder infrage stellen kann – sollen nach Butler von außen dahingehend ermöglicht werden, dass die Voraussetzungen für ein lebbares Leben für jedermann gegeben sind. Dies mag einleuchten, wenn es um Folter, Drohnenangriffe etc. gehen mag. Wobei bereits bei normalen Kriegshandlungen neue Fragen aufkommen: Ist es nicht Teil des Wesens eines Krieges, das man im Krieg die eigenen Toten mehr beklagt und betrauert als die der anderen? Sind die unschuldigen Zivilisten nicht aus der Sicht einer sich im Krieg befindlichen Seite Folgeschäden einer falschen, zum Krieg führenden Politik? Ist das hervorgehobene Erinnern an die eigenen Toten nicht vielmehr eine moralische Pflicht anstatt des von Butler vermuteten Privilegs? Gedenken die Fremden nicht ihrer Toten ebenso hervorgehoben, da diese für sie bekanntlich nicht fremde, sondern immer schon die eigenen Toten sind? Würde man alle Toten eines Krieges gleichermaßen betrauern, wäre dann nicht die Trauer leer und fragwürdig? Und wenn man dies tun würde, wäre dann 158

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der Krieg als letzte Lösung überhaupt noch denkbar? Ist es nicht zwingend Teil einer Kriegslogik, dass man die Gefährdung von Leben als conditio sine qua non einkalkulieren muss? Kurzum: Bei Folter, Drohnenangriffen oder Rassismus mag man sich zu Recht fragen, ob man jemanden als gleichgestellt betrachtet. Hier ist auch die Frage berechtigt, ob ein solches Leben überhaupt noch als solches erfasst oder einfach ignoriert wird. Ebenso ist hier die Mahnung Butlers an unsere Verantwortung am richtigen Platz, wenn sie einfordert: »Wo ein Leben keine Chance hat zu gedeihen, hat man für die Verbesserung seiner einschränkenden Bedingungen Sorge zu tragen.« (29) Ob dies aber auch für die Fotografie, Einwanderungsund Sexualpolitik gilt, wie Butler deutlich zu machen versucht, sei hier bewusst offen gelassen. Zugleich sind jedoch deutliche Fragezeichen zu setzen, wenn die Autorin meint, die Folter in Abu Ghraib und deren Dokumentation in Form von Fotografien als Instrumente der amerikanischen Zivilisationsmission und als »Modernisierungstechnik« (123) verstehen zu müssen: Vielmehr scheinen mir diese Zwangsakte der Erniedrigung und Folter einen bereits in der Zivilisationsmission als solcher angelegten Zwang zu verdeutlichen, einen Zwang, der sich insbesondere in der Durchsetzung einer kulturellen Ordnung äußert, in welcher der Islam als verächtlich, rückwärts gewandt und bedrohlich gilt und dem entsprechend unterworfen oder aus der Kultur des Menschseins überhaupt ausgeschlossen werden muss. (ebd.)

Auch für diese steile These kann sie keinen Beleg benennen, der über die eigene subjektive Wahrnehmung hinausgeht. Dies ist aber letztlich nicht zufrieden stellend, vor allem da die Autorin vielsagend mit dem Gedanken des Rahmens bzw. Rasters begonnen hatte, der genau diese Phänomene hätte erklären und offenbaren müssen. Mit zunehmender Lektüre verschwindet aber diese RahmenMetapher in Butlers Theorieansatz wieder, so dass man sich am Ende fragt, was denn nun diesen Rahmen ausmacht und was sie als dessen maßgebliche Bedeutung für die Wirklichkeitsdeutung ansieht. Man mag daher Butler letztlich am ehesten folgen, wenn sie sich und uns wünscht, dass der Westen mehr die Verletzungen Anderer reflektieren müsse, insbesondere derjenigen, die aus westlicher Sicht nur als zu vernachlässigende Leben vorkommen und deren Tod kaum betrauert und wahrgenommen wird. Ulrich Arnswald, Karlsruhe

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Bruno Cabanes, Anne Duménil (eds.). Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Darmstadt: Theiss, 2013, 480 pp., Ill., 49,95 € [978-3-8062-2764-2] Der von Bruno Cabanes und Anne Duménil herausgegebene Band, der in Frank­reich bereits 2007 veröffentlicht wurde, ist nicht nur einer der opulentesten zur Geschichte des Ersten Weltkrieges, sondern wohl auch einer der bedeutendsten und wirkungsvollsten. Gerd Krumeich schreibt in seinem Vorwort für die nun vorliegende deutsche Ausgabe: »Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges wie diese hat es auf dem deutschen Buchmarkt noch nicht gegeben.« Neu sei »vor allem der ›zivilistische‹ Blick auf den Krieg und der Gesichtspunkt der permanenten und unauflöslichen Verwobenheit von Front und Heimat in allen kriegführenden Nationen«. (7) Unverständlich und unnötig ist hingegen eine andere Äußerung Krumeichs, nämlich »den Vorwurf vieler deutscher Soldaten, von der Heimat im Stich gelassen zu sein«, erneut zu diskutieren. (9) Einmal davon abgesehen, dass es wohl eher Generäle und Politiker waren, die diesen Vorwurf erhoben, reicht ein Blick in authentische (!) Feldpostbriefe von 1918, um zu erkennen, dass die Soldaten in ihrer Masse einfach nicht mehr kämpfen konnten und wollten. Die beiden französischen Herausgeber, die beide an Universitäten außerhalb Frankreichs lehren, haben verschiedene Autoren versammelt, die deutlich durch die Aktivitäten des »Historial de la Grande Guerre« im nordfranzösischen Péronne geprägt sind, was sehr ausgewogene Sichtweisen mit sich bringt. Um es vorweg zu nehmen: Natürlich kann man in einem Band, sei er noch so umfangreich, ein internationales, weltumspannendes und mehrjähriges Ereignis nicht vollständig darstellen. Daher gibt es auch im vorliegenden – natürlich – immer wieder Leerstellen, die sich der interessierte Leser ausgefüllt gewünscht hätte. Anders als bei vielen anderen Darstellungen geht der Blick hier über die Zeit zwischen 1914 und 1918 hinaus, werden wichtige Voraussetzungen und Nachwirkungen des Krieges mit einbezogen. Bereits in den Balkankriegen sind ab 1912 »eine ganz neue Art der Kriegsführung« (13) und neue Kriegsgräuel sowie deren propagandistische Instrumentalisierung vorgeprägt, die später der Weltkrieg überall zeitigen wird. Erstmals wird die Zivilbevölkerung gezielt und in erheblichem Maße Opfer militärischer Handlungen, gibt es ethnische Säuberungen und Vertreibungen. Die Weiterführung der Chronik bis zur Ruhrbesetzung 1923 offenbart, dass der Krieg keineswegs mit den Pariser Vorortverträgen von 1919 beendet wurde. In einzelnen Kapiteln werden Themen, Geschehnisse und Problemfelder beleuchtet. Zwar folgt der Band der Chronik der historischen Ereignisse, aber es sind nicht immer die allseits bekannten Schlüsseldaten und -begriffe, die man 160

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auswählt, um sie vertiefend darzustellen. Erfreulich oft liest man Geschichten mit einigem Neuigkeitswert. Für den Leser gut nachvollziehbar werden in allen Kapiteln ausgehend von speziellen Ereignissen allgemeinere und weiterführende Fragen erörtert. So bspw. im Abschnitt über Mata Hari, die 1917 »nach stümperhaftem Prozess« (311) von den Franzosen hingerichtet wird und später geradezu zur Ikone in der Geschichte der Spionage avanciert. Das konkrete Schicksal der verführerischen Tänzerin ist Anlass, über die damals grassierende, fast paranoide Angst vor Spionen, Verschwörern und Saboteuren in allen kriegführenden Ländern zu berichten. In der Geschichte der Spionage bildet der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt. Bis zu seinem Beginn steckten die europäischen Geheimdienste noch in den Kinderschuhen. (315)

Dem gegenüber steht die Geschichte der von den Deutschen standrechtlich erschossenen, britischen Krankenschwester Edith Cavell, die zu einem Symbol für Patriotismus und zur Märtyrerin stilisiert wurde. Generell ist erwähnenswert, dass im Band erfreulich viele weibliche Schicksale und deren Auswirkungen berührt werden, wie z. B. das der russischen Bäuerin Maria Boschkarewa, die ein Frauenbataillon befehligte. Der »zivilistische Blick«, in dem in der Einleitung gesprochen wird, bringt es mit sich, dass neben militärischen auch entferntere Themenkomplexe behandelt werden: Psychische Erkrankungen und Hunger, Jargon in den Schützengräben und Aufrufe deutscher Intellektueller, Völkermord und Pandemien, Sozialismusvorstellungen und Religiosität, um nur einige in den fast 70 Kapiteln zu nennen. Die verschiedenen betrachteten Frontabschnitte – Gallipoli, Verdun, Naher Osten, Russland etc. – zeigen, wie unterschiedlich die Kriegserfahrungen in den einzelnen Regionen sein konnten. Übergreifend wird die Geschichte des Krieges konsequent als eine Geschichte des Schreckens und der Gewalt erzählt. Der Erste Weltkrieg hatte einen enormen Einfluss auf kulturelle Entwicklungen, wie beispielhaft im Kapitel »Dada ist der Clou« beschrieben wird. Der Dadaismus entstand sozusagen zur »Halbzeit« des Krieges 1916 im einzigen nicht vom Krieg betroffenen Land Mitteleuropas, der Schweiz. Wie in einem Brennglas residierte hier die künstlerische Avantgarde im »Cabaret Voltaire« nur wenige Meter entfernt von der politischen Avantgarde in Lenins Exilwohnung – ohne sich zu berühren. Die Unbegreifbarkeit des Massenschlachtens ringsumher spiegelt sich in den offenbar sinnfreien Provokationen des Dadaismus und im Versuch, den bürgerlichen Kunstbetrieb zu sprengen, in Zeiten, wo die bürgerliche Gesellschaft die menschlichen Gemeinschaften im wahrsten Wortsinn zu sprengen drohte. Die »Sprengungen« des Dadaismus brachte ein 161

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ungeahntes Maß an neuen künstlerischen und ästhetischen Formen hervor. Doch nur »scheinbar entsteht der Dadaismus aus dem Chaos, denn in Wirklichkeit sind die dortigen ›Happenings‹ sorgfältig choreographiert« – so wie das sinnlos erscheinende Gemetzel auf den Schlachtfeldern. (218) Das Abklingen kriegerischer Ereignisse in Mitteleuropa Anfang der 1920er Jahre markierte auch das Ende dieser Kunstbewegung. Ein deutliches Manko des Bandes ist, dass sozioökonomische Hintergründe nur ansatzweise und nie tiefgreifend einbezogen werden. Die Ursachen des Krieges, die im Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurzeln, werden nur schemenhaft diskutiert. Dies ist umso bedauerlicher, als sich in unserer Gegenwart nicht nur in Osteuropa Prozesse vollziehen, für deren Verständnis ein analytischer Aufschluss der Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts hilfreich wäre. Seinen Reiz bezieht der Band auch von den vielen z. T. farbigen Abbildungen, die mehr sind als bloße Illustrationen und in hoher Qualität präsentiert werden. Es sind dies zum Teil unbekannte Fotos von privaten und kriegerischen Ereignissen, Dokumentationen von militärischen und Alltagsgegenständen, Feldpostkarten, Plakate, Karikaturen und vieles mehr. Jens Ebert, Berlin

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Jens Ebert (ed.). Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914–1918. Göttingen: Wallstein, 2014, 394 pp., Ill., 29,90 € [9783-8353-1390-3]. »Die besten Grüße sendet vom Kriegsschauplatz Paul« Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg: Weder Hurrapatriotismus noch Revolutionsstimmung. Schier unglaubliche 29 Milliarden Postkarten, Briefe und Päckchen beförderte die Deutsche Reichspost während des Ersten Weltkrieges zwischen Front und Heimat. Bis zu 100 Güterzüge wurden dafür täglich eingesetzt. Schon die bloße Zahl signalisiert, welche enorme Bedeutung die Feldpost damals hatte. Für die allermeisten Soldaten war sie das einzige Bindeglied zu ihren Familien und Freunden in der Heimat und von unschätzbarer Bedeutung: »Denn nichts erfreut uns mehr, als wenn wir bei der Verteilung der Post auch unsere Namen aufrufen hören«, heißt es in einem Brief. Auch die Militärführung versprach sich von der Feldpost positive Auswirkungen für die »Schlagkraft des Heeres«. Der Historiker Jens Ebert hat sich durch 20.000 solcher Briefe gearbeitet. Es ist nicht die erste Sammlung von Feldpostbriefen: Schon 1915 erschienen in den Buchhandlungen Zusammenstellungen besonders patriotischer Briefe – als Propagandamittel, um der Leserschaft vom Opfermut und Tapferkeit der Frontsoldaten zu künden. Ihr auffällig fehlerfreies Deutsch und der stilistische Schliff lassen allerdings keinen Zweifel daran, dass hier die »besseren Kreise« schrieben oder, wie Ebert vermutet, die Briefe von nationalistischen Verlegern bestellt oder gleich selbst in den Verlagsstuben produziert worden sind. Trotzdem hat der Hurrapatriotismus dieser Sammlungen über Jahrzehnte das Bild geprägt, das sich die deutsche Gesellschaft vom Krieg gemacht hat. Die Briefe einfacher Soldaten, sprich: einfacher Arbeiter, unterschieden sich von den damaligen Propagandabriefen gewaltig. Zum einen im Stil: Für die meisten Menschen war Schreiben als Kommunikationsform ja etwas völlig Ungewohntes; sie fanden kaum Worte, um ihre Lage oder gar ihre Gefühlswelt zu beschreiben. Ihre Mitteilungen lesen sich mitunter wie fröhliche Urlaubsgrüße: »Die besten Grüße aus Serbien sendet Euch allen euer Wilhelm«, lässt etwa Ersatzreservist Wilhelm Schmitt am 10. November 1915 seine Verwandten wissen. Wenig später sendet er die exakt gleiche Grußformel aus den französischen Argonnen. Mehr steht in seinen Postkarten nicht drin, aber dennoch alles, worauf es ankam: Ich lebe noch. Der zweite Unterschied zu den zeitgenössischen Feldpostsammlungen: Mit den Briefen, die Ebert zusammengestellt hat, hätte sich keine Kriegspropaganda machen lassen. 163

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Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fehlt darin jegliche Begeisterung, die doch bei Kriegsbeginn – Stichwort »Augusterlebnis« – angeblich ganz Deutschland erfasst haben soll. Stattdessen dominiert ein einziger Gedanke: Hoffentlich ist alles bald vorbei. »Betet fleißig für mich daß mich des Feindes Schwert u Kugel nicht verletzte und ich mit Gottes Hülfe gesund wieder in die Heimat zurück kehren würde«, schreibt ein Gefreiter am 9. August. Und auch die Schilderung eines Feld-Unterarztes vom November 1914 wäre kaum dazu angetan gewesen, Kriegsbegeisterung anzustacheln: »Es ist ein ganz trübseliger Ausdruck, wenn man da Leute, die als frische kräftige Soldaten ins Feld gezogen sind, hier als Krüppel, ohne Bein, ohne Auge, mit krummen Gliedern oder hässlichen, stinkenden Wunden« liegen sehe. Als der Krieg zum Stellungskrieg wird, machen sich in den Briefen Trostlosigkeit und Resignation breit. »Wir sassen da in unseren Unterständen wie geistesabwesend u. erwarteten die Dinge die bald kamen.« Mit erstaunlicher Offenheit wird den Lieben in der Heimat mitgeteilt, wie es im Felde aussieht: [Ich] schlafe im dumpfen stinkigen Unterstand auf altem Stroh oder auch auf neuem, laß die Läuse sich an mir gütlich tun und die Raten u. Mäuse das Brot anfressen und um und über mir wettlaufen, höre resigniert ihr immerwährendes Nagen u. Scharren und lasse den Dreck und Schweiß an meinem Körper wachsen,

so ein Infanterist im August 1915. Da helfen auch Ordensverleihungen nicht: …habe die hessische Tapferkeitsmedaille erhalten. Wollte ich hätte nie Gelegenheit gehabt, sie kennen zu lernen.

Frauen, die ihren Männern Briefe an die Front sandten, bemühten sich zwar, ihnen das Leben nicht zusätzlich schwer zu machen, mitunter kam aber zum Ausdruck, wie es um den Alltag an der Heimatfront stand: »Es gibt keine Kartoffeln mehr. Dafür gibt es 1 Pf. Brot und 100 g Mehl. Leider kann man aber beides nicht bekommen«, heißt es im Februar 1917 und im Juli des gleichen Jahres: »Dies Laufen nach Gemüse macht mich ganz kaputt.« Was noch auffällt: Verglichen mit Zeugnissen aus dem Zweiten Weltkrieg fehlen hier jegliche Anklänge an rassistische Untermenschen-Feindbilder. Man wusste, dass auch drüben armselige Arbeiter und Bauern lagen. Von der Ostfront heißt es 1916: Die Russen wollen kaum schießen, die Deutschen auch nicht, und wenn, dann »pfeifen die Kugeln meist hoch durch die Bäume.« So, wie zu Beginn des Krieges die Begeisterung fehlte, fehlt – jedenfalls in den Soldatenbriefen – zu Ende des Krieges die Empörung. Dass sich zu Kriegsende 164

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eine Soldatenmeuterei, eine revolutionäre Stimmung anbahnt, ist ihnen nicht zu entnehmen. Stattdessen herrscht bis zuletzt die Maxime: »Wir müssen uns fügen und unser Leid tragen.« Der Krieg ist verloren, das ist den Soldaten klar: »Bei den Ruinen von Menschen jetzt, kann man ruhig […] sagen: ein Narr, wer noch an den Sieg glaubt«, schreibt ein unbekannter Soldat im Juli 1918, und ein anderer, im November: »Wir befinden uns andauernd auf der Rückwärtsbewegung, kommen überhaupt nicht mehr zur Besinnung.« Wären solche Briefe, anstelle der ausgewählten Darstellungen »besserer Kreise«, schon in der Weimarer Republik veröffentlicht worden, die Dolchstoßlegende hätte keine Chance gehabt. Frank Brendle, Berlin

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Sabine Giesbrecht. Musik und Propaganda. Der Erste Weltkrieg im Spiegel deutscher Bildpostkarten. Osnabrück: Electronic Publishing Osnabrück, Universität Osnabrück, 2014, 284 pp., Ill., 34,50 € [978-3-940255518]. Sabine Giesbrecht wendet sich in ihrer Monographie gleich zwei Themen zu, die bislang bei der Betrachtung des Ersten Weltkrieges, nur wenig – zu wenig – betrachtet worden sind. Das erste ist die Bedeutung der Musik im Krieg allgemein und für die Kriegspropaganda im Besonderen in der Zeit ihrer erst beginnenden technischen Reproduzierbarkeit. Es gab damals kein Radio, und selbst das Grammophon war nur in gehobenen Schichten verbreitet. Das zweite Thema ist die spezifische Widerspiegelung von Musik, Lied und Klangerlebnis auf Feldpostkarten, von denen es zwischen 1914 und 1918 eine wahre Flut gab mit den unterschiedlichsten Motiven, Stilrichtungen und ideologischen Aussagen. Diese Vielfalt scheint heute kaum mehr erfassbar, selbst wenn man die Untersuchung auf einzelne Sujets begrenzt. Giesbrecht bietet auf ihrem Gebiet, Musik und Liedgut, einen sehr überzeugenden Untersuchungsansatz, der dem Leser in der Einleitung plausibel nahe gebracht wird. Auf der Grundlage der vorgelegten Analysen zeichnet sich in Umrissen das Erscheinungsbild eines Genres ab, das im Ersten Weltkrieg die Kommunikation zwischen Front und Heimat stark beeinflusst hat, jedoch als musik- und kulturgeschichtliche Quelle bisher noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen und in seiner Funktion untersucht worden ist. ( 4)

Stets gibt es für die Interpretation prägnante Textbelege. Diese stammen häufig aus dem Band Kriegsbriefe gefallener Studenten, dessen Repräsentativität und Authentizität m. E. aber zu hinterfragen ist. Ihre exzellenten Analysen hätte die Herausgeberin in der Einleitung durchaus umfangreicher ausführen können. Im Weiteren geht Giesbrecht verschiedenen Grundmotiven nach und beginnt mit dem wohl kulturell prägendsten, der »Kameradschaft«. Im Zentrum der Untersuchungen, dies gibt die deutsche Nationalgeschichte gleichsam vor, steht das Lied Ich hatt’ einen Kameraden. Die »Kameradschaft« ist eines der herausragenden Beispiele für die propagandistische Funktionalisierung von Kriegserlebnissen. Unbestritten, es gab sie tatsächlich: zahllose Beispiele und Formen von Kameradschaft. Selbst beim Antikriegsschriftsteller Remarque ist sie »das Höchste, was der Krieg hervorbrachte«. Doch was der Einzelne und politische und weltanschauliche Gruppierungen konkret darunter verstanden, geht besonders nach dem Krieg diametral auseinander. Die Lesart der Postkarten ist jedoch eindeutig. Sie geht über den Ausdruck von Trauer über einen getöteten Soldaten hinaus. Der Tod des Kameraden verpflichtet den (noch) Lebenden zum 166

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Weiterkämpfen. Dass der Tod nicht »umsonst« gewesen sein darf, ist eine Sinnsetzung des Krieges aus sich selbst heraus. Die Illustrationen der Feldpostkarten, so betont die Herausgeberin, zeigen ein verklärendes Bild vom Tod, anders als es oftmals die Schreiber in ihren Mitteilungen auf den Rückseiten der Karten, mehr aber noch in Feldpostbriefen tun: Die Illustrationen [...] des Liedes vom guten Kameraden beschönigen das Sterben, verschweigen alle Schmerzen und stellen den Körper des zu Tode Getroffenen, der ›im ew’gen Leben‹ seine letzte Heimat finden soll, ohne sichtbare Verletzungen dar. In Berichten von Soldaten hingegen wird das Sterben nicht verklärt, sondern manchmal drastisch geschildert. (41)

Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg ist die Darstellung des Sterbens und das Erzählen darüber im Ersten noch nicht so kulturell tabuisiert, wie an vielen Feldpostkarten und -briefen sichtbar ist und im Abschnitt »Heldentod« beschrieben wird. Im »Langemarck-Mythos«, dem angeblich siegreichen Sturm deutscher Studentenbataillone mit dem Deutschlandlied auf den Lippen, kulminieren mehrere Propagandastränge. Der Sturm war militärisch sinnlos, wie wir heute wissen. Der Mythos aber prägte fortan sehr erfolgreich das Kriegsbild für kommende Generationen in Deutschland. Aus dem vielfältigen von ihr zusammengetragenen Quellenmaterial schöpft Giesbrecht auch bei der Abhandlung anderer Motive und Themen wie »Vaterlands- und Heimatliebe«, »Mythos Hindenburg«, Sterben auf dem Schlachtfeld oder der Abwertung gegnerischer Soldaten. Eingegangen wird auf religiöse Einflüsse, die Rezeption klassischer deutscher Literatur und populärer musikalischer Klassik. Wichtig ist auch die Betrachtung der häufigen sexuellen Konnotationen, z. B. bei der Kanone »Dicke Bertha«, und des nicht selten derben Soldatenhumors. Giesbrecht beschreibt die Politisierung deutscher Volkslieder, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg begann, dann aber durch die Propaganda forciert wurde. Musik und Klangerlebnis sind allerdings mehr als nur Stoff für die Propaganda. Am Beispiel der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy zeigt Giesbrecht die Verbindungen von bürgerlicher Kultur und Soldatenalltag. Bei deren Rezeption geht es »nicht nur um die Ästhetik [...], sondern ebenso um soziale Erfahrungen«. (91) Erwähnenswert ist, dass im Band viele meist farbige Feldpostkarten in hoher Qualität abgedruckt sind. Sie bereichern die Analyse, ist doch die Spezifik einzelner Motive oft recht schwer in adäquate Worte zu fassen. Die Darstellungen 167

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sprechen die unterschiedlichsten menschlichen Emotionen an. Die Abbildungen geben somit dem Band, bei allem gebotenen Ernst, eine sinnliche, unterhaltsame Dimension beim Lesen. Nicht zuletzt gibt die Herausgeberin Anregungen zu einer wichtigen Frage der Kommunikationswissenschaft allgemein und der Feldpostforschung im Besonderen, einer Frage, die sowohl auf der Hand liegt, als auch bislang fast gänzlich unbeantwortet ist: Welche Verbindungen gab es zwischen dem Dargestellten auf der Postkarte und den Mitteilungen auf der Rückseite? Nicht nur hier wären die anregenden Forschungen von Sabine Giesbrecht weiterzuführen. Jens Ebert, Berlin

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David A. Jackson. Zwischen Kriegern, Küche, Kirche und Kraut. Die Manöver einer südhessischen Mutter im Ersten Weltkrieg. Essen: Klartext, 2014, 434 pp., Ill., 22,95 € [978-3-8375-1016-4]. Zwar gehörte Feldpostbriefe zu schreiben und zu empfangen im Ersten Weltkrieg auch für gemeine Soldaten und Unteroffiziere zum Alltag, unendlich viele Briefe gingen jedoch im Verlaufe der Zeit verloren, indem sie irgendwann nach einer Wohnungsräumung im Müll landeten oder während des Zweiten Weltkriegs verbrannten. Erhalten haben sich in der Regel oftmals Einzelstücke oder kleine Serien. Dass sich gleich Hunderte Briefe aus demselben Absender- und Empfängerkreis erhalten haben, ist gemäß Historiker David A. Jackson ein »unerwarteter Schatz«. (17) Jackson versteht es meisterlich, anhand der »Müller-Briefe« eine Alltagsgeschichte des Ersten Weltkriegs zu schreiben. Weniger der Frontalltag des Sohnes kommt dabei zur Sprache, eher werden die Sorgen, Pläne und Ränke der dominanten Mutter beleuchtet, die den Sohn in der Ferne nicht außer Kontrolle wissen will. Die Müllers sind eine kleinbürgerliche Familie aus dem hessischen Dorf Griesheim bei Darmstadt. Der Vater ist eher bequem, unauffällig, trinkt gerne seinen Schoppen nach Feierabend. Die Mutter Maria hingegen ist tatkräftig, aufstiegsorientiert, geschäftstüchtig. Man ist fromm im Hause, kleinbürgerlichnational, schimpft gerne auf die »Sozze«. Die »Kriegstheologie« des örtlichen Pfarrers überzeugt die Eltern. Deutschland werde von Gott geprüft, büße für seine Sünden, so die gängige Argumentation des Geistlichen. Das Paar betreibt einen Spezereiladen, profitiert von der Garnison im Dorf, konzentriert sich schließlich auf ein Einmachgeschäft für Gurken und Kraut. Die Geschäfte gehen gut im Krieg, die Müllers sind kleine Kriegsgewinnler. Auch der verwöhnte einzige Sohn, der seinen Militärdienst meistens am Schreibtisch leistet, wird als einer der wenigen Soldaten dicker. Die Fresspakete der Mutter sind ihm willkommen, ihm, dem Außenseiter, der von den Kameraden oft gehänselt wird und sich durch Lebensmittel etwas Achtung zu verschaffen weiß. Die Mutter berichtet derweil unentwegt aus der Heimat, fädelt eine Liebschaft ein, schreibt von der sich zuspitzenden Versorgungslage, von Hamsterfahrten, von Skandalen und Problemen der Nachbarn. Historiker Jackson gelingt es, den Leser bei der Stange zu halten. Dramaturgisch geschickt verwebt er die umfangreiche Korrespondenz in eine allgemeine Alltagsgeschichte des »Großen Krieges«, eines Krieges, der für manche Beteiligte nicht nur von Ängsten, Entsetzen und Traumata geprägt war. Fabian Brändle, Zürich

