Eine andere Geschichte Spaniens: Schlüsselgestalten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783412525590, 9783412525576

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Eine andere Geschichte Spaniens: Schlüsselgestalten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412525590, 9783412525576

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Birgit Aschmann/Klaus Herbers

Eine andere Geschichte Spaniens Schlüsselgestalten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

Böhlau Verlag Wien Köln



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Korrektorat: Vera M. Schirl Satz: Bettina Waringer, Wien

ISBN 978-3-412-52559-0



Inhalt

Zur Einführung 9

KLAUS HERBERS: SCHLÜSSELGESTALTEN DES MITTELALTERS

1. Isidor von Sevilla († 636) Prägungen des Westgotenreiches

19

2. Eulogius, „Märtyrer von Córdoba“ († 859) „Mozarabischer“ Christ unter muslimischer Herrschaft

41

3. Al-Manṣūr († 1002) Ein Aufsteiger im neuen Kalifat von Córdoba

55

4. Rodrigo Díaz de Vivar, der Cid († 1099) Kastiliens ritterliche Zierde

75

5. Urraca († 1126) Erste Königin aus Geburtsrecht zur Zeit der „Europäisierung“

94

6. Maimonides († 1204) Wandler zwischen den Welten

107

7. Dominikus Guzmán († 1221) Studium – Predigt – Armut

124

8. Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284) Wissen und Macht

143

9. Raimundus Lullus († 1316) Religionsdialoge im Mittelmeerraum?

158

BIRGIT ASCHMANN: SCHLÜSSELGESTALTEN DER NEUZEIT

10. Isabella I. (1451–1504) Die Löwen-Königin und der Aufstieg Spaniens zur Weltmacht

179

11. Philipp II. (1527–1598) Spaniens umstrittenster König

212

12. Teresa von Ávila (1515–1582) Gender, Körper und Emotionen im Ringen mit Gott und der Welt

241

13. Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares (1587–1645) Vom Aufstieg und Fall des „Günstlings“ Philipps IV.

263

14. Francisco de Goya (1746–1828) Der erste politische Maler der Moderne

287

15. Isabella II. (1830–1904) Das Scheitern der konstitutionellen Monarchie

307

16. José Ortega y Gasset (1883–1955) Ein spanischer Intellektueller und die europäische Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts

332

17. Francisco Franco (1892–1975) Der Caudillo und seine chamäleonhafte Diktatur

355

18. Dolores Ibárruri (1895–1989) La Pasionaria: Die wortmächtigste Kommunistin Europas

379

Karten 401 Abbildungsnachweis 409



Zur Einführung

„Spain is different“ behauptete die spanische Tourismusindustrie in den 1950er Jahren. Galt die vermeintliche Fremdheit Spaniens lange als Stigma, so gelang es der franquistischen Regierung jetzt, das Diktum zum Marketingschlager umzucodieren. Mit Bildern von Stierkämpfen oder Flamencotänzerinnen warben Plakate für die kulturelle Exotik des Landes jenseits der Pyrenäen. Der Erfolg blieb nicht aus. Seit Beginn der Ära des Massentourismus in den 1960er Jahren reisen jährlich Millionen sonnenhungrige Europäer an die spanischen Strände, kulturbeflissene Bildungsbürger zieht es in Städte wie Madrid oder Barcelona mit ihren Museen, Pilger nach Santiago de Compostela – unterbrochen nur von der Coronapandemie 2020/2021. Dass Europa an den Pyrenäen ende und südlich dieser Gebirgskette Afrika beginne, glaubt heute – anders als im 19. Jahrhundert – niemand mehr. Doch halten sich manch oberflächliche Vorstellungen über Spanien schon deshalb, weil es um das allgemeine Wissen über die Geschichte des Landes nicht gut bestellt ist. Genau hier möchte das vorliegende Buch ansetzen. Wir, die wir inzwischen über Jahrzehnte zur Geschichte Spaniens geforscht und gelehrt haben, möchten unsere Faszination für dieses Land mit einem breiteren Publikum teilen. Studierende, Lehrende und allgemein an der spanischen Geschichte Interessierte können aus einer anderen, nämlich einer biographischen Perspektive heraus mehr über die Historie des Landes erfahren. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist dabei besonders reizvoll, weil erstens eine besondere Vielfalt begegnet, weil zweitens manches fremd und exotisch anmutet, weil sich drittens aber doch zahlreiche Verbindungen in den europäischen Raum ergeben und viertens, weil auch chronologisch lange Verbindungslinien erkennbar werden, die sich bis in die konfliktreiche Gegenwart weiterverfolgen lassen. Dies zu entdecken, macht nicht nur die Beschäftigung mit der Vergangenheit zu einem spannenden und lehrreichen Vergnügen, sondern hilft in mancherlei Hinsicht auch, das heutige Spanien besser zu verstehen. Allerdings haben wir uns entschlossen, gerade keine systematische, chronologisch lückenlose Abhandlung der spanischen Geschichte seit dem Mittelalter vorzulegen. Vielmehr soll der Reichtum der Geschichte Spaniens durch die Fokussierung auf achtzehn „Schlüsselgestalten“ verdeutlicht werden, die je zur

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Hälfte im Mittelalter und in der Neuzeit gelebt haben. Dieses Vorgehen war ein Abenteuer, und es wäre unredlich zu verschweigen, dass wir es uns anfangs einfacher vorstellten, als es dann tatsächlich war. Aber die Präsentation einer rund 1300 Jahre langen Geschichte am Beispiel einiger ausgewählter Biographien war durchaus eine Herausforderung, angefangen von der Auswahl der porträtierten Personen bis hin eben zu dem immensen Zeitraum, der hier abgedeckt wird: vom 7. bis zum späten 20. Jahrhundert. Bei der Lektüre dürfte schnell deutlich werden, dass die Akteure, die hier näher vorgestellt werden, nicht alleine von ihrer Heimat geprägt, sondern eng in die Geschichte Europas oder der Meerenge von Gibraltar eingebunden waren. Überdies machte ihr Einfluss oft nicht an den Grenzen des europäischen Kontinents Halt. Schon im Mittelalter lässt sich ein Expansionsstreben erkennen, das sich zunächst auf das islamische Afrika und den Mittelmeerraum konzentrierte, bis dann seit den „Entdeckungen“ von Kolumbus das Imperium um lateinamerikanische und schließlich auch asiatische Besitzungen erweitert wurde. Insbesondere die frühneuzeitliche Geschichte Spaniens, also die Epoche vom frühen 15. bis zum späten 18. Jahrhundert, ist durch eine starke globale Dimension gekennzeichnet. Gleichwohl stehen in diesem Buch die Ereignisse auf der Iberischen Halbinsel im Vordergrund, ohne dass der globale Kontext und die europäischen Verflechtungen darüber vergessen werden könnten. Vorzugsweise orientieren wir uns an dem, was die Historiographie den „nationalen Pfad“ genannt hat – also an den Besonderheiten der jeweiligen Herrschaftsgebilde, aus denen dann im 19. Jahrhundert die „Nationen“ hervorgingen. Einige dieser Charakteristika auf dem langen Weg vom Mittelalter zur Neuzeit seien kurz skizziert. Zu den Merkmalen, die die spanische Geschichte so spannend machen, gehört fraglos die religiös-politische Vielfalt. So wurden die christlichen Westgotenherrscher seit dem 8. Jahrhundert von islamischen Machthabern verdrängt, deren Truppen 711 die Meeresenge von Gibraltar überquert und sich schnell bis in den Norden Spaniens ausgebreitet hatten. Da schon bald eine – sehr viel später erst so genannte – „Reconquista“ einsetzte, also die Rückeroberung der Territorien durch christliche Heere aus dem Norden der Halbinsel, war die Grenze zwischen christlich und islamisch beherrschten Gebieten eine fließende. Religiös und politisch homogen waren die jeweiligen Territorien nie: Zum einen gab es überall religiöse Minderheiten, also Christen im islamisch und Muslime im christlich regierten Terrain. Hinzu kam ein signifikanter Anteil jüdischer Einwohner. Phasen bemerkenswerter interreligiöser Kooperation, die mit dem Begriff der „convivencia“ bezeichnet werden, lösten

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sich ab mit Phasen des Zusammenpralls, der harten Kollision. Debatten, ob das „spanische Sein“ durch die „convivencia“ oder eher durch Konfrontation und Kampf geprägt sei, laufen schon deshalb ins Leere, weil je nach Konstellation und Zeit mal das eine und mal das andere dominierte. In der Frühen Neuzeit entstand dann unter den Katholischen Königen eine Homogenisierungs- und Zentralisierungsdynamik, die sich mit religiöser Vielfalt nicht vertrug. Zwangstaufen, Ausweisungen, Vertreibungen, Deportationen und Inquisition waren die Mittel, die zur Durchsetzung der christlichen Einheitsvorstellung zum Einsatz kamen. Zudem entwickelten die spanischen Könige ein – auch religiös motiviertes – Superioritätsdenken und wollten die geographisch extreme Ausdehnung ihres Herrschaftsgebiets zur Durchsetzung katholischer Suprematie nutzen. Doch die Versuche der spanischen Habsburger, eine katholische Universalmonarchie zu errichten, scheiterten – und mit ihnen letztlich die Großmachtstellung Spaniens. Die zahlreichen Kriege, die die Könige zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche glaubten führen zu müssen, ruinierten die Ressourcen der spanischen Weltmacht. Seit dem 17. Jahrhundert kamen ihr immer mehr Territorien und damit auch der Einfluss in Europa abhanden. Dabei hatten die spanischen Herrscher nicht nur mit den Begehrlichkeiten auswärtiger Konkurrenten zu kämpfen, die ihnen unter anderem die Besitzungen in Italien streitig machten. Vielmehr führte nicht zuletzt das auswärtige Engagement immer wieder zu Unruhen innerhalb des Landes. Zu den als „Bürgerkriege“ bezeichneten bewaffneten Konflikten der Monarchen mit revoltierenden Gruppen des Adels und des Bürgertums kamen territoriale Auseinandersetzungen hinzu. So löste sich im 12. Jahrhundert Portugal aus dem kastilisch-leonesischen Zugriff, und die nördlichen Niederlande gingen nach einem achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieg im 17. Jahrhundert verloren; Katalonien hingegen schied 1640 „nur“ für zwölf Jahre aus dem spanischen Staatsverband aus. Im 19. Jahrhundert wurde der weltpolitische Niedergang Spaniens besiegelt: Nachdem sich schon zu Beginn des Säkulums die meisten lateinamerikanischen Gebiete für unabhängig erklärt hatten, verlor Spanien 1898 mit Kuba, Puerto Rico und den Philippinen die letzten Reste des einstigen Weltreichs. Die nun einsetzenden Debatten über die spanische Identität waren von einer Polarisierung gekennzeichnet, die sich aus den divergierenden politischen Lagern seit dem 19. Jahrhundert heraus entwickelt hatte. So standen sich seit der Ausarbeitung der progressiven Verfassung von 1812 „Liberale“ und „Konservative“ immer wieder gegenüber. Im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts prägte sich

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weniger eine Kompromissfähigkeit zwischen den Lagern als vielmehr die Bereitschaft aus, Konflikte immer wieder auch gewaltsam auszutragen. In den drei sogenannten Karlistenkriegen des 19. Jahrhunderts standen sich Absolutisten und Konstitutionalisten gegenüber. Der Spanische Bürgerkrieg, der von 1936 bis 1939 dauerte, stand damit in einer längeren Tradition – auch was die internationale Beteiligung betraf. Die „Linke“ mobilisierte internationale Aufmerksamkeit durch die Bezeichnung der Gegner als „Faschisten“, diese wiederum riefen zum Kampf gegen die „Kommunisten“ auf – auch wenn die Zuschreibung der Heterogenität des „linken“ Lagers ebensowenig gerecht wurde wie der „Faschismus“ als Etikett für das „rechte“. Doch half der Antikommunismus General Francisco Franco dabei, den Systembruch nach 1945 zu überstehen und bis zum Tod im Krankenbett 1975 Spanien als Diktator zu regieren. Das Land folgte in all diesen Jahrhunderten einem eigenen „nationalen Pfad“ – und war doch mit der europäischen Geschichte verflochten. Diese hier nur mit wenigen Strichen umrissene Geschichte Spaniens ist in ihren politischen und sozialgeschichtlichen Dimensionen in einigen leicht zugänglichen Überblickswerken nachzulesen, die auch mit Gewinn begleitend konsultiert werden können. Einige Vorschläge finden sich bei den Hinweisen zur weiterführenden Lektüre. Durch einige Karten wollen wir zudem helfen, die Personen auch räumlich zu situieren. Was in den meist strukturgeschichtlich angelegten Darstellungen fehlt, ist genau das, was dieses Buch leisten möchte: die Betonung des individuellen Faktors, also der Bedeutung einzelner Persönlichkeiten. Längst hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es nicht zuletzt Individuen sind, deren Entscheidungen die Geschichte maßgeblich beeinflussen oder in deren Vita sich die zentralen Knotenpunkte einer Zeit besonders prägnant wiederfinden. Natürlich gilt es, diese Personen in strukturelle Rahmenbedingungen einzubetten. Aber das Gewicht verschiebt sich in unserer Darstellung von der Struktur hin zum Individuum. Das hat den Vorteil, dass „Geschichten“ ein Stück weit leichter „erzählt“ werden können – ohne dass der Anspruch aufgegeben wird, Zusammenhänge „zu erklären“. Der allgemeine Buchmarkt hat schon lange das breite Interesse an den Erzählungen von Einzelschicksalen aufgegriffen. Aber auch in der Historiographie selbst hat sich inzwischen ein bemerkenswert starker Trend biographischen Schreibens etabliert. So gibt es auch über viele der hier porträtierten Persönlichkeiten inzwi-

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schen wissenschaftlich valide Biographien, wenn auch oftmals nicht in deutscher Sprache, auf die in den jeweiligen Skizzen verwiesen wird. Uns ging es darum, mit dieser Zusammenstellung einerseits einem deutschsprachigen Publikum einen leichten und schnellen Zugang zu diesen Persönlichkeiten zu ermöglichen und andererseits die lange Geschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert eben einmal anders zu erzählen. Damit verbunden ist ein Bekenntnis zum Fragmentarischen: Ein solcher Zugang kann nicht vollständig sein. Ganz im Gegenteil macht er eine Auswahlerforderlich, die letztlich immer kritikwürdig bleiben wird. Warum wird Al Manṣūr behandelt, nicht aber ʿAbd ar-Raḥmān III.? Warum Isabella I., nicht aber Kolumbus? Warum Teresa von Ávila, aber nicht Cervantes? Warum Dolores Ibárruri, nicht aber Lluis Companys? Unserer Auswahl lag zunächst der Wunsch zugrunde, die gesamte Zeitspanne vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert abzudecken. Zudem sollten nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur Könige und Staatslenker, sondern auch Repräsentanten des religiösen und geistigen Lebens und keinesfalls nur einzelne Regionen berücksichtigt werden. Jedem Kenner der spanischen Geschichte würden auf Anhieb zahlreiche Personen einfallen, die es nicht weniger verdient hätten, in eine Sammlung wie die unsere aufgenommen zu werden. Aber schon mit unserer Auswahl kamen wir an die Grenzen des Umfangs, der für ein solches Buch ratsam ist. So trösten wir uns mit der Hoffnung, diesem Band dereinst einen zweiten hinzuzugesellen, mit dem wir weiteren Schlüsselgestalten Gerechtigkeit widerfahren lassen und einige Ungleichgewichte ausbalancieren könnten. Sich auf einzelne „Schlüsselgestalten“ zu konzentrieren, heißt, sich auf „Probebohrungen“ zu beschränken, auf individuelle Sonden, mit deren Hilfe Gesellschaft, Politik und Kultur der Zeit „aufgeschlüsselt“, also verständlich gemacht werden können. Gerade dieser Anspruch aber macht biographische Studien zu einem anspruchsvollen Vorhaben, zumal das Projekt auf den Schultern von nur zwei Autoren ruht, die sich zwangsläufig auch mit Kontexten auseinandersetzen müssen, die etwas abseits ihres sonstigen Forschungsinteresses liegen. Nicht nur deshalb fallen Unterschiede zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Teil ins Auge, schließlich sollten bei einem Zugang über einzelne Individuen auch die individuellen Unterschiede zwischen den Autoren nicht durch redaktionelle Eingriffe unkenntlich gemacht werden. Dazu treten natürlich auch die jeweiligen Voraussetzungen, beispielsweise die Verfügbarkeit von ins Deutsche übersetzten Quellen. So ist unser Band nicht nur ein Bekenntnis zur

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Fragmentarität der Historie, sondern auch zur Verschiedenheit historiographischer Stile. Die ersten neun Kapitel werden entsprechend von Klaus Herbers, die folgenden von Birgit Aschmann verantwortet. Da das Buch für ein breiteres Publikum gedacht ist, wurde auf einen umfangreichen Anmerkungsapparat verzichtet. Weil sich das Projekt im Laufe vieler Jahre entwickelte, erklärt sich das zuweilen variierende Ausmaß an Belegen, war doch zwischenzeitlich sogar daran gedacht, gänzlich von Endnoten abzusehen. Am Ende jeden Kapitels finden sich jetzt Literaturhinweise, die eine weiterführende Lektüre ermöglichen. In dieser Liste werden ausschließlich Titel angeführt, die nicht bereits in den Anmerkungen erwähnt wurden. Das Buch hat eine lange Entstehungsgeschichte. Dass es überhaupt erscheint, liegt nicht zuletzt an dem Beharrungsvermögen von Kirsti Doepner und ihrem Team vom Böhlau Verlag Köln. Sie haben mit großer Geduld auf unsere individuellen Wünsche mit Blick auf Seitenlänge und Bildauswahl reagiert und mit großem Aufwand die notwendige druckgraphische Homogenität des Gesamttextes hergestellt. Zudem hat das Projekt über Jahre Hilfskräfte an unseren Lehrstühlen beschäftigt. Daher geht in Berlin ein besonderer Dank an Britt Schlünz, Lea ­Frese-Renner, Sophia Freitag, Leon Ludloff und insbesondere Viviane Tecklenburg. In Erlangen halfen in der Abschlussphase Linus Schreiber, Johannes Gebhardt und vor allem Clara Hoeß, denen hier herzlich gedankt sei. Für die Hilfe bei der Transkription der arabischen Namen danken wir Dr. Petra Schmidl, Erlangen. Am Ende bleibt zu hoffen, dass dieses Buch Leserinnen und Leser findet, die dadurch angeregt werden, sich intensiver mit der faszinierenden Geschichte Spaniens und ihren Akteuren zu beschäftigen. Es dürfte sich dann der Eindruck verfestigen, dass Spanien die Vielfalt der Geschichte Europas maßgeblich bereichert hat – ohne so „different“ gewesen zu sein, wie es die Verächter oder Apologeten einer vermeintlichen spanischen Exotik immer wieder behauptet haben. Wenn wir von einer „anderen Geschichte Spaniens“ sprechen, dann nur insofern, als diese Geschichte einmal anders erzählt werden soll – eben entlang von einzelnen „Schlüsselgestalten“.

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Weiterführende Literatur Álvarez Junco, José/Shubert, Adrian (Hg.): Spanish History since 1808, London 2002. Bernecker, Walther L.: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010. Bernecker, Walther L.: Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert: vom Ancien Régime zur parlamentarischen Monarchie, Frankfurt a. M. 1990. Bernecker, Walther L.: Spanische Geschichte. Von der Reconquista bis heute, Darmstadt 2002. Bernecker, Walther/Pietschmann, Horst: Geschichte Spaniens. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 5. Aufl. 2005. Carr, Raymond: Spain. A History, Oxford 2000. Esdaile, Charles: Spain in the Liberal Age. From Constitution to Civil War 1808–1939, Oxford 2000. Fontana, Josep/Villares, Ramón (Hg.): Historia de España, 12 Bde., Barcelona 2009–2013. Fusi, Juan Pablo/Palafox, Jordi: España 1808–1996. El desafío de la modernidad, Madrid 1997. Herbers, Klaus: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006. Jover Zamora, José María/Gómez-Ferrer Morant, Guadalupe/Fusi, Juan Pablo: España. Sociedad, política y civilización (siglos XIX y XX), Madrid 2007. Kamen, Henry: Imagining Spain. Historical Myth and National Identity, London/New Haven 2008. Ruhl, Klaus-Jörg: Spanien. Portugal. Die Geschichte Spaniens und Portugals zum Nachschlagen, Freiburg i. Br. 4. Aufl. 1998. Schmidt, Peer (Hg.): Kleine Geschichte Spaniens, Bonn 3. Aufl. 2005. Vincent, Mary: Spain 1833–2002. People and State, Oxford 2007.

Klaus Herbers:

SCHLÜSSELGESTALTEN DES MITTELALTERS

1. Isidor von Sevilla († 636) Prägungen des Westgotenreiches

An Etiketten für Isidor herrscht kein Mangel: Isidor gilt als Übermittler antiken Wissens an den lateinisch-christlichen Westen, als Autor und Kirchenlehrer, als Gestalter der römisch-lateinischen Kirchenordnung gegen den Arianismus im westgotischen Reich, ja sogar neuerdings als Patron des Internets. So lauten einige gängige Charakterisierungen des Bischofs und Gelehrten. Weitere Stichwörter könnten leicht gefunden werden. Aber inwiefern war Isidor eine Schlüsselgestalt für die Iberische Halbinsel? Dazu ist es nötig, nicht nur die Bedeutung Isidors im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter allgemein zu skizzieren, sondern auch seine spezifische Rolle im spanischen Westgotenreich samt der Nachwirkung zu würdigen, die freilich nicht nur Spanien, sondern ganz Europa betraf.

Rahmenbedingungen: von der römischen Hispania zum Westgotenreich

Gab es Spanien zu Isidors Zeiten überhaupt? Oder war die Hispania noch – wenn auch in anderer Form – eher eine Provinz des römischen Reiches, zu der sie die Römer verstärkt seit der Zeit des Augustus (27 vor Chr.–14 nach Chr.) gemacht hatten? Es hatte lange gedauert, bis sich römische Einflüsse, die vom Mittelmeerraum ausgingen, auf der Iberischen Halbinsel ausbreiten konnten. Auf der Meseta hatten sich Lusitanier und andere Völker den Römern entgegengestellt. Im Süden war dagegen Sevilla, das in der Antike und später in der lateinischen Bezeichnung Hispalis genannt wurde, schon 206 vor Christus der römischen Herrschaft unterworfen worden. Im Norden und Westen konnte die römische Herrschaft – wenn auch nur teilweise – erst in der Zeit des Augustus durchgesetzt werden. Ortsnamen wie Asturica Augusta (Astorga), Caesaraugusta (Zaragoza), Bracara Augusta (Braga), Emerita Augusta (Mérida), Lucus Augusti (Lugo) verdeutlichen dies. Flussläufe und Küstennähe begünstigten römische Eroberungen. Blickt man auf die Möglichkeiten des Austausches, so war Sevilla in der Spätantike besonders vorteilhaft in das Kommunikationssystem des Mittelmeeres einbezogen.

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Isidor von Sevilla († 636)

Im 5. Jahrhundert drangen in diese römischen Provinzen Völkerschaften ein, die langfristig romanisch-iberische Traditionen überlagern sollten. Es waren im Wesentlichen Sueben und Westgoten. Die Westgoten hatten sich dem Christentum zugewandt. Sie nahmen aber nicht wie die meisten Römer den römisch-katholischen Glauben an, sondern bekannten sich zum sogenannten Arianismus (besser: zum homöischen Bekenntnis). Nach der zunächst von Arios († 336) propagierten und nach ihm benannten Lehre sei Jesus ein Geschöpf aus dem Nichts. Schon das Konzil von Nicäa (325) hatte mit der Bekräftigung der Dreifaltigkeitslehre Arios als Häretiker verurteilt, aber die ihm zugeschriebenen Positionen verbreiteten sich gleichwohl weiter. Der Weg der Westgoten aus oströmischen Gebieten bis nach Südwestfrankreich war lang. Schließlich begründeten sie in Südfrankreich mit Toulouse als Mittelpunkt eines der wichtigsten und blühendsten Reiche der sogenannten Völkerwanderungszeit (418–507). Der Westgotenkönig Alarich II. (485–507) unterlag jedoch 507 den Truppen des inzwischen erstarkten merowingischen Frankenherrschers Chlodwig († 511). Danach verlagerte sich der Schwerpunkt des Westgotenreiches an die gallische Mittelmeerküste und nach Spanien. Erst seitdem lässt man die Zeit des „spanischen“ Westgotenreichs beginnen, das unter anderem bis 585 die suebische Herrschaft im Nordwesten noch nicht einschloss (Karte 1). Was im 6. Jahrhundert Braga als geistiges Zentrum für das Suebenreich bedeutete, waren Sevilla (Hispalis) und Toledo (Toletum) für das Westgotenreich. Mit Sevilla sind die Namen der beiden Brüder und Metropoliten dieser Stadt, Leander und Isidor, verbunden. Schon bei Leander († 13. März, wohl 600), dem älteren Bruder, zeigt der Lebensweg, aus welchen Wurzeln sich das geistig-geistliche Leben der südlichen Hispania am Ende des 6. Jahrhunderts noch speiste. Den Aktionsraum, die alte Baetica, hat Jacques Fontaine als „carrefour ancien de civilisations“ bezeichnet.1 Diese Gegend, die schon die Phönizier der Metalle wegen aufgesucht hatten, profitierte als Provinz Hispania ulterior nach dem Zweiten Punischen Krieg (206 vor Chr.) weiterhin von den Strukturen, welche die Punier um das neue Karthago (Carthago nova, heute Cartagena) herum aufgebaut hatten. Wichtigster Ort wurde Hispalis, das heutige Sevilla. Sevillaner wollen ihre Gründung heute noch Herkules zuschreiben, aber das ist unsicher. Vom Wort her bietet sich eine andere Erklärung an: Die Silbe „spl“ stammt aus dem Semitischen und heißt so viel wie „beladen“. Sevilla war also eher ein wichtiger Hafen und Umschlagplatz. Außerdem bestand die Tradition eines mythischen Helden namens Hispalus oder Hispalos. Um auf das Werk Isidors vor-

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zugreifen: Mit seiner Vorliebe für antike Gründergestalten schlug er den Bogen zur Hispania: Die Hispania habe früher Iberia geheißen, vom Namen des Flusses Ebro (Iberus), danach habe man sie Hispania genannt nach Hispalus. Dies sei die wahre Hesperia, die nach dem westlichen Stern benannt ist” 2 Die Punische Zeit, die Bedeutung Sevillas als Hafen sowie weitere Aspekte machen es wahrscheinlich, dass die Iberische Halbinsel von Nordafrika aus christianisiert wurde. Erst im Laufe des 5. Jahrhunderts drangen mit den Westgoten auch arianische Glaubensvorstellungen in den Süden Spaniens ein. Dies führte jedoch nicht dazu, dass spätantike oder provinzialrömische Traditionen abrissen. Nach 507 wurden zunehmend Narbonne, Barcelona und andere Städte wichtig, bis sich Ende des 6. Jahrhunderts der Schwerpunkt westgotischer Herrschaft weiter nach Süden (Sevilla), später nach Toledo verlagerte. Wie die Karte (1) erkennen lässt, standen zudem Teile der südlichen Mittelmeerküste seit den Rekuperationen Kaiser Justinians (527–565) unter oströmisch-byzantinischer Herrschaft. Neue Orientierungen verbanden sich mit den Königen Leovigild (571/72–586) und Rekkared (568–601). Die großen Veränderungen dieser Zeit bezeugen Isidor und sein älterer Bruder Leander.

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Die familiäre Situation Isidors ist aufschlussreich, weil sie die herrschaftliche Gemengelage der Iberischen Halbinsel erkennen lässt. In seinem Werk De viris illustribus charakterisierte Isidor im Rahmen seiner kurzen Biogramme auch seinen Bruder Leander: Demnach stammten Leander und Isidor von einem Vater namens Severianus aus der Gegend von Cartagna ab. Der römisch bestimmte Name des Vaters zeigt, dass die Familie zur romanischen Bevölkerungsgruppe gehörte. Der monastisch ausgerichtete Leander wurde Bischof und in der kurzen Notiz auch seiner persönlichen Qualitäten wegen (Beredsamkeit, Begabung und Klarheit in den Glaubensvorstellungen) für den Übertritt der arianischen Goten zum Katholizismus verantwortlich gemacht.3 Nach dem frühen Tod der Eltern wurde der älteste Sohn, Leander, zum Erzieher und Tutor der jüngeren Geschwister, Fulgentius (später Bischof von Écija, † 630), Florentina († ca. 612) und Isidor (Abb. 1). Leander und Isidor entstammten also einer vornehmen romanisierten katholischen Familie in Cartagena. Für seine Schwester Florentina, die sich später dem religiösen Leben als Nonne widmete, schrieb Leander einen langen Brief, der im 31. Kapitel auf die

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Isidor von Sevilla († 636) Abb. 1: Fulgentius übergibt seiner (und auch Isidors) Schwester Florentina einen Codex, wie eine Miniatur in der Handschrift aus Laon erkennen lässt.

Vertreibung eingeht und das Schicksal der Familie in biblische Worte kleidet.4 Mit den Fremden, die Leander in seinem Brief nennt, meinte er vielleicht die Byzantiner. Somit könnte die Familie zur Zeit der byzantinischen Herrschaft aus Cartagena ausgewiesen worden sein, um sich sodann im stärker westgotisch bestimmten Sevilla niederzulassen. Dieses politische Kräftefeld, das zwar den Kontakt zum Osten des Mittelmeeres verstärkte, zeitigte durchaus Folgen im Inneren, wie das Familienschicksal verdeutlicht. Dies betraf auch Fragen der katholischen Lehre. Eine von Leander geleitete Legation nach Konstantinopel zielte wahrscheinlich darauf ab, den Beistand des Kaisers in Glaubensfragen zu erlangen. Seit dem Aufenthalt in Konstantinopel (etwa 580) war der Sevillaner Erzbischof mit dem späteren Papst Gregor I. (590–604) befreundet. Die Glaubensauseinandersetzungen aber reichten bis in die Königsfamilie auf der Iberischen Halbinsel.

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Die praktischen Probleme der zwei Bekenntnisse waren vielfältig: Fragen der Integration, Eherecht und Mischehen, konkurrierende kirchliche Hierarchien, und sogar Fragen im weltlichen Recht. Dem versuchte König Leovigild durch eine Lösung aus „arianischer Sicht“ zu begegnen: Das 580 zusammengerufene Konzil von Toledo beschloss Konzessionen, um den Übertritt der Katholiken zum Arianismus zu erleichtern. Wie problematisch es aber war, mit einem abgemilderten Arianismus Einheit zu erreichen, zeigte nicht nur die Rebellion von Leovigilds ältestem Sohn Hermenegild († 585), der für die katholische Position stritt. Deshalb ist die Bedeutung Leanders für einen zweiten Versuch der Annäherung kaum zu überschätzen, denn nach dem Herrschaftsbeginn Rekkareds I. (586) bereitete Leander umgekehrt den Übertritt der Westgoten zum römischkatholischen Bekenntnis vor und plante das dritte Konzil von Toledo (589). Die Unterschriftenliste der Konzilsakten konnte jüngst durch Neufunde erweitert werden. Johannes von Biclaro († um 620) berichtete später: Die heilige Synode der Bischöfe von ganz Spanien, Gallien und Galicien tritt in einer Zahl von 72 Bischöfen auf Geheiß des Königs Rekkared in der Stadt Toledo zusammen. An dieser Synode nahm der berühmte allerchristlichste Rekkared teil, der den Bischöfen den Vollzug seines Übertritts darlegte und die von ihm eigenhändig in einem Band niedergeschriebene Glaubenserklärung aller Priester und des gotischen Volkes sowie die orthodoxe Bekenntnisformel und alles damit Verbundene vorzeigte. Die heilige Synode der Bischöfe nahm dies zur Kenntnis und beschloss, den Inhalt des Bandes in die Reihe der Kanones aufzunehmen. Die Leitung der gesamten synodalen Beratungen lag bei Leander, dem Bischof der Kirche von Hispalis (Sevilla) und dem seligen Eutropius, Abt des Klosters Servitanum.5

Die 23 erlassenen Kanones bedeuteten ein Reformprogramm. Der 18. Kanon sah sogar eine enge Zusammenarbeit zwischen weltlichen und kirchlichen Autoritäten in fiskalischen Fragen vor.6 Demnach sollte es nun sogar den Bischöfen erlaubt sein, die lokalen Magnaten und Statthalter zu kontrollieren. Eine solche Zusammenarbeit sollte Isidor 44 Jahre später auf dem vierten Konzil von Toledo weiterentwickeln, beschlossen wurde die Synode mit einer flammenden Rede Leanders. Für die neue Einheit von Kirche und Gotenherrschaft bemühte Leander das Bild einer Ehe, mit biblischen und weiteren Zitaten hob er die Einheit wie ein zweites Pfingstwunder hervor. In den langfristigen Erfolgen und in der Wegbereitung liegt die politische Bedeutung Leanders, der auch mit dem geschriebenen Wort in die Diskussion

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Isidor von Sevilla († 636)

eingriff. Unter seinen Schriften findet sich eine wirkmächtige Nonnenregel, die er an seine Schwester Florentina richtete. Damit steht er mit Martin von Braga († um 580), Fructuosus von Braga († um 665) oder später mit seinem Bruder Isidor in der großen Reihe der Theoretiker zum männlichen und weiblichen Religiosentum, deren Regelwerke bis ins 11. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel dominierten. Zwei Bücher gegen die arianische Häresie verfasste Leander wohl während seines Aufenthaltes in Konstantinopel. Insofern verkörperte bereits Leander die Strömungen seiner Zeit. Mit Schriften und Taten machte er deutlich, dass weder mit Fortschreibung und Autonomiestreben der hispano-romanischen Oberschicht der Baetica, noch mit den Auseinandersetzungen, Erbfolgefragen und Usurpationen der Gotenherrscher, noch mit den Byzantinern allein eine Zukunft für die Iberische Halbinsel entworfen werden könne. Isidor, sein jüngerer Bruder, konnte von Leander jahrelang lernen, wie notwendig es war, eine neue Hispania zu konzipieren, die das vereinte westgotische Reich mit dem Erbe aus antiken und aus christlichen Traditionen zusammenbrachte.

In familiären Traditionen: Isidors politisches Wirken als Erzbischof von Sevilla

Noch bekannter als Leander wurde Isidor, der um 600 als Nachfolger seines Bruders Metropolit von Sevilla wurde und ihn nicht nur mit seiner literarischen Hinterlassenschaft überragte. Auch ihn stellt sein Bruder Leander in dem schon erwähnten Brief an seine Schwester Florentina mit der Bitte vor, sie solle den jungen Bruder Isidor in ihre Gebete einschließen. Die Quellen, um ein Lebensbild Isidors zu entwerfen, bleiben aber kompliziert. Zwar lassen sich aus den Schriften Isidors oder zeitgenössisch entstandenen Konzilsbeschlüssen einige Leitlinien ablesen, wichtiger sind aber Briefe, die zumindest auch Umrisse der Person erkennen lassen. Zahlreiche Quellen konstruierten jedoch erst nach der Übertragung seiner Gebeine nach León (1063/64) aus der Rückschau ein kohärentes, aber vielleicht auch deshalb ganz anderes Bild Isidors. Isidor förderte bis zu seinem Tod die asketische und wissensmäßige Formung der Geistlichen und die Gründung entsprechender bischöflicher Schulen. Sein Vorsitz beim wichtigen vierten Reichskonzil zu Toledo (633) belegt seine zentrale Position im Westgotenreich, denn hier erfolgten zahlreiche kirchlich-politische Weichenstellungen, unter anderem zur Judenfrage oder zur Wahlmonarchie.

Isidors politisches Wirken als Erzbischof von Sevilla

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Die Tatsache, dass Isidor offensichtlich relativ problemlos seinem Bruder ins geistliche Amt und auf die Würde des Erzbischofssitzes von Sevilla folgte, mag darauf verweisen, dass so etwas in einer Familie aus der hispano-romanischen Oberschicht als „normal“ gelten konnte. Ähnlich wie es in Gallien oder Italien Klerikerdynastien gab, gehörten auch auf der Iberischen Halbinsel in der Spätantike und im frühen Mittelalter klerikale und politisch-soziale Aufgaben häufig zusammen. Bischöfe fungierten als Kontinuitätsträger an der Spitze der oft noch intakten Städte.7 Allerdings können wir uns dem konkreten Wirken Isidors für Sevilla allenfalls annähern, wenn wir aus seinen Schriften die Bemerkungen zum Bischofsamt kurz in den Blick rücken. Zwei seiner Schriften bieten knappe Hinweise: das dritte Buch der Sentenzen sowie Isidors Werk zu den kirchlichen Ämtern. Fasst man die verstreuten Charakterisierungen zusammen, so ergibt sich das Bild eines Bischofs, der – in Ableitung vom griechischen Wort „epískopos“ – eine Person war, die eine Kirche überwacht und für diese Verantwortung übernimmt. Sein heiligmäßiges Leben führte auch dazu, jede Ungerechtigkeit anzuprangern und Lösungen zu suchen. Ähnlich wie in anderen Gebieten der Christenheit entwickelte sich auch in Spanien eine Metropolitanstruktur. Die Bischöfe von Sevilla scheinen von Rom zu apostolischen Stellvertretern ernannt worden zu sein, bevor sie sich selbst als metropolitanus bezeichneten. In den Sententiae rechtfertigte Isidor die weltlichen Aufgaben der Bischöfe, stellte sie auch indirekt Personen gegenüber, die Spiritualität suchen, womit er vielleicht die Mönche meinte.8 Isidors Argumentation entsprach Äußerungen Papst Gregors des Großen, der ebenso die weltliche Fürsorge geistlicher Amtsträger verteidigte. Die Tätigkeiten, die auch Isidor als Bischof wahrnehmen musste, erschließen Konzilsbeschlüsse: Schutz der Freigelassenen, bischöfliche Rechtsprechung (episcopalis audientia), besonders für Kleriker, Überwachung bei der Spendung von Sakramenten, Kampagnen zur Evangelisierung und Bekämpfung heidnischer Bräuche (die im Übrigen in enger Zusammenarbeit mit der weltlichen Macht beschnitten werden sollten). Die Beschlüsse einer Provinzialsynode von Sevilla, die am 13. November 619 eröffnet wurde, verweisen auf diese Aufgaben. Die Abbildung im Codex Aemilianensis (Abb. 2) bietet einen interessanten Blick auf diese Versammlung. Links oben stehen drei Krieger mit Lanzen und Bogen. Sollen sie die Konzilsväter schützen, obwohl diese auch durch die Kirchen- oder Stadtmauern behütet werden? Der Zugang ist unten als sogenannter westgotischer Hufeisenbogen gestaltet, ein Bauelement, das wohl aus Byzanz auf die Iberische Halbinsel gelangte. Er ist heute noch an den erhaltenen westgoti-

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Isidor von Sevilla († 636) Abb. 2: Die Abbildung in einer Handschrift aus dem 10. Jahrhundert zeigt eine Provinzialsynode in Sevilla (619).

schen Kirchen dieser Zeit zu sehen und wurde unter muslimischer Herrschaft weiter ausgestaltet. Innerhalb der Mauern sieht man neun Bischöfe und zwölf Kleriker, die gemeinsam beraten. Darunter bietet die C-Initiale einen Fluss mit schwimmenden Fischen, der wohl den Guadalquivir darstellen soll. Innerhalb des C kann man lesen: „zweite Synode, die in der Stadt Hispalis abgehalten wurde, an den Iden des Novembers, zur Regierungszeit des glorreichsten Königs Sisebut, im Jahr der Ära 650 (= 619)“. In der rechten Spalte sind die Kapitel und ersten Teile der Synodalakten aufgezeichnet. Neben den sechs Bischöfen waren auch ein weltlicher Aufseher (?), Sisiclus, und ein Amtsträger der Fiskalverwaltung, Suanila, anwesend. Die Konzilsversammlung erörterte Konflikte:9 Der Bischof von Málaga berichtete darüber, dass nach einem Streit zwischen Byzantinern und westgotischen Königen Teile seiner Diözese verloren gegangen seien und verlangte ­Restitution. Ein zweiter Konflikt betraf den Bruder Isidors, Bischof Fulgentius

Politischer Berater und Begleiter der westgotischen Monarchie

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von Écija, und Honorius von Córdoba († ca. 633). Es ging um eine umstrittene Kirche, und Isidor entschied traditionell im Stil der hispano-römischen Senatoren nach römischem Recht. Das traditionsgebundene Handeln Isidors zeigte sich ebenso bei der Einschärfung von Vorschriften zur Hierarchie: Jeder solle seinen Rang einnehmen. Neben Diskussionen zum Mönchtum wurde ein Bischof verurteilt, der zu einer der in Südspanien syrisch bestimmten monophysitischen Gemeinschaften gehörte. Abgesehen von den theologischen Diskussionen geht hieraus hervor, dass in Sevilla offensichtlich eine größere Gruppe syrischer Händler lebte, die geistlichen Beistand besaßen. Isidor suchte aber nach der Einung von Arianern und Katholiken im Reich und vor allem in seiner Diözese keine weitere Spaltung aufkommen zu lassen. Das Bild, das die Konzilsakten vom Bischof und Bischofsamt Isidors bieten, erscheint relativ klar. Der Bischof stand in spätantiken Traditionen, nahm mit Bezug auf das römische Recht richterliche Aufgaben wahr, versuchte syrischen Einfluss zurückzudrängen und die verschiedenen Aufgaben des Klerus klar zu definieren. Beim Konzil waren Vertreter der weltlichen Macht anwesend, was die enge Zusammenarbeit unterstreicht. Wie politisch war Isidor aber im direkten Kontakt mit den westgotischen Königen?

Politischer Berater und Begleiter der westgotischen Monarchie

Als Erzbischof begleitete Isidor auch politische Entscheidungen und erschließt damit zugleich Herrscher und Politik dieser Zeit. Dazu können schon die Beschlüsse des bereits erwähnten Sevillaner Konzils von 619 zählen, die Nationalsynode von 633 in Toledo unterstreicht dies weiter. Persönliche Beziehungen pflegte Isidor zu verschiedenen Königen, besonders zu dem gelehrten Sisebut (612–621). Isidors Äußerungen zum Königsamt dürfen entsprechend als Bemerkungen mit durchaus aktuellen politischen Bezügen gelten. Zu Beginn von Isidors Erzbischofszeit regierte Liuva II. (601–603) nur anderthalb Jahre; sein Nachfolger, Witterich (603–610), kam durch Usurpation an die Macht, er ließ Liuva vor dem Todesurteil die rechte Hand abhauen. Diese Art von Thronwechseln war im Westgotenreich keine Ausnahme, und der merowingische Chronist, den als Pseudo-Fredegar zu bezeichnen man sich gewöhnt hat, spricht sogar von der gotischen Krankheit, dem morbus Gothorum. Wenn man so will, war dies wirklich ein Grundübel, denn die byzantinischen (552) wie auch die späteren muslimischen Eroberungen (711) profitierten jeweils von

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Isidor von Sevilla († 636)

der Konkurrenz zweier Thronprätendenten. Für Isidors Freund, Braulius von Zaragoza († 651), war Isidor nach so vielen Wirrungen in Spanien der Restaurator, der geistige Führung erkennen ließ, wie er in seiner Notiz zu den isidorianischen Werken über den Sevillaner Erzbischof schreibt: Ihn hat Gott nach einer in der letzten Zeit so häufig aufgetretenen Abtrünnigkeit Spaniens erweckt und der Entwicklung wie einen Stützbalken entgegengestellt […] übertragen wir jenen philosophischen Spruch auf ihn: ‚Als wir in unserer Stadt wie Fremde herumliefen und uns verirrten […] haben uns Deine Bücher gleichsam nach Hause geführt, […] Du hast uns das Alter unseres Vaterlandes (patria) eröffnet…10

Obwohl seit König Theudis (531–548) Toledo zunehmend zum Herrschaftsort wurde, behielt der Sevillaner Erzbischof Gewicht: Sevilla war Ort eines apostolischen Vikariates und stand in guten Beziehungen zu Rom, außerdem waren die Herrscher den Sevillanern seit der Zeit Leanders verbunden. Regelmäßige Besuche von Bischöfen und Metropoliten bei den Königen verschafften auch Isidor einen direkten Zugang. Offensichtlich kannte Isidor bereits König Rekkared gut, denn in Historia de regibus Gothorum widmete er diesem Herrscher in Kapitel 55 und 56 ein Portrait, das persönliche Vertrautheit vermuten lässt: „Er war nämlich sanft, mild, herausragend gütig […]“11 Diese und weitere Bemerkungen zum königlichen Charakter blieben zwar im Stil antik-mittelalterlicher Elogia und damit schematisch, aber die weiteren Informationen über Ausstattung der Kirchen, Beschenkung von Personen oder andere königliche Akte besaßen einen konkreten historischen Hintergrund. Die engsten Kontakte pflegte Isidor wohl mit König Sisebut, beide verband eine literarische Freundschaft. Vielleicht führte ihn diese Vertrautheit dazu, das 60. Kapitel von Historia de regibus Gothorum damit zu beginnen, dass er Sisebut vorwarf, er habe zu viele Juden mit Zwang zu einer Konversion gebracht: Zu Beginn seiner Herrschaft brachte er die Juden zum christlichen Glauben, dabei besaß er zwar großen Eifer, aber er handelte nicht gemäß seinem Wissen: Er zwang sie nämlich mit Gewalt dazu, obwohl er sie durch die Kraft des Glaubens hätte überzeugen müssen. Aber wie geschrieben steht: Es ist gleichgültig, ob durch Zufall oder durch die Wahrheit, solange nur Christus verkündet wird.12

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Abgesehen von den erkennbar kritischen Tönen lobte Isidor aber sodann einen Herrscher, der nicht nur literarisch gebildet, sondern auch in militärischen Dingen erfolgreich sei. Die Beziehungen zwischen König und Erzbischof lassen sich noch konkreter fassen, denn einige Briefe des Herrschers an Isidor sind erhalten. Außerdem waren Isidors Etymologien und sein Traktat über die Natur auch den Interessen des westgotischen Königs geschuldet. Diese Abhandlung ist Sisebut gewidmet und darin preist Isidor den Herrscher und empfiehlt ihm die Lektüre der dort beschriebenen Naturphänomene. Sisebut antwortete darauf mit einem Brief, genauer mit 61 Hexametern. Der König bewunderte, ja beneidete den Gelehrten, da Isidor sich anders als der König, der von täglichen Sorgen absorbiert sei, der Wissenschaft und dem Schreiben widmen könne.13 Die Kontakte zu den Königen blieben bestehen. Den Nachfolger Suinthila (621–631) lobte Isidor, weil er den Abzug der letzten Byzantiner bewerkstelligt habe und damit die Einheit des Reiches hergestellt sei, eine kontinuierliche Idee im Werk Isidors: „er bemächtigte sich als erster der Alleinherrschaft über ganz Spanien“.14 Allerdings übernahm am 26. März 631 Sisenand (631–636), ein westgotischer Magnat aus Narbonne, die Herrschaft. Mit fränkischer Unterstützung von König Dagobert I. (629–639) eroberte er Zaragoza. Wie sehr Isidor die geänderten politischen Verhältnisse umtrieben, verrät ein Briefwechsel mit Braulius von Zaragoza. Dessen Brief habe er nicht zu Ende lesen können, weil er an den Hof des Königs gerufen wurde, und bei seiner Rückkehr habe er die Dinge nicht mehr zusammengebracht, wie Isidor bekennt. Ein anderer Brief an seinen Freund Braulius, der vielleicht auch die Vorbereitung des vierten Konzils von Toledo betraf, beleuchtet gut das Verhältnis von kirchlicher und weltlicher Herrschaft. Isidor wollte offensichtlich auch in der Frage der Neubesetzung des Bischofsstuhles von Tarragona aktiv werden, musste aber gestehen, dass der König, obwohl unsicher, abweichend reagierte. Königlicher Einfluss war also nicht zu unterschätzen. Die Verschränkung kirchlicher und weltlicher Herrschaft dokumentieren vor allem die Konzilien. Das vierte Konzil von Toledo 633, das Isidor präsidierte und das wie kein anderes seinen Stempel trägt, verdeutlicht dies eindrücklich. Der Prolog deutet es an: Sisenand sei in Begleitung zahlreicher Großer in die Basilika der heiligen Leocadia († ca. 304) gekommen, habe sich zu Boden geworfen und die Synode ermahnt, die alten Konzilsbeschlüsse zu beachten, die Rechte der Kirche aufrechtzuerhalten und Missbräuche abzustellen.15 Dieses Szenario unterstreichen spätere bildliche Darstellungen.

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Isidor von Sevilla († 636) Abb. 3: Ein Bild in einer Handschrift des 10. Jahrhunderts zeigt die Hauptstadt Toledo der westgotischen Könige sowie Konzilsszenen.