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Ernst Jünger. Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918. Mit ausgewählten Antwortbriefen der Eltern und Friedrich Georg Jüngers. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Heimo Schwilk. Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, 22014, 133pp., 19,95 € [978-3-608-93950-7]. Der vorliegende Band präsentiert erstmals eine Edition der Postsendungen (einschließlich dreier Antworten), die Ernst Jünger von der Westfront an die in Niedersachsen lebenden Eltern schickte; hinzu kommen 42 Briefe zwischen Jünger und seinem Bruder Friedrich Georg. Nahezu komplett verloren gegangen sind offenbar, was der Hrsg. mit Bedauern feststellt, jene Briefe an Friedrich Georg, die eigene Gedichte enthielten (vgl. 22f.; 76 u. 78f.). Dass Jünger gegen Ende der 1940er Jahre für eine beabsichtigte Edition maschinenschriftliche Kopien der an seinen Bruder gerichteten Briefe erstellte und dabei wohl auch Bearbeitungen vornahm, verringert zweifelsohne die Authentizität (vgl. 23). Zugleich bedeutet dieses Detail, was die abgedruckten Briefen Jüngers sind ‒ der post festum retuschierte Anfang der von Jünger bewusst gestalteten und in allen Werken mehr oder minder fragmentarisch fortgeschriebenen Autobiographie. Während demnach die niemals redigierten Kriegstagebücher, der eigentliche Nukleus der Stahlgewitter, innerhalb des Werkkomplexes der Weltkriegsschriften das persönlichste Zeugnis darstellen (und deshalb von Jünger zu seinen Lebzeiten nicht zur Publikation vorgesehen waren), erscheinen diese »Feldpostbriefe«, wie der Hrsg. sie griffig etikettiert, primär als anspruchsloses Kommunikationsmittel, das neben ausschnitthaften Informationen über das Kriegsgeschehen auch Bitten um Bücher, Tabak und Süßigkeiten übermittelt. Eine nach Vollständigkeit und Objektivität strebende Darstellung der Kampfhandlungen findet keinesfalls statt, was bei eingeschränkter Informationslage an der Westfront indes ohnehin schwierig gewesen wäre, selbst wenn Jünger sich darum bemüht hätte. Zudem musste er nicht nur der offiziellen Zensur gewahr sein (»[…] denn die Bestimmungen über Briefverkehr sind streng«; 95), sondern der Eltern wegen auch eine Themenselektion vornehmen und neben allzu schockierenden Details insbesondere das »heikle Thema Sexualität« (HS; 15) unterschlagen. Erzählen Jüngers Briefe an die Eltern also verharmlosend von einem »Maulwurfskrieg mit seinen Plackereien« (29), benennt die Metapher exakt den darin weitgehend vorherrschenden banalen Ton, der mit bisweilen krudem Naturalismus unfreiwillig den Frontkämpfer-Mythos demontiert bzw. mitunter regelrechte Idyllen bereithält (vgl. 86). Jünger schreibt die allgegenwärtige Todesgefahr herunter, sofern er ihrer denn gewahr wurde. Ein Satz wie »Außerdem muß ich mal wieder ordentlich Pulverdampf riechen, ohne das bin ich nicht zufrieden« (88) enthält eine bewusste Verharmlosung des Krieges. Deutlich erweist sich jedoch auch, dass in Jüngers Falle unterbleibt, was ein zentrales Thema von 170

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literarisch-gesellschaftlicher Relevanz seit der Jahrhundertwende und in Arnolt Bronnens Drama Vatermord (1920) auf die Titelformel gebracht ist: die kritische bis aggressive Auseinandersetzung mit der Vätergeneration. Weder in den Feldpostbriefen noch in seinen übrigen Kriegsschriften äußert Jünger Kritik an der Heeresführung und staatlichen Autoritäten. Ob die beiden Brüder Jünger sich untereinander offener geben, so die Annahme des Herausgebers (18), sei zur Diskussion gestellt. Friedrich Georg diagnostiziert Mitte März 1916 eine aus den Fugen geratene (Kriegs-)Zeit, fügt dann jedoch gleich mit ungebrochenem Patriotismus an: »Aber die Hauptsache bleibt, daß wir als Sieger nachher auftrumpfen« (80), und hofft – rarer Beleg einer historischen Situierung und Kontextualisierung – auf Erweiterung der Kolonien bei Kriegsende (vgl. 80); später beklagt er geradezu defätistisch die erbärmliche Verpflegung der Soldaten (vgl. 91). Wenn sich Ernst hingegen vor seinem Bruder Anzeichen von Schwäche gestattet, zieht er sogleich alles mit sprachlichem Verfremdungseffekt ins Lächerliche: »[…] denn gegen Abend wurde mir etwas absonderlich – absürbelich – zu Mut, ich glaube gar, daß mich das Heimweh anfasste. Es gibt Stunden, die ganz und gar verlassen sind […].« (110) Bezeichnend erscheint die Sentenz »Die Angst liegt rein in der Illusion« (118), denn sie drückt jenes Männlichkeitsgebaren samt überbetonter Tapferkeit aus, darin sich die Brüder Jünger gegenseitig überbieten wollen. Nur folgerichtig wirkt es daher, dass Jünger diplomatischen Verständigungen jeglichen Sinn abspricht und den Krieg allein »durch Hunger oder durch Waffengewalt« entschieden haben will (vgl. 87). Insgesamt zeichnet sich gerade in den Briefen an die Eltern erstmals jene akkurate Selbststilisierung und Selbstinszenierung ab, die später als ein Charakteristikum Jüngers gelten wird. Bestrebt, durchgängig von sich das konformistische Bild eines explizit heldenhaften Soldaten, genauer gesagt eines »Draufgängers« (105), zu entwerfen, spielt er die Gefahren eines Gasangriffs herunter: »[…] das ist alles halb so wild« (82). Bereits der erste, Anfang Januar verfasste Brief vermittelt mit Bedacht eine an Pose grenzende Kaltblütigkeit: »Auch das Schreien der Getroffenen, das Blut und das Hirn des Postens […] konnte ich lang und ruhig ansehen« (27); andere Beobachtungen nehmen Deskriptionen aus den Stahlgewittern vorweg: »Es sah komisch aus, wie die Gestalten in den roten Hosen und blauen Mänteln lang oder mit angezogenen Knieen starr dalagen. Die Gesichter sahen schwarz aus, wie ich mit dem Glase bemerkte.« (28) Der Ästhetisierungsprozeß, den der in objektiv-kühler Beobachtungsposition verharrende Beobachter Jünger vollzieht, um Kaltblütigkeit und Heldenmut zur Schau zu stellen, reduziert das Grauen des Krieges auf grotesk-kuriose Details. Dieses für die Stahlgewitter wesentliche Rezeptions- und Widergabe-Verfahren, um eine potentiell gefährliche Realität (wie eine Handgranate) zu entschärfen, 171

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findet sich in den Feldpostbriefen bereits zur Perfektion entwickelt. Friedrich Georg schildert er Mitte 1917 nach Art Karl Mays die Erschießung eines englischen Offiziers aus geringer Distanz: »Ein Schuß durchs Auge sandte ihn eben noch zur rechten Zeit in die ewigen Jagdgründe« (102); es folgt eine Auflistung der dem Toten genommenen »Trophäen« (102). Derartige Passagen belegen die Unreife, wenn nicht Infantilität des jungen Offiziers, der damit kokettiert, in einer Wildwest-Welt zu kämpfen. Jüngers Stil darf, entgegen der Ansicht des Herausgebers, es sei »wenig sprachliche Durchformung« (21) sichtbar, als fast vollständig ausgeprägt gelten. Den konzisen Duktus, der bei einfacher Syntax mit sparsam eingesetzten Stilfiguren operiert und scheinbar kunstlos anmutet, entwickelt und erprobt Jünger hier. Bisweilen gelingen durchaus eindrückliche Momente, beispielsweise, wenn Jünger auf Fossilienablagerungen im Kalkstein des Schützengrabens zu sprechen kommt: »So wandle ich auf dem Grunde versunkener Meere dahin, und oft bleibe ich vor einer Schulterwehr wie vor einem Rebus stehen.« (107) Die Modernität dieser écriture für die damalige Zeit, ihre distanzierte Objektivität und ihren Mangel an Pathos und andererseits den gänzlichen Mangel an Emotionalität und Empathie zeigt ein Vergleich mit der notorischen Sammlung Kriegsbriefe gefallener Studenten (1928) von Philipp Witkop, deren Verfasser weiterhin dem Aufsatzstil höherer wilhelminischer Lehranstalten verhaftet bleiben. Das Resümee des Herausgebers, die Feldpostbriefe Jüngers seien »Zeugnisse eines unbändigen Willens zu Macht und Ruhm um jeden Preis« (21), ist eine Fehleinschätzung. Der dem Honoratiorenbürgertum entstammende Jünger mit Erziehung und Sozialisation im Kaiserreich sieht wie seine ganze Generation den Weltkrieg als folgerichtige Fortsetzung des imperialistischen Zeitalters: als Überlebenskampf im darwinistischen Sinne, der, wie das Bild des Stellungskrieges demonstriert, längst ursprüngliche Ziele und Absichten abgelegt und sich zum Kampf an sich kristallisiert hat. Erst mit der Überarbeitung der Kriegstagebücher und aus dem Sinnvakuum der unmittelbaren Nachkriegszeit heraus wird nachträglich die reflektierte Instrumentalisierung des Kriegserlebnisses mit der eigenen, jetzt übergroß dargestellten Person im Zentrum erfolgen. Somit birgt die Edition der Feldpostbriefe Jüngers gerade im Vergleich zu den Kriegstagebüchern letztlich kaum neue Erkenntnisse über Jünger als Person und Autor und mag allenfalls als komplettierender, inhaltlich nicht sonderlich ergiebiger Beitrag zur Hagiographie Jüngers gelten. Am eindrücklichsten, gerade wegen seiner Sinnfälligkeit, bleibt, prominent placiert auf dem Schutzumschlag, das fotographisch festgehaltene leere Kindergesicht Jüngers in Erinnerung. Thomas Amos, Frankfurt/Main

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Ernst Jünger. Kriegstagebuch 1914–1918. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 2010, 655 pp., 32,95 € [978-3-608-93843-2]. »Ich bin kein Kriegsberichterstatter, ich […] lege keine Heldenkollektion vor. Ich will nicht beschreiben, wie es hätte sein können, sondern wie es war.« (432) Dieses selbst-referentielle Bekenntnis formuliert Jünger ganz am Ende der Tagebücher, im August 1918, und zu einem Zeitpunkt, da er, schwerverletzt in einem belgischen Lazarett liegend und auf die Verlegung nach Deutschland wartend, bereits eine Veröffentlichung erwägt. Die intensiv betriebene Umarbeitung seiner Aufzeichnungen mündet dann in einen erstmals 1920 erschienenen (und insgesamt siebenmal überarbeiteten) Hybridtext aus Erzählung, Bericht, Reportage und Autobiographie, dessen Titelmetapher, In Stahlgewittern, zur Redensart und von Adolf Hitler noch in Verlautbarungen Ende April 1945 während der Kämpfe um Berlin bemüht wurde. Jüngers bekanntestem Buch liegen, zwischen ungefügem Entwurf und Prätext schwankend, seine vom 30. Dezember 1914 bis 10. August 1918 geführten und in fünfzehn handliche Notizhefte eingetragen Tagebuchaufzeichnungen zugrunde. Die unmittelbare Aufzeichnung sei seine Absicht gewesen: »Ich habe mich während des ganzen Krieges bemüht, meine Impressionen sofort, zwischen zwei Sprüngen, spätestens am Abend des Kampftages zu Papier zu bringen.« (432) Jüngers Notate, die der Herausgeber emphatisch als »ein einzigartiges Dokument« (596) bezeichnet, beziehen ihre Wirkung durch zweierlei: den in die Literatur übertragenen, neuartig anmutenden und unter dem Primat der Objektivität stehenden Reportagestil und, damit gekoppelt, die emotionslos-distanzierte Grundhaltung des Autors, die er später zur »désinvolture« hochstilisiert. Jüngers fotografischer Blick ist immer ein kalter Blick. Von dieser zwar in das Kriegsgeschehen unmittelbar involvierten, doch sich unbeteiligt gebenden Haltung rührt auch wesentlich die Schwierigkeit, die Einstellung des Autors zum Krieg einigermaßen eindeutig zu bestimmen. Neben den unmissverständlich Position beziehenden pazifistischen bzw. revisionistischen Weltkriegsdarstellungen der 1920er Jahre bleiben die Stahlgewitter ein interpretatorisch bewusst offen gehaltenes Buch. Das 1995 dem Marbacher Literaturarchiv übergebene Konvolut der Tagebücher ist das Kernstück der vorliegenden Edition (7–434), die erstmals eine transkribierte Version vorstellt samt dem darin enthaltenen »Käferbuch« mit einem Verzeichnis der vom Entomologen Jünger 1916 gefangenen Käfer (435–464) (»Heute war wunderbares Frühlingswetter. Ich sammelte in den verwilderten Gärten hinter dem Schützengraben Käfer«; 93). Hinzukommen eine »Dienstrangliste der deutschen Infanterie« (469) sowie ein Zeilenkommentar (470–595); das Vorwort des Herausgebers beschließt den Band, der, in marmorierte Pappe gebunden, an die Aufmachung einiger ursprünglicher Hefte anknüpfen will (596–647). 173

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Beim Verfassen der Stahlgewitter stützte sich Jünger wesentlich auf sein Diarium, so dass zwischen den Tagebuchnotaten und der geglätteten Buchausgabe weitgehende Übereinstimmung herrscht hinsichtlich der relevanten Kriegsereignisse wie auch der fein ziselierten Selbstdarstellung des Autors, die das breite Spektrum zwischen Dandy und Kampfroboter abdeckt. Eine Ausnahme, der man einige Signifikanz bezüglich Jüngers soldatischem Selbstverständnis zubilligen kann, existiert indes. Da Jünger in den Stahlgewittern jegliche Erwähnung von Sexualität vermeidet, mithin mit Absicht ein Bild des asexuellen Soldaten entwirft, kommt seiner Affäre mit einer Französin eine gewisse Bedeutung zu. Die im Tagebuch fragmentarisch evozierte Beziehung mit der Jeanne genannten Frau, womit er bereits einen gewissen Allegorisierungsgrad (sowie seine hier endgültig manifeste Affinität zu Frankreich) anzeigt, beginnt im Dezember 1915 und setzt sich im folgenden April noch eine Zeitlang fort (vgl. 64 u. 100–110). Unter Anspielung auf die ästhetische Kategorie des Grotesken spricht Jünger von einem »Abenteuer, das so komisch und seltsam ist, daß ich es gar nicht beschreiben will« (64); neben einem hingekritzelten Bett stehen die Frage »n’aura-t-il pas de danger??« (64) und der Ausruf »l’invasion !!!« (64). Nach der Feststellung stilistischer Mängel, vermerkt Jünger später unter einem Brief Jeannes »[…] aber doch gutes, gesundes Empfinden« (110). Die zwischen Fraternisation und Angst vor Geschlechtskrankheiten angesiedelte Episode zeigt einen unsicheren, deshalb menschlichen Soldaten, weswegen Jünger auf eine Übernahme in die Buchfassung verzichtete. Ohnehin hätte eine deutsch-französische Annäherung im privaten Rahmen die Grundtendenz der Stahlgewitter gleichsam unterminiert. Des weiteren in Rohform nachzulesen sind sämtliche in die Stahlgewitter übernommenen Passagen, die Jünger den Vorwurf der Unmenschlichkeit, des Bellizismus oder der Gefühlskälte eintrugen. Beispiele reichen von der berüchtigten Stelle eines Knochenfundes, woraus Jünger eine Zigarrenspitze fertigen lassen will (vgl. 51) über lapidare Deskriptionen (»Dabei bekam der Gefreite Motullo einen Kopfschuß, daß ihm sein Gehirn über das Gesicht lie.«; 347 oder »Eine Bombe sah ich neben einem Reiter krepieren, dessen Gaul daraufhin einen tollen Galopp anschlug«; 423) bis zum Höllenszenarium des Grabenkampfes (vgl. z.  B. 375–387). Selten hingegen findet sich Kritik am Krieg; der Eintrag vom 1. Dezember 1915 formuliert zunächst ein vages Unbehagen: Lange schon bin ich im Krieg, schon manchen sah ich fallen, der wert war zu leben. Was soll das Morden und immer wieder morden? […] Vorm Krieg dachte ich wie mancher: nieder, zerschlagt das alte Gemäuer, das neue wird auf jeden Fall besser. Aber nun – es scheint mir, das [sic] Kulturen und alles Große langsam vom Kriege erstickt wird. Der Krieg hat in mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens geweckt. (63) 174

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Doch Jünger scheint die falsche Emotionalität zu bemerken und schüttelt derartige Gedanken sogleich ab: »Doch genug der Wachtstubenphilosphie! […] Eines Tages in unsrer alten Stellung wird’s heißen: Alarm! Es geht ins Gefecht, das wird wieder mal gut tun« (63). Ähnlich, als ein kurzes Aufflackern von Mißmut oder Ermüdung, doch keinesfalls als Zweifel am eigenen Tun ist im April 1917 die Äußerung aufzufassen: »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende? […] Noch ist kein Ende abzusehn. Die Sache wird höllisch monoton« (258). Das umfängliche Nachwort des Herausgebers versucht wiederholt, die Gründe für die Kriegsbegeisterung des Neunzehnjährigen zu benennen; verantwortlich dafür seien das stupide, auf Drill ausgerichtete wilhelminische Schulsystem (vgl. 597), also schlicht »Abenteuerlust« (630). Die für den heranwachsenden Jünger gewiss zutreffende Sehnsucht nach Abenteuern, die sich in den Jahren vor Kriegsbeginn europaweit in Form von Lethargie und Langeweile manifestierte, als alleiniges Agens namhaft zu machen, greift freilich zu kurz. Nicht nur reduzierte sich dadurch der Weltkrieg auf ein Cowboy-und-Indianer-Spiel, eine solche Deutung hieße zugleich Jüngers Unbedarftheit und Unreife für die ganze Dauer des Krieges anzunehmen und zu ignorieren, dass er im Laufe der Zeit einen Entwicklungs- und Reifeprozess durchmacht. Letztlich handelt es sich hierbei um eine Entlastungsstrategie zur Aufwertung Jüngers. Der Herausgeber selbst erwähnt an einer Stelle indirekt die Ursache für dessen Kriegsbegeisterung, wenn er den auffälligen Mangel an jeglicher Ideologie und den Verzicht auf Phrasen lobt (vgl. 628) und ex negativo ausspricht, was Jünger vollständig abgeht: eine basale ethische Orientierung, ein kohärentes Wertesystem, ein moralisch-philosophisches Fundament. Im Zuge der gegenwärtigen Jünger-Renaissance und der verstärkten Beschäftigung mit dem in Deutschland lange Zeit nahezu ignorierten Ersten Weltkrieg wird der Band zweifelsohne Beachtung bei einem breiteren Publikum finden, das jenseits der Ereignisgeschichte authentische Einblicke in die Welt der Schützengräben sucht. Für die Jünger-Forschung bleibt allerdings, abgesehen von der Möglichkeit positivistischer Vergleiche zwischen Tagebuch und Buchfassung, der Band von recht geringem Ertrag. Thomas Amos, Frankfurt/Main

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Hellmuth Karasek. Briefe bewegen die Welt. Bd. 6: Feldpost. Kempen: teNeues, 2013, 200 pp., Ill., 24,90 € [978-3832797331]. The best of war? Es ist wohl einer der opulentesten Feldpostbände, der jemals erschienen ist: Hellmuth Karasek hat in Band sechs seiner von der Stiftung Lesen und der Deutschen Post finanzierten Reihe mit dem anspruchsvollen Titel »Briefe bewegen die Welt« 28 Zeugnisse aus Kriegszeiten ausgewählt. Es ist ein gediegener, von Sonja Wild und Hans Pöhlmann besorgter Band, der die Briefe mit prägnant ausgewählten Fotos, Dokumenten und Bilder begleitet, wenn es auch etwas vermessen scheint, 500 Jahre Kriegsgeschehen mit so einer überschaubaren Anzahl von Äußerungen dokumentieren zu wollen. Veit Didczuneit, Leiter der Sammlungen im Museum für Kommunikation Berlin, zu denen auch einer der größten und besterschlossenen Bestände an Feldpost in Deutschland gehört, ordnet in einem Nachwort die Texte kurz in die Geschichte des Feldpostwesens ein. Der erste Brief des Bandes stammt aus dem Dreißigjährigen Krieg, vorgeblich vom berühmten Feldherren Wallenstein. Der konnte übrigens gar nicht schreiben, wie wir aus Überlieferungen wissen, musste die Mitteilung also seinem Sekretär diktieren. Nur eine Marginalie? Jedenfalls findet dies keine Erwähnung in der ansonsten gut gemachten historischen und biographischen Kommentierung, die jedem transkribierten Brief neben einem Faksimile beigegeben ist. Kritisch anzumerken ist auch, dass es sich bei Wallensteins Brief keinesfalls um Feldpost handelt, jedenfalls nicht in dem seit ca. einhundert Jahren geltenden Sinne. Es ist vielmehr eine historisch bedeutsame, sieben Zeilen umfassende militärische Nachricht, verfasst während der Schlacht von Leuthen. In der Folge nimmt die Prominenz der Briefverfasser ab. Zwischen Namen wie Heinrich von Kleist, Schiller – nicht der Dichterfürst, sondern ein unbekannter Namensvetter –, Lilienthal, Kisch, Trakl und Dix stehen öfter Unbekannte. Das besonders, wenn es, wie Karasek im Vorwort schreibt, um den zweiten Dreißigjährigen Krieg geht, also den von 1914 bis 1945. Schon seit langem werden Erster und Zweiter Weltkrieg in Geschichtsbetrachtungen unter diesem Begriff zusammengefasst, wofür vieles spricht. Überraschend ist, dass sich die Herausgeber bei ihrem Blick auf 500 Jahre Geschichte nicht nur auf historische Briefe beschränken. Fast die Hälfte stammen von verschiedenen Bundeswehreinsätzen ab 1996. Auch der letzte Text im Band ist, wie der erste, kein Feldpostbrief. Es ist ein offener Brief des Chefs des Bundeswehrverbands an alle Soldaten der Bundeswehr und rückt das ganze Buch unangenehm in die Nähe regierungsnaher Propaganda. Noch nie wurden bislang in einer deutschen Anthologie so selbstverständlich die Kriege der Gegenwart mit denen der Geschichte verbunden. Warum hier? Die 176

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übergroße Mehrheit der Deutschen lehnt heute Kriegseinsätze der Bundeswehr ab. Karasek beteiligt sich an dem Versuch konservativer Publizisten, Politiker und Historiker, die Bevölkerung sukzessive wieder an die »Normalität«, heißt an das Führen von Kriegen, zu gewöhnen. Bislang war dem – erfreulicherweise – wenig Erfolg beschieden. Die im Band versammelten Briefe reflektieren den Krieg auf sehr unterschiedliche Weise. Sie stehen mit den beschriebenen Erfahrungen unvermittelt nebeneinander. Da ist der 15-jährige Kindersoldat Heinrich von Kleist, der seiner Tante etwas steif seine ersten soldatischen Erlebnisse beschreibt und noch nicht den wortgewandten Novellisten vermuten lässt. Nur ahnen kann der Leser, wie hier eine Kinderseele durch Militär und Krieg beschädigt wurde. Spätere Briefe erzählen von der Belagerung Paris’ im deutsch-französischen Krieg 1870, vom Tod eines Kameraden 1917 und von der letzten Hoffnung auf den »Führer« im Stalingrader Kessel. Und da sind schließlich das banale dienstliche Schreiben des Vorsitzenden des Reservistenverbandes und CDU-Bundestagsabgeordneten sowie die Antwort darauf von einem ehemaligen TV-Jungstar und späteren Tatort-Kommissar, der 2013 als Presseoffizier nach Afghanistan ging. Beide Briefe klingen wie Texte aus einer Bundeswehr-Broschüre. Den Veränderungen in der Bundeswehr am Ende des 20. Jahrhunderts trägt der Band Rechnung: Ein Brief stammt von einer Soldatin, die als Ärztin in Bosnien stationiert war. So sehr man sich um die Ausstattung des Bandes bemühte, so wenig Sorgfalt wurde auf Quellennachweise und vor allem Quellenkritik verwendet. Der Leser erfährt leider nichts über Intentionen, Kriterien und Alternativen, die dem Auswahlprozess zugrunde lagen. Dies ist besonders bei den überrepräsentierten Briefen aus den letzten 20 Jahren ärgerlich. Denn es ist ein Unterscheid, ob ein Feldpostbrief aus vergangenen Zeiten in einem Archiv recherchiert wird oder ob der heutige Verfasser von der zeitnahen Publikation seines Textes und den gesellschaftlichen Diskussionen um die Sinnhaftigkeit aktueller Kriege weiß. Karaseks Einleitung ist wenig hilfreich für den Zugang zu einem so diffizilen Thema, schwankend zwischen manchmal fragwürdiger geschichtlicher Herleitung, wie beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien, und aktuellen Bezügen. Neuere Forschungen zur Feldpost wurden, so scheint es, kaum zur Kenntnis genommen. Kein Hauch eines kritischen Blicks auf die Texte und das in ihnen Vermittelte. Kriege erscheinen bei Karasek, wie die Liebe in Band II seiner Buchreihe, zwar nicht als Himmelsmacht, aber doch als unabänderliche und unabwendbare Elementarereignisse: Schrecklich sicher, doch eben nicht zu ändern. Oder wie der Herausgeber etwas krude resümiert: »Kriege gebären Kriege – nur insofern stimmt, auf fatale Weise, dass der Krieg der Vater aller Dinge ist.« Jens Ebert, Berlin 177

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Jan Kilián (ed.). Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649). Alltagsleben in Böhmen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Göttingen: V & R unipress (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 17), 2014, 462 pp., 59,99 € [978-3-8471-0235-9]. Editionen popularer Autoren sind ein Desiderat der Forschungen aller Epochen. Wer sich dafür interessiert, wie der »gemeine Mann« (oder die »gemeine Frau«) die Zeitläufte erlebt, gedeutet und mitgestaltet hat, ist angewiesen auf Editionen von Texten aus der eigenen Hand dieser Akteurinnen und Akteure. Für die Katastrophenzeit des Dreißigjährigen Krieges hat die Historikerin Benigna von Krusenstjern im Jahre 1997 ein mustergültiges Verzeichnis von Selbstzeugnissen herausgegeben. Darin kommen auch einige Handwerker, Bauern oder andere Vertreter der Mittel- und Unterschichten vor. Nun legt der tschechische Historiker Jan Kilián einen hochinteressanten chronikalischen Text aus der Feder des lutherischen Gerbers Michel Stüeler aus der böhmischen Kleinstadt Graupen vor. Über den Autor ist trotz der akribischen, jahrelangen Nachforschungen des Herausgebers leider nur wenig bekannt. Wohl 1583 geboren und im Jahre 1656 gestorben, besuchte er die örtliche Schule und lernte etwas Latein. Stüeler war Lohgerber und als Zunftmeister durchaus Teil der kleinstädtischen Oberschicht Graupens. Dafür spricht, dass er auch das Amt des Bergmeisters bekleidete und als solcher an einer Delegation nach Prag teilnahm, dort aber kurzerhand eingekerkert wurde. Aus Zwang konvertierte Michel Stüeler zum Katholizismus, seine Ausführungen bleiben jedoch stark antikatholisch geprägt. Der dreimal verheiratete Gerber las gerne und recht viel (etwa das Paradiesbüchlein Arndts), interessierte sich für Musik und trank viel Alkohol. Er geriet als alter Mann in Schulden und musste seine Grundstücke teilweise verkaufen oder verpachten. Seine Nachkommen verließen die Stadt. Das Gedenckbuch, ursprünglich wohl in drei Teilen verfasst, hat sich nur in der Abschrift eines Teils im Archiv zu Teplitz erhalten. Der Autor führte seine Chronik fortlaufend, nicht retrospektiv. Sein geographischer Horizont reicht quer durch den Erzgebirgsgürtel einschließlich des sächsischen Teils und endet in der Metropole Prag. Der Gerber war ein genauer Beobachter der Kriegsläufe, notierte aber auch lebensweltlich Relevantes aus seiner Heimatstadt und deren Umgebung. Stüeler überlieferte auch, medizinhistorisch interessant, Rezepte. Ob es sich beim Gedenkbuch um ein Selbstzeugnis oder eine Chronik handelt, müssen Experten entscheiden; tatsächlich sind die »Ich-Aussagen« relativ dünn gesät. Leider fehlen Verortungen des Textes im (deutschen) Forschungsstand weitgehend. Dafür präsentiert uns der Herausgeber die erstaunlich dichte Überlieferung chronikalischer Texte in Archiven des Erzgerbiges. 178

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Eine Konstante im Text ist wie gesagt Stüelers virulenter Antikatholizismus. So nennt er die Jesuiten durchgehend »Jesuwitter«. Gewalt ist denn auch allgegenwärtig, sei es an einer örtlichen Kirmes, sei es, wenn Stüeler von seiner Messerattacke gegen die eigene Frau berichtet. Raub, Einquartierungen, Misshandlungen durch Soldaten sind in jenen Katastrophenjahren leider alltäglich. Auch der Mord an einem Pfarrer gehört zu dieser brutalen Epoche. Umso mehr sehnten sich Stüeler und die meisten Zeitgenossen nach einem dauerhaften Frieden, der jedoch ihre »verlorene Generation« nicht mehr so recht ins Leben zurückbringen konnte. Fabian Brändle, Zürich

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Jan Röhnert. Selbstbehauptung. Autobiographisches Schreiben vom Krieg bei Goethe, Heine, Fontane, Benn, Jünger, Handke. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann (Das Abendland – NF 39), 2014, 553 pp., Leinen, 79,– € [9783-465-03851-1]. Der Auftakt des Buches von Jan Röhnert könnte einfacher nicht sein. »Autobiographie ist Selbst-Darstellung« (12), heißt es dort. Selbstdarstellung aber wird wiederum als ein Mittel der Selbstbehauptung begriffen. Selbstbehauptung schließlich meint ein Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will. (Hans Blumenberg, zit. n. Röhnert, 19)

Selbstbehauptung ist sozusagen das Alltagsgeschäft des Menschen mit ›exzentrischer Positionalität‹ (Helmuth Plessner), der sich seinen Halt in der Welt selbst erschaffen muss – weil er entweder als Mensch jeden äußeren Halts per se entbehrt oder ihn als geschichtliches Wesen irgendwo auf der Schwelle zur Neuzeit verloren hat. Im Krieg spitzt sich der grundlegende Mangel an Halt zur existentiell bedrohlichen Situation zu, weil die Kompensationsstrategien an Wirkung verlieren. Die Konventionen werden brüchig und die Provisorien der Stabilisierung verlieren ihre Wirkung. Jetzt kommt es ganz darauf an, die immateriellen Ressourcen zu mobilisieren, zu denen unter säkularen Bedingungen nicht zuletzt das Erzählen gehört. Es ist daher wenig verwunderlich, gerade dort mit großer Regelmäßigkeit auf das Thema Krieg zu stoßen, wo das Erzählen als Selbsttechnik sich zur Gattung der Autobiographie verdichtet. Indem Röhnert einen dominant anthropologischen und nur durch große Epochenschwellen historisierten Ausgangspunkt wählt und sich an Blumenberg anlehnt, der auch in den Kapiteln zu Goethe und Jünger immer wieder als Kronzeuge auftritt, wird sehr schnell deutlich, was das autobiographische Schreiben im Krieg motiviert und was es leistet. Im Kontext neuzeitlicher Subjektautonomie ist der Krieg für den Einzelnen kein Spezialfall, sondern die geradezu exemplarische Bewährungsprobe: Krieg verkörpert aus der Perspektive des sich autobiographisch darstellenden Subjekts einen herausgehobenen Anlass und Auslöser für seine Selbstbehauptung. (20) 180

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Die Bedrohung der Selbstschöpfung durch den Entzug der benötigten Mittel und im schlimmsten Falle die Vernichtung stimuliert dazu, »mit einem bestimmten Inventar autobiographischer Selbstbehauptungsstrategien [dagegenzuhalten]« (39). Nicht nur die Affinität von Autobiographie und Krieg, sondern auch verschiedene Muster autobiographischer Darstellung erklären sich laut Verf. demnach aus ihrer Leistung unter den gegebenen Umweltbedingungen. Röhnert hält sie zunächst in der Trias »Objektivierung – Ästhetisierung – Anekdotisierung« fest und exponiert Goethes Campagne in Frankreich von 1822 als »Modell« (51), an dem die Texte von Heine, Fontane, Benn, Jünger und Handke dann gemessen werden. Konkret herausgearbeitet werden an Goethes Campagne einerseits Theatralität und naturwissenschaftliche Anschauungsformen, die gleichermaßen der Distanzierung und Objektivierung dienen, sowie andererseits Versinnbildlichung und »anekdotische Erzählprogression« (79ff.), die im Dienst der ästhetischen Selbstermächtigung stehen. Der anekdotische Zeittakt zerlegt die Narration in Bilder, »die sich selbst erzählen« (80), insofern gegenüber dem dargestellten Geschehen Autonomie gewinnen und performativ dem Subjekt seine Gestaltungsmacht beweisen. Der stark an Funktion oder Leistung der Gattung Autobiographie orientierten Herleitung des Themas zum Trotz interessiert sich Röhnert jedoch nur wenig für den historisch konkreten Gebrauch der Gattung und ihrer Darstellungsmuster. Im Falle Goethes kommt er erst anlässlich des »geschichtemachenden Satzes, der von der Campagne überlebt hat, ohne dass man so recht weiß, wie und warum« (83), auf die konkreten Kontexte zu sprechen, verlässt sie aber bald schon wieder. Über die »Kanonade von Valmy« oder Goethes Krieg und wie er hinein geriet erfährt man auffallend wenig. Die radikal immanenten Interpretationen Röhnerts blenden nicht nur die konkreten Umweltbedingungen, sondern auch die immerhin gattungskonstitutiven Aspekte wie Faktualitätsanspruch und Referenzialität ganz aus. Im Zentrum steht allein die am Text selbst ablesbare Leistung der Schrift für ihren Schreiber. Da aber auch die realen Autoren Röhnerts Sache nicht sind, ist der autobiographische Text alleiniger Gegenstand der Untersuchung, während das sich in ihm reflektierende Autorsubjekt letztlich imaginär bleibt. Ausgehend von den Texten, die in sehr langen Passagen zitiert werden, stellen wir uns mit Röhnert vor, wie der vom Krieg bedrängte Autor zu diesen oder jenen Sujets oder Darstellungsstrategien greift, um »innerhalb der kontemplativer Selbstbehauptung feindlichen Lebenswelt […] Zugriffsmöglichkeiten auf einen Gegenentwurf zur Destruktion [zu] entdecken und kultivieren zu lernen« (361). Die Ergebnisse sind freilich nicht unplausibel. Im Gegenteil: Sie leben von ihrer Plausibilität. Im Fall von Ernst Jüngers Strahlungen, den Tagebüchern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zum Beispiel, erscheint das Exklusivwissen des Entomologen als 181

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Quelle eines esoterischen Versteckspiels vor der allgemeinen Kriegswirklichkeit. […] Er [Ernst Jünger; M.Sch.] präsentiert ein scheinbar kriegsfernes, technologisch unbrauchbares, ideologisch unverdächtiges Fach- und Spezialwissen, um sich abzugrenzen und Individualität zu bewahren. (365)

Ernst Jünger und speziell seinen Strahlungen ist das längste Kapitel gewidmet, das mehr als doppelt so lang ist wie die anderen, jeweils ungefähr gleich langen Autorkapitel, obwohl In Stahlgewittern nicht berücksichtigt und Siebzig verweht nur abschließend kurz behandelt wird. Es ist sicher richtig, Jüngers Käferwelt als Gegenwelt zu interpretieren, zumal sie vom Menschenkrieg weniger in Mitleidenschaft gezogen wird als andere menschenähnlichere Bereiche der Fauna. Auch andere, spezifisch diaristische Strategien wie der Rhythmus der Eintragungen (vgl. 331) oder die Wahl mythologisierender Begriffe für Protagonisten und Ereignisse der Schreckensherrschaft mögen sich in ihrer Ordnungsleistung ähneln, die den Tagebuchschreiber eines Rests an Souveränität versichert. Das Problem liegt woanders. Indem Röhnert alle Textdimensionen auf die eine Frage hin untersucht, was sie für die Selbstbehauptung des Autors leisten, kann er nur Ähnlichkeiten diagnostizieren. Unterschiede rücken in den Hintergrund und können genauso wie scheiternde oder an Grenzen stoßende Vorhaben nur verfolgt werden, wenn sie in den Quellen bereits als solche thematisiert werden (vgl. 344). Dadurch aber werden analytisch erzeugte und d.h. metasprachlich verursachte Erkenntnisgewinne von vornherein nahezu ausgeschlossen. Das ganze Untersuchungsprogramm ist gleichsam auf ›Affirmation der Literatur‹ gepolt. Da es die von Röhnert untersuchten Texte überhaupt gibt, können sie in der gewählten Perspektive gar nichts anderes belegen als den Erfolg der verschiedensten autobiographischen Selbstbehauptungsstrategien. Die Konzentration auf den Text allein erübrigt alle Fragen nach der Adäquatheit der Darstellungsstrategien oder deren kommunikativem Erfolg. Im Falle Jüngers mag man das Ergebnis als durchaus produktiv empfinden, insofern es die gegenstandstypischen Routinen der Kritik überhaupt nicht zum Zug kommen lässt, sondern stets die Legitimität (vgl. 352) von dessen Schreibweise herausarbeitet. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich die Ergebnisse einer fragwürdigen Methode verdanken, die an heterogenen Zeiten und Schriftstellern vor allem Gemeinsamkeiten herausarbeiten kann und will. Im gemeinschaftlichen Gelingen ihrer Selbstbehauptung als Autoren fügen sich die Texte von Goethe, Heine, Fontane, Benn, Jünger und Handke zu einem harmonischen Textkorpus. Dass ganz zu Anfang Autobiographie als Selbstdarstellung bestimmt wurde, d.h. als eine Selbstschöpfung auch für Dritte und nicht nur für die erste Person selbst, gerät dabei in Vergessenheit. Matthias Schöning, Konstanz 182

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Gislinde Seybert, Thomas Stauder (eds.). Heroisches Elend. Der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen. Frankfurt/Main et. al.: Peter Lang, 2014, 2 vols., 1.625 pp., Ill., 124,95 € [978-3-631-63662-6]. Die beiden vorliegenden Bände enthalten Beiträge zur kulturellen, künstlerischen und literarischen Verarbeitung des Ersten Weltkrieges in Europa, jedoch mit einem Fokus auf Frankreich, Deutschland und Großbritannien und Kapiteln in den entsprechenden drei Sprachen. Einleitend weist Thomas Stauder für die Herausgeber darauf hin, dass die Besonderheit der Bände in ihrem »gemein­europäischen, nationale Einzelperspektiven überwindenden Ansatz« und im Rückgriff auf neuere »kulturwissenschaftliche Fragestellungen« bestünde (23). Beide Behauptungen sind allerdings fragwürdig. Denn eine gemein­ europäische Perspektive scheint nur insofern auf, als sich viele der Beiträge mit Texten und symbolischen Praktiken beschäftigen, die der Überwindung der gewaltsamen Praxis und Hinterlassenschaft des Krieges gewidmet waren. Die meisten Kapitel sind dabei jedoch durchaus konventionell auf Autoren oder Texte in einzelnen nationalen Kontexten bezogen und erschließen diese mit den herkömmlichen Methoden der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation und symbol- oder metaphernanalytischen Ansätzen. Rezeptions- oder mediengeschichtliche Ansätze, die auf die Konturierung einzelner medialer Felder in der Verarbeitung des Weltkrieges abheben, finden in diesem Band keine Berücksichtigung. Nur eine Reihe von überblickartigen Beiträgen beleuchtet längerfristige Zusammenhänge der Symbolisierung und Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in einzelnen Ländern, so etwa in dem vorzüglichen Aufsatz von Mark Conelly, der die verschiedenen Wellen der kulturellen Präsenz des Grabenkrieges in der britischen Kultur seit 1919 analysiert und dabei die Bedeutung der Ironisierung als dominantes Narrativ seit 1945 beleuchtet. Arnd Bauerkämper vertritt in einem breit angelegten Überblick zur Kulturgeschichte und Erinnerung des Weltkrieges die These einer »Konvergenz« im kollektiven Gedächtnis des Krieges, die sich in den letzten 30 Jahren im Übergang zu einem »selbstkritischen Erinnern« gezeigt habe (65). Diese These ist im Prinzip überzeugend, trifft in der ganzen Tiefe des damit abgebildeten Prozesses aber doch wohl nur auf die drei wichtigsten ehemaligen Kombattanten in Frankreich, Großbritannien und Deutschland zu. Bereits in Belgien ist die Erinnerung auch im Jahr des centenaire immer noch von Spannungen zwischen der flämischen und der wallonischen Erinnerung gekennzeichnet, und auf dem Balkan, immerhin die ursprüngliche Konfliktarena, ist von einer solchen auf Verständigung ausgelegten Erinnerungspolitik noch nicht viel zu spüren. 183

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Es ist hier nicht möglich, Inhalt und Thesen der über 70 Beiträge in den beiden voluminösen Bänden im Einzelnen vorzustellen. Die Beiträge des Ersten Bandes widmen sich den unveröffentlichten Selbstzeugnissen verschiedener Gruppen von Augenzeugen, darunter auch solchen von einfachen Leuten, etwa in den Beiträgen von Remy Cazals und Sophie de Schaepdrijver. Sodann stehen die Reflexionen von Intellektuellen zur Debatte, darunter nicht zuletzt solche, die, wie Romain Rolland – gleich in zwei Beiträgen behandelt – und Kurt Tucholsky, zur Überwindung von Militarismus und Feindbildern aufriefen. In einem weiteren Abschnitt geht es um Projektionen und Imaginationen von Geschlechter- und Rollenbildern, wiederum vor allem anhand der textimmanenten Rekonstruktion einzelner literarischer Arbeiten. Der metaphernanalytische Ansatz vermag allerdings wichtige Einsichten zu vermitteln, wie etwa der Beitrag von Nadine Maria Seidel zu Manfred von Richthofens Kriegsbuch Der rote Kampfflieger verdeutlicht, das erstmals 1917 erschien. Seidel fächert den Gebrauch der Jagdmetaphorik bei von Richthofen auf und zeigt damit, wie dieser sich zum Verfechter einer »weidgerechten« Form des Kampfes gegen den Gegner stilisierte. Während dies auf den ersten Blick eine ethische Praxis des Tötens im Krieg anzuzeigen scheint, war damit tatsächlich eine Hierarchisierung und Dehumanisierung der gegnerischen Soldaten verbunden. Die in der retrospektiven Glorifizierung des roten Barons oft anzutreffende Vorstellung von einer »ritterlichen« Kampfführung wird damit ad absurdum geführt. In weiteren Abschnitten der Bände finden sich schließlich Ausführungen zu Spuren des Weltkrieges in nicht-literarischen Medien wie der bildenden Kunst, dem Film und der Musik sowie zur Verarbeitung des Krieges in Gedichten – unter anderem bei Bertolt Brecht und Georg Trakl – sowie dem Theater. Als Fazit ist festzuhalten, dass die beiden Bände einer übergreifenden Fragestellung oder methodisch-konzeptionellen Perspektive entbehren. Das ist bei der thematischen und geographischen Breite der Beiträge allerdings auch kaum anders zu erwarten. Hervorzuheben ist, dass aus dem weiten Feld der literarischen Deutung und Verarbeitung des Ersten Weltkrieges auch Künstler wie Ernst Barlach, Heinrich Vogeler und Käthe Kollwitz Behandlung gefunden haben, die mit den Mitteln ihrer Kunst pazifistische Werte zu vertreten suchten. Benjamin Ziemann, Sheffield

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Yury und Sonya Winterberg. Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg. Berlin: Aufbau Verlag, 368 pp., 22,99 € [978-3351035648]. Keine »kleinen« Schicksale im Krieg Wir Deutschen entdecken, anders als unsere europäischen Nachbarn, nach Jahrzehnten den Ersten Weltkrieg als historisches Ereignis neu, wenn auch die meisten Bücher der aktuellen Publikationsflut nicht wirklich Neues zu bieten vermögen. Dabei sind gerade im individuellen Kriegserlebnis zahlreiche, bedeutsame noch nicht erzählte Geschichten zu entdecken. Viel zu wenig wurde z. B. den Auswirkungen nachgegangen, die das Großwerden in einer kriegführenden Gesellschaft für Kinder bedeutet. Dem haben sich Yury und Sonya Winterberg in ihrem Buch Kleine Hände im Großen Krieg zugewandt. Sie geben dem strapazierten Begriff vom Ersten Weltkrieg als »Urkatastrophe« einen veränderten, neuen Sinn: »Denn die Kinder, die in jenen Jahren aufwuchsen, wurden lebenslang von ihm geprägt.« (13) Die Winterbergs haben Geschichten von Kindern und Jugendlichen verschiedener Nationen zusammengetragen. Diese verbinden sie mit der politischen, kulturellen und militärischen Geschichte und verschränken die Erlebnisse in unterschiedlichen Weltgegenden miteinander. So ergeben sich immer wieder überraschende Einsichten in Differenzen und Übereinstimmungen. Besonders intensiv werden die Auswirkungen der Kriegspropaganda auf die seelische Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen beleuchtet. Bei allen kriegführenden Nationen bilden die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung den »Humus für propagandistische Legenden«, die besonders bei Heranwachsenden große Wirkungen zeigen und z.B. ihre früher eher harmlosen Spiele auf der Straße oder im Park immer brutaler werden lassen, zu richtigen Kampfspielen ausarten. Aufgrund eines allmählichen Wissens über die wirklichen Kämpfe erhalten die Spiele einen teilweise gespenstischen Realismus. In Schulaufsätzen aus dem Jahr 1915 beschreiben Breslauer Grundschüler mit Hingabe ihre ausgefeilten Requisiten und Insignien. (124)

Das ist in Frankreich nicht anders als in Deutschland oder England. Der Krieg hat alle Sphären der Gesellschaft durchdrungen und prägt die Heranwachsenden gleichsam wie eine Schule des Lebens. Doch auch die richtige Schule ist wie kaum ein anderer Bereich der Gesellschaft von Propaganda durchdrungen. So wurde nach 1914 eine Generation bereits für den nächsten Krieg konditioniert. Das erklärt, warum nur wenige Jahre später wieder überall in Europa junge Männer 185

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bereitwillig in den Krieg zogen und junge Frauen klaglos in Waffenfabriken schufteten. Die Herausgeber eröffnen einen tiefgehenden Blick auf den sozialen und kulturellen Alltag verschiedenster Nationen, Staaten und Ethnien. Wir erfahren Lebensumstände und Entwicklungen von Kindern, die denkbar unterschiedlich sind. Da ist der eher introvertierte, wohlbehütet aufwachsende Yves, der in seinem Tagebuch die Leiden und Demütigungen während der Besetzung seiner Heimatstadt Sedan festhält. Und da ist Simone, die glaubt, Frankreich würde von Japanern überrannt, als man ihr von einfallenden »Fremden« erzählt. Denn »was kann fremder sein als jene fernöstlichen Menschen« (86). Auch Alfred, Marlene, Anaïs oder Manès machen sich ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Krieg, überführen die alle Sphären des Lebens durchdringende Propaganda in kindliche Phantasien. Wenn der Leser – manchmal fast beiläufig – ihre Familiennamen erfährt – Hitchcock, Dietrich, Nin, Sperber – weitet sich das Erzählte zur großen Geschichte, wie schon bei Simone, deren Nachname de Beauvoir lautet. Hier ist aber auch ein grundsätzliches Quellenproblem bei individuellen Zeugnissen über den Ersten Weltkrieg benannt: Wer damals nachwirkende Texte schuf, gehörte zumeist gehobenen Schichten an. Lesen und schreiben zu können war am Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht selbstverständlich. Erst ab 1910 galt Deutschland als vollständig alphabetisiert. So sind die unteren sozialen Klassen und Schichten bei den Quellen unterrepräsentiert. Spürbar das Bemühen der Herausgeber, trotzdem einen möglichst breiten Querschnitt der Gesellschaft einzufangen. Dabei vermitteln sie unerwartet viel Neues. Einer der dramatischsten Lebensläufe macht uns mit einem hierzulande eher unbekannten Kriegsschauplatz bekannt. Die Kosakentochter Marina Yurlova versucht, ihren Vater an der Front zu finden. Sie begleitet zaristische Truppen in die Kämpfe mit dem Osmanischen Reich und wird sukzessive zur Kindersoldatin, ein Schicksal, so belegt der Band, dass sie in jenen Jahren mit erstaunlich zahlreichen Altersgenossen vieler Ländern teilt. Das Mädchen wird Zeugin des ersten Genozids. Es handelt sich um Armenier, die mehrheitlich das Gebiet besiedeln. Männern wurden Hände und Beine abgehackt, Ohren und Zungen abgeschnitten. [...] Manche der Misshandlungen hat Marina selbst gesehen, anderes kennt sie vom Hörensagen. (233)

Dem Fernsehzuschauer sind einige der geschilderten Schicksale aus der europäischen TV-Produktion 14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs bekannt. Ein Vorzug des Buches ist, dass dem essayistischen Text, der Analyse, Hintergründe, Erzählen und Interpretation elegant verbindet, umfangreiche quellenkritische Angaben und Erläuterungen beigegeben sind. Das Quellenverzeichnis dokumentiert, 186

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dass äußerst umfangreiche Recherchen dem Band zugrunde liegen. Manchmal, besonders im letzten Drittel, überfrachten Details, Fakten und Episoden den ansonsten stringenten Text. Am Ende ist es dann doch ein bisschen viel, was die Autoren in die Erzählung aufnehmen. Einige, ohnehin nur kurze Kapitel, hätte man sich sparen können, ohne den Gehalt des Bandes zu schmälern. Ein Beispiel dafür ist die bekannte Geschichte der Familie Pöhland aus Bremen. Hier dienen die Kinder lediglich als Vorwand, über das Schicksal der Eltern zu berichten. Die von Yury und Sonya Winterberg beschriebenen Kinderschicksale, die sie stets sachkundig in kulturelle, soziale, politische und historische Zusammenhänge einordnen, sind ein erschütterndes Zeugnis. Sie offenbaren, dass nicht nur die Generation der jungen Männern, die als Soldaten ins Feld zogen, eine »verlorene« war. Jens Ebert, Berlin

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Joanna Witkowska, Uwe Zagratzki (eds.). Ideological Battlegrounds – Constructions of Us and Them Before and After 9/11. Volume 1: Perspectives in Literatures and Cultures. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars, 2014, 255 pp., 76.99 $ [978-1-4438-5891-5]. Nach über einer Dekade after the event hat sich – etwas zynisch formuliert – so etwas wie eine »9/11-Publikationsindustrie« entwickelt. Sie erstreckt sich von der Beschäftigung mit dem historischen »Epizentrum« der terroristischen Angriffe auf die Türme des World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 über die Auseinandersetzung mit US-amerikanischen oder globalen Reaktionen (von privater bis politischer Natur) auf »9/11« bis zum »post 9/11«-Zeitalter und dessen unterschiedlichen medialen Präsentationen. Welche Sonderstellung nimmt dabei die vorliegende Publikation ein? Mit dieser Frage nähert man sich als Rezensent automatisch einem Sammelband, in welchem die Herausgeber, ein polnisch-deutsches Team ausgewiesener Literatur- und Kulturwissenschaftler, neben einer kurzen Einleitung (sowie einem leider recht knappen Index) insgesamt vierzehn Beiträge offerieren. Nach der Lektüre der durchgehend höchst anschaulich an Textbeispielen argumentierenden Artikel kann auf die sicherlich etwas skeptisch anmutende Anfangsfrage eine deutlich positive Antwort gegeben werden: Es sind vor allem drei Aspekte des Komplexes »9/11«, welche hier auf eine prägnante und neue Akzente setzende Weise fokussiert werden. (1) Wichtiger als das Ereignis selbst erscheinen dessen mediale und textuelle Repräsentationen und ihre realistisch wirkende Erschaffung von mentalen Bildern, Stereotypen und kulturellen Mythen. (2) Erstaunlich ist dabei, in wieviel unterschiedlichen medialen Gattungen – von der Literatur über Filme, von Videospielen bis zur symphonischen Musik – »9/11« seinen Niederschlag findet und dort in ähnlicher Manier diskursive Sinnhaftigkeit erfährt. (3) Eindrucksvoll arbeiten die Beiträge heraus, wie bereits existierende nationale, ethnische, religiöse und kulturelle Stereotype, Vorurteile und Ideologien in Folge der medialen Repräsentationen nach »9/11«v in zugespitzter, verstärkter und meist auf binäre Oppositionen reduzierter Form diskursiv geschaffen und disseminiert werden. Entsprechend zeigt bereits der erste Beitrag aus der Sicht des Islamforschers Thomas Bauer mit dem Titel »The Islamization of Islam«, wie die westliche Presse (hier die deutsche) bereits vor den Ereignissen des Jahres 2001 dazu tendierte (oder zumindest entsprechende Assoziationen auslöste), die islamische Religion auf den islamischen Fundamentalismus zu reduzieren, mit Attributen wie irrational, fanatisch und gewaltsam zu belegen sowie deutlich den Islam als unvereinbar mit demokratischen Gedanken und als Gefahr für den Weltfrieden zu modellieren. In einem kurzen historischen Überblick kann Bauer zahlreiche Belege für die 188

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durch »9/11« in den Medien verstärkte Tendenz zur »Islamisierung« des Islam und zu seiner Gleichsetzung mit dem Mittelalter (»medievalization«) anführen. Diese diskursive Oppositionierung von aufgeklärtem, demokratischem, individualisiertem und friedvollem Westen und dunkel-gefährlich drohendem Osten, zwischen US-amerikanischer Demokratie und islamischem Despotismus und Fundamentalismus sowie zwischen weiteren Spielarten simpler Dichotomien tritt in den meisten Beiträgen zu literarischen und medialen »Texten« hervor – besonders eindrucksvoll etwa in Karolina Golimbowskas Ausführungen zu den Romanen The Reluctant Fundamentalist (Moshin Hamid) und Home Boy (H.M. Naqvi), welche die Reaktionen von Muslimen auf Ausgrenzung und Alteritätszuweisung fiktional inszenieren. Ähnlich kritische Stimmen gegenüber der verhärteten westlichen (hier US-amerikanischen) Stereotypisierung des kulturell Anderen geschieht, wie Barbara Powaza-Kurko darlegt, in dem Roman You Have to be Careful in the Land of the Free, hier geschildert aus der Perspektive des schottischen Autors James Kelman. Noch deutlicher demonstriert Elzbieta Wilczynska, wie in US-amerikanischen Spielfilmen ein erschreckend simplifizierendes Bild von Muslimen und vom Islam verbreitet wird, ähnlich wie in Videospielen (wie Krzysztof Inglot ausführt) oder generell im öffentlichen Diskurs der USA (analysiert von Jarema Drozdowicz). Neben Beiträgen zur Literatur der Niederlande (Sabine Ernst), weiteren englischsprachigen Romanen (Michael Chabons The Yiddish Policeman’s Union, interpretiert von Brygida Gasztold als »9/11«-Fiktion), Terry Pretchetts »discworld novels« (Dorata Guttfeld) sowie US-amerikanischen Verschwörungstheorie-Romanen (Michal Rozycki) und Darstellungen zur Folter politisch Verdächtiger in der Fernsehserie 24 (Daniel Sip) findet sich ein bemerkenswerter Artikel zur »Erinnerungskultur« von symphonischer Musik zum Thema (Akos Windhager). Hervorgehoben sei beispielhaft Ryan Dorrs Deutung des Hollywood-Blockbusters World Trade Center (Regisseur: Oliver Stone). In einer eingehenden Interpretation der filmischen Mittel sowie der Pressereaktionen auf den Film verdeutlicht Dorr, wie ein Medienprodukt mit cineastischen Techniken, wie etwa der Einbindung von dokumentarischem Filmmaterial, den Eindruck von Authentizität kreiert. Folglich wurde der Film in den USA als realistische, authentische und »unideologische« Eins-zu-Eins-Repräsentation der Ereignisse rund um die Attacke auf die Zwillingstürme des World Trade Center rezipiert. In Wirklichkeit entpuppt er sich als eine sehr einfache anti-islamische Botschaft, die vor allem stark patriotisch eingefärbt ist und in vertrauter Manier den USamerikanischen Exzeptionalismus propagiert. Damit tritt die zweite, eng mit der Schaffung von »Them« verbundene Funktion von Stereotypenzuweisungen hervor: die verstärkte Konnotation des »Us« mit positiven, nun erst recht zu verteidigenden Werten. 189