Eine Abbildung des Codex Aemilianensis (Abb. 3) zeigt die Hauptstadt der westgotischen Könige. Eine bewehrte Stadtmauer mit vier Türmen ist im oberen Teil zu sehen. In den Zwischenräumen ist zu lesen. Civitas regia Toletana. Ob auf den Mauern Wachpersonal oder Schaulustige stehen, ist unklar. Im linken der beiden Bogen unten verweist die Beischrift Ianua urbis auf die Stadttore. Im zweiten Register darunter sind zwei Kirchen als diejenigen Mariens und Petri ausgezeichnet, dazwischen der Türsteher und Türschließer, der Ostiarius (niederste klerikale Weihestufe). Darunter empfängt ein Bischof, der wie ein König sitzt, drei Priester (?), dahinter fünf weitere Kleriker cum codicibus (Konzilsakten, Kanones?). Unten sieht man drei Zelte, die mit drei verschiedenen Worten be-

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Abb. 4: Die Darstellung zur Eröffnung eines Konzils stammt aus einer Handschrift des 10. Jahrhunderts.

zeichnet werden: tentoria, papilio, tabernaculum. Sie deuten auf die Unterbringung von königlichem oder bischöflichem Gefolge. Eine weitere Miniatur (Abb. 4) bietet ein im Detail etwas abweichendes Bild. Oben links erhebt sich ein Kirchenbau mit der Tür (ostium ecclesiae). Vielleicht ist St. Leocadia gemeint, denn dort fanden die wichtigen Konzilien statt. Rechts davon stehen drei Bischöfe, dahinter zwei Kleriker, von denen einer einen Schlüssel trägt. Darunter schreiten Kleriker auf den König zu mit den Zeichen ihrer Aufgaben: Schlüsselträger, Notar/Stenograph und ein Diakon mit einem Rechtsbuch. Darüber steht: ostiarius, notarius, diaconus cum canone. Die Bestimmungen (canones) des Konzils waren vielfältig:16 freie Wahl zwischen dreifacher oder einfacher Immersion bei der Taufe (can. 6), liturgische Bestimmungen besonders für die Fasten- und Osterzeit (can. 7–11). Hervorzuheben sind die Bemerkungen zur Apokalypse (can. 17): hier wird die Autorschaft Johannes des Evangelisten für die Apokalypse bestätigt und die Lektüre bzw. die Predigt darüber für die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten vorge-

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Isidor von Sevilla († 636)

schrieben. Ferner ging es um Weihetermine, Lebensformen der Kleriker und Bischöfe, deren Aufgaben und Einnahmen, um Kirchenbauten und Visitationen, Vorschriften dazu, was mit Frauen zu geschehen hat, die mit Klerikern zusammenleben (can. 19–48). Daneben wurde geregelt, welche Kenntnisse Kleriker mindestens erwerben müssen oder welche Bücher zu einer Grundausstattung gehören. Über das Mönchtum und die Lebensformen der Witwen handeln die Canones 49–56. Es schließen sich politisch brisante Bestimmungen an, welche die Juden betreffen und die in einem gewissen Gegensatz zu den Bemerkungen Isidors über die Haltung Sisebuts zu dieser Religionsgruppe stehen. Schon getauften Juden drohten nun drakonische Strafen, wenn sie ihre alten jüdischen Praktiken nicht ablegten. Jüdische Kinder können von ihren Eltern getrennt werden, Juden dürfen keine christlichen Sklaven beschäftigen. Es folgen weitere Bemerkungen über die Freigelassenen, denn so scharf auch gegen die Juden Stellung bezogen wurde, so energisch wurde von einem christlichen Standpunkt aus die Freiheit der Getauften gefordert. Die Bestimmungen zu den Juden griffen spätere Konzilien auf und verschärften sie sogar. Das letzte Kapitel der Konzilsbeschlüsse regelte vor allem Fragen des Wahlkönigtums und bemühte sich damit um stabile Nachfolgeverfahren.17 Das von Isidor dominierte Konzil 633 wurde prägend, denn es verkündete innerkirchliche Klarstellungen sowie zugleich politisch höchst wirksame Beschlüsse. Dies wirkte deshalb langfristig, weil die Bestimmungen zum Grundstock einer kirchlichen Rechtssammlung wurden, deren Abfassung Isidor vielleicht noch mit auf den Weg gebracht hat: die Collectio Hispana.18 Diese Zusammenstellung rechtlicher Satzungen wurde auch für das karolingische Frankenreich wegweisend und später sogar in einer arabischen Fassung für Christen unter muslimischer Herrschaft bereitgestellt. Die letzte Nachricht Isidors ist ein kurzer Brief von 635 oder 636; am 4. April 636 starb Isidor. Er wurde in Sevilla beigesetzt, bei Bruder und Schwester, wohl in der Nähe des Alcazar von Sevilla, denn dort fand man die Mauern einer Basilika und eines Baptisteriums, wo zumindest die von Honoratus († 641), dem Nachfolger Isidors, besorgte Inschrift identifiziert werden konnte.

Werk und Wissen

Neben den Konzilien begründeten die verschiedenen Werke Isidors Wirksamkeit und Nachwirkung. Jacques Fontaine kennzeichnet ihn als Epigonen der

Werk und Wissen

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klassischen Bildung, der als Bindeglied zwischen Antike und Mittelalter fungierte. Seine Schriften lassen sich in naturwissenschaftliche, grammatische, historische und theologische Themenbereiche gruppieren, die ihn in unterschiedlicher Weise als Schlüsselgestalt erschließen helfen.19 1. Die bedeutendste Schrift in der Reihe der naturwissenschaftlichen Werke sind die für König Sisebut (612–621) geschriebenen Etymologiae, die Isidors Schüler Braulius in zwanzig Bücher einteilte. Eine Münchener Handschrift aus dem 11. Jahrhundert (Abb. 5) zeigt Isidor und Braulius im Dialog. Auf dem Band, das Isidor hält, heißt es: „Veranlasse, dass meine Werke gelesen werden, die ich in Deinem Auftrag verfasst habe (Fac mea scripta legi que te mandante peregi)“.

Abb. 5: Eine Handschrift der Münchner Staatsbibliothek aus dem 11. Jahrhundert zeigt den Austausch zwischen Braulius von Zaragoza und Isidor über dessen Werke.

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Isidor von Sevilla († 636)

Die Erläuterungen in den sogenannten Etymologiae fassen wie eine Art Realenzyklopädie das weltliche und geistig-geistliche Wissen der Antike zusammen. Dazu nutzte Isidor hauptsächlich Anthologien. Er bot Erläuterungen zu nahezu allen Bereichen der menschlichen Existenz, wie etwa Sprache und Grammatik, Rechte und Pflichten. Der Name des Werkes rührt von dem Grundprinzip her, zunächst die etymologische Bedeutung eines jeden Begriffes zu ermitteln, weil diese den allgemeinen Sinn erschließe. Die enorme kompilatorische Leistung Isidors haben manche deshalb etwas geringgeschätzt, weil sie annahmen, durch diese Zusammenstellung seien die älteren, besseren Werke verdrängt worden. Jedoch wären diese „reineren“ Quellen zu einem großen Teil gar nicht erhalten geblieben, denn die Überlieferungschance antiker Werke war insgesamt sehr gering. Die Etymologiae werden in ihrer enzyklopädischen Ausrichtung durch weitere Arbeiten Isidors wie De natura rerum, einen Traktat über Chronologie, Kosmologie und Astronomie sowie ein Liber numerorum ergänzt. Isidors Etymologien und De natura rerum wurden in großem Maße weiterverbreitet. In fast jeder größeren Bibliothek West- und Mitteleuropas waren diese Werke vorhanden. 2. In einen ähnlichen Zusammenhang gehören Isidors Werke Liber differen­ ti­arum und der Synonyma, die schulmäßiges Wissen weitervermitteln sollten. Der Liber differentiarum stellt in alphabetischer Folge eine Gruppe von Wortarten zum entsprechenden Begriff. Unter dem Titel Synonyma beklagt eine sündige Seele das menschliche Elend, und zwar in jeder Redeeinheit mit synonymen Ausdrücken. 3. Für Isidors theologisches Hauptwerk, die Sententiarum libri tres, dienten wohl die Moralia in Job Gregors des Großen als Vorbild. Praxisbezogen waren De ecclesiasticis officiis und eine Mönchsregel. Orientierung für seine exegetischen Schriften zum Alten Testament boten Autoritäten wie Origenes († um 254) und besonders Gregor der Große. In De ortu et obitu patrum stellte Isidor Notizen zu Personen vornehmlich aus dem Alten und Neuen Testament zusammen. Eine antijüdische Schrift, die im 8. Jahrhundert sogar ins Althochdeutsche übertragen wurde, war seiner Schwester Florentina gewidmet. 4. Die letzte Gruppe der isidorianischen Werke betrifft die Historiographie und ist vor allem für Isidors Bedeutung als Schlüsselgestalt Spaniens aufschlussreich. In De viris illustribus charakterisiert Isidor besonders afrikanische und spanische Schriftsteller des 6. bis 7. Jahrhunderts und nutzte dafür schon vorhandene Werke. Eine Weltchronik gliedert den Stoff nach der augustinischen Lehre von den sechs Weltzeitaltern.

Die Übertragung der Gebeine nach León 1063/64

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Über die Herrscher dreier Völker seit dem 4. Jahrhundert berichtet Isidor in der Historia de regibus Gothorum, Vandalorum et Suevorum mit einem Schwerpunkt auf den Goten. Dieses Werk erschließt das politische Denken Isidors und seiner Zeit und mag Annäherungsprozesse zwischen der gens der Goten und der romanischen Bevölkerung der Hispania dokumentieren. Obwohl romanischer Herkunft, verfasste Isidor gleichwohl eine Geschichte der Goten, die ansatzweise eine Verschmelzung römischer und gotischer Traditionen erkennen lässt. Angeregt hatte das Werk vielleicht König Sisebut. Isidor war die arianische Vergangenheit der Goten grundsätzlich nicht genehm, und er brachte die Goten mit Magog, dem biblischen Feind des Gottesvolkes, in Verbindung. Dennoch pries er die Goten, weil sie Tugend (virtus) besäßen. Der heilsgeschichtliche Weg dieses Volkes habe durch diese virtus fast zwangsläufig zur Abkehr von der arianischen Häresie geführt. Isidor sprach mit dieser Interpretation gleichzeitig die römisch-romanische Bevölkerung an. Römische Tradition und Gotenherrschaft gingen so eine Symbiose ein, wie das der Schrift vorangestellte Lob auf die Hi­ spania noch stärker verdeutlicht. Es beschreibt Spanien als die geheiligte Mutter von Königen und Völkern, die Königin aller Provinzen. Die Goten verbanden sich mit diesem Land wie mit einer entführten Braut. Land und Volk vereinten sich, hier dürften biblische Vorbilder, wie das Aufsuchen des Gelobten Landes eine Rolle gespielt haben. Es bleibt zweitrangig, ob Isidor eher das auserwählte Volk der Goten beschreibt oder ob ihm nur das Land, die Hispania, interessierte. Neu und wichtig erscheint jedoch, dass eine gentile Gemeinschaft sehr bewusst in eine römische Tradition gestellt wird und dabei Land und gens, Raum und Personen, zusammengesehen werden, nicht zuletzt in einer heilsgeschichtlichen und prophetischen Perspektive.20 Langfristig bedeutsam wurde, dass spätere Ansätze zur Rückbesinnung auf die Goten – wie im 9. oder im 13. Jahrhundert – besonders mit diesen Schriften Isidors über wichtige Referenzpunkte verfügten.

Über den Tod hinaus: Die Übertragung der Gebeine nach León 1063/64

Schlüsselgestalt wird man selten zu Lebzeiten, sondern auch und ganz besonders nach dem Tod. Das Nachleben Isidors betraf nicht nur seine Schriften, sondern auch seine Grabesstätte. Dies führt bereits in Zeiten, als das Westgotenreich zwar untergegangen war, aber die Rückbesinnung zeitweise stark zunahm. Nach 910 wurde León neue „Hauptstadt“ des christlichen Königreichs im Norden. Die christlichen Reiche führten dennoch weiterhin oft bewusst oder unbewusst

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Isidor von Sevilla († 636)

westgotische Traditionen in angepasster Form fort und standen zugleich seit dem 11. Jahrhundert großen Einflüssen aus Mitteleuropa und Rom gegenüber. Die Akzeptanz und Ablehnung mitteleuropäischer und römischer Formen erscheinen bei der Neustrukturierung des christlichen Spanien im 11./12. Jahrhundert ausgesprochen vielfältig.21 Vielleicht schuf die Rückbesinnung auf eigene oder gar muslimisch bestimmte Traditionen der Iberischen Halbinsel hier weitere Orientierung? Die Übertragung der Gebeine Isidors von Sevilla nach León 1063 ist aufschlussreich.22 Der älteste Bericht stammt aus dem ausgehenden 11. oder dem beginnenden 12. Jahrhundert. Die Schrift erzählt detailliert von Verhandlungen in Sevilla. Vorausgegangen war ein erfolgreicher Feldzug König Ferdinands I. von León († 1065) in sevillanisches Gebiet. Nach der wunderbaren Auffindung der in dieser Quellenperspektive offensichtlich in Vergessenheit geratenen Isidorreliquien soll sich der muslimische Herrscher vor dem Abtransport auf den Sarkophag geworfen und gesagt haben, wie sehr die Sache Isidors auch immer die seine gewesen sei. Solche Abschiedsrituale entsprechen zwar den aus dem 9. Jahrhundert bekannten Translationsberichten Mitteleuropas, aber hier wird aufgrund der multireligiösen Situation Spaniens ein nichtchristlicher Herrscher in dieses Ritual einbezogen. Die Translation des bedeutenden Isidor von Sevilla nach León symbolisierte damit nicht nur eine Anknüpfung an die große westgotische Zeit, sondern integrierte ebenso indirekt muslimisch geprägte Traditionen. Mit diesem Akt gewann der Aufbruch zugleich eine neue Dimension für Zeit und Raum. Isidor stiftete in dieser Quellenperspektive doppelt Einheit, indem er muslimische und christliche Entwicklungen repräsentierte und zugleich auf die alte westgotische Einheit der Hispania verwies. Die neue Ruhestätte San Isidoro in León zeigte aber zudem, wo der Ausgangspunkt für die Einigung Spaniens unter christlicher Herrschaft künftig liegen sollte: in León. In San Isidoro, wo im Pantheon eine Grablege der leonesischen Könige entstehen sollte (Abb. 6), befanden sich im benachbarten Hochaltar der Kirche nun auch die Reliquien des hl. Isidor. Ein entsprechendes Schrifttum setzte ein.23 Ein solcher Held diente aber nicht nur zur Legitimation der leonesischen Könige. Er war wandlungsfähig. Eine zweite hagiographische Schicht, vor allem die Vita sancti Isidori aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert, zeigt einen Isidor, der wie das nördliche Spanien zu dieser Zeit den Schulterschluss mit Rom suchte.24 Eine Wundererzählung berichtet, dass der Kirchenlehrer Isidor, um seinen ‚Kollegen‘ Gregor den Großen in Rom zu treffen, in einer einzigen Weihnachtsnacht von Sevilla nach Rom und zurück reisen konnte.25 Damit wurde Isidor

Schlüsselgestalt

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Abb. 6: Das königliche Pantheon in León wurde rechtzeitig zur Übertragung der Gebeine Isidors von Córdoba nach León (1063) errichtet.

zusätzlich als rombezogener Kirchenlehrer stilisiert. Die sogenannte Adbreviatio Braulii etwa aus der gleichen Zeit unterstrich das neue Isidorbild, denn auch die Gegner, gegen die Isidor nun kämpfte, änderten sich. Hatte der historische Isidor gegen die arianische Häresie Stellung bezogen, so wurde er im 12. und besonders im 13. Jahrhundert sogar zum Kämpfer gegen den Islam, den man auch als Häresie ansah.26 Das hagiographische Dossier Isidors wurde mithin mehrfach neu geschrieben.

Schlüsselgestalt

Isidor verknüpfte das frühe Mittelalter mit der Bibelwissenschaft und der Theologie der Patristik; er trug zum Verständnis der antiken Überlieferung erheblich bei und tradierte das System von Bildung und Ausbildung. Von den kulturellen Leistungen der Westgotenzeit hat das übrige Europa langfristig durch Isidor sicher am meisten profitiert. In Spanien selbst aber konnte das, was Isidor in

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Isidor von Sevilla († 636)

seinen Schriften vertrat, viel unmittelbarer umgesetzt werden. Er gehörte durch seine Verbindungen mit dem gelehrte König Sisebut, aber auch mit Braulius zu einer geistigen Führungselite in Spanien, wie die Konzilskanones besonders eindrücklich erkennen lassen. Diese Konzilsbeschlüsse galten auch in Spanien noch lange Zeit weiter. Das kirchliche Rechtsbuch der Hispana mit den zahlreichen Bestimmungen dieser Konzilien prägte nicht nur den lateinischen Westen insgesamt, sondern auch die Iberische Halbinsel selbst im muslimischen Herrschaftsbereich. Zeitgeschichtlich zeigt Isidors Biographie, dass er an einem Abzug der Byzantiner interessiert war und dass er nach dem Übertritt der westgotischen Könige zum katholischen Glauben auch die Einheit der Hispania nicht aufs Spiel setzten wollte. Diese Vorstellungen einer geeinten Hispania wurden Vorbild und Orientierung für spätere Zeiten und immer wieder aktualisiert: am Hof der asturischen Könige im 9. Jahrhundert, bei der Translation seiner Gebeine im 11. Jahrhundert und deren Folgen, bei der Rückbesinnung des Toledaner Erzbischofs Rodrigo († 10. Juni 1247) im 13. Jahrhundert.27 Zu dieser Einheit gehörte es aber auch, keine weitere Häresie zu dulden und anderen Glaubensrichtungen kritisch gegenüberzustehen. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch Bemerkungen zu Isidors Beschlüssen gegenüber syrischen Monophysiten oder auch seine Schrift gegen Häretiker und Juden. Die grundlegenden rechtlichen Satzungen der westgotischen Konzilien bildeten zudem einen Grundstock, der die europäische Rechtsgeschichte weiter begleiten sollte. Seine Figur wurde damit vielfacher Orientierungspunkt für Rückbezüge in späterer Zeit, so dass Isidor deshalb Schlüsselgestalt in verschiedenen Phasen der spanischen Geschichte werden konnte, obwohl er heute am eindringlichsten an die Transformationsprozesse von der Spätantike zum frühen Mittelalter im Südwesten Europas erinnert.

Weiterführende Literatur Bronisch, Alexander Pierre: Die Judengesetzgebung im katholischen Westgotenreich von Toledo (Forschungen zur Geschichte der Juden Abt. A 17), Hannover 2005. Deimann, Wiebke: Christen, Juden und Muslime im mittelalterlichen Sevilla: religiöse Minderheiten unter muslimischer und christlicher Dominanz (12. bis 14. Jahrhundert) (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 9), Berlin [u. a.] 2012. Drews, Wolfram: Juden und Judentum bei Isidor von Sevilla: Studien zum Traktat De fide catholica contra Iudaeos, Berlin 2001. Herbers, Klaus: „Homo hispanus“? Konfrontation, Transfer und Akkulturation im spani-

Anmerkungen

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schen Mittelalter, in: Härtel, Reinhard (Hg.): Akkulturation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 78), Ostfildern 2014, S. 43–80. Herbers, Klaus: Schlüsselfiguren des christlichen Spanien im Mittelalter. Wege vom Helden zum Heiligen, in: Felix Heinzer/Jörn Leonhard/Ralf von den Hoff (Hg.): Sakralität und Heldentum (Helden–Heroisierungen–Heroismen 6), Würzburg 2017, S. 115–127. Herbers, Klaus: Was Europa dem Toledanischen Reich der Westgoten verdankt. Wege von der Antike ins Mittelalter, in: Zur Debatte. Sonderheft zur Ausgabe 4/2020, München, 2020, S. 20–22. [www.youtube.com/watch?v=7lqTHVOOhPw] Käflein, Ines/Jochen Staebel/Matthias Untermann (Hg.): Im Schnittpunkt der Kulturen/ Cruce de Culturas. Architektur und ihre Ausstattung auf der Iberischen Halbinsel im 6.–10./11. Jahrhundert/Arquitectura y su decoración en la Península Ibérica del siglo VI al X/XI, Frankfurt am Main 2016. Kindermann, Udo: Isidor von Sevilla, in: Wolfram Ax (Hg.): Lateinische Lehrer Europas. Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam, Köln 2005, S. 273–290. Martín, José Carlos (Hg.): Scripta de vita Isidori Hispalensis Episcopi (Corpus Christianorum. Series Latina 113 B), Turnhout 2006. Steinbach, Sebastian: Imitation, Innovation und Imperialisierung. Geldwesen und Münzprägung als wirtschaftshistorische Quellen zur ethnischen Identität und Herrschaftsorganisation des spanischen Westgotenreiches (ca. 572–714), Münster 2017.

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Jacques Fontaine: Isidore de Séville. Genèse et originalité de la culture hispanique au temps des Wisigoths, Turnhout 2000, S. 19. So Isidor in den Etymologiae: […] Hispania prius ab Ibero amne Iberia nuncupata, postea ab Hispalo Hispania cognominata est. Ipsa est et vera Hesperia, ab Hespero stella occidentali dicta, W. M. Lindsay: Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, Oxford 1911: 14,4,28. Vgl. Carmen Condoñer Merino (Hg.): El de viris Illustribus de Isidoro de Sevilla. Estudio y edición crítica, Salamanca 1964, S. 149. Vgl. Julio Campos Ruíz/Ismael Roca Melia (Hg.): Reglas monasticas de la España visigoda: San Leandro, San Isidoro, San Fructuoso, Los tres libros de las Sentencias (Biblioteca de Autores Cristianos 321; Sanctos padres españoles, Bd. 2), Madrid 1971, S. 75. Zu diesem Brief: Gerd Kampers: Isidor von Sevilla und seine Familie, in: Frühmittelalterliche Studien 52/1 (2018), S. 43–58, S. 44 und 57. Johannes von Biclaro, Chronica, dt. Übersetzung: Pedro de Palol Salellas/Gisela Ripoll López: Die Goten. Geschichte und Kunst in Westeuropa, Augsburg 1999, S. 105. Vgl. José Vives/Tomás Marín/Gonzalo Martínez (Hg.): Concilios visigóticos e Hispano-Romanos (España Cristiana: Textos, Bd. 1), Barcelona/Madrid 1963, S. 25. Vgl. Sabine Panzram (Hg.): Oppidum – Civitas – Urbs. Städteforschung auf der Iberischen Halbinsel zwischen Rom und al-Andalus (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 13), Berlin-Münster 2017 mit diversen einschlägigen Beiträgen.

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Isidor von Sevilla († 636) Vgl. Pierre Cazier (Hg.): Isidori Hispalensis Sententiae (Corpus Christianorum. Ser.  Lat. 111), Turnhout 1998, S. 1–360, hier S. 1, 3 und 39. Vgl. Vives/Marín/Martínez: Concilios visigóticos, S. 162–185. Deutsch bei Ulrike Nagengast: Gothorum florentissima gens: Gotengeschichte als Heilsgeschichte bei Isidor von Sevilla (Classica et Neolatina 4), Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 395. Ebd., S. 336. Ebd., S. 338. Vgl. Fontaine: Isidore de Séville, S. 134. Nagengast: Gothorum florentissima gens, S. 339. Vives/Marín/Martínez: Concilios visigóticos, S. 186 f. Ebd., S. 186–225. Klaus Herbers: Herrschaftsnachfolge auf der Iberischen Halbinsel. Recht – Pragmatik – Symbolik, in: Matthias Becher (Hg.): Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, S. 231–252, S. 234–236. Vgl. Cornelia Scherer: Die ‚Collectio Hispana‘ als Quelle für mantische Praktiken, in: Klaus Herbers, Hans-Christian Lehner (Hg.): Mittelalterliche Rechtstexte und mantische Praktiken, Köln/Weimar/Wien 2021, S. 39–54. Werküberblick bei Fontaine: Isidore de Séville, S. 436 f. Vgl. Nagengast: Gothorum florentissima gens, der Text S. 315 f. Vgl. Klaus Herbers: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 150–168; vgl. unten Kapitel 4 und 5. José Carlos Martín Iglesias (Hg.): Scripta medii aevi de vita Isidori Hispalensis episcopi (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 281), Turnhout 2016, S. 1–11; Nagengast: Gothorum florentissima gens, S. 412–423 [Texte mit dt. Übersetzung]; Klaus Herbers: Übertragene Heiligkeit – Reliquientranslationen und die Folgen, in: Andreas Bihrer/Fiona Fitz (Hg.): Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter (Beiträge zur Hagiographie 21), Stuttgart 2019, S. 205–223, S. 212–214. Vgl. Martí Iglesias (Hg.): Scripta Medii aevi de vita. Vgl. Nagengast: Gothorum florentissima gens, S. 416–423. Ebd., S. 419. Patrick Henriet: Rex, lex, plebs. Les miracles d´Isidore de Séville à León (XIe–XIIIe siècles), in: Martin Heinzelmann [et al.] (Hg.): Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen (Beiträge zur Hagiographie 3), Stuttgart 2002, S. 334–350. Matthias Maser: Die Historia Arabum des Rodrigo Jiménez de Rada: arabische Traditionen und die Identität der Hispania im 13. Jahrhundert. Studie – Übersetzung – Kommentar (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 3), Münster 2006.

2. Eulogius, „Märtyrer von Córdoba“ († 859) „Mozarabischer“ Christ unter muslimischer Herrschaft

Wie lebte man als Christ unter muslimischer Herrschaft? Seit 711 waren große Teile der Iberischen Halbinsel von Arabern und Berbern erobert worden. Wurden die in diesen Teilen Spaniens weiterhin lebenden Christen unterdrückt? Legten sie Zeugnis für ein künftig wieder vereinigtes, christliches Spanien ab? Eulogius von Córdoba könnte auch Eulogius von Toledo genannt werden, weil er nach seinem Wirken in der südspanischen Hauptstadt des Emirates 858 Erzbischof von Toledo wurde. Er steht für eine Gruppe, die unter dem Namen „Märtyrer von Córdoba“ bekannt ist und von denen zahlreiche Mitglieder in den 850er Jahren des 9. Jahrhunderts hingerichtet wurden. Damit führt seine Person in eine Zeit, als die muslimische Herrschaft auf großen Teilen der Iberischen Halbinsel schon knapp anderthalb Jahrhunderte währte. Was bedeutete es, unter muslimischer Herrschaft Christ zu bleiben? Bietet der Lebensweg des Eulogius Antworten auf die bis heute immer wieder gestellte Frage, inwieweit ein friedliches Zusammenleben von Christen und Muslimen in dieser historischen Phase auf der Iberischen Halbinsel möglich war? Welche Bedingungen waren hierbei gegeben?

Rahmenbedingungen: Christsein unter muslimischer Herrschaft

Das von Isidor († 636) zu Beginn des 7. Jahrhunderts maßgeblich geprägte Westgotenreich war 711 nicht nur an inneren Zwistigkeiten zerbrochen, sondern wurde auch durch die Eroberung arabisch-berberischer Truppen von einer muslimisch bestimmten Herrschaft sukzessive ersetzt bzw. überlagert. Nur im Norden und Nordosten blieben einige kleine christliche Reiche bestehen. Nach ersten Zügen und Eroberungen herrschten schließlich in Córdoba seit 756 die Umayyaden, deren übrige Familienmitglieder bei einem Umsturz in Damaskus durch die Abbasiden (750) fast vollständig umgebracht worden waren. Die im Osten siegreichen Abbasiden verlegten die Hauptstadt von Damaskus nach Bagdad. In der Folge geriet die Iberische Halbinsel für die Kalifen zunehmend aus dem Blickfeld, so dass sich ein nach Spanien geflohener Umayyade 756 relativ leicht mit einer vom östlichen islamischen Bereich unabhängigen „Staats-

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gründung“ durchsetzen konnte. In diesem Emirat von Córdoba, das große Teile der Iberischen Halbinsel umfasste, blieb die Herstellung der Einheit schwierig, nicht zuletzt der ethnischen und religiösen Vielfalt wegen (Araber, Berber, Syrer, Westgoten, Hispanoromanen bzw. Muslime, Christen, Juden). Nur ein Aspekt der großen zentrifugalen Tendenzen waren die kulturellen und sozial-religiösen Konflikte, die auch in der Person des Eulogius greifbar werden. Für die zahlreichen Christen unter muslimischer Herrschaft ergaben sich verschiedene Möglichkeiten: Manche konvertierten oder verbanden sich in Mischehen mit der arabischen und berberischen Führungsschicht. Wer seinen Glauben behalten wollte, dem war dies als Angehöriger einer Buchreligion gestattet, davon waren Juden und Christen gleichermaßen betroffen. Diese Nichtmuslime mussten allerdings als Schutzbefohlene (ḏimmī) eine höhere Kopfsteuer zahlen und waren dadurch wirtschaftlich stärker belastet. Das ḏimma-System dürfte deshalb auch zu ökonomisch motivierten Übertritten geführt haben. Außerdem gab es weitere Möglichkeiten, um den Druck auf Christen zur Konversion zu erhöhen. Dies betraf vor allem in Städten den Zutritt zu wichtigen Ämtern. Langfristig vergrößerte sich vor allem durch Mischehen der muslimische Bevölkerungsanteil. Die Christen unter muslimischer Herrschaft werden häufig Mozaraber (mustaʿrib) genannt, denn sie waren Christen, die arabischen Einflüssen unterlagen. Allerdings ist diese Bezeichnung in jüngerer Zeit in die Diskussion geraten, weil diese Gruppe kaum exakt definiert werden kann und die Heterogenität der Überlagerungen und Beziehungen eher mit dem Terminus „Mozarabismen“ bezeichnet werden sollte.1 Eine Schlüsselgestalt wie Eulogius steht nicht nur exemplarisch für die komplexe Situation, sondern könnte auch konkret zu einer Antwort beitragen, ob vielleicht zu seiner Zeit ein besonders starker Druck auf den Christen des muslimischen Spanien gelastet haben könnte. Wie bei fast allen weiteren Personen dieser Epoche lässt sich ein Lebensbild im Wesentlichen nur aus seinen Werken erschließen. Allerdings gewähren einige wenige persönliche Briefe zusätzliche Einblicke. Das erste relativ sichere Datum zu seinem Leben betrifft eine Reise in den Jahren zwischen 845–848. Für die Zeit zuvor sind wir auf sporadische Bemerkungen in den Werken der drei wichtigsten „Märtyrer“ angewiesen: Speraindeo († 853), Álvarus († 861/62) und Eulogius selbst. Zu diesen wichtigen Quellen gehört auch die Vita Eulogii, die sein Weggefährte Álvarus verfasst haben soll.2

Jugend, Erziehung und Priesteramt in schwierigen Zeiten

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Jugend, Erziehung und Priesteramt in schwierigen Zeiten

Wann Eulogius genau geboren wurde, ist unbekannt. Rückrechnungen von späteren Lebensstationen führen auf eine Zeit vor 819. Córdoba war wohl sein Geburtsort, denn er wurde in der Kirche des heiligen Zoilus, die Eulogius in seinen späteren Werken erwähnt, getauft. Diese Kirche war noch in westgotischer Zeit unter Bischof Agapio II. (614–618) zu Ehren des spätantiken Heiligen Zoilus errichtet worden. Wohl mit sieben Jahren wurde Eulogius zum Studium gegeben und in den klassischen Artes liberales ausgebildet. Eine Kathedralschule in Córdoba gab es nicht mehr, dort befand sich inzwischen der Komplex der Moschee. Deshalb fand der Unterricht eher an anderen Kirchen, teilweise wohl in Klosterschulen statt. Schon beim Studium traf Eulogius sowohl unter den Lehrern wie unter den Schülern auf eine Reihe späterer Mitstreiter. Zwei Personen prägten ihn während dieser Zeit besonders: Zunächst war es sein Lehrer mit dem programmatischen Namen Speraindeo (Vertraue auf Gott), der wohl an einem Kloster der Stadt Córdoba lehrte. Neben diesem Meister, den Eulogius sehr verehrte, fand er besonders einen Mitstudenten und Freund, der ihn in seinem weiteren Leben begleiten sollte: Paulus Álvarus, der aus einer der angesehensten Familien Córdobas stammte. Will man das Freundespaar Eulogius und Álvarus von ihren Schriften her charakterisieren, so dominierte in der Familie des Álvarus eher die Vorliebe für die klassische Bildung lateinisch-spätantiker Prägung, in der Familie des Eulogius demgegenüber vor allem eine deutliche Distanz zur muslimischen Welt, die sogar leicht in Hass umschlagen konnte. Soweit erkennbar, standen die meisten Personen der Eulogius und Álvarus umgebenden Gruppe der muslimischen Herrschaft zwar kritisch gegenüber, aber in unterschiedlicher Weise. Álvarus war ein Kämpfer, ein gebildeter Apologet und zur beißenden Polemik fähig. Eulogius suchte hingegen bei aller Distanz zu den Muslimen auch die für ihn ausgleichende Kontemplation. Insofern ergänzten sich die beiden Freunde. Während Álvarus heiratete, schlug Eulogius die Klerikerlaufbahn ein. Nach Subdiakonat und Diakonat wurde er wohl in San Zoilo zum Priester geweiht. Wenn das kanonisch vorgeschriebene Mindestalter eingehalten wurde, hätte er für das Diakonat etwa 28 Jahre alt sein müssen. Über die Anfänge des Eulogius als Priester wissen wir wenig. Álvarus rühmt Rhetorik und Eloquenz seines Freundes, mit der dieser die sich ständig vermindernde Schar der Cordobeser Christen in seinen Bann ziehen konnte. Eulogius fungierte später als Bischof in spätantiken und auch westgotischen Traditionen, zuweilen auch als Richter für seine Glaubensgenossen, wie wir aus

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einigen Randbemerkungen erfahren. Im Laufe der Zeit orientierte sich Eulogius zunehmend stärker an monastischen Lebensformen. Die Lektüre der Bibel hatte schon Speraindeo dem jungen Eulogius nahegelegt. Laut den späteren Schriften habe eine innere Formel, um dem politisch-religiösen Druck standzuhalten, gelautet: glauben und schweigen. Diskussionen gab es aber wohl zwischen den beiden Freunden Álvarus und Eulogius. Álvarus korrespondierte auch mit einem Theologen über die Herkunft der Seele, über die Inkarnation und über andere Theologica. Diese Auseinandersetzungen waren auch deshalb aktuell, weil beide Cordobeser wohl zunehmend bei Christen auf Glaubensvorstellungen trafen, die den Muslimen vor allem in Fragen der Dreifaltigkeit entgegenkamen. Dies ließ sich bereits im sogenannten Adoptianismusstreit (Auseinandersetzungen um die Gottessohnschaft Jesu Christi) am Ende des 8. Jahrhunderts beobachten. Wahrscheinlich um diesen und anderen möglichen Irrlehren vorzubeugen, stellte ein junger Mönch und Kleriker ein Kompendium mit den wichtigsten Glaubenswahrheiten zusammen, das als Zeugnis für die theologische Diskussion unter den Mozarabern im 9. Jahrhundert einzigartig ist. Die Situation spitzte sich jedoch zu, so dass der Kompilator, ein gewisser Samuel, in den Norden Spaniens floh, in das christlich gebliebene Reich von Asturien/León. Ein Manuskript, das er wohl mitnahm, weist folgende Rubrik auf: „Ich, Buch Samuels, kam aus Spanien“ (Samuel librum, ex Spania veni). Mit Spanien ist hier das häufig als (Hi-)Spania bezeichnete südliche Spanien gemeint.

Reisen: Lateinische und christliche Tradition – Briefe und Taten

Eulogius wirkte aber nicht nur in Córdoba. Er versuchte, sich auch andernorts des Rückhalts zu versichern. Ein umfangreicher Brief von 851 an den Bischof Wilisendus von Pamplona (848–860) gibt nicht nur Aufschluss über seine Reise in das christlich gebliebene oder wieder christlich gewordene Reich Pamplona/ Navarra, sondern zugleich über seine persönlichen und familiären Bindungen.3 Eulogius erzählt hier unter anderem von seinen Kontakten zu christlichen Zentren außerhalb des Emirates, aber auch von weiterem Austausch. Dabei schildert er im Zusammenhang mit den Weggefahren die politischen Konstellationen im Pyrenäenraum und in der südwestlichen Gallia durchaus zutreffend. Bei dem Besuch von Klöstern war ihm daran gelegen, die eine oder andere lateinische Handschrift einsehen zu können, was ihm auch gelang. Was berichtet der Brief im Einzelnen?

Reisen: Lateinische und christliche Tradition – Briefe und Taten

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Die Brüder (fratres) Álvarus und Isidor reisten weiter ins Reich Ludwigs des Deutschen (840–876), der allerdings als Ludwig von Bayern bezeichnet wird. Nach kurzer Charakterisierung der politischen Konfliktlage zwischen Wilhelm von Gotien († 849) und Karl dem Kahlen (843–877), bei dem der Emir ‘Abd arRaḥmān II. (822–852) Wilhelm unterstütze, schildert Eulogius in seinem Brief die Weggefahren der eigenen Reise und seine Aufnahme in Pamplona (Kap. 1). Im Kloster San Zacarías de Serasa am Aragónfluss und zuvor in Leyre unter Abt Odoarius wurde Eulogius zuvorkommend empfangen (Kap. 2). Die Zahl von 100 Mönchen und das rege geistige Leben beeindruckten ihn nachdrücklich (Kap. 3). Beim Abschied wurde die Gebetsgemeinschaft erbeten, Theodemundus begleitete Eulogius; ebenso werden weitere Wegbegleiter genannt (Kap. 4). Beim Treffen mit dem Bischof von Pamplona äußerte dieser unter anderem, dass er gern Reliquien des heiligen Zoilus besitzen möchte (Kap. 5). In Zaragoza traf Eulogius Kaufleute aus dem Ostfrankenreich (Kap. 6). Der Besuch bei verschiedenen weiteren Bischöfen führte auch zum Kontakt mit dem Metropoliten von Toledo (Kap. 7). Er kehrte zurück zu seinen zwei Schwestern, seiner Mutter sowie dem Bruder Joseph, den man von der Herrschaft ausgeschlossen hatte (a principatu deiecerat) (Kap. 8). Soweit die ersten acht Abschnitte des Briefes, der nicht nur Eulogius als Person erschließt, sondern zugleich die Familienmitglieder und das weitere kulturelle, religiöse und politische Umfeld in den Blick rückt. Dazu gehörte der Handel der älteren Brüder, die wie andere Kaufleute Kontakt zu christlichen Zentren außerhalb der Iberischen Halbinsel pflegten. Der Rückweg aus Navarra zeigt aber auch, wie der Schulterschluss mit Bischöfen, die ebenso unter muslimischer Herrschaft agierten, gesucht wurde und wie Schwierigkeiten im öffentlichen Leben (Ausschluss vom principatus) sehr konkret Gestalt annehmen konnten. Damit erschließt diese brieflich dokumentierte Reise einige zentrale Zeittendenzen. Eulogius schloss sich für seine Fahrt sicher einer der „Karawanen“ an und konnte in Navarra bestens verschiedene wichtige Orte besuchen. An anderer Stelle heißt es, dass er in Leyre auch eine Muhammadvita fand und dass ihm daran gelegen war, die eine oder andere Handschrift einsehen oder kopieren zu können. Wie sich die Situation in Córdoba zuspitzte, geht aber aus dem zweiten Teil des Briefes hervor, der einiges zu den Konflikten – natürlich aus der Perspektive des Eulogius – verrät. Ein Vergleich zwischen den Herrschaftsformen im Süden (dem Chaos) und dem Norden führt Eulogius zu der Bemerkung über seine versprochene Reliquienschenkung, die er einem Galindus Ennecus (Galindo Iñigo)

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mitgeben wolle (Kap. 9). Ein ganzer Abschnitt berichtet dann klagend über die eigenen Bedrängnisse, über die tyrannische Herrschaft der Muslime; die verschiedensten Vertreter des Klerus seien in dieser 889. Ära (das heißt im Jahre 851) in Gefängnissen eingekerkert worden. (Kap. 10). Weitere Notizen folgen. Der Brief schließt mit einer Liste der verschiedenen in Córdoba hingerichteten Glaubensbrüder. Das Schreiben ist somit zweigeteilt: in einen Reisebericht und in Klagen über die Situation in Córdoba. Nach seiner Rückkehr soll Eulogius den Worten Samsons entsprechend gesagt haben, dass die Zeit zurückkehren werde, zu der man wieder in ganz Spanien Lateinisch korrekt sprechen können werde.4 Latinität, antike Traditionen und christlicher Glaube hingen für Eulogius eng miteinander zusammen. Besonders seinem Freund Álvarus war die lateinische Kultur ein Herzensanliegen. Auch deshalb sichtete Eulogius bei seinem Besuch der navarresischen Klöster entsprechende Handschriften. Mit den Werken Juvenals († nach 127), den Satiren des Horaz († 8 v. Chr.), dem „Gottesstaat“ (De Civitate Dei) von Augustinus († 430) sowie den Werken des Aldhelmus von Malmesbury († 709/10) und anderer stellte sich Eulogius eine Bibliothek zusammen, die auch seinen Schülern zur Verfügung stehen sollte. Die Kirchenväter und besonders die Werke Augustins nahmen einen vorrangigen Platz ein. Die sprachliche Rückbesinnung vermischte sich offensichtlich mit religiösen Konflikten, die somit vielleicht sogar für kulturelle Auseinandersetzungen stehen könnten. Allerdings verdeutlicht der Brief mit der anhängenden Namensliste die religiösen Opfer. Über die neben Eulogius beteiligten Personen wissen wir teilweise mehr aus dem schon genannten Quellenkorpus, das ihren Wortführern, neben Eulogius vor allem Álvarus und Samson, zu verdanken ist.5 Von Álvarus sind einige Schreiben aus den Jahren 840 bis 860/61 erhalten, dazu treten ein antiislamischer Traktat (Indiculus luminosus, 854 geschrieben), die bereits genannte Vita Eulogii, die nach dessen Tod (859) verfasst wurde, sowie einige kleinere Schriften.6 Von Eulogius besitzen wir neben dem schon vorgestellten Brief weitere Einzelschreiben, sowie die drei schon genannten theoretischen Werke: zunächst das Memoriale sanctorum (851 verfasst und 856 ergänzt), in dem er die Legitimität der christlichen Märtyrer verteidigt, weiterhin das Docu­ mentum martyriale (im Gefängnis geschrieben) und schließlich ein drittes Werk, den Liber apologeticus martyrum, der nach 857 aufgezeichnet wurde. Zu dieser Zeit hatte Eulogius die beiden Jungfrauen Flora († 851) und Maria († 857) kennengelernt, er verteidigte nun im Liber apologeticus sanctorum martyrum, wie der komplette Titel lautet, das freiwillige Martyrium und schloss hier eine Lebens-

Reisen: Lateinische und christliche Tradition – Briefe und Taten

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beschreibung Mohammeds ein, die er in einem Manuskript zwischen 845 und 848 bei seinem Besuch im navarresischen Kloster Leyre gefunden haben will.7 Wenn Eulogius aber schließlich selbst den einzigen Ausweg im freiwilligen Martyrium sah, stellt sich die Frage: Worin lagen die Anlässe zum sogenannten freiwilligen Martyrium, dem teilweise Schmähungen und Beschimpfungen des Propheten vorausgingen? Unter dem Emir ‘Abd ar-Raḥmān II. (822–852) setzte im muslimisch dominierten Spanien, auch unter dem Druck religiöser Verschärfungen, eine verstärkte Arabisierung und Islamisierung der Bevölkerung ein.8 Dabei dürfte der Druck auf die christliche Bevölkerung in den 40er Jahren des 9. Jahrhunderts zugenommen haben. Dies lassen auch außeriberische Quellen erkennen. So berichten die im Westfrankenreich verfassten Annales Bertiniani von einem Hilfsgesuch spanischer Christen an Karl den Kahlen zum Jahr 847, weil der zum Judentum konvertierte Pfalzdiakon Bodo aus dem Frankenreich den Emir gegen die Christen aufstachele.9 Die Nachricht ist wohl überzogen, denn die meisten Christen konnten ihren Glauben weiterhin ausüben, soweit sie die für Juden und Christen geforderten höheren Steuern bezahlten. Allerdings deutet die Notiz vielleicht an, dass sich in Córdoba das Klima geändert hatte. Es gab zunehmend religiös gemischte Familien, außerdem Christen, die sich unter dem Druck mit den Machthabern arrangiert hatten und teilweise sogar in der Verwaltung des Emirates niedere Posten besetzten.10 Wie problematisch die Situation im Einzelnen werden konnte, lässt die im vorgestellten Brief aufgenommene Notiz zum jüngsten Bruder des Eulogius erkennen. Einer der ersten Märtyrer war Perfectus († 850), ein Priester aus Córdoba, der in ein Gespräch über Christus und Mohammed verwickelt, schließlich verurteilt und am Fest des Fastenbrechens, am 18. April 850, in einem Schauprozess hingerichtet wurde.11 Die Christen konnten sich allenfalls darüber „freuen“, dass ein Kahn mit Schaulustigen auf dem Guadalquivir kenterte und dabei zwei Muslime ertranken. Die Situation spitzte sich jedoch weiter zu. Nicht nur Priester, sondern auch Mönche und Laien, erfolgreiche Kaufleute und andere gehörten bald zu den freiwilligen Opfern, die teilweise selbst vor den Richter traten, den Namen des Propheten schmähten und vielfach hingerichtet wurden, meist mit der Konsequenz, dass die Leichen verbrannt oder in den Guadalquivir geworfen wurden. Dies führte nach den Quellen insgesamt zu etwa fünfzig Hinrichtungen, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen. Einerseits betraf dies Personen aus muslimisch-christlich gemischten Familien, deren Hinwendung zum Christentum als Apostasie bezeichnet werden konnte. Andererseits waren es Christen, die

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freiwillig und aus Überzeugung den Namen Mohammeds schmähten und die nach ihrer Inhaftierung von der Möglichkeit des Widerrufs keinen Gebrauch machten.12 Die Reaktionen innerhalb der christlichen Bevölkerung waren gespalten, aber offensichtlich häufig ablehnend, wie die Schriften des Eulogius und die weiteren apologetischen Werke erkennen lassen. Besonders für einige Kirchenmänner, die sich zumindest teilweise in arabisch-berberische Herrschaftsstrukturen integriert hatten, galten die Märtyrer eher als Problemfälle, störten sie doch inzwischen eingeübte Formen des Zusammenlebens, oder machten neue Kompromisse nötig. So wurden die Märtyrer 852 auf einer vom Emir einberufenen Synode, bei der Erzbischof Reccafred von Sevilla (850–860) tonangebend gewesen sein dürfte, verdammt und gleichsam ein Verbot des Martyriums ausgesprochen.13 Eulogius kommentierte die Martyrien im Einzelnen, und eine Untersuchung des Memoriale sanctorum könnte auch die Theologie und Kirchenpolitik näher charakterisieren. Einige Grundfragen der aus den Schriften rekonstruierbaren begleitenden Diskussionen scheinen besonders interessant. Zwar ist die Ablehnung vieler Christen allein daraus erklärbar, weil sie sich besser mit den neuen Herrschern arrangiert hatten und eher auf diesem Wege Einfluss gewinnen oder behalten wollten. Inhaltlich und theologisch wurde dabei aber zudem als Hauptfrage diskutiert, ob man Märtyrer werden könne, wenn man dies bewusst provoziert. Gibt es ein Märtyrertum ohne direkte Verfolgung? Diesen und weitere Fragen galt vor allem das erste Buch des Memoriale sanc­ torum. Die Argumentationsweise und Rechtfertigung der Märtyrer deuten dabei auf eine breitere vorangegangene Diskussion und Kritik. Zumindest einige Aspekte seien hervorgehoben. So warf Eulogius den Muslimen vor, dass diese nicht nur manche der Märtyrer sechs Tage, bis zur beginnenden Verwesung, öffentlich zur Schau gestellt hätten, sondern dass sie diese sogar oft anschließend verbrannt hätten. Ein weiteres Interesse galt der Frage, warum die Martyrien zur Stärkung der Glaubenskraft nicht von Wundern begleitet gewesen seien. Hier merkt der Leser sehr schnell, dass die Rechtfertigungen von einem gelehrten Kleriker stammten, dem Wunder nicht viel bedeuteten. Mit Rückgriff auf Papst Gregor den Großen (590–604) erläuterte Eulogius, dass Wunder für Märtyrer und Heilige nicht konstitutiv seien. So könnten sogar am Ende der Zeiten Wunder fehlen. Wunder und Zeichen seien überhaupt keinesfalls zu allen Zeiten angebracht. Der Urgrund aller Zeichen und ein Zeichen des Sieges sei der Glaube, den die Gerechten lebten.14 Wenn aber sogar Priester bezweifelten, ob die Märtyrer in den catalogus sanctorum aufgenommen werden sollten, weil sie nicht im Glauben behindert

Tod und Nachleben

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würden, sondern freiwillig stürben, wo man doch seine Feinde sogar nach dem biblischen Gebot lieben solle, so hielt Eulogius ihnen entgegen, dass der Satz: „Liebet eure Feinde“ für die Welt Córdobas nicht zutreffe. Es gehe bei den Auseinandersetzungen weniger um Feinde und Verfolger, sondern die muslimischen Feinde seien Häretiker, und deshalb müssten sie energisch bekämpft werden.15 Wurden hier Martyrien ohne Wunder, ohne Heiden und ohne Verfolgung verteidigt? Hat Eulogius deshalb in seiner Märtyrerschrift ein Klima der Verfolgung nur gleichsam künstlich konstruiert? Die Frage wird sich nicht abschließend beantworten lassen, das Quellenkorpus erschließt nur persönliche Formen der Wahrnehmung und der Interpretation. Es könnte jedoch noch hervorgehoben werden, wie sehr das Martyrium Floras das Interesse des Eulogius fand, aber das genannte Konzil von 852 entsprach überhaupt nicht seinen Vorstellungen. Eulogius zeigte keine Kompromissbereitschaft, wollte sich dem Druck des muslimischen Herrschers, der auch auf dem Konzil lastete, nicht beugen. Vielleicht wurde deshalb später seine Wahl zum Erzbischof von Toledo vom Emir nicht bestätigt.