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Diese binäre Struktur der Schaffung medialer Repräsentationen, diese Strategien der Stereotypisierung werden in den Beiträgen an verschiedenen Stellen explizit theoretisch untermauert mit den kulturwissenschaftlichen Theorien von Baudrillard (9/11 als mediales »Spektakel«) und Foucault sowie besonders mit den Ausführungen zur kulturellen Repräsentation von Roland Barthes und Stuart Hall. Aus der Perspektive der postkolonialen Forschung schließlich kann Uwe Zagratzki im letzten Beitrag des Bandes am Beispiel der Orwellschen Kritik am kolonialen System des britischen Empire eingehender die in vielen Artikeln angedeutete historische Kontinuität der Prozesse des »Othering« aufzeigen. Dieser Band bietet somit eine sehr facetten- wie umfangreiche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen textuellen bzw. medialen Modellierungen von Alterität. Er sei wärmstens jenen empfohlen, die am Thema »9/11« interessiert sind, aber auch jedem, der exemplarisch Strategien und Prozesse der Stereotypisierung studieren möchte. Laurenz Volkmann, Jena

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Mohammad-Munir Adi. The Usage of Social Media in the Arab Spring. The Potential of Media to Change Political Landscapes throughout the Middle East and Africa. Berlin: LIT, 2014, 67 pp., 19,90 € [978-3-643-90468-3]. Civil riots and unrest of the »Arab Spring« have outstanding revolutionary effects on Arabic and African policy and society until today. This book analyses which role internet and social Media hold during the »Arab Spring« in countries such as Tunisia, Egypt and Syria. In a first chapter, the political situation and the social and economic background of the riots, in Tunisia and Egypt past, and Syria present, are examined. The following chapters deal with topics such as the influence of the New Media, social networks, the role of cyber activists, but also the importance of traditional media in the »Arab Spring«. Zivile Aufstände und Unruhen, die sich während des Arabischen Frühlings ereigneten, haben bis heute bedeutende revolutionäre Auswirkungen auf die arabische und afrikanische Politik und Gesellschaft. Welche Rolle dabei das Internet und soziale Netzwerke in Ländern wie Tunesien, Ägypten und Syrien spielten, untersucht dieses Buch. In einem ersten Kapitel werden die politische Lage sowie der soziale und ökonomische Hintergrund der Aufstände in Tunesien und Ägypten damals sowie in Syrien heute betrachtet. Die folgenden Kapitel widmen sich Themen wie dem Einfluss neuer Medien, sozialer Netzwerke, der Rolle von CyberAktivisten, aber auch der Bedeutung traditioneller Medien für den Arabischen Frühling. Rudolf Agstner (ed.). 1914. Das andere Lesebuch zum 1. Weltkrieg. Unbekannte Dokumente der österreichisch-ungarischen Diplomatie. Berlin: LIT, 2013, 249 pp., Ill., 29,90 € [978-3-643-50530-9]. The book is a collection of political as well as economic political, but also administrative reports of »k.u.k.« embassies, legations and consulates. It deals with the question with which subjects apart from the writing of the well-known ultimatum and the declaration of war on

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Serbia the »k.u.k.« diplomacy occupied itself in the year 1914. The collected reports raise topics like for example domestic political questions of the particular state, espionage activity or the accommodation of representative »k.u.k.« administration. By composing these texts it is possible to carve out fatal relations in the »k.u.k.« diplomacy. Das Buch ist eine Sammlung von politischen sowie wirtschaftspolitischen, aber auch administrativen Berichten von k.u.k. Botschaften, Gesandtschaften und Konsulaten. Es behandelt die Frage, womit sich die k.u.k-Diplomatie – abgesehen vom Verfassen des bekannten Ultimatums und der Kriegserklärung an Serbien – im Jahre 1914 beschäftigt hat. Die gesammelten Berichte haben zum Beispiel innenpolitische Fragen des jeweiligen Gaststaates, Spionageaktivitäten oder die Unterbringung von k.u.k.-Vertretungsbehörden zum Thema. Durch die Zusammenstellung der Texte gelingt es, fatale Zusammenhänge in der k.u.k-Diplomatie herauszuarbeiten und aufzuzeigen. Jürgen Angelow, Johannes Großmann (eds.). Wandel, Umbruch, Absturz. Perspektiven auf das Jahr 1914. Stuttgart: Steiner, 2014, 231 pp., 48,00 € [978-3-515-10913-0]. This anthology includes different perspectives on the transformational function of the year 1914 and the beginning of the First World War. Considering the continuities leading towards its outbreak, the authors reconstruct transnational operation as well as the political, cultural and possible individual motivation underlying it. The volume further examines aspects of change in patterns of perception, behavior, and communication, especially during the »July Crisis«. In doing so, three different developments are identified: A change in global interaction; an upheaval in national discourse and concepts of state and state neutrality; as well as a downfall in romanticized militarism and one-dimensional concepts of hostility. In detail, emphasis is put on such diverse elements as global economy, international law, the role of the Balkan region or gender and sexuality in the aftermath of the war. Dieser Sammelband vereinigt unterschiedliche Blickwinkel auf das Jahr 2014, den Beginn des Ersten Weltkrieges und dessen Transformationsfunktion. Unter Einbezug historischer Entwicklungen rekonstruieren die Autoren sowohl das transnationale Handeln verschiedener Akteure als auch die zugrunde liegenden politischen, kulturellen oder möglicherweise persönlichen Motive. Beleuchtet werden ferner Veränderungen von Wahrnehmung, Verhalten und Kommunikation, besonders während der Julikrise. Dabei werden drei verschiedene Entwicklungen herausgestellt: Ein Wandel globaler Interaktion, ein Umbruch in nationalen Diskursen und in Konzepten von Staatlichkeit oder Staatsneutralität sowie ein Absturz etwa des romantischen Militarismus und der eindimensionalen Feindeswahrnehmung. Im Einzelnen widmen sich die Autoren unter anderem so unterschiedlichen Themen wie der Weltwirtschaft, dem Völkerrecht, der Rolle der Balkanregion oder Gender und Sexualität im Nachgang des Krieges.

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Sonja Asal, Helwig Schmidt-Glintzer (eds.). Zeitschrift für Ideengeschichte. VIII/2 Sommer 2014. München: C. H. Beck, 2014, 128 pp., Ill., 12,90 € [987-3-406-65882-2]. In this booklet the change of the reactions and sentiments in public opinion towards warfare in general is documented. This includes earlier rivalry which was firstly carried out with euphoria and dedication to the nation by agonal fights of ideas, followed by huge disenchantment during the war that later lead to immense self-stylisation. In order to be able to give the reader an understanding and to capture these sentiments and sense of self, the editors have integrated several essays and thought figures. In dem Heft wird die Veränderung der Reaktionen und der Stimmungen im Volk gegenüber Kriegsgeschehen im Allgemeinen dokumentiert. Dies beinhaltet die Kriegen vorangehenden Rivalitäten, welche zunächst mit Euphorie und Hingabe an die Nation durch agonale Ideenkämpfe ausgetragen wurden, darauf folgend während des Krieges große Ernüchterung und später immense Selbststilisierungen. Um diese Stimmungen und Selbstwahrnehmungen einfangen und dem heutigen Verständnis näher bringen zu können, haben die Herausgeber mehrere Essays und Denkbilder eingegliedert. Erich Auerbach. Kultur als Politik. Aufsätze aus dem Exil zur Geschichte und Zukunft Europas (1938–1947). Ed. Christian Rivoletti. Konstanz: Konstanz University Press, 2014, 200 pp., 29,90 € [978-3-86253-046-5]. This publication contains essays and writings by the German-Jewish teacher of Romance language and literature, Erich Auerbach, which he wrote during his time in Turkish exile between 1938 and 1947, published in German language for the first time. Beside his work »Mimesis« about the history of literature, no other publication by Auerbach from his time in Turkey, where he emigrated to in 1935, was known until now. This book now offers several exile-essays by Auerbach divided into two topics. The first part deals with essays concerning European cultural history, wherein Auerbach gives his opinion on literary, linguistic, political and historical European subjects. The second part comprises essays about protagonists of European cultural history such as Dante, Machiavelli, Voltaire and Rousseau. Publisher and teacher of Romance language and literature Christian Rivoletti gives an introduction to Auerbach’s works and establishes a link between Auerbach’s exile-essays and the title and topic of this book »Kultur als Politik«, that developed out of Auerbach’s newly formed observing position towards his homeland Germany as well as his experiences in Turkey. Diese Veröffentlichung versammelt erstmals in deutscher Sprache die Aufsätze und Schriften des deutsch-jüdischen Romanisten Erich Auerbach, die er zwischen 1938 und 1947 im türkischen Exil verfasste. Aus Auerbachs Zeit in der Türkei, wohin der Literaturwissenschaftler 1935 emigrierte, sind neben seinem literaturgeschichtlichen Werk Mimesis bislang keine Veröffentlichungen bekannt. Dieses Buch bietet nun mehrere Exilaufsätze Auerbachs, die in zwei Themengebiete gegliedert sind. In einem ersten Teil sind Aufsätze zu Themen der europäischen Kulturgeschichte versammelt, in denen sich Auerbach

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zu vielfältigen literarischen, sprachwissenschaftlichen, politischen und geschichtlichen Themen Europas äußert. Der zweite Teil enthält Aufsätze, die sich mit Protagonisten der europäischen Kulturgeschichte beschäftigen wie u.a. Dante, Machiavelli, Voltaire und Rousseau. Um Auerbachs Schriften einzuleiten, stellt der Herausgeber und Romanist Christian Rivoletti den Bezug Auerbachs und seiner Exilaufsätze zu dem titelgebenden Thema »Kultur als Politik« her, die aus Auerbachs neu entstandener Beobachterrolle zum Heimatland Deutschland und seinen Erlebnissen in der Türkei resultieren. Claudia Bade, Lars Skowronski, Michael Viebig (eds.). NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension. Göttingen: V&R unipress (Berichte und Studien; 68), 2015, 288 pp., 29,99 € [978-38471-0372-1]. This anthology seeks to investigate the two scopes of National Socialist military jurisdiction during the Second World War: The initial sphere of competence in military questions, under which approximately 30.000 death sentences on soldiers of the Wehrmacht were pronounced, was expanded by a legal authority even in civil questions for the newly conquered regions of Europe. »NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg« (»NS Military Jurisdiction in the Second World War«) includes individual articles about the situation in different affected countries as well as studies on theory and practice of research concerned with Wehrmacht-Jurisdiction. Dieser Sammelband untersucht die beiden Sphären nationalsozialistischer Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg: Die ursprüngliche Zuständigkeit in militärischen Fragen, worunter auch die Verkündung von ca. 30.000 Todesurteilen fiel, wurde nach und nach um den Zuständigkeitsbereich auch in zivilen Fragen der Rechtsprechung für die eroberten Gebiete Europas ausgedehnt. NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg enthält einzelne Artikel zur Situation in den betroffenen Ländern sowie wissenschaftliche Arbeiten zu Theorie und Praxis der Erforschung von NS-Militärjustiz. Erwin Bader (ed.). Krieg oder Frieden, Interdisziplinäre Zugänge. Wien: Lit, 2013 (Austria: Forschung und Wissenschaft. Philosophie 17), 193 pp., 24,90 € [978-3-64350511-8]. Based on a lecture series given at the University of Wien and organised by editor Erwin Bader, this book discusses the preconditions of war from different perspectives. In their interdisciplinary approach, the essays deal, among other topics, with perceptions of war and peace in antiquity, war and peace in Europe, peace as the basis of Roman-Catholic ideals of society, and neutrality as an instrument to ensure peace. Apart from several philosophical definitions and evaluations, this collection contributes to the evaluation of present-day challenges and problems. These would include, for example, international peace-keeping by means of military as well as civil crisis management, which is being reflected upon from a philosophical-political as well as sociological point of view.

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Basierend auf einer Ringvorlesung an der Universität Wien unter der Leitung des Herausgebers Erwin Bader setzt sich das Buch mit den Voraussetzungen des Friedens aus verschiedenen Perspektiven auseinander. Im Zuge interdisziplinärer Zugänge behandeln die Beiträge beispielsweise die Auffassung von Krieg und Frieden in der Antike, Krieg und Frieden in Europa, Friede als Basis der katholischen Soziallehre und die Neutralität als Instrument der Friedenssicherung. Zudem wird aus juristischer Sicht das Recht als Fundament für den Frieden erläutert. Neben einer Reise durch zahlreiche philosophische Definitionen und Abhandlungen zu den Themen Krieg und Frieden, liefert das Buch auch Erläuterungen und Diskussionen zu aktuellen Themen und Problematiken, wie z.B. der internationalen Friedenssicherung durch militärisches und ziviles Krisenmanagement, welche dabei philosophisch-politisch und sozialwissenschaftlich reflektiert werden. Władysław Bartoszewski. Mein Auschwitz. Paderborn: Schöningh, 2015, 282 pp., Ill., 29,90 € [978-3-506-78199-2]. In this book, Władysław Bartoszewski, who was held prisoner in KZ Auschwitz-Birkenau between 1940 and 1941 and later became Minister of Foreign Affairs in Poland, describes his life and feelings during the time of imprisonment. For this purpose, his account is divided into several chapters: A short introduction by the author, in which he reflects on the possible meaning of the title »My Auschwitz«, is followed by a discussion with Piotr M. A. Cywiński, director of the museum Auschwitz-Birkenau, and journalist Marek Zając. The second half of the book consists of a commented anthology and includes different texts directly connected with Auschwitz written by Halina Krahelska, Zofia Kossak, Jerzy Andrzejewski, Pater Augustyn and Bartoszewski himself. The author‘s explicit aim herein is to conserve the disturbing memory on the concentration camp for later generations. Der ehemalige Häftling des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und spätere Außenminister Polens, Władysław Bartoszewski, schildert in diesem Buch seinen Alltag und sein Gefühlsleben während der Internierung. Die Darstellung ist in verschiedene Teile gegliedert: In einer kurzen Einleitung reflektiert der Autor zunächst den Titel »Mein Auschwitz« und dessen mögliche Bedeutungsebenen. Es folgt ein Gespräch mit Piotr M. A. Cywiński, dem Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau, sowie dem Journalisten Marek Zając. Die zweite Hälfte des Buches ist eine kommentierte Anthologie, die mehrere mit Auschwitz in direkter Verbindung stehende Texte von Halina Krahelska, Zofia Kossak, Jerzy Andrzejewski, Pater Augustyn und Bartoszewski selbst enthält. Das ausdrückliche Ziel des Autors ist dabei die Erhaltung der verstörenden Erinnerung an das Konzentrationslager für nachfolgende Generationen. Thomas Bauer-Friedrich, Hermann Gerlinger (eds.). Kriegszeit 1914–1918. Dresden: Sandstein (Almanach der Brücke 3), 2014, 128 pp., Ill., 24,90 € [978-3-95498-133-5]. The Museum of Art in Moritzburg (Saale) has dedicated several exhibitions to the »Brücke« (»the Bridge«), an highly influential group of expressionist artists founded 1905 in Dresden. 195

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In the context of the exhibition »Kriegszeit [»Times of War«]: Erich Heckel 1914–1918«, Hermann Gerlinger and Thomas Bauer-Friedrich have written and collected this illustrated overview on the artists’ im- and expressions on the First World War, as well as the impact it had on their later works. While the personal consequences are highly diverse, with August Macke being killed on the front or Ernst Ludwig Kirchner returning with psychological wounds, the »Brücke« and its creations express well the general personal experience of the common soldier in »Times of War«. Das Kunstmuseum Moritzburg (Saale) hat sich bereits in mehreren Ausstellungen mit der »Brücke«, einer 1905 in Dresden gegründeten einflussreichen expressionistischen Künstlergruppe, beschäftigt. Im Rahmen der Ausstellung Kriegszeit: Erich Heckel 1914–1918 schrieben und sammelten Hermann Gerlinger und Thomas Bauer-Friedrich diesen bebilderten Überblick über die Im- und Expressionen der Künstler im Ersten Weltkrieg sowie dessen Einfluss auf ihr späteres Schaffen. Während die persönlichen Konsequenzen sich höchst unterschiedlich gestalten – August Macke fiel an der Front, Ernst Ludwig Kirchner kehrte mit psychischen Beschwerden zurück – geben die Künstler und Kunstwerke der »Brücke« einen wertvollen Einblick in die allgemeinen persönlichen Erfahrungen des einfachen Soldaten in Kriegszeiten. Ute Baur-Timmerbrink (ed.). Wir Besatzungskinder. Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen. Berlin: Ch. Links, 2015, 240 pp., Ill., 19,90 € [978-3-86153-819-6]. This book deals with the socially difficult situation of »war children« in Germany. As one of the later consequences of the Second World War, more than 100.000 of these children were born between 1945 and 1955 by a German or Austrian mother, while the biological father served in the occupation army of one of the Allied countries. The text collection begins with general studies on the social and psychological situation of the boys and girls, considering an often fatherless childhood as well as stigmatisation from society and families. Later on, twelve individual experiential reports written by the persons concerned are presented. Dieses Buch befasst sich mit der gesellschaftlich schwierigen Situation von sogenannten Besatzungskindern in Deutschland. Als eine der Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges wurden zwischen 1945 und 1955 mehr als 100.000 Kinder von einer deutschen oder österreichischen Mutter geboren, deren leiblicher Vater in der Besatzungsarmee eines der alliierten Staaten diente. Die Textsammlung beginnt mit allgemeinen Darstellungen zur sozialen und politischen Situation der Jungen und Mädchen angesichts einer oft vaterlosen Kindheit und der Stigmatisierung durch Gesellschaft und Familien. Anschließend werden zwölf individuelle Erfahrungsberichte von Betroffenen vorgestellt. Joëlle Beurier. 14–18 Insolite. Albums-Photos des soldats au repos. Paris: Ministère de la Défense & Nouveau Monde éditions, 2014, 256 pp., Ill., 26,90 € [978-2-36583-969-3]. Photography on the topic of the First World War is, naturally, often focused on its brutal and violent character, conserving the horrible reality of combat. The collection »14–18 196

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Insolite. Albums-Photos des soldats au repos« chooses a radically changed viewpoint, mainly including explicitly those photographs which depict life behind the front lines and moments of leisure and relief. Written in French and co-published by the French Ministry of Defense, the volume mainly, though not exclusively shows French soldiers, including those at the often neglected »foreign front« in the former colonies outside of Europe. Despite changing the point of view, the book may also be a contribution towards an explanation of the organization and psychology behind the horrors of war, certainly rather than aiming at a depiction of the Great War itself. Photographie, die den Ersten Weltkrieg zum Thema hat, zeigt in der Regel seine brutalen und gewaltsamen Auswüchse und hält die schreckliche Realität des Kampfes fest. Die Sammlung 14–18 Insolite. Albums-Photos des soldats au repos nimmt einen völlig anderen Standpunkt ein und konzentriert sich ausdrücklich auf solche Photographien, die das Leben hinter der Frontlinie und die Momente der Erholung abbilden. Vermutlich, weil das Buch vom französischen Verteidigungsministerium mitherausgegeben wurde und entsprechend in französischer Sprache verfasst ist, zeigt das Buch hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, französische Soldaten und dabei auch jene, die an der »fremden Front« in den ehemaligen Kolonien kämpften. Mit Hilfe dieses veränderten Blickwinkels kann das Buch eher einen Beitrag zum Verständnis von Organisation und Psychologie liefern, die hinter den Gräueln des Krieges standen, als dass es den Krieg selbst abbilden möchte. Ralf Blank. Bitter Ends. Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs im Ruhrgebiet 1944/45. Essen: Klartext, 2014, 364 pp., Ill., 22,95 € [978-3-8375-1192-5]. In »Bitter Ends«, a title inspired by a 1945 Time Magazine study on the Ruhr Area, Ralf Blank analyzes the region’s situation and development during the final phase of the Second World War. In the course of the German retreat on the Western front, the Ruhr Area itself became close to the new frontline and especially exposed to aerial attacks. At the same time, those remaining at the »home front« were demanded to mobilize additional reserves while the terror of the NS-Regime increased during the last months of the war. Eventually, when the Allies, that is, two US-armies, encircled the region, the so created »Ruhr Pocket« became subject to speculation and mythologization. Ralf Blank extensively describes and comments on these aspects with reference to the military movements as well as to the social situation, the bombings as well as the ground offensive in 1945 under leadership of the United States. Finally, the end of the war is dealt with, and an attempt is made to identify its function in the memory and traditions of the years after 1945. In Bitter Ends, einem von einer gleichnamigen Time Magazine-Reportage aus dem Jahr 1945 inspirierten Titel, analysiert Ralf Blank die Situation und Entwicklung des Ruhr­ gebiets während der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Nachdem sich deutsche Truppen an der Westfront zunehmend zurückzogen, kam die neue Frontlinie der Region bereits gefährlich nahe und Luftangriffe nahmen zu. Gleichzeitig wurde den an der »Heimat-

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front« verbliebenen Menschen die Mobilisierung zusätzlicher Reserven abverlangt und der Terror des NS-Regimes nahm zu. Als schließlich die Alliierten durch zwei US-Armeen das Ruhrgebiet einschlossen, wurde der so entstandene »Ruhrkessel« Zielobjekt für Spekulationen und Mythisierung. Ralf Blank beschreibt und kommentiert ausführlich all diese Aspekte, auch im Hinblick auf militärische Operationen und gesellschaftliche Situationen, auf Bombenangriffe wie auch die von den US-Amerikanern ab 1945 geführte Bodenoffensive. Abschließend wird zusätzlich das Kriegsende sowie dessen Funktion in nachkriegszeitlichen Überlieferungen behandelt. Helmut Bley, Anorthe Kremers (eds.). The World During the First World War. Essen: Klartext, 2014, 387 pp., 39,95 € [978-3-8375-1042-3]. The anthology deals with the effects of the First World War. In this collection the authors however do not attend only to the impact on Europe but they focus in fact on Asia, Africa, Latin America and Australia to therefore cope with the First World War as a global occasion with far-reaching consequences. In addition to local economic, political and environmental developments on the said continents the perception of the war by soldiers, veterans and civilians is also mentioned. Der Sammelband befasst sich mit den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. Hierbei widmen sich die Autoren jedoch nicht nur dem Einfluss auf Europa, sondern nehmen vielmehr Asien, Afrika, Lateinamerika und Australien in den Fokus, um somit dem Ersten Weltkrieg als globalem Ereignis mit weitreichenden Konsequenzen gerecht zu werden. Neben lokalen ökonomischen, politischen und ökologischen Entwicklungen auf den besagten Kontinenten wird auch die Wahrnehmung des Krieges durch Soldaten, Veteranen und Zivilisten thematisiert. Alfred S. Bradford. War. Antiquity & its Legacy. London, New York: I. B. Tauris (Ancients and Modern Series), 2015, XVI + 176 pp., 17,49 € [978-1-84885-935-7]. Beginning with the earliest accounts of war and conflict in history, »War. Antiquity & its Legacy« tries to draw parallels between modern and antique patterns of warfare. Based on the observation that modern words for martial objects and institutions mainly derive from their Greek or Roman counterparts, Albert S. Bradford tries to illustrate the persistence of core principles and techniques throughout the history of war. Ausgehend von den frühesten Darstellungen des Krieges in der Geschichte versucht das Buch War. Antiquity & its Legacy Parallelen zwischen moderner und antiker Kriegsführung aufzuzeigen. Am Anfang steht dabei die Feststellung, dass beinahe alle Vokabeln moderner Kriegsführung von ihren griechischen oder römischen Entsprechungen abgeleitet sind. Darauf aufbauend beschreibt der Autor die Kontinuität und Unverrückbarkeit bestimmter Kernprinzipien und -techniken von der Kriegführung der Antike bis zur Moderne.

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Ludwig Brake. Eckhard Ehlers, Utz Thimm. Gefangen im Krieg. Gießen 1914–1918. Marburg: Jonas, 2014, 632 pp., Ill., 25,00 € [978-3-89445-494-4]. »Gefangen im Krieg« wants to reconstruct Gießen’s history during the First World War, which it does considering three main topics: »Gießen in feldgrau« focuses on the »home front«, on characteristics and peculiarities of life inside the town during the Great War. Part two, »Mit Gott voran zu Kampf und Sieg – Von der poetischen Mobilmachung« comments on selected poems, especially those of Werner Bock, between warmongery and skepticism. The final part, »Die verbotene Stadt« then deals with the prisoners of war camp near Gießen as well as the perception and life of both prisoners and inhabitants of other nationalities. While it has been stated that among the numerous publications about the First World War in the the 100th year after its outbreak, no groundbreaking new results are to be expected, Brake, Ehlers and Thimm explicitly see their research in the ambition to close local and regional gaps in historical memory and have so produced an extensive account on the diverse aspects of Gießen between 1914 and 1918. Gefangen im Krieg versucht die Geschichte Gießens zwischen 1914 und 1918 näher zu beleuchten, wobei das Hauptaugenmerk auf drei übergeordnete Aspekte gelegt wurde: »Gießen in feldgrau« konzentriert sich auf Ereignisse an der Heimatfront, auf Eigenschaften und Besonderheiten des städtischen Lebens in Kriegszeiten. Ein zweiter Teil, »Mit Gott voran zu Kampf und Sieg – Von der poetischen Mobilmachung« enthält und kommentiert verschiedene Gedichte, besonders von Werner Bock, zwischen Kriegstreiberei und Skepsis. Im letzten Teil, »Die verbotene Stadt«, wird das Kriegsgefangenenlager behandelt sowie die Gießener Wahrnehmung und die Lebensbedingungen der Gefangenen, jedoch auch die der Einwohner anderer Nationalitäten. Es ist eine gängige Annahme, dass unter den zahlreichen Publikationen zum Ersten Weltkrieg im Zuge des einhundertsten Jahrestags seines Ausbruchs keine grundlegenden neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Brake, Ehlers und Thimm sehen ihr Buch stattdessen jedoch bewusst unter der Zielsetzung, lokale und regionale Lücken des historischen Gedächtnisses aufzuarbeiten, und haben einen entsprechend ausführlichen Bericht über verschiedenartigen Facetten Gießens zwischen 1914 und 1918 vorgelegt. Insa Braun, Ivana Drmić, Yannic Federer, Fabienne Gilbertz (eds.). (Post-)Jugoslawien. Kriegsverbrechen und Tribunale in Literatur, Film und Medien. Frankfurt/Main: Lang, 2014, 190 pp., 39,95 € [978-3-631-64878-0]. The authors of this anthology deal with the artistic and medial examination of the postYugoslavic wars from different perspectives. They focus especially on literary, filmic and theatre productions from the former Yugoslavia as well as artistic and journalistic presentations from Western Europe and the USA. The anthology, however, also asks the question to what degree it is generally possible to assimilate the acts of war in an artistic and medial way and therefore expounds the problems of different means like the attempts of aestheticization.

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Die Autoren dieses Sammelbandes befassen sich mit der künstlerischen und medialen Auseinandersetzung mit den postjugoslawischen Kriegen aus unterschiedlichen Perspektiven. Ein besonderer Fokus wird hierbei auf literarische, filmische und theatrale Produktionen aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie auch auf künstlerische und journalistische Darstellungen aus Westeuropa und den USA gelegt. Der Sammelband stellt jedoch auch die Frage, inwieweit es überhaupt möglich sei, das Kriegsgeschehen künstlerisch und medial zu verarbeiten, und problematisiert somit verschiedene Perspektivierungen und Ästhetisierungsversuche. Gudrun Brockhaus (ed.). Attraktion der NS-Bewegung. Essen: Klartext, 2014, 342 pp., Ill., 22,95 € [978-3-8375-1033-1]. The anthology attends to the issue of the attraction of the NSDAP on the German voters and the German public in general. The authors examine the peoples’ motives from a social- and cultural-historical view. This is completed by several social psychological and psychoanalytic contributions with the aim to reveal the relations between the historical occasions and the resultant requirements of people. Therefore, the volume also treats the question how the appeal of the NSDAP movement was based and coordinated on these requirements and fears after the devastating defeat in the First World War. Der Sammelband widmet sich dem Thema der Anziehungskraft der NSDAP auf die deutschen Wähler und das »deutsche Volk« im Allgemeinen. Die Autoren untersuchen die Beweggründe der Menschen aus sozial- und kulturgeschichtlicher Sicht. Dies wird durch einige sozialpsychologische und psychoanalytische Beiträge ergänzt, mit dem Ziel, die Zusammenhänge zwischen den geschichtlichen Ereignissen und den daraus resultierenden subjektiven Bedürfnissen der Menschen deutlicher zu machen. So behandelt der Band auch die Frage, wie sich die Attraktion der NS-Bewegung auf diese Bedürfnisse und Ängste nach der verheerenden Weltkriegsniederlage bezog und sich darauf auswirkte. Steffen Bruendel. Zeitwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München: F. A. Herbig, 2014, 303 pp., 19,99 € [978-3-7766-2734-3]. The time of World War I brought a change in political and intellectual movements in Europe and Germany. This book emphasises especially how artists, writers and philosophers experienced this time and the changes in their attitudes, influenced by the war, and further which visions and opinions arose out of this. Therefore, this topic structured book analyses subjects such as atmospheres of departure, change, reconstruction and loss by taking original texts of authors such as Heinrich and Thomas Mann, Otto Dix, Max Weber and Kurt Tucholsky in account. Die Zeit des Ersten Weltkriegs brachte einen Wandel in politischen und geistigen Strömungen in Europa und Deutschland mit sich. Dieses Buch betrachtet besonders, wie Künstler, Dichter und Philosophen diese Zeit erlebten, welche Veränderungen in ihren Einstellungen der Krieg mit sich brachte und welche neuen Visionen und Auf200

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fassungen daraus hervorgingen. Dazu bietet das Buch anhand von Originaltexten und Analysen einen Einblick in die Themengebiete Aufbruchsstimmung, Umbruch, Aufbau und Abgangsstimmung, sowie deren ambivalente Betrachtungen durch die verschiedenen Künstler, darunter Heinrich und Thomas Mann, Otto Dix, Max Weber und Kurt Tucholsky. Geert Buelens. Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Berlin: Suhrkamp, 2014, 459 pp., 26,95 € [978-3-518-42432-2]. Not only was the First World War a political clash, it marked, moreover, also the beginning of modern poetry. All over Europe, poets hoped for a social revolution and tried eagerly to participate directly in combat, in order to be able to transform their experiences into lyrical form later on. Belgian poet-essayist Geert Buelens has now produced this overview on the societal spectrum of literature during that time. Starting with the early 20th century, the author guides the reader through a collection of diverse pieces of European poetry, mirroring mental, cultural and political structures present until the end of war in 1918. In doing so, Buelens pays attention to many acclaimed poets such as Pessoa, Achmatowa, Majakowski, Ungaretti, Apollinaire, Trakl und Sassoon, while he also acknowledges numerous less well-known lyricists. Der Erste Weltkrieg war nicht nur politischer Kampf, sondern auch der Beginn der modernen Lyrik. In ganz Europa erhofften Dichter sich einen Umbruch und wollten am direkten Kriegsgeschehen teilhaben, um dort gemachte Erfahrungen anschließend dichterisch authentisch umsetzen zu können. Der belgische Dichter und Essayist Geert Buelens zeigt in seinem Buch das gesellschaftliche Spektrum von Literatur auf. Beginnend am Anfang des 20. Jahrhunderts schickt Buelens seine Leser auf eine Reise durch verschiedenste europäische Lyrik als Spiegel mentaler, kultureller und politischer Strukturen der Zeit bis zum Ende des Krieges 1918. Im Zuge dessen nimmt er sowohl Bezug auf bekannte Lyriker wie Pessoa, Achmatowa, Majakowski, Ungaretti, Apollinaire, Trakl und Sassoon, als auch auf zahlreiche unbekannte Dichter. Christopher Clark. Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: DVA, 2013, 895 pp., Ill., 39,99 € [978-3-421-04359-7]. The historian Christopher Clark pictures a new view on the developments which caused the First World War, and shows, in opposition to the accepted views, motives of not only Germany but all European countries that had an interest in war. The shown image of the pre-war history is pervaded by political interests, mutual mistrust, self-overestimation and nationalistic efforts, which only needed a small catalyst to start a war. Clark focusses especially on the Balkan situation in which he sees a leading role. Der Historiker Christopher Clark stellt in diesem Buch eine der landläufigen Meinung entgegen gestellte Ansicht zu den Entwicklungen auf, die 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, und beleuchtet dabei besonders die verschiedenen Motive aller europäischen Länder, die neben dem deutschen Kaiserreich einen Krieg wünschten. Das 201

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von Clark entwickelte Bild der Kriegsvorgeschichte zeigt sich durchzogen von politischen Interessen, gegenseitigem Misstrauen, Selbstüberschätzung und nationalistischen Bemühungen, bei der nur noch ein kleiner Auslöser fehlte, um einen Krieg zu beginnen. Besondere Beachtung schenkt Clark dabei der Situation auf dem Balkan, den er als federführend betrachtet. Birgit Dalbajewa, Simone Fleischer, Olaf Peters (eds.). Otto Dix. Der Krieg – Das Dresdner Triptychon. Dresden: Sandstein, 2014, 288 pp., Ill., 29,90 € [978-3-95498-073-4]. Otto Dix, one of the key figures in 20th century realistic painting, created his triptych »Der Krieg« between 1929 and 1932, recapturing his own impressions on the Western Front during the First World War, where he served from 1915 until 1918. 100 years after the war’s outbreak, the National Art Gallery Dresden now dedicated this anthology to the painting’s context and development. The book includes several detailed depictions of the triptych, its different sections and early sketches, as well as numerous illustrations of the artist’s other associated works. Moreover, a collection of essays deals with its theoretical development and historical contextualization, while Dix’ time at front is shown through previously unpublished source material. Otto Dix, während des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Figuren des realistischen Kunststils, schuf das Triptychon Der Krieg zwischen 1929 und 1932. Er verarbeitete darin seine eigenen Erfahrungen an der Westfront des Ersten Weltkrieges, in dem er von 1915 bis 1918 diente. 100 Jahre nach Kriegsausbruch hat nun die staatliche Kunstsammlung Dresden dem Gemälde diese Anthologie gewidmet. Enthalten sind mehrere detaillierte Abbildungen des Triptychons inklusive einzelner Ausschnitte und früher Vorzeichnungen, sowie mehrere mit dem Bild in Zusammenhang stehende weitere Werke des Künstlers. Darüber hinaus sind Essays zu künstlerischer Entwicklung und kulturgeschichtlichem Kontext zu finden. Dix’ Zeit an der Front wird mithilfe teils unveröffentlichten Quellenmaterials veranschaulicht. Bejtullah Destani, Robert Elsie (eds.). The Balkan Wars. British Consular Reports from Macedonia in the Final Years of the Ottoman Empire. London, New York: I. B. Tauris, 2014, XV + 290 pp., Ill., 8,70 £ [978-1-78076-076-6]. This anthology focuses on the downfall of the Ottoman Empire and the two Balkan Wars closely connected to it. Both of these wars, the first of which was fought mainly against the Empire, while the second developed into a territorial war among the Balkan sub-states, are presented in 83 edited consular dispatches and reports. The majority of these were written by British diplomat Charles Greig, who, at the time of interest, was the Vice-Consul in Monastir. This city, today known as Bitola, had been the diplomatic center of the Ottoman province of Macedonia, which later became partly the Republic of Macedonia and partly included into the Greece and the Bulgarian state. Thus, it was

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also a center of turmoil and an object of military and political interests where the conflicts’ destructive power became most visible. While the documents do not account for a broad overview on the course of the wars, Greig’s descriptions can contribute towards comprehension or classification of their first-hand consequences with an explicit focus on injustice committed by different parties. Diese Anthologie untersucht den Fall des Osmanischen Reiches und die eng damit verbundenen Balkankriege. Während im Ersten Balkankrieg hauptsächlich gegen das Reich selbst gekämpft wurde, entwickelte sich der Zweite Balkankrieg zu einer Auseinandersetzung um Gebietsansprüche unter den einzelnen Staaten der Region. Diese Konflikte werden im Buch anhand von 83 diplomatischen Berichten und Depeschen dargelegt, größtenteils verfasst von Charles Greig, dem damaligen britischen Vize-Konsul in Monastir. Die heute Bitola genannte Stadt war zur damaligen Zeit das diplomatische Zentrum der osmanischen Provinz Mazedonien, welche inzwischen teils in die Republik Mazedonien aufgegangen ist, teils in die Staatsgebiete Bulgariens und Griechenlands integriert wurde. Damit wurde Monastir indes auch zum Zentrum des Chaos und zum Objekt militärischer wie politischer Interessen, in dem die Zerstörungskraft des Konflikts deutlich sichtbar wurde. Während die Dokumente somit keinen generellen Überblick über den Kriegsverlauf geben, können Greigs Schilderungen dazu beitragen, die Kriegsfolgen und besonders begangenes Unrecht durch verschiedene Gruppen nachzuvollziehen oder einzuordnen. Simon Dubnow. Geschichte eines jüdischen Soldaten. Bekenntnis eines von vielen. Eds.: Vera Bischitzky, Stefan Schreiner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Bibliothek jüdischer Geschichte und Kultur 1), 2012, 248 pp., 64,99 € [978-3-525-31013-7]. Written in 1915 or, in the words of the author, »in the second year of the present war under the influence of the depressing experiences Jewish people had both in the hinterlands and in the army», the narrative »History of a Jewish Soldier« offers insight into the history of Russian Jews since 1881. Exemplified in the life of a nameless soldier, Simon Dubnow, who is still today remembered as one of the most important historians in 20th century Russia, tells of Jewish suppression and persecution from the first pogroms until and into the First World War. Unlike Dubnow’s »World History of the Jewish People« published between 1925 and 1929, the »History of a Jewish Soldier« has now been translated into German for the first time. Die Erzählung Geschichte eines jüdischen Soldaten wurde nach Aussage des Autors »im zweiten Jahr des gegenwärtigen Krieges unter dem Einfluss der bedrückenden Erlebnisse der Juden im Hinterland wie auch in der Armee in jenen Tagen« geschrieben. Damit zeigt sie aus der Perspektive des Jahres 1915, das heißt des damals andauernden Ersten Weltkrieges, rückblickend die Geschichte der russischen Juden nach 1881: Simon Dubnow, der in Russland noch immer als überaus bedeutender Historiker gilt, stellt Unterdrückung und Verfolgung der Juden seit den ersten Pogromen bis hinein in den Ersten Weltkrieg am

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Beispiel eines namenlosen Soldaten dar. Im Gegensatz zu Dubnow’s zwischen 1925 und 1929 auch in Deutschland erschienenen Weltgeschichte des jüdischen Volkes ist Geschichte eines jüdischen Soldaten mit dieser Ausgabe erstmalig ins Deutsche übersetzt worden. Wolfgang U. Eckart. Medizin und Krieg. Deutschland 1914–1924. Paderborn: Schöningh, 2014, 564 pp., Ill., 49,90 € [978-3-506-75677-0]. The author describes in this book the cultural and social history of the German medicine in the First World War. He especially brings out the manifold problems with which the medics were confronted because of the war and their approaches. For example, the big problems to supply the front and the whole nation with food as well as the exposure of the doctors with these challenges are dealt with. The last chapters amplify the matter once more; here, the author occupies himself with the immediate effects of the war in the 1920s on the one hand on the order of the health care and on the other hand as the ideological and political refurbishment of the war by the medics’ guild. Der Autor beschreibt in diesem Buch die Kultur- und Sozialgeschichte der deutschen Medizin im Ersten Weltkrieg. Er hebt besonders die vielfältigen Probleme, mit denen sich die Mediziner aufgrund des Krieges konfrontiert sahen, hervor und beschreibt deren Lösungsansätze. Zum Beispiel werden die starken Probleme mit der Ernährungsversorgung an der Front und »daheim« sowie der Umgang der Ärzte mit dieser Herausforderung behandelt. Die letzten Kapitel des Buches erweitern dieses Thema noch einmal: Hier beschäftigt sich der Autor auch mit den unmittelbaren Folgen des Krieges in den 1920er Jahren einerseits auf die Ordnung der medizinischen Versorgung und andererseits als ideologische und politische Aufarbeitung des Krieges durch die Ärztezunft. Marc Engelhardt. Heiliger Krieg – heiliger Profit. Afrika als neues Schlachtfeld des internationalen Terrorismus. Berlin: Ch. Links, 2014, 223 pp., 16,90 € [978-3-86153-758-8]. Marc Engelhardt, journalist and long-term Africa-correspondent, reports on the increase of terrorism in Africa and its consequences, which in his opinion are highly relevant for Europe, too. He contemplates aims and motivations of the terrorists, clarifying differences between the forms of terror in individual states. His reports deal with, for example, WestAfrican narco-state Guinea-Bissau, Nigeria and the Boko Haram movement as well as the smuggling industry of al-Shabaab in Somalia. The author’s accounts rely mainly on his own experience, but also on conversations with victims, culprits, witnesses and other sources. Marc Engelhardt, langjähriger Afrika-Korrespondent, berichtet über den ansteigenden Terrorismus in Afrika und dessen Folgen, die seiner Meinung nach auch für Europa eine Rolle spielen. Er geht darauf ein, was die Terroristen bei ihrem Vorgehen antreibt und welche Ziele sie dabei verfolgen. Dabei wird auch dargestellt, inwieweit sich der Terror innerhalb der einzelnen Staaten unterscheidet, wobei sein Überblick vom westafrikanischen Narkostaat Guinea-Bissau über die Boko-Haram-Bewegung in Nigeria bis zur Schmuggelindustrie von al-Shabaab in Somalia reicht. Informationen zieht der Autor 204

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sowohl aus eigenen Erfahrungen, als auch aus Gesprächen mit Opfern, Tätern, Augenzeugen und anderen Berichterstattern. David Eugster, Sibylle Marti (eds.). Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa. Essen: Klartext (Frieden und Krieg. Beiträge zur historischen Friedensforschung; 21), 2015, VII + 298 pp., Ill., 29,95  € [978-3-8375-1275-5]. The Cold War owes its name to a Eurocentric perception, in which it never escalated into an actual armed conflict between the main powers of the United States and the Soviet Union. Although the term may be somewhat inaccurate with respect to the »hot« proxy wars in Africa, Asia or South America, the general impression remains that of a war which was, however, conducted without the traditional means of warfare. »Das Imaginäre des Kalten Krieges« wants to approach the conflict with special emphasis on its immaterial sphere, that is, the reasons that made the war real even in those regions never being exposed to military combat: Both in the Western and the communist world the Cold War was made real by means of symbolic opposition and enactment. Thereto, the volume combines different, interdisciplinary essays with case studies from several European countries and reconstructs a war that was, at least within Europe, not conducted physically, but mentally. Der Kalte Krieg verdankt seinen Namen der europäischen Wahrnehmung, nach welcher er niemals zu einem tatsächlichen bewaffneten Konflikt zwischen den Weltmächten der USA und der Sowjetunion eskalierte. Obwohl der Begriff teilweise vereinfachend die »heißen« Stellvertreterkriege in Afrika, Asien oder Südamerika außer Acht lässt, hat sich der allgemeine Eindruck eines Krieges verfestigt, der nicht mit den traditionellen Mitteln der Kriegführung bestritten wurde. Das Imaginäre des Kalten Krieges nähert sich dem Konflikt mit einem besonderen Schwerpunkt auf diese immaterielle Sphäre, das heißt den Gründen, dank derer der Krieg auch für jene Regionen real wurde, die nie Schauplatz einer direkten bewaffneten Auseinandersetzung waren: Sowohl im Westen als auch in den kommunistischen Staaten erlangte der Krieg seine Wirklichkeit durch symbolische Abgrenzung und Inszenierung. Dazu vereint der Sammelband mehrere interdisziplinäre Essays mit Fallbeispielen europäischer Länder und rekonstruiert so einen Konflikt, der zumindest in Europa nicht physisch, sondern psychisch geführt wurde. Lisbeth Exner, Herbert Kapfer. Verborgene Chronik. 1914. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 411 pp., 24,99 € [978-3-86971-086-0]. The authors used the as yet unpublished journals of the period from 1914 to 1918 which are kept in the German Journal Archive to create a kind of cluster of subjective experiences and stories which altogether provide the reader with a significant insight into the year 1914. This is possible because of the complexity and balance of the manifold journals. The contributions pick up the many phases of the war to illustrate people’s different sentiments which changed remarkably. Furthermore, multifaceted destinies are dealt with. For example, 205

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the book includes entries of soldiers who fought at the front followed by reports of pupils and paramedics. Die Autoren erstellten aus den im Deutschen Tagebucharchiv lagernden, bisher unveröffentlichten Tagebüchern aus dem Zeitraum von 1914 bis 1918 eine Art Zusammenballung subjektiver Erlebnisse und Geschichten, die gesamt gesehen dem Leser einen aussagekräftigen Einblick in das Jahr 1914 gewähren. Dies ist möglich durch die Vielschichtigkeit und Differenz der verschiedenen Tagebücher. Die Beiträge greifen die unterschiedlichen Phasen der Kriegsentwicklung auf, um auch die verschiedenen Stimmungen innerhalb der Bevölkerung zu verdeutlichen. Des Weiteren werden die unterschiedlichsten Schicksale behandelt, den Einträgen von Soldaten an der Front folgen Erfahrungen der Schüler, der Daheimgebliebenen und der Sanitäter. David J. Fine. Jewish Integration in the German Army in the First World War. Berlin, Boston: de Gruyter, 2012, 180 pp., Ill., 79,95 € [978-3-11-026796-9]. In this monograph David J. Fine provides findings about a large group of Jewish officers in the German army who were scientifically proven integrated in the community and in the same time identified as Jews. The author examines how the different religions were practiced and how the Jewish soldiers dealt with encountering other Jews at the front. The book includes the thesis that anti-Semitism was not the most fatal circumstance in the wartime experience of these soldiers. In this connection David J. Fines leans on many published and unpublished sources. In der Monographie liefert David J. Fine wissenschaftliche Erkenntnisse über eine große Gruppe jüdischer Offiziere in der deutschen Armee, die nachgewiesenermaßen sowohl integriert als auch als Juden identifiziert waren. Der Autor untersucht, wie die Religionen praktiziert wurden und wie die jüdischen Soldaten mit der Begegnung anderer Juden an der Front umgingen. Das Buch enthält die These, dass der Antisemitismus nicht der schwerwiegendste Umstand im Kriegserleben dieser Soldaten war. Hierbei stützt sich David J. Fine auf viele veröffentlichte, aber auch unveröffentlichte Quellen. Moritz Florin. Der Hitler-Stalin-Pakt in der Propaganda des Leitmediums. Der »Völkische Beobachter« über die UdSSR im Jahre 1939. Berlin: LIT, 2009, 186 pp., 24,90 € [978-3-643-10118-1]. In this book Moritz Florin deals with the reporting of the »Leitmedium« »Völkischer Beobachter« of the year 1939 about the matter the Soviet Union in the transition from prewarto war propaganda. During the analysis Florin focused on the Molotov-Ribbentrop-Pact and its propagandistic treatment. Furthermore, the book includes contributions in which the reactions of the readers of the »Völkischer Beobachter« on this contract are described. It is declared that for the coevals it must have illustrated an apparent definite turn. With the aid of these observations the author gives an estimation on the impression of National Socialist and anti-Bolshevist propaganda in the year 1939. 206

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Moritz Florin befasst sich in diesem Buch mit der Berichterstattung des Leitmediums Völkischer Beobachter des Jahres 1939 zum Thema Sowjetunion im Übergang von Vorkriegs- auf Kriegspropaganda. Besonderen Fokus wurde bei der Analyse auf den HitlerStalin-Pakt und dessen propagandistische Verarbeitung gelegt. Des Weiteren enthält das Buch Beschreibungen der Reaktionen der Leser des Völkischen Beobachter auf diesen Vertrag, der eine scheinbare endgültige Wende für die Zeitgenossen darstellen musste. Mithilfe dieser Beobachtungen gibt der Autor eine Einschätzung zu der Wirkung nationalsozialistischer, antibolschewistischer Propaganda des Jahres 1939 ab. Marian Füssel, Michael Sikora (eds.). Kulturgeschichte der Schlacht. Paderborn: Schöningh, 2014, Ill., 276 pp., 34,90 € [978-3-506-77736-2]. The authors of this anthology attempt to take the reality of a battle as an occasion of thousandfold acts of violence with no opportunity for a universal description or abstract serious. For them it is important to carve out the diversity in which the people have expressed their experiences of the battle because every witness has sampled and sensed the events in a different way. The book contains examples from the antiquity to the present which illustrate how only because of these individual differences the character of the battles and their dimension can be made clear. Die Autoren des Sammelbandes versuchen die Wirklichkeit der Schlacht als ein Ereignis tausendfacher Gewalthandlungen, für die es keine Möglichkeit einer allgemeingültigen Beschreibung oder Zusammenfassung gibt, ernst zu nehmen. Ihnen ist es wichtig, die Vielfalt, in der Menschen dem Erleben der Schlacht Ausdruck verliehen, herauszuarbeiten, denn jeder Zeuge hat die Geschehnisse anders erfahren und empfunden. Der Band enthält Beispiele von der Antike bis zur Gegenwart, die aufzeigen, wie erst durch eben diese individuellen Unterschiede das Wesen dieser Schlachten und auch ihr Ausmaß deutlich gemacht werden kann. John Garth. Tolkien und der Erste Weltkrieg. Das Tor zu Mittelerde. Stuttgart: KlettCotta, 2014, 286 pp., Ill., 22,95 € [978-3-608-96059-4]. The works of J.R.R. Tolkien have often been diversely interpreted in the context of his personal experiences in the First World War. In this biographic study, John Garth re-evaluates these interpretations with reference to the author’s early years, prose and poetry as well as to his time at the front. Refraining from speculation, Garth tries to offer a new, detailed account on the development of Tolkien’s mythological world. An important recurring element in Garth’s studies is the »TCBS«, a small club or rather forum of thought and discourse founded by as well as consisting of Tolkien himself and his three youth friends Christopher Wiseman, G.B. Smith and Rob Gilson. Much of the book is devoted to the diverse fates and experiences of these four young men during the war, their relation and their extensive correspondence. Thus, the book also offers an insight into the thoughts and opinions of the

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talented and intellectual young British generation, especially of those attending the universities of Oxford or Cambridge, before and during the First World War. Das Werk J.R.R. Tolkiens wird ebenso häufig wie kontrovers im Kontext seiner persönlichen Erfahrungen während des Ersten Weltkrieges betrachtet. John Garths biographische Studie ist eine Neubewertung dieser Interpretationen unter Berücksichtigung der frühen Jahre des Autors, seiner Lyrik und Prosa sowie seines Einsatzes an der Front. Garth verzichtet auf Spekulationen und versucht so, ein detailliertes Bild der Entstehung von Tolkiens mythologischer Welt zu zeichnen. Ein wichtiges Motiv ist dabei die »TCBS«, eine Art Club oder Diskussionsforum, das aus Tolkien und seinen drei Jugendfreunden Christopher Wiseman, G.B. Smith und Rob Gilson bestand. Ein großer Teil des Buches widmet sich den Erfahrungen und Schicksalen dieser vier jungen Männer während des Krieges, ihrer intensiven Korrespondenz sowie ihren persönlichen Beziehungen untereinander. So veranschaulicht das Buch auch die Gedanken und Einstellungen der talentierten und intellektuellen jungen britischen Generation, gerade auch der Studenten Oxfords und Cambridges, unmittelbar vor und während des Ersten Weltkrieges. Renate Goldmann, Erhard Knauer, Eusebius Wirdeier (eds.). Moderne. Weltkrieg. Irrenhaus. 1900–1930. Essen: Klartext, 2014, 180 pp., Ill., 20,00 € [978-3-8375-1134-5]. As part of the regional project »1914 – In the Middle of Europe. The Rhineland and the First World War« the Documentation Centre for Psychiatric History Düren arranged two exhibitions on the development of clinical psychiatry at the beginning of the 20th century. Additionally, this anthology was issued examining the radical changes psychiatrist treatment underwent especially in the course of the First World War, and, subsequently, its role in art and literature, exemplified in the history of the Düren Provincial Sanatorium. Individual reference is made to architectural evolution and organisation of the asylum, the newly witnessed problem of »shell shocks« or battle neurosis, and the impact the mentally ill had on the Weimar style of poetry and painting, both as subjects and originators. Im Zuge des Regionalprojektes 1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg zeigte das psychiatriegeschichtliche Dokumentationszentrum Düren zwei Ausstellungen über die Entwicklung der klinischen Psychiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zusätzlich wurde dieser Sammelband veröffentlicht, der am Beispiel der Provinzial-Heilund Pflegeanstalt Düren untersucht, welche radikalen Brüche die psychiatrische Methode damals erfuhr, besonders im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und, darauf aufbauend, welchen Einfluss sie auf Kunst und Literatur hatte. Im Einzelnen wird etwa auf den Wandel in Architektur und Organisation der Anstalt und die neu aufgetretene Problematik des Kriegszitterns und anderer Kriegsneurosen eingegangen. Ein großer Teil des Buches widmet sich auch der Rolle, die psychisch Erkrankte im Kunst- und lyrischen Stil der Weimarer Zeit spielten, sei es als Thema oder Urheber.