Tod und Nachleben

So schien es nur folgerichtig, dass auch Eulogius selbst wie viele andere das Martyrium erlitt. Die Vita aus der Feder des Álvarus berichtet darüber im Zusammenhang mit den Martyrien von Flora und Leocritia († 859).16 Eulogius hatte eine Muslima, Leocritia, zum christlichen Glauben bekehrt, die sich nach ihrer Taufe an verschiedenen Orten versteckte, aber Kontakt zu Eulogius hielt. Als dieser Leocritia besuchte, wurde auch er gefasst. Er starb an den fünften Iden des Märzes (11. März), einem Sabbat, wie die Vita schreibt. Nach seinem Tod setzte sich eine Taube auf seinen Leichnam, und eine weitere Wundergeschichte fügt der Autor an. Drei Tage später wurden die Reliquien des Eulogius im „Schatten von San Zoilo“ beigesetzt.17 Vier Tage nach Eulogius starb Leocritia. Eine abschließende Notiz berichtet davon, dass an den Kalenden des Juni (1. Juni) in der Ära 897, also in der allgemeinen christlichen Jahreszählung 859, der Leichnam in die Basilika des hl. Zoilus übertragen wurde. Sein dies natalis, so heißt es am Ende der Vita weiter (gemeint ist der 11. März), falle jedes Jahr in die Fastenzeit. Es geht aber vielleicht nicht nur um Tod und Nachwirkung des Eulogius, sondern auch der anderen „Märtyrer“. In dem schon vorgestellten Brief unter-

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streicht Eulogius, dass die corpora vieler hingerichteter Christen verbrannt oder in den Fluss geworfen seien und keine Bestattung erfuhren. Er werde deshalb am Briefende die Namen und Todesdaten derer anfügen, die als Zeugen der Wahrheit (propter testimonium ueritatis) gestorben seien. Für sie erbitte er das Gebet.18 Der Brief gewinnt aber durch die Namensliste vor der Datierung einen besonderen Charakter. Blickt man auf den 12. Abschnitt, der die Exekutionen und die fehlenden Bestattungen vermerkt, dann wird nach einem Zitat aus dem siebten Psalm um Gebetshilfe ersucht: suffragia orationum uestrarum. Und der Briefschreiber will auch, dass alle Klöster in Navarra den Zustand in Córdoba kennenlernen, wo man sich wie in einem Gefängnis befinde. Aber dies alles geschehe nur mit Blick auf den ewigen Lohn (praemium aeternum) nach dem Ende der Zeiten. Man könnte den Brief als Aufforderung zur Gebetsverbrüderung ansehen. Dazu tritt etwas Anderes. Die Reise, die der Bote Galindo mit dem Brief nach Navarra antreten sollte, erinnerte Eulogius an den Reliquienwunsch des Bischofs von Pamplona. Eulogius übermittelte neben den Gebeinen des hl. Zoilus, dessen Reliquien Wilisendus erbeten hatte, um die Völker von Pamplona zu erleuchten, zusätzlich die Reliquien von Acisclus († 304). So gelangten die Reste zweier Märtyrer aus dem 4. Jahrhundert zur Verehrung in das Pyrenäengebiet. Insofern begleitete der Brief auch eine Reliquientranslation – war also ein Schriftstück, wie es auch sonst aus karolingischer Zeit in Mitteleuropa gut bekannt ist. Der Brief war somit zugleich ein Begleitschreiben zur Reliquientranslation und enthielt ein Briefmartyrolog.19 Was Eulogius als Gebetsbitte für die aktuellen Märtyrer formulierte, konnte in seinem Fall zum Reliquienkult bzw. zu Translationen führen. Als König Alfons III. von Asturien (866–909) den Emir Muḥammad I. († 886) besiegte, forderte er 883 die Reliquien von Eulogius und Leocritia, die er durch einen Samuel nach Oviedo überführen ließ; am 9. Januar 884 kamen sie dort an.20

Schlüsselgestalt

Wie trugen die Ereignisse und die damit zusammenhängenden schriftlichen Zeugnisse, für die Eulogius steht, zur Konstruktion von Identitäten bei? Inwiefern kann Eulogius exemplarisch als Schlüsselgestalt für die Christen unter muslimischer Herrschaft gelten? Noch vor einigen Jahrzehnten galten die „Märtyrer Córdobas“ einigen Historikern Spaniens als Patrioten, die sich gegen die

Schlüsselgestalt

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Fremdherrschaft auch mit ihrem christlichen Glauben aufgelehnt hätten, sie seien friedliche Revolutionäre gewesen. Pérez de Urbel ging 1928 sogar so weit zu behaupten, dass Kastilien geboren wurde, als Eulogius starb, gleichsam ein Vermächtnis des tapferen christlichen Glaubenskämpfers an den Norden.21 Diese auch politischen Aktualisierungen sollten hier zunächst auf sich beruhen, aber etwas bleibt bemerkenswert: Eulogius oder andere Märtyrer wirkten langfristig kaum im südlichen Spanien. Dies verdeutlicht, dass Eulogius und seine Mitstreiter eher zu einer Minderheit gehörten, die sich gegen einen kulturell und sprachlich fortschreitenden Assimilationsprozess aufbäumte. Wenn das zunächst eher in Córdoba als in Sevilla, Mérida oder Toledo geschah oder besser: aufgezeichnet wurde, hängt dies wohl damit zusammen, dass hier ein politisch zentraler Ort des Emirates mit einer wichtigen mozarabischen Bevölkerung anzutreffen war. Die in den Schriften deutlichen Begründungen des Märtyrertums waren zudem eher theologisch-intellektuell, wenn auch vielfach von Laien vorgetragen. Die kirchliche Hierarchie vertrat demgegenüber meist andere Positionen. Gleichzeitig scheinen die verschiedenen Werke und Traktate eher Diskussionen der Spätantike aufzugreifen, seien es Fragen der häretischen Abweichung oder Fragen der für das Martyrium gleichsam durch Prädestination bestimmten Märtyrer. Minderheitsmeinungen haben es oft schwer, aber sie konnten fortbestehen. Die Schriften der zitierten Autoren wurden im Süden wohl nicht kopiert, sind nur in wenigen Handschriften aus dem Norden überliefert. Dies gilt auch für die Reliquienverehrung im Norden, aber auch im Westfrankenreich, denn 858 kam eine Delegation unter Leitung Usuards von St.-Germain-des-Prés, die auf Umwegen mit Reliquien der Heiligen Georg, Aurelius und Natalia zurückkehrten. Die Person des Eulogius und seiner Mitstreiter zeigt weiterhin, dass sozialreligiöse Eruptionen zu den Grundgegebenheiten des umayyadischen Emirates gehörten. Das Schicksal der Märtyrer deutet – trotz eines nicht zu leugnenden Fanatismus – somit an, dass die Sorge um eine eigenständige christliche Gemeinschaft bei einigen zunahm. Andere Christen, welche die Märtyrer kritisierten, hatten sich offensichtlich besser mit den muslimischen Machthabern arrangiert. Deshalb ist auch nicht auszuschließen, dass man im Emirat von Córdoba in dieser Zeit stärker versuchte, mozarabische Christen zum islamischen Glauben zu bekehren, vielleicht auch die Möglichkeiten christlicher Glaubensausübung beschneiden wollte. Entsprechend scharf fielen manche Reaktionen aus: In den Schriften der beiden im Süden Spaniens lebenden und wirkenden, zum Martyrium bereiten Christen und Autoren Álvarus und Eulogius gilt Muḥammad entsprechend als der Vorläufer des Antichristen. Diese extremen Bewertungen

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Eulogius, „Märtyrer von Córdoba“ († 859)

zeigen zumindest, dass friedliches Zusammenleben in dieser Phase nur bedingt, jedenfalls nicht für alle Teile der Bevölkerung angenommen werden kann. In der Mitte des 9. Jahrhunderts gewannen somit wohl insgesamt starke Tendenzen einer Islamisierung die Oberhand, Mischehen wurden nun rechtlich rigide geregelt. Jedoch dürfte sich für die verbleibenden Christen im 10. Jahrhundert die Situation wieder gebessert haben. Was die Gestalt des Eulogius aber vor allem für das Zusammenleben und für den Konflikt im südlichen Spanien bedeutet, bleibt ambivalent, weil das Verhältnis von muslimischem Druck und intransigentem christlichem „Fanatismus“ nicht genau bestimmt werden kann. Dass aber rechtliche Bestimmungen, die Religionsfreiheit bei höherer Besteuerung zugestehen, noch nicht unbedingt zu einem friedlichen Zusammenleben führen, dürfte seine Person zumindest verdeutlichen. Eulogius wurde vor allem zu einem Schlüssel für Identitäten außerhalb des muslimischen Spanien, darauf verweisen Memoria und Identität im nördlichen Spanien und im Westfrankenreich, denn die meisten Notizen und handschriftliche Überlieferungen zum Dossier der Märtyrer von Córdoba stammten aus dem Norden Spaniens. Auch auf dieser Grundlage konnte Eulogius im 20. Jahrhundert zum christlichen Helden Spaniens in schwierigen Zeiten werden, ein Bild, das heute eher mit einem Fragezeichen versehen wird.

Weiterführende Literatur Coope, Jessica: The Martyrs of Córdoba: Community and Family Conflict in an Age of Mass Conversion, Lincoln 1995. Franke, Franz Richard: Die freiwilligen Märtyrer von Cordova und das Verhältnis der Mozaraber zum Islam (nach den Schriften von Speraindeo, Eulogius und Alvar) (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens 13), Münster 1958, S. 1–170. Herbers, Klaus: Patriotische Heilige in Spanien vom 8.–10. Jahrhundert, in: Dieter R. Bauer/Klaus Herbers/Gabriela Signori (Hg.): Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne (Beiträge zur Hagiographie 5), Stuttgart 2007, S. 67–85. Pochoshajew, Igor: Die Märtyrer von Cordoba. Christen im muslimischen Spanien des 9. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2007. Wolf, Kenneth Baxter: Christian Martyrs in Muslim Spain (Cambridge Iberian and Latin American studies. History and Social Theory), Cambridge u. a. 1988, S. 77–104.

Anmerkungen

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Anmerkungen 1

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Vgl. Matthias Maser/Klaus Herbers/Hartmut Bobzin/Michele C. Ferrari (Hg.): Von Mozarabern zu Mozarabismen. Zur Vielfalt kultureller Ordnungen auf der mittelalterlichen Iberischen Halbinsel (Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft 41), Münster 2014. Vgl. Juan Gil Fernández (Hg.): Corpus Scriptorum Muzarabicorum, 2 Bände (Manuales y anejos de Emerita 28), Madrid 1973, S. 330–343. Vgl. Gil Fernández: Corpus Scriptorum Muzarabicorum, 497–503; Klaus Herbers: Being Christian in the Emirate of Córdoba. The Impact and Concepts of Holiness and Sacrality, in: Ana Arsuaga/Dorothea Weltecke (Hg.): Religious Plurality and Interreligious Contacts in the Middle Ages (Wolfenbütteler Forschungen 161), Wiesbaden 2020, S. 81–107, S. 81–99. Vgl. Justo Pérez de Urbel: San Eulogio de Córdoba o la vida andaluza en el siglo IX, Madrid 1928, ²1942, S. 110. Vgl. Gil Fernández: Corpus Scriptorum Muzarabicorum. Vgl. ebd., S. 144–361. Vgl. Hartmut Bobzin: Islam II. Islam und Christentum 7.–19. Jahrhundert, in: Theologische Realenzyklopädie 16 (1987), S. 336–349, S. 338; Eulogius, Liber apologeticus, ed. Gil Fernández: Corpus Scriptorum Muzarabicorum, S. 483. Vgl. Pierre Guichard: De la Expansión árabe a la Reconquista. Esplendor y fragilidad de Al-Andalus, Granada 2000, S. 54–76. Vgl. Sabrina Späth: Konversionen auf der mittelalterlichen Iberischen Halbinsel: eine vergleichende Betrachtung dreier Konvertiten im Spiegel der Quellen, Erlangen 2016, S. 23–61; Klaus Herbers: Europa: Christen und Muslime in Kontakt und Konfrontation. Italien und Spanien im langen 9. Jahrhundert (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 2), Stuttgart 2016, S. 25–27. Vgl. Herbers: Being Christian, S. 100–107. Vgl. Eulogius, Memoriale sanctorum, ed. Gil Fernández: Corpus Scriptorum Muzarabicorum, S. 397–401; vgl. Álvarus, Indiculus., ebd., S. 275–277. Liste bei Herbers: Being Christian, S. 100–107 und Patrick Henriet: Sainteté martyriale et communauté de salut. Une lecture du dossier des martyrs de Cordoue (milieu IXe siècle), in: Michel Lauwers (Hg.): Guerriers et moines, Conversion et sainteté aristocratique dans l´Occident médiéval (Collection d´Études médiévales de Nice 4), Antibes 2002, S. 132–139. Vgl. Eulogius, Memoriale sanctorum, ed. Gil Fernández: Corpus Scriptorum Muzarabicorum, S. 434 f. Vgl. Eulogius, Memoriale sanctorum, ed. Gil Fernández: Corpus Scriptorum Muzarabicorum, S. 379–383. Vgl. ebd., S. 382 f. Ebd., S. 337–343.

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Eulogius, „Märtyrer von Córdoba“ († 859)

17 Ebd. 18 Vgl. ebd., S. 502. 19 Vgl. Klaus Herbers: Übertragene Heiligkeit – Reliquientranslationen und die Folgen, in: Andreas Bihrer/Fiona Fritz (Hg.): Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 21, Stuttgart 2019), S. 205–223, hier S. 210 f. 20 Vgl. Chr. Albeldense a. 883, ed. Juan Gil Fernández: Chronica hispana saeculi VIII et IX (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis, Bd. 65), Turnhout 2018, S. 474; vgl. Herbers: Being Christian, S. 95, Anm. 42. 21 Vgl. Pérez de Urbel: San Eulogio, 1928, S. 16 f., ²1942, S. 11. 

3. Al-Manṣūr († 1002) Ein Aufsteiger im neuen Kalifat von Córdoba

Ich bin nur ein Instrument in den Händen Gottes, ein Instrument, das nach Seinem göttlichen Willen handelt. ... Ich zeige die Macht nicht aus meinen Verdiensten heraus, sondern weil Gott sie in meine Hände gelegt hat.

Dies sollen die Worte al-Manṣūrs, eines der berühmtesten und mächtigsten Feldherrn und Herrscher in al-Andalus nach dem Zeugnis Ibn Simāks und Ibn al-ʿAbbās, gewesen sein.1 Al-Manṣūr, der im Jahre 1002 der christlichen Zeitrechnung starb, gehört zu den bedeutendsten Gestalten des Kalifates von Córdoba im 10. Jahrhundert. Eigentlich hieß er Abu ʿĀmir (davon abgeleitet der Name der Familie: Amiriden), aber der Beiname al-Manṣūr, was der „Siegreiche“ bedeutet, setzte sich in seiner letzten Lebensphase durch und charakterisiert ihn gewiss treffend. Aufstieg, Glanz und Niedergang des cordobesischen Kalifates erschließen sich in seiner Person, weil er als Emporkömmling auch Chancen und Schwierigkeiten im Kalifat erkennen lässt. Wie hatte sich dieses Kalifat in Córdoba entwickelt?

Rahmenbedingungen: Auf dem Weg zum zentralen Staat

In Córdoba herrschten seit 756 die schon genannten Umayyaden, deren Familienmitglieder bei einem Umsturz in Damaskus durch die Abbasiden (750) fast alle umgebracht wurden. Nur ein nach Spanien geflohener Umayyade konnte 756 eine vom östlichen islamischen Bereich unabhängige „Staatsgründung“ durchsetzen. In diesem Emirat von Córdoba, das mit dem Kalifat von Bagdad (das neue Zentrum der Abbasiden) lediglich wenige direkte Kontakte besaß, blieb die Herstellung der Einheit über eine geraume Zeit problematisch. Nur ein

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Al-Manṣūr († 1002)

Aspekt der zentrifugalen Tendenzen bestand in den kulturell-sozial-religiösen Konflikten, die in der Person des Eulogius († 859) greifbar wurden.2 Die bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts andauernden Revolten, Widerstände und die daraus resultierenden Schwierigkeiten beim Aufbau einer zentralen Herrschaft wurden erst durch kraftvolle politische Führung beigelegt: Nach ʿAbd Allāh († 912) erreichte die Umayyadenherrschaft unter ʿAbd ar-Raḥmān III. († 961) ihren Höhepunkt. Er konnte die verschiedenen Unruhen durch seine energische Herrschaft eindämmen. Begünstigt wurde dies, weil die benachbarten christlichen Reiche schwach blieben und die Abbasidenherrschaft im Osten kriselte. Nachdem 909 die Fatimiden in Kairouan (im heutigen Tunesien) ein Kalifat ausgerufen hatten, begründete ʿAbd ar-Raḥmān III. 929 ein eigenständiges Kalifat Córdoba und nahm den Titel eines Kalifen an. Die Zeit des Kalifates gilt häufig als Blütezeit des muslimischen Spanien. Jedoch trifft dieses Urteil nur zu, wenn bestimmte Aspekte wie Vereinheitlichung oder kulturelles Schaffen in den Vordergrund gerückt werden. Politisch bedeutete die zeitweilige Feindschaft zwischen drei größeren Gemeinschaften – den Abbasiden im Osten, den Fatimiden im Norden Afrikas und den christlichen Reichen in Nordspanien – für das neue Kalifat eine große Belastung, der mit militärischen Mitteln allein nicht getrotzt werden konnte. Vielleicht pflegte der erste Kalif deshalb vor allem in den letzten Jahren seiner Herrschaft diplomatische Aktivitäten und Gesandtenaustausch. Belegt sind Kontakte zum byzantinischen Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos († 959) sowie der Einsatz byzantinischer Handwerker in der Hauptmoschee von Córdoba. Diese Bemühungen schlossen sogar Überlegungen ein, gemeinsam mit Byzanz gegen die Abbasiden vorzugehen. Weiterhin sind Kontakte mit verjagten Königen der nördlichen spanischen Reiche sowie zum Ottonenreich belegt. Die Gesandtschaft des Abtes Johannes († 956) aus dem lothringischen Kloster Gorze im Auftrag des späteren Kaisers Otto I. († 973), die in der Vita des Abtes eindrücklich mit Verweisen auf die Verschiedenartigkeit der muslimischen Welt in Córdoba beschrieben wird, ist hierfür ein beredtes Zeugnis.3 Die Kontakte schlossen ebenso Heiraten über die religiösen Grenzen hinweg ein. Im Inneren herrschte der neue Kalif ʿAbd ar-Raḥmān III. fast absolut und wurde von Amtsträgern seines Vertrauens unterstützt. Vielleicht imitierte er bewusst das byzantinische Zeremoniell, jedenfalls begünstigte er ein Klima, das Bauaktivitäten und kulturellen Betätigungen förderlich war. Sein Nachfolger alḤakam II. († 976) war Kunst und Literatur zugetan. Unter seiner Herrschaft sollen für die bekannte Bibliothek von Córdoba mehr als 400.000 Bände zu-

Rahmenbedingungen: Auf dem Weg zum zentralen Staat

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Abb. 7: Erst 2002 wurde in Algeciras eine Statue al -Manṣūrs aufgestellt.

sammengetragen worden sein. Zum kulturellen Leben ist erst jüngst zu den Jahren 971–974 eine kaum beachtete Quelle neu erschlossen worden.4 Als nach al-Ḥakams Tod sein Sohn Hišām II. († 1009) die Herrschaft übernahm, bestimmte vor allem der hier interessierende, schon unter al-Ḥakam wichtige Ibn Abū ʿĀmir, der besser unter seinem späteren Ehrennamen al-Manṣūr bi-llāh („der mit/für Gott Siegreiche“) bekannt ist, die Politik des Kalifates. Er wurde 978 zum „ersten Minister“ und nach Beseitigung von Konkurrenten fast uneingeschränkter Herrscher. Wie für viele Personen des muslimischen Spanien sind ausführlichere zeitgenössische Zeugnisse aus der unmittelbaren Umgebung rar, jedoch ergibt sich aus zahlreichen verschiedenen Quellen, wozu auch die zeitgenössische Dichtung gehört5 ein Bild, das freilich später in verschiedenster Weise vielen Veränderungen unterlag.

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Al-Manṣūr († 1002)

Jugend, Ausbildung und Kontakt zum Hof

Ibn al-Ḫaṭīb († 1374) skizziert al-Manṣūr aus der Rückschau folgendermaßen: Sein voller Name lautet Muḥammad b. ʿAbdallāh b. ʿĀmir b. Abī ʿĀmir Muḥa­ mmad b. al-Walīd b. al-Jazīd b. ʿAbdalmalik al-Maʿāfirī. Sein Ahn ʿAbdalmalik war mit Ṭāriq b. Zijād, dem Freigelassenen des Mūsā b. Nuṣair, (nach al-Anda­ lus) gekommen und in Algeciras, dessen Bevölkerung er befehligte, seßhaft geworden. Aus der Geschlechterreihe hatten Muḥammad Abū ʿĀmir b. al-Walīd und sein Sohn ʿĀmir im Staatsdienst der Umajjaden gestanden. Al-Manṣūrs Vater (ʿAbdallāh) schließlich, ein frommer und zurückgezogen lebender Mann, war auf der Heimkehr von einer Wallfahrt nach Mekka in Tripolis, Nordafrika, verschieden. Der Sohn Muḥammad (al-Manṣūr) verriet in seiner Jugend Anzeichen besonderer Distinktion, er besaß reichliche Tüchtigkeit und Perfektion; Hinweise auf sein Führertalent ergaben sich bereits aus seiner Person. Das pflegte er auch – wie ja bekannt ist – über sich selbst zu sagen. Unter al-Ḥakam versah er das Doppelamt eines Richters (qāḍī) und Rechnungsprüfers (amīn), aus welcher Stellung ihn derselbe Kalif in diejenige eines Höflings, persönlichen Bevollmächtigten und ständigen Vertrauten seiner Umgebung erhob. In der Ḏaḫīra heißt es über ihn wie folgt: Aus der Klasse der Juristen (fuqahāʾ) und Richter wechselte al-Manṣūr zu den staatlichen Würdenträgern über: Der Hofdienst (ḫidma) mit seinen verschiedenen Möglichkeiten hatte das Gürtelband des Gelehrten gelöst, das Habit des Theologen an den Nagel befördert! 359 H rückte al-Manṣūr zum Tutor des Thronerben Hišām auf. Nacheinander belehnte ihn al-Ḥakam mit dem Landesschatzamt (ḫizāna), mit dem Kuratorium herrenloser Güter (mawārīṯ) und mit dem Richterstuhl sevillanischer Provinzen, unterstellte ihm das „Mittlere Polizeigericht“ (aš-šurṭat al-wusṭā), die nordafrikanischen Staatseinnahmen und schließlich – gegen Ende seiner Regierungszeit – die In­ spektion der Söldner (ḥašam). Gegenüber der Fürstin-Mutter Hišāms zeigte er eine so große Beflissenheit und offene Hand – er machte ihr ungewöhnlich teure und kostbare Geschenke –, daß er ihrer Sympathie sicher sein konnte. Gleichzeitig suchte er die Gesellschaft der Generalität und verpflichtete sich die fürstliche Leibgarde (ahl al-ḫuṣūṣīja); kein Tag verging, an dem er nicht eine noch höhere Sprosse erstiegen oder einen noch größeren Erfolg errungen hätte.6

Jugend, Ausbildung und Kontakt zum Hof

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Aus der Rückschau wird – wie hier – der Aufstieg bedeutender Personen meist konsequent und folgerichtig dargestellt und damit ein Lebensweg in geradliniger Entwicklungslogik konstruiert. Die zeitgenössischen Quellen erlauben hingegen eine differenziertere Rekonstruktion des Lebensweges. Al-Manṣūr stammte aus einer arabischen Familie, die in der Gegend von Algeciras Einfluss besaß und verschiedene Posten in der juristischen Verwaltung wahrgenommen hatte. Sein Aufstieg verband sich mit dem Kalifenhof von al-Andalus, besonders unter al-Hišām II. Aber schon unter dessen Vorgänger al-Ḥakam konnte al-Manṣūr am Hof als Kadi frühe Meriten erwerben. Erste Studien absolvierte er in Córdoba. Seine Karriere begann er in den Diensten des Kadis von Córdoba. Die Mutter von al-Hišām, die aus Navarra stammende Ṣubḥ (oder mit christlichen Namen Aurora, † 999) aus dem Harem des Kalifen, verschaffte ihm offensichtlich Zugang zum Hof. Ob sie auch seine Geliebte wurde, wie manche satirische Gedichte nahelegen, bleibt unsicher. Jedoch war der Kampf al-Manṣūrs um die Macht von Intrigen und Wirrungen begleitet. Er wurde zum Erzieher des ältesten Sohnes der Sultanin Ṣubḥ und näherte sich der Kalifengattin immer mehr. Die guten Beziehungen – wie immer sie auch zustande gekommen sein mögen und wie immer sie geartet waren – trugen schon bald Früchte: al-Manṣūr wurde Schatzmeister und Richter von Sevilla und Niebla. Er nutzte die neuen Ämter: Vor allem die Position als Schatzmeister eröffnete große Möglichkeiten. So soll der Kalif in den Worten Ibn Ḥayyāns († 1075) folgendes geäußert haben, als al-Manṣūr der Herrin Ṣubḥ ein Palastmodell in Silber schenkte: Wie schafft es der Junge nur, alle meine Frauen auf seine Seite zu bringen und ihre Herzen zu gewinnen? Ich habe sie mit allem denkbaren Luxus umgeben, aber offensichtlich mögen sie nur die Geschenke, die von diesem Burschen kommen, und von allem Konfekt schmeckt ihnen der am besten, den er mitgebracht hat. Was ist er eigentlich? Haben wir es bei ihm mit einem kundigen Magier zu tun oder mit einem Diener von bewundernswerten Umgangsformen? Vor allem aber sorge ich mich um Staatsgelder, die ihm anvertraut sind [...].7

Die Überprüfung des Finanzgebarens seines Schatzmeisters blieb erfolglos, weil ein Wezir die Löcher, die al-Manṣūr offensichtlich in der Kasse verantwortete, inzwischen gestopft hatte. Die Bemerkungen lassen aber erkennen, dass al-Ḥakam II. seinem Schatzmeister und Aufsteiger ein gewisses Misstrauen, vielleicht sogar Eifersucht entgegenbrachte. Weil al-Manṣūr aber die Armeen

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Al-Manṣūr († 1002)

als Finanzexperte begleitete, die der Kommandant al-Ġālib († 981) befehligte, konnte er sich sogar den militärischen Führern empfehlen, Kontakte zum Heer knüpfen und außerdem seinen späteren Schwiegervater al-Ġālib kennenlernen.

Der Weg zur Macht: Wille und Skrupellosigkeit

Der Weg zur Macht begann 976 mit dem Tod al-Ḥakams II. Aber zunächst schlug die Stunde des Wesirs al-Muṣḥafī. Der neue Kalif al-Hišām II. war erst elf Jahre alt, und dessen Mutter Ṣubḥ erkannte die Probleme dieser Thronfolge. Die Gruppe der Palastsklaven (ṣaqāliba), insbesondere zwei Chef-Eunuchen, wollte einen anderen Kandidaten auf dem Thron sehen: al-MuĠīra, den jüngsten Bruder des verstorbenen Kalifen. Die Slavoniergarden am Hofe des Kalifen bestanden aus Personen, die meist aus christlichen Gebieten, oft aus slawischen, mit Sklavenhändlern nach Südspanien gebracht worden waren.8 Die Intrige der ṣaqāliba war fein gesponnen, denn der Oheim sollte – so hieß es vordergründig – den jungen Thronfolger bis zu dessen Volljährigkeit vertreten. Aber nachdem al-Manṣūr den Palast al-Muġīras umstellt hatte und dieser beteuerte, er wolle dem kleinen al-Hišām seine Treue erweisen, bat al-Manṣūr zunächst bei al-Muṣḥafī um Gnade für al-Muġīra. Al-Muṣḥafī traute dem nicht und ließ den Konkurrenten gnadenlos erdrosseln. Der neue Kalif bestellte aber al-Muṣḥafī als Kämmerer (hāǧib) und al-Manṣūr als Wesir. Hatte auch hier die Herrin Ṣubḥ ihren Günstling durchgesetzt? Nach diesem ersten Streich umwarb al-Manṣūr den alten Heerführer al-Ġālib und dessen Tochter. So konnte er den ersten Mann, al-Muṣḥafī, isolieren. Als der Kämmerer sich über al-Manṣūrs Freigiebigkeit gegenüber der Truppe verärgert zeigte, kam es zum Konflikt. Al-Muṣḥafī wurde 978 eingekerkert, noch vier Jahre lebte er weiter in Haft. Al-Manṣūr bereitete jedoch zielstrebig seine Heirat mit der Tochter von al-Ġālib vor. Allerdings scheint der künftige Schwiegervater die feindliche Umarmung geahnt zu haben und wollte sich dagegen aufbäumen, denn er lockte den Ehewilligen auf eine abgelegene Burg zur Aussprache. Ibn al-Ḫaṭīb berichtet aus der Rückschau: Indessen beobachtete Ġālib neiderfüllt, wie sein Schwiegersohn sich des Reiches nach und nach bemächtigte und es völlig neu zu formen und unter seinem Namen als sein Werk hinzustellen wußte; auf Verrat sinnend, gedachte er, sich seiner zu entledigen. In schmeichlerischer Liebe und geheuchelter Zuneigung lud er

Der Weg zur Macht

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al-Manṣūr auf einem seiner Feldzüge, der ihn in die Nähe seiner Stadt Atienza (Antīsa) geführt hatte, zu einem eigens gerüsteten Mahle. Als der Schwiegersohn von wenigen begleitet auf der Burg erschien und allein vor Ġālib stand, brach dieser in heftigen Schmähungen aus und bedrängte ihn mit dem Schwert; seine Streiche trennten mehrere Finger von al-Manṣūrs Hand und hinterließen eine bedeutende Schläfenwunde. Der Überraschte, vor ihm die Flucht ergreifend, spornte sein Roß zum Absprung von der Burg; er kam auf diesem blindgewagten Sturz mit einem Wandelgang (sābāṭ) in Berührung, konnte sich fangen und entkam verwundet. Al-Manṣūrs Errettung aus so großer Not zeugt von seinem außergewöhnlichen, an Wunder grenzenden Glück. Während Ġālib sich in seiner Burg verschanzt hielt, rückte al-Manṣūr eilends auf Medinaceli, wo Ġālibs und seines Sohnes Palast stand. Al-Manṣūr nahm das Gebäude […] mit dem darin befindlichen Hab und Gut in Beschlag, verteilte alles an die Soldaten – für sich selbst beanspruchte er nichts – und kehrte nach Córdoba zurück.9

Endgültig siegte al-Manṣūr 981, nun nach dem Kalifen konkurrenzlos der zweite Mann im Staate, seit 978 war er auch Kämmerer. Dem Kalifen wurde kein Haar gekrümmt, aber er war de facto entmachtet. Dieser Aufstieg und die Skrupellosigkeit lassen sich durchaus kritisieren, aber es gibt Anzeichen dafür, dass fast jeder seiner Gegner bei einem Erfolg ähnlich vorgegangen wäre. Allerdings scheinen Skrupellosigkeit und Machtwille bei al-Manṣūr so groß gewesen zu sein, dass selbst Familienmitglieder vor ihm nicht sicher waren.

Alleinherrschaft und Repräsentation – Misstrauen und Überwachung

Wer so aufsteigt, hat nicht nur Freunde. Al-Manṣūr deckte eine Konspiration gegen sich auf, die Gruppe der ʿulamāʾ kritisierte sein privates und öffentliches Verhalten, denn er sei nicht rechtgläubig genug. Auch deshalb zensierte alManṣūr die bekannte umfassende Bibliothek von al-Ḥakam II. Werke der Philosophie, der Astronomie und aus anderen Wissensbereichen wurden zerstört. Wie sehr al-Manṣūr dem Zentrum des Kalifates seinen Stempel aufdrückte, lässt die bauliche Entwicklung in der Hauptstadt Córdoba erkennen. Die archäologischen Befunde werfen ein Licht auf Ökonomie, Größe und die architektonische Pracht dieser Stadt im 10. Jahrhundert. An den Ufern des Guadalquivir, dort, wo Schiffe noch manövrieren konnten, begünstigte die Lage das Wachstum be-

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Al-Manṣūr († 1002) Abb. 8a: Plan der Stadt Córdoba, der auch die Erweiterungen der Hauptmoschee und das Wachsen der Stadt im 10. Jahrhundert zeigt.

sonders. Neue Mauern oder Mühlen im Fluss sind schon für das 8. Jahrhundert belegt. Im 10. Jahrhundert besaß die Stadt sieben Tore und 21 Vorstadtviertel. Die Anbauten der Moschee lassen die Bevölkerungszunahme gut erkennen. 785 wurde die alte Moschee instandgesetzt. 833 fügte ʿAbd ar-Raḥmān II. († 852) neun Querschiffe hinzu, 961 baute al-Ḥakam II. noch einmal südlich elf neue Querschiffe an, 977–987 ließ al-Manṣūr den Bau mit acht neuen Schiffen nach Osten erweitern (Abb. 8a und 8b). Genaue Zahlen zum Wachstum der Stadtbevölkerung, die man aus dieser Größe der Moschee gefolgert hat, bleiben unsicher, die Vorschläge schwanken zwischen 100.000 und 300.000 Einwohnern.10 Bevölkerungswachstum, Reichtum und architektonischen Luxus allgemein belegen jedoch nicht nur die Baumaßnahmen an der Moschee, sondern auch die Städte vor den Toren, deren Errichtung al-Manṣūr entscheidend förderte. Madinat az-Zahrāʾ (wörtl. „die Stadt der Blumen“) ist durch Ausgrabungen zum Teil erschlossen und bietet ein eindrückliches Beispiel für eine solche Residenzstadt, die bis zu 30.000 Menschen Lebensraum bot. Sie wurde für eine

Alleinherrschaft und Repräsentation – Misstrauen und Überwachung

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Abb. 8b: Erweiterungen der Hauptmoschee in Cordoba bis ins 10. Jahrhundert.

Favoritin ʿAbd ar-Raḥmāns III. mit dem Namen az-Zahrāʾ erbaut und liegt etwa fünf Kilometer nordwestlich von Córdoba (Abb. 9). Diese Satellitenstadt schufen jahrzehntelang mehr als 10.000 Arbeiter, Marmor wurde aus Karthago und Sfax importiert. Der Handel blühte an diesem Ort, was allein daran sichtbar wird, dass jeder Händler 400 Dirhem zahlen musste, um sich dort niederlassen zu dürfen. 978–979 kam es zum Bau einer weiteren Stadt. Al-Manṣūr wollte mit einer weiteren Satellitenstadt seinen Aufstieg und die mögliche Begründung einer neuen Dynastie der Amiriden dokumentieren. So entstand Madinat az-Zāhira östlich von Córdoba. Der ganz ähnliche Name deutet darauf hin, dass die neue Residenz die alte Vorstadt sogar übertrumpfen sollte. Hierher wurden alle Strukturen von Madinat az-Zahrāʾ übertragen. Diese Bauten und die architektonischen Leistungen – Schlösser, Erweiterung der Kathedralmoschee in Córdoba, öffentliche Brunnen und Brücken über den Guadalquivir und Genil – haben al-Manṣūrs Ruhm in Stein gemeißelt. Der

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Al-Manṣūr († 1002)

Abb. 9: Die Zeichnungen zeigen die „Satellitenstädte“ Cordobas aus dem 10. Jahrhundert.

Kalif stattete seinen Feldherrn mit allen Vollmachten aus, um sich frommen Tätigkeiten zuwenden zu können. Al-Manṣūr nutzte seinerseits die erhaltenen Befugnisse aus und isolierte den Kalifen. Nach dem Tod von al-Ġālib in Torre Vicente 981 nahm der unangefochtene Feldherr den Titel al-Manṣūr bi-llāh an. Aber die Angst um seinen Machterhalt und die Furcht vor Attentaten begleiteten ihn zunehmend. Deshalb beauftragte er eine zuverlässige Person damit, alle Umayyaden-Abkömmlinge zu überwachen. Die Marwaniden sollten ihre Behausungen nicht verlassen. Auch installierte er innerhalb des Gefolges ein ausgeklügeltes wechselseitiges Überwachungssystem mit Beobachtung und Bespitzelung.

Der Feldherr: Kriegszüge gegen Nord und Ost

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Das betraf auch al-Manṣūr selbst, er musste – wie viele Aufsteiger – arbeiten und wachsam sein, denn man wird einsam auf den Höhen der Macht. Ibn alḪaṭīb legte einem Pagen in seiner Chronik zur Wachsamkeit des neuen Alleinherrschers folgende Worte in den Mund: In der Regel hatte ich bei meinem Herrn bis um die Morgenfrühe zu tun. Damals vertrug er sich schon nicht mehr mit dem Kalifen; sich seinen Frauen entziehend, suchte er lieber seinen Pavillon „Perle“ oder einen ähnlichen Ausflug auf, um unter den Sternen mit sich allein zu sein. Hier durchwachte er die Nacht, in tiefes Nachdenken versunken, vor sich die brennende Kerze, auf dem Schreibzeuge neben sich die Papierrolle. Wenn ihm etwas Wichtiges einfiel, hielt er es sogleich schriftlich fest. Erst kurz vor Morgengrauen sank er auf ein beliebiges Kissen in irgendeinem Winkel seiner Einsiedelei, so dass seine Leute von ihm nie wissen konnten, wo er eigentlich schlief. Er war schon wieder auf, wenn Zahnreiniger und Ablutionswasser vor ihn hingestellt wurden. Den Ausrufer genau beachtend, verrichtete er das Gebet, knüpfte die Schriftrolle in das Tuch seines Ärmels und trat aus seiner Zurückgezogenheit hervor. Nunmehr durften Höflinge, Wezire und Beamte vom Frühdienst vorsprechen; mit ihnen erörterte er seine nächtlichen Aufzeichnungen, um Einzelnes daraus, sofern es geraten schien, in der Folge anzuordnen. War es dann vollends Tag geworden und ein jeglicher zur Stelle, so begann die allgemeine Inspektion. Gleichzeitig überreichte mir der Reichsverweser die Schriftrolle, die ich in seiner Gegenwart zerstückelte und in Rosenwasser tauchte, bis alle Stücke bedeckt waren. Eines Nachts sagte ich zu ihm: „Unser Herr bleibt viel zu lange auf, sein Körper braucht mehr Schlaf; unser Herr weiß, dass ihn dieses Aufbleiben ein schweres Nervenleiden kosten kann“ – „Šuʿla“, antwortete al-Manṣūr, „der Wächter der Welt schläft nicht, wenn die Herde schläft. Würde ich ausschlafen, so würde niemand im Umkreis dieses Ortes ein Auge schließen können. Und wäre ich von Dem da auf dem Schlosse – wobei er auf die Kalifenresidenz wies – so weit wie von hier nach Baza entfernt: Ich dürfte dennoch nicht schlafen, geschweige, wo wir auf Rufweite voneinander getrennt sind!11

Der Feldherr: Kriegszüge gegen Nord und Ost

Der Konsolidierung im Inneren entsprachen Expansionsunternehmungen nach Norden und Osten. Al-Manṣūr führte 52 Expeditionen gegen die christlichen Herrschaften im Norden und Osten der Iberischen Halbinsel, die in dieser Zeit

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nicht allzu stark militärisch gerüstet waren.12 Zu den wichtigsten gehörten: Zamora 981, Simancas 983, Sepúlveda 984, Barcelona 985, Coimbra 987, León 988, Santiago 998, Cervera 1000 und San Millán de la Cogolla 1002. Bei diesen Zügen zwang al-Manṣūr zahlreiche Herrscher in die Knie: so König Sancho II. Garcés von Navarra (970–994). König Vermudo II. von León (982–999) forderte sogar eine Armee des Amiriden an, um seine Position zu stabilisieren. Sancho Garcés und Vermudo II. gaben zudem ihre Töchter zur Heirat an al-Manṣūr, der somit sowohl die Geschicke in den christlichen Reichen wie im Kalifat durch militärische und diplomatische Aktionen unter seine Kontrolle bringen konnte. Dazu traten Feldzüge in Nordafrika. Ibn Ḥayyān ist die Hauptquelle für diese Unternehmungen. Insgesamt suchte al-Manṣūr wie seine Vorgänger vor allem Unterwerfungen und Bindungen (vasallitischer Art), weniger territoriale Eroberungen. Bei diesen Feldzügen wurde wohl das Heiligtum in Santiago de Compostela (997) nicht ausgespart. Ein kurzer Vergleich verschiedener, allesamt späterer Berichte hierzu zeigt, wie die Erinnerungswege zum Ruf des Feldherrn hier angelegt wurden. Aus einer arabisch-muslimischen Perspektive berichtete Ibn al-Ḫaṭīb im 14. Jahrhundert: Im Jahre 371 H eroberte al-Manṣūr auf seinem vierten Feldzuge mit Waffengewalt Zamora (Sammūra) und gab diese Reichshauptstadt und Herrscherresidenz der Plünderung und Zerstörung preis. Auf dem Zuge nach Simancas (Šant Mankaš) nahm er über zehntausend Edelleute gefangen. Denkwürdig erscheint vor allem sein Zug nach Santiago (Šant Jāqub), der Stadt im äußersten Galizien, der größten christlichen Wallfahrtszentrale des Andalus und der angrenzenden Terra Magna (Arḍ Kabīra).13

Wenig früher, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt der christlichen Rückeroberungen (Reconquista), fügte Rodrigo Jiménez de Rada, Erzbischof von Toledo († 1247), in seiner Chronik ein Kapitel zum „Tod Almanzors“ ein und vermerkte, dass er auch die Stadt und Kirche des heiligen Jakob verwüstete, dann aber vom Ort abgelassen habe, weil er durch einen Blitzstrahl erschreckt worden war, obwohl er sich vorgenommen hatte, diese Stätte zu schänden. Glocken habe er aber als Siegeszeichen mitgenommen und in der Moschee von Córdoba als Leuchten aufgestellt. Für diese Vergehen habe Gott ihn gestraft.14 Danach wird über den Tod durch die Ruhr oder unmittelbares Sterben

Der Feldherr: Kriegszüge gegen Nord und Ost

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berichtet. Noch früher, in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts berichtet eine epische lateinische Dichtung über Pilgerfahrt und Kreuzzug Karls des Großen († 814), die Erzbischof Turpin von Reims († 794) verfasst haben soll. Diese Historia Turpini, die ins Jakobsbuch integriert wurde, zeigt die Compostellaner Perspektive und ist literarisch durchformt. Ein Kapitel erzählt von al-Manṣūrs Plünderungen in der Apostelstadt: Nachdem das galizische Land nach Karls Tode lange Zeit in Frieden gelebt hatte, erhob sich, vom Teufel angestachelt, ein gewisser Sarazene, der Almansor von Córdoba, und sagte, er werde das galizische Land, das Karl seinen Vorfahren einst geraubt habe, sich wieder aneignen und dem sarazenischen Glauben unterwerfen. Er […] gelangte bis zur Stadt des seligen Jacobus und riss alles, was er dort fand, mit Gewalt an sich. Auch zerstörte er freventlich die ganze Basilika des Apostels und raubte die Handschriften, die silbernen Altartische und die Glocken. Als nun die Sarazenen gar mit ihren Pferden darin kampierten, begann dieses abscheuliche Volk auch noch am apostolischen Altar seine Notdurft zu verrichten. Deshalb bekamen einige von ihnen, von göttlicher Rache getroffen, starken Durchfall und verloren alles, was sie im Leibe hatten, durch den After. Andere verloren ihr Augenlicht und irrten wie Blinde durch Kirche und Stadt. […] Auch der Almansor wurde von dieser Krankheit befallen und erblindete völlig. Auf den Rat eines seiner Gefangenen, eines Priesters der Basilika, flehte er darauf den Gott der Christen um Hilfe an und sprach: ‘O Gott der Christen, Gott Jakobs, Gott Mariens, Gott Petri, Gott Martini, Gott aller Christen, wenn du mir meine frühere Gesundheit wiedergibst, leugne ich Mohammed, meinen Gott, und werde des großen Jacobus Land nie mehr ausplündern. O Jacobus, großer Mann, wenn du meinem Leib und meinen Augen die Gesundheit wiedergibst, gebe ich alles zurück, was ich aus deinem Haus geraubt habe‘. Dann, nach vierzehn Tagen, als er alles doppelt (der Kirche) zurückerstattet hatte, erlangte er seine frühere Gesundheit wieder und zog aus dem Lande des hl. Jacobus ab. Er versprach, nie mehr in dieses Gebiet in räuberischer Absicht zu kommen und verkündete laut, der Gott der Christen sei groß und Jacobus sei ein großer Mann. […].15

Schon die kurzen Notizen von al-Ḫaṭīb und Rodrigo zeigen unterschiedliche Perspektiven. Die Historia Turpini, welche die Geschichte ausschmückt, lässt Jakobus strafen, und führt al-Manṣūr dazu, die Größe des Pilgerapostels anzuerkennen. Wie es abschließend heißt – war das der letzte Zug eines Feldherrn aus Córdoba in den Norden Spaniens. Die Darstellung ist deshalb so wichtig,

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weil die Historia Turpini in zahlreichen Fassungen in ganz Europa weiterverbreitet wurde. So konnten der Apostel Spaniens und al-Manṣūr in ein klares Verhältnis gebracht werden. Aber de facto kämpfte al-Manṣūr nicht nur in Compostela. Harte Auseinandersetzungen gab es auch in Navarra, die Schlacht von Cervera (1000) wird unterschiedlich beurteilt. Jedenfalls musste der navarresische König Sancho III. nach Córdoba reisen, um die Friedensbedingungen entgegenzunehmen. Dort sah Sancho auch seine Tochter (in Córdoba Abda genannt, [† 1002]) wieder und seinen 984 geborenen und islamisch erzogenen Enkel Sanchuelo, der im Kalifat ʿAbd ar-Raḥmān gerufen wurde († 1009). Die Ehe deutet an, wie wichtig politische Heiraten – auch über religiöse Grenzen hinweg – neben Feldzügen blieben, zumal viele standesgemäße Partnerschaften durch das Bespitzelungssystem al-Manṣūrs unmöglich scheinen. Eine Ehe war al-Manṣūr auch mit Teresa, der Tochter des leonesischen Königs Vermudo II., eingegangen, die wohl kinderlos blieb. Teresa kehrte nach al-Manṣūrs Tod in den Norden zurück und nahm den Schleier († 1039).

Reform des Heeres

Al-Manṣūr führte seine Kriegszüge teilweise schon mit Söldnerheeren durch. Damit verstärkte er Tendenzen, die seit 939 im Kalifat zu beobachten sind. Denn inzwischen wurde seltener die Bevölkerung, sondern es wurden eher Söldner zum Kriegsdienst verpflichtet. Stadtbewohner, später auch Landbewohner, ließen sich meistens durch eine Abgabe vom Militärdienst befreien. Die Zahl des militärischen Aufgebots muss sich enorm erhöht haben, berichtet wird von 46.000 Reitern und 26.000 Fußsoldaten; für die Zeit zuvor darf man etwa von der Hälfte ausgehen. Mit solchen Zahlen konnte kein Heer im übrigen Europa konkurrieren. Zu den Söldnern zählten Sklaven (Slawen), Christen und andere Personen. Man könnte diese Heere, die sich sonst erst im späten Mittelalter im übrigen Europa verbreiten sollten, als eine Art früheste Fremdenlegion bezeichnen. Zur Finanzierung wurden jedoch alle Andalusier zu beträchtlichen Zahlungen herangezogen, sogar diejenigen arabischer Herkunft. Auf der anderen Seite verfügte das Kalifat damit über eine sehr schnell – innerhalb von 24 Stunden – einsatzfähige Truppe, in der zudem Opponenten keinen Platz mehr hatten. Dennoch war im Söldnersystem der Keim des Niederganges bereits angelegt. Wenn keine energischen Führer und keine Mittel zur Verpflichtung von Söld-

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nern mehr zur Verfügung standen, war im Verteidigungsfall eine Krise vorprogrammiert. Im Wesentlichen waren drei Konsequenzen zu bedenken: • die Verarmung der abgabenpflichtigen Bevölkerung, • die insgesamt zunehmende Indifferenz gegenüber dem „Staat“, • die fehlende Wehrertüchtigung, die im Krisenfall des Söldnerheeres gravierende Folgen zeitigen konnte. Außerdem förderten die Kriegszüge, die in regelmäßigen Abständen nach Norden führten, auch die Entstehung eines stärkeren christlichen Gemeinschaftsbewusstseins, vor allem, weil nun die Züge der Muslime weniger Rachefeldzüge als wirkliche Angriffe waren. Für die angegriffenen christlichen Reiche gewannen so die lange Zeit als Hispano-Araber gesehenen Personen ein anderes Gesicht, und wahrscheinlich wurde dadurch die Konstruktion von Feindbildern gefördert. Da aber auch Christen in den Söldnerheeren dienten, konnten zudem wertvolle Einblicke in das Straßensystem, den Nachschub und die Struktur des cordobesischen Kalifates gewonnen werden. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich ein neues Verhältnis zwischen christlicher und muslimischer Welt, das Konsequenzen zeitigte, sobald die Attacken al-Manṣūrs nachließen.

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Verwundert es vor dem Hintergrund dieser strukturellen Probleme, dass in den Jahren 996–998 Anzeichen einer Krise des Herrschaftssystems deutlich wurden? Hinweise waren unter anderem der Bruch al-Manṣūrs mit seiner Fürsprecherin Ṣubḥ sowie die Diskussionen darum, ob al-Manṣūr den Kalifentitel annehmen dürfe. Die letzten Kriegszüge des Feldherrn scheinen dann zu den grausamsten gehört zu haben. Vor allem die Schlacht bei Calcanazor, die al-Manṣūr verloren habe, gilt in den lateinischen Quellen des christlichen Nordens als einer der mörderischsten Waffengänge. Zwischen Medinaceli und Burgos hätten nach späteren Quellen die Muslime 40.000 Reiter verloren. Enorme Verluste dürften feststehen, selbst wenn die Zahlen und der Bericht über die Niederlage später übertrieben oder erfunden wurden. Der letzte Raubzug scheint zum kastilischen Kloster San Millán de la Cogolla geführt zu haben, das in Flammen aufging. Ob al-Manṣūr dabei verletzt wurde, ist bis heute unklar. Als der sieggewohnte Feldherr auf der Rückkehr von diesem Feldzug in die Rioja am 11. August 1002 in Medinaceli starb, wurde er auch dort beigesetzt, einige Jahrhunderte lang ist die Grabesstätte dort nachgewiesen. Die arabische Überlieferung berichtet folgendermaßen:

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Al-Manṣūr verschied – Gott hab ihn selig! – auf der Rückkehr von seinem Zuge nach der Stadt des Gómez-Sohnes und Herrn von Kastilien in der von ihm selbst erbauten, aufgeführten und gegen den Feind vorgeschobenen Stadt Medinaceli – sie zählt zu Guadalajara in der Mark –, wohin man ihn vom Kriegsschauplatz getragen hatte: zu Häupten, geachtet, auf dem Throne des Ruhmes und der Ehre, der Führerschaft und kampferfüllten Energie, in der Nacht zum 27. ramaḍān des Jahres 329 H. Zu Medinaceli wurde er im Schlosshofe beigesetzt, und man kennt noch heute dort sein Grab. Ein ṭālib, den ich selbst zur Bestätigung eines Vertragsabschlusses mit dem kastilischen König entsandte und der unterwegs Medinaceli – mit entsprechender Anweisung von mir – betrat, verbürgte seine Existenz; allerdings sind keine Grabinschriften – eingravierte Verse, vermerktes Todesdatum, Lobverkündung – mehr zu sehen.