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Jürgen Gottschlich. Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin: Ch. Links, 2015, 343 pp., Ill., 19,90 € [978-3-86153-817-2]. The genocide on the Armenians is chronologically embedded into the First World War, when the Ottoman Empire was a crucial ally of the German Empire. While even today the memory of the committed crime is a source for political conflict in the Republic of Turkey, the role of Germany, which had many of its high-ranked officers serving in the Ottoman army, is sometimes neglected. »Beihilfe zum Völkermord« seeks to fill that academic gap using material from military correspondence as well as reports from the Armenian victims’ descendants and provides a collection illustrating the German authorities’ indifference or, partly, even approval for the genocide on a people falsely denounced traitors and Russian collaborators. Der Völkermord an den Armeniern ist chronologisch dem Ersten Weltkrieg zuzuordnen, in dem das Osmanische Reich ein wichtiger Verbündeter des Deutschen Kaiserreiches war. Während in der Türkei die Erinnerung an die damaligen Verbrechen noch immer eine Quelle politischen Anstoßes sein kann, wird die Rolle Deutschlands, dessen Offiziere zahlreich und hochrangig auch in der osmanischen Armee vertreten waren, mitunter vernachlässigt. In Beihilfe zum Völkermord wird versucht, diese akademische Lücke zu schließen. Genutzt werden dafür sowohl Material aus militärischer Korrespondenz als auch Berichte von Nachfahren der armenischen Überlebenden. Entstanden ist so eine Sammlung, die insgesamt die Haltung der deutschen Obrigkeit gegenüber den als Verrätern und russischen Kollaborateuren verschrienen Armeniern nachzeichnet, die bestenfalls als Gleichgültigkeit, oftmals aber klar als Einverständnis und eben Beihilfe beim Genozid benannt werden muss. Heinrich Theodor Grütter, Walter Hauser (eds.). 1914 Mitten in Europa. Die RheinRuhr-Region und der Erste Weltkrieg. Essen: Klartext, 2014, 342 pp., Ill., 29,95 € [9783-8375-1147-5]. In addition to the exhibition of the LVR Industrial Museum and the Ruhr Museum, on the occasion of the outbreak of the First World War, this illustrated catalog book gives an overview on all exhibition topics. Divided into five major subjects, the book deals with utopias of the turn of the century, the decampment into modern times, the violence and destruction of the war, the disenchantment of the modern times and the abysses of »the century of violence«. Therein the area between Rhine and Ruhr is especially taken into account, in consideration of its economic, social, technical, military, political and media changes. Begleitend zur Ausstellung des LVR-Industriemuseums und des Ruhr Museums anlässlich des Beginns des Ersten Weltkriegs bietet dieser reich illustrierte Katalog einen Überblick zu allen Ausstellungsthemen. Unter fünf großen Oberthemen befasst sich der Band mit Utopien der Jahrhundertwende, dem Aufbruch in die Moderne, der Gewalt und Zerstörung durch den Krieg, der Entzauberung der Moderne und den Abgründen des »Jahrhunderts der Gewalt«. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Rhein-Ruhr209

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Region und deren wirtschaftliche, soziale, technische, militärische, politische und mediale Veränderungen gelegt. Hans-Christian Harten. Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945. Paderborn: Schöningh, 2014, 707 pp., Ill., 78,00 € [978-3-506-76644-1]. While the letters »SS« both nationally and internationally have become a sad example of fanaticism and fascism, the underlying system of training and education in the »Third Reich« organisation has previously only scarcely been dealt with. Hans-Christian Harten has now presented an extensive historical-pedagogical analysis of ideological indoctrination in the self-declared elite of the National Socialist movement. The author collected information from most of the affected regions, including occupied regions outside Germany, as well as material from different institutions directly or indirectly connected to the SS. The monograph further examines the organisation’s propaganda and recruiting praxis with regard to the German educational system of the time, exemplified in concrete examples such as the University of Jena. Harten has thus offered a detailed overview on the addressed topic that might contribute to an improved understanding of how the consequent implementation of the radical, extremist and inhuman NS-ideology was possible within the SS. Während der Name der SS-Organisation des »Dritten Reichs« national wie international längst zu einem traurigen Inbegriff von Fanatismus und Faschismus geworden ist, hat eine ausführliche Analyse des zugrundeliegenden Schulungs- und Erziehungsapparates bisher nur eingeschränkt stattgefunden. Hans-Christian Harten hat mit Himmlers Lehrer nun eine ausführliche historisch-pädagogische Analyse der ideologischen Indoktrination in der selbst ernannten Elite der nationalsozialistischen Bewegung vorgelegt. Der Autor präsentiert dazu gesammelte Informationen aus den verschiedenen Regionen, in denen die SS aktiv war, inklusive der besetzten Gebiete außerhalb Deutschlands, und er bezieht sich auf archivarisches Material zu den verschiedenen, mit der Organisation direkt oder indirekt in Verbindung stehenden Einzelverbänden. Zusätzlich verdeutlicht Harten Propaganda- und Rekrutierungspraxis in Bezug auf das damalige Bildungssystem anhand verschiedener konkreter Beispiele, etwa der Universität Jena. Die Monographie stellt so einen detaillierten Überblick über das in Angriff genommene Forschungsfeld dar und könnte ein Stück weit nachvollziehbarer machen, wie sich die radikale, ex­tremistische und menschenverachtende NS-Ideologie in der gesamten SS konsequent festsetzen konnte. Jens Hildebrandt, David Wächter (eds.). Krieg. Reflexionen von Thukydides bis Enzensberger. St. Ingbert: Röhrig, 2014, 243 pp., 29,80 € [978-3-86110-554-1]. Because of the collocation of this anthology the reader realizes by looking back, for example, on the atomic standoff situation between the two world powers USA and USSR, how strongly the definition of armed conflicts has changed in the course of time. In the present reality decentralized forms of war, like the virtual cyber war in the struggle against networks of 210

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terror, are developing. Furthermore, more and more civil wars destabilize whole regions and their state order. Based on this complex and convoluted situation the book asks the basic question: what is war at all? The included texts reflect about the causes, dimensions and limits of war and were composed by authors like Thukydides, Friedrich Nietzsche or Hans Magnus Enzensberger. The contributions thus illustrate the consistently emerging attempt to search for new answers to this central question. Durch die Zusammenstellung des Sammelbandes erkennt der Leser durch Rückblicke auf z.B. die atomare Pattsituation zwischen den beiden Weltmächten USA und UdSSR, wie stark sich die Definition von bewaffneten Konflikten im Laufe der Zeit verändert hat. In der heutigen Lebenswirklichkeit entstehen dezentrale Formen des Krieges wie etwa der virtuelle Cyber-War im Kampf gegen Terrornetzwerke. Außerdem bringen Bürgerkriege ganze Regionen und deren staatliche Ordnung aus dem Gleichgewicht. Aufgrund dieser komplexen und verschachtelten Sachlage stellt das Buch die grundlegende Frage: Was aber ist Krieg überhaupt? Die enthaltenen Texte reflektieren über Ursachen, Dimensionen und Grenzen des Krieges und wurden durch zahlreiche Autoren von Thukydides über Friedrich Nietzsche bis Hans Magnus Enzensberger verfasst. Sie verdeutlichen somit den immer wieder aufkommenden Versuch, neue Antworten auf diese zentrale Frage zu suchen. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2013, 331 pp., Ill., 24,99 € [978-3-10-029411-1]. In this volume, world war historians Gerhard Hirschfeld and Gerd Krumeich discuss the question, how the people of Germany, soldiers as well as civilians, experienced the reality of warfare. Starting with the pre-war situation and proceeding with the July Crisis of 1914 and the war industrialisation, the book ends, chronologically, with the October Revolution of 1918, accompanied by a prospective outlook on the Great War’s consequences until today. The authors’ evidence consists of photographs, letters, diary entries and official documents from the time. Die Weltkriegshistoriker Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich befassen sich in ihrem Buch mit der Frage, wie die Menschen in Deutschland, sowohl Soldaten als auch Zivilisten, die Wirklichkeiten des Krieges erlebt und erfahren haben. Ausgehend von der Situation vor dem Krieg geht es über die Julikrise 1914 und die Industrialisierung des Krieges bis zur Revolution von 1918 mit einem Ausblick auf die Folgen bis heute. In die Analysen wurden Photographien, Briefe, Tagebuchnotizen und offizielle Dokumente aus der Zeit mit einbezogen. Kathrin Hoffmann-Curtius. Bilder zum Judenmord. Eine kommentierte Sichtung der Malerei und Zeichenkunst in Deutschland von 1945 bis zum Auschwitz-Prozess. Marburg: Jonas, 2014, 272 pp., Ill., 25,00 € [978-3-89445-495-1]. The appropriateness and mere possibility of art and literature after the Holocaust, especially if ultimately dealing with the horror of the concentration camps, has been controversially debated upon ever since the end of the Second World War. While some argued that literature 211

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of any kind was per se impossible or at least necessarily irreverent, painting and drawing emerged as an alternative to communicate terror and suffering through those that had survived. In »Bilder zum Judenmord«, Kathrin Hoffmann-Curtius has collected the most significant and expressive pictures on the Holocaust, creating an overview on the images that have gone into today’s recorded culture and collective memory. Die Angemessenheit und bloße Möglichkeit von Kunst und Literatur nach dem Holocaust, besonders wo diese unmittelbar den Schrecken der Konzentrationslager zum Thema hatte, wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stets kontrovers diskutiert. Während von Einigen die Meinung vertreten wurde, Literatur jeder Art sei per se unmöglich oder doch zumindest unausweichlich pietätlos, entwickelten sich stattdessen Zeichnungen und Malereien zur bevorzugten Alternative, um erlebtes Schrecken und Leid der Überlebenden zu kommunizieren. Kathrin Hoffmann-Curtius hat in ihrem Band die signifikantesten und aussagekräftigsten Verbildlichungen des Holocaust gesammelt und einen Querschnitt jener künstlerischen Zeugnisse erstellt, die ins kollektive Gedächtnis und die deutsche Erinnerungskultur eingegangen sind. Wolfgang Holler, Gudrun Püschel, Gerda Wendermann (eds.). Krieg der Geister. Weimar als Symbolort deutscher Kultur vor und nach 1914. Dresden: Sandstein, 2014, 352 pp., Ill., 48,00 € [978-3-95498-072-7]. Hardly a German town has, in relation to its size, left its mark on German history in such a remarkable way as Weimar did. A stronghold or even the capital of German culture before 1914, the town witnessed and, in fact, became itself exposed to the growing nationalism in the German Empire that escorted the country into the First World War. Four years later, a new, political dimension was added to the name Weimar when the first democratic constitutional assembly in Germany proclaimed the republic that became known as the »Weimar Republic«. Therefore, it is possible to retell German cultural history through the lens of the town Weimar, displaying the transformative processes present »before and after 1914«, and especially the significant personalities connected to the town in one way or another. Kaum eine deutsche Stadt hat verglichen mit ihrer Größe einen so einzigartigen Einfluss auf die deutsche Geschichte ausgeübt wie das thüringische Weimar. Die Hochburg, möglicherweise gar die Hauptstadt der deutschen Kultur vor 1914 wurde alsbald selbst Zeuge und Zielobjekt des aufkommenden deutschen Nationalismus, der das Kaiserreich bis in den Ersten Weltkrieg begleitete. Vier Jahre danach erhielt der Name Weimar dann eine neue, politische Dimension, als dort die erste demokratische verfassungsgebende Versammlung auf deutschem Boden eine Republik ausrief, die später als »Weimarer Republik« in die Geschichte einging. So ist es möglich, die gesamte deutsche Kulturgeschichte durch die Lupe Weimars zu betrachten. Es bildet sowohl kulturelle Umbrüche als auch Entwicklungen »vor und nach 1914« ab und es widmet sich dabei insbesondere den maßgeblichen Persönlichkeiten der damaligen Zeit, die auf bestimmte Weise mit der Stadt in Verbindung stehen.

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Hans Otto Horch, Hanni Mittelmann, Karin Neuburger (eds.). Exilerfahrung und Konstruktionen von Identität. 1933 bis 1945. Berlin/Boston: de Gruyter, 2013, 260 pp., Ill., 99,95 € [978-3-11-029852-9]. The anthology is based on a conference which was hosted by the German Department of the Hebrew University of Jerusalem in April 2011. The point is made that the Jewish experience of the expulsion out of the usual cultural, linguistic and social milieu by Hitler’s regime and the attempt to overcome the situation in exile is in many aspects exemplary for the maybe similar loss and the experiences of refugees and migrants nowadays. Matters like whether the exile could be labeled as a kind of »damaged life« or whether a second identity is constructed there, which in the following competes against the original one is examined with the help of, for example, extracts from exile novels. Der Band basiert auf einer im April 2011 vom German Department der Hebräischen Universität Jerusalem ausgerichteten Konferenz. Es wird die These aufgestellt, dass die jüdische Erfahrung der Vertreibung aus dem gewohnten kulturellen, sprachlichen und sozialen Milieu durch das Hitler-Regime und die Versuche, im Exil diese Situation zu bewältigen, in vielen Gesichtspunkten als modellhaft für den ähnlichen Verlust und die Erfahrungen von Flüchtlingen und Migranten heutzutage betrachtet werden könnte. Fragen, wie z.B. ob das Exil als eine Art »beschädigtes Leben« gelten kann oder ob dort eine zweite Identität konstruiert wird, die im Folgenden mit der ursprünglichen konkurriert, werden auch mithilfe von Ausschnitten aus Exilromanen untersucht. Daniela Kalscheuer. Sieg! Heil? Strategien zur mentalen Aufrüstung im deutschen Weltkriegsfilm 1931–1939. München: edition text + kritik, 2014, 507 pp., CD-ROM, 39,00 € [978-3-86916-266-9]. This monograph places its focal point on analysing films about the First World War which give a positive view on the war and were made after the end of the war until the National Socialist era. In contrast to pacifist anti-war-movies, these films have not yet been object of research very often, although they highly influenced the German view on the war. Besides analyses of nearly twenty films about the war this book also includes theoretical and historical introductions to World War I as well as film theory. Therein different opinions on the First World War present in the Weimar Republic are shown, dealing with governmental reworking, conservative »Dolchstoßtheorie« and pacifistic points of view. Focusing on the medium film during World War I again, the book gives views on war propaganda, the development of World War film as well as on cinematic war display. In addition to filmanalyses and film information given on a CD-ROM, this book contains also an analysis of concise subjects of those films discussing the war-guilt-question, the role of the soldiers and commanders, the concept of the enemy, as well as evaluation and appreciation of war and its myth.

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Diese Monographie legt ihr Hauptaugenmerk auf die Erforschung von Filmen über den Ersten Weltkrieg, die nach Ende des Kriegs und bis in die NS-Zeit hinein entstanden sind und eine kriegsoptimistische Stimmung vermitteln. Im Gegensatz zu Antikriegsfilmen sind diese Filme wenig erforscht, obwohl sie die Wahrnehmung des Krieges durch die deutsche Bevölkerung stark beeinflussten. Neben Analysen von fast zwanzig Kriegsfilmen bietet das Buch auch eine theoretische und geschichtliche Einführung in die Themen Erster Weltkrieg und das Medium Film. So zeigt das Buch die unterschiedlichen Einstellungen in der Weimarer Republik zum Ersten Weltkrieg, die von staatlicher Aufarbeitung über die konservative Dolchstoßtheorie bis hin zu pazifistisch linken Kriegswahrnehmungen reichen. Danach wird der Fokus auf das Medium Film während des Ersten Weltkrieges gelegt, zu dem sowohl Kriegspropaganda, die Entwicklung des Weltkriegsfilms als auch Kriegsdarstellungen im Kino zählen. Ergänzend zu den Filmanalysen und den auf einer CD-ROM versammelten Filminformationen bietet das Buch eine inhaltliche Analyse der prägnantesten Filmthemen wie der Kriegsschuldfrage, der Rolle des Soldaten und der Befehlshaber, des Feindbildes, sowie zu der Bewertung und der Anerkennung des Krieges und seiner Mythenbildung. Michal Koch. »Slavocrat» und »Yankee». Feindbilder und der Amerikanische Bürgerkrieg 1830–1865. Paderborn: Schöningh, 2014, 294 pp., Ill., 39,90 € [978-3-506-76643-4]. Michael Koch examines which impact the concepts of the enemy between the North and the South had on the history of the war between the states. Koch declares that the concepts of enemy have enormously intensified the conflict about the hegemony which ruled in the middle of the 19th century in the American Union. The Southern imputed to the Northern hypocrisy, fanaticism and depraved morality. They attributed the denomination »Yankees« to them. The Northerners in turn thought of the Southerners as inhuman, lazy, brutal slaveholders and aristocrats. The reciprocal concepts of enemy thus led to an estimation of the other as a threat and consequently to the beginning of a cruel civil war. Michael Koch untersucht, welchen Einfluss die Feindbilder zwischen Nord- und Südstaaten auf die Entstehungsgeschichte des Amerikanischen Bürgerkrieges hatten. Koch erklärt, dass diese Feindbilder den Streit um die Vorherrschaft, der in der amerikanischen Union zwischen den freien Staaten und den Sklavenstaaten zur Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte, enorm verschärften. Die Südstaatler unterstellten den Nordstaatlern Heuchelei, Fanatismus und verkommene Moral, ihnen wurde die Bezeichnung »Yankees» zugeordnet. Diese wiederum sahen in den Südstaatlern unmenschliche, faule und brutale Sklavenhalter und Aristokraten. Die gegenseitigen Feindbilder erreichten also eine Einschätzung des Gegenübers als Bedrohung und somit den Beginn eines grausamen Bürgerkriegs.

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Julia B. Köhne, Britta Lange, Anke Vetter (eds.). Mein Kamerad – Die Diva. Theater an der Front und in den Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs. München: edition text + kritik, 2014, 130 pp., Ill., 19,80 € [978-3-86916-366-6]. The anthology examines the dramatics at the front and in the detention centers of the First World War as a phenomenon in mostly isolated male-dominated communities. Theatre there primarily had the function to provide the soldiers and prisoners of war at least with a temporary opportunity to escape from the horrible warfare. Because of the professional acting of the traditional plays there was the need of actors who played women. Some soldiers and prisoners of war even acquired a certain esteem with this activity. But this raises the question how such a behavior is compatible with the picture of the strong defender of the home country. The authors attend in this context to, for example, departments of the gender studies, to perspectives of the theatre and contemporary history as well as to psychological aspects. Der Band untersucht das Theaterspiel an der Front und in den Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs als eine Erscheinung in hauptsächlich abgeschnittenen Männergesellschaften. Theater hatte dort primär die Funktion, den Soldaten und Kriegsgefangenen zumindest temporär die Möglichkeit zu geben, dem grauenhaften Kriegsgeschehen zu entfliehen. Durch das professionelle Spiel von traditionellen Stücken gab es die Notwendigkeit von Auftritten sogenannter Damendarsteller. Einzelne Soldaten und Gefangene erlangten in diesem Bereich sogar eine gewisse Achtung. Doch stellt sich die Frage, wie ein solches Auftreten mit dem Bild des starken Verteidigers des Heimatlandes zusammenpasst. Die Autoren befassen sich in diesem Kontext zum Beispiel mit Bereichen der Genderforschung, Perspektiven der Theater- und Zeitgeschichte und auch psychologischen Aspekten. Till Kössler, Alexander J. Schwitanski (eds.). Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert. Essen: Klartext, 2014, 288 pp., 19,95 € [978-3-83750946-5]. The subject how children and adolescents have been educated for war and violence for the sake of their country in history is well examined in historical research. In contrast, this book focuses on various pedagogic efforts to convey peace to prevent bellicose ideas in the 19th and 20th century. The essays about peace pedagogics deal with eras such as the German Empire and the Weimar Republic, the peace education since the First World War and during the Cold War. The essays are framed by thematic introductions to the topics perspectives and history of peace pedagogics and a look-out to peace education in the context of peace research. Wie Kinder und Jugendliche in der Geschichte erzieherisch an Kriege und Gewalt im Dienste des Staates herangeführt wurden, ist ein oft behandeltes Thema der historischen Forschung. Dieses Buch widmet sich hingegen der Untersuchung von verschiedensten pädagogischen Bemühungen im 19. und 20. Jahrhundert, Frieden zu vermitteln und so

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kriegerischem Gedankengut vorzubeugen. Die versammelten Aufsätze zur Friedenspädagogik behandeln die Epochen Kaiserreich und Weimarer Republik, die Friedenserziehung seit dem Ersten Weltkrieg und während des Kalten Krieges. Eingerahmt werden diese Aufsätze durch thematische Einführungen in die Gebiete Perspektiven und Geschichte von Friedenspädagogik und einen Ausblick zur Friedenserziehung im Rahmen der Friedensforschung. Wolfgang Kruse (ed.). Der Erste Weltkrieg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Neue Wege der Forschung, Geschichte), 2014, 256 pp., 29,95 € [978-3-53426429-2]. At the occasion of the 100th anniversary of the outbreak of the First World War, Wolfgang Kruse combined essays fundamental to the topic from these past 100 years with newly written evaluations. Mainly, he focusses on political, as well as social and military history. Central aspects, such as mobilisation of the economy, class society, female labour, gender relations, state politics and the military strike in 1918 are being approached, debated upon and connected to new publications. The book, therefore, is meant to give an overview on the whole, complex topic of World War I. Den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs nahm Wolfgang Kruse zum Anlass, zentrale Aufsätze der letzten Jahrzehnte mit aktuellen Einschätzungen zu zentralen, heute in der Lehre wichtigen Gesichtspunkten des Themas zu verknüpfen. Dabei geht er im Wesentlichen auf die politische Sozialgeschichte und die Militärgeschichte ein. Im Zuge dessen werden Aspekte wie z.B die Mobilisierung der Volkswirtschaften für den Krieg, Klassengesellschaft, Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik, sowie die Frage nach einem verdeckten Militärstreik im Kriegsjahr 1918 bearbeitet, wissenschaftlich diskutiert und mit aktuellen Forschungsfragen in Verbindung gebracht. Somit repräsentiert das Buch einen Überblick über die neuere Forschung. Katya Krylova. Walking through History. Topography and Identity in the Works of Ingeborg Bachmann and Thomas Bernhard. Bern: Lang, 2013, 274 pp., Ill., 60,20  € [978-3-0343-0845-8]. The monograph examines the treatment of two important elements of the Austrian historical legacy by the two writers Ingeborg Bachmann and Thomas Bernhard. On the one hand the trauma after the Second World War and the Holocaust is investigated, on the other hand the desire to return to an ideal homeland like the »Haus Österreich«. Because of the comparative approach of the study the important role of topography in the authors’ acts becomes clear. Topography is used as a method to confront with the past but also to make sense of the present. Thus, the protagonists always experience an ambivalent encounter with the landscape or cityscape which surrounds them. Die Monographie untersucht die Behandlung zweier wichtiger Elemente des österreichischen historischen Erbes durch die beiden Schriftsteller Ingeborg Bachmann und Thomas 216

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Bernhard. Zum einen wird das Trauma nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust bearbeitet, zum anderen der Wunsch, in eine Art ideales Heimatland zurückzukehren wie dem »Haus Österreich«. Durch das vergleichende Vorgehen der Studie wird der große Stellenwert der Ortsbeschreibungen im Werk der beiden Autoren deutlich. Diese werden verwendet als eine Methode, mit der Vergangenheit zu konfrontieren, aber auch gleichzeitig der Gegenwart einen Sinn zu geben. Łukasz Kumięga. Rechtsextremistischer Straßendiskurs in Deutschland. Frankfurt/Main: Lang, 2013, 268 pp., Ill., 52,95 € [978-3-631-62886-7]. The monograph deals with the right-wing extremism in Germany using the example of demonstrations which happened in 2008 and 2009 from a discourse analytical perspective. In the first part of the work the author begins with identifying the definitions of the term right-wing extremism in the discourses of national, academic and social historic institutions and examines them in a critical way. Later the pieces of clothing which were worn by right-wing extremists at demonstrations are evaluated. The results are finally interpreted as an explication of the comprehensive development trends of the whole German right-wing extremism. Die Monographie behandelt den Rechtsextremismus in Deutschland am Beispiel von 2008 und 2009 stattgefundenen Demonstrationen aus diskursanalytischer Perspektive. Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst die Definitionen des Rechtsextremismusbegriffs in den Diskursen der staatlichen, wissenschaftlichen und zivilgeschichtlichen Institutionen ermittelt und kritisch betrachtet. Darüber hinaus wird die von den rechtsextremistischen Demonstranten getragenen Kleidung untersucht und ausgewertet. Die Ergebnisse werden letztlich als Explikation der umfassenden Entwicklungstendenzen und –prozesse des gesamten deutschen Rechtsextremismus interpretiert. Bernd Küster (ed.). Der Erste Weltkrieg und die Kunst. Von der Propaganda zum Widerstand. Gifkendorf: Merlin, 2014, 238 pp., Ill., 28,00 € [978-3-87536-266-4]. In cooperation with, Mareike Witkowski, Bernd Apke, Katja Stolarow and Jörg Meissner, Bernd Küster has collected art and artists of the First World War, along with photography illustrating the time. Artistic creativity remained largely undiminished, if not stimulated, by combat, which became visible, for example, in the media of propaganda. Some artists even went to the front themselves, being therefore able to portray the horror in its full extent. Bernd Küster hat in Zusammenarbeit mit Mareike Witkowski, Bernd Apke, Katja Stolarow und Jörg Meissner Künstler und deren Werke aus dem Ersten Weltkrieg zusammengetragen sowie Fotos, welche die Geschehnisse der Zeit darstellen. Neben den Bildern wird auch die Lebenssituation der Künstler kurz vorgestellt. Über die Kriegsjahre ging die Kreativität der Künstler nicht verloren, was sich auch die Propaganda zu Nutze machte. Einige Künstler zogen daher mit dem Heer in die Kriegsgebiete, wodurch das Ausmaß des Elends vollständig dargestellt werden konnte. 217

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Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944. Instructions for British Servicemen in Germany 1944. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 59 + 61 pp., 8,00 € [978-3-46204634-2]. This book with instructions for guidance concerning the contact with Germans – published 1944 for soldiers by the British foreign office – is now published in German for the first time. It contains knowledge and guidelines for the future soldiers of the occupying p­ owers about German history, politics and culture, but also explanations of the consequences of National Socialism and war for the situation of the German population. The image of Germany pictured in this book is understanding as well as cautions and influenced the British opinion on the foreign country immensely. For today’s German readers this book offers various points of view on their own culture that can be amusing as well as distressing. This book contains the English and German text version. Dieses Handbuch mit Anleitungen zum Umgang mit Deutschen, das 1944 vom britischen Außenministerium für die eigenen Soldaten herausgegeben, liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Darin finden sich Kenntnisse und Orientierungshilfen für die Soldaten der zukünftigen Besatzungsmacht zu Themen wie deutscher Geschichte, Politik und Kultur, aber auch Erklärungen zur Auswirkung des Nationalsozialismus und des Krieges auf die Situation der Deutschen. Das darin von Deutschland gezeichnete Bild zeigt sich sowohl verständig als auch warnend, prägte stark das Bild der Briten auf das ihnen fremde Land und kann auch heutigen deutschen Lesern vielseitige Betrachtungsperspektiven, von unterhaltsam bis erschreckend, auf die eigene Kultur bieten. Das Buch enthält zusätzlich zur deutschen Übersetzung auch den englischen Originaltext. Nils Löffelbein. Ehrenbürger der Nation. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialismus. Essen: Klartext, 2013, 494 pp., Ill., 36,95 € [978-3-8375-0839-0]. Nils Löffelbein examines in this monograph the National Socialist war-victim-politics relating to the war invalids of the First World War with regard to the used propagandistic means. In doing so, it becomes clear which role the National Socialists wanted these casualties to play in their concept of society and history. At the same time the analysis also gives information about how the group of the veterans actually reacted to, for example, the self-styling of the Nazi Party as a movement of alumnae front-line soldiers and their veneration as »honorary citizens of the nation«. Nils Löffelbein untersucht in dieser Monographie die NS-Kriegsopferpolitik bezüglich der Kriegsverwundeten und –verstümmelten des Ersten Weltkriegs mit Augenmerk auf die verwendeten propagandistischen Mittel. Somit wird erkennbar, welche Rolle die Nationalsozialisten diesen Verwundeten innerhalb ihrer Gesellschafts- und Geschichtsauffassung beimessen wollten. Zugleich gibt diese Analyse aber auch Informationen darüber, wie die

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Gruppe der Veteranen überhaupt auf die Selbststilisierung der NSDAP zur Bewegung der ehemaligen Frontsoldaten und ihre Ehrung zu »Ehrenbürgern der Nation« reagierten. Martin Löschnigg, Marzena Sokołowska-Paryż (eds.). The Great War in Post-Memory Literature and Film. Berlin/Boston: de Gruyter, 2014, 459 pp., 89,95 € [978-3-11036290-9]. The anthology examines the First World War as a matter related to by authors, playwrights and filmmakers of different nations for which the occasion was not part of their own experience whereby their acts invoke historical researches. This international study thus attends to the role of the different media relating to the task to preserve and eventually reshape the memory of the war. Here the authors emphasize the particular historical, socio-political, gender-oriented and post-colonial context of its cultural representation. Der Sammelband befasst sich mit dem Ersten Weltkrieg als Thema, bearbeitet durch Autoren, Dramatiker und Filmemacher verschiedener Nationen, für welche dieses Ereignis nicht Teil ihrer eigenen Erfahrung war. Somit berufen sich ihre Werke auf eine geschichtliche Recherche. Diese internationale Studie befasst sich also mit der Rolle der verschiedenen Medien bezüglich der Aufgabe, die Erinnerung an den Krieg zu erhalten und eventuell neu zu gestalten. Hierbei heben die Autoren die jeweiligen historischen, sozialpolitischen, geschlechtsorientierten und post-kolonialen Zusammenhänge der kulturellen Darstellung hervor. Ulrike Ludwig, Markus Pöhlmann, John Zimmermann (eds.). Ehre und Pflichterfüllung als Codes militärischer Tugenden. Paderborn: Schöningh, 2014, 292 pp., 44,90 €, [978-3-506-77312-8]. The essays in this collection deal with the topics of war, politics, history, society and culture. Special emphasis is put on concepts of honour and duty, which are seen as closely connected to the basic principles of the military. After a short definition of the subject derived from related fields of research, these group phenomena, especially with regards to military self-conceptions and concepts of honour and duty during colonial military presence, are investigated. Moreover, symbolism and materialism of honour in the 20th century are discussed. The individual chapters range from »Cowardice and Honour in the Late Middle Ages« over »Virtue in the Bundeswehr« to »The Honour of the Dead and the Duty of the Living«. Die Beiträge dieses Bandes setzen sich mit den Themen Krieg, Politik, Geschichte, Gesellschaft und Kultur auseinander. Unter besonderer Betrachtung stehen dabei die Aspekte Ehre und Pflichterfüllung, die eng mit dem Begriff Militär in Verbindung gesetzt werden. Nach der Definition entsprechender Diskursfelder werden Gruppenphänomene im Kontext von Selbstkonzeptionen in Militär ebenso untersucht wie Ehr- und Pflichtkonzepte im Kontext kolonialer Militärpräsenz. Auch der Symbolisierung und Materialisierung von Ehre im 20. Jahrhundert wird nachgegangen. Dabei reichen die Themenfelder von 219