Ein Ohrenzeuge überliefert die letzten Ermahnungen, die al-Manṣūr während seiner tödlich verlaufenden Krankheit an seinen Sohn ʿAbdalmalik richtete: „Mein lieber Sohn! Du vermöchtest keinen besseren Ratgeber zu finden und keinen besorgteren Freund als mich; du darfst meinen Rat nicht verachten; denn ich enthülle dir meine Meinung und Überlegung bei vollem Verstand! So halte sie dir als Beispiel vor Augen!“ „Ich habe dir den Boden der Macht geebnet und die Zuneigung der Großen gesichert; ich habe dir die Bilanz aus Landeseinnahmen und –ausgaben hinterlassen und zahlreiche Vorräte und Rüstungen bereitgestellt; ich habe dir einen mehr als ausreichenden Steuerschatz vermacht, um deine Position durch Heer und Fiskus zu verstärken. So lasse dich nicht zu übertriebenen Ausgaben oder Unterstützung ungerechter Funktionäre verleiten, dein Staat könnte sonst rasch verfallen, denn jede Verschwendung führt unweigerlich zu Verfall! Handle nach Vermögen recht! Verlange nach Beweisen, so ein Gemeiner Anklage erhebt!“ „Die Untertanen habe ich dir voll gefügig gemacht; ihr letztes Ziel ist ja nur, vor Ungemach bewahrt zu sein und auf deine Nachsicht zu vertraun!“ „Den Mann im Schlosse (das heißt Hišām) kennst du schon in seiner Art und weißt, dass du von ihm nichts zu befürchten hast. Alles Böse kommt vielmehr von denen, die ihm dienen und in seinem Namen aufbegehren; so wiege dich angesichts dieser Rotte nicht völlig in Sicherheit und lasse in deinem Argwohn oder Misstraun niemals nach! Unverweilt strafe jeden, den du aus ihrer Mitte fürchten musst, bei dem geringsten Anlass; erfülle aber deine Pflicht gegenüber dem Mann im Schlosse voll und ganz! Nur eines kann dich und diese hier von einem Bruch

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des ihm geleisteten Treueides bewahren: die Aufwendung zustehender Pension! Zur Alleinherrschaft unter Ausschluss des von mir als beschränkt und regierungsuntauglich befundenen Hišām sind wir beide, du und ich, hoffe ich denn doch, durchaus befugt, solange wir uns nur an den Koran und die Sunna halten!“ „Das bei deiner Mutter gehortete Vermögen ist der Schatz deiner Herrschaft und die Ration für den Notfall; so hüte diesen Schatz wie deinen Augapfel, den du nur gezwungen preisgibst, wenn du für dein Leben fürchten musst!“ „Für deinen Bruder ʿAbdarraḥmān habe ich zu meinen Lebzeiten ein Erbteil bestimmt, das ich ihm nach meinem Ermessen rechtens ausgesetzt habe. Ich habe ihm das Kommando über die Grenzmark entzogen, damit der Feind nicht – gegen den Sinn meines Testamentes – zwischen euch beiden einen Keil treibe, […].16

Eine Grabinschrift berichtet Folgendes (Ibn al-Ḫaṭīb behauptet demgegenüber, es habe keine Grabinschrift gegeben): Seine Spuren sprechen dir von seinen Taten als sähest du mit eigenen Augen ihn Gott! Die Zeit bringt nie mehr seinesgleichen, niemand schützt die Grenzen außer ihm.17

Die Chronik von Silos aus dem 11. Jahrhundert kommentiert den Tod alManṣūrs etwas anders, denn hier bringt ein Dämon, der al-Manṣūr schon zeitlebens beherrscht habe, diesen direkt bei Medinaceli in die Hölle.18 Über sein Testament bemerkt Ibn al-Ḫaṭīb im 83. Kapitel seines Werkes folgendes: Ich habe dir den Boden der Macht geebnet und die Zuneigung der Großen gesichert; ich habe dir einen mehr als ausreichenden Steuerschatz vermacht, um deine Position durch Heer und Fiskus zu stärken. So lasse dich nicht zu übertriebenen Ausgaben oder zur Unterstützung ungerechter Beamter verleiten, dein Staat könnte sonst rasch verfallen, denn jede Verschwendung führt unweigerlich zum Verfall […].19

Auf al-Manṣūr folgten seine Söhne ʿAbd al-Malik (1002–1008) und ʿAbd arRaḥmān/Sanchuelo (1008–1009), die aber beide das politische und militärische Format ihres Vaters nicht erreichten. Sanchuelo versuchte 1009, die Umayyaden durch seine eigene Familie, die Amiriden, zu ersetzen; er scheiterte jedoch am

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Widerstand der umayyadentreuen arabischen Aristokratie. Die sich anschließende Endphase des Kalifates bis 1031, in der sich sechs Kalifen in schneller Folge ablösten, brachte eher Verwirrung, insbesondere Streitigkeiten zwischen Unfreien (Sklaven) und Berbern, und führte schließlich zum Ende und zur Zersplitterung, es entstanden muslimische Kleinkönigreiche (Taifas, arab. ṭāʾifa – ṭawāʾif ). Bietet die Person al-Manṣūr auch Ansatzpunkte, um diesen Untergang zu erklären? Vom Ergebnis her zerfiel das Kalifat in zahlreiche Kleinkönigreiche, vielleicht spielten zentrifugale Kräfte auch in dieser Phase eine Rolle, denn der Zentralismus wurde lange Zeit nur durch Gewalt aufrechterhalten. Der Prozess des Verfalls ist aber nur bedingt mit dem Hinweis auf eine schon lange geführte Diskussion zu erklären, ob es während der ersten Jahrhunderte muslimischer Herrschaft zu einer Hispanisierung der Araber kam, oder ob die Hispanoromanen eher arabisiert wurden. Die Darstellung der verschiedenen Krisen, Aufstände und Fluchtbewegungen stellt eine grundsätzliche Annahme des friedlichen, fruchtbaren Zusammenlebens verschiedener Traditionen zu dieser Zeit jedenfalls in Frage und mahnt zur Differenzierung. Allerdings bestanden zwischen dem Norden und Süden Spaniens zahlreiche, auch verwandtschaftliche Beziehungen. Deshalb kann kaum einheitlich und allgemein geantwortet werden, denn der Blick auf die Sprache, die Religion oder die Institutionen des Staates zu verschiedenen Zeiten und an diversen Orten würde je andere Stellungnahmen hervorbringen. Interessant bleibt der Zeitpunkt des Zusammenbruches, denn er liegt wenig nach den militärischen Höchstleistungen eines al-Manṣūr sowie den geschilderten baulichen Aktivitäten. Ob das Söldnerwesen eine Rolle spielte? In einer Zeit als zunehmend Sklaven importiert wurden, das Heer sich vor allem aus Söldnern rekrutierte und der Trend zur Urbanisierung zunahm, kam es zwangsläufig zur Auflösung alter Strukturen, ohne dass andere Mittel zur Einbindung von Personengruppen, insbesondere an der Peripherie, gefunden wurden. Deshalb war nach den großen Zügen al-Manṣūrs das Ende des Kalifats vielleicht nur noch eine Frage der Zeit. Das Konfliktpotential verschiedener Gruppen, die ökonomische Überanstrengung, die zentrifugalen Tendenzen und andere Faktoren spielten zusammen, was den Niedergang des äußerst zentralistisch organisierten Kalifates multikausal zu erklären hilft. Kulturell fand jedoch kein Niedergang statt, ja die orientalistische Forschung geht sogar davon aus, dass in den nachfolgenden muslimischen Kleinkönigreichen (Taifenreiche) erst wichtige kulturelle Impulse und Höhepunkte zu verzeichnen seien, die sich aber ih-

Schlüsselgestalt

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rerseits nicht durch militärische Stärke hervortaten, wie der Blick auf den Cid erläutern kann.20

Schlüsselgestalt

Die Gestalt al-Manṣūrs erschließt eine wichtige Umbruchszeit der spanischen Geschichte und ist damit in mehrfacher Hinsicht Schlüsselgestalt. Die 2002 in Algeciras errichtete Statue zeigt einen friedlichen Herrscher und damit nur eine Seite der Medaille. Sein Lebensweg und Aufstieg verweisen auf innere Strukturen, Intrigen, Günstlingswirtschaft und Einflussnahmen im Kalifat und zeigen damit eine andere Seite zur kulturellen Blüte Córdobas in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, die aber unbestreitbar an den beeindruckenden Bauten der Stadt bis heute ablesbar ist. Al-Manṣūr steht jedoch zugleich dafür, wie die zunehmend autoritäre Herrschaft sich aus kriegerischen Aktionen speiste, die aber mit Söldnerheeren abgehoben von der Bevölkerung des Kalifates erfolgten und wie diese Konfrontationshandlungen zur Legitimation der eigenen Position immer stärker zunahmen. Damit entwickelte sich seine Person besonders durch die grausamen Kriegszüge im Laufe der Jahrzehnte zunehmend zum Feindbild für die christlichen Reiche des Nordens und förderte auch die Bereitschaft zu den sogenannten Reconquista-Aktivitäten des 11. Jahrhunderts. Nicht nur die Söldnerheere belegen Umstrukturierungen des religiös und ethnisch labilen Gleichgewichtes im Kalifat und zugleich die Überanstrengung des muslimischen Einheitsstaates.

Weiterführende Literatur Fletcher, Richard: Moorish Spain, Berkeley u. a. 2006. Herbers, Klaus: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006. Verlinden, Charles: L’esclavage dans l’Europe médiévale vol. I: Péninsule Ibérique, Brügge 1955. Wasserstein, David J., The Caliphate in the West. An Islamic Political Institution in the Iberian Peninsula, Oxford 1993.

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Laura Bariani: Almanzor (Serie Media 15), San Sebastián 2003, S. 17. Vgl. Kapitel 2. Vgl. Peter Christian Jacobsen (Hg.): Hystoria de vita domni Iohannis Gorzie coenobii abbatis/Die Geschichte vom Leben des Johannes, Abt des Klosters Gorze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 81), Wiesbaden 2016, S. 39–72 und S. 415–467. Eduardo Manzano Moreno: La Corte del califa. Cuatro años en la Córdoba de los omeyas (Crítica Serie mayor), Barcelona 2019; dt.: Der Hof des Kalifen. Córdoba als Zentrum der islamischen Hochkultur, Berlin u. a. 2022. Vgl. Bariani, Almanzor, S. 273–277; Philippe Sénac: Al-Mansûr: le fléau de l‘an mil, Paris 2006, bes. S. 150–182. Wilhelm Hoenerbach (Hg.): Islamische Geschichte Spaniens: Übersetzung der Aʿmāl al-aʿlām und ergänzender Texte (Die Bibliothek des Morgenlandes), Zürich u.a. 1970, S. 153 f. Hermann Schreiber: Halbmond über Granada: Acht Jahrhunderte maurischer Herrschaft in Spanien, Herrsching 1980, S. 245. Vgl. Charles Verlinden: L’esclavage dans le monde ibérique médiéval, in: Anuario de historia del derecho español 12 (1935), S. 361–424, S. 372–375. Hoenerbach: Islamische Geschichte, S. 158; Schreiber: Halbmond, S. 248 f. Maurice Lombard: Blütezeit des Islam: Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte; 8.– 11. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1992, S. 150. Hoenerbach: Islamische Geschichte, S. 177–178. Vgl. José Manuel Ruíz Asensio: Campañas de Almanzor contra el reino de León (981– 986), in: Anuario de estudios medievales 5 (1968), S. 31–64. Hoenerbach: Islamische Geschichte, S. 164 f. Vgl. Juan Fernández Valverde (Hg.): Rodrigo Jiménez de Rada, Historia de Rebus Hispanie sive Histoira Gothica (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 72), Turnhout 1987, S. 165. Hans-Wilhelm Klein (Hg.): Die Chronik von Karl dem Großen und Roland = Historia de vita Caroli Magni et Rolandi/der lateinische Pseudo-Turpin in den Hs. aus Aachen und Andernach (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 13), München 1986, S. 135 und S. 137. Hoenerbach: Islamische Geschichte, S. 184 f. Schreiber: Halbmond, S. 270. Vgl. Perez de Urbel/Atilano Gonzalez Ruiz-Zorilla (Hg.), Historia Silense, Madrid 1959, S. 176. Schreiber: Halbmond, S. 270 f. Vgl. Kapitel 4.

4. Rodrigo Díaz de Vivar, der Cid († 1099) Kastiliens ritterliche Zierde

Die Puerta in Burgos zeigt (Abb. 10) im Reigen verschiedener Helden der Geschichte Kastiliens auch den sogenannten Cid, der wie al-Manṣūr unter seinem Beinamen, weniger als Rodrigo Díaz de Vivar bekannt ist. Der Cid steht vor allem, aber nicht nur für Kastilien. Er ist gewiss eine vielfältige Schlüsselgestalt, die sich aber schnell verflüchtigt, wenn man ihrer konkret habhaft werden will. Andreas Blum hat vor einiger Zeit auf Walt Disneys lustige Taschenbücher verwiesen, wo nicht vom Cid Campeador, also dem Kämpfer, sondern vom „Cid Pampeador“ die Rede ist. Für Walt Disney († 1966) war der Cid ein Ritter, der durch die argentinische Pampa ritt und der deshalb für ihn schlicht und einfach Pampeador hieß.1 Die früheren literarischen Bearbeitungen und anderen Nutzungsformen sind Legion, denn schon seit dem 13. Jahrhundert wurde der Stoff des zunächst entstandenen Heldenliedes (El Cantar de mio Cid) zum Ausgangs-

Abb. 10: Das Stadttor in Burgos (Arco de Santa Maria), eines der mittelalterlichen Stadttore, ließ Karl V. 1535 erneuern. Karl V. (Mitte oben) wird von wichtigen Personen Kastiliens umgeben (zu seiner Rechten Fernán Gonzalez und zu seiner Linken der Cid).

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Rodrigo Díaz de Vivar, der Cid († 1099) Abb. 11: Charlton Heston spielte den Cid im gleichnamigen Film (1961).

punkt für Ritterromane, Dramen und andere literarische, musikalische oder filmische Bearbeitungen. Das frühe Heldenlied El Cantar de mio Cid geriet jedoch zeitweise in Vergessenheit, es wurde erst 1779 veröffentlicht und dann von der romantischen Mittelalterbegeisterung aufgegriffen. So schrieb zum Beispiel Johann Gottfried Herder († 1803) eine Ballade über den spanischen Heldenritter. Auch das Kino bemächtigte sich des Stoffes. So hat vor allem der von Anthony Mann 1961 gedrehte Historienfilm „El Cid“ mit Charlton Heston und Sophia Loren in den Hauptrollen Geschichte geschrieben (Abb. 11). Beraten wurde das damalige Filmteam von dem schon über neunzigjährigen Hispanisten Ramón Menéndez Pidal, dessen monumental-monographische Interpretation des Cid damit auch in diesen Film maßgeblich einging.

Rahmenbedingungen

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Rahmenbedingungen: Der Aufstieg Kastiliens im Reigen der christlichen Reiche Nordspaniens

Der Cid ist nicht nur ein Mythos für Spanien, sondern besonders für Kastilien, denn nicht ohne Grund erscheint er an der Puerta de Burgos mit anderen kastilischen Helden. Mit seinem Einfluss dokumentiert Rodrigo deshalb auch den Aufstieg Kastiliens – ein Name, mit dem bis heute oft sogar Spanien insgesamt assoziiert wird – im Reigen der nördlichen, christlich gebliebenen Reiche. Im Königtum León, wie die Bezeichnung des wichtigsten christlichen Reiches im Norden ab 910 lautete, entstand im Gebiet zwischen asturisch-leonesischem und navarresischem Reich im 10. Jahrhundert eine weitere Herrschaft. Schon im Zusammenhang mit den ersten Schlachten gegen die Muslime und den Siedlungsbewegungen (repoblación) im 9. Jahrhundert ist die starke Stellung des Adels im östlichen Raum des asturischen Reiches festzustellen. Dort, nördlich des Duero und östlich des Pisuerga entwickelte sich ein relativ unabhängiges Gebiet, das Kastilien genannt wurde. Ob der Name auf die zahlreichen Burgen (castillos) zurückgeführt werden kann, ist bis heute umstritten. Die schon vor dem 10. Jahrhundert belegte arabische Bezeichnung Qaštīliya meint ein Kerngebiet südlich der kantabrischen Gebirgskette, nördlich der Bureba und westlich der Flusstäler von Mena, Losa und Valdegovía. Vielleicht führte diese Bezeichnung zur Deutung des Gebietes als „Burgenland“. Die Bevölkerung dieser Landschaften soll – wie es später zuweilen hieß – nur teilweise romanisiert gewesen sein und nach altem Gewohnheitsrecht gelebt haben (Karte 2). Der Gründer von Burgos, Diego Rodríguez († 885), dokumentierte zwischen 873 und 885 herrschaftliche Ansprüche auf diese Gebiete. Aber erst eine Phase der Schwäche leonesischer Königsherrschaft begünstigte spätere Bestrebungen des Grafen Fernán González (932–970), der zunehmend unabhängig auftrat, 943 sogar offen rebellierte. Seine Rolle als erster Held kastilischer Eigenständigkeit hat das erst um 1250 niedergeschriebene Poema de Fernán Gonzalez verewigt und damit der Mythenbildung Vorschub geleistet. Unabhängig von Stilisierungen aus der Rückschau entstand in Kastilien im Laufe des 10. Jahrhunderts ein relativ unabhängiger Prinzipat, der von der Schwäche Leóns profitierte und durch kontinuierliche Amtsweitergabe bis ins 11. Jahrhundert Stabilität erlangte. Die Stellung zwischen León und Navarra förderte langfristig die Eigenständigkeit. Sancho III. von Navarra (1004–1035) hinterließ drei legitime Söhne: García († 1054), Ferdinand († 1065) und Gonzalo († 1045), dazu den illegitimen Spross Ramiro († 1063). Von diesen er-

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Rodrigo Díaz de Vivar, der Cid († 1099)

hielt García Pamplona-Navarra, Ramiro Aragón mit dem Königstitel, Ferdinand Kastilien und Gonzalo die Grafschaften Ribagorza und Sobrarbe zugesprochen. Ferdinand war mit Kastilien aber ohne Königstitel geblieben. Diesen besorgte er sich wenig später im Westen. In einem Konflikt mit dem leonesischen König Vermudo III. (1028–1037) um die Gebiete bei Cea und um weitere Territorien am Pisuerga besiegte Ferdinand Vermudo, der bei einer Schlacht 1037 erschlagen wurde. Schon wenig später verlagerten sich die Gewichte. Navarra trat in den Hintergrund, und Kastilien-León bestimmte zusammen mit dem Reich Aragón die Entwicklung des 11. Jahrhunderts nachhaltig. Als 1076 in dem inzwischen weniger bedeutenden Navarra König Sancho IV. (1054–1076) ermordet wurde, besetzte Sancho Ramírez († 1094), der Nachfolger Ramiros I., dessen Gebiete und ließ sich zum König von Pamplona ausrufen. De facto teilte er sich nun mit dem mächtiger werdenden Alfons VI. von Kastilien-León († 1109) das Reich von Navarra. Damit erwuchsen Kastilien weitere Expansionsmöglichkeiten im Osten, so im Blick auf das Taifenreich von Zaragoza. Wie aber war Alfons VI., der zunächst nur in Kastilien-León herrschte, zu diesem Einfluss gelangt? Bedeutete der leonesisch-kastilische Griff nach Navarra gleichsam eine Umkehrung der Machtverhältnisse gegenüber den Zeiten Sanchos III. von Navarra? Vor allem mit den Königen Ferdinand I. (1037/38–1065) und Alfons VI. (1065/72–1109) verbindet sich der Aufstieg von Kastilien-León während des 11. Jahrhunderts. Ihre Bedeutung beruht auch auf ihren vergleichsweise langen Regierungszeiten. Ferdinand I. herrschte seinem Erbe entsprechend zunächst nur in Kastilien. Später folgte die Teilung seines Reiches nach navarresischem Recht, Kastilien wurde künftig für den Erstgeborenen vorgesehen. Diese führende Stellung bestimmte das Verhältnis von Kastilien und León langfristig neu: Kastilien trat an die erste Stelle, das Reich hieß künftig Kastilien-León. Obwohl Ferdinand I. an leonesische Traditionen anknüpfte, förderte er gleichzeitig neue Entwicklungen, so stellte er Verbindungen zur Klostergemeinschaft von Cluny her. Nach seinem Tod 1065 wurde das Reich unter seinen Söhnen geteilt: Sancho II. (1065–1072) erhielt Kastilien, Alfons VI. León und García (1065–1090) das im Nordwesten gelegene Galicien.

Der literarische und der historische Cid

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Der literarische und der historische Cid

In diese Welt gehört der Aufstieg des Rodrigo Díaz de Vivar, später Cid genannt. Die zahlreichen Bearbeitungen und literarischen Entwürfe, die vielfach um Ehre, zuweilen auch – wie bei Pierre Corneille († 1684) – um die damit zusammenhängenden Liebesbeziehungen kreisen, machen es schwer, zu einem historisch etwas verlässlicheren Bild zu kommen, zumal schon die zeitgenössischen Quellen nur mehr oder weniger plausible Konstruktionen erlauben. Dies gilt, obwohl in jüngerer Zeit einige Anstrengungen unternommen wurden, um sich dem „historischen“ Cid wieder auf einer zeitgenössischen Quellenbasis zu nähern. Lange Zeit blieb das 1929 erschienene Standardwerk La España del Cid (Das Spanien des Cid) des spanischen Philologen und Historikers Ramón Menéndez Pidal prägend. Er zeichnete ein recht verklärtes Bild des Kämpfers und verfestigte damit die Vorstellung vom Cid als ritterlichem Helden, anderen Gestalten der Epik vergleichbar. Seine Interpretation unterstrich gleichzeitig die Bedeutung Kastiliens für die Formierung Spaniens. Die beiden wichtigsten Studien, die den Cid als eine historische Person wieder verfügbar machen wollen, stammen von Richard Fletcher und Gonzalo Martínez Diez. Richard Fletchers 1989 in London publiziertes Buch wurde sogar ins Deutsche übersetzt (1999). Der Klappentext unterstreicht das Anliegen: „Eingebettet in 500 Jahre spanischer Geschichte schildert der Autor akribisch, wie und warum sich ein kastilischer Ritter aus dem 11. Jahrhundert in den Heros verwandelte, der er nie war.“ Martínez Diez will ebenfalls entmythologisieren und nahm 1999 den 900. Todestag des Cid zum Anlass, um in seinem Buch die cidofobia der orientalistischen Forscher wie Reinhart Dozy und die cidofilia eines Ramón Menéndez Pidal wieder in ein richtiges Gleichgewicht zu bringen. Deshalb zog er nicht die literarischen Bearbeitungen, sondern nur die zeitgenössischen Quellen aus dem christlich und dem muslimisch beherrschten Raum heran. Fast gleichzeitig legte Francisco Javier Peña Pérez eine Monographie vor, die Geschichte, Legende und Mythos gleichermaßen in ein Verhältnis bringen sollte, und gerade bei der Frage, inwieweit der Cid Schlüsselgestalt war, ist es in der Tat nötig, Nachwirkungen und mythische Überhöhungen angemessen zu berücksichtigen. Trotzdem sollte zunächst ein kurzer Blick den zeitgenössischen Quellen gelten. Von diesen Textzeugnissen kommt zunächst ein Gedicht mit dem Titel Car­ men Campidoctoris in Frage, das zwischen 1082 und 1093 von einem Anonymus

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Rodrigo Díaz de Vivar, der Cid († 1099)

mit 32 Strophen zu je vier Versen, gedichtet wurde und das vor allem die frühen Kriegszüge, die jugendlichen Triumphe Rodrigos in Navarra, bis zum Jahr 1082 aufzeichnet. Das zweite wichtige Werk ist die Historia Roderici, wie der moderne wissenschaftliche Kunsttitel lautet. Der anonyme Verfasser wusste wohl wenig über die frühe Zeit seines Helden. Die ersten dreißig Jahre werden in den ersten sechs Kapiteln erzählt. Dann folgen ausführlichere Kapitel (7–24) zu der Zeit zwischen 1081 und 1102, dem Jahr, in dem die Geschichte abbricht. Die Abfassungszeit ist umstritten, sie wird zwischen 1110 bis 1120/30 angesetzt; eine extreme Spätdatierung (nach 1144) wird inzwischen abgelehnt. Bemerkenswert ist an dieser Quelle, dass hier erstmals die Lebensbeschreibung einer weltlichen Person schon in dieser Zeit überliefert ist. Zwei arabisch verfasste Quellen treten hinzu: Ibn ʿAlqāmā († 1116) berichtet vor allem über die valencianische Zeit unseres Helden; er schrieb auch aufgrund seiner Herkunft Lokalgeschichte. Seine Aufzeichnungen könnten sogar noch vor dem Tod Rodrigos, 1099, niedergelegt worden sein. Aber die Überlieferung ist kompliziert, denn seine Bemerkungen sind vor allem aus dem Zyklus, den man die alfonsinischen Chroniken genannt hat, bekannt; dazu tritt die Verwendung durch Ibn ʿIḏārī, der um 1300 in Marokko schrieb, und durch Ibn al-Ḫaṭīb. Ein weiterer relativ zeitgenössischer Quellenautor, Ibn Bassām († 1147/48), stammte aus Portugal und ist später in Córdoba (1101) und in Sevilla (1109) nachweisbar. In Sevilla verfasste er sein drittes Buch, das zur Lebensgeschichte des Cid einschlägig ist. Zu diesen narrativen, eher historiographischen und teilweise literarischen Werken, zu denen man spätere Chroniken zählen könnte, treten Urkunden als relativ verlässliche Quellen, obwohl diese oft nicht original, sondern nur abschriftlich überliefert sind. Ramón Menéndez Pidal hat insgesamt 63 Urkunden zusammengestellt, die in verschiedenen Überlieferungszusammenhängen irgendwie mit dem Cid in Verbindung gebracht werden konnten.

Jugend und politischer Aufstieg

Inwieweit war aber Rodrigo, später der Cid, wirklich von Anfang an Identifikationsfigur Kastiliens? Er wurde um 1043 als Sohn des Adligen Diego Laínez († ca. 1058) und der Teresa Rodríguez († 1085) wohl in Vivar geboren, einem Dorf, das etwa sieben Kilometer von Burgos entfernt liegt. Sein Vater hatte sich in Kämpfen gegen Navarra Verdienste erworben und dessen Vater Laín Núñez

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erscheint als Zeuge in Urkunden König Ferdinands I. Die wohlhabende Familie besaß eine vornehme Abstammung; nach dem Carmen Campi doctoris gab es in Kastilien niemanden von höherem Adel (Nobiliore de genere ortus / Quod in Castella non est illo maius). Demnach war die Familie zwar nicht hochadelig, aber bereits von einem gewissen Ansehen; Rodrigo war mithin kein Aufsteiger, der von ganz unten kam. Späteren Traditionen zufolge ging sein väterlicher Stammbaum sogar bis auf Laín Calvo zurück, einen der sagenhaften „Richter“ Kastiliens, die nach dem Tode Alfons’ II. von Asturien (791–842) in Kastilien Recht gesprochen haben sollen. Rodrigos Großvater mütterlicherseits, Rodrigo Álvarez, war Anhänger König Ferdinands I. und verwaltete in dessen Auftrag mehrere Burgen im Grenzgebiet. Nach dem Tod seines Vaters um 1058 kam Rodrigo als Halbwaise an den königlichen Hof. Dort wurde er zusammen mit dessen Sohn Sancho erzogen. Die Ausbildung entsprach wahrscheinlich den üblichen Formen der Zeit. Rodrigo lernte nicht nur Lesen und Schreiben, sondern vor allem auch Reiten und weitere Dinge, die das Kriegshandwerk betrafen. Als Ferdinand 1063 seinen Sohn Sancho entsandte, um dem Taifenkönig al-Muqtadir (1049–1082) gegen den aragonesischen König Ramiro I. beizustehen, zog Rodrigo mit Sancho gegen den Aragonesen zu Felde. Ziel war es, die Grenzstadt Graus zurückzuerobern. Schon diese Aktion zeigt das relativ offene Gefüge: Muslimische Herrscher konnten ebenso wie christliche jenseits religiöser Grenzen zu Bundesgenossen oder zu Feinden werden. Ramiro I. soll in der Schlacht am 8. Mai 1063 gestorben sein. Die Historia Roderici bemerkt: Als sich aber König Sancho nach Zaragoza begab und mit dem aragonesischen König Ramiro bei Graus kämpfte und ihn dort besiegte und tötete, da nahm König Sancho den Rodrigo Díaz mit und hatte ihn in seinem Heer und bei seinem Sieg bei sich.2

Nach dem Tod des Königs Ferdinand 1065 und der Aufteilung des Reiches unter seinen drei Söhnen blieb Rodrigo zunächst im Gefolge Sanchos, der auch die Herrschaft über die anderen Reichsteile anstrebte. Rodrigo erscheint als Zeuge in königlichen Urkunden, bekleidete wohl auch das Amt eines königlichen Bannerträgers (alférez real, armiger regis). Bereits in seiner Zeit am kastilischen Hof erhielt er den Beinamen el Campeador oder campi doctor, ein vom lateinischen campio (Kämpe, Duellkämpfer) hergeleiteter Titel, der auf das siegreiche Bestehen von Zweikämpfen verweist. Obwohl Rodrigo in den Zeugenlisten der

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Urkunden meist nicht als armiger bezeichnet wurde, unterstreicht die Historia Roderici, dass der Cid dieses Amt innehatte: In allen Schlachten aber, die König Sancho mit König Alfons in Llantada und Golpejera kämpfte und in denen er ihn besiegte, trug Rodrigo Díaz die Standarte des Königs Sancho, und er zeichnete sich aus und erhöhte sich unter allen Soldaten im Heere des Königs.3

Die christlichen Reiche verfügten inzwischen über verschiedene Tributrechte im Süden, denn nach dem Ende des Kalifates von Córdoba (1031) befanden sich viele der muslimischen Kleinkönigreiche in Abhängigkeit und erkauften so vielfach auch den Frieden. Alfons VI. gewann mit León das Anrecht auf die Tributzahlungen des Taifenreiches von Toledo, Sancho mit Kastilien die Tributrechte über Zaragoza. Zunächst versuchte Sancho, eine gewisse Oberhoheit durchzusetzen, errang aber mit der Absetzung Garcías 1071 nur einen Zwischenerfolg. Alfons VI. floh damals in das noch muslimische Taifenreich von Toledo. Sancho ließ sich daraufhin auch zum König von León krönen. Wenig später wurde er von einem Attentäter, vielleicht einem Vertrauten seiner Schwester Urraca († 1103), umgebracht. Der Mordverdacht fiel aber zunächst auf Alfons VI. selbst und seine Entourage. Als dieser schließlich 1072 die Herrschaft über alle drei Reiche antrat, musste er angeblich in Kastilien vor Rodrigo Díaz de Vivar, der den kastilischen Adel anführte, einen Reinigungseid leisten. Ob dieser – erst in der späteren Überlieferung erwähnte – Eid geleistet wurde, ist allerdings zweifelhaft. García, der andere Bruder Alfons’ VI., blieb knapp zwanzig Jahre bis zu seinem Tod 1090 in Galicien inhaftiert und war damit als Konkurrent ausgeschaltet. An den Konflikten der Könige Sancho II. und Alfons VI. war Rodrigo also beteiligt; er belagerte unter anderem das Alfons freundlich gesinnte Zamora, wo Sancho II. ermordet wurde. Die Ereignisse von 1072 waren einschneidend. Im Dienste des neuen Königs verlor Rodrigo das Amt des Bannerträgers. Dieses wurde bald von einem zum Grafen von Nájera erhobenen kastilischen Ritter namens García Ordóñez († 1108) bekleidet. Spätere Traditionen machten diesen zum höfischen Widersacher Rodrigos. Obwohl Rodrigo Lehnsmann des Königs wurde und Alfons VI. ihm zunächst (um 1074) noch eine gute Heiratspartie (Jimena Díez, die Tochter des Grafen von Oviedo, † um 1116, eine Verwandte des Königs, wie die Historia Roderici vermerkt) vermittelte, blieben die Beziehungen zum nunmehrigen Alleinherrscher Alfons VI. gespannt. Jedoch sicherte die Heirat Rodrigo einen weiteren gesellschaftlichen Aufstieg, wie der

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offensichtlich gewachsene, urkundlich belegte große Landbesitz des Paares verdeutlicht. Neben seiner Rolle bei königlichen Schiedsgerichten fungierte Ro­ drigo zugleich als Abgesandter des Königs, so sollte er 1079 in Sevilla die Tributzahlungen des dortigen Taifenherrschers eintreiben. Solche Aufträge konnten allerdings sehr selbstständig durchgeführt werden. Rodrigo mischte sich in Konflikte der Kleinkönigreiche Sevilla und Granada ein; außerdem besetzte er 1080/81 das Taifenreich von Toledo. Dies ließ ihn bei Alfons in Ungnade fallen, der Zorn des Königs, die ira regia, traf ihn 1081, und er wurde des Königreiches verwiesen. Es war auf den ersten Blick ein Konflikt zwischen König und Lehnsmann, vielleicht spielten aber im Hintergrund auch weitere Feinde, die Rodrigo sich gemacht hatte, eine Rolle.

Kampf für den Taifenkönig von Zaragoza

Es folgte eine Phase verschiedener, meist militärischer Unternehmungen und die Suche nach einem neuen Herrn, die Rodrigo auch an den Hof der Grafen von Barcelona führte. Schließlich trat er im Spätsommer 1081 in die Dienste des Taifenkönigs von Zaragoza, al-Muqtadir. Mit eigenen Truppen, die er wohl aus den jeweiligen Beutegewinnen finanzierte, kämpfte er mehrfach für den muslimischen König, auch gegen christliche Herrscher. Die Erfolge Rodrigos bei diesen Aktionen brachten ihm den Namen „El Cid“ ein, den wohl zuerst Muslime verwendeten (von arabisch sayyid: Herr). Al-Muqtadir, den Rodrigo in den ersten Monaten seiner neuen Aufgabe noch erlebte, war der Typus des gebildeten Taifenkönigs, der sich für Astrologie, Geometrie und Naturphilosophie interessierte. Er ließ in Zaragoza zwei berühmte Paläste erbauen, einer hieß Qaṣr Dār as-Surūr, was sich mit Haus des Vergnügens übersetzen lässt. Als der Taifenkönig den Bau nach Fertigstellung betrat soll er ausgerufen haben: O Haus des Vergnügens und goldener Saal, dank euch habe ich die Erfüllung meiner Wünsche erreicht. Wenn mein Königreich nur euch beide enthielte, so wäre dies für mich alles, wonach ich trachten könnte.4

Der zweite Palast, Ǧaʿfarīya (Aljafería), steht heute noch, obwohl er mehrfach umgebaut wurde (Abb. 12). Er kann aber einen Hinweis darauf geben, in welchem Umfeld Rodrigo in dieser Zeit agierte.

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Abb. 12: Der Palast „Aljafería“ in Zaragoza stammt in den Anfängen noch aus der Zeit des Taifenreiches (11. Jahrhundert).

Nach dem Tod al-Muqtadirs erlangte 1081 al-Muʾtamin (1081–1085) in Zaragoza die Herrschaft. Er war aber nur einer der Erben von al-Muqtadir, der andere hieß Munḏir al-Ḥāǧib und erhielt die östliche Hälfte des Taifenreiches. Hier lag ein Aufgabenfeld für Rodrigo, denn um das Verhältnis zwischen beiden Brüdern war es nicht zum Besten bestellt. Die Historia Roderici überhöht das sich daraus ergebende Vertrauensverhältnis Rodrigos zu al-Muʾtamin: „Jener al-Muʾtamin aber liebte Rodrigo sehr und erhob ihn und stellte ihn über sein Reich und über sein ganzes Land und bediente sich seines Rates in allen Dingen.“5 Mit einer stetig wachsenden Schar von militärischen Gefolgsleuten baute sich der Cid sukzessive eine eigene Machtposition in der Levante auf. Für den Taifenherrscher verteidigte er das muslimische Zaragoza gegen al-Munḏir, gegen Sancho I. von Aragón (1064–1094), und gegen den Katalanen Raimund Berenguer II. (1076–1082), den er sogar 1082 für kurze Zeit gefangen hielt. Vielleicht dachte der Cid, mit seiner Unterstützung Zaragozas könne er sogar indirekt seinem früheren Herrn Alfons VI. dienen. Bezeichnenderweise leistete er keinen Widerstand, als König Alfons VI. die Stadt 1086 belagerte. Betrach-

Almoravidengefahr, Aussöhnung mit König Alfons und Herr von Valencia

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tete er sich vielleicht sogar weiterhin als Lehnsmann des kastilisch-leonesischen Königs? Die Kämpfe um Zaragoza gehören in einen größeren Zusammenhang. Schon im Herbst 1084 hatte der kastilisch-leonesische König mit der Belagerung Toledos begonnen. Nachdem das muslimische Toledo am 6. Mai 1085 kapituliert hatte und nachdem Alfons VI. am 25. Mai in die Stadt einmarschiert war, geriet Alfons wohl auch in eine Art Eroberungsstimmung. Im Frühjahr 1086 entsandte er einen Trupp, um einen Marionettenherrscher (al-Qādir) in Valencia einzusetzen. Al-Muʿtamid von Sevilla wurde aufgefordert, sein Königreich abzutreten, ein kastilisch-leonesischer Plünderungstrupp zog bis in die Nähe von Granada. Hier ordnen sich auch Alfons’ Aktivitäten gegen Zaragoza im Frühsommer 1086 ein. Noch während der Belagerung erreichten den Herrscher allerdings beunruhigende Nachrichten. Nordafrikanische, religiös rigoros eingestellte Muslime (Almoraviden) waren in Spanien gelandet und bauten Gegendruck auf. In Sagrajas (oder az-Zallāqa) bei Badajoz erlitt das kastilisch-leonesische Heer eine empfindliche Niederlage (23. Oktober 1086). Der Cid kämpfte aber, wie seine Aktivitäten in Zaragoza erkennen lassen, wechselweise auf Seiten der Christen und der Muslime. Glaubensfragen besaßen in den Auseinandersetzungen der Reconquista zu dieser Zeit offensichtlich noch einen anderen Stellenwert. Sie prägten die militärischen Auseinandersetzungen allenfalls bedingt.

Almoravidengefahr, Aussöhnung mit König Alfons und Herr von Valencia

Aber dies blieb keinesfalls die einzige Facette des Cid, denn die Situation wandelte sich durch die Almoraviden, die wohl von einigen bedrängten Taifenherrschern gerufen worden waren. Damit sollte sich die politische Lage in der hispanischmuslimischen Welt noch einmal grundlegend ändern. Die Berberdynastie hatte schon vor 1086 in Afrika an Einfluss gewonnen und folgte strikten islamischen Reformvorstellungen malikitisch-orthodoxer Richtung. Nachdem die Anführer zunächst eine Art befestigtes Kloster (ribāṭ) auf einer Nigerinsel gegründet hatten, widmeten sich die Männer dieses ribāṭ (al-murābiṭūn, daher: Almoraviden) asketischen Praktiken. Sie verurteilten es strikt, Wein zu konsumieren oder im Koran nicht bekräftigte Steuern zu erheben. Einer der wichtigsten Anführer, ʿAbdallah b. Yāsīn († 1059), versuchte ab der Mitte des 11. Jahrhunderts, die Hegemonie über Marokko zu erlangen. Religiöse und wirtschaftliche Interessen

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gingen dabei Hand in Hand. Die Almoraviden sahen im Krieg das angemessene Mittel, um diejenigen zu überzeugen, die ihre rigoristische Interpretation des Islam nicht teilten. In diesen Zusammenhang ist auch das im Koran grundgelegte und je nach Zeit unterschiedlich interpretierte Konzept des Heiligen Krieges, des sogenannten kleinen ǧihād, einzuordnen. Dabei ging es darum, das noch nicht von Muslimen bewohnte dār al-ḥarb, das Haus des Krieges, mit allen Mitteln dem dār al-islām einzuverleiben. Deshalb ist der „Gihad [...] das von der Religion befürwortete oder vorgeschriebene Kämpfen eines jeden muslimischen Individuums gegen Nicht-Muslime, und zwar nur gegen solche, die nicht auf muslimischem Herrschaftsgebiet“6 leben. Ziel war, wie auch Sure 8,39 des Korans erkennen lässt, vor allem die Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebietes, weniger die (gewaltsame) Bekehrung Ungläubiger. Der Führer der Almoraviden, Yūsuf b. Tāšfīn († 1106), unternahm vier größere Eroberungszüge in Südspanien (1086, 1088, 1090 und 1102–03). Er schlug Alfons VI. nicht nur 1086 bei az-Zallāqa, sondern es wurde bis 1091 der Rest des muslimischen Spanien mehr oder weniger der almoravidischen Herrschaft unterstellt (von Lissabon bis Murcia). Nur das Reich von Valencia und das Reich von Zaragoza blieben zunächst von einer almoravidischen Eroberung ausgenommen. Die im Zuge der Inbesitznahme erfolgten Absetzungen der jeweiligen Taifenkönige rechtfertigten die Almoraviden meist damit, dass diese dekadent gewesen seien und keinesfalls den Forderungen an einen islamischen Herrscher entsprochen hätten. Nachdem die berberischen Almoraviden den Christen 1086 auf iberischem Boden eine schwere Niederlage beigebracht hatten, akzeptierte Alfons VI. den Cid wieder als Lehnsmann und vertraute Rodrigo dem Schutz des Taifenherrschers von Valencia an, dem ehemaligen Toledaner König al-Qādir († 1092). Alle Länder in der Levante, die Rodrigo erwerben würde, sollten ihm erblich (iure hereditario) zustehen. Das muslimische beherrschte Valencia blieb formal mit Kastilien verbündet. Der Cid bewahrte Valencia vor katalanischen Angriffen und ließ den Ort 1089/90 zum Bollwerk gegen die immer wieder vordringenden Almoraviden ausbauen. Als der Taifenkönig von Zaragoza und der Graf von Barcelona Valencia belagerten, sprengte der Cid den Belagerungsring. In dieser Zeit fiel er allerdings erneut bei Alfons VI. in Ungnade, da er seine Truppenbewegungen nicht mit denjenigen des kastilisch-leonesischen Herrschers koordinieren wollte; 1090 verstärkte er dann seine Stellung als Schutzherr von Valencia und nahm den Grafen von Barcelona gefangen (Schlacht von Pinar de Tévar). Nach den Erfolgen der Almoraviden in weiten Teilen von al-Andalus sicherte der

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Cid Valencia von Süden her ab und baute seine Stellung weiter aus. Alfons VI. versuchte 1092 sogar selbst, die Stadt zu erobern, musste aber schließlich dem Cid die Interessenswahrnehmung im ganzen Gebiet von Valencia überlassen. Nachdem der muslimische König 1092 im Verlauf einer Stadtrevolte ermordet und die Stadt vorübergehend von almoravidischen Truppen besetzt worden war, nahm der Cid sie im Juni 1094 wieder ein. Die Historia Roderici berichtet folgendermaßen: Das Heer der Almoraviden lag zehn Tage und ebenso viele Nächte vor Valencia. […] Täglich wohl umkreisten sie die Stadt und heulten und brüllten mit vielen und verschiedenen Stimmlauten und stießen ein nicht geringes Geschrei aus, und sie beschossen die Zelte Rodrigos und seiner Soldaten und ihre Wohnungen oft mit Pfeilen. Rodrigo aber beruhigte und bestärkte in gewohnter Tapferkeit des Herzens mannhaft sich und die Seinen, und unaufhörlich und mit frommem Gebet flehte er den Herrn Jesus Christus an, er möge den Seinen göttliche Hilfe gewähren. Eines Tages aber, als sie in gewohnter Weise unter Heulen und Brüllen und Beschießen die Stadt umkreisten und fest davon überzeugt waren, sie würden sie mit ihren Streitkräften einnehmen, machte der unbesiegliche Krieger Rodrigo kühn und tapfer mit seinen wohlbewaffneten Gefolgsleuten einen Ausfall, indem er auf sie einschrie und sie mit drohenden Worten erschreckte. Und so stürzte er sich auf sie und begann mit ihnen eine gewaltige Schlacht, und durch den Beistand der göttlichen Gnade besiegte er die Almoraviden alle. Und so hatte er Triumph und Sieg über sie, welche Gott ihm gewährt hatte. Als aber jene besiegt waren, kehrten sie um und wandten sich zur Flucht; eine Menge von ihnen aber fiel durch das Schwert. Andere aber wurden mit ihren Frauen und Kindern als Gefangene zum Lager Rodrigos geführt. Ihr gesamtes Lager freilich und die Zelte nahmen sie an sich, und darin fanden sie zahllose Gold- und Silbermünzen und kostbare Gewänder, und alle Reichtümer, die sie dort gefunden hatten, plünderten sie ohne Ausnahme. Da waren nun Rodrigo und alle die Seinen außerordentlich reich geworden durch vieles Gold und Silber und überaus kostbare Gewänder und Rosse und Zelte und Maultiere sowie durch verschiedene Arten von Waffen, und durch eine Menge von Lebensmitteln und nicht aufzuzählende Schätze waren sie zur Genüge mit Vorräten versehen.7

In Valencia herrschte der Cid bis zu seinem Tod am 10. Juli 1099 als oberster Richter und Herr (Señor de Valencia); er verteidigte das Königreich immer wieder gegen die vorrückenden Almoraviden. Wie aber agierte Rodrigo als Herr

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von Valencia? Seine Herrschaft im Inneren wird vor allem in den arabischen Quellen – denn die lateinischen interessieren sich eher für den Krieger Rodrigo – übereinstimmend als strenges Regiment beschrieben. Besonders kritisch hervorgehoben werden Spitzelwirtschaft oder Folterungen von feindlich gesonnenen Bewohnern. Fast alle arabisch schreibenden Zeitgenossen beklagten selbstredend den Verlust der arabisch-muslimischen Herrschaft in Valencia. Eine geordnete „Politik“ des Cid war aber sicher auch deshalb besonders erschwert, weil das Umland Valencias ständig von feindlichen Kräften besetzt oder bedroht war. Dies führte praktisch zu einer Art Kriegsrecht in der Stadt. Offenbar bemühte sich der Cid jedoch zumindest zeitweilig auch darum, religiöse Gegensätze zu überbrücken, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen. Als Beauftragter für die Stadtregierung bediente er sich dabei vor allem der jüdischen Bewohner. Ibn ʿAlqāmā († 1116), der dem Cid eher feindlich gesonnen war, kommentiert die Einsetzung eines jüdischen Wesirs folgendermaßen: Der Jude unterwarf nun die muslimische Bevölkerung den größten Schikanen; andere von seinen Glaubensgenossen ergingen sich in Misshandlungen der Valencianer, die jetzt die bittersten Demütigungen erfuhren: Aus den Reihen der Juden wurden nun die Finanzbeamten ausgewählt, welche die Steuern einzutreiben hatten, die Verwaltungsbeamten, die Urkundenschreiber und die Beauftragten für die Land- und Seestreitkräfte. Der jüdische Wesir übernahm die Funktionen eines Stadtpräfekten (ṣāḥib al-madina) und schritt zu Verhaftungen und verurteilte die Leute zu Stock- und Peitschenhieben. Jeder muslimische Einwohner hatte einen Häscher auf den Fersen, der jeden Morgen mit ihm hinausging, um dafür zu sorgen, dass er etwas in die Kasse des Herrn von Valencia legte; anderenfalls wurde er umgebracht oder gefoltert.8

Die Bemühungen um christliche Siedler sind aus den Kirchenstiftungen in der Umgebung Valencias ablesbar. Die Hauptmoschee ließ der Cid in eine christliche Kathedrale umwandeln, dies folgte der üblichen Politik, wie sie zum Beispiel auch König Alfons VI. wenige Jahre zuvor nach der Eroberung Toledos (1085) praktiziert hatte. Dort wurde der ehemalige Cluniazenser Bernhard (1087–1124) Erzbischof. In Valencia, dessen letzter bekannter mozarabischer Bischof 1087 auf Pilgerfahrt nach Jerusalem in Bari gestorben war, vielleicht aber noch einen Nachfolger gefunden hatte,9 erlangte Hieronymus aus dem Périgord (1097–1102), ein Vertrauter Bernhards von Toledo, das Bischofsamt. Er war wie viele der neuen hohen kirchlichen Würdenträger auf der Iberischen

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Halbinsel den Cluniazensern verbunden. Papst Urban II. († 1099) weihte ihn und nahm die Diözese unter den besonderen Schutz des Papstes. Damit gehören die – freilich nur kurze Zeit währenden – kirchlichen Umgestaltungen Valencias in den Zusammenhang damaliger kirchenpolitischer Neustrukturierungen, an denen neben Bernhard und Hieronymus weitere Cluniazenser wie Dalmatius von Compostela (1094–1095) oder Gerald von Braga (1100–1108/9) beteiligt waren. Es ging dabei auch um Fragen der Reconquista und Kreuzzugsbewegung, um neue liturgische und kirchenrechtliche Ordnungen sowie um Rangfragen der wieder neu entstandenen oder neu besetzten Bistümer. Inwieweit der Cid in diesen Prozess stärker eingebunden war, ob diese Veränderungen seinen Interessen dienten oder sich gegen seinen Willen vollzogen, lässt sich schwer sagen und bleibt umstritten. In dieser Zeit verheiratete Rodrigo seine Töchter mit einflussreichen Adeligen, wahrscheinlich um Bündnisse zu etablieren oder zu festigen: Eine Tochter, Cristina, ehelichte Ramiro Ramírez († 1116), der als Herr von Monzón im Königreich Aragón Einfluss besaß, während María († vor 1105) im Jahre 1098 den Grafen Ramón Berenguer III. von Barcelona (1097–1131) heiratete. Diese Ereignisse hat das Heldenlied des Cid weiter ausgesponnen, indem beide Töchter (in der Legende „Elvira“ und „Sol“) vorher angeblich in erster Ehe mit zwei Feiglingen verheiratet gewesen seien, die sie misshandelt sowie verstoßen hatten und an denen sich der Vater dann rächte.

Sterben als ritterlicher Akt

Der Tod des Cid ist legendär: Nachdem er in einem Hinterhalt tödlich verwundet worden war, soll er seinen Gefolgsleuten auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen haben, den Feind erneut anzugreifen. Seinem Wunsch entsprechend habe man den sorgfältig geschminkten Leichnam vor der Schlacht in voller Rüstung aufs Pferd gesetzt. Dadurch motiviert, sei seinen Leuten ein glänzender Sieg über die von der Erscheinung des Totgeglaubten erschreckten Berber gelungen. Tatsächlich ist aber über die Todesumstände des Cid wenig bekannt; wahrscheinlich starb er am 10. Juli 1099 friedlich im Bett, möglicherweise infolge einer Pfeilverwundung. Jedenfalls hinterließ der Cid keine männlichen Erben, sein einziger Sohn Diego Rodríguez (über den kaum etwas bekannt ist) war schon 1097 in der Schlacht bei Consuegra bei Toledo gefallen. Seine Witwe hielt Valencia noch bis

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August 1101, die Hilfe Alfons’ VI. im März 1102 kam zu spät: Er musste den angreifenden Almoraviden die Stadt überlassen, die er zuvor noch in Flammen aufgehen ließ. Allerdings ließ Alfons VI. die Witwe und den Leichnam des Cid zuvor zusammen mit seinen Truppen aus Valencia evakuieren. Bestattet wurde der Noch-nicht-Held Cid in seiner kastilischen Heimat im Kloster San Pedro de Cardeña bei Burgos. Heute befindet sich das Grabmal in der Kathedrale von Burgos. Die dortige Grabinschrift hat im 20. Jahrhundert Ramón Menéndez Pidal verfasst. Sie lautet: Aquí yacen Rodrigo Díaz, el Campeador, muerto en Valencia en 1099, y su esposa Jimena, hija del conde Diego de Oviedo, de regia estirpe. A todos alcanza la honra del que en buena hora nació. Hier ruhen Rodrigo Díaz, der Campeador, gestorben zu Valencia im Jahre 1099, und seine Gemahlin Jimena, Tochter des Grafen Diego von Oviedo, aus königlichem Geschlecht. Alle erreicht die Ehre dessen, der zur rechten Stunde geboren ward.

Der zweite Satz der Inschrift ist ein (sprachlich leicht modernisiertes) Zitat aus dem Schluss des Cantar de mio Cid.10 Die Aussage steht im Kontext der durch die Heirat seiner Töchter begründeten und im Cantar besonders hervorgehobenen Verbindungen des Cid mit den christlichen Herrscherhäusern der Iberischen Halbinsel: Auf sie alle strahle sein Ruhm ab. Ramón Menéndez Pidal deutet diese Aussage in seiner Inschrift gewissermaßen um und bezieht sie auf „alle Spanier“ oder „alle Besucher“ der Grablege. Die Bezeichnung des Cid als den, „der zur rechten Stunde geboren ward“ bettet sein Lebensschicksal zudem in einen größeren historischen Zusammenhang.

Schlüsselgestalt: Nachleben und Mythos

Auch der Cid bietet gleich mehrere Schlüssel zur Geschichte Spaniens. Die lateinischen Quellen vermitteln das Bild eines ruhelosen Kämpfers, der mehrfach die Fronten wechselte, in mehrere Konflikte mit seinem Lehnsherrn geriet, schließlich aber doch die christliche Sache verteidigte. So hat es auch die Dichtung von seinen Taten im 13. Jahrhundert in epischer Form zunächst festgehalten. Damit wurde er zum Prototyp des Reconquista-Kämpfers, der zugleich Kastilien

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als Zentrum dieser Wehrbereitschaft stilisierte. Jedoch ist zu bedenken: Eine mythische Überhöhung des Cid in dieser Perspektive erfolgte in verschiedenen Schritten nach seinem Tod und begann im Kloster Cardeña, wo er seine letzte Ruhe fand. Erst dort wurde er durch den Grabeskult immer stärker zu einer Art Helden Kastiliens und der Reconquista stilisiert. Zusammen mit dem Grafen Fernán González, der im 10. Jahrhundert kastilische Eigenständigkeit auf seine Fahnen geschrieben hatte, ziert er entsprechend in Burgos den großen Torbogen vor der Stadt (Abb. 10). An dieser Mythenbildung hat das Kloster Cardeña großen Anteil, denn dort gewann der Cid vor allem in einer Zeit, als es um einheitliches Handeln gegen die Muslime ging, besondere Bedeutung. Die Niederlage der christlichen Heere gegen die muslimischen Almohaden in der Schlacht von Alarcos 1195 machte eine stärkere Einheit der christlichen Reiche nötig, um erfolgreich zu sein. Die Pflege des Andenkens an den Cid im Kloster Cardeña, führte gerade in dieser Zeit zu angeblichen Gründungsurkunden und anderen Dokumenten. Das spätere Heldenlied des Cid (das vielleicht schon Vorformen im 12. Jahrhundert besitzt, aber frühestens im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts verfasst wurde) stärkte gleichzeitig die königliche Autorität in diesen Kämpfen, wie in verschiedenen Perspektiven dieser „Nationaldichtung“ deutlich hervorgehoben wird.11 Die späteren Instrumentalisierungen waren vielfältig. Einen Beitrag dazu leisteten nicht nur die großen Werke der Geschichtsschreibung (Chronicon des Lucas von Tuy, Primera Crónica General), sondern auch Bauten, wie die um 1450 in Cardeña angebrachte Statue des Cid, die dort 1570 sogar im Zentrum erschien. Auch hagiographische Erzählungen wie die Hilfe des Cid bei Lepra konturierten sogar das Bild eines Heiligen, ein Motiv, das 1895 Miguel de Unamuno sogar in seinem Werk En torno al casticismo aufgriff. Insofern war es nur konsequent, dass kirchliche Kreise 1921 die Translation der sterblichen Überreste des Cid in die Kathedrale von Burgos betrieben. Daneben blieb aber das Bild des Ritters, der unermüdlich für Kastilien und Spanien stritt, weiter entwicklungsfähig. Um 1700 verband eine Statue vor dem Koster Cardeña das Bild eines Ritters und Heiligen, indem die Ikonographie des Maurentöters (die zuvor meist Jakobusdarstellungen eignete) auf den Cid übertragen wurde. So war es sicher auch kein Zufall, dass Francisco Franco 1955 in Burgos die Reiterstatue des Cid mit einem feierlichen Akt einweihte (Abb. 13). Der Cid erscheint damit mehrfach als Schlüsselgestalt. Zum einen steht er für die Umbruchssituation des 11. Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel, als gerade in der Regierungszeit Alfons’ VI. Tendenzen der sogenannten Europäi-

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Abb. 13: Die Reiterstatue des Cid in Burgos (1955) verdeutlicht unter anderem die historische Orientierung der Francozeit.

sierung und Afrikanisierung konkurrierten. Damit erschließt er die Konkurrenz zwischen den Königen im Norden, die Position der Taifenreiche und den 1086 einsetzenden Druck der Almoraviden. Er verkörpert aber auch die Bedeutung des Adels, besonders in Kastilien, bei diesen Prozessen. Dabei erscheint die Reconquista, ein Begriff, der erst in der Neuzeit entstand, in den zeitgenössischen Quellen selbst offensichtlich oft noch religiös ungebunden. Die Nachwirkung des Cid zeigt aber, wie seit dem 13. Jahrhundert langsam ein neues Bild vom Maurenkampf entstand. Die Rolle des Cid als Schlüsselfigur für Kastilien und später für Spanien wurde sodann durch den Grabeskult in Cardeña grundgelegt und im Cantar de mio Cid weiterentwickelt. Das Bild vom Kämpfer und Heiligen – eigentlich ein Charakteristikum späterer Ritterorden – ließ sich an ihm hervorragend festmachen und eignete sich, um ihn vom Grenzgänger zum „Nationalhelden“ zu stilisieren. Der Cid stand damit zunehmend auch für die Konstruktion einer Nation, die sich von Kastilien her definierte. Bis heute wirkt diese nationale Interpretation immer noch fort, und nur in gelehrten Kreisen, die auch arabische Quellen nutzten, wurde dieser cidofilía ein kritisches Bild ent-

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gegengesetzt, das andererseits mit dem Ausdruck cidofobia gebrandmarkt wurde. Aber selbst dieses gelehrte Bemühen um Differenzierung zeigt, wie übermächtig die Gestalt des Cid bis heute blieb.

Weiterführende Literatur Eggarter, Fred (Hg.): Der Cid. Das altspanische Heldenlied, Stuttgart 1985. Falque Rey, Emma/Juan Gil/Antonio Maya (Hg.): Historia Roderici vel gesta Roderici Campidocti, in: Chronica Hispana saeculi XII. Pars I (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis, 71), Turnhout 1990, S. 47–98. Menéndez Pidal, Ramón: La España del Cid. Madrid 1929; dt.: Das Spanien des Cid. Vom Verfasser durchges. Übers. aus dem Spanischen von Gerda Henning u. Margarethe Marx, 2 Bde., München 1936–1937. Peña Pérez, Francisco Javier, El Cid. Historia, Leyenda y mito, Burgos 2000.

Anmerkungen 1 Andreas Blum: Historizität und Faktizität im Cantar de Mio Cid, in: Sonja Glauch (Hg.): Große Texte des Mittelalters. Erlanger Ringvorlesung 2003 (Erlanger Studien, Bd. 131), Erlangen/Jena 2005, S. 57–81, S. 57. 2 Deutsch bei Richard Fletcher: El Cid. Leben und Legende des spanischen Nationalhelden. Eine Biographie. Weinheim/Berlin 1999 (engl. Originalausgabe von 1989), S. 181. 3 Ebd., S. 186. 4 Deutsch: Fletcher: El Cid, S. 213. 5 Ebd., S. 214. 6 Albrecht Noth: Heiliger Krieg und heiliger Kampf in Islam und Christentum. Beiträge zur Vorgeschichte und Geschichte der Kreuzzüge (Bonner historische Forschungen, Bd. 28), Bonn 1966, S. 242. 7 Deutsch: Fletcher: El Cid, S. 275 f. 8 Ebd., S. 289. 9 Vgl. Gonzalo Martínez Díez: El Cid histórico, Barcelona 1999, S. 289 f. 10 Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.): El Cantar de Mio Cid (Klassische Texte des romanischen Mittelalters, Bd. 4), München 1964, Vers 3725. 11 Vgl. Francisco Javier Peña Pérez: El Surgimiento de una Nación, Castilla en su Historia y en sus Mitos. Barcelona 2005, S. 118 f.

5. Urraca († 1126) Erste Königin aus Geburtsrecht zur Zeit der „Europäisierung“

„Welche Bosheit, sie respektierte nichts, nichts beschämte diesen Geist voll übelriechenden Gifts, keiner Abscheulichkeit ging sie aus dem Wege“, so schimpft ein Autor in der Compostellaner Bistumsgeschichte über Königin Urraca. Er vergleicht sie mit der Königin Jezabel des Alten Testaments1 und will an anderer Stelle wissen, dass Frauenherrschaft wenig tauge, denn sie sei weibisch und schwach.2 Sogar Bibelzitate (Eccles. 10,16) werden erweitert, Kinder- und Frauenherrschaft gleichgesetzt: „Wehe dem Land, wo ein Knabe herrscht und in dem eine Frau die Herrschaft ausübt.“3 Die pointierten Stellungnahmen der Compostellaner Bistumsgeschichte sind nicht unparteiisch und müssen eingeordnet werden. Im Kathedralarchiv der Apostelstadt findet sich aber ebenso der sogenannte Tumbo A mit zahlreichen Porträts der Herrscher zu den zusammengestellten Urkunden. Das dortige Bild der Königin Urraca kündet so gar nicht von Anfeindungen, sondern stellt die Königin ganz wie andere Herrscher würdevoll dar (Abb. 14). Aber schon 1761 bemerke Enrique Flórez in seiner Geschichte über die spanischen Königinnen, die zumeist die Gattinnen der jeweiligen Könige vorstellt, dass Gott die Herrschaften verteile und dass „unsere Gesetze“ die Herrschaft einer Königin nicht ausschlössen. So hätte eben Alfons [VI.] das Königtum an Urraca übergeben4 (Abb. 15). Unterschiedliche Perspektiven sind heute noch nötig, um die Bedeutung dieser Königin besser zu erfassen, denn sie erscheint nicht nur als Schlüsselgestalt zur politischen Geschichte Spaniens, sondern auch als frühe Protagonistin weiblicher Herrschaft im hohen Mittelalter allgemein, war sie doch – anders als etwa zeitgenössische Frauen wie Blanca von Kastilien († 1252) oder Eleonore von Aquitanien († 1204) – die erste aus Geburtsrecht heraus herrschende Königin Europas. Urraca regierte als Alleinherrscherin in einer Zeit der Umwälzungen. An ihrer Person und Herrschaft können Verflechtungen mit Burgund und dem übrigen Europa, das Zusammenspiel verschiedener iberischer Reiche (wie Aragón, Kastilien, León, Portugal) sowie der Aufstieg des Pilgerzentrums Santiago de Compostela, kurz: herrschaftliche und kulturelle Neuausrichtungen auf der Iberischen Halbinsel, abgelesen werden.

Rahmenbedingungen: Europäisierung

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Abb. 14: Der Tumbo A aus dem Kathedralarchiv in Santiago de Compostela (12. Jahrhundert) verzeichnet die Herrscherurkunden zugunsten Compostelas und bietet zugleich die Miniaturen der Aussteller, darunter die Königin Urraca.

Rahmenbedingungen: Europäisierung

Wie die Eingangszitate erläutern, war Urraca schon zu Lebzeiten eine umstrittene Herrscherin, die aus einer anderen Perspektive als der Cid die Umbruchs­ situation der Iberischen Halbinsel im 11./12. Jahrhundert verdeutlicht. Ihr Vater, Alfons VI. († 1109), hatte sich nach dem Tod seines Vaters Ferdinand I. († 1065) mit seinen Brüdern um die Herrschaft in den Reichen Kastilien, León und Galicien auseinandersetzen müssen. Die Opposition des kastilischen Adels fand damals zeitweise ihren Kristallisationspunkt in der Gestalt des Cid.5 Aber auch die Eroberung Toledos 1085 und Alfons’ Übernahme des Kaisertitels führten zu keiner langfristigen Stabilisierung. Von Süden her unterwarfen die Almoraviden – religiöse Eiferer aus dem Norden Afrikas – seit 1086 zahlreiche muslimische Kleinkönigtümer (taifas) ihrer Herrschaft. In den christlichen Reichen, besonders in Kastilien, suchte man den Schulterschluss mit römischen

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Urraca († 1126)

Abb. 15: Das Bildnis der Königin Urraca bei Enrique Flórez (1761) bietet zugleich einen Stammbaum.

Kirchenreformen in Liturgie und Recht, aber auch durch Förderung eines cluniazensisch geprägten Mönchtums. Wenn man so will, war der Cid eine militärische Antwort auf die neuen Herausforderungen, während die politischen Antworten von Alfons VI. und Urraca zwar auch militärisch bestimmt, zudem aber kirchenpolitisch bedeutsam waren und sich zeitweise mit den im 12. Jahrhundert immer wichtiger werdenden Metropolen Santiago de Compostela und Toledo verbanden. Alfons VI. unterhielt Beziehungen zur burgundischen Reformabtei Cluny und zum cluniazensischen Klosterverband – wichtige cluniazensische Abteien in Spanien lagen in Sahagún und Nájera. Ebenso verweisen seine Heiraten auf diesen Raum. Die Ehen, die Alfons mit Agnes von Poitou († 1078), mit Kon­ stanze von Burgund († 1093), mit Bertha von Burgund (oder aus der Gascogne) († 1010) und mit Zaida-Isabella schloss,6 deuten politische Ziele an. Aus diesen Verbindungen gingen aber lange Zeit – soweit wir wissen – keine männlichen Nachfolger hervor, bis Alfons VI. 1093 von der konvertierten Muslima Zaida, die nach der Taufe Isabella hieß, ein Sohn Sancho geboren wurde. So gewannen Alfons’ Töchter besonders politisches Gewicht.

Eine schwierige Thronfolge

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Die Quellen zu Urracas Herrschaftszeit sind ungleichgewichtig: Neben den 118 Urkunden dominiert die Chartularchronik von Compostela, die Historia Compostellana, mit vielen – freilich besonders parteiisch gefärbten – Details das Bild. Dazu bieten am ehesten die sogenannten anonymen Chroniken (Crónicas anónimas) des cluniazensischen Zentrums Sahagún ein gewisses Gegengewicht.

Eine schwierige Thronfolge

Urraca wurde wohl 1080 als ältestes Kind von König Alfons VI. und dessen zweiter Frau, Konstanze von Burgund, geboren. Vielleicht am Hof des einflussreichen leonesischen Adeligen Pedro Ansúrez († 1118/19) erzogen, wie die Pri­ mera Crónica General später im 13. Jahrhundert berichtet, wurde sie mit einem burgundischen Adeligen, Raimund, einem Bruder von Alfons’ dritter Gemahlin Berta, vermählt. Graf Raimund († 1107) war wohl schon 1087 in die Umgebung des Königs gelangt, vielleicht wurde die Ehe durch Odo von Burgund nach dessen kriegerischen Hilfestellungen gegen die Almoraviden arrangiert. Auch Heinrich von Burgund († 1112) könnte 1087 in die Lande südlich der Pyrenäen gekommen sein. Beide burgundische Adelige – Raimund und Heinrich – übernahmen herrschaftliche Aufgaben in Galicien und Portugal. Der König gab ihnen seine Töchter Urraca und Teresa zu Gemahlinnen: Raimund und Urraca schlossen den Bund der Ehe wohl 1090/1091, Heinrich und Teresa 1095/1096. Alfons’ Auswahl seiner Schwiegersöhne lässt sich neben machtpolitischem Kalkül grundsätzlich vor dem Hintergrund der allgemeinen Frömmigkeits-, Kirchen- und Heiratspolitik des Herrschers erklären. Vielleicht förderten sogar Königin Konstanze und Abt Hugo von Cluny († 1109) im Hintergrund die Ehepartien. Darauf deutet die Herkunft der beiden Schwiegersöhne hin, die entfernt mit Abt Hugo von Cluny und auch mit dem Erzbischof von Vienne, der später als Papst Calixt II. (1119–1124) für den nordwestspanischen Raum wichtig werden sollte, verwandt waren.7 Aber legitimierte die Stellung der Schwiegersöhne in den „Großgrafschaften“ Galicien und Portugal Ansprüche auf die Thronfolge? Solange Alfons ohne berechtigten männlichen Thronfolger blieb, hatten sowohl Heinrich wie Raimund durch ihre Heiraten gute Chancen auf die Nachfolge. Seinen eigenen, 1093 geborenen Sohn Sancho designierte König Alfons VI. wahrscheinlich erst 1107 auf einem Hoftag in León als Nachfolger. Meist wurde in diesem Zusammenhang über einen sogenannten Nachfolgepakt spekuliert. Er ist in einen Brief an Abt

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Hugo von Cluny eingekleidet als Ergebnis von Eiden, die angeblich vor dem cluniazensischen Legaten Dalmatius Geret geleistet wurden.8 Heinrich schwor demnach Raimund, dessen Leben nicht anzutasten und mit ihm das Land König Alfons’ nach dessen Tod gegen jeden Mann oder jede Frau (!) zu verteidigen. Wenn er den Toledaner Schatz früher als Raimund erlange, werde er Raimund zwei Teile geben, den dritten aber behalten. Raimund schwor Heinrich, diesem Toledo und das Umland als Lehen zu überlassen, er wolle dafür aber von Heinrich León und Kastilien zugesprochen haben. Einen zweiten Eid schwor Raimund gegenüber dem Legaten Dalmatius Geret mit dem Inhalt, dass er, falls er Heinrich Toledo nicht geben könne, diesem für die Hilfe beim Erwerb von León und Kastilien als Ersatz Galicien verspreche. Die überlieferten Bestimmungen boten Anlass zur Diskussion, dabei spielt die Datierung des Schriftstücks eine wichtige Rolle. Viele Interpreten setzen sie nach 1107 an, als Alfons’ Sohn Sancho zum Thronfolger bestimmt wurde, und sehen darin eine gleichsam rebellierende Allianz der um ihren langfristigen Lohn gebrachten Schwiegersöhne. Manche Deutungen, wie diejenige Pierre Davids, beschwören sogar das christliche Abendland: Hugo von Cluny, der ja im Hintergrund der Abmachung stand, habe die christlichen Interessen gegen den Sohn einer Maurin hochgehalten und eine Annäherung León-Kastiliens muslimischen Einflüssen gegenüber verhindern wollen. Andere Forscher sprechen sogar von Hochverrat gegenüber dem König.9 Der portugiesischen Geschichtsschreibung erscheint Graf Heinrich jedoch fast immer als selbstbewusster Vertreter der Unabhängigkeit eines neu entstehenden Königreiches, als dessen Gründergestalten Heinrich und dessen Gemahlin Teresa gelten. Wenig beachtet wurde das im Pakt stehende Wort mulier, das wohl auf Alfons’ Tochter Urraca zielt und damit auf eine mögliche weibliche Thronfolge anspielt, denn die Vereinbarung enthält ausserdem das Versprechen Heinrichs, Raimunds Land gegen jeden Mann oder Frau (contra omnem hominem atque mulierem) zu verteidigen. Wohl vor dem Hintergrund der Möglichkeiten weiblicher Thronfolge kamen die burgundischen Adeligen in das familiäre Umfeld der Töchter (und nicht umgekehrt). Die Schwiegersöhne nutzten aber für ihren Griff nach der Herrschaft die gleichen personalen Netzwerke, die Alfons VI. entwickelt hatte, als er ausländische Einflüsse auf verschiedenen Ebenen in seinem Reich implementiert hatte. Heinrich und Raimund hatten mit ihren Perspektiven langfristig auch deshalb Erfolg, weil nach dem Tod von Alfons’ Sohn Sancho 1108 auf dem Schlachtfeld beim Tod Alfons’ VI. 1109 alles wieder offen war. Raimund war bereits 1107 gestorben, Heinrich blieb bis zu seinem Tod 1112 Graf von Portugal. In beiden

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Fällen gehörte nun die Zukunft zwei Witwen: Urraca und Teresa. Beide Frauen mussten sich aber immer wieder gegen die Ansprüche ihrer eigenen Söhne – Alfons VII. und Alfons Henriques – wehren. Der erwähnte Pakt hatte zusätzlich an Brisanz gewonnen, weil Urraca 1105 ebenfalls einen Sohn geboren hatte (Alfons Raimúndez, später Alfons VII.), dessen Ansprüche manche Kräfte in Position bringen sollten. Nach Raimunds Tod übernahm Urraca die Herrschaft in der Grafschaft Galicien. Westgotischen Rechtsvorstellungen entsprechend sollte sie mit ihrem Sohn gemeinsam herrschen. Jedoch dürften noch nicht zu diesem Zeitpunkt, wie die Historia Com­ postellana angeblich wissen will, Bischof Diego Gelmírez und Guido von Vienne (der spätere Papst Calixt II.) zu Vormündern des kleinen Alfons Raimúndez bestellt worden sein, sondern erst bei der zweiten Eheschließung Urracas 1109 mit Alfons I. von Aragón. Die cluniazensischen Beziehungen förderte Urraca aber dadurch, dass sie das galicische Kloster San Vicente de Pombeiro an Cluny übertrug.

Konfliktreiche Ehe und „Bürgerkrieg“

Urracas Heirat mit dem aragonesischen Herrscher Alfons I. († 1134), der seiner Kriegserfolge wegen den Namen „der Kämpfer“ (el Batallador) führte, war wohl schon vor dem Tod Alfons’ VI. vorbereitet worden. Denn nach den Rechtsvorstellungen des navarresischen Königshauses, dem Alfons VI. entstammte, war die Herrschaft einer Frau durch einen Adligen königlichen Geblüts zu unterstützen. Westgotische Traditionen favorisierten – wie gesagt – demgegenüber die gemeinsame Herrschaft mit ihrem Sohn. So schienen die Autoren der Historia Compostellana die Dinge zu sehen, denn sie bewerteten die Ehe und die Konsequenzen aus der Perspektive von Urracas Sohn Alfons Raimúndez. Demnach habe der Adel Urraca zur Heirat gezwungen, und diese Einschätzung dürfte nicht ganz falsch sein. Nach der Bestattung ihres Vaters in der cluniazensischen Benediktinerabtei Sahagún ließ Urraca sich vom leonesischen Adel huldigen und begab sich anschließend in die Burg Muñó bei Burgos, wo im Spätherbst 1109 die Hochzeitsfeierlichkeiten mit Alfons I. dem Kämpfer stattfanden. Durch diese Heirat schien sogar die Vereinigung von Aragón-Navarra und León-Kastilien Wirklichkeit zu werden. Die Nachfolgeordnung sah Folgendes vor: Eventuelle Kinder sollten Erben der verschiedenen Reiche werden, ein einzelner Erbe die Reiche in seiner Hand vereinen. Bliebe die Ehe kinderlos, sollte einer den jewei-

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ligen Partner beerben. Nur in diesem Fall hätte Alfons Raimúndez bei beider Tod in Kastilien-León und in Aragón herrschen können. Die skizzierte Regelung stieß deshalb gerade bei den Förderern des jungen Alfons Raimúndez im Umfeld des mächtigen Bischofs Diego Gelmírez von Compostela († 1140) auf Kritik. Als das frisch vermählte Paar 1110 nach Galicien kam, bekam Alfons I. den Widerstand des galicischen Adels zu spüren. Schon nach kurzer Zeit wurde zudem klar, dass die Ehe nicht die vorgesehene Entwicklung nahm. Vielleicht waren die Temperamente von Urraca und Alfons zu verschieden, angeblich habe Alfons, der damals 36 Jahre alt war, sogar gesagt, ein wirklicher Krieger solle nur mit Männern, nicht mit Frauen zusammenleben. Aus der Ehe Urracas mit Alfons I. ging keine Nachkommenschaft hervor, gewisse Gerüchte wollten sogar wissen, dass Alfons I. von Aragón homophilen Neigungen anhing. Differenzen und Abneigung setzten offensichtlich schon sehr schnell ein. Wieviel Schmach, Schmerzen und Qualen ich erdulden musste, solange ich mit ihm zusammen war, wisst ihr am besten [...] Denn er entehrte mich nicht nur mit schmählichen Worten, nein vielmals hat er mein Gesicht mit seinen schmutzigen Händen besudelt und meine Würde verletzt, indem er mich mit Füßen trat,10

so berichtet die Historia Compostellana – freilich aus einer galicischen Perspektive. Vielleicht nicht nur wegen der Eheprobleme, sondern auch wegen der verschiedenen (kirchen-)politischen Interessen suchte man einen kirchenrechtlich tragfähigen Ausweg, der sich dadurch bot, dass Alfons I. von Aragón und Urraca als Großenkel von Sancho III. el Mayor für eine Ehe kirchenrechtlich zu nahe verwandt waren. Diese Position formulierte vor allem der aus Frankreich stammende Erzbischof Bernhard von Toledo († 1124), der fast während der gesamten Herrschaftszeit Urracas an ihrer Seite stand. Papst Paschalis II. († 1118) hatte die Verwandtschaft ebenso schon als Ehehindernis bemängelt und Urraca unter Androhung der Exkommunikation zur Trennung von Alfons I. aufgefordert. Dieser weigerte sich jedoch vier Jahre lang, die Annullierung der Ehe anzuerkennen, und Urraca versuchte in der Folge, ihren eigenen Mann aus León zu vertreiben. So kam es zu einem furchtbaren „Bürgerkrieg“ mit wechselnden Fronten, bei dem León, Asturien und die Grafschaft Astorga weitgehend hinter Urraca standen, Kastilien jedoch zunehmend unter aragonesischen Einfluss geriet. In Kastilien konnte sich Alfons I. insbesondere auf die neuen aus Frankreich gekommenen Adeligen, Bürger und Kleriker stützen. In Galicien gab es eine

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starke dritte Gruppierung, die weder Urraca noch Alfons I., sondern den jungen Alfons Raimúndez unterstützte. Dieser Sohn Urracas aus ihrer Ehe mit Raimund wurde am Hof des Bischofs von Compostela als Thronfolger aufgebaut. Die Witwe Heinrichs von Burgund, Teresa († 1130), profitierte im entstehenden Königreich Portugal ebenso von der Verwirrung und den wechselnden Fronten. Ohne die einzelnen Auseinandersetzungen hier schildern zu können, die mit verschiedenen Waffengängen verbunden waren, versuchte Urraca eine Einigung mit Alfons I. von Aragón wiederherzustellen. Kirchliche Kreise standen einer solchen Einigung ablehnend gegenüber. Jedenfalls ist eine eheliche Annäherung auch nach 1111 nicht mehr belegt. Die Königin agierte aber in den verschiedenen Einflusszonen mit unterschiedlichen Mitteln. In León, Asturien und der Grafschaft Astorga, wo sie als Königin anerkannt war, stützte sie sich auf den lokalen Adel, den Graf Pedro Ansúrez anführte. In Kastilien war die Situation für Urraca wesentlich schwieriger, weil Alfons I. der Kämpfer hier zahlreiche Orte besetzt hatte und militärisch sicherte. Galicien blieb für Urraca aber ebenso ein besonders schwieriges Aktionsfeld, denn hier standen einige Adelige auf Seiten des Aragonesen, und der damalige Bischof von Santiago de Compostela, Diego Gelmírez, verfolgte eine relativ eigenständige Politik, die auf eine Förderung ihres jungen Sohnes hinauslief. Als 1111 Alfons VII. Raimúndez in Santiago de Compostela zum König gekrönt wurde, war ein deutliches Zeichen gesetzt, und es bleibt offen, ob dieses Königtum auf Galicien beschränkt sein sollte. Diese Grundkonstellation änderte sich nach 1111, als Urraca versuchte, Alfons VII. Raimúndez an der Herrschaft zu beteiligen, damit aber indirekt gegen die Bestimmungen des Heiratsvertrages mit ihrem Mann verstieß. Man beschloss sogar am Tag nach der Krönung des jungen Alfons’, den Knaben zu seiner Mutter nach León zu bringen, aber der Plan scheiterte an den Machenschaften Alfons’ I. von Aragón. Bischof Diego Gelmírez von Compostela konnte einem Hinterhalt nur knapp entkommen und den Knaben seiner Mutter in León ausliefern. Urraca floh darauf mit ihrem Sohn auf die Burg Muñó, um dort gegen ihren Mann Stellung zu beziehen. Schließlich fasste sie in León und in Kastilien wieder Fuß, konnte aber den gleichzeitigen Aufstieg ihrer Halbschwester Teresa in Portugal nicht verhindern. 1114 stimmte Alfons I. von Aragón endlich zu, die Ehe mit Urraca zu lösen. Aber dadurch geriet Urraca unter neuen Druck, weil sie nun immer wieder für oder gegen ihren Sohn Alfons VII. Stellung beziehen musste. Es ergaben sich neue Konstellationen mit häufig wechselnden Fronten. Als ihr Sohn 1116 von einem Zug gegen die Mauren siegreich zurückkehrte und in Santiago de

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Urraca († 1126)

Compostela wie ein König empfangen wurde, eilte Urraca nach Compostela, auch weil der Adelige Pedro Froilaz de Traba die Apostelstadt besetzt hatte. Dem Bischof von Santiago hatte noch König Alfons VI. große Rechte als Stadtherr zugestanden, inzwischen erhoben sich aber die Bürger gegen den Bischof und erstrebten Autonomie. Urraca stellte sich auf ihre Seite, um besser gegen den Förderer ihres Sohnes, Bischof Diego Gelmírez von Compostela, vorgehen zu können. Aber als sie sich einer übermächtigen Koalition von Bischof, dem Grafen von Traba und ihrer Schwester Teresa gegenübersah, musste sie einlenken. Es gelang ihr nicht, den Aufstand niederzuwerfen, sondern sie geriet selbst in die Defensive. Die Bürger legten an den Glockenturm der Kathedrale Feuer, wo sich der Bischof und Urraca versteckt hielten. Erst nachdem ihnen freies Geleit zugesichert worden war, verließen beide die Kirche. Die Historia Compostellana, die Alfons VII. Raimúndez und dem Compostellaner Bischof gewogen ist, berichtet, wie die Königin zu Boden geworfen wurde, wie man ihr die Kleider auszog und sie eine Zeitlang unwürdig liegen blieb: „[…] sie fingen sie nach Art der Wölfe und entkleideten sie, daß sie von Brüsten bis unten nackt vor allen in Scham am Boden lag“.11 Erst ein Heer des nahenden Grafen Pedro Froilaz rettete sie. Urraca wurde ebenso nach weiteren gewalttätigen Auseinandersetzungen von besonnenen Bürgern beschützt. Noch 1116 wies sie ihrem Sohn Alfons Raimúndez einen eigenen Herrschaftsbereich zu, und zwar das Reich Toledo und Extremadura. Diese neue „Arbeitsteilung“ spiegelt sich zuweilen in den Urkunden. Ihr Sohn bezeichnete sich aber – vielleicht auch weil er in Toledo herrschte – seit 1118 als Kaiser und versuchte, von Toledo aus auch die letzten Bastionen des Aragonesen wie Segovia zurückzugewinnen. Mit Aragón schloss Urraca 1117 einen Waffenstillstand, den der Papst sogar bestätigte.

Konsolidierung

Die Wirrungen um Urraca hingen nicht zuletzt mit den Ambitionen des Pilgerzentrums Santiago de Compostela zusammen. Mit den Ansprüchen, das einzige Apostelgrab im Westen zu hüten, erstrebte Diego Gelmírez die Erzbischofswürde. Dazu wollte dieser nach Frankreich reisen, wo 1119 Guido von Vienne, der Onkel des jungen Königs als Papst Calixt II. (1119–1124) erhoben worden war, um von diesem die langersehnte Metropolitanwürde zu erlangen. Urraca aber untersagte dem Compostellaner Bischof die Reise zu einem Konzil in

Konsolidierung

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Reims, offensichtlich aus Befürchtungen, der Papst könne auch zugunsten ihres Sohnes Alfons Raimúndez agieren. Zwar gelang die Erhebung zur Metropole dennoch 1120, das Verhalten Urracas zeigt aber, wie gefährlich ihr die Ambitionen des Apostelsitzes Compostela schienen. Im Laufe des Jahres 1120 folgten weitere Auseinandersetzungen, die sogar zur Gefangennahme des Erzbischofs führten. Dazu erreichte Urraca, dass Papst Calixt II. die Vorherrschaft Toledos auf der Iberischen Halbinsel 1121 bestätigte. Das Verhältnis zu dem aus Frankreich stammenden Erzbischof Bernhard von Toledo war gut. Auf die Besetzung vakanter Bischofssitze scheint sie wie ihr Vater Alfons VI. erfolgreich Einfluss genommen zu haben. Gleichzeitig versuchte Urraca, ihre Stellung gegenüber Portugal zu festigen. Dort betrieb ihre Schwester Teresa seit 1117 eine Politik, die schließlich in die Unabhängigkeit Portugals mündete. Als sie ihre Schwester in der Burg Lanhoso, nordöstlich von Braga, belagerte, befand sie sich in Begleitung von Diego Gelmírez. Dieser wollte die dortigen Besitzungen für seine Kirche wiedergewinnen. Als der Compostellaner Kirchenvorsteher aber nicht bereit war, Urracas Kriegszüge weiter zu unterstützen, nahm Urraca ihn gefangen, zog die Besitzungen ein und erstattete diese erst ein Jahr später. Erst als der Papst ihr mit der Exkommunikation drohte, ließ sie den Erzbischof wieder frei. Ihr Ziel, die von Teresa betriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen in Portugal einzudämmen, war damit gescheitert. Andererseits suchte Teresa, die in Urkunden immer häufiger Königin genannt wurde, in der Folge mit Unterstützung der Grafen von Traba portugiesischen Einfluss weiter nach Norden auszudehnen, und erst im März 1122 einigten sich beide Schwestern bei einem Konzil in Compostela.12 Trotz verschiedener Widrigkeiten, die auch ihr Verhältnis zu Teresa und deren Sohn Alfons Henriques († 1185) im entstehenden Portugal betrafen, vereitelte Urraca eine weitere Romreise des Erzbischofs von Compostela, weil sie auch fürchtete, sie könnte dazu dienen, ihre Absetzung zu betreiben. Sie hatte in aller Stille den Grafen Pedro González von Lara († 1130) geheiratet und zwei Kinder geboren. Dass sie selbst im Kindbett starb, wie eine Compostellaner Chronik berichtet, ist eher zweifelhaft. Nach 1124 überließ Urraca schrittweise ihrem Sohn die Regentschaft. Als sie am 8. März 1126 in Saldaña in der Tierra de Campos starb, hinterließ sie Alfons VII. ein befriedetes Reich. Sie wurde in San Isidoro in León bestattet, dem Ort, den sie auch während ihrer Regierungszeit immer wieder gefördert hatte. Die Grabinschrift wurde durch die napoleonischen Truppen zerstört, frühere Abschriften zeigen, dass sie unter anderem als Mutter des nachfolgenden Kaisers Alfons VII. gerühmt wurde.13

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Schlüsselgestalt in Umbruchszeiten

Das Bild Urracas wird bis heute stark durch den sehr parteiischen Blick der Historia Compostellana bestimmt. Die Dominanz dieser Perspektive verdeutlicht aber eindrücklich, was sich im Nordwesten vor allem unter der Ägide des machtbewussten Diego Gelmírez entwickelte. Der Aufstieg zu einer wichtigen geistlichen Metropole, die mit dem rückeroberten Toledo konkurrierte, wurde zwar mit dem Besitz des Apostelgrabes von Jakobus dem Älteren begründet, musste aber auch politisch auf verschiedene Art und Weise durchgesetzt werden. Die Historia Compostellana erzählt davon aus Sicht des Pilgerzentrums. Im Nordwesten der Halbinsel, in Galicien, waren ebenso wichtige Umgestaltungen der Iberischen Halbinsel in dieser Zeit greifbar. Die zunehmende Öffnung Spaniens nach Europa hin, die oft als „Europäisierung“ bezeichnet wird, betraf kirchenpolitische Entwicklungen: So wurden römische Liturgie und römisch-rechtliche Vorstellungen zunehmend durchgesetzt. Auch kam mit vielen neuen „Migranten“ nicht zuletzt im monastischen Bereich die zunehmende Nutzung der karolingischen Schrift in Gebrauch. Neues wurde vielfach durch Personen vermittelt: Pilger, die nach Compostela zogen, Kleriker, die Bischofssitze einnahmen, Mönche, die spanische Klöster ihres Verbandes verstärkten oder Adelige, die wie Raimund und Heinrich von Burgund bei Kriegshandlungen während der Reconquista halfen. An Urracas Heirat mit Raimund manifestierte sich der burgundische Einfluss in besonderer Weise, den ihr Sohn Alfons VII. mit Compostellaner und anderer Unterstützung weitertragen sollte. Dies war kein Einzelfall, denn auch die Entstehung Portugals durch die Heirat ihrer Halbschwester Teresa mit Heinrich von Burgund prägte die (burgundische) Orientierung des ganz neu entstandenen Königreiches im Westen. Dass Urraca in vielen Fragen oft auf den ebenfalls aus Südfrankreich stammenden Bernhard von Toledo setzte, ihr Sohn Alfons VII. dagegen zunächst auf Diego von Compostela, verweist zugleich auf die Konkurrenzsituation beider Erzsitze. In diesem schwierigen Prozess der Neuorientierung lenkte die erste europäische Königin aus Geburtsrecht die Geschicke im Norden der Iberischen Halbinsel. Die komplexe Ausgangslage spiegelt sich nicht zuletzt in den zahlreichen Auseinandersetzungen der Königin. Von ihren Heiraten wies diejenige mit Raimund in die Zukunft, die mit Alfons I. dem Kämpfer eher in eine Sackgasse, will man nicht die Weichenstellung der künftig getrennten Wege von KastilienLeón und Aragón anführen. Urracas Schwierigkeiten basierten zugleich auf der noch nicht sehr erprobten weiblichen Herrschaft, die vor allem die Konflikte

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mit Alfons I., ihrem Sohn und ihrer Schwester betrafen. Wenn man von den Kriegszügen der Reconquista ausgeht, so war Urraca durchaus aktiv, aber sie suchte meist und im Grunde eher den Verhandlungsweg. Trotz der oft negativen Urteile über eine allgemein „weibische“ Herrschaft Urracas, die gerade die parteiische Historia Compostellana hervorhebt, ist die Bilanz ihrer Regierungszeit keinesfalls so negativ, denn die Entscheidungen, sich von Alfons I. zu trennen, ihren Sohn Alfons VII. schrittweise in die Herrschaft einzubinden und seit 1117 einen Ausgleich mit Aragón zu suchen, waren langfristig für das kastilisch-leonesische Reich tragfähig. Dieses Reich formierte sich unter Alfons VI. und Urraca zunehmend, wie an der Schriftlichkeit, der Urkundenproduktion, dem Kanzleipersonal, der Bischofsherrschaft und weiteren Indizien gut abgelesen werden kann. Vielleicht machen die sehr massiven Vorwürfe und Beleidigungen der His­ toria Compostellana die Herrscherin für heutige Leser sogar noch sympathischer. Dreht man den Spruch „Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau“ um, dann war dies für Urraca sicher Bernhard, der Erzbischof von Toledo, der fast immer an ihrer Seite stand, vielleicht auch ihr Geliebter und Gemahl, der Graf von Lara.

Weiterführende Literatur Christys, Ann: Picnic at Madinat al Zarah, in: Simon Barton/Peter Linehan: Cross, Crescent and Conversion: Studies on Medieval Spain and Christendom in memory of Richard Fletcher, Leiden 2008, S. 87–107. Feige, Peter: Die Anfänge des portugiesischen Königtums und seiner Landeskirche, in: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Reihe 1, 29), Münster 1978. Reilly, Bernard F.: The Kingdom of León-Castilla under King Alfonso VI. 1065–1109, Princeton 1988. Reilly, Bernard F.: The Kingdom of León-Castilla under Queen Urraca 1109–1126, Princeton 1982. Schilling, Beate: Guido von Vienne – Papst Calixt II. (Monumenta Germaniae Historica Schriften 45), Hannover 1998, S. 445–461. Stieldorf, Andrea: Urraca, Mathilda, Konstanze und Co. Königinnen des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts im Münzbild, in: Dies. (Hg.): Macht und Herrschaft im Siegel- und Münzbild (Studien zu Macht und Herrschaft 14), Göttingen 2020, S. 11–38.

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Anmerkungen 1 2

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Emma Falque Rey (Hg.): Historia Compostellana (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, CCCM 70), Turnhout 1988, S. 287 und S. 289. Vgl. ebd., S. 172 und 181; Nikolas Jaspert: Indirekte und direkte Macht iberischer Königinnen im Mittelalter: ‚Reginale‘ Herrschaft, Verwaltung und Frömmigkeit, in: Claudia Zey (Hg.): Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert) (Vorträge und Forschungen 81), Ostfildern 2015, S. 73–130, S. 73 f. Ursula Vones-Liebenstein: Königin Urraca, in: Karl Schnith (Hg.): Frauen des Mittelalters in Lebensbildern, Wien 1997, S. 174–188, S. 177. Enrique Flórez: Memorias de las reynas cathólicas de España, Madrid 1761, S. 266 (https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10619017?page=262,263; zuletzt abgerufen am 28.03.2022). Vgl. Kapitel 4. Vgl. Klaus Herbers: Herrschaftsnachfolge auf der Iberischen Halbinsel. Recht – Pragmatik – Symbolik, in: Matthias Becher (Hg.): Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, S. 231–252, S. 247. Vgl. Armin Kohnle: Abt Hugo von Cluny (Beihefte der Francia 32), Sigmaringen 1993, S. 231 f. und S. 391. Vgl. Pierre David: Le pacte successoral entre Raymond de Galice et Henri de Portugal, in: Bulletin hispanique (50/3) 1948, S. 275–290, S. 275 f. Vgl. Kohnle: Abt Hugo, S. 230–233. Vones-Liebenstein: Königin, S. 182. Falque Rey: Historia, S. 203. Vgl. Walther L. Bernecker/Klaus Herbers: Geschichte Portugals, Stuttgart 2013, S. 45 f. Vgl. Flórez: Memorias, S. 266.

6. Maimonides († 1204) Wandler zwischen den Welten

Nach dem Blick auf christliche und muslimische Welten der Iberischen Halbinsel erschließt Maimonides die Stellung der Juden neben diesen beiden Religionen und führt zur Trias von Christen, Juden und Muslimen, welche die Geschichte Spaniens so nachhaltig geprägt hat. Maimonides wurde 1135 in Córdoba geboren, seine Familie floh aber – wie es häufig heißt – schon bald, 1148, aus dieser Stadt, um sich später in Fez und ab 1165 in al-Fusṭāṭ (Alt-Kairo) niederzulassen, wo Maimonides 1204 starb. Ist der jüdische Gelehrte vor diesem Hintergrund nur bedingt als Schlüsselgestalt der spanischen Geschichte zu interpretieren? Inwieweit waren die späteren Aktivitäten des Maimonides noch von seiner andalusischen Zeit beeinflusst? Wie nachhaltig könnte ihn seine Herkunft geprägt haben? Warum floh die Familie?

Rahmenbedingungen: Rigorismus im Süden Spaniens

Er hüte lieber Kamele für die Almoraviden als die Schweine von Alfons VI., so soll al-Muʿtamid, der Herrscher des Kleinkönigreichs (Taifa) von Sevilla, gegen Ende des 11. Jahrhunderts gesagt haben.1 War es eine Wahl zwischen Pest und Cholera, die für Kleinkönige im muslimisch beherrschten Spanien während des 12. Jahrhunderts anstand? Die Geschichte der südlichen Iberia unter der Herrschaft von Almoraviden und Almohaden im 12. Jahrhundert unterschied sich deutlich von der Zeit zuvor. Diesen Umbruch dokumentiert das Leben des Maimonides. Steht damit die äußere Geschichte des Maimonides den geläufigen Vorstellungen von den Zuständen auf der Iberischen Halbinsel entgegen, denkt man an die Schlagworte von Austausch und friedlichem Zusammenleben (con­ vivencia) der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen? Die Bedeutung eines solchen Zusammenlebens ist bis heute nicht nur wegen der bekannten, lang anhaltenden Kontroverse zwischen Claudio Sánchez Albornoz und Américo Castro umstritten. Während der erste die Entwicklung Spaniens auch auf den Widerstandskern des christlichen Asturien seit dem 9. Jahrhundert zurückführte,2 betonte Castro die kulturellen Austauschprozesse zwischen Juden, Christen und Muslimen.3 Allerdings gehört dieser Streit auch in die Auseinandersetzung

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Maimonides († 1204)

um die „beiden Spanien“ und damit insgesamt um die Bedeutung kultureller und weiterer Transferprozesse für die Entwicklungen auf der Iberischen Halbinsel. Besonders im Zeitalter des Franquismus und des Übergangs (transición) zur Demokratie spielten diese Fragen erneut eine politische Rolle. Sie sind auch deshalb bis heute in Spanien aktuell, weil längst neue Migrationsprozesse nach Antworten verlangen, in die sich auch politische Denker und Schriftsteller immer wieder einschalten.4 Ob und wie Austausch funktionierte, kann nicht pauschal für den historischen Verlauf insgesamt beurteilt werden. Hier ist zu beachten, dass nur eine Differenzierung verschiedener Phasen und Räume angemessene Einsichten ermöglicht. Ein Blick auf die Person des Maimonides und die Rahmenbedingungen seiner Zeit trägt hierzu bei. Wie problematisch waren die neuen politischen Strukturen seit den Eroberungen der Almoraviden 1086 für Nichtmuslime im Süden der Iberischen Halbinsel? Blickt man in diverse Lexika zur Geschichte Córdobas, so findet man sich mit einem merkwürdigen Befund konfrontiert: Fast überall scheint die Geschichte der Stadt mit dem Untergang des Kalifates 1031 zu enden. Manche Beiträge würdigen den Ort noch als kulturelles Zentrum in der anschließenden Zeit. Selbst der Encyclopaedia of Islam genügen wenige Zeilen.5 Zwar war die große Zeit Córdobas zweifellos 1031 beendet, jedoch verlor die Stadt nicht vollends an Bedeutung, wie dies damit suggeriert wird. Nunmehr übernahmen die Familien der Ğahwariden sowie der ʿAbbādiden in Córdoba die Herrschaft. Insgesamt verlagerte sich im Tal des Guadalquivir das Schwergewicht zwar deutlich zum Meer hin, nach Sevilla, jedoch ist daran festzuhalten, dass die Zeit der Taifenkönigtümer in Spanien zu den Epochen zählt, die in kultureller Hinsicht besonders hervorstechen. Dies gilt prinzipiell auch für das 11. Jahrhundert in Córdoba, obwohl sich die kulturelle Entwicklung der Städte des muslimisch dominierten Spanien unterschied. Die unabhängige Position der einzelnen Taifenreiche wurde vor allem deshalb zunehmend kritisch, weil die christlichen Reiche des Nordens ihre Reconquista-Bemühungen intensivierten, gegen Ende des 11. Jahrhunderts sehr erfolgreich nach Süden vorstießen und damit Grenzen nachhaltig veränderten. Ein wichtiger Wendepunkt war sicherlich die Eroberung Toledos 1085. König Alfons VI. von Kastilien-León († 1109) bezeichnete sich anschließend entsprechend als imperator toledanus. Manchmal nannte er sich auch Kaiser der beiden Religionen, weil Muslime in seinem Herrschaftsbereich verblieben waren, oder er machte durch weitere Titel Ansprüche auf die gesamte Hispania geltend. Vielleicht plante Alfons VI. sogar, eine Art Schutzherrschaft über den gesamten Süden aufzurichten und durch eigene Amtsträger

Rahmenbedingungen: Rigorismus im Süden Spaniens

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verwalten zu lassen.6 Verhindert wurde die Ausführung dieser Absichten durch die Eroberungen der aus Nordafrika kommenden muslimischen Almoraviden. Nur das Reich von Valencia unter der Herrschaft des Cid und das Reich von Zaragoza blieben von einer Eroberung durch die Almoraviden seit Ende des 11. Jahrhunderts zunächst verschont. Die Almoraviden folgten strengen islamischen Reformvorstellungen malikitischer Ausrichtung, die Zielvorstellungen zu einer verstärkten Missionierung einschlossen. Seit ihren ersten Erfolgen in Nordafrika wurde zudem deutlich, dass bei einer Expansion auf die Iberische Halbinsel der Maghreb und al-Andalus in der Zukunft noch engere Bindungen eingehen würden (Karte 3). Nahm aber bereits durch die Almoravidenherrschaft im Süden Spaniens der Druck auf die nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen zu? Eine relativ gut dokumentierte Episode scheint dies zu belegen. Mozarabische Christen baten den aragonesischen Herrscher Alfons I. den Kämpfer († 1134) in einem Brief, in dem sie die Reichtümer Granadas schilderten, zu einer Befreiungsaktion nach Andalusien aufzubrechen. Alfons zog 1125–1126 mit großer Unterstützung nach Süden, gewann auch mehrere Schlachten,7 kam aber offensichtlich zu spät, um Christen zu „retten“. Er kehrte daraufhin zurück, denn die Lage hatte sich verschlechtert. Schließlich soll der König aber 14.000 andalusische Christen aus dieser Gegend im Ebrotal angesiedelt haben. Über die verbliebene Bevölkerung der Mozaraber in al-Andalus wissen wir recht wenig, über Deportationen nach Afrika berichten erst Quellen aus den 1170er Jahren. Nach den Gutachten (fat­ wa) des Großvaters von Averroes, der damals qāḍī (Richter) in Córdoba war, kann man nur ansatzweise erkennen, dass Repression nicht-muslimischer Bevölkerungsgruppen wohl nicht unmittelbar, sondern allenfalls später einsetzte.8 Andalusien war nach dieser „Befreiungsaktion“ jedoch fast nur noch von Muslimen bevölkert, besonders Christen spielten nach Emigrationen oder Konversionen, später auch Deportationen, kaum noch eine Rolle. Allerdings bleiben alle quantitativen Näherungswerte spekulativ. Offensichtlich war auch das Zusammenleben der Religionen in manchen Gebieten inzwischen in eine Krise geraten, ohne dass von einer grundsätzlichen Konfliktsituation geredet werden sollte.9 Schon bald suchte jedoch die rigoristische Reformbewegung der Almohaden auch auf den südspanischen Raum herrschaftlich auszugreifen. Die Anfänge der Almohaden liegen ebenfalls im nördlichen Afrika. Sie propagierten das strikte Bekenntnis der göttlichen Einheit, den Glauben an einen von Gott gesandten Mahdi und forderten einen streng geregelten Islam. Die Gründerfigur, der Berber Ibn Tūmart († 1130), verweist nach Córdoba, denn dort erhielt er seine erste

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Maimonides († 1204)

Ausbildung, bevor er nach einer Pilgerfahrt im Irak weiter studierte. Hier beeinflussten ihn die Lehren al-Ġazālīs, der die islamische Orthodoxie mit mystischen Strömungen zu vereinen suchte. 1116 kehrte Ibn Tūmart nach Westen zurück, wo er mit Unterstützung seines späteren Nachfolgers ʿAbd al-Muʾmin vor allem gegen die Almoraviden kämpfen wollte. Ende 1121 proklamierte er sich als Mahdi, als ein von Gott gesandter Herrscher (Rechtgeleiteter). Die Gefolgschaft nannte sich entsprechend al-muwaḥḥidūn oder Almohaden (Unitarier). Nach dem Tod des Ibn Tūmart 1130 folgte ihm ʿAbd al Muʾmin, der durch administrative und militärische Fähigkeiten hervortrat. Die Eroberung Marokkos (1133–1149) und von Marrakesch (1147) führten zum endgültigen Sturz der Almoraviden und zur weiteren Ausbreitung der Almohaden. Davon war auch al-Andalus betroffen. Da die Almoraviden im Süden Spaniens in den dreißiger und vierziger Jahren zunehmend Schwierigkeiten gewärtigen mussten, gewann sogar seit den 1120er Jahren zwischenzeitlich eine neue Generation von Taifenherrschern an Gewicht, so beispielsweise in Córdoba im Januar 1145. Im Mai 1146 erreichten die ersten Kontingente der Almohaden von Nordafrika aus die Iberische Halbinsel und setzten vor allem im Süden ihre Herrschaft durch. Zunächst erlangten sie die Macht in Sevilla, Córdoba und anderen wichtigen Städten. Manche Gebiete leisteten energischen Widerstand. Nach dem Tod des ʿAbd al-Muʾmin (1163) verstärkte sich besonders unter Abū Yaʿqūb Yūsuf (1163–1184) der almohadische Druck, so dass Südspanien zunehmend herrschaftlich den Almohaden unterstand. Dass gleichzeitig christliche Herrscher die Landkarte zu verändern trachteten, wird noch zu berichten sein. Das Lebensschicksal des Maimonides dürfte maßgeblich von den skizzierten veränderten politischen und geistigen Rahmenbedingungen bestimmt gewesen sein. Mit Blick auf seine Person erscheint es interessant zu fragen, welche Voraussetzungen das Wirken von Personen wie Maimonides erleichterten oder erschwerten. Lässt sein Lebensschicksal Grenzen, Grenzräume und Grenzüberschreitungen genauer erfassen? Gemeint sind Grenzen im übertragenen Sinne zwischen den Religionen ebenso wie die sich ändernden geographisch-politischen Grenzen. Diese betrafen nicht nur das muslimisch und das christlich dominierte Spanien, sondern zugleich die Neustrukturierungen unter verschiedenen muslimischen Herrschaftsträgern in al-Andalus und Nordafrika.