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der »Feigheit und Ehre im Spätmittelalter« über die »Tugend für die Bundeswehr« bis hin zur »Ehre der Toten und die Pflicht der Lebenden«. Hans Mommsen. Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa. Göttingen: Wallstein, 2014, 234 pp., 19,90 € [978-3-8353-1395-8]. The Holocaust as a systematically planned extinction of a whole ethnical group has no historical parallel. That is why this book tries to show the complex events and conditions under which such a will of destruction could develop. The book deals with anti-Semitism in the Weimar Republic, the use of this anti-Jewish mood for National Socialistic propaganda and the following systematic divestment of Jews from economy, policy and society and their deprivation of rights step by step, from public vilification to compulsory change of residence and legalised homicide. Der Holocaust ist, als geplante systematische Auslöschung einer ganzen ethnischen Gruppe, ohne historische Parallele, weshalb dieses Buch die komplexen Ereignisse und Bedingungen, die zu einem solchen Vernichtungswillen führen konnten, beleuchtet. Das Buch befasst sich mit dem Antisemitismus in der Weimarer Republik, der Nutzung der anti-jüdischen Stimmung in der NS-Propaganda und der darauf folgenden systematischen Ausgliederung der Juden aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und ihre stückweise Entrechtung, von öffentlichen Herabwürdigungen über Zwangsumsiedlungen bis hin zur rechtlich legitimierten Ermordung. Ferdinand Müller. Vom Kessel von Oranienbaum bis zu den Endkämpfen in Ostpreußen. Meine Erlebnisse als Funker bei der 10. Luftwaffen-Felddivision und der 170. Infanteriedivision. Brüggen: literares-Verlag, 2012, 189 pp., Ill., 12,99 € [978-3-943360-09-7]. In this book Ferdinand Müller reports on his war memories and his experiences. He was enlisted to the »20. (Ersatz-) Luftgau-Nachrichten-Regiment 12« of the »Wehrmacht« in Beverloo in 1942 and was there trained as a radio operator. One year later he came as a supply to the »10. Luftwaffen-Felddivision« which was situated in front of the pocket of Oranienbaum. After the divestiture of this unity Müller was brought to the »170. Infanteriedivision« which was later transferred to the Eastern front. In East Prussia he was wounded but thanks to fortunate circumstances he was able to get back to the »Reich« over Denmark with some comrades. But before the end of war he was captured. The author put his experiences down in writing to prevent the history from oblivion. In diesem Buch berichtet Ferdinand Müller von seinen Kriegserinnerungen und Erlebnissen. Er wurde 1942 zur Wehrmacht zum 20. (Ersatz-) Luftgau-Nachrichten-Regiment 12 in Beverloo einberufen und dort als Funker ausgebildet. Ein Jahr später kam er als Nachschub zur 10. Luftwaffen-Felddivision, die vor dem Kessel von Oranienbaum lag. Nach der Zerschlagung dieser Einheit wurde Müller zur 170. Infanteriedivision gebracht, die später an die Ostfront verlegt wurde. In Ostpreußen wurde er verwundet und konnte durch glückliche Umstände mit einigen Kameraden über Dänemark zurück ins Reich 220

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gelangen, wurde aber bei Kriegsende zunächst noch gefangen genommen. Der Autor schrieb seine Erfahrungen nieder, um die Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren. Christin Niemeyer, Ulrich Pfeil (eds.). Der deutsche Film im Kalten Krieg. Brüssel: P.I.E. Peter Lang (Deutschland in den internationalen Beziehungen 5), 2014, 342 pp., Ill., 62,10 € [978-2-87574-180-6]. While the title of this anthology reads »Der deutsche Film im Kalten Krieg« (»German Film during the Cold War«), vice versa »The Cold War on German Film« was chosen as headline for the preface. Fittingly, this illustrates the ambiguity in the book’s topic, which seeks to investigate how the medium film was used as a means of expression from the diverse points of view, that is, figuratively speaking, especially from both sides of the Berlin Wall – whereas it equally acknowledges the impact the Iron Curtain itself had on German cinema. The essays are grouped into three chapters, dealing, firstly, with propaganda, ideology and political aesthetics; secondly, with the German specific of the Berlin Wall; and thirdly, with cinematic cooperation and connections across the Iron Curtain. Some of the book’s content is written in French, while the majority of essays is held in German. Obschon der Titel des Sammelbandes Der deutsche Film im kalten Krieg lautet, ist das Vorwort umgekehrt mit »Der Kalte Krieg im deutschen Film« tituliert. Dies verdeutlicht sehr passend den zweiseitigen Ansatz des Buches, das den Einsatz des Mediums Film als Ausdrucksmittel von verschiedenen zeitgenössischen Standpunkten, bildlich gesprochen besonders von beiden Seiten der Berliner Mauer, untersuchen möchte – das ebenso allerdings den Einfluss zu verstehen sucht, den der Eiserne Vorhang auf den deutschen Film hatte. Die Artikel wurden in drei Kapiteln zusammengefasst, in denen es erstens um Propaganda, Ideologie und Politische Ästhetik geht; zweitens um das deutsche Spezifikum der Berliner Mauer; und drittens um filmische Kooperation und Beziehungen über den Eisernen Vorhang hinweg. Die Beiträge sind teils auf Deutsch und teils auf Französisch verfasst. Christoph Nübel. Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg. Paderborn: Schöningh, 2014, 484 pp., Ill., 44,90 € [978-3-506-78083-6]. The monograph focuses on the spaces of war and the immediate physicality which is always related to the experience of war. The author caters concretely to the stresses and strains of a mission of war so the reader is able to understand the incredible dimension of the physical requirements by the descriptions of the soldiers’ daily routines. Furthermore, the immense change of experience in the static warfare with which the soldiers had to cope becomes clear. The question on the accomplishment of these frequently new conditions of living which extremely affected the soldiers’ daily grind plays an important role in Nübel’s study. Im Zentrum dieser Monographie stehen die Räume des Krieges und die unmittelbare Körperlichkeit, die immer mit dem Erleben des Krieges verbunden ist. Der Autor geht ganz konkret auf die Belastungen des Kriegseinsatzes ein, sodass der Leser durch die 221

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Beschreibung von Tagesabläufen der Soldaten das unglaubliche Ausmaß der körperlichen Anforderungen an diese nachvollziehen kann. Des Weiteren wird der immense Erfahrungswandel im Stellungskrieg deutlich, mit dem die Soldaten lernen mussten umzugehen. Die Frage nach der Bewältigung dieser immer neuen Lebensbedingungen, die den Soldatenalltag so extrem prägten, nimmt deshalb einen großen Teil der von Nübel durchgeführten Studie ein. Jelena Obradović-Wochnik. Ethnic Conflict and War Crimes in the Balkans. The Narratives of Denial in Post-Conflict Serbia. London: I.B. Tauris, 2013, 257 pp., 56,50 € [978-1-84885-003-3]. The monograph deals with the matter of how ordinary citizens in Serbia reflect on the atrocities, war crimes and human rights abuses which were committed through the wars of succession in the former Yugoslavia. During intensive fieldwork Jelena Obradović-Wochnik often came across people’s reactions like denial or holding one’s tongue towards the violent past of the conflicts in Croatia, Bosnia and Herzegovina and Kosovo between 1991 and 1999. Thereby also suppositions are made why the current efforts to »come to terms with the past« often have so little resonance. It was important to the author to especially involve the narratives of people who are, apart from that, rather excluded from the public debate. Die Monographie untersucht das Thema, wie normale Bürger in Serbien die Gewalttaten, Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die während der Erbfolgekriege im ehemaligen Jugoslawien begangen wurden, verstehen. Bei intensiven Untersuchungen vor Ort stieß Jelena Obradović-Wochnik häufig auf bestimmte Reaktionen der Menschen, wie das Leugnen oder das Stillschweigen der brutalen Vergangenheit der Konflikte zwischen 1991 und 1999 in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo. Hierbei werden auch Vermutungen darüber aufgestellt, warum die derzeitigen Bemühungen, sich mit der Vergangenheit zu arrangieren, oft so wenig Resonanz haben. Der Autorin war es wichtig, in ihre Studie vor allem auch die Erzählungen derjenigen Personen einzubeziehen, die aus der sonstigen öffentlichen Debatte eher ausgeschlossen sind. Sabine Omland. NS-Propaganda im Unterricht Deutscher Schulen 1933–1945. Band 1 & 2. Berlin, Münster: LIT (Zeitgeschichte – Zeitverständnis; 28), 2014, XIII + 764 pp., Ill., 79,90 € [978-3-643-12823-2]. The two-volume monograph majorly and exemplary deals with the school magazine »Hilf mit!« (roughly; »Play your part!«), a propagandistic medium of the NSDAP, which at the same time was used as teaching material in class. The magazine was published between 1933 and 1943 and, at the peak of its success in 1942, was read by around five million students. In detail, with several original images from the paper, and with comments on most individual issues, the author has produced an account of one of the most memorable examples for the functioning of NS-Propaganda. As such, »Hilf mit!« was meant to familiarize even minors with NS-ideology from the very beginning of their education. 222

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Die zweibändige Monographie befasst sich hauptsächlich und beispielhaft mit der Schülerzeitschrift Hilf mit!, einem gleichgeschalteten Propagandamedium der NSDAP, das zugleich als Lehrmittel diente. Sie wurde zwischen 1933 und 1943 herausgegeben und erreichte auf ihrem Höhepunkt 1942 fünf Millionen Schüler. Ausführlich, mit zahlreichen Abbildungen aus dem Magazin und Anmerkungen zum Großteil der Einzelausgaben hat die Autorin eines der wohl eindrücklichsten Beispiele für die Funktionsweise des NSPropagandaapparates aufbereitet, als welches Hilf mit! bereits in jungen Jahren Schüler mit der Ideologie des Dritten Reiches vertraut machen sollte. Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft 20/2013. Göttingen: V&R unipress, 2013, 231 pp., Ill., 24,99 € [978-3-8471-0196-3]. In 2013, the annual anthology »Frieden und Wissenschaft«, published by City and University of Osnabrück, turned its attention mainly to Greece, with four articles explicitly focusing on the Mediterranean state and its ongoing crisis. In a wider context, the yearbook is comprised of key contributions to the Osnabrück Peace Talks 2012, an annual conference and forum for peace and conflict studies, reports and lyrics from two concerts of the »musica pro pace«series, as well as a general section of essays newly published in the field of peace studies. Im Jahr 2013 lag der Schwerpunkt des Jahrbuchs Frieden und Wissenschaft, das die Stadt Osnabrück in Kooperation mit der Universität Osnabrück herausgibt, auf dem Staat Griechenland, den insgesamt vier Artikel ausdrücklich zum Hauptthema haben. Im Ganzen enthält diese Ausgabe neben den wichtigsten Beiträgen zu den Osnabrücker Friedensgesprächen 2012, einer jährlichen Konferenz und einem Forum für Friedensund Konfliktforschung, auch Berichte und Liedtexte von zwei Konzerten der musica pro pace-Reihe sowie eine Sektion mit fünf wissenschaftlichen Studien aus dem Gebiet der Friedensforschung. Sarah Panter. Jüdische Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, 410 pp., 79,99 € [978-3-525-10134-6]. This monograph deals with the situation of the Jews in Germany, Austria, Great Britain and the USA relating to the First World War. This situation constituted a challenge because Jewish soldiers fought in the armies of every war party. Thus, the particular individual often had an inner conflict between the Jewish cross-border conceptions of solidarity which were frequently confirmed through thinking of family members or close friends abroad and the civic conceptions of loyalty. Furthermore, the study also faces and compares the attitude and experiences of Jews through the course of the war in the mentioned different countries. Diese Monographie beschäftigt sich mit der Situation der Juden in Deutschland, Österreich, Großbritannien und den USA bezüglich des Ersten Weltkrieges. Diese stellte eine Herausforderung dar, da jüdische Soldaten in den Armeen aller Kriegsparteien kämpften. So entstand oftmals ein Kampf im Inneren des jeweiligen Individuums zwischen grenzüberschreitenden jüdischen Solidaritätsvorstellungen, häufig bestärkt durch Familien223

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mitglieder und enge Freunde im Ausland, und den staatsbürgerlichen Loyalitätsvorstellungen. Des Weiteren werden auch die Haltungen und Erlebnisse der Juden im Verlauf des Krieges in den verschiedenen angesprochenen Ländern miteinander verglichen und gegenübergestellt. Julia Paulus, Marion Röwekamp (eds.). Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Familie (1941–1943). Paderborn: Schöningh (Forschungen zur Regionalgeschichte 76), 2015, 655 pp., Ill., 64,00  € [978-3506-78151-2]. While there has been extensive analysis and reassessment of soldiers‘ field post from the front in both world wars, only recently attention has been drawn to correspondence of the predominantly female civil auxiliaries stationed at the combat zones. Exemplified in the letters of Annette Schücking, who served as German Red Cross nurse in the Caucasus and the Ukraine between 1941 and 1943, the editors have now provided a resource of non-military field post written by a woman. Accompanied by annotations and explanations of place and context, Schücking’s reports are seen to be particularly valuable insofar as she maintains a rather critical, reflecting style of writing. Während die Feldpost von Soldaten in beiden Weltkriegen bereits ausführlich analysiert und aufbereitet wurde, hat sich erst in jüngerer Zeit ein gesteigertes Interesse auch für die Korrespondenz »ziviler« und oft weiblicher Helfer an der Front entwickelt. Am Beispiel der Briefe von Annette Schücking, die zwischen 1941 und 1943 als Krankenschwester des Deutschen Roten Kreuzes im Kaukasus und in der Ukraine stationiert war, haben die Herausgeber dieses Buches nun einen solchen Fall nicht-militärischer Feldpost zusammengetragen und mit Anmerkungen sowie Erklärungen zu Orten und Kontext versehen. Schückings Berichte werden dabei insofern als besonders wertvoll erachtet, als sie durchaus kritisch und reflektierend das Erlebte wiedergeben. Herlinde Pauer-Studer, Julian Fink (eds.). Rechtfertigung des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten. Berlin: Suhrkamp, 2014, 563 pp., 22,00 € [978-3-518-29643-1]. How can a constitutional state justify that the will of one leader becomes the foundation of all jurisdictions? On what basis of National Socialist penal law was it possible to punish statements and actions of people who broke no legal law? Those and other questions are researched on in this book by using original National Socialist law texts that deal with topics such as: fundamentals and moralisation of NS-law, the change of a liberal jurisdiction to a Führer state and the role of the Führer in it, as well as laws about the persecution of Jews and the Nuremberg race-laws. Topics such as criminal law, police law and power of the Gestapo, as well as the role judges and courts had in National Socialist judicature. Introductory publisher Herlinde Pauer-Studer gives her opinion on judicial thinking in National Socialist Germany under the guideline: »justification of injustice«. 224

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Wie kann es in einem Rechtsstaat gerechtfertigt werden, dass der Wille eines Führers zur Grundlage aller Rechtsprechung wird? Auf Grundlage welcher NS-Strafgesetzgebungen war es möglich, Äußerungen und Handlungen von Menschen zu bestrafen, die gegen kein gültiges Gesetz verstießen? Der Untersuchung dieser und weiterer Fragen widmet sich dieses Buch und wirft dabei, durch Verwendung originaler nationalsozialistischer Rechtstexte, u.a. einen Blick in folgende Themengebiete: Grundsätze und Moralisierung des NS-Rechts, Veränderung von einem liberalen Rechtsstaat zu einem Führerstaat und die Funktion des Führers darin, bis hin zur Gesetzgebung über Judenverfolgung und den Nürnberger Rassegesetzen. Auch die Themengebiete Strafrecht, Polizeirecht und Macht der Gestapo, sowie die Rolle von Richtern und Gerichten bei der Rechtsprechung im Nationalsozialismus werden betrachtet. Einleitend äußert sich die Herausgeberin Herlinde Pauer-Studer zum Rechtsdenken im Nationalsozialismus unter dem Leitsatz: »Rechtfertigung des Unrechts«. Berna Pekesen. Zwischen Sympathie und Eigennutz. NS-Propaganda und die türkische Presse im Zweiten Weltkrieg. Berlin: LIT, 2014, 242 pp., 29,90 € [978-3-643-12468-5]. Arguing against common opinions about the Turkish media willingly spreading Nacional Socialist propaganda during the Second World War, historian Berna Pekesen tries to show in this book a quite ambivalent relation between them, between influence, acceptance and criticism. It gives an overall view of the topic, beginning with the origin and the development of Turkish press and its supervision step by step, via the influence of Germans in Turkey, the propaganda activities of the German mission, the National Socialist key subject in Turkey, to the point of methods of influence on Turkish press. Exemplary the »Tan-affair« and the newspaper »Cumhuryiet« are examined. As a conclusion the last years of the war are focused on. Entgegen landläufiger Meinungen über die bereitwillige Verbreitung von nationalsozialistischer Propaganda in türkischen Medien während des Zweiten Weltkriegs versucht die Historikerin Berna Pekesen in diesem Buch das durchaus ambivalente Verhältnis zwischen Beeinflussung, Zustimmung und Kritik aufzuzeigen. Es bietet einen Rundumblick über das Thema, beginnend bei Anfängen und Entwicklung der türkischen Presse und ihrer allmählichen Lenkung, über die Einflussnahme durch Deutsche in der Türkei, die Propagandatätigkeit der deutschen Mission, die nationalsozialistischen Themenschwerpunkte für die Türkei, bis hin zu Methoden der Einflussnahme auf die türkische Presse. Beispielhaft werden dabei die »Tan-Affäre« sowie auch die Zeitung Cumhuryiet untersucht. Abschließend werden die letzten Kriegsjahre in den Fokus genommen. Jürgen Peter. Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke. Berlin: LIT, 2013, 438 pp., 24,90 € [978-3-8258-2112-8]. In 1946 and 1947 the Doctor’s Trial took place in front of the American military tribunal in which the negotiations on the medical crimes in the Third Reich were opened. A com225

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mission of German medics was present. The observation of the process entailed the writings »Das Diktat der Menschenverachtung« and »Medizin ohne Menschlichkeit« by Alexander Mitscherlich and Fred Mielke. Jürgen Peter examines in this book the public reactions on these writings between 1947 and 1987 by reference to documents and more sources. For this, he focuses on the German medical faculty. 1946 und 1947 fand in Nürnberg der Ärzteprozess vor dem Amerikanischen Militärtribunal statt, in dem die Verhandlungen zu den Medizinverbrechen im Dritten Reich aufgenommen wurden. Eine Kommission deutscher Ärzte war dabei zugegen. Die Prozessbeobachtungen zogen die Schriften Das Diktat der Menschenverachtung und Medizin ohne Menschlichkeit von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke nach sich. Jürgen Peter untersucht in diesem Buch die Reaktionen der Öffentlichkeit auf diese Schriften zwischen 1947 und 1987 anhand von Dokumenten und weiteren Quellen und legt dabei einen besonderen Fokus auf die deutsche Ärzteschaft. Propagandafotograf im Zweiten Weltkrieg: Benno Wundshammer. Berlin: Chr. Links, 2014, 120 pp., Ill., 14,90 € [978-3-86153-815-8]. This anthology was published on occasion of an exhibition in the German-Russian Museum Berlin-Karlshorst, which dealt with the works of Benno Wundshammer who, as propaganda photographer during the Second World War, captured scenes from nearly all parts of the German front on camera, including his impressions in Stalingrad 1942. The book consists of studies on propaganda photography of World War II in general and on Wundshammer in particular, each of which are printed in a German and a Russian translation. Dieser Sammelband wurde anlässlich einer Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst veröffentlicht, die sich mit den Werken Benno Wundshammers beschäftigte. Dieser fertigte als Propagandaphotograph während des Zweiten Weltkriegs Aufnahmen von Szenen an beinahe allen Teilen der deutschen Front an, einschließlich seiner Eindrücke in Stalingrad 1942. Das Buch enthält Studien zu Propagandaphotographie des Zweiten Weltkrieges im Allgemeinen und zu Wundshammer im Besonderen, jeweils abgedruckt in einer deutschen und einer russischen Übersetzung. Livia Prüll, Philipp Rauh (eds.). Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914–1945. Göttingen: Wallstein, 2014, 283 pp., 24,90 € [978-3-8353-1431-3]. The editors of this volume have committed themselves to the evaluation of medical records from the sickbays of World War I. This allowed them to get an insight into the physical as well as psychological state of soldiers. Prüll und Rauh investigate, if and how the psychological pressure on the soldiers developed into mental illnesses, and how these were treated medically. Furthermore, physical effects in the aftermath of the war are touched upon, as well as the consequences for methods of therapy and medical theory in the following Second World War. As a conclusion, the book offers a prospective view on military psychiatry after 1945. 226

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Die Herausgeber haben sich mit bisher nicht ausgewerteten Lazarettakten aus dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, wodurch sie Aufschluss über die physische und psychische Verfassung der damaligen Soldaten erhalten konnten. Es wird darauf eingegangen, inwiefern sich die seelischen Belastungen der Soldaten zu einer Krankheit entwickelt haben und in welcher Form diese behandelt wurden. Auch die körperlichen Auswirkungen auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg werden thematisiert, sowie die Folgen für das therapeutische Arbeiten im Zweiten Weltkrieg. Abschließend wird ein Ausblick auf die Militärpsychiatrie nach 1945 gegeben. Wolfram Pyta, Jörg Lehmann (eds.). Krieg erzählen – Raconter la guerre. Darstellungsverfahren in Literatur und Historiographie nach den Kriegen von 1870/71 und 1914/18. Berlin: LIT (Kultur und Technik; 26), 2014, 170 pp., Ill., 24,90 € [978-3-643-12778-5]. In a comparative diachronic analysis of literature and historiography, one is naturally confronted with the incomparability of historic events, or the impossibility to reconstruct past environments. »Krieg erzählen – Raconter la guerre« tries to find the subject of comparison in the experience of war, which is usually extensively depicted both in contemporary literature and recorded history. From a broad field of textual material, including the narratives of Karl May as well as examples of so called front literature and the seemingly neutral »written history«, this anthology investigates times and aftermaths of the Franco-Prussian War and the First World War in respect of the forms of literature they produced and the way they have been described in the historical record. Am Anfang jeder vergleichenden diachronischen Analyse von Literatur und Historiographie steht die Problematik, dass sich die beschriebenen historischen Ereignisse nur bedingt vergleichen und vergangene Umweltbedingungen noch weniger rekonstruieren lassen. Krieg erzählen – Raconteur la guerre versucht einen Ansatzpunkt zum Vergleich in der Wahrnehmung des Krieges zu finden, da dieser meist ausführlich zum Thema von Literatur und Geschichtsschreibung wird. Aus einem weiten Feld von Textmaterial, dass sowohl Erzählungen Karl Mays als auch Frontliteratur und die scheinbar neutrale Historiographie umfasst, untersucht dieser Sammelband Zeitraum und Nachwirkungen des Deutsch-Französischen Krieges und des Ersten Weltkrieges im Hinblick auf deren Darstellung in historischen Aufzeichnungen sowie auf die Literaturformen, die aus ihnen hervorgingen. Babette Quinkert, Jörg Morré (eds.). Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944. Vernichtungskrieg | Reaktionen | Erinnerung. Paderborn: Schöningh, 2014, 416 pp., Ill., 39,90 € [978-3-506-77780-5]. The anthology deals with the German occupation policy and the crimes which were committed in the occupied regions in the Soviet Union during the Second World War, like, for example, the systematic elimination of the Romani people. The authors attempt to provide information about how the daily routine looked like in these regions, how the people reacted 227

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to the occupation and in this context which strategies of resistance and survival were pursued. Furthermore, by contrasting the different memories it is carved out how the war and the occupation continue to have an effect until today. Der Sammelband befasst sich mit der deutschen Besatzungspolitik und den in den besetzten Gebieten begangenen Verbrechen wie der systematischen Vernichtung der Roma in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs. Die Autoren versuchen genauere Auskunft darüber zu geben, welche Gestalt der Alltag in diesen Gebieten hatte, wie die Menschen dort auf die Besetzung reagierten und wie in diesem Zusammenhang Überlebens- und Widerstandsstrategien aussahen. Außerdem wird auch mithilfe der Kontrastierung von verschiedenen Erinnerungen an den Krieg herausgearbeitet, wie der Krieg und die Okkupation bis heute nachwirken. Maren Röger, Ruth Leiserowitz (eds.). Women and Men at War. A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe. Osnabrück: fibre (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 28), 2012, 342 pp., 39,80 € [978-3-938400-83-8]. Among the manifold societal transformations in Europe that were either triggered or catalysed by the Second World War, the status of women was one of the most significant. As men died in millions at the front, women at the »Home Front« entered the workforce in their stead – others served in hospitals, joined partisan groups or, in the case of the Soviet Union, became regular members of the army. »Women and Men at War« understands itself as part of the field of gender studies, and provides information on different regions of Central and Eastern Europe, that is, mainly Germany and the later communist countries such as Poland, Russia, Yugoslavia, Bulgaria, Hungary and the Baltic states. Thematically, four chapters deal with: gendered interpretive models of occupiers and the occupied; gender identities in armies; gender identities in partisan groups; and, conclusively, gender discourse in the post-war period. Unter den vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen, die der Zweite Weltkrieg entweder auslöste oder katalysierte, war die Rolle der Frau eine der bedeutendsten. Während Männer zu Millionen an der Front starben, übernahmen Frauen deren bisherige Rollen in der Arbeitswelt, wurden zu freiwilligen Krankenschwestern, traten gar Partisanengruppen bei oder wurden, wie im Falle der Sowjetunion, Mitglieder der regulären Armee. Women and Men at War versteht sich als ein Beitrag zur Genderforschung mit einzelnen Studien zu verschiedenen Regionen Mittel- und Osteuropas, das heißt, hauptsächlich dem Deutschen Reich sowie den später kommunistisch gewordenen Staaten Polen, Russland, Jugoslawien, Bulgarien, Ungarn und dem Baltikum. Thematisch ist das Buch in vier Kapitel gegliedert, beginnend mit geschlechterspezifischen Interpretationsmodellen von Besatzern und Besetzten, über Geschlechteridentitäten in verschiedenen Armeen und über solche in Partisanengruppen hin zu abschließenden Beiträgen über den GenderDiskurs nach dem Krieg.

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Jan Röhnert (ed.). Autobiographie und Krieg. Ästhetik, Autofiktion und Erinnerungskultur seit 1914. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2014, 250 pp., Ill., 35,00  € [978-3-8253-6352-9]. The anthology deals with the culture of war autobiographically put into writing. It is divided up into three complexes: the »forms of autobiographical perception of war«, the »autobiographical narratives of war« and the »fictions and enactments of autobiographical remembrance«. Thereby, particular texts and their authors are closely studied, which leads to a general deliberation on practices and functions of the autobiography. The study in this context also investigates how the autobiographies of war fit into the wide area of autobiography and which sort of portrayal of war is used in them. Der Sammelband untersucht die Kultur des autobiographisch verschriftlichten Kriegs in drei Komplexen: die »Formen autobiographischer Kriegswahrnehmung«, die »Autobiographischen Kriegsnarrative« und die »Fiktionen und Inszenierungen autobiographischer Erinnerung«. Dabei werden einzelne Texte und deren Autoren genau studiert, was in eine allgemeine Auseinandersetzung über Praktiken und Funktionen der Autobiographie mündet. Bei der Studie wird in diesem Kontext auch ein Blick darauf geworfen, wie sich die Kriegsautobiographien überhaupt in das große Feld der Autobiographie eingliedern und welche Art der Kriegsdarstellung in ihnen wiederzufinden ist. Daniel Roos. Julius Streicher und »Der Stürmer«. 1923–1945. Paderborn: Schöningh, 2014, 535 pp., Ill., 49,90 € [978-3-506-77267-1]. »Der Stürmer« was possibly the most radically anti-Semitic and racist periodical in the Third Reich, and at the same time the one with the highest circulation. Its content was almost exclusively made up of racist agitation and the semi-pornographical description of »racial defilement« committed by Jews. Julius Streicher, who was not only editor of the magazine, but also NSDAP-Gauleiter in Nuremberg, became known for his ideological fanatism, in which he described even Adolf Hitler as »too mild« against the »Jewish Race«. This monograph is a chronologically arranged double-biography of the magazine and its editor, from the ideological foundations in Streicher’s childhood until the Nuremberg Trials. Der Stürmer war wohl die radikalste antisemitische und rassistische Zeitschrift im »Dritten Reich« und zugleich jene mit der höchsten Auflage. Der Inhalt bestand fast ausschließlich aus rassischer Hetze und halbpornographischen Schilderungen von »Rassenschande«, die laut der Redaktion systematisch und mit Gewalt von Juden an deutschen Frauen begangen würde. Julius Streicher, Chefredakteur der Zeitschrift und zugleich NSDAPGauleiter in Nürnberg, wurde berüchtigt für seinen ideologischen Fanatismus, in dem er sogar Adolf Hitler noch als »zu mild« gegenüber der »jüdischen Rasse« bezeichnete. Die Monographie ist eine chronologisch geordnete Doppelbiographie der Zeitschrift und ihres Herausgebers, angefangen mit der ideologischen Prägung in dessen Kindheit bis hin zu den Nürnberger Prozessen.