Jugend in Córdoba

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Abb. 16: Die Statue des Maimonides in Córdoba auf der Plaza Tiberiades wurde 1964 von Amadeo Ruiz Olmos geschaffen.

Jugend in Córdoba

Handbücher und Nachschlagewerke zu Maimonides stellen fast immer dessen Werk und geistige Entwicklung, weniger die äußeren Umstände seines Lebens in den Vordergrund. Beides hängt aber zusammen, zumal viele biographische Daten sich nur aus den Werken erschließen lassen, die damit zu den wichtigsten Quellen für seinen Lebenslauf werden. Der Vater unseres Protagonisten, Rabbi Maimon, ein Spross der Daviden, gehörte zu einer der bekanntesten und ältesten Familien Córdobas, wo er als oberster Richter eine hohe Stellung bekleidete. Dessen Sohn Moses ben Maimon, der vor allem seit der Renaissance unter dem Namen „Maimonides“ bekannt ist, wurde am 14. Nīsān, das heißt am 30. März (1135 oder eher 1138), in Córdoba geboren. Wo das Haus der Familie stand, ist unbekannt, vermutlich in der sogenannten judería, dem jüdischen Viertel, die es in den meisten multireligiösen Städten dieser Zeit im muslimischen Spanien gab. Jedenfalls hat man ihm hier in jüngerer Zeit auf der Plaza Tiberiades ein Denkmal errichtet (Abb. 16).

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Maimonides († 1204)

Seine Mutter soll die Tochter eines Metzgers gewesen sein. Angeblich hatte Rabbi Maimon sie geheiratet, weil er im Traum dazu aufgefordert worden sei. Sie starb jedoch bei der Geburt ihres Sohnes Moses. Der Vater heiratete erneut, diesmal vermutlich die Tochter einer bedeutenden jüdischen Familie Córdobas. Aus dieser Verbindung ging ein weiterer Sohn, David, hervor, um den sich der junge Moses intensiv kümmerte. Rabbi Maimon erzog seine Söhne wohl zu Hause. Die Welt- und Religionsvorstellungen seines Vaters, der Gott als ein liebendes Gegenüber, nicht als eine intellektuelle Abstraktion ansah, dürften Maimonides geprägt haben. Außerdem geriet Maimonides mit Rabbi Yosef ibn Migaš in Kontakt, der ihn wie schon seinen Vater stark beeinflusste. Zu den Lehrgebieten zählten insbesondere Astrologie, Astronomie, Mathematik, Geometrie, Philosophie, Recht und Rhetorik. Sprachlich bewegten sich die jüdischen Kreise dieser Zeit vor allem im Arabischen und Hebräischen. Dies verschaffte Maimonides Zugang zu diversen prägenden Schriften der Zeit. Aber die große Wissbegier und die frühen Erfolge des jungen Maimonides mögen später aus der Rückschau und der Erinnerung teilweise etwas überhöht und verformt dargestellt worden sein.

Von Córdoba nach Almería: Almohadische und christliche Herrschaft

Es folgte ein Einschnitt 1147/1148, als Córdoba von den Almohaden erobert wurde. Änderten sich die Lebensbedingungen so sehr, dass die Familie deshalb aus Córdoba floh? Dies ist unsicher. Während manche Gelehrte eine Flucht aus Córdoba annehmen,10 wird dies von anderen als unbelegt abgelehnt.11 Es besteht lediglich Einigkeit darüber, dass die Familie zunächst wohl in al-Andalus blieb. Sollte die Familie Córdoba verlassen haben, so führte sie der Weg zunächst wohl nach Almería, wo sie mindestens vier Jahre lang, bis 1151, geblieben sein soll. Erst in diese Zeit gehören möglicherweise die Begegnung und Freundschaft zwischen Maimonides und dem ebenso in Córdoba geborenen bekannten Philosophen Averroes († 1198), der neun Jahre älter war und sich hier wohl im Exil befand, weil er mit politischen Instanzen in Konflikt geraten war. So kam Maimonides mit einem der bedeutendsten Philosophen in Kontakt, der gerade als Kommentator und Interpret, besonders der logischen Schriften des Aristoteles, hervorgetreten war. 1151 oder später verließ die Familie Almería wahrscheinlich wieder und zog umher. Als die zweite Frau des Rabbi Maimon starb, war dieser nun mit seinen Söhnen und zwei Töchtern allein.

Von Córdoba nach Almería: Almohadische und christliche Herrschaft

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Manches über diese Lebensphase im südlichen Spanien zur Zeit der Almohaden ist erst aus den späteren Werken des Maimonides allgemein erschließbar, denn in diesen verweist Maimonides immer wieder auf die Hispania als sein Ursprungsland. Zu den Werken, die in dieser Zeit entstanden, gehörten wahrscheinlich die Einführung in die Logik, seine Schriften über den Kalender, seine Untersuchungen zu den geonim, den Gelehrten des frühen Mittelalters, sowie der Beginn seiner Mišneh Torah, die er erst um 1180 in Alt-Kairo abschloss.12 Wir wissen nicht, wie sehr der Druck auf die jüdische Bevölkerung im almohadisch regierten al-Andalus weiter zunahm, aber schließlich rückte eine Schiffsüberfahrt der Familie des Maimonides in das nördliche Afrika immer näher. Dies soll 1159 geschehen sein. Im nordafrikanischen Fez lebte die Familie bis etwa 1165/66. Die Situation der Juden war hier zwar grundsätzlich derjenigen in al-Andalus vergleichbar, aber offensichtlich waren die Möglichkeiten besser, als Jude seinem Glauben weiterhin nachzugehen, wenn auch mit gewissen Einschränkungen und Kompromissen. Maimonides soll 1165 dem Zeugnis des Abū l-ʿArab ibn Moiše gemäß arrestiert worden sein, nach seiner angeblich kurz zuvor erfolgten Konversion zum Islam. Erst als er freigelassen wurde, ging die Familie nach Ceuta, um ein Schiff nach Palästina zu nehmen. Von dort übersiedelte sie wenig später nach Alexandria, dann nach al-Fusṭāṭ. Soweit die äußeren Daten zur ersten Lebenshälfte des Maimonides. Erst ab 1166 scheint das seit der frühesten Jugend bewegte Leben in ruhigere Bahnen geraten zu sein. Mit Maimonides lassen sich die Veränderungen im Zusammenleben der drei großen Religionsgruppen in Südspanien genauer fassen. Dabei sollte man vor allem das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen sowie Muslimen und Juden unterscheiden. Die neuere Forschung bietet zur fraglichen Zeit keinen eindeutigen Befund. Berichte zum Kriegszug des Aragonesen Alfons’ I. dienen oft dazu, die Lebensverhältnisse der mozarabischen Christen in düsteren Farben zu malen, denn manche Deutungen gehen davon aus, dass anschließend die christliche Bevölkerung in al-Andalus weitgehend eliminiert war. Dagegen wurde von anderer Seite unterstrichen, dass der rechtliche Status der Christen grundsätzlich nicht angetastet wurde. Christen, die in al-Andalus hätten bleiben wollen, seien nicht vertrieben worden. Die christliche Bevölkerung habe vielleicht sogar zugenommen, weil die Almoraviden christliche Söldnertruppen einsetzten.13 Einigkeit besteht jedoch darüber, dass zunächst unter den Almoraviden insgesamt weniger die Juden als die Christen in die Defensive gerieten, denn die Almoraviden hätten den Druck, den die christlichen Reiche auf sie ausübten, vor allem an die in ihren Herrschaften lebenden Christen weitergege-

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ben. Von Verfolgungen jüdischer Bewohner zur almoravidischen Zeit ist wenig bekannt. Es gab allerdings Ausschreitungen gegen die Cordobeser Juden im Jahr 1135. Jedoch blieb der Rechtsstatus von Mitgliedern anderer monotheistischer Religionen grundsätzlich gewahrt. Änderte sich dies unter den Almohaden? Zwar gab es bei der almohadischen Eroberung von Sevilla christliche und jüdische Opfer, aber erste Deportationen – in diesem Fall von Christen – sind erst um Jahr 1170 belegt. Die Situation scheint sich dennoch unter den Almohaden insgesamt zugespitzt zu haben. Nun standen auch die wohl noch vergleichsweise zahlreich in Südspanien verbliebenen Juden stärker unter Druck. Zerstörungen von Synagogen, Verbrennungen hebräischer Bücher, das Verbot, den Sabbat und andere Festtage zu heiligen, sind belegt.14 Gleichzeitig förderten die Almohaden mögliche Konversionen. Nicht zufällig dürfte Maimonides zu diesem aktuellen Problem in seinem Brief über die Apostasie Stellung bezogen haben. Trotzdem bleibt ein Befund auffällig: Auch die Almohaden scheinen das ḏimmī-System nicht grundsätzlich in Frage gestellt oder abgeschafft zu haben, frühere rechtliche Bestimmungen blieben erhalten. Die spärlichen Notizen deuten eher darauf hin, dass Verschärfungen in einigen Gebieten und zu gewissen Zeiten erfolgten. Der zunehmend almohadische Druck dürfte allerdings den späteren, wohl 1172 von Maimonides verfassten Brief nach Jemen mit seinem Angriff auf den Islam verständlich machen.15 Hatte somit die Abgrenzung zwischen den Religionen in verschiedenen Schüben seit der Almoravidenzeit weiter zugenommen, so führte die sukzessive almohadische Eroberung des südspanischen Raumes stärker dazu, dass Juden, Christen oder Muslime, welche die religiöse Ausrichtung der Almohaden nicht teilten, sich nach 1147 dem religiösen Druck durch Auswanderung oder Binnenmigration entzogen. Dies war vor allem deshalb interessant, weil nicht alle Herrschaften gleichzeitig unter almohadische Botmäßigkeit gebracht worden waren und somit regional unterschiedliche Lebensbedingungen existierten. Der Grenzraum von al-Andalus wurde jedoch auch – und dies ist mit Blick auf Maimonides meist nicht beachtet worden – von den christlichen Erfolgen der sogenannten Reconquista geprägt. Aus dieser Perspektive erschließen sich für die Lebensgeschichte des Maimonides einige neue Aspekte und Überlegungen. Da sich die Grenzen nicht nur innerhalb von al-Andalus im Zusammenspiel mit dem Maghreb, sondern auch durch die Reconquistazüge der christlichen Reiche ständig verschoben, gab es auch in den christlichen Reichen eine zunehmend größer werdende jüdische Bevölkerung, denkt man nur an Toledo.

Von Córdoba nach Almería: Almohadische und christliche Herrschaft

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Für die Familie des Maimonides hat man lange Zeit abgelehnt, dass eine Flucht aus Córdoba in christliche Reiche überhaupt zur Diskussion gestanden habe. So vermerkt Ilil Arbel: „Rabbi Maimon refused to stay in Córdoba, preferring exile to pseudo conversion. He decided to avoid the Christian lands, where the language and culture were alien to him, and stay as long as possible in Muslim Spain“. Und wenig später heißt es: „Rabbi Maimon preferred remaining in Muslim lands, and felt a strong aversion to the Christian lands.“16 Nicht berücksichtigt wird hier der Wechsel der Herrschaften und die sich stets verändernden Grenzen im sogenannten muslimischen Spanien. Aus kastilisch-leonesischer Perspektive war dies vor allem unter Alfons VII. († 1157) der Fall. Es gab keine religiös homogenen Räume und Reiche. Unter muslimischer Herrschaft lebten Christen, wie Muslime unter christlicher Herrschaft lebten. Und Juden gab es grundsätzlich in allen Reichen. 1146 stießen die Truppen Alfons’ VII. über Baeza nach Córdoba vor, der Heimatstadt des Maimonides, wo damals ein Taifenherrscher gebot, obwohl gleichzeitig ein Almoravide Herrschaftsansprüche aufrechterhielt. Im Mai 1146 erreichte den christlichen Herrscher ein Hilfegesuch von Abū Ğaʿfar Hamdin, der in den lateinischen Quellen meist Abenhandim genannt wird. Ende Mai wurde der almoravidische Herrscher von christlichen Truppen besiegt. Alfons VII. zog wenig später triumphal mit seinem Verbündeten Abenhandim in Córdoba ein, der weiterhin die Stadt beherrschen sollte, nun allerdings als Vasall Alfons’ VII. Die Moschee wurde in eine christliche Kirche umgewidmet. Wichtiger als die nur bis 1148 währende Oberherrschaft Alfons’ VII. in Córdoba, die den Alltag in der Stadt wahrscheinlich kaum veränderte, ist die von Maimonides-Biographen meist übersehene Tatsache, dass Almería sogar von 1147 bis 1157 unter christlicher Herrschaft stand. Im Zuge des Zweiten Kreuzzugs kam es zu zeitgleichen militärischen Aktivitäten auf der Iberischen Halbinsel, von denen die Eroberung Lissabons 1147 und die Einnahme von Tortosa besonders bekannt sind. Neben Tortosa wurde 1147 auch Almería erobert, wohl mit genuesischer Hilfe, wie in einem Bericht von Caffaro und weiteren Quellen festgehalten ist.17 Schon während der Belagerung von Córdoba 1146 empfing Alfons VII. einige genuesische und pisanische Legaten, die nicht nur aus religiösen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen Almería erobern wollten. Genuesen hatten schon zuvor Razzien gegen Menorca und Almería durchgeführt. Almería gehörte nicht nur zu den ökonomisch wichtigen und prosperierenden Städten am Mittelmeer, sondern war zugleich ein Zentrum muslimischer Piraten, die

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einen freien Mittelmeerhandel behinderten. Dies erklärt unter anderem, warum sich neben den Genuesen und Pisanern auch Graf Raimund Berenguer IV. von Barcelona, der durch die Heirat mit Petronilla (1137) auch der Krone Aragón vorstand (1131–1162), am Kriegszug beteiligte. Die Zusammensetzung der Eroberungswilligen zeigt damit gleichzeitig die verschiedenen Interessen um Einfluß im südwestlichen Mittelmeerraum. Die Eroberung, die ab Mai 1147 vorbereitet wurde, würdigen mehrere Quellen, sogar in dichterischer Form.18 Demnach dürfte Alfons VII. etwa mit 5000 Kriegern den Angriff begonnen haben. Die Belagerung der Stadt und des Umlandes zog sich durch den Monat September bis Anfang Oktober 1147 hin. Zunächst boten die bisherigen Bewohner Gelder an, um die Stadt freizukaufen, laut dem Bericht von Caffaro lehnten vor allem die Genuesen dieses Angebot ab. Die Herrschaft übernahmen anschließend Genuesen und Kastilier, obwohl der Genueser Geschichtsschreiber anders akzentuiert. Als Vertreter ernannten die Genuesen Otto von Bonovillano und die Kastilier Ponç de Cabrera. Von 1147 bis 1157 stand Almería mithin unter der Herrschaft von Kastilien-León und Genua. Alfons VII. verdeutlichte seine Ansprüche expressis verbis: „imperante ipso Alfonso Imperatore Toleto, Legione, […] Almarie“, so lautete die Titulatur in einer seiner Urkunden. Die zehnjährige Herrschaft in Almería hatte auch deshalb eine andere Qualität als das christliche Zwischenspiel in Córdoba kurz zuvor, weil Alfons VII. die Moschee zur Kathedrale machte und Dominikus, einen Benediktiner, zum Bischof erheben ließ. Wie es scheint, wurden Fragen der kirchlichen Strukturen auch auf dem Konzil von Valladolid 1155 verhandelt, jedenfalls unterzeichnete dort der Bischof von Almería die Beschlüsse.19 Allerdings dürften die Almohaden schon ab 1151 versucht haben, Almería ihrer Herrschaft botmäßig zu machen. Vor dem Hintergrund einer kurzfristigen Herrschaftszeit unter Alfons VII. und anderen christlichen Machthabern am südlichen Mittelmeer wird aber interessant, dass die Familie des Maimonides zumindest von 1148 bis 1151 in Almería geweilt haben soll. War diese von Genuesen und Kastiliern getragene christliche Herrschaft dem geistigen Leben und dem Austausch deutlich weniger abträglich und anderen Religionen gegenüber aufgeschlossener als in den neu von den Almohaden eroberten Herrschaften? Andere Städte, die im 11./12. Jahrhundert unter christliche Herrschaft gekommen waren, könnten dies vergleichend belegen. Vielleicht bewirkte auch gerade die genuesische Mitherrschaft, die spätestens 1152 geendet haben dürfte, ein durch Handelsinteressen vergleichsweise tolerantes geistiges Klima. Jedenfalls lebten auch Muslime weiterhin in Almería,

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obwohl die islamischen Geschichtsschreiber Verwüstungen und Zerstörung beklagen. Über das Leben der Juden ist anscheinend nichts überliefert. Es sollte aber vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen betont werden, dass gleichzeitig der schon genannte Ibn Rušd (Averroes) – eher aus politischen denn aus ideologischen Gründen – in Almería Zuflucht gesucht hatte.20 Jedenfalls gehört wohl die vielfach erwähnte Begegnung des Maimonides mit Averroes in diesen Zusammenhang, und es ist nicht ohne Grund zu unterstreichen, wie sehr das Werk des Maimonides dieser andalusisch-philosophischen Schule nahestand.21 Wenn also Almería vielleicht in der kurzen Zeit unter leonesisch-kastilischgenuesischer Herrschaft eine Art Begegnungsraum für die Denker und Kritiker auch aus dem muslimischen Spanien geworden sein sollte, ergibt sich allerdings die Frage, warum Maimonides Almería wieder verließ. Hier sind nur Spekulationen möglich: War die Angst vor den verstärkten Eroberungsversuchen der Almohaden ab 1157 bestimmend und die Möglichkeiten, in Nordafrika eher Gleichgesinnte und Juden zu finden, verlockend? In den hier präsentierten Befund der wichtigen Rolle Almerías in den Jahren 1147 bis 1157 fügt sich ein weiteres Zeugnis ein: Ein junger jüdischer Händler aus Almería schrieb etwa in dieser Zeit in einem Brief, nachdem er aus Handelsgründen nach Nordafrika gereist war, dass in Fez den Juden großer Hass entgegentrete, während Almería ein Ort der Rettung sei.22 Handelsstädte, die am Meer lagen, atmeten wohl besonders im südlichen Spanien einen vergleichsweise freien Geist.

Werk und Wirkungen

Wird vor diesem Hintergrund auch das Werk des Maimonides zu einem Schlüssel der Geistesgeschichte Spaniens? Maimonides gilt als einer der bedeutendsten jüdischen Denker, der in einer arabisch-aristotelischen Tradition steht. Damit gehört er zu einer Gruppe, die ihre Hauptvertreter in al-Fārābī, Ibn Sīnā (Avicenna) und Ibn Rušd (Averroes) fand. In den Zusammenhang dieser meist arabisch geschriebenen Schriften, die vornehmlich um Fragen kreisten, wie Philosophie und Theologie in Einklang gebracht werden könnten, gehört auch das Werk des Maimonides. Seine Beschäftigung mit den philosophischen und medizinischen Schriften der Antike geriet aber keinesfalls in Gegensatz zu seinem religiösen und intellektuellen Engagement für die Religion seiner Väter. In Ägypten beendete der jüdische Gelehrte 1180 sein einziges Werk, das auf Hebräisch geschrieben ist, die „Wiederholung der Torah“ (Mišneh Torah). Es

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sind dies 14 Bücher, in denen Maimonides die mündliche Überlieferung über das Gesetz in einer neuen, klaren Anordnung fasste. Die erste Schrift, die Maimonides aber in Ägypten beenden konnte, ist der Kommentar zu Mišneh (Kitāb as-Sirāǧ), in dem dreizehn Grundlehren des Judentums formuliert werden. Fragen der Ethik, der menschlichen Seele, der Willensfreiheit, der Prophetie und der Gotteserkenntnis standen im Vordergrund. Diese Überlegungen orientierten sich aber besonders an al-Fārābī und dessen aristotelischer Ethik. Vor 1170 schrieb Maimonides das Buch der Gesetze, (Sefer ha-Mitsvot), hier werden die 613 jüdischen Ge- und Verbote kommentiert. Das philosophische Hauptwerk des Maimonides ist der „Führer der Unschlüssigen“ (oder „Verwirrten“) (Dalālat al-ḥāaʾirīn), auf Arabisch geschrieben (spätestens 1191). Das dreiteilige Werk vereinigt Elemente der hebräischen Bibel und Traditionen der griechischen Philosophie. Es ist ein „jüdisches“ Buch, das die Beeinflussung durch einen arabisch-islamischen Kontext dadurch verrät, dass Maimonides hier die Einheit von Religion und Philosophie demonstrieren möchte. Die Erkenntnis, im eigentlichen Sinne die Gotteserkenntnis, führt letztlich zu demselben Ziel wie die Offenbarung. Die „Ewigkeit der Welt“ von manchen arabischen Philosophen dieser Zeit behauptet, verneint Maimonides und entscheidet sich entsprechend der Thora für eine „Schöpfung in der Zeit“. Die Metaphysik wird so zu einer negativen Theologie, denn die Eigenschaften Gottes bleiben für Maimonides unbeschreiblich. Man hat diese Position deshalb auch als einen „gläubigen Rationalismus“23 bezeichnet. Skepsis zeigte Maimonides gegenüber Entwürfen, die andere muslimische und jüdische Theologen vorlegten, in der „Existenz der Schöpfung eine Begründung für die Existenz des Schöpfers zu sehen“24. Vielmehr sah er einen grundlegenden Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Die Welt könne vergehen, aber Gott bleibe. Deshalb sei auch die Existenz der Schöpfung kein Beweis für die Existenz des Schöpfers. Daraus ergeben sich aber zwei Konsequenzen: Der Glaube an Gottes Existenz wird zunächst aus den Zwängen eines wissenschaftlichen Beweises befreit, zum zweiten wird die Erforschung der Natur von der Fessel gelöst, schließlich nur der Gottesverehrung zu dienen. Mit den Worten Tamers: „Wissenschaft treibt man nicht, um Beweise für den Glauben zu finden. Wenn aber ein Gläubiger Wissenschaft treibt, wird diese für ihn zum Gottesdienst.“25 Im Werk des Maimonides verschmelzen somit drei Welten: antike, arabische und jüdische Traditionen, deshalb hat man von der Trias des Maimonides gesprochen. Zugleich spricht ein Arzt, Philosoph und Rabbiner zu uns. Damit zeigt das Werk aber, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion Kulturbegegnun-

Schlüsselgestalt

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gen nicht verhindern musste. Maimonides verweigerte sich nicht dem Studium von griechischer Philosophie oder Medizin in gebrochener arabischer Tradition, weil sie etwa von „Heiden“ stammte, sondern er betrachtete sich selbst als Teil einer Kultur, die verschiedene Religionen und Literaturen umfasst. Entsprechend beteiligte er sich an der Ausgestaltung. Vielleicht kann dies vor allem als eine arabisch-hebräische Identität bezeichnet werden. Die Wirkungen gingen aber darüber hinaus. Besonders in der Rezeption beeinflusste Maimonides auch den christlichen Kulturkreis: Alexander von Hales († 1245), Albertus Magnus († 1280) oder Thomas von Aquin († 1274) wären zu nennen. Letzterer bezog sich in seinen Gottesbeweisen auf Maimonides, fasste aber das Verhältnis von Menschlichem und Göttlichem anders auf. Im Umfeld Friedrichs II. († 1250) wurde in Palermo zu Beginn des 13. Jahrhunderts wohl eine Übersetzung des Hauptwerkes unter dem Titel Dux neutrorum vorgelegt, die 1520 in Paris im Druck erschien. Auch die medizinischen Werke des Maimonides wurden seit dem 14. Jahrhundert verstärkt aufgegriffen.26 Die Rezeption wirkte bis in die politische Geschichte. Reinheitsvorstellungen und die Abgrenzung jüdischer Identität sind immer wieder als Denkfiguren im 14. und 15. Jahrhundert bemüht worden, gerade im Vorfeld der spanischen Judenverfolgungen im 15. Jahrhundert. Reinheitsvorstellungen im Judentum und Christentum hätten, wie zuweilen postuliert, zu einer exklusiven Ansicht über die Reinheit des Blutes (limpieza de sangre) geführt. Maimonides kann man dafür wohl kaum in Anspruch nehmen, wie Américo Castro es noch wollte, der die iberische Gesellschaft des späten Mittelalters in sozialer Hinsicht nach dem Vorbild des alten Israel organisiert sah. Auch haben andere Teile des Werkes politische Kontrolle und Zurückweisung erfahren, so die Vorstellung, dass Jesus eben nicht der Messias sei. Erinnern ließe sich an die Untersuchungen der Königin Violante von Aragón oder später an die Disputation von Tortosa 1413–1414.27

Schlüsselgestalt

Die Leistungen des Maimonides basieren damit insgesamt auf den Prägungen des Denkers im Milieu des südlichen Spanien, obwohl die konkreten Rahmenbedingungen seinem Denken nicht nur günstig waren, so dass es zu den verschiedenen Fluchtbewegungen kam. Und wenn sich die Weite eines Denkers daran misst, wie breit er rezipiert wurde, dann ergibt sich für Maimonides eine äußerst beachtliche Resonanz.

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Maimonides († 1204)

Aus den kurzen Streiflichtern auf die bewegte Zeit eines Raumes mit sich ändernden Grenzen, besonders in kultureller und politischer Hinsicht und auf die Gestalt des Maimonides sind mit Blick auf ihn als Schlüsselgestalt mehrere Punkte hervorzuheben. Die Lebensgeschichte des Maimonides zeigt: Der Niedergang Córdobas nach der Zeit des Kalifates war keinesfalls so einschneidend, dass geistig-kulturelles Leben seit dieser Zeit nur in anderen Städten von al-Andalus anzutreffen gewesen wäre, Córdoba behielt weiterhin großes Gewicht. Aber seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert war al-Andalus besonders eng mit Nordafrika verbunden, wie die frühe Lebensgeschichte von Maimonides unterstreicht. Jedoch dürfte der Druck auf die Juden – anders als im Fall der Christen – im Wesentlichen erst mit der Almohadenherrschaft eingesetzt haben. Unter den Almohaden kam es zu einer Neudefinition von Grenzen in wörtlicher und übertragener Hinsicht, die Maimonides zu einem Grenzgänger machte. Die religiösen Grenzen wurden teilweise neu gesteckt, obwohl nicht vollständig mit bisherigen Regelungen des ḏimmī-Systems gebrochen wurde. Der Druck betraf besonders die Juden; die regionale Differenzierung und die schubweise almohadische Eroberung des südlichen Spaniens führte zu Wanderungsbewegungen, welche die Unterschiede in den verschiedenen noch abgegrenzten Herrschaften auszunutzen suchten. Dabei ist von Grenzräumen mit stets wechselnden Personengruppen auszugehen. Maimonides lenkt in diesem Zusammenhang den Blick auf die bisher zu wenig beachtete Rolle von Genua, der Krone Aragón und Kastilien-León im Süden Spaniens im 12. Jahrhundert, die auch die Fluchtwege der Familie von Rabbi Maimon in ein neues Licht rücken könnte. Zwar waren religiöse, wirtschaftliche und politische Gründe für die Eroberung von Almería 1147 bestimmend, aber diese mediterranen christlichen Herrschaften blieben vielleicht von einem anderen freiheitlichen Geist bestimmt. Nicht unbedingt die Herrschaft von Christen, sondern die Bedeutung des Ortes für Handel und Austausch könnten in Almería kurzfristig ein aufgeschlossenes Klima für das Nebeneinander verschiedener Religionen und Lebensformen insgesamt begünstigt haben. Einfache, über längere Zeiträume gültige Antworten auf die Frage nach dem friedlichen Zusammenleben verbieten sich deshalb. Wenn es aber nach Jahrhunderten der Vorherrschaft der Muslime im Mittelmeer manchen westlich-lateinischen Eroberern darum ging, mit Almería nun auch den Handel im westlichen Mittelmeer neu zu gestalten, und wenn dies zeitgleich mit den Anstrengungen des Zweiten Kreuzzugs 1147 einherging, dann sind sicherlich auch Vergleiche zwischen West und Ost

Schlüsselgestalt

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angebracht, denkt man nur an die Rolle der italischen Seerepubliken im östlichen Mittelmeer, wofür die spätere Lebensgeschichte des Maimonides ebenso Zeugnis werden könnte. Damit steht das Werk des Maimonides zwischen den Kulturen, bezieht sich auf antike, arabische und jüdische Traditionen, liefert dabei aber zugleich einen Beitrag, der in der Folge bis in die christlichen Denkschulen des 13. Jahrhunderts und darüber hinaus reichen sollte. Deshalb erscheint Maimonides nicht nur als Schlüsselgestalt für Spanien, sondern für die europäische Geistesgeschichte und deren jüdisches Erbe insgesamt.

Weiterführende Literatur Fletcher, Richard A.: Reconquest and Crusade, in: Transactions of the Royal Historical Society 5/37 (1987), S. 31–47. Garí, Blanc: Why Almería? An Islamic Port in the Compass of Genoa, in: Journal of Medieval History (18) 1992, S. 211–231. Herbers, Klaus: „Gott will es!“ – Christlicher „Fundamentalismus“ im europäischen Mittelalter?, in: Helmut Neuhaus (Hg.): Fundamentalismus. Erscheinungsformen in Vergangenheit und Gegenwart. Atzelsberger Gespräche 2004 (Erlanger Forschungen Reihe A, Geisteswissenschaften 108), Erlangen 2005, S. 9–40. Herbers, Klaus: Die Iberische Halbinsel im 12. Jahrhundert. Streiflichter auf die politisch-kulturelle Geschichte eines „Grenzraumes“, in: Georges Tamer (Hg.): The Trias of Maimonides. Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge. Jüdische, arabische und antike Wissenskultur (Studia Judaica 30), Berlin 2005, S. 23–39. Hillenbrand, Robert: Medieval Córdoba as a Cultural Centre, in: Salma Khadra Jayyusi (Hg.): The Legacy of Muslim Spain, Leiden/New York/Köln 1994, S. 112–135. Jaspert, Nikolas: Capta est Dertosa, clavis Christianorum: Tortosa and the Crusades, in: Martin Hoch/Jonathan Phillips (Hg.): The Second Crusade. Scope and Consequences, Manchester 2011, S. 90–110. Reilly, Bernard F.: The Kingdom of León-Castilla under King Alfonso VII (1126–1157), Philadelphia 1998. Schwartz, Dov: The Many Faces of Maimonides, Brighton 2018. Viguera Molíns, Maria Jesús: Historia Política, in: Dies. (Hg.): El retroceso territorial de Al-Andalus: almorávides y almohades, siglos XI al XIII, Madrid 1997, S. 41–127. Williams, John B.: The Making of Crusade: the Genoese anti-Muslim Attacks in Spain, 1146–1148, in: Journal of Medieval History 23 (1997), S. 29–53.

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Maimonides († 1204)

Anmerkungen 1 2 3

Vgl. Joseph F. O’Callaghan: A History of Medieval Spain, London 1983, S. 208. Vgl. Kapitel 4. Walther L. Bernecker: Die Vertreibung der Juden aus Spanien. Zur Diskussion über das „Dekadenz-Syndrom“, in: Norbert Rehrmann/Andreas Koechert (Hg.): Spanien und die Sepharden. Geschichte, Kultur, Literatur (Romania Judaica 3), Tübingen 1999, S. 27–42; Yaacov Ben-Chanan: Juden im maurischen und christlichen Spanien (711–1492) – Chancen und Scheitern zwischen unterschiedlichen Kulturen, in: ebd., S. 7–26. 4 Resümee mit weiterer Literatur bei Nikolas Jaspert: Religiöse Minderheiten auf der Iberischen Halbinsel und im Mittelmeerraum, in: Klaus Herbers/Ders. (Hg.): Inte­ gration – Segregation – Vertreibung. Religiöse Minderheiten und Randgruppen auf der Iberischen Halbinsel (7. bis 17. Jahrhundert) (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 8), Berlin/Münster 2011, S. 15–44, S. 19–21. 5 C. F. Seybold/M. Ocaña Jiménez: Ḳurṭuba, in: P. Bearman/Th. Bianquis/C. E. Bosworth/E. van Donzel/W. E Heinrichs: Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., (https://referenceworks.brillonline.com/browse/encyclopaedia-of-islam-2, zuletzt abgerufen am 08.04.2022); vgl. jetzt auch: Christine Mazzoli-Guintard: „Córdoba“, in: Encyclopaedia of Islam, THREE, Edited by: Kate Fleet, Gudrun Krämer, Denis Matringe, John Nawas, Everett Rowson, 2014 veröffentlicht. (https://referenceworks.brillonline.com/ entries/encyclopaedia-of-islam-3/cordoba-COM_25577?s.num=27&s.rows=50 (abgerufen 29. April 2022). 6 Vgl. Vones, Ludwig: Reconquista und Convivencia: Die Könige von Kastilien-León und die mozarabischen Organisationsstrukturen in den südlichen Grenzzonen im Umkreis der Eroberungen von Coïmbra (1064) und Toledo (1085), in: Odilo Engels/ Peter Schreiner (Hg.): Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu, Sigmaringen 1993, S. 221–242, S. 225. 7 Vgl. Wiebke Deimann: Christen, Juden und Muslime im mittelalterlichen Sevilla. Religiöse Minderheiten unter muslimischer und christlicher Dominanz (12.–14. Jahrhundert), Berlin 2012, S. 123–148. 8 Vgl. Rainer Oswald: Spanien unter den Almoraviden. Die Fatāwā des Ibn Rušd als Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Heinz Halm/Wolfgang Röllig/ Wolfram von Soden (Hg.): Die Welt des Orients. Wissenschaftliche Beiträge zur Kunde des Morgenlandes, Bd. 24 (1993), S. 127–145, hier S. 128–131. 9 Vgl. Richard W. Bulliet: Conversion to Islam in the Medieval Period. An Essay in Quantitative History, Cambridge 1979, S. 122–125. 10 Vgl. Abraham Heschel: Maimonides. Eine Biographie (Judentum in Geschichte und Gegenwart. Eine Schriftenreihe), Berlin 1935, S. 18; Ilil Arbel: Maimonides. A Spiritual Biography, New York 2001, S. 22–24.

Anmerkungen

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11 Vgl. Judit Targarona Borrás: Maimonides. Sobre el Mesías. Carta a los judíos del Yemen. Sobre astrología. Carta a los judíos de Montpellier, Barcelona 1987, S. 32 f. 12 Vgl. Friedrich Niewöhner: Maimonides. Aufklärung und Toleranz im Mittelalter (Kleine Schriften zur Aufklärung 1) Wolfenbüttel 1988, S. 10 (1178); Görge K. Haselhoff: „Dicit Rabbi Moyses“. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, Würzburg, 2. Aufl. 2004, S. 24 f. 13 Vgl. Bulliet, Conversion, S. 122–125. 14 Vgl. Alfredo Fierro: Sobre la religión. Descripción y teoría, Madrid 1979, S. 526. 15 Vgl. Abraham S. Halkin (Hg.): Moses Maimonides’ Epistle to Yemen. The Arabic Original and the three Hebrew Versions, New York 1952, S. i; Span. Übersetzung bei Targarona Borrás: Maimonides. 16 Arbel: Maimonides, S. 22 f. 17 Vgl. Antonio Ubierto Arteta (Hg.): Caffaro: De Captione Almerie et Tortuose (Textos medievales 34), Valencia 1973; Castra Guisasola, Florentino (Hg.): El Cantar de la conquista de Almería por Alfonso VII, Almería 1992 bietet außer der lateinischen Edition eine Übersetzung der auch von Juan Gil (Hg.): Prefatio de Almeria, in: Ders./ Emma Falque/Antonio Maya Sánchez (Hg.): Chronica Hispana Saeculi XII (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 71), Turnhout 1990, S. 249–267 gedruckten Dichtung. 18 Vgl. Antonio Maya Sánchez (Hg.): Chronica Adefonsi imperatoris II 92–108, in: Ders./Falque/Gil (Hg.): Chronica Hispana Saeculi XII, S. 109–248, S. 244–246; Gil, Prefatio de Almeria, S. 249–267. 19 Vgl. Carl Erdmann: Das Papsttum und Portugal im ersten Jahrhundert der portugiesischen Geschichte (Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1928, Nr. 5), Berlin 1928, S. 1–63, S. 55. 20 Vgl. Emilio Tornero Poveda: La filosofía andalusí frente al sufismo, in: María Jesús Viguera Molins (Hg.): El retroceso territorial de Al-Andalus, S. 587–602, S. 595. 21 Vgl. Joel L. Kraemer: Maimonides and the Spanish Aristotelian School, in: Mark D. Meyerson/Edward D. English (Hg.): Christians, Muslims and Jews in Medieval and Early Modern Spain. Interaction and Cultural Change, Notre Dame 2000, S. 40– 68, S. 45–48. 22 Vgl. Fierro: Sobre la religión, S. 526. 23 Georges Tamer: Einleitung, in: Ders. (Hg.): The Trias of Maimonides. Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge. Jüdische, arabische und antike Wissenskultur (Studia Judaica 30), Berlin 2005, S. 1–9, S. 3. 24 Ebd., S. 3 f. 25 Ebd., S. 4. 26 Vgl. Haselhoff: Dicit, S. 280–316, zur philosophischen Rezeption S. 37–221. 27 Vgl. Claire Soussen: La Pureté en question. Exaltation et dévoiement d’un ideal entre juifs et chrétiens (Bibliothèque de la Casa de Velázquez 79), Madrid 2020, S. 142 f., S. 154 f. und S. 163 f.

7. Dominikus Guzmán († 1221) Studium – Predigt – Armut

Dominikus und Franziskus repräsentieren allgemein neue frömmigkeitsgeschichtliche Neuerungen im hohen Mittelalter. Beide sind nicht zuletzt deshalb immer wieder mit Blick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen worden. Als Stifter der beiden großen „Bettelorden“ stehen Dominikus und die Dominikaner eher für den intellektuellen Aufbruch, Franziskus und die Franziskaner eher für Armut und neue Formen der Spiritualität. Dies betraf langfristig den gesamten orbis Christianus. Dominikus wird nur selten mit Spanien verbunden, schon eher mit Südfrankreich und Italien, jedoch verbrachte er die größte Zeit seines Wirkens in Spanien, vor allem die Jahre 1170 bis 1207, die deshalb – anders als in den meisten Dominikus-Biographien – hier stärker gewürdigt werden.1 Da Dominikus später zum Ordensgründer avancierte und weil er 1234 heiliggesprochen wurde, entstanden mehrere Viten für dieses Kanonisationsverfahren, die entsprechend hagiographisch ausgestaltet wurden. Der Erfolg des Ordens strahlte gleichzeitig auf den Ordensgründer ab. Dante († 1321) feiert den heiligen Dominikus sogar in seinem 12. Gesang des Paradieses als „Ackersmann“ im Auftrag Christi, denn „mit Wissenschaft und Willenskraft drang schnelle Kraft apostolischer Gewalt er weiter“.2

Rahmenbedingungen: Auf dem Weg zu einer Wissensgesellschaft und zu religiöser Reform

Die Lebensgeschichte des Dominikus gehört in einen Zusammenhang, der für die christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel mit den Stichworten Konsolidierung und Innovation gekennzeichnet werden kann. Päpstliche Versuche, um die Kirchenreform zu verankern, und Reformbestrebungen in den verschiedensten geistlichen Institutionen gingen mit einem wichtigen geistigen Aufbruch einher, der in mancherlei Hinsicht der Übersetzertätigkeit in Toledo und anderswo geschuldet war. Die Übersetzungen griechischer Werke aus dem Arabischen – denn in diese Sprache waren sie vielfach seit dem 8. Jahrhundert, besonders in Syrien übertragen worden – boten aber den Stoff für viele neue Diskussionen,

Jugend und Studium: Caleruega und Palencia

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die vor allem im 13. Jahrhundert an den Universitäten geführt wurden. Auch in Spanien ist der geistige Aufbruch an vielen Orten ablesbar, an den Kathedralschulen, wo sich wie in anderen Ländern Universitäten langsam formierten. Der Raum, in dem Dominikus aufwuchs, die Gegend von Burgos und Palencia, war davon betroffen. Insbesondere über die Bedeutung der Schule von Palencia – ein wichtiger Vorläufer der Universitäten auf der Iberischen Halbinsel – ist erst in jüngerer Zeit mehr bekannt geworden. In diesen Kontext lässt sich Dominikus einordnen. Dabei wird es darauf ankommen, sein Wirken in Spanien angemessen zu würdigen. Die überlieferten Quellen verzerren das Bild etwas, denn die überwiegende Zahl thematisiert den Ordensgründer Dominikus. Neben 177 einschlägigen Urkunden verfügen wir über verschiedene sukzessiv entstandene Viten. So verfasste Jordan von Sachsen († 1237) noch vor der Heiligsprechung eine Lebensgeschichte, weitere Werke entstanden nach der Heiligsprechung (1234) (Petrus Ferrandi, Konstantin von Orvieto und Humbert von Romans), deren Perspektive sich zuweilen oft eher auf den Orden als auf die Person des Dominikus richtet.

Jugend und Studium: Caleruega und Palencia

Dominikus wurde als Sohn einer kastilischen Adelsfamilie (Gúzman) in Caleruega in der Diözese Osma um 1170 geboren. Es ist noch heute ein kleiner Ort, am Bergaufstieg gelegen. Nach der muslimischen Dominanz und der Rückeroberung Ende des 9. Jahrhunderts zog al-Manṣūr († 1002) Ende des 10. Jahrhunderts mit seinen Truppen durch diesen Raum.3 Die Familie, die später auch in Andalusien begütert war, stand der Kirche nahe: Dominikus’ Bruder Antonio wurde Weltpriester, der sich in der Krankenpflege engagierte, und sein Bruder Manes schloss sich später den Dominikanern an. Der Name dürfte in dem kastilischen Raum nicht ungewöhnlich gewesen sein. Nicht nur war der Straßenbauer Santo Domingo († 1109) mit dem Ort Santo Domingo de la Calzada am Jakobsweg verbunden, sondern auch das noch näher gelegene Kloster Santo Domingo de Silos könnte die Namensgebung beeinflusst haben. Die spätere Legenda Aurea des Jacobus von Voragine († 1298) vermerkt einleitend zur Bedeutung des Namens: „Dominicus ist so viel als domi­ ni custos, ein Wächter des Herrn“, dann heißt es wenig später:

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Dominikus Guzmán († 1221) Abb. 17: Der Heilige Dominikus. Ölgemälde von Gaspar de Crayer, ca. 1655.

Dominicus, der da war ein Haupt und ein Anfang des Predigerordens, ist leiblich geboren in dem Land Hispania, in der Stadt Callrega im Bistum Osma; sein Vater war Felix genannt, seine Mutter Johanna.4

Viele weitere Dominikusviten berichten Ähnliches und dürften in Bezug auf die Grunddaten verlässlich sein. Lateinunterricht erhielt Dominikus wohl bei seinem Onkel, einem Erzpriester. Besser informiert sind wir über das darauf aufbauende Studium des Heiligen, das Dominikus ziemlich sicher in der Hohen Schule von Palencia absolvierte. Dies brachte ihn ganz in die Nähe der geistigen Entwicklungen dieser Zeit: Nach dem Zeugnis des um 1230 schreibenden Chronisten Lucas von Tuy († 1249) soll erst König Alfons VIII. von Kastilien († 1214) zusammen mit Bischof Tello († 1246) die Studien in Palencia organisiert haben.5 Da beide Amts-

Jugend und Studium: Caleruega und Palencia

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zeiten sich nur in den Jahren 1208 bis 1214 überschneiden, müsste demnach in diesen Jahren die Hohe Schule von Palencia gegründet worden sein. Jedoch dürfte schon mehrere Jahrzehnte zuvor ein intensiver Studienbetrieb in Palencia geherrscht haben. Eines der Argumente für diese These bieten nicht zuletzt die Nachrichten zu Dominikus, der wohl um 1185 in Palencia studierte. Glaubt man späteren Berichten, so widmete sich Dominikus schon bald nach Grammatik und Dialektik ganz der Theologie. Die verschiedenen Dominikusviten erwähnen das Studium generale von Palencia übereinstimmend, so zum Beispiel Jordanus von Sachsen in seiner Vita. Bekannt ist aber die Passage, warum Dominikus sein Studium dort beendete: Zur Zeit, als er in Palencia als Student weilte, brach in fast ganz Spanien eine Hungersnot aus. Von der Not der Armen gerührt, überkam ihn ein solches Mitleid, dass er beschloss, durch eine Tat mit dem Willen Gottes Ernst zu machen und alles zu tun, was in seiner Macht stand, um das Elend der Armen zu lindern. So verkaufte er seine Bücher, die er zum Studium gebraucht hätte, und all seine Habe. Aus dem Erlös stiftete er ein Hospiz und unterstützte die Armen mit Gaben. Durch dieses Beispiel seiner Güte forderte er die anderen Theologen und Professoren so heraus, dass diese ihre Nachlässigkeit einsahen und von da an reichlich Almosen verteilten. So sehr hatte sie die Großzügigkeit des jungen Mannes beeindruckt.6

Die Legenda Aurea berichtet ähnlich: Dannach ward er zur Schul gesendet gen Palentia, daß er desto besser möchte lernen, […] In den Zeiten war gar eine große Hungersnot in dem Lande, da verkaufte er seine Bücher und all seinen Hausrat und kam den armen Menschen zu Hilfe.7

Die Viten scheinen mit Anklängen an Bibelstellen zu stilisieren, denn Buchstudium und Armutsbekämpfung geraten hier (allerdings wohl nur scheinbar) in einen Gegensatz. Anders gesagt: Sie werden in dieser Geschichte aufeinander bezogen und präfigurieren so die spätere Konzeption des Dominikanerordens. Aber die Einleitungspassagen unterstreichen, dass Dominikus vor diesem Entschluss in Palencia ausgebildet worden sein dürfte. Die Bedeutung Palencias für das Studium liegt damit noch vor der ersten iberischen Universitätsgründung in Salamanca. Dies belegen auch die gehäuften Magistertitel ab 1160, die Anspie-

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Dominikus Guzmán († 1221)

lungen auf den Studienort Palencia in acht Paragraphen einer Ars dictandi sowie ähnliche explizite Bezüge in drei Rechtstraktaten eines Hugolino von Sesso (um 1185) aus den 80er und 90er Jahren des 12. Jahrhunderts. Außerdem dürften auch ein Ordensbruder des heiligen Dominikus, der hl. Pedro González Telmo († 1246), und Bischof Julián von Cuenca († 1208) in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Palencia studiert haben.8 Bündelt man diese Indizien, so gingen die Palentiner Studien jedenfalls schon im ausgehenden 12. Jahrhundert über das Programm einer einfachen Kathedralschule hinaus: Artes, Theologie und Recht wurden gelehrt. Die angesprochenen historiographischen Notizen eines Lucas von Tuy oder anderer könnten sich dann eher auf die anschließende Wiedererrichtung der Studien in Palencia nach den politischen Wirren in Kastilien 1214–1217 beziehen. Diese Zeugnisse verweisen zudem schon auf Internationalität, denn es sollen „gelehrte Männer aus Gallien und Italien“ gewesen sein. Dominikus traf somit vielleicht schon in Palencia Personen aus den Gebieten, in denen er später vor allem wirkte.