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Alvin H. Rosenfeld. Das Ende des Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, 276 pp., 39,99 € [978-3-525-54042-8]. Despite possible associations and expectations evoked by the title, this book is no historiography on the final phase and end of the events in the concentration camps 1945. Instead, Alvin H. Rosenfeld presents a critical analysis of the commemoration of the Holocaust. His core thesis reads that since the number of publications, memorials or movies on the topic has increased dramatically, the genocide is becoming trivialised and thus defamed. In the exposure of these cultural processes and forces, Rosenfeld, in fact, wants to prevent the Holocaust from being no longer remembered in its full terror, and tries to avert the »End of the Holocaust« in collective memory. Obwohl der Titel dieses Buches möglicherweise diese Erwartung wecken könnte, handelt es sich bei Das Ende des Holocaust keineswegs um eine historische Beschreibung der finalen Phase der Ereignisse in den Konzentrationslagern 1945. Stattdessen äußert sich Alvin H. Rosenfeld kritisch zur heutigen Erinnerungskultur an den Holocaust. Seine Kernthese lautet, dass durch die extrem erhöhte Zahl von Veröffentlichungen, Veranstaltungen und Verfilmungen zum Thema der Genozid an den Juden trivialisiert und somit diffamiert wird. Indem er die entsprechenden kulturellen Entwicklungen und Kräfte darlegt, versucht Rosenfeld, eine solche Verharmlosung und das daraus folgende »Ende des Holocaust« als solchem im kollektiven gesellschaftlichen Gedächtnis abzuwenden. Udo Rosowski. Glückauf zum Untergang. Die Kriegstagebücher des Feldwebels Kurt Pfau 1939–1945. Brüggen: literates, 2013, 220 pp., Ill., 14,99 € [978-3-943360-16-5]. This collection of diary entries was, originally, written by Sergeant Kurt Pfau, who eagerly joined the Wehrmacht in 1939, having previously been a member of the SA already. The content is correspondingly ideologically coloured: Pfau considers the military service an honour, even after being severely wounded. Udo Rosowski has published these diary entries as a personal and at times disturbing example of the fanatic mentality present in large parts of the German population during the Third Reich. Diese Sammlung von Tagebucheinträgen wurde ursprünglich vom Feldwebel Kurt Pfau verfasst, der bereits 1939 bereitwillig der Wehrmacht beitrat, nachdem er zuvor schon Mitglied der SA gewesen war. Der Inhalt ist dementsprechend ideologisch aufgeladen: Pfau empfindet den Wehrdienst als eine Ehre, selbst noch nach schweren Verwundungen. Udo Rosowski hat diese Tagebucheinträge als ein persönliches und zuweilen verstörendes Beispiel einer fanatischen Mentalität veröffentlicht, die von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung im Dritten Reich geteilt wurde.

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Udo Rosowski. Kohlenstaub und Wüstensand. Brüggen: literates, 2012, 383 pp., Ill., 16,99 € [978-3-943360-00-4]. This biography follows the life of Wilhelm Rosowski, born 1918 in the mining region of the Ruhr area. Coming from a comparatively poor, in its political attitude communist family, the protagonist loses his job and, subsequently, passes through numerous institutions and districts of the Third Reich military organisation: Beginning with the Reich Labour Service, Wilhelm Rosowski is later stationed on military service in East Europe, Africa, Italy and as far as Leningrad, rather driven by his circumstances than actively making decisions. Die Biographie folgt dem Leben des Wilhelm Rosowski, der 1918 im Ruhrgebiet geboren wurde. Der Protagonist, dessen Familie relativ arm und zudem in ihrer politischen Überzeugung kommunistisch eingestellt ist, verliert früh seine Arbeitsstelle und durchläuft daraufhin zahlreiche Institutionen und Tätigkeitsbereiche der Militärorganisation im »Dritten Reich«: Angefangen mit dem Reichsarbeitsdienst wird Wilhelm Rosowski bald darauf zum Militärdienst nach Afrika, Osteuropa, Italien und bis nach Leningrad stationiert, und er scheint viel eher ein Getriebener zu sein, als dass er selbst seine Entscheidungen träfe. Hans-Peter Rüsing. Das Drama des Widerstands. Günther Weisenborn, der 20. Juli 1944 und die Rote Kapelle. Frankfurt/Main: Lang (Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur 52), 2013, 368 pp., 64,95 € [978-3-631-62798-3]. When Germany was divided into two states with contrary ideologies after the Second World War, the same happened to the commemoration of democratic opposition under the NSregime, as the meaning of »democracy« differed in the eyes of the two governments. Günther Weisenborn however, himself a former member of the communist »Red Orchestra«, was one of the few to acknowledge both national-conservative and communist resistance already in his 1953 documentary »The Silent Rebellion«. Rüsing shows how the author and dramaturg Weisenborn tried to overcome an ideologically distorted history of reception in favour of the universal acknowledgement that gained full acceptance in Germany only in the 1980s. Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt wurde, machte die ideologische Trennung auch vor dem Gedenken an die demokratische Opposition unter dem NSRegime nicht halt, denn »Demokratie« wurde von beiden Seiten unterschiedlich interpretiert. Günther Weisenborn allerdings, selbst ein früheres Mitglied der kommunistischen »Roten Kapelle«, erkannte als einer der wenigen schon 1953 in seiner Dokumentation Der stille Aufstand sowohl den national-konservativen als auch den kommunistischen Widerstand an. Das Drama des Widerstands zeigt, wie der Autor und Dramaturg Weisenborn schon früh eine ideologisch verfärbte Rezeption der Widerstandskämpfer zu überwinden suchte, zugunsten einer übergreifenden Anerkennung, wie sie sich in Deutschland erst ab den 1980er Jahren durchsetzte.

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Marco Rustemeyer. Ägyptische Blogs und ihre Bedeutung bei der Schaffung einer Gegenöffentlichkeit im Arabischen Frühling. Berlin: LIT (Kommunikationswissenschaft 3), 2014, 130 pp., 24,90 € [978-3-643-12412-8]. The ultimate outcome of the so called Arab Spring remains unforeseeable. While some scholars and publicists have proceeded to use the term of a subsequent »Arab Winter«, at least the very beginnings of the Arab Spring have, with adequate time passed, become accessible for retrospective scholarly analysis. This book is one of the first studies of its kind, and tries to investigate the importance of blogging for the public opinion in Egypt, with due theoretical groundwork and particular analysis of the most important blogs in English; »Sandmonkey«, »The Arabist« and »Egyptian Chronicles«. Der letztendliche Ausgang des sogenannten Arabischen Frühlings ist noch immer ungewiss. Während einige Publizisten und Wissenschaftler bereits dazu übergegangen sind, von einem »Arabischen Winter« zu sprechen, sind zumindest die Anfänge des Arabischen Frühlings nach ausreichend verstrichener Zeit inzwischen einer rückblickenden wissenschaftlichen Analyse zugänglich geworden. Die vorliegende Publikation ist eine der ersten Studien ihrer Art und versucht, den Einfluss von Bloggern auf die öffentliche Meinung in Ägypten zu untersuchen. Auf eine theoretische Einordnung des politischen Bloggens folgen dabei einzelne Analysen der wichtigsten englischsprachigen Blogs »Sandmonkey«, »The Arabist« und »Egyptian Chronicles«. Joachim Sartorius (ed.). Niemals eine Atempause. Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 348 pp., 22,99 € [978-3-462-04691-5]. This volume of poems, edited by Berlin lyricist Joachim Sartorius, claims to represent political poetry of the 20th century. For this, the book includes chapters for the most severe catastrophes and most important phenomena all over the world, between the beginning of the genocide on the Armenians 1909 and the end of the Bosnian War in 1995. Additionally, characteristic motifs are dealt with, such as the communist ideology, racially motivated suppression in Africa, migration and exile or the ecological movement. Thus, »Never a Time to Breathe« considers itself as a collection mainly of protest poetry or poetry for the alleviation of suffering, trying to come to terms with the negative experiences of the 20th century. Dieser Gedichtband, herausgegeben vom Berliner Lyriker Joachim Sartorius, hat den Anspruch, die politische Poesie des 20. Jahrhunderts zu repräsentieren. Dazu enthält das Buch jeweils ein Kapitel zu den verheerendsten Katastrophen und den wichtigsten Phänomenen weltweit, angefangen beim Genozid an den Armeniern 1909 und endend mit dem Bosnienkrieg 1995. Zusätzlich werden charakteristische Motive behandelt, wie etwa die kommunistische Ideologie, rassistische Unterdrückung in Afrika, Migration und Exil oder die ökologische Bewegung. Niemals eine Atempause versteht sich somit hauptsächlich als Sammlung von Protest- oder Leid verarbeitender Poesie und versucht, die künstlerische Verarbeitung der Negativerfahrungen des 20. Jahrhunderts darzulegen.

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Richard Sautmann. »Dann bleibt er besser an der Front«. Kommunalverwaltung, Kriegsfürsorge und Lebensmittelversorgung in Oldenburg 1914–1918. Oldenburg: Isensee (Oldenburger Studien 73), 2012, 188 pp., 19,80 € [978-3-89995-927-7]. As an example of events at the Home Front in the First World War, this book investigates the food- and logistic situation in the German town of Oldenburg, today in Lower Saxony. As it lay far distant from the front line and was seemingly little affected by the war, the town might be considered representative for the »unspectacular« side of the devastating conflict in Europe. Author Richard Sautmann has, consequently, taken an approach focusing on the economical and organisational situation of Oldenburg between 1914 and 1918. Beispielhaft für die Ereignisse an der Heimatfront im Ersten Weltkrieg untersucht das Buch die Versorgungssituation der Stadt Oldenburg, heute Teil Niedersachsens. Die Stadt, die weit hinter der Frontlinie lag und augenscheinlich vom Krieg kaum betroffen war, kann demnach als repräsentativ für die »unspektakuläre« Seite des verheerenden Konflikts angesehen werden, der in Europa tobte. Autor Richard Sautmann hat sich entsprechend darauf konzentriert, die Verwaltungs- und ökonomische Situation Oldenburgs zwischen 1914 und 1918 darzulegen. Ulrike Scheffer, Sabine Würich. Operation Heimkehr. Bundeswehrsoldaten über ihr Leben nach dem Auslandseinsatz. Berlin: Ch. Links, 2014, 189 pp., Ill., 24,90 € [9783-86153-759-5]. How do soldiers of the German Bundeswehr reintegrate in Germany after fighting in wars abroad? How does the German society treat those homecomers? Do family, friends and even strangers understand their situation? How does their way back to everyday life look like? The book deals with all those questions by giving portraits of German soldiers and essays from scientific, political and social points of view. The field reports of the homecomers and the scientific essays develop a picture of the German peace society and its possibilities, barriers and problems in processing and keeping war experiences, and in reintegration of soldiers. Numerous photographs of the soldiers and their keepsakes, as well as an addendum of Bundeswehr specific terms, a list of Bundeswehr assignments abroad and an index of persons are added. Wie leben sich Soldaten der Bundeswehr wieder im friedlichen Deutschland ein, nachdem sie in Kriegen im Ausland gekämpft haben? Wie geht die deutsche Gesellschaft mit den Heimkehrern um? Verstehen Familie, Freunde und Fremde ihre Situation? Wie sieht der Weg zurück in den Alltag aus? Indem zahlreiche Portraits von BundeswehrsoldatInnen vorgestellt und mit Aufsätzen aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ergänzt werden, beschäftigt sich das Buch mit eben diesen Fragen. Die Erfahrungsberichte der HeimkeherInnen und die wissenschaftlichen Aufsätze entwickeln im Dialog ein Bild der Friedensgesellschaft Deutschland und ihrer Möglichkeiten, Hindernisse und Probleme bei der Verarbeitung und Bewahrung von Kriegserfahrungen und der Wiedereingliederung

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von Soldaten. Zahlreiche Fotografien von Soldaten und ihrer Erinnerungsstücke sowie ein Anhang mit spezifischen Termini der Bundeswehr, einer Liste von Auslandseinsätzen und einem Personenregister ergänzen das Buch. Matthias Schöning (ed.). Ernst Jünger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler, 2014, VII + 439 pp., 69,95 € [978-3-476-02479-4]. Hardly an author in the history of German literature has been as changeable and as controversially debated upon as Ernst Jünger, author of »In Stahlgewittern«, which is believed by many to be in line with nationalist, perhaps national-socialist ideology. This handbook wants to examine the interrelations between Jünger’s life and his work from the famous debut war novel to his later publications and estate. An additional chapter deals with his reception in popular culture and scholarly research. Kaum ein Autor in der Geschichte der deutschen Literatur war so wandelbar und so oft Thema für Kontroversen wie Ernst Jünger, Autor von In Stahlgewittern, welches von vielen als auf einer Linie mit einer nationalen oder sogar nationalsozialistischen Ideologie angesehen wird. Dieses Handbuch versucht, die Wechselbeziehungen zwischen Jüngers Leben und seinem Werk vom berühmten Debütroman bis hin zu seinem Nachlass darzustellen. Ein zusätzliches Kapitel widmet sich seiner Rezeption in Populärkultur und Wissenschaft. Dietrich Schubert. Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914–18. Heidelberg: Das Wunderhorn, 2013, 560 pp., Ill., 68,00 € [978-3-88423-405-1]. If the First World War revolutionised methods and machinery of warfare, one may expect a similarly revolutionising impact on different modes of art applied to depict the experience of battle. In a comparative study on artists in Germany and France, »Künstler im Trommelfeuer des Krieges« tries to show the changing subjective attitudes and forms of expression in painting and literature of artists such as Otto Dix, Henri Barbusse, August Macke and numerous others. Da der Erste Weltkrieg die Methoden und Maschinen der Kriegführung revolutionierte, könnte ein ähnlich revolutionärer Effekt auf die Kunstformen, die diesen Krieg darzustellen versuchten, erwartet werden. In einer vergleichenden Gegenüberstellung von Künstlern aus Deutschland und Frankreich versucht der Band Künstler im Trommelfeuer des Krieges, diese Veränderungen in persönlicher Einstellung und der Wahl der Darstellungsformen in Malerei und Literatur aufzuzeigen. Der Autor geht dabei auf einzelne Künstler ein, etwa Otto Dix, Henri Barbusse, August Macke und zahlreiche andere.

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Marisa Siguan. Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub. Berlin, Boston: De Gruyter (linguae & litterae 45), 2014, VII + 352 pp., 99,95 € [978-3-11-034834-7]. Dictatorship and camp internment have been two of the most traumatic and at the same time most widely distributed motifs in 20th century Europe. Marisa Siguan analyses, how these experiences have been transformed into the works of Jean Améry, Imre Kertész, Jorge Semprún, Warlam Schalamow, Herta Müller and Max Aub. Diktatur und Lagerhaft waren zwei der traumatischsten und zugleich weitverbreitetsten Motive Europas im 20. Jahrhundert. Marisa Siguan analysiert, inwiefern diese Erfahrungen die Werke von Jean Améry, Imre Kertész, Jorge Semprún, Warlam Schalamow, Herta Müller und Max Aub beeinflusst haben und in ihnen wiedergegeben werden. Dieter Storz (ed.). Wilhelm Heiders Erster Weltkrieg. Aufzeichnungen aus Feldzug und Lazarett. Essen: Klartext, 2014, Ill., 120 pp., 14,95 € [978-3-8375-1270-0]. This book consists of records of Wilhelm Heiders who participated in the First World War. He went to war in 1914 with a special artillery regiment. However, he was wounded seriously and had to be carried to a military hospital in Ingolstadt where he stayed for nearly two years because of his heavy injuries. The description of the situation in this hospital from the view of a patient composes a unique historical insight which also provides information about the sentiments and the behavior of the people at the beginning of the war. Bei dem Buch handelt es sich um die Aufzeichnungen Wilhelm Heiders, der am Ersten Weltkrieg teilnahm. Er zog 1914 mit einem bayrischen Feld-Artilllerie-Regiment in den Krieg. Da er allerdings schon nach wenigen Wochen schwer verwundet wurde, musste er ins Lazarett nach Ingolstadt gebracht werden, wo er sich aufgrund der schweren Wunden ab diesem Zeitpunkt über fast zwei Jahre aufhielt. Die Beschreibung der Umstände im Militärlazarett, aus der Sichtweise eines Patienten, bildet ein einzigartiges Zeitzeugnis, welches auch Einblicke in die Stimmung und das Verhalten des Volkes zu Beginn des Krieges gibt. Keya Thakur-Smolarek. Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage. Berlin: LIT (Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik 48), 2014, XVI + 640 pp., 69,90 € [978-3643-12777-8]. The emergence of a Polish nation state during and after the First World War is sometimes historically treated like a linear process of nationalisation in the turmoil between the major powers of the German Empire, Austro-Hungary and Russia. As part of a book series on mentalities and structures in East Europe, this monograph reconsiders the conflicting political attitudes and movements during the Great War, directly analysing self-published newspapers of the most important political parties and coming to the conclusion of a not at all coherent formation of national sentiment in Poland.

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Die Entstehung des polnischen Nationalstaates während und nach dem Ersten Weltkrieg wird von der Geschichtsschreibung mitunter wie ein linearer Prozess von Nationalisierung inmitten der Wirren um die Großmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland behandelt. Als Teil einer Buchreihe zu Mentalitäten und Strukturen in Osteuropa evaluiert diese Monographie auch die widerstreitenden politischen Einstellungen und Bewegungen während des Krieges. Dazu werden die Parteizeitungen der wichtigsten politischen Parteien herangezogen und untersucht, mit dem Ergebnis, dass der Prozess zur Bildung eines Nationalgefühls in Polen keineswegs kohärent war. Leonie Treber. Mythos Trümmerfrauen. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes. Essen: Klartext, 2014, 483 pp., Ill., 29,95 € [978-3-8375-1178-9]. In this monograph, author Leonie Treber questions the historical accuracy of the lieu de mémoire of the German Trümmerfrauen or Rubble Women as the people who cleaned and rebuilt Germany after World War II. Analysing contemporary press releases and the history of reception in both the GDR and the FRG, the author tries to reconstruct the creation of a national myth and to separate the mythical-constructed from its factual historic foundation. In dieser Monographie stellt die Autorin Leonie Treber den deutschen Erinnerungsort der Trümmerfrauen als der Menschen, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ordneten und wieder aufbauten, in Frage. Unter Analyse zeitgenössischer Presseveröffentlichungen und der Rezeptionsgeschichte in BRD und DDR versucht die Autorin, die Erschaffung eines nationalen Mythos‘ nachzuvollziehen und das ihm innewohnende Mythisch-Konstruierte von seiner faktischen historischen Basis zu trennen. Maria Luiza Tucci Carneiro. Weltbürger. Brasilien und die jüdischen Flüchtlinge 1933–1948. Berlin: LIT (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 43), 2014, 478 pp., Ill., 49,90 € [978-3-643-90369-3]. Confronted with the atrocities of the National Socialists and facing an increasing stream of refugees, reactions and immigration policies of nation states all around the world differed radically. The book takes a look at the situation in Brazil. In addition to the omnipresent social and economic difficulties, the country’s policies appear to have been influenced by strong anti-Semitic resentments. Therefore, the book shows the effects the Second World War had on a seemingly peripheral country, explicitly taking into account the role of the autocratic regime of Dictator Getúlio Vargas. Angesichts der Gräuel des Nationalsozialismus und eines immer größer werdenden Flüchtlingsstroms griffen Nationalstaaten weltweit zu unterschiedlichsten Reaktionen und Immigrationsregelungen. Das Buch Weltbürger richtet seinen Blick auf die Situation in Brasilien: Zusätzlich zu den ohnehin gegebenen sozialen und ökonomischen Vorbehalten herrschten dort demnach antisemitische Ressentiments vor, die die Einwanderungspolitik entsprechend beeinflussten. Das Buch veranschaulicht so die Auswirkungen des Zweiten 236

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Weltkriegs auf ein scheinbar peripheres Land und bezieht sich dabei explizit auch auf die Rolle des autokratischen Regimes von Diktator Getúlio Vargas. Michael Vollmer. Die Macht der Bilder. Thomas Mann und der Erste Weltkrieg. Berlin: be.bra wissenschaft, 2014, 427 pp., Ill., 46,00 € [978-3-95410-047-7]. This monograph investigates a particular type of image: National self-perception on the one hand and the perception of others in accordance with their nationality on the other. In the works of Thomas Mann, especially his essay »Reflections of an Unpolitical Man«, which still supported Wilhelmine conservatism, author Michael Vollmer seeks to reconstruct the interrelations of nationalism and growing conservatism at the beginning of the 20th century, and tries to explain their seemingly contradictive coexistence. In doing so, he also proposes an analysis of the cultural, emotional and ideological aspects of public opinion during the First World War. Untersucht wird eine besondere Art von Bildern: Gemeint sind hier nationale Selbstwahrnehmung auf der einen und die Wahrnehmung der Bürger verfeindeter Nationen unmittelbar vor und während des Ersten Weltkriegs auf der anderen Seite. Der Autor versucht, über die Werke Thomas Manns zu einer Rekonstruktion der Beziehung von Nationalismus und wachsendem Kosmopolitismus sowie zu einer Erklärung für deren scheinbar widersprüchliche Koexistenz in den frühen Werken des späteren Nobelpreisträgers zu gelangen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Aufsatz Betrachtungen eines Unpolitischen, in dem Mann noch strikt den wilhelminischen Konservativismus verteidigte. Das Buch schlägt so auch ein Gesamtbild von kulturellen, ideologischen und emotionalen Aspekten der öffentlichen Meinung während des Ersten Weltkrieges vor. Heinrich Wandt. Erotik und Spionage in der Etappe Gent. Deutsche Besatzungsherrschaft in Belgien während des Ersten Weltkrieges. Ed. Jörn Schütrumpf. Berlin: Karl DietzVerlag, 2014, 367 pp., Ill., 19,90 € [978-3-320-02303-4]. Heinrich Wandt, who had served as a soldier in the German-occupied part of Belgium in the First World War, was the cause for one of the most infamous legal scandals in the Weimar Republic. After reporting several severe acts of war crime committed by the imperial military in the area of Gent, Wandt became publically and legally persecuted for treason and sentenced to six years in prison. He was later rehabilitated and his reports, which are now edited and re-released by Jörn Schütrumpf, were officially declared accurate. Heinrich Wandt, der als Soldat während des Ersten Weltkrieges im deutsch besetzten Teil Belgiens gedient hatte, war der Grund für einen der bekanntesten Justizskandale der Weimarer Republik: Nachdem er Berichte über mehrere schwere Kriegsverbrechen der kaiserlichen Armee in Belgien publik gemacht hatte, wurde er juristisch und öffentlich verfolgt, des Verrats angeklagt und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Später wurde er vollständig rehabilitiert und seine Berichte, die nun in einer von Jörn Schütrumpf bearbeiteten Version wieder veröffentlicht wurden, wurden offiziell als zutreffend eingestuft. 237

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Ines-Jacqueline Werkner et.al. (eds.). Friedensgutachten 2014. Berlin: LIT, 2014, 357 pp., 12,90 € [978-3-643-12556-9]. The co-published yearbook of several departments for peace- and conflict-studies in the Federal Republic of Germany attends in general to the analysis of international conflicts from a strategic view based on peace. The statements of the publishers take a stock of the occasions and the developments of the particular year and they include recommendations for the peace and corporate safety policy in Germany and Europe. Looking back from the year 2014, the authors consider especially the issue, whether the peace project Europe is declining, important. Furthermore, they wonder whether the European Union is able to contribute to the demilitarization or whether it even causes a certain »euromilitarism«. More issues of the yearbook are the role of religion in violent conflicts, the cyberspace as a new location of warfare and current combustion points, for example the Ukraine. Das gemeinsame Jahrbuch der Institute für Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland befasst sich im Allgemeinen mit der Analyse von internationalen Konflikten aus friedensstrategischer Perspektive. Die Stellungnahmen der Herausgeber­ Innen ziehen Bilanz aus den Ereignissen und Entwicklungen des jeweiligen Jahres und enthalten Empfehlungen für die Friedens- und Sicherheitspolitik in Deutschland und Europa. Vom Jahr 2014 aus rückblickend erachten die Autoren vor allem das Thema, ob das Friedensprojekt Europa am Ende sei, für wichtig. Denn sie fragen sich im Weiteren, ob die Europäische Union einen Beitrag zur Entmilitarisierung leisten kann oder ob von ihr doch ein »Euromilitarismus« ausgeht. Weitere Themen des Jahrbuchs sind die Rolle von Religion in Gewaltkonflikten, der Cyberspace als neuer Schauplatz der Kriegführung und aktuelle Brennpunkte wie zum Beispiel der Krieg in der Ukraine. Adrian E. Wettstein. Die Wehrmacht im Stadtkampf 1939–1942. Paderborn: Schöningh (Krieg in der Geschichte (KRiG) 81), 2014, 452 pp., Ill., 44,90 € [978-3-506-77285-5]. When the German Wehrmacht started its campaign into East Europe, it was practically instantly faced with a new form of combat: The »urban warfare« or the fighting in towns and cities, beginning with the invasion of Warsaw and reaching its brutal, disastrous climax in the Battle of Stalingrad. This book is a military-historical analysis of the Wehrmacht’s struggle with these challenges, considering the army’s lack of specific training on the matter and other major deficits in military organisation. The book so traces the development and temporary progress of a form of battle newly developed during the Second World War, which has since become more and more dominant in modern warfare. Praktisch unmittelbar mit dem Beginn des Feldzuges in Osteuropa sah sich die deutsche Wehrmacht mit einer bis dato weitgehend unbekannten Form der Kriegführung konfrontiert: Dem »Stadtkampf«, also dem Führen einer Schlacht aus einer befestigten Stadt heraus, der vom Einmarsch in Warschau bis zum desaströsen und brutalen »Höhepunkt« in Stalingrad das Kriegsbild an der Ostfront mitbestimmte. Die Wehrmacht im Stadtkampf stellt eine militärgeschichtliche Analyse der Probleme dar, mit denen das Heer angesichts 238

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einer mangelnden Ausbildung auf diesem speziellen Gebiet sowie anderer organisatorischer Defizite zu kämpfen hatte. Das Buch zeichnet so eine Geschichte, aber auch die zwischenzeitliche Weiterentwicklung einer im Zweiten Weltkrieg neuen Form der Schlacht auf, die bis heute in der modernen Kriegführung mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Hartmut Zinser. Religion und Krieg. Paderborn: Wilhelm Fink, 2015, 200 pp., Ill., 24,90 € [978-3-7705-5833-9]. Sadly topical through the campaigns of the so called Islamic State in the Middle East, the study »Religion and War« investigates the interaction of the two parameters given in the title. With special emphasis on »heretic wars«, »missionary wars« and »holy wars«, author Hartmut Zinser tries to understand how even explicitly peaceful and nonviolent religions can become means of justifying war, and he also comments on possible ways to overcome this situation and the ideology of violence. Ausgestattet mit trauriger Aktualität, bedingt durch die Handlungen des sogenannten Islamischen Staates im Mittleren Osten, untersucht die Studie Religion und Krieg, inwieweit die zwei im Titel genannten Parameter sich wechselseitig beeinflussen können. Unter besonderer Betrachtung von »Ketzer-«, »Missions-« oder »heiligen Kriegen« versucht der Autor nachzuvollziehen, wie sogar ausdrücklich friedfertige und gewaltlose Religionen zur Rechtfertigung von Kriegen herangezogen werden können, und er nimmt dabei auch Bezug auf mögliche Wege, diesen Zustand der Gewalt zu überwinden.

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Autoren dieser Ausgabe

Richard Albrecht, PhD., Dr.rer.pol.habil., Freier Sozialwissenschaftsjournalist; Wiesenhaus, D-53902 Bad Münstereifel (Germany); [email protected]. Thomas Amos, Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Grüneburgplatz 1, D-60629 Frankfurt (Germany); thomasamos@ web.de. Fabian Brändle, Dr. phil., Quellenstrasse 22, CH-8005 Zürich (Switzerland); [email protected]. Frank Brendle, Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), DFG-VK-Bundesgeschäftsstelle, Werastraße 10, D-70182 Stuttgart (Germany); [email protected]. Florian Brückner, M.A., Fleiner Str. 16, D-70437 Stuttgart (Germany); florian.brueckner@ gmail.com. Jens Ebert, Dr. phil., Ebelingstraße 15, D-10249 Berlin (Germany); [email protected]. Erhard Jöst, Dr. phil, Ludwigstr. 18, D-74078 Heilbronn (Germany); [email protected]. John H. Mazaheri, Prof., Department of Foreign Languages & Literature, 6030 Haley Center, USA-Auburn University, AL 36849 (USA); [email protected]. Matthias Schöning, PD Dr., Universität Konstanz, FB Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 10, D-78464 Konstanz (Germany); [email protected]. Nadine Seidel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität zu Köln, Institut für Deutsche Sprache und Literatur II, Gronewaldstraße 2, D-50931 Köln (Germany); Nadine.Seidel@ uni-koeln.de. Dieter Storz, Dr., Hauptkonservator im Bayerischen Armeemuseum, Neues Schloß, Paradeplatz 4, D-85049 Ingolstadt (Germany); [email protected].

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