Kanoniker in Osma

Nach seinen Studien wurde Dominikus wohl um 1195 Regularkanoniker in Osma. Auch diese zweite Station könnte ihn stärker als meist angenommen geprägt haben. Das Bistum, das schon in westgotischer Zeit bestanden hatte, war 1101 wiedererrichtet und damals einem Peter aus Bourges († 1109) übertragen worden, dem man sogar später eine Heiligenvita widmete. Mit Wunderkraft soll dieser Bischof sogar gegen einen unwürdigen Bischof vorgegangen sein.9 Zu großen Auseinandersetzungen kam es unter Bischof Juan II. († 1173). Im Zusammenhang eines Streites um Besitzungen mit der Diözese Sigüenza hatte Juan II. sogar militärisch agiert. Dies rief Papst Alexander III. († 1181) auf den Plan, dessen Absetzungsversuche 1164 jedoch daran scheiterten, dass Bischofseinsetzungen in Spanien meist immer noch als königliche Angelegenheiten angesehen wurden. Zwar blieben die Streitigkeiten zwischen Sigüenza und Osma samt der zugehörigen päpstlichen Schlichtungsversuche10 virulent, aber am 26. November 1166 verfolgte Papst Alexander III. mit der Ausstellung einer Urkunde neben Besitzbestätigungen und Lockerungen des Interdikts noch ein weiteres Ziel; es erscheint immer wieder in den päpstlichen Verlautbarungen für spanische Empfänger in dieser Zeit: Der Papst schärfte die Einhaltung des ordo canonicus ein: Die Domkleriker sollten nach der Regel des hl. Augustinus († 430) leben, andernfalls sollten sie von

Kanoniker in Osma

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Einnahmen ausgeschlossen wurden.11 1188, als Martin von Bazán († 1201) zum Bischof von Osma erhoben wurde, war die Augustinerregel weiterhin ein Thema. 1199 fragte er Papst Innozenz III. († 1216) um Rat, wie er Verstöße ahnden und bestrafen sollte.12 In dieser Zeit gehörte der hl. Dominikus schon zum Domkapitel von Osma, wo er 1201 zum Subprior aufstieg. Der Kampf um die Augustinerregel blieb ein dominantes Thema, denn seit dem Zeitalter der Kirchenreform sollte auch das Leben der Kanoniker, vor allem in den Domkapiteln, neu geordnet werden. Da das Regelwerk in vielen Aspekten offener und flexibler war als die bestehenden Mönchsregeln, erfassten die Reformen nicht nur die Kanoniker an Stiften und Kathedralen, die auch regulierte Chorherren genannt wurden, sondern auch neue religiöse Gemeinschaften des 12. Jahrhunderts entdeckten die zahlreichen Möglichkeiten dieses Rahmens für ein gottgefälliges Leben. So orientierten sich gleich mehrere Regeln der Ritterorden an den Normen des hl. Augustinus. Es waren dies Gebote, auf eigenen Besitz zu verzichten, sexuelle Enthaltsamkeit einzuhalten und sich zum Chorgebet zu versammeln. Damit sollte das gemeinsame Leben (vita communis) der Geistlichen insgesamt gefördert werden. Vorbild für diese Lebensform war dabei das Leben der Apostel (vita apostolica) selbst. In Osma musste sich Dominikus vor allem um die Liturgie kümmern. Er verließ aber den beschaulichen Ort wohl zwischen 1203 und 1205, wenn wir dem Bericht des Jordan von Sachsen Glauben schenken. Als Begleiter seines Bischofs Diego de Acèbes († 1207) war eine Gruppe im Auftrag König Alfons’ VIII. von Kastilien nach Norden unterwegs. Es war offensichtlich eine weltliche Angelegenheit, denn sie sollten für den Prinzen Ferdinand († 1211) nach einer adeligen Dame in den Marken (de Marchiis) Ausschau halten. Dies wird meist mit der dänischen Mark identifiziert. Allerdings ist der Name der ausgewählten Kandidatin in der Forschung umstritten. Wenn man den späteren Berichten Glauben schenkt, wurde auf dieser Reise aber etwas Anderes entscheidend, denn Dominikus lernte unterwegs die aktuellen Herausforderungen für Glauben und Kirche hautnah kennen. Die Reise durch Südfrankreich konfrontierte ihn mit den schon damals als Häretikern angesehenen Katharern. Als Dominikus und Diego kurz nach ihrer Rückkehr wohl erneut aufbrachen, um die Braut auf ihrem Weg zu begleiten, scheiterte dies zwar wegen des vorzeitigen Todes der Dame, aber die Eindrücke heidnischer Umtriebe ließen bei beiden den Entschluss reifen, sich ganz der Missionierung von Häretikern und Heiden zu widmen. Bei einem Besuch in Rom 1206 bat Diego um Dispens von seinem Bischofsamt, Papst Innozenz III. lehnte jedoch das Gesuch des Bischofs ab, wie die Historia Albigensis berichtet.13 Deshalb machten sich beide von Rom wieder auf den Heimweg.

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Dominikus Guzmán († 1221)

Wanderprediger in Südfrankreich

In Montpellier trafen Diego und Dominikus päpstliche Legaten und Zisterzienser, die in ihrem Kampf gegen die Katharer verzweifelten. In dieser auf den ersten Blick aussichtslosen Situation gab ihnen der Bischof einen heilsamen Rat. Er bestimmte, sich mit mehr Eifer als je nur der Verkündigung zu widmen und alles andere sein zu lassen. Um aber den Lästerern den Mund zu stopfen, sollten sie nach dem Beispiel unseres Herrn und Meisters selbst handeln und lehren, das heißt, ganz demütig auftreten, zu Fuß gehen, ohne Gold und Silber, und in allem das Leben der Apostel nachahmen.14

Die Albigenser, die zuweilen auch als Katharer bezeichnet werden, leiten ihren Namen vom räumlichen Schwerpunkt ihrer Anhänger, der Stadt Albi, her. Katharer bezieht sich auf katharoi, die Reinen. Ob eine direkte Verbindung zwischen den bulgarischen Bogomilen und den Katharern bestand, ist fraglich, aber zumindest denkbar, 1143 sind die ersten Katharer in Köln belegt. Bogomilen und Katharer vertraten eine streng dualistische Lehre. Es gibt einen guten Gott als Schöpfer der Geister und einen bösen Gott, der auch die schlechte sichtbare Welt geschaffen hat. Entsprechend steht die Seele des Reinen der von Gott abgefallenen bösen Welt gegenüber. Satan, der „Gott“ des Alten Testaments schuf die Welt und unterjochte die reinen Seelen. Der gute Gott sprach dann im Neuen Testament. Die Passion Christi bewirkte nichts, Erlösung ist möglich durch Enthaltung und Abstand von der Welt. Jeder Kontakt mit der Welt (Ehe, Geschlechtsverkehr, Fleischgenuss etc.) ist sündhaft. In dieser Gemeinschaft leben Hervorgehobene, perfecti, die unter den anderen mehr werbend als erziehend wirken. Mitglied der Katharer wird man nicht durch die Taufe, sondern durch Berührung mit dem Evangelientext und Handauflegung. Nur die perfecti sind des Heiles sicher; ein Rückfall ist irreparabel und muss gegebenenfalls sogar durch Selbstmord verhindert werden. Das rigorose, vorbildliche Leben der Katharer machte diese zunächst ausgesprochen beliebt. Erst ein sogenanntes Katharerkonzil, das 1167–1170 der Bogomile Niketas in St-Félix-de-Caraman bei Toulouse einberief, legte die dualistische Lehre klarer zutage. Gleichzeitig wurde eine Bistumsstruktur ausgebaut, die Forderung nach evangelischer Armut trat in den Hintergrund und die dualistische Lehre wurde immer wichtiger, indem auch Mitglieder (perfecti) von den Mitläufern (creden­ tes) getrennt wurden. Besonders geschlossen blieb in diesem Prozess der Ver-

Wanderprediger in Südfrankreich

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kirchlichung die südfranzösische Gruppe um Albi (Albigenser), die strukturell zur Bedrohung für die bisherigen kirchlichen Strukturen wurde. Dominikus fiel auf, dass die Albigenser durch die Askese und das intellektuelle Niveau ihrer Leiter die Bevölkerungsgruppen anzogen, was mit der Lebensweise und der geringen theologischen Bildung der örtlichen Bischöfe und Priesterschaft kontrastierte. Vor allem bemerkte er den Erfolg ihrer Predigten beim einfachen Volk. Überzeugt, dass es bessere Mittel gebe als Gewalt, um Glaubensabweichler zurückzugewinnen, begannen Dominikus und Diego in den Gebieten des Languedoc ein Leben als Wanderprediger. Die päpstlichen Legaten hätten nämlich bemerkt, dass sie ihrem Rat nur folgen wollten, wenn diese ihnen mit gutem Beispiel vorangingen.15 Diego dürfte seinen Tross allein nach Osma zurückgesandt haben, und mit zwei Legaten begannen Dominikus und Diego die erste Predigtreise. Es war ungewöhnlich und eigentlich gegen das Kirchenrecht, als Bischof in einer anderen Erzdiözese zu predigen. Aber wahrscheinlich erfolgte dies alles in Eigeninitiative ohne päpstliche Billigung. Da Diego sich jedoch auch um seine Diözese kümmern musste, übertrug er Predigtaufgaben bald vor allem Dominikus. Anfänglich trug diesem das wenig Erfolg, dafür Beleidigungen, Drohungen und Steinwürfe ein. Bald erkannte er, dass die Predigt der Zisterzienser wegen deren prunkvollen Auftretens nur geringe Erfolge zeitigte. Deshalb verband er seine Predigt mit einem disziplinierten geistlichen Leben und intensivem Studium, um die bestmöglichen Argumente gegen die Ketzerei zu finden, und engagierte sich in theologischen Disputationen mit den Katharern. Im November 1207 suchte Dominikus noch einmal in Rom an, um die Predigermission zu erhalten, was der Papst in einem Brief vom 17. November an den Legaten Raoul bestätigte.16 Diego und Dominikus gründeten in der Folge ein Frauenkloster in Prouille, um einen Gegenpol zu den Frauenklöstern der Albigenser zu bilden. Der Erzbischof von Toulouse stellte für eine Mönchsgemeinschaft eine Kirche und ein Haus zur Verfügung. Mit dem Tod Diegos (Dezember 1207), der immer wieder wohl neue Prediger angeworben hatte, lag die Verantwortung, das Begonnene fortzusetzen, ausschließlich bei Dominikus. Die Auseinandersetzungen erreichten nach 1208 einen Höhepunkt. In diesem Jahr wurde der Zisterzienser und päpstliche Legat Pierre de Castelnau († 1208), vermutlich auf Befehl des Grafen Raimund von Toulouse († 1222), ermordet, was dem Papst Anlass bot, die Unterstützung nordfranzösischer Herren und des Königs von Frankreich einzufordern, um einen Kreuzzug gegen Albi-

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genser und ihre örtlichen Unterstützer, insbesondere den Grafen von Toulouse und den Vizegrafen von Béziers, durchzuführen. Zu dem von den französischen Teilnehmern gewählten Anführer Simon von Montfort († 1218) unterhielt Dominikus bereits seit 1204 eine persönliche Beziehung. Er folgte dessen Armee, befasste sich jedoch in erster Linie damit, in den eroberten Orten verstärkt zu predigen. Allerdings nahm er besonders in den Jahren 1210–1211 nach dem Tod des Diego vor allem sein Kanonikat in Osma wahr.17 Seit dem 20. Juni 1211 weilte Dominikus – mit Erlaubnis des neu geweihten Bischofs von Osma – erneut im Languedoc. Orte seines Wirkens waren vor allem Toulouse, Carcassonne und zuletzt Fanjeaux. Von 1212 bis 1215 bot man ihm dreimal ein Bistum an, aber Dominikus lehnte ab. 1214 wurde schließlich die offizielle Bestätigung zur Predigt ausgesprochen.18 Aber auch jetzt noch verstand Dominikus sich weiterhin als Kanoniker von Osma, wie seine Titulaturen nahelegen: frater Dominicus, Oxomensis canonicus, praedicationis humilis minister.19 Auch Bischof Fulk von Toulouse († 1231) unterstützte die neuen Initiativen und die Gemeinschaft, die sich um Dominikus gebildet hatte. Die Erfolge des Dominikus gründeten vor allem sicher auch darin, dass er gleichsam das Instrumentarium seiner Gegner (Predigt und vorbildhaftes Leben) übernahm, jedoch nicht die Inhalte. Diese Ausrichtung wurde zu einem Markenzeichen des späteren Dominikanerordens, der einerseits für die Predigt die entsprechende Bildung benötigte, die am besten die neuen Universitäten bieten konnten, auf der anderen Seite aber die Forderungen nach Armut in der Nachfolge Christi selbst vorleben musste. Vor diesem Hintergrund sollte die Ausbildung des jungen Dominikus in Palencia sowie sein Wirken als Kanoniker im Geiste der Augustinerregel stärker beachtet werden.

Ordensgründer und Ordensstruktur

Dominikus ist vor allem als Gründer eines neuen Ordens bekannt. Offensichtlich orientierte er sich aber während seiner Wanderpredigt in Südfrankreich zunächst noch an Lebensformen der Zisterzienser. Der Kern einer neuen religiösen Lebensform ist in Toulouse zu suchen, wo sich im April 1215 zwei angesehene Bürger zur Ganzhingabe bereiterklärten. Jordan von Sachsen datiert ab diesem Zeitpunkt das gemeinsame Ordensleben. Er schreibt: „Sie fingen an, mehr und mehr zur Demut abzusteigen und sich dem Verhalten von Ordensleuten anzugleichen.“20 Die wenigen, vielleicht sechs Personen, banden sich durch ein Ge-

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horsamsgelübde, eine gewisse materielle Grundausstattung wies ihnen Bischof Fulk von Toulouse zu. Als dieser Fulk 1215 zum Vierten Laterankonzil aufbrach, begleitete Dominikus ihn. Der zehnte Kanon dieser wichtigen Kirchenversammlung forderte eine Intensivierung von Predigt und Seelsorge: Unter den übrigen Dingen, die dem Wohl des christlichen Volkes förderlich sind, ist die Speise des Gotteswortes, wie man weiß, besonders notwendig; denn wie der Körper von körperlicher Nahrung lebt, so braucht die Seele geistliche Nahrung; denn nicht vom Brote allein lebt der Mensch, sondern von jenem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt! [Mt. 4,4] Es kommt häufig vor, dass Bischöfe wegen vielfältiger Geschäfte, […] – ganz zu schweigen von der Unwissenheit, die bei ihnen scharf zu tadeln ist und künftig nicht mehr geduldet werden darf – persönlich nicht in der Lage sind, dem Volk das Wort Gottes darzureichen, besonders in den großen Diözesen mit weit verstreuter Bevölkerung. Deshalb ordnen wir durch eine allgemeine Konstitution an, dass die Bischöfe zur heilsamen Ausübung des Amts der heiligen Predigt geeignete Männer heranziehen sollen, mächtig in Tat und Wort. [Lk. 24,19] Diese sollen an ihrer Statt das ihnen anvertraute Volk fürsorglich besuchen, wenn jene das selbst nicht tun können, und es durch Wort und Beispiel erbauen; […].21

Als Dominikus Papst Innozenz III. um eine Genehmigung zur Ordensgründung ersuchte, forderte dieser dazu auf, eine bereits bestehende Ordensregel zu übernehmen. Also nahm Dominikus, nachdem der Gemeinschaft in Toulouse die Kirche des hl. Romanus und zwei weitere Kirchen zugewiesen worden waren, die Regel der Augustiner-Kanoniker zur Grundlage, die er seinen Bedürfnissen entsprechend anpasste. Er fügte das Gebot der Armut hinzu, aus der Erfahrung heraus, dass vor allem die materielle Verweltlichung der Kirche und ihrer Amtsträger die Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung beschädigte und die Entstehung von Häresien begünstigte. 1216 wurde der Orden der Prediger vom Papst unter Hinweis auf Kanon 13 des Vierten Laterankonzils bestätigt. Von Anfang an betonte der Predigerorden (ordo praedicatorum) das Studium, anders als die Franziskaner, bei denen die einfache Lebensweise im Vordergrund stand. Der Lebensweg des Dominikus als Studierter sowie als Wanderprediger vor allem in Südfrankreich insinuierte diese Struktur. Die Dominikaner mussten intellektuell gut ausgerüstet sein, um den Argumenten der Ketzer zu begegnen, und deshalb wurden ihre Novizen sorgfältig geschult. Die Bestätigung der Regel unterzeichnete aber nicht mehr Innozenz III., sondern dessen Nachfolger Ho-

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norius III. (1216–1227) mit Bullen vom 22. Dezember 1216 und vom 21. Januar 1217: Honorius gewährte Dominikus und seinen Brüdern in Toulouse, sich ganz dem Predigen widmen zu können. Dabei bietet der Wortlaut vor allem ein Ensemble aus Bibelzitaten. Es war das erste Mal, dass die Verkündigung des Wortes Gottes zum Zweck einer geistlichen Gemeinschaft gemacht wurde. Bischof Honorius, Diener der Diener Gottes, entbietet den geliebten Söhnen, dem Prior [Dominikus] und den Brüdern vom hl. Romanus, Prediger im Gebiet von Toulouse, Heil und Apostolischen Segen. Dem Spender aller Gnaden erstatten Wir würdigen Dank ob der Gnade Gottes, die Euch geschenkt wurde [1. Kor. 1, 4), in der Ihr steht [Röm. 5,2; 1. Petr. 5, 12] und bis ans Ende, wie wir hoffen, stehen werdet. Denn im Innern entflammt durch das Feuer der Liebe, verströmt Ihr nach außen den Duft eines guten Rufes, der die gesunden Gemüter erquickt und die kranken (Gemüter) heilt. Damit sie nicht unfruchtbar bleiben, reicht Ihr ihnen, wie eifrige Ärzte, geistliche Alraunen [Gen. 30, 13–16.22–24] und befruchtet sie durch Eure heilsame Beredsamkeit mit dem Samen des Wortes Gottes [Lk. 8, 11]. So setzt Ihr als treue Diener die Euch anvertrauten Talente ein, um sie dem Herrn verdoppelt zurückzubringen [Mt. 25, 14–30]. So zieht Ihr wie unbesiegte Kämpfer Christi, mit dem Schild des Glaubens und dem Helm des Heils bewehrt [Eph. 6, 16–17], ohne Furcht vor denen, die nur den Leib töten können [Mt. 10, 28], das Wort Gottes, das schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert [Heb. 4, 12], beherzt heraus gegen die Feinde des Glaubens. So achtet Ihr Eure Seelen in dieser Welt gering, um sie für das ewige Leben zu bewahren [Joh. 2, 25]. Doch erst der Ausgang, nicht der Kampf bringt die Siegeskrone, und von allen im Stadion laufenden Tugenden empfängt allein die Beharrlichkeit den festgesetzten Preis [1. Kor. 9,24]. Deshalb bitten und ermahnen Wir eindringlich Eure Liebe und befehlen Euch durch diese Apostolische Schreiben zum Nachlaß Eurer Sünden: Bemüht Euch, mehr und mehr im Herrn gestärkt [Sach. 10, 12], das Wort Gottes zu verkünden [Apg. 8, 4], steht dafür ein, sei es gelegen oder ungelegen, und erfüllt lobwürdig das Werk eines Evangelisten [2 Tim. 4, 2.5]! Wenn Ihr aber deswegen Drangsal erduldet [1 Thess. 3,4], dann ertragt dies nicht nur mit Gleichmut, sondern rühmt Euch mit dem Apostel in der Bedrängnis [Röm. 5,3] voll Freude, weil Ihr gewürdigt worden seid, für den Namen Jesu Schmach zu erleiden [Apg. 5,41]. Denn diese leichte und vorübergehende Drangsal erwirkt ein überreiches Gewicht an Herrlichkeit [2 Kor. 4, 17], im Vergleich zu der die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten [Röm. 8,18].

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Auch Wir, die Wir Euch als bevorzugten Söhnen Unsere besondere Gunst zuwenden wollen, bitten Euch, für Uns dem Herrn die Frucht Eurer Lippen [Hos. 14,3] darzubringen, damit Wir womöglich durch Eure Fürbitte erlangen, wozu Unser eigenes Verdienst nicht ausreicht. Gegeben im Lateran, am 21. Januar, im ersten Jahr unseres Pontifikates.22

Ob dies alles den Vorstellungen des Dominikus zu Predigt und Seelsorge entsprach, wird diskutiert, denn manche Darstellungen berichten, schon Innozenz III. habe Dominikus ermahnt, nach Südfrankreich zurückzukehren, andere sprechen von einem Zögern des Papstes. Die verschiedenen Bewertungen der Zeitgenossen und der Literatur23 sind nicht abschließend zu entscheiden. Zweifellos aber wuchs die Gemeinschaft rasch, und 1217 entschied sich Dominikus, die kleine Schar von gut dreißig Brüdern zu zerstreuen. Mit diesem Jahr tritt in der Vita des Jordanus von Sachsen die Gestalt des Dominikus in den Hintergrund, Jordanus beschreibt nun stärker den Orden. Allerdings ist Dominikus immer wieder dort in den Quellen anzutreffen, wo seine ordnende Hand notwendig war: In den vier Jahren nach der Gründung entstanden neun Priorate in Italien, sechs in Frankreich, und zwei in Spanien, und die Brüder predigten in England, Skandinavien, Ungarn und Deutschland mit insgesamt 60 Konventen. In Paris und Bologna lehrten bald dominikanische Professoren. Dominikus reiste von Kloster zu Kloster und predigte selbst mit großem Erfolg. Mehrfach weilte Dominikus in Rom, wo er wichtige Kontakte zu Kardinälen wie Hugolin von Ostia († 1241) pflegte und wo er unter anderem profilierte Köpfe für den neuen Orden gewann, so zum Beispiel Reginald († 1220), einen berühmten Lehrer des Kirchenrechts in Paris. Honorius III. förderte den neuen Orden weiterhin mit dem Auftrag zur Predigt wie die verschiedenen päpstlichen Bullen zwischen 1216 und 1227 erkennen lassen.24 In Spanien begründete Dominikus die Konvente in Segovia und in Madrid, einer Stadt, die damals noch nicht einer Hauptstadt glich. 1219 kam Dominikus nach Paris, wo er eine Gemeinschaft von etwa dreißig Brüdern vorfand, weitere, auch prominente Lehrer konnte er hinzugewinnen. Nach einer anstrengenden Alpenüberquerung entschied sich Dominikus, die Formierung der zahlreichen Novizen in Bologna in die Hand zu nehmen. Vor allem von Italien aus sandte Dominikus dann wieder Brüder aus, die weitere Neugründungen betrieben, in Bergamo, Florenz, Verona oder Mailand. In den letzten Lebensjahren des Dominikus wurde deutlich, wie sich die Gemeinschaft zunehmend an den Heiligen Stuhl band. Im November 1219 er-

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stattete Dominikus bei Papst Honorius III., der damals in Viterbo weilte, einen eingehenden Bericht. Dass Rom die Aktivitäten würdigte, zeigt nicht zuletzt die hohe Zahl von Papsturkunden, die nun für einzelne Institutionen ausgefertigt wurden. Eine Urkunde vom 8. Dezember 1219, eine Art Bettelordensprivileg, betonte die Armut.25 In Rom wurde Dominikus beauftragt, ein Frauenkloster zu gründen. St. Sixtus am Monte Celio sollte den Nonnen als Heimstatt in Rom dienen, nachdem schon in Prouille eine Frauengemeinschaft etabliert worden war. Mit päpstlicher Unterstützung predigte Dominikus ab Ende Mai 1220 bis zum Jahresschluss gegen Häretiker in der Lombardei, im folgenden Jahr sogar im Venezianischen. Genauere Nachrichten über die einzelnen Predigten fehlen, vermutlich profitierten sie stark von den Erfahrungen im Languedoc. An Pfingsten 1220 fand in Bologna das erste Generalkapitel des Ordens statt, auf dem viele Bestimmungen für das interne Ordensleben beschlossen wurden. Dies führte zu einigen generellen Bemerkungen zur Bedeutung des Dominikanerordens und der neuen Gemeinschaftsform. Die Augustinusregel, die Dominikus in Osma so gut kennengelernt hatte, betonte die cura animarum, die Seelsorge. Diese Regel erschien deshalb bestens geeignet, um das Anliegen von Predigt und Seelsorge umzusetzen. Zur Verbesserung der Predigt, schaffte Dominikus im Kontrast zu anderen Gemeinschaften die Handarbeit ab und förderte dagegen das Studium. Da Seelsorge Priesteraufgabe war, bildeten die Dominikaner einen Priesterorden. Nur um sich dieser Aufgabe ganz widmen zu können, waren Laienbrüder für die Fragen von Unterhalt und Kloster vorgesehen. Der weltweite apostolische Auftrag führte ebenso zur Abkehr von der stabilitas loci. Nach Vorbild der Ritterorden legte jeder seine Profess auf den Generalmeister ab, der ihn überall einsetzen konnte. Solch universal agierende Orden wurden zu Trägern von Austausch und von kulturellen Integrationsprozessen. Eine Konsequenz war deshalb, vom Bettel zu leben, obwohl die Armutsfrage nie so sehr in den Vordergrund trat wie bei den Franziskanern. Diese ganz neue universale Ordensstruktur war eng an das Papsttum angelehnt, baute aber auf Elementen auf, mit denen Dominikus schon in seiner spanischen Zeit konfrontiert worden war: dem Studium und der Augustinerregel. Dazu traten ebenso die Erfahrungen universaler Ordensstrukturen wie in den Ritterorden, die Dominikus ebenso auf der Iberischen Halbinsel besonders gut kennenlernen konnte.

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Tod, Kanonisation und Nachwirkung

Am 6. August 1221 starb Dominikus mit 56 Jahren nach mehrwöchiger Krankheit in Bologna. Als er an diesem Tag in ein Benediktinerpriorat getragen wurde, erteilte er seinen Brüdern noch verschiedene Ratschläge, legte eine Generalbeichte ab, empfing die Sterbesakramente und wurde dann zum Konvent des hl. Nikolaus zurückgetragen. Angeblich hat er selbst noch angeregt, mit den Gebeten zum Heimgang der Seele zu beginnen. Noch am selben Tag zog sein Freund Kardinal Hugolin von Ostia in Bologna ein. Dieser Freund sollte dann, nachdem er 1227 als Papst Gregor IX. († 1241) den Stuhl Petri bestiegen hatte, auch die Heiligsprechung des Dominikus einleiten. Am 13. Juli 1233 setzte Gregor die erste Kommission ein, die mit Einvernahmen von Zeugen an den wichtigsten Wirkorten, vor allem im Languedoc Abb. 18: Eine Handschrift der elsässischen Legenda Aurea (1419) fügt ein Bild vom Tod des heiligen Dominikus ein.

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und in der Lombardei, Material sammelte. Dies führte 1234 zur Heiligsprechung des Dominikus. Etwa zur gleichen Zeit, am 20. April 1233, erließ der Papst eine Bulle, welche die Dominikaner mit der Ausmerzung der Häresie beauftragte. Zwei Tage später richtete er sich mit einer weiteren Urkunde erneut an die Dominikaner und ermächtigte sie, den Klerikern, die von der Ketzerei nicht abließen, ihre Pfründe für immer zu entziehen und gegen sie ohne Berufung vorzugehen, sowie wenn nötig die Hilfe des weltlichen Armes anzurufen. Außerdem verkündete der Papst die Einrichtung eines ständigen Tribunals, das mit Dominikanerbrüdern besetzt werden sollte. Dies waren die Anfänge der Inquisition. Schon vor dem Tod des Dominikus hatte die Mythenbildung einzusetzen begonnen, die sich danach weiter entfaltete. Dies betraf verschiedene Aspekte. Zunächst scheint die Rolle von Diego und Dominikus bei den ersten Predigtinitiativen umstritten. Möglicherweise stand Dominikus zunächst viel stärker im Hintergrund und war dem Wirken Diegos eher untergeordnet. Erst aus der Rückschau trat er offensichtlich in den Vordergrund. War dann Diego der eigentliche Erfinder des „Predigtkonzeptes“ in Armut? Auch die Beziehung zu Papst Innozenz III. bleibt unklar: Wollte Innozenz das Predigtkonzept des Dominikus auf die gesamte Kirche ausdehnen? Strittig ist, wie traditionsgebunden Dominikus agierte. War die Ordensgründung vielleicht weniger revolutionär, sondern nur eine Variante und Fortführung des Regularkanonikertums, wie später Jakob von Vitry († 1240) dies bezeichnete?26 Sollte dies zutreffen, wäre künftig der Blick noch stärker auf die Erfahrungen des Dominikus als Kanoniker in Osma zu richten. Wie war nun aber das Verhältnis von Dominikus du Franziskus? Der Bezug zu Papst Innozenz III. betrifft eine gewisse Konkurrenz, denkt man an das Fresko Giottos († 1337), auf dem Franziskus die schwankende Lateranbasilika stützt und so vor dem Einsturz bewahrt. Dies wird in der Regel als Bild für den Zustand der Kirche und deren Rettung gedeutet (Abb. 19). Aber hier steht Bild gegen Text, denn zu beiden, zu Franziskus und Dominikus haben spätere Schriften gleichermaßen darauf hingewiesen, sie hätten die schwankende Lateranbasilika gestützt. In der Legenda Aurea des Jacobus von Voragine heißt es zu Franziskus: Einstmals ging er in die Kirche Sanct Damiani, daselbst zu beten, da sprach das Bild des Herrn wunderbarlich zum ‚Francisce‘, gehe hin und baue mir mein Haus wieder; denn du siehest, wie es gänzlich ist zerstört‘. Von der Stund an zerschmolz ihm sein Herz, […].

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Abb. 19: Ob Franziskus oder Dominikus die einstürzende Lateranenbasilika zur Zeit Papst Innozenz’ III. stützte, interpretieren künstlerische und textliche Versionen teilweise unterschiedlich.

Wenig später heißt es dann: „Er schrieb auch die evangelische Regel auf, sich und den Brüdern, die er hatte und würde haben, die ward ihm bestätigt von dem Papst Innocentius.“27 Anders konturiert die Passage zu Dominikus: Hiernach fiel ihm in den Sinn, wie er einen Orden stiften möchte, des Amt es sei, predigend durch die Welt zu ziehen und den katholischen Glauben zu stärken wider die Ketzer. Da er also im Land zu Toulouse zehn Jahre lang war gewesen […] kam er zu dem großen Concil, und bat den Papst Innocentium, dass er ihm und seinen Nachfolgern den Orden bestätige, der der Predigerorden sein und heißen solle. Der Papst widerstund ihm eine Weile; da kam ihm eines Nachts ein Gesicht für, wie die Kirche zu Lateran in Trümmer wollte fallen: das sah der Papst in großen Sorgen; da lief von der anderen Seite der Mann Gottes Dominicus herbei und empfing die Kirche auf seiner Schulter und hielt sie, dass sie nicht mochte fallen. Als der Papst erwachte, verstund er das Gesicht und nahm des Dominicus Bitte mit Freuden an. […] Dominicus […] tat den Brüdern das Wort des Papstes

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kund. …. Und erwählten einmütiglich Sanct Augustini Regel […] Unter diesen Dingen starb Innocentius, und war Honorius zu einem Papst erwählt. Der bestätigte Dominico den Orden im Jahre des Herrn 1216.28

In der schriftlichen, hagiographischen Tradition der Legenda Aurea, der verschiedene Vitenfassungen vorausgehen, rettete also Dominikus, nicht Franziskus die stürzende Lateranbasilika, die stellvertretend die Gesamtkirche repräsentiert. Hier steht also die Schrift- gegen die Bildtradition.29 Die Dominikaner, die maßgeblich für die Verbreitung der Beschlüsse des Konzils relevant werden sollten, wurden literarisch, die Franziskaner künstlerisch in ein entsprechendes Licht gerückt.

Schlüsselgestalt

Ist Dominikus, so könnte man abschließend erneut fragen, weniger eine Schlüsselgestalt für Spanien als für das gesamte europäische Hochmittelalter? Dominikus lebte jedenfalls den größeren Teil seines Lebens in Spanien, und man sollte die spanischen Prägungen nicht missachten: sein Studium in Palencia, seinen Drang zur Missionierung an der Seite des Bischofs von Osma, vielleicht auch seine Ängste, dass häretische Bewegungen Südfrankreichs auf Spanien übergreifen könnten, alles dies macht ihn auch zu einer Schlüsselgestalt Spaniens. Vor allem ist aber daran zu denken, dass der von ihm begründete Orden sich neben der Predigt aus zwei wichtigen Wurzeln speiste: Zunächst wurde das Studium Voraussetzung für eine erfolgreiche Predigt, und hier ist an die Erfahrungen des hl. Dominikus in Palencia zu denken. Dies hatte Konsequenzen: Kenntnisse und Studium führten langfristig auch dazu, Wissensbestände kritisch zu sichten und zu überprüfen. Denkt man nur an die von dem Dominikaner Jakobus von Voragine kompilierte Legenda Aurea, die versuchte, sichere von unsicheren Traditionen zu scheiden, so sieht man deutlich, wie dominikanische Zugriffsweisen bald die Diskussion bestimmten. Dazu trat die Regel, die auf der Augustinerregel basierte und damit die Diskussionen aufgriff, die am Ende des 12. Jahrhunderts Bischof und Domkapitel in Osma beschäftigten und auch vielen spanischen Ritterorden als Leitsätze dienten. Langfristig wurde für Spanien aber eine weitere Ausgestaltung der Predigt wichtig. Die Idee der Überzeugungsmission ist entsprechend in der Folge verstärkt auf der Iberischen Halbinsel anzutreffen, besonders bei Raimundus Lullus Ende des 13. Jahrhunderts.30 Aber auch die ersten Bischöfe Nordafrikas, die nur kurzfristig in Marokko etabliert wurden,

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entstammten dem Dominikanerorden. Vor diesem Hintergrund kann Dominikus mit Fug und Recht als Schlüsselgestalt zur spanischen Geschichte gelten.

Weiterführende Literatur Altaner, Berthold: Der heilige Dominikus. Untersuchungen und Texte (Breslauer Studien zur historischen Theologie 2), Breslau 1922. Elm, Kaspar: Franziskus und Dominikus. Wirkungen und Antriebskräfte zweier Ordensstifter, in: Saeculum 23 (1972), S. 127–147. Grundmann, Herbert: Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt 1961. Hoyer, Wolfram (Hg.): Jordan von Sachsen: Von den Anfängen des Predigerordens (Dominikanische Quellen und Zeugnisse 3), Leipzig 2002. Scheeben, Christian Heribert (Hg.): Jordan von Sachsen: Libellus de initiis ordinis praedicatorum (Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum historica 16), Rom 1935. Monumenta Ordinis fratrum praedicatorum histórica (zahlreiche Bände), Rom 1896– 1966. Rucquoi, Adeline: La double vie de l’université de Palencia (c. 1180-c. 1250), in: Peter Linehan (Hg.): Life, Law and Letters. Historical Studies in honour of Antonio García y García (Studia Gratiana 28–29), 2 Bde, Bd. 2, Rom 1998, S. 723–748. Vicaire, Marie-Humbert: Geschichte des Heiligen Dominikus, Freiburg/Basel/Wien 1962.

Anmerkungen 1

Vgl. Adeline Rucquoi: Dominicus hispanus, in: García Serrano, Francesco (Hg.): The Friars and their Influence in Medieval Spain, Amsterdam 2018, S. 19–44. 2 Georg van Poppel (Hg.): Dante Alighieri: Dantes Göttliche Komödie, Würzburg 1928, S. 394. 3 Vgl. Kapitel 3. 4 Deutsch: Richard Benz (Ed.): Jacobus von Voragine: Die Legenda Aurea, 13. Aufl., Gütersloh 1999, S. 414. 5 Vgl. Martínez Díez, Gonzalo: La Universidad de Palencia. Revisión crítica, in: Calleja González, María Valentina (Hg.): Actas del II congreso de Historia de Palencia, 4, Palencia 1990, S. 155–191, bes. S. 165 f.; Ingo Fleisch: Sacerdotium – Regnum – Studium. Der westiberische Raum und die europäische Universitätskultur im Hochmittelalter: Prosopographische und rechtsgeschichtliche Studien (Geschichte und Kultur der iberischen Welt 4), Münster 2006, S. 154–243 (grundlegend). 6 Deutsch: Vladimir J. Koudelka (Hg.): Dominikus: Zeugnisse mystischer Welterfahrung, Freiburg 1983 (Sammlung ins Deutsche übersetzter Quellen), S. 80 f.

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Dominikus Guzmán († 1221) Benz: Legenda Aurea, S. 414 f. Vgl. Fleisch: Sacerdotium, S. 157. Vgl. Dom François Plaine (Hg.): Vita S. Petri Oxomensis episcopi in Hispania ab anonymo suppari conscripta, in: Analecta Bollandiana (4) 1885, S. 10–29, hier S. 28. Vgl. Daniel Berger/Klaus Herbers/Thorsten Schlauwitz (Hg.): Papsturkunden in Spanien. Vorarbeiten zur Hispania Pontificia. Bd. 3: Kastilien (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen/Neue Folge 50), Berlin et al. 2020, Register s. v.: Osma und Sigüenza. Vgl. ebd., Nr. 124. Vgl. Rucquoi: Dominicus, S. 28. Vgl. Pascal Guébin/Ernest Lyon (Hg.) : Petrus de Vaux-de Cernay : Historia Albigensis, Paris 1926 S. 21. Zum Folgenden mit Sichtung von Quellen und Literatur Viola Skiba: Honorius III. (1216–1227). Seelsorger und Pragmatiker (Päpste und Papsttum 45), Stuttgart 2016, S. 119–137. Ebd., S. 21; deutsch: Koudelka: Dominikus, S. 144. Vgl. ebd. Vgl. Simon Tugwell: L’évêque Diègue et la lettre du pape au légat Raoul, in: Mémoire dominicaine 21 (2007), S. 119–133. Vgl. Skiba: Honorius III., S. 127. Vgl. Simon Tugwell: Notes on the Life of St. Dominic, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 73 (2003) S. 5–141, S. 108. Skiba: Honorius III., S. 129. Guy Bedouelle: Dominikus – Von der Kraft des Wortes, Graz/Wien/Köln 1984, S. 79. Raymonde Foreville: Lateran I- IV, Mainz 1970, S. 411. Vladimir J. Koudelka (Hg.): Monumenta diplomatica Sancti Dominici (Monumneta jordinis Fratrum Praedicatorum Historica 25), Rom 1966, S. 78 f. Nr. 79. Deutsch: Koudelka, Dominikus S. 164–166. Vgl. Skiba: Honorius III., S. 133–137. Vgl. ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 151. Vgl. Achim Wesjohann: Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutioneller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten (Vita Regularis 49), Berlin/Münster 2012, S. 344–346. Deutsch: Benz: Legenda Aurea, S. 590. Ebd., S. 416. Vgl. Andreas Hammer: Spuren des Konzils in der geistlichen Literatur: Das Mirakel vom Judenknaben und die Gründungslegenden der Neuen Orden, in: Michelle Camillo Ferrari/Klaus Herbers/Christiane Witthöft (Hg.): Europa 1215. Politik, Kultur und Literatur zur Zeit des IV. Laterankonzils, Wien 2018, S. 255–285, hier S. 271–284. Vgl. Kapitel 9.

8. Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284) Wissen und Macht

„Die vollkommene Herrschaft über ein Reich erlangt man ebenso durch den Heldenmut der Krieger wie durch den weisen Rat der Gelehrten.“1 So schrieb Alfons am 22. September 1255 an Papst Alexander IV. (1254–1261). Das Zitat dürfte eine Grundüberzeugung des oft mit dem Epitheton „weise“ versehenen kastilischen Herrschers treffen, denn seine Herrschaftsvorstellungen basierten hierauf. Aber war Alfons nicht auch König in Deutschland, Kandidat für das Kaisertum und vielleicht damit sogar eine deutsch-spanische Schlüsselgestalt? Sein Streben nach dem Kaisertum wurzelte in spanischen und römisch-deutschen Traditionen. Je nach Perspektive wird dies deshalb unterschiedlich beurteilt. Dabei liegt die Bedeutung Alfons’ X. wahrscheinlich weniger in seinem Griff nach der Kaiserwürde und in seinen universalen Vorstellungen, die schon grundsätzlich über iberische Zusammenhänge hinausreichten, sondern wesentlich stärker in seinem kulturellen Wirken. Viele Studien betonen sogar den angeblichen Bruch zwischen politischer und kultureller Bedeutung; so plädieren einige Stimmen für die Bezeichnung „Alfons the Learned“, weil seine Politik angeblich weniger „weise“ als „gelehrt“ gewesen sei. Oder hat Alfons vielleicht seine Möglichkeiten zu wenig genutzt, seine Macht „verspielt“?2 Inwieweit ist eine Trennung zwischen Politik und Kultur überhaupt dienlich? Deshalb seien auch hier verschiedene Facetten angesprochen.

Rahmenbedingungen: Reconquista und Kaisertum

In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bestanden im Norden der Iberischen Halbinsel die sogenannten Fünf Reiche (Cinco Reinos). Dies waren, weil nach dem Tod Alfons’ VII. († 1157), dem Sohn Urracas († 1126),3 Kastilien und León aufgrund von Thronfolgefragen von verschiedenen Herrschern regiert wurden, Portugal, León, Kastilien, Navarra, und Arágon. Die angesichts des almohadischen Drucks gebotene Einigkeit dieser fünf Reiche war nur sehr eingeschränkt gegeben, angeblich hätten auch Zwietracht oder Paktieren mit den Almohaden dazu geführt, dass die christlichen Königreiche 1195 eine Niederlage in der Schlacht von Alarcos erlitten. In dieser Situation bemühte sich vor allem das

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Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284)

Abb. 20: Im libro de los juegos (Buch der Spiele) findet sich eine Abbildung des gelehrten, aber auch spielenden Königs Alfons des Weisen.

Papsttum um gemeinsame Aktionen der christlichen Reiche, die schließlich 1212 zum Sieg in Las Navas de Tolosa führten und anschließend eine neue Phase weiterer Kriegshandlungen einleiteten. Unter Alfons’ Vater Ferdinand III. († 1252) wurden Kastilien und León wieder vereint und die sogenannte Reconquista im Süden Spaniens mit der Eroberung von Córdoba (29. Juni 1236) und von Sevilla (23. November 1248) weitgehend abgeschlossen. Schon 1219 hatte Ferdinand mit Zustimmung König Friedrichs II. († 1250) die Tochter Philipps von Schwaben († 1208) und Irenes von Byzanz († 1208), Beatrix († 1235), geheiratet und damit die dynastischen Beziehungen zu den Staufern hergestellt. Dieser Expansionsprozess des kastilisch-leonesischen Reiches war zugleich von Expansionsbestrebungen der Krone Aragón seit Jakob dem Eroberer († 1276) begleitet.

Jugend

Das erste der dreizehn Kinder Ferdinands III. und Beatrix’ war Alfons, der wohl am 26. November 1221 in Toledo geboren wurde. Der Prinz wurde wahrscheinlich zunächst einer Frau aus dem niederen Adel – gleichsam als Amme – anvertraut. Als Erzieher bis zum Erreichen des Erwachsenenalters wurde sodann ein

Griff nach dem Kaisertum und universale Konzeptionen

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einflussreicher Adeliger ausgewählt: Don García Fernández, Herr von Villaldemiro. Erzogen wurde der künftige Herrscher in Villaldemiro und in Celada, zwei galicischen Städten, die unter der Herrschaft seines Erziehers standen. Diese galicische Prägung des jungen Alfons sollte Konsequenzen zeitigen. Während Alfons als Erstgeborener ganz in der Tradition der Namensgebung von Kastilien-León stand, erhielt sein nächster Bruder im Übrigen den Namen Fadrique († 1277), was auf die staufischen Beziehungen über seine Mutter verwies. Alfons X. nahm an den Feldzügen seines Vaters teil und tat sich insbesondere bei der Eroberung Murcias hervor.4

Griff nach dem Kaisertum und universale Konzeptionen

Nach dem Tod König Ferdinands III. 1252 stand Alfons als Thronfolger aber nicht nur vor den Herausforderungen auf der Iberischen Halbinsel, denn fast zeitgleich ergaben sich in Mitteleuropa durch den Untergang der Staufer neue Aufgaben. Alfons steht deshalb auch – nicht zuletzt durch seine schwäbische Mutter – für die Kontakte zum Heiligen Römischen Reich. Nach dem Tod des Staufers Konrad IV. am 21. Mai 1254 forderte Alfons als Erbe seiner Mutter durch Gesandte in Deutschland das Herzogtum Schwaben. Hierfür gewann er am 4. Februar 1255 päpstliche Unterstützung. Als etwa ein Jahr später die Nachricht vom Tod Wilhelms von Holland (Januar 1256) bekannt wurde, boten Vertreter Pisas 1256 dem kastilischen Herrscher das Kaisertum der Römer an. So wurde Alfons von den ghibellinischen Pisanern im Namen des Reiches zum römischen Kaiser und König gewählt.5 Der Pisaner Bandino Lancia verwies am 18. März 1256 in Soria für die Legitimation dieser Würde auf östliche und westliche Kaisertraditionen, spielte also auf die Beziehungen zu den Staufern und zu Byzanz an.6 Schon am 5. Mai 1257 beauftragte Alfons seinen Vertrauten García Pérez, der vielleicht später auch als Übersetzer tätig war, mit der Wahrung seiner Interessen in Deutschland.7 Alfons selbst machte sich, trotz verschiedener Ankündigungen, nie nach Deutschland auf. Sichtet man die insgesamt nicht allzu zahlreichen Quellen,8 so zielten seine Absichtserklärungen in der Regel auch eher auf Italien als auf Deutschland. Dennoch strebte Alfons, um eine ausreichende Machtbasis zu gewinnen, eine Wahl durch die deutschen Kurfürsten an, sein Konkurrent war Richard von Cornwall († 1272). 1257 kam es zur sogenannten Doppelwahl in Frankfurt. Jeder Kandidat konnte vier der sieben Kurstimmen auf sich vereinen, weil der böhmische König zweimal zustimmte.

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Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284)

Die Päpste vermieden eine förmliche Stellungnahme. Doch trotz einer zunächst anscheinend gleichen Ausgangslage verschaffte sich Richard durch wiederholte Besuche in Deutschland größere Anerkennung, vor allem im linksrheinischen Gebiet. Außer Köln öffnete auch Aachen Richard die Tore, wo dieser am Himmelfahrtstag (17. Mai 1257) gekrönt wurde. Alfons wurde hingegen lediglich durch Gesandte im August 1257 in Burgos über seine Wahl informiert.9 Der König von Kastilien-León akzeptierte und bestellte Albert de la Tour-du-Pin († 1264) als Truchsess sowie den Bischofselekten Heinrich von Speyer († 1272) als Kanzler. Bandino Lancia, der Pisaner Gesandte, firmierte in einem späteren Dokument als Protonotar.10 In Deutschland kümmerten sich die meisten Fürsten weder um den einen noch um den anderen Gewählten. Als Arnold von Trier 1259 verstarb, schwand der Einfluss des kastilischen Königs weiter, jedoch gab er seine Ansprüche nicht auf. Vereinzelte Quellen lassen auf Amtshandlungen schließen, so besonders der Akt von Oktober 1257, mit dem Herzog Heinrich von Brabant († 1261) die Verteidigung aller ad culmen imperiale gehörenden Vasallen, Städte und Orte übertragen wurde, die von Brabant bis an den Rhein gelegen sind, besonders Aachen, Sinzig, Landscron und Werth sowie weitere Orte.11 Als nach dem Tod Richards von Cornwall am 2. April 1272 schließlich am 1. Oktober 1273 Rudolf von Habsburg († 1291) zum König gewählt wurde und der Papst ankündigte, diesen 1275 zum Kaiser zu krönen, war Alfons’ Traum von der Kaiserwürde endgültig begraben. Der Herrscher wurde wegen seines Kaisertums, des sogenannten fecho del Imperio, in Rom vorstellig und musste im Sommer 1275 vorsichtig zum Verzicht gebracht werden, empfing hierfür aber Gegenleistungen.12

Politische Hintergründe für den Universalismus Alfons’

Der Griff Alfons’ X. nach dem Imperium basierte nicht allein auf seinen dynastischen Ansprüchen. Schon unter seinen Vorgängern war immer wieder die Idee des Kaisertums bemüht worden, um eine Art Oberhoheit über die spanischen Reiche zu etablieren. Dies gab ihm vielmehr Gelegenheit, seine universalen Ziele in rechtlicher Form zu artikulieren. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Alfons einerseits Deutschland nie betrat und andererseits 1275 in Rom selbst verhandelte. Deutschland war für ihn eher ein Nebenschauplatz im Gegensatz zu anderen Möglichkeiten, die er sich vom römischen Kaisertum erhoffte. Indirekt lassen

Politische Hintergründe für den Universalismus Alfons’

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sich seine Vorstellungen zum Kaisertum erschließen. Einige programmatische Passagen des noch näher vorzustellenden Rechtsbuches, der sogenannten Siete Partidas, dessen erste Konzeption unter maßgeblichem Einfluss des kastilischen Königs entstanden sein dürfte,13 verdeutlichen die weitreichenden Zielvorstellungen der Herrschaftskonzeption Alfons’ des Weisen. Nach dieser und anderen unter alfonsinischem Einfluss entstandenen Rechtssammlungen schulde der Herrscher nur Gott und dem Gemeinwohl Rechenschaft, niemandem anderen. Dies entspricht der Konzeption einer großen, ungebundenen königlichen Gewaltenfülle. Ein solches Selbstverständnis wies aber über königliche Herrschaftsausübung hinaus. Nachdem Ferdinand III. mit seinen Truppen Sevilla 1248 von den Muslimen zurückerobert hatte, gewannen Vorstellungen an Bedeutung, welche vor allem der Kanonist Vincentius Hispanus († 1248) vertreten hatte. Demnach hätten allein die Spanier das Imperium aus Tugendhaftigkeit erlangt. Anders als der römische Kaiser habe der spanische Kaiser das Schwert der weltlichen Herrschaft direkt von Gott empfangen. So sah man zu Zeiten Ferdinands III. und Alfons’ X. zuweilen Sevilla als die eigentliche Kaiserstadt an, obwohl Ferdinand III. nach der Eroberung dort nicht gekrönt wurde. Die dennoch bestehenden Vorstellungen von einem imperialen Sevilla, was sogar als „Spanish National Imperialism“14 bezeichnet wurde, dürften zumindest das Streben Alfons’ des Weisen nach dem Kaisertitel beeinflusst haben. Weiterhin sind handfeste politische Interessen auszumachen. Offensichtlich gehörte zu Alfons’ Zielen auch die Eroberung Nordafrikas; dazu brauchte er Einfluss im westlichen Mittelmeerraum. Mit diesen Ambitionen geriet er jedoch auf der Iberischen Halbinsel zumindest indirekt in Konkurrenz zur Krone Aragón, die ebenso im westlichen Mittelmeer bis über Sizilien hinaus Einfluss zu gewinnen suchte.15 Auch Aragón konnte dynastische Beziehungen zu den Staufern nachweisen. Der Stauferkaiser Friedrich II. hatte 1209 Konstanze († 1222), die Tochter Alfons’ II. von Aragón († 1196), geheiratet, und 1262 ehelichte Peter († 1285), Infant von Aragón, Konstanze († 1302), die Tochter des sizilischen Königs Manfred († 1266). Im westlichen Mittelmeerraum entwickelten sich somit zumindest latent konkurrierende Interessen zwischen Alfons X. und Jakob I. dem Eroberer († 1276). Dies verdeutlichen unter anderem die Auseinandersetzungen zwischen Kastilien und Aragón um das für Kastilien so wichtige Murcia, denn nur hier lag ein direkter Zugang Kastiliens zum Mittelmeer. Mittelfristig gewann Aragón die Oberhand, der alfonsinischen „Mittelmeerpolitik“ war kein Erfolg beschieden. Dies verstärkte zudem die vielfach in

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Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284)

der Forschung hervorgehobenen innenpolitischen Schwierigkeiten Alfons’ des Weisen (Karte 4). Mit dem angestrebten Kaisertum unterstrich Alfons gleichwohl den Anspruch einer Führungsrolle auf der Iberischen Halbinsel. Ausdruck dieses Anspruches und seiner Kaiserpflichten war zum Beispiel der Feldzug nach Nordafrika, um das sich dort, besonders in Marokko neu formierende Christentum zu schützen. Damit stellte sich Alfons in die Tradition der antiken Kaiser. Seine Bemühungen, Glaubensfeinde zu bekämpfen, hatten zwar in Afrika keinen Erfolg, aber dem Nasridenreich Granada konnte er einige wichtige Orte – unter anderen Cádiz – abringen. Dienten diese universalen Kaiservorstellungen auch dazu, „innenpolitische“ Schwierigkeiten zu überspielen? Alfons X. berief die sogenannten Cortes relativ häufig ein. Dies war eine Ständeversammlung, die sich aus der Curia Regis entwickelt hatte und welche die Mitsprache des Adels, der Bischöfe und der Städte ermöglichte. Während Alfons X. die Städte offensichtlich begünstigte, versuchte er demgegenüber den Adel, der nach der Eroberung und Neubesiedlung Andalusiens große Seniorate in Andalusien besaß, in seinem Einfluss zu beschneiden und dessen Besitzungen durch Abgaben, durch Zerstückelung im Erbfall und ähnliche Maßnahmen unattraktiver zu machen. Begleitet war dies von diversen Adelsrevolten, von denen die bekannteste diejenige der Familie Lara im Jahre 1268 war. Unter adeligem Einfluss bildeten sich die ersten wirtschaftlichen Interessensverbände aus, wie das Beispiel der Mesta, ein Zusammenschluss der Schaf- und Viehzüchter (1260 bzw. 1273), belegt. Dies verweist auf die zunehmende Bedeutung der Schafzucht auf der Iberischen Halbinsel, die im System von Wanderungsbewegungen (Transhumanz) die jeweils jahreszeitlich günstigsten Weidebedingungen im Süden und Norden nutzte. Noch heute sind viele der Wege (cañados) begeh- oder befahrbar. Die Schwierigkeiten im Inneren dürften auch Einfluss auf Alfons’ eher nach außen gerichteten imperialen Pläne gehabt haben. Im Inneren hatte Alfons weiterhin, kurz nachdem er die Adelsaufstände vor allem durch Nachgiebigkeit gelöst hatte, mit Nachfolgefragen zu ringen. Ferdinand de la Cerda, der Thronfolger, starb 1275. In den Rechtssatzungen der Siete Partidas hatte Alfons festgelegt, nun solle einer der Söhne dieses Ferdinand, also einer seiner Enkel, Thronfolger werden. Alfons’ zweitgeborener Sohn Sancho war damit nicht einverstanden. Er konnte sich mit seinen Ansprüchen auf die kastilische Tradition stützen. In einer Art „Bürgerkrieg“ blieb Sancho mit Hilfe Portugals, Aragóns und des Königreiches Granada siegreich, Alfons X. enterbte

Kultur und Wissen

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zwar seinen Sohn noch zugunsten des Enkels, aber als er 1284 starb, folgte ihm nicht sein Enkel, sondern sein Sohn als Sancho IV. († 1295) auf den Thron. Hingen aber die Schwierigkeiten im Inneren auch damit zusammen, dass die politischen Ziele Alfons’ des Weisen viel stärker außerhalb der Iberischen Halbinsel lagen? Hat deshalb Cayetano J. Socarrás im Titel seines Buches mit Recht von „Imperialistic Frustration“ gesprochen?16

Kultur und Wissen

Obwohl die im engeren Sinne politische Leistung Alfons’ des Weisen zumeist eher skeptisch eingeschätzt wird, weil imperiale und universale Ideen nicht durchgesetzt werden konnten, weiterhin Adelsrevolten und Thronfolgeprobleme die letzten Jahre seiner Regierungszeit begleiteten, so werden demgegenüber seine kulturellen Leistungen meist hoch bewertet. Dabei scheint die Gegenüberstellung Politik hier, Kultur dort, eher problematisch: Denn sollte Kultur und deren Förderung tatsächlich apolitisch sein?

Universitäten

Institutionell war Alfons zunächst die Förderung der Universität Salamanca angelegen, die bis ins ausgehende Mittelalter – nach den Anfängen einer frühen Universität in Palencia17 – eine Spitzenstellung auf der Iberischen Halbinsel halten sollte. Alfons der Weise bestätigte schon 1254 die von Alfons IX. von León († 1230) seit 1219 geförderten Salmatiner Studien erneut, indem er zum Schutz von Magistern und Studenten aufrief. Programmatisch hierzu sind die Passagen des alfonsinischen Rechtsbuches, der Siete Partidas. Die Passage über das Studium zeichnet sich durch eine erfrischende Nähe zur Realität aus, vielleicht spiegelt sie sogar – obwohl mit topischen Elementen durchsetzt – Zustände und Schwierigkeiten in Salamanca: Ein Studium generale dürfe nur durch Anordnung des Papstes, des Kaisers oder des Königs ins Leben gerufen werden. Der Ort, den man wähle, müsse sich, so heißt es weiter, durch einiges auszeichnen: Gute Luft und gute Ausgangmöglichkeiten, damit Magister und Studenten gesund leben, weiterhin durch ausreichend Brot, Wein, günstige Quartiere und gute Gasthäuser. Nur so könnten Lehrer und Schüler die Freuden des Abends genießen, wenn sie sich müde von ihren Studien erhöben. Die Bewohner dieses

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Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284)

Ortes müssten Professoren und Studenten ehren und achten. Ökonomische, ökologische und soziale Kriterien bestimmten also den Standort einer Universität. Die Gehälter der Professoren müsse der König festsetzen. Für die Magister gelte die Verpflichtung, sich nicht vertreten zu lassen; wenn ein akademischer Lehrer aber krank werde, solle ihm das Salär weiterhin gewährt werden. Die übrigen Bestimmungen betreffen die Nähe der Unterrichtsgebäude, Belobigungen und Züchtigung sowie Prüfungsmodalitäten. Mit Hilfe eines Pedells hätten die universitären Autoritäten schließlich das Recht, die einschlägigen Läden zu überwachen, wo den Gelehrten und Studenten Bücher zu angemessenen Preisen verfügbar sein sollten. Alfons X. ist zu Recht weniger unter seiner Ordnungszahl als unter seinem Beinamen, der Weise, el Sabio, in die Geschichte eingegangen. Wie Friedrich II. hatte er ein offenes Auge und Ohr für Astronomie und Astrologie, für Alchemie und andere Wissensliteratur. Die von ihm angeregten und initiierten Übersetzungen, die großen historiographischen Werke, die gesetzgeberische Tätigkeit sowie eigene literarische Betätigung rechtfertigen den ehrenden Beinamen. In diesen Gebieten legte er den Grundstein für Entwicklungen, die erst nach seinem Tod ihre volle Kraft entfalten sollten, und damit also in hohem Maße politisch wurden.

Historiographie

Neben der Förderung von gelehrten Studien an der Universität Salamanca wirkte das universale Programm des Königs bis in die offizielle Geschichtsschreibung hinein. Die Anlage der Primera Crónica General de España, die erstmals auch in der Volkssprache ein geschlossenes Bild der Geschichte eines geeinten Spanien bot, geht auf den kastilischen Herrscher zurück, so sehr auch das Konzept der Autorschaft diskutiert wird.18 Nachdem früher meist Geschichtsschreibung an kirchliche Institutionen gebunden war, erlangten damit der König und der Hof zunehmend Deutungshoheit über die Geschichte Spaniens, und konnten das Bild von einer einheitlichen spanischen Geschichte entwerfen oder beeinflussen. Die Redaktion begann um 1270 und die Texte wurden auch nach Alfons’ Tod weiter ergänzt oder verändert. Die verschiedenen Versionen wirkten in die Literatur und bis in die Neuzeit hinein als Modell, Vorlage oder Bezugspunkt.19 Damit wurde das Bild einer einheitlichen spanischen Geschichte weiter verfestigt. Politische Zielvorstellungen Alfons’ des Weisen sind bei einer Art Kreuzzugs-

Recht

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geschichte (Gran Conquista de Ultramar) erkennbar, die – auffällig genug – etwa zu dem Zeitpunkt abgebrochen wurde, als Alfons endgültig auf sein Kaisertum verzichten musste.

Recht

Vor allem das Gesetzgebungswerk der Siete Partidas zeigt, dass Alfons mit seinem Streben nach Vereinheitlichung vielleicht der Zeit voraus war. Der Vorläufer, der sogenannte Especulo, der kastilische, leonesische und römische Rechtssätze zusammenfasste, ließ sich zunächst nur für das königliche Gericht durchsetzen. Eine erst lange nach Alfons’ Tod entstandene Fassung erhielt den heute üblichen Namen Siete Partidas (um 1325) und führte zur allgemeinen Anerkennung. Das Werk gleicht weniger den Gesetzbüchern, wie sie etwa gleichzeitig Friedrich II. in Sizilien oder Jakob I. der Eroberer († 1276) in der Krone Aragón aufsetzten, sondern es atmet – vielleicht wegen einer frühzeitigen Rezeption aristotelischen Gedankengutes20 – eher den Geist juristisch-philosophisch-moralischer Erörterungen. Im Vordergrund standen nicht so sehr gelehrte Rechtskommentare als vielmehr allgemeine Maximen: Praktisch anwendbare Sätze waren das Ziel.

Astrologie, Naturkunde, Übersetzungen und literarisches Wirken

Alfons blieb nicht nur Historiograph und Rechtssetzer, sondern verfolgte auch wissenschaftliche Interessen. Erst unter ihm wurde wieder nach einer ersten Phase im 12. Jahrhundert in großem Ausmaß aus dem Arabischen übersetzt. Er förderte gelehrtes Arbeiten nicht nur an der inzwischen bestehenden Universität Salamanca. Es ist unmöglich, die im Umkreis des Königs entstandenen Werke nur annähernd zu charakterisieren. Neben den schon genannten Rechtssammlungen und Gesetzbüchern fanden unter anderem Geschichtsschreibung, Dichtkunst, Literatur und Wissenschaft sein Interesse. Zahlreiche Texte wurden von ihm selbst verfasst, kompiliert, unter seinem Namen gefördert oder koordiniert. Wenn er als Autor erscheint, dann im mittelalterlichen Sinne als derjenige, der die Richtung eines Werkes festlegte.21 In der zweiten Phase der sogenannten Übersetzerschule ließ Alfons vor allem astronomische und astrologische Werke nun sogar in die Volkssprache übersetzen.22 Deshalb wird er seit langem als Vater der kastilischen Sprache bezeichnet.23 Auch dies war zukunftsweisend. Unterstrich Alfons X. durch

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Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284)

die neue Zielsprache königliche Macht und förderte die nationale Einigung, oder folgte er nur fast selbstverständlich neuen, zeitgemäßen Tendenzen? Vielleicht bedeuteten die Übersetzungen in das Kastilische und nicht mehr ins Lateinische einen Modernisierungsschub. Lag hier eine zunächst nur auf der Iberischen Halbinsel mögliche Neuerung, weil in den vergangenen vier Jahrhunderten Arabisch und nicht Latein die Sprache intellektuellen Fortschrittes gewesen war?24 Schon Zeitgenossen sahen eine Übersetzung in die Muttersprache als verständnisfördernd an: Alfons habe – so eine zeitgleiche Äußerung des Johannes von Zamora († 1320) – alle möglichen Schriften von Trivium und Quadrivium sowie solche anderer Wissensgebiete in die Muttersprache übertragen lassen, damit alle besser verstehen könnten, was in der lateinischen Sprache sogar Gelehrten verborgen bleibe.25 Man hat den didaktischen Impetus des weisen Alfons zuweilen mit den Einflüssen averroistischen Gedankengutes auf den Herrscher erklärt.26 Aus dem Averroismus resultiere das Konzept eines Staates mit erzieherischen Aufgaben. Diese Vorstellung habe zugleich zur Förderung der praktischen Wissenschaften geführt. Entsprechend wurden unter Alfons’ Einfluss besonders Werke zur ­Astrologie und Astronomie übersetzt. So sind entsprechende Tabellen als Alfonsinische Tafeln bekannt. Nicht Metaphysik, sondern Naturphilosophie bestimmte das königliche Interesse. Die Astrologie besaß dabei wie für den Staufer Friedrich II. durchaus praktische Bedeutung, denn zutreffende Vorhersagen blieben nicht ohne politische Konsequenzen. Wie angesehen die Naturphilosophie war, zeigt das schon genannte Rechtsbuch der Siete Partidas,27 das in dieser Zeit begonnen wurde. In Partida II,3,17 werden die Privilegien für Lehrer von Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Physik und Recht auch auf die Philosophen ausgedehnt, die das Wissen von der Natur vermitteln.28 Obwohl die astronomisch-astrologischen Werke bisher ungleichmäßig erschlossen sind, lassen die Prologe Tendenzen erkennen. Alfons kümmerte sich um die in der Übersetzung führenden Juden, er ließ offensichtlich auch den Talmud übersetzen, er bestellte Fachleute, zum Beispiel zur angemessenen Übersetzung des Lapidarium,29 er schrieb die kastilische Sprache vor, so im Prolog zum Koran,30 und seine Interessen an praktischer Umsetzung des Wissens verrät der Prolog zu den Schriften über Astrolab oder andere Instrumente.31 Die Durchführung der Übersetzungen hing aber nicht nur vom Herrscherwillen ab, sondern zugleich von den vorhandenen Voraussetzungen. Der schon lange währende Streit über den Charakter der spanischen Geschichte zwischen Américo Castro und Claudio Sánchez-Albornoz32 erstreckte sich auch auf die alfonsini-

Astrologie, Naturkunde, Übersetzungen und literarisches Wirken

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Abb. 21: Alfons der Weise, wie er in einer Handschrift der cantigas de Santa Maria (Gesänge zu Ehren der heiligen Maria) abgebildet wurde.

sche Übersetzungsarbeit. Castro erklärt die Wahl des Kastilischen als Zielsprache mit seiner These von einer spanischen Mischkultur, die von Muslimen, Juden und Christen geprägt worden sei: Die königliche Nähe zu jüdischen Gelehrten, die mit dem Lateinischen wenig hätten anfangen können, habe folgerichtig das Kastilische begünstigt. Claudio Sánchez-Albornoz führte hingegen an, das Kastilische habe sich wegen der traditionell schwachen Stellung des Lateinischen in den nördlichen christlichen Reichen durchgesetzt. Beide, in ihrer Ausschließlichkeit überzogenen Thesen benennen jedoch mit der Stellung der Juden und mit der gegenüber anderen europäischen Reichen geringeren Integrationskraft des Lateinischen auf der Iberischen Halbinsel durchaus ernstzunehmende Argumente, die aber ebenso wie die aus den Prologen erkennbaren politischen Intentionen Alfons’ des Weisen nur jeweils einzelne Facetten beleuchten. Neuere Studien unterstreichen, welch eminente Rolle den Juden bei einzelnen dieser Projekte zukam. Die neue Zielsprache war noch keine Fachsprache und gewann erst im Laufe der Übersetzungen neue Qualitäten. Dieser Prozess ist am ehesten an verschiedenen Fassungen erschließbar und betraf vor allem die Notwendigkeit, angemessene Ausdrucksformen zu suchen. Die neuen Suffixbildungen der Substantive förderten klare Begriffsbildung, die das Kastilische gegenüber den anderen romanischen Sprachen der Iberischen Halbinsel künftig auszeichnete; sie dürfte nicht zuletzt hierdurch auch für Formen neuer Staatlichkeit den konkurrierenden iberischen Sprachen gegenüber überlegen geworden sein. Vor diesem Hintergrund ist es aber bemerkenswert, dass Alfons sich auch selbst als Dichter betä-

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Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284)

tigte. In den sogenannten Cantigas de Santa María, wo in mehr als 400 Liedern die Wundertaten der Jungfrau Maria mit zahlreichen Orten und Begebenheiten der spanischen Geschichte in Bezug gesetzt wurden – besonders wichtig ist der Ort Villalcázar de Sirga – wirkte er damit gleichsam langfristig als Erzieher, wie bebilderte Handschriften verdeutlichen. In diesem Werk wählte er aber nicht das Kastilische, sondern das Galicische. Er verwendete also hier die Sprache, mit der er wohl aufgewachsen war.

Schlüsselgestalt: Nur weise und gebildet, oder: Der Preis der Gelehrsamkeit

Dem weisen Herrscher wird folgender Satz zugeschrieben: „Hätte Gott, als er die Welt schuf, ihn [Alfons] um Rat gefragt, sie wäre besser gelungen.“33 War das ein Zitat für einen Kopernikus avant la lettre, spürte man in diesen Worten die Vorboten der Renaissance?34 Nicht immer, denn ab dem 14. Jahrhundert wird dies auch negativ interpretiert: Gelehrsamkeit konnte Hochmut und damit Schuld bedeuten. Man erzählte Blasphemiegeschichten, deren Ursprung schon bei der Mutter Alfons’, Beatrix, lagen, die in einer Vision von einer Griechin erfahren haben will, dass ihr ältester Sohn noch mächtiger als sein Vater werde, aber wegen seines Hochmutes gegenüber Gott sein Land verlöre. Hinzu kommen Geschichten von einem schrecklichen Tod.35 Dies ließe sich weitererzählen. Solche Geschichten zeigen, dass Wissenschaft und Wissensdrang schon immer anrüchig werden konnten, denkt man nur an die Geschichten über den gelehrten Gerbert von Reims, den späteren Papst Sylvester II. († 1002). So präsentiert sich auch Alfons’ Gelehrsamkeit je nach den Quellen aus zwei sehr unterschiedlichen Blickwinkeln. Eine Bilanz von Leben und Wirken Alfons’ des Weisen ändert sich aber auch bei einem positiven Blick auf seine Neuerungen nicht unerheblich, je nach der Perspektive, aus der sein Wirken betrachtet wird. Seine Hauptleistungen liegen sicherlich in seiner „Kulturpolitik“, die für einen Aufbruch steht, so dass man in ihm durchaus einen Chronisten und Protagonisten seiner Zeit sehen kann. Nicht nur aus deutscher Perspektive muss sein Griff nach dem Kaisertum als wenig erfolgreich bewertet werden, sondern auch für eine Bewertung als Schlüsselgestalt der spanischen Geschichte. Die wissenschaftlichen Werke, das teilweise römisch bestimmte Recht, die historiographischen Werke wie die Primera Crónica General waren Hilfsmittel und Wegmarken zu einer kastilisch bestimm-

Schlüsselgestalt: Nur weise und gebildet, oder: Der Preis der Gelehrsamkeit

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ten hispanischen Identität, die erst am Ende des 15. Jahrhunderts Wirklichkeit wurde. Die Förderung des Kastilischen als Fach- und Landessprache wies in die Zukunft: Der bekannte Verfasser der ersten kastilischen Grammatik, Elio Antonio de Nebrija († 1522) hob an der Wende zum 16. Jahrhundert die Bedeutung der Sprache für die Einigung Spaniens hervor, obwohl der Topos, die Sprache sei immer Begleiter des Imperiums gewesen, vielleicht nicht überstrapaziert werden darf. Wenn somit Modernisierung vor allem in Sprache, Kultur, Recht und Verwaltung gefördert wurde, so ist es vielleicht eine gewisse Tragik, dass die universalen Möglichkeiten, die das Kaisertum bot, dies kaum unterstützten und Alfons vielleicht wider Willen eher „national“ als universal wirkte.

Weiterführende Literatur Fidalgo, Elvira (Hg.): Alfonso el Sabio. Cronista y protagonista de su tiempo (Colección Instituto Literatura y Traducción 29), San Millán de la Cogolla 2020. Herbers, Klaus: Alfons von Kastilien (1252–1284), in: Mario Kramp (Hg.): Krönungen. Könige in Aachen, Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung, Mainz 2000, S. 425–432. O’Callaghan, Joseph F.: Alfonso X, the Cortes and Government in Medieval Spain (Variorum Collected Studies Series 604), Aldershot 1998. Rodríguez Llopis, Miguel (Hg.): Alfonso X. Aportaciones de un rey castellano a la con­ strucción de Europa (Alfonso X el Sabio 1), Murcia 1997. Schwab, Ingo/Gawlik, Alfred (Hg.): Die Urkunden Alfons‘ von Kastilien (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 19, 1), Wiesbaden 2016.

Anmerkungen 1 José Enrique Ruiz Domenec: Salamanca, in: Franco Cardini/M. T. Fumagalli Beonio-Brocchieri, (Hg.): Universitäten im Mittelalter, München 1991, S. 94–103, hier S. 86. 2 Barbara Schlieben: Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons’ X. (1252– 1284) (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 32), Berlin 2009. 3 Vgl. Kapitel 5. 4 Vgl. Cayetano J. Socarrás: Alfonso X of Castile. A Study on Imperialistic Frustration, 1976, S. 113 f. 5 Vgl. Ludwig Weiland (Hg.): Constitutiones et acta publica imperatorum et regum (1198–1272) (MGH Constitutiones 2), Hannover 1896, S. 392, 395; Johann Friedrich Böhmer/Julius Ficker: Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV.,

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Alfons X. von Kastilien, der „Weise“ († 1284) Friedrich II., Heinrich (VII.), Conrad IV. Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard 1198–1272 (Innsbruck 1881–1892), Bd. 4,6: Paul Zinsmaier, Nachträge und Ergänzungen, Köln-Wien 1983, Regesten V,2 Nr. *5483e und 5484. Vgl. Socarras, Alfonso X, n. 9–10. Vgl. Schlieben: Verspielte Macht, S. 159. Vgl. Böhmer/Ficker: Regesten, V,2 Nr. 5483b-5528e.. Vgl. ebd., V,2 Nr. *5488c . Vgl. ebd., V,2 Nr. 5496. Vgl. ebd., V,2 Nr. 5489 und 5493. Vgl. ebd., V,2 Nr. *5525a-*5528d. Vgl. Robert Ignatius Burns: Stupor Mundi: Alfonso X of Castile, the Learned, in: Ders. (Hg.): Emperor of culture. Alfonso X the Learned of Castile and his thirteenthcentury Renaissance (The Middle Ages series), Philadelphia 1990, S. 1–13, 215–216, hier S. 6. Gaines Post: „Blessed Lady Spain“. Vincentius Hispanus and Spanish National Imperialism in the Thirteenth Century, in: Speculum 29 (1954), S. 198–209, S. 206. Vgl. Kapitel 9. Siehe Anm. 4. Vgl. Kapitel 7. Vgl. Corinne Mencé-Caster: Un roi en quête d’auteurité. Alphonse X et l’Histoire d’Espagne (Castille, XIIIe siècle), Paris 2011, S. 268. Vgl. Inés Fernández-Ordoñez (Hg.): Alfonso el Sabio y las Crónicas de España, Valladolid 2020, zusammenfassend S. 10–18. Vgl. Jaime Ferreiro Alemparte: Acercamiento mutuo de España y Alemania con Fernando III y Alfonso X el Sabio, in: Antonio Pérez Martin (Hg.): España y Europa, un pasado jurídico común. Actas del I Simposio Internacional del Instituto de Derecho Común (Murcia, 26–28 de marzo de 1985) (Publicaciones del Instituto del Derecho Común. Universidad de Murcia 1), Murcia 1986, S. 179–222, hier S. 213–219. Vgl. Hans-Josef Niederehe: Die Sprachauffassung Alfons‘ des Weisen: Studien zur Sprach- und Wissenschaftsgeschichte (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 144), Tübingen 1975, S. 16. Vgl. Klaus Herbers: Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Ursula Schaefer (Hg.): Artes im Mittelalter, Berlin 1999, S. 232–248, hier S. 236 Anm. 23. Vgl. Niederehe: Sprachauffassung, S. 1 f. Vgl. Francisco Márquez-Villanueva: The Alfonsine Cultural Concept, in: Ders./Carlos Alberto Vega (Hg.): Alfonso X of Castile. The Learned King (1221–1284) (Harvard studies in Romance languages 43), Cambridge 1990, S. 76–109, hier S. 83. Vgl. O’Callaghan: The Learned King, S. 135. Vgl. Márquez-Villanueva: Alfonsine Cultural Concept, S. 88 f. Vgl. Burns: Stupor Mundi, S. 6; O’Callaghan: Learned King, S. 133. Vgl. Márquez-Villanueva: Alfonsine Cultural Concept, S. 90.

Anmerkungen

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29 Vgl. Norman Roth: Jewish Collaborators in Alfonso’s Scientific Work, in: Robert Ignatius Burns (Hg.): Emperor of Culture. Alfonso X the Learned of Castile and His Thirteenth-Century Renaissance, Philadelphia 1990, S. 59–71, hier S. 60 f. 30 Vgl. ebd., S. 63. 31 Vgl. ebd., S. 68; Josefina Rodríguez Arribas: Mathematical Instruments in Astrology, in: Matthias Heiduk/Klaus HerbersHans-Christian Lehner (Hg.): Prognostication in the Medieval World. A Handbook Bd. 2, Berlin 2021, S. 861–873, hier S. 863–866. 32 Vgl. Kapitel 6. 33 Schlieben: Verspielte Macht, S. 89. 34 Vgl. Simon Richard Doubleday: The Wise King. A Christian Prince, Muslim Spain and the Birth of the Renaissance, New York 2015. 35 Vgl. Schlieben: Verspielte Macht, S. 89 f.

9. Raimundus Lullus († 1316) Religionsdialoge im Mittelmeerraum?

Raimundus Lullus – eng mit der Insel Mallorca verbunden – scheint der gesamten Welt oder dem Mittelmeerraum, weniger nur der Iberischen Halbinsel zu gehören. Allerdings ist darauf zu schauen welche Aspekte der iberischen Geschichte sich in seiner Lebensgeschichte verdichten. War vielleicht die iberische Geschichte damals vor allem auf das (westliche) Mittelmeer bezogen? Für seine Lebensgeschichte und sein Wirken – ähnlich wie bei Maimonides1 – spielt der Mittelmeerraum eine wichtige Rolle. In diesen Raum drang vor allem die Krone Aragón, die seit dem 12. und besonders dem 13. Jahrhundert aus mehreren Teilreichen bestand, in dieser Zeit zunehmend ein. Blickt man auf die Nachwirkung, so blieb diese keinesfalls auf diesen Raum beschränkt. Von keinem geringeren als König Philipp II. († 1596) wurde sogar ein Heiligsprechungsverfahren angestrengt, das später unterbrochen wurde, inzwischen aber wieder in Gang gekommen ist. Der Abschluss steht allerdings noch aus. Heute gilt Raimundus Lullus oder Ramon Llull vielen als Wanderer zwischen den Welten, als kultureller und religiöser Broker, weil ihm der Dialog zwischen den drei großen monotheistischen Religionen wichtig war. Dabei werden immer wieder ganz bestimmte Aspekte seines Lebens in den Vordergrund gerückt. So gilt er nicht nur Mallorca-Reisenden gern als erste Person, die Brücken zwischen Christentum und Islam schlug. Aber dominierte bei ihm – der ein fast unüberblickbares Werk hinterlassen hat – wirklich nur der Dialog? Und wenn ja, welche Ziele verfolgte er damit?

Rahmenbedingungen: Die Krone Aragón und das Mittelmeer

Lullus wuchs in eine Welt hinein, die als die große Expansionszeit der Krone Aragón bezeichnet werden kann. Die Orientierung nach Osten wurde schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts deutlich. Gleichzeitig musste die Krone stärker als die iberischen Nachbarreiche im Inneren ausgleichen, denn sie bestand aus Ländern, die schon relativ lange zusammengefügt waren wie das Reich Aragón und der katalanische Prinzipat, zu denen jedoch neue Gebiete wie die Reiche von Valencia und Mallorca gekommen waren.

Rahmenbedingungen: Die Krone Aragón und das Mittelmeer

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Abb. 22: Denkmal des Raimundus Lullus vor der Kathedrale in Palma de Mallorca.

Die schon Ende des 13. Jahrhunderts begonnene Expansion in den Mittelmeerraum bis hin zur zeitweiligen Kontrolle Athens ließ die Krone Aragón in den Außenbeziehungen immer wieder zum Konkurrenten der italienischen Seerepubliken werden, die das Mittelmeer seit der Zeit der Kreuzzüge weitgehend beherrschten. Nach der Eroberung Mallorcas führten dynastische Fragen dazu, dass sogar Mallorca eine gewisse Zeit lang ein eigenständiges Königreich wurde, das später mit seinen Hofordnungen Wege in die Zukunft wies (Abb. 23). Hier war zum Beispiel neben vielen anderen Vorlagen festgelegt, wie man einen Brief an muslimische Herrscher adressieren sollte.2 Zu diesem unabhängigen Königreich Mallorca trat nach der sogenannten Sizilianischen Vesper 1282 das verstärkte Interesse an Sizilien. Hier hatte eine Erhebung gegen die Anjou deren Herrschaft ein Ende gesetzt. Das Vakuum wollte die Krone Aragón nutzen. Während der Regierung Alfons’ III. († 1291) blieben die außenpolitischen Aktivitäten Aragóns noch gemäßigt. Stärker begann eine weitere Phase expansiver aragonesischer Außenpolitik nach 1291, wie die Chronik des Ramón Muntaner eindrücklich belegt. Über diese Zeit informieren die Register der aragonesischen Kanzlei mit den überlieferten Briefwechseln und anderen Archivalien ausführlich.

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Raimundus Lullus († 1316)

Seit der Sizilianischen Vesper war die sizilische Frage für die Krone Aragón virulent, blieb aber noch längere Zeit unentschieden. Die Ansprüche Jakobs auf Sizilien waren nicht unangefochten, weil die Interessen der römischen Kurie und der Anjou ebenso eine Rolle spielten. Im Mai 1289 hatte Papst Nikolaus IV. († 1292) Karl, den Sohn Karls I., als Karl II. († 1309) zum König beider Sizilien gekrönt. Beim Tod seines Vaters 1285 war Jakob (II.), ein Enkel des Staufers Manfred, zunächst König von Sizilien geworden, sein älterer Bruder Alfons III. sollte in Aragón, Katalonien und Valencia, also in den Kernlanden, herrschen. Erst als Jakobs Bruder, Alfons III. von Aragón, im Juni 1291 starb, ergab sich eine neue Lage. Nun folgte Jakob II. seinem älteren Bruder in den Kerngebieten und setzte seinen jüngeren Bruder Friedrich III. als Statthalter auf Sizilien ein, der dort von 1296 bis 1337 herrschte. Die Ordnungszahl III. bedeutete wohl eine bewusste Anknüpfung an den Hohenstaufen Friedrich II. Aber der Streit um Sizilien zwischen Aragón und Anjou, der zugleich das Papsttum betraf, war damit noch nicht beigelegt, sondern erst mit dem Frieden von Caltabellotta (31. August 1302). Papst Bonifaz VIII. stimmte nun der Herrschaft des Aragonesen Friedrich III. zu, der schon am 25. März 1296 in Palermo gekrönt worden war. De iure sprach der Vertrag ihm auf Lebenszeit den Titel eines Königs von Trinacria (Inselsizilien) zu. Mallorca blieb zunächst weiterhin unabhängig. Es unterschied sich in den Herrschaftsstrukturen durch eine eigene Münze und durch weitere Aspekte von der Krone Aragón. Allerdings folgte auf König Jakob II. von Mallorca (1276–1311) nicht sein Sohn Jakob, der auf seine Erbfolge verzichtete und Franziskaner wurde, sondern Sancho (1311–1324). Es war eine komplizierte und zersplitterte Situation. Jedoch sollte man die Stellungnahme des Chronisten Ramón Muntaner nicht ganz beiseite wischen, es habe trotz aller Sonderwege in der Krone Aragón auch mit Mallorca und Sizilien eine gewisse einheitliche Grundrichtung der Politik bestanden. Schon die Herrschaft Jakobs II. bedeutete aber einen Höhepunkt der hegemonialen Stellung Aragóns im Mittelmeer, denn in seine Regierungszeit fallen weitere Expeditionen in den Osten. Die große Katalanische Kompanie (almogá­ vares) war 1303 nach Konstantinopel gekommen, installierte sich auf der Insel Gallipoli und eroberte schließlich 1311 Teile Griechenlands (Herzogtum Athen und Neopatras). Ob diese Expansion mit dem Verlust des Heiligen Landes und dem Fall von Akko 1291 zusammenhing? Aragón agierte also im Mittelmeer, und die Beziehungen zu Kastilien waren auch wegen der Thronfolge nach dem Tod Alfons’ des Weisen (1252–1284)3 belastet. 1291 wurden im Vertrag von Monteagudo mit Sancho IV. von Kastilien

Rahmenbedingungen: Die Krone Aragón und das Mittelmeer

Abb. 23: Dynastisches Schaubild der Könige von Aragón, Mallorca und Sizilien.

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Raimundus Lullus († 1316)

(1284–1295) die Einflusszonen der beiden großen hispanischen Reiche in Afrika abgesteckt. Marokko sollte für Kastilien, die weiter östlich liegenden Gebiete (Tunis, Bugía und Tlemcen im heutigen Tunesien und Algerien) für Aragón reserviert werden. Das Ziel der Krone Aragón, unter den iberischen Reichen allein am Mittelmeer zu herrschen, führte weiterhin zu Versuchen, Murcia der kastilischen Herrschaft abzuringen.

Jugend, Familie und religiöse Umkehr

In diese Welt hinein – die von den politischen Ambitionen der Krone Aragón und dem zeitweise eigenständigen Königreich Mallorca bestimmt war – wurde Raimund, Sohn eines katalanischen Ritters, 1232 in Palma de Mallorca geboren. Sein Vater hatte bei der Eroberung des damals muslimischen Mallorca geholfen. Über seine dabei gewonnenen Ländereien geben diverse Urkunden Auskunft.4 Die Lebensgeschichte Raimunds ist in einer Art Autobiographie (oft als Vita coaetanea bezeichnet) überliefert, die er gegen Ende seines Lebens (1311) wohl weitgehend selbst verfasste, die aber aus der Rückschau manches stilisierte und ebenso einige Lücken aufweist.5 Die Forschung zu seiner Person und seinem Werk dokumentiert eine an der Universität Mallorca gepflegte und ständig aktualisierte Datenbank.6 Raimund wuchs am aragonesischen Hof Jakobus’ des Eroberers auf, wurde Prinzenerzieher und pflegte die Dichtkunst. Aus seiner 1257 geschlossenen Ehe mit Blanca Picany gingen zwei Kinder hervor. Aber diese höfisch-literarische Lebensform endete abrupt im Jahr 1263. Die Vita coaetanea berichtet von einem Bekehrungserlebnis, das mit einer mehrfachen Vision verbunden war. Dort heißt es: Dabei begann er [noch in derselben Nacht] bei sich zu denken und nachzusinnen, welches wohl der Dienst wäre, der Gott am meisten gefallen würde. Und da schien es ihm, dass keiner Christo einen besseren und größeren Dienst erweisen könne als der, der ihm zu lieb und zu seiner Ehre Leben und Seele dahingebe. Und das könne geschehen, indem man die Sarazenen zu Christi Kult und Dienst bekehre, die so zahlreich die Christen von allen Seiten umgeben. Aber wenn er bei solchen Gedanken auf seine Person zurückkam, erkannte er, daß er zu solch großem Werk kein (genügendes) Wissen habe. […] Aber dann zog er wieder in Erwägung, daß er allein, selbst wenn der Herrgott ihm im Laufe der Zeit die

Jugend, Familie und religiöse Umkehr

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Abb. 24: Raimundus Lullus als Pilger (Mitte Rocamadour, rechts Compostela) nach einer Handschrift des Breviloquium.

Gnade verleihen würde, besagtes Buch zu verfassen, doch nur wenig oder gar nichts machen könnte, zumal weil ihm die arabische Sprache, die den Sarazenen eigen ist, gänzlich unbekannt war. Doch kam ihm hierüber in den Sinn, zum Papst zu gehen, auch zu den christlichen Königen und Fürsten.7

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Raimundus Lullus († 1316)

Viermal soll sich diese Vision wiederholt haben. Sie ergriff Raimund zunächst mit Angst, ließ aber dann den Entschluss zu einer radikalen Umkehr reifen. Lullus stellte sich in den Dienst des Glaubens, folgte künftig vor allem der franziskanischen Spiritualität und suchte zunächst Orientierung für seinen neuen Lebensweg auf Pilgerfahrten, die ihn unter anderem nach Rocamadour und nach Santiago de Compostela führten (Abb. 24). Fast lässt sich folgern, dass Pilgern hier, wie bis heute, fast idealtypisch Orientierung an einer besonderen Wende des Lebens gewähren sollte. Raimunds Wunsch, anschließend in Paris das notwendige Wissen zu erlangen, scheiterte auch deshalb, weil ihm der Dominikanergeneral Raimund von Peñafort († 1275) zur Missionsarbeit in Mallorca riet.

Sprachen – Mission – Bücher

Die folgenden Jahre (1265–1272) verbrachte Raimundus Lullus mit Studien und Spracherwerb. Vor allem lernte er Arabisch, eine Sprache, die er später hervorragend beherrschte. Das mallorquinische Umfeld mit fortbestehenden arabischen Traditionen dürfte dies gefördert haben. Der Sprachunterreicht war aber von inhaltlichen Fragen begleitet. So berichtet eine Episode, dass sein arabischer Sprachlehrer ihn in eine Diskussion über die Dreifaltigkeit und Inkarnation verwickelt und dass Lullus daraufhin muslimische Jenseitsvorstellungen lächerlich gemacht habe. Die Auseinandersetzung endete gewaltsam und der Muslim wurde eingesperrt, erhängte sich später. Auch kaufte er sich da selbst einen Sarazenen, mit dem er die arabische Sprache lernte. Später, nach neun Jahren, ereignete sich folgendes: als Raimund eines Tages abwesend war, beschimpfte der Sarazene den Namen Christi. Als Raimund zurückkehrte und es von denen erfuhr, die die Beschimpfung gehört hatten, schlug er […] den Sarazenen auf den Mund, auf die Stirn und überhaupt ins Gesicht. Der Sarazene aber ließ darob eine große Rachsucht bei sich aufkommen und begann seitdem im Geiste nachzusinnen, wie er seinen Herrn töten könne.8

Nach einem Kampf zwischen beiden, ließ Lullus den Widersacher in den Kerker werfen, aber er hatte auch Mitleid, weil er ihn ja die arabische Sprache gelehrt hatte. Nach Tagen des Gebetes „fand er, daß dieser mit eben dem Strick, mit dem er gefesselt gewesen, sich selbst erhängt hatte. Da sagte Raimund Gott fro-

Sprachen – Mission – Bücher

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Abb. 25: Raimundus Lullus und das Schicksal seines Arabischlehrers nach einer Handschrift des Breviloquium.

hen Dank, denn Gott hat ihm ja die Hände vom gewaltsamen Tode des Sarazenen rein bewahrt“9 (Abb. 25). Anhand dieser Episode wird oft erläutert, dass Lullus nunmehr zunehmend davon überzeugt war, dass nicht Gewalt, sondern nur Überzeugung und Dialog geeignet seien, um Andersgläubige für das Christentum zu gewinnen.10 Schon in dieser Zeit (1274) entstand sein großes Werk der Kontemplation (Liber magnus

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Raimundus Lullus († 1316)

contemplationis), in dem er fast alle Themen auch seiner späteren Schriften schon andeutet. Im gleichen Jahr soll Lullus auf dem Berg Randa in Mallorca die Idee zu einer Wissenschaft empfangen haben, die er die Kunst der Wahrheitsfindung nannte (ars inveniendi veritatem). Sie sollte vor allem dazu dienen, Muslime und Juden mit Gründen der Vernunft von der Überlegenheit des Christentums zu überzeugen. Dies führte Lullus zu seinem Plan, in diesem Geiste Missionare auszubilden. König Jakob II. von Mallorca († 1311) unterstützte Raimundus Lullus und half ihm schon 1275/76, ein Kloster in Miramar im Nordwesten Mallorcas zu errichten, wo sich dreizehn Franziskaner den Studien zu Sprache und Mission widmeten. In Lullus’ Roman Blanquerna wurde die Gründung literarisch verarbeitet. Dort ist von einer Bischofssynode die Rede, und dann heißt es: […] daß durch einen glücklichen Zufall ein Geistlicher zu dieser Synode kam, ein Mann von einer Insel im Meer, die Mallorca heißt, und dieser berichtete dem Bischof in Gegenwart aller, jene Insel gehöre einem edlen und hochweisen König mit Namen Jakob, König von Mallorca, und das sei ein König, geziert mit vielen guten Sitten, und er habe großen Eifer, es möchte doch Jesus Christus durch die Predigt unter den Ungläubigen geehrt werden. Darum habe er angeordnet, in einem Kloster, genannt Miramar, sollten dreizehn Minderbrüder die arabische Sprache studieren. Dieses Kloster sei an einem passenden Ort begründet und errichtet worden. Der König habe für alles Nötige zum Studium gesorgt. Wenn die Minderbrüder dann die arabische Sprache gut beherrschten, sollten Sie mit Erlaubnis ihres Generalobern zur Predigt ausziehen und unter den Ungläubigen die gebenedeite Frucht des jungfräulichen Leibes der heiligen Jungfrau Maria ehren und dieser Frucht zu Ehren Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Not und Tod erleiden. Diese Anordnung sei dort für immer getroffen worden.11

Der Papst bestätigte die Gründung im Jahre 1276. Das aus dieser Zeit stammende Buch vom Heiden und den drei Weisen, in dessen Erzählung sich Vertreter der drei monotheistischen Religionen mit Respekt begegnen, um über den rechten Glauben zu streiten, entstand vielleicht als eine Art Lehrbuch für die Studenten. Mit zahlreichen Ausgaben ist dieser Text heute fast zu einem Kultbuch geworden, um die Toleranz und den Respekt des Raimundus Lullus anderen Religionen gegenüber in den Vordergrund zu rücken. Sein Anliegen von Dialog und Mission legte Lullus ebenso literarisch nieder: Der schon genannte Roman

Reisender im Dienst der Wahrheit

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Blanquerna, das wichtigste Zeugnis der altkatalanischen Literatur, entwirft ein utopisches Szenario und damit wohl auch die Zukunftsvision Lullus’. Ein junger Mönch namens Blanquerna verlässt seine Familie und durchlebt einige Proben auf der Suche nach der spirituellen Perfektion, wird schließlich Abt und Papst und trifft dabei immer die richtigen Entscheidungen. Obwohl die Handlung mit einem Amtsverzicht des Papstes Blanquerna endet, ist wohl hierin keine direkte Anspielung auf die Abdankung Papst Coelestins V. (1295) zu sehen, denn der Roman dürfte früher verfasst worden sein. Über viele Seiten hinweg geht es aber um Klöster, in denen verschiedene Religionsgemeinschaften zusammenleben, weiterhin um die Bedeutung der Lateinschulen in den Städten, die helfen, dass alle das Lateinische als lingua franca nutzen könnten. Die Päpste sollten Botschaften unterhalten, Konferenzen oder andere Zusammenkünfte sollten Konflikte entschärfen. Diese und viele weitere Vorschläge zielen auf eine Verbesserung der Welt. Es wundert nicht, dass diese Gedanken seit dem 15. Jahrhundert von Humanisten und anderen aufgegriffen wurden.

Reisender im Dienst der Wahrheit

Eine Lücke in der autobiographisch bestimmten Vita lässt uns für die Jahre von 1276 bis 1287 weitgehend mit präzisen Informationen im Stich, die wir nur mit anderen Quellen sowie Hinweisen aus den Werken Lullus’ füllen können. Demnach könnte Lullus von 1276 bis 1281 im Kloster Miramar geblieben sein und dann Nordafrika, später auch Perpignan, Montpellier, Bologna und Rom besucht haben.12 In der Zeit von 1287 bis zu seinem Lebensende war Raimundus vor allem als Reisender unterwegs, verfasste daneben weiterhin zahlreiche Schriften: Montpellier, Paris, Genua, Pisa, Rom, Neapel, sowie das muslimische Nordafrika bleiben wichtige Ziele, an denen er sich teilweise mehrfach aufhielt. Der Verlust des Heiligen Landes nach dem Fall Akkos 1291 führte Lullus zu verstärkten Aktivitäten, um einer Bedrohung durch den Islam entgegenzuwirken. Nun schien er sogar einem Kreuzzug zuzuneigen. Mehrfache Versuche, bei den Päpsten zu intervenieren, dienten diesem Anliegen. 1292 ging es in seiner Bitte an Nikolaus IV. darum, die Ritterorden zu vereinen, die schismatischen Christen zu gewinnen und ggf. mit den noch nicht getauften Tartaren gegen die Muslime vorzugehen. Seine Bittschrift an Papst Nikolaus IV. von 1292 lautet in Auszügen folgendermaßen:

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Wie man das Heilige Land wiedererlangen kann. Der Herr Papst und die Kardinäle mögen veranlassen, dass aus dem Orden der Templer, der Deutschherren, der Brüder vom Heiligen Jakob von Uclés und von Calatrava ein einziger Orden werde und dass dieser Orden vom Heiligen Geiste heiße. Der Magister dieses Ordens soll mit seinen Brüdern die Grenze in [Klein-] Armenien halten. Aus diesem Orden soll auch als Herr zur See ein einziger Admiral sein, der sichere und bemannte Galeeren unterhalte und die ganze Küste von Armenien bis zum Barka Gebirge in Cyrenaika zerstöre und nicht zulassen, dass Christen den Sarazenen Hilfe bringen[,] noch dass Sie mit diesen Handel treiben. Überdies sei einer aus vorgenannten Orden Magister der Theologie. Dieser soll heilige und ergebene Männer aus seinem Orden um sich haben, die an einem Orte oder an mehreren Orten unentwegt verschiedene Sprachen lernen, nämlich arabisch, persisch, skytisch, seldschukisch und andere schismatische Sprachen. [...] Sie sollen auch geeignete Bücher besitzen, in denen notwendige Beweisgründe zur Unschädlichmachung aller Einwände seitens der Ungläubigen stehen. [...] Jene heiligen Männer aber mögen, soweit es in ihren Kräften steht, den Versuch zur Vereinigung der Schismatiker mit den Katholiken und zur Entkräftung ihrer schismatischen Ansichten machen; denn diese können leicht entkräftet werden. Wenn aber die Schismatiker mit dem katholischen Glauben wieder vereint sind, können die Tataren leicht gewonnen werden, denn sie leben ohne religiöses Gesetz. Und wenn die Schismatiker vereint und die Tataren bekehrt sind, können alle Sarazenen leicht zunichte gemacht werden. [...] Dazu mögen der Herr Papst und die Kardinäle den Kirchenzehnten bis zur Erlangung des Heiligen Landes freigeben. Und einer der Kardinäle sei Legat, der mit dem Magister des vorgenannten Ordens in vorbesagte Grenzlande geht und jenen Sold übergebe, wodurch er eine gewisse Anzahl von Fußsoldaten und Galeeren unterhalte. [...] Die Sarazenen haben beim Krieg gegen die Christen einen Vorteil; denn sie können vorrücken und sich zurückziehen. Die Christen können dies wegen zu schwerer Bewaffnung nicht. Doch haben die Christen gegenüber den Sarazenen einen Vorteil, wenn sie im Lager bleiben. Darum sollen die Christen eine doppelte Kampfweise entfalten, so dass sie in ihrem Heere in Kampfweise und Rüstung den Sarazenen ähnlich sind; und wenn sie die Sarazenen in die Flucht schlagen, können sie dann zu jenen zurückkehren, die das Lager halten. Auf diese Weise können die Sarazenen aus ihrem Lager vertrieben werden[...] Wenn aber diese hier dargelegte Heeresordnung in kurzer Zeit nicht eingeführt noch eine andere allgemeine als diese hier, die wir im nachfolgenden ausführen, so ist zu befürchten, dass die Ta-

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taren oder die Sarazenen das Land der Griechen gewinnen und dann Nachbarn werden. Das aber sei ferne für die Lateiner; denn es wäre eine große Gefahr.13

Neben seinem Brief an den Papst verfasste Lullus auch ein Werk, wie der Kreuzzug zu gestalten sei. Hier heißt es einleitend: Gott, in Deinem Namen beginnt die Abhandlung über die Weise, wie die Ungläubigen zu bekehren seien. Dem heiligsten Vater und höchsten Bischof sowie dem heiligen Kollegium seiner Brüder [Kardinäle] möge es gutdünken, diese Abhandlung entgegenzunehmen und sie sorgsam und allseitig zu betrachten. Sie ist angelegt von Raimund Lull, ihrem zwar unwürdigen Diener, der jedoch nicht abstand, in gutem Eifer für die Bekehrung der Ungläubigen eine geraume Zeit zu arbeiten. Diese Arbeit wird in sechs Teile geteilt: Der erste Teil handelt von der Kriegführung zur See, der zweite Teil von der Kriegführung zu Lande, der dritte Teil von der Weise des Bekehrungswerkes, [der vierte Teil] über die Gründe, warum das, was in dieser Abhandlung niedergelegt ist, geschehen müßte, [der fünfte Teil zeigt,] daß die Ungläubigen auf andere Weise zum Weg der Wahrheit nicht bekehrt werden können, [der sechste Teil behandelt] die Regelung [zur Bestreitung] der Unkosten […].14

Raimundus Lullus, der hier und in ähnlichen Schriften sein Interesse an diesen Projekten niederlegte, wiederholte sein Anliegen 1294 bei Coelestin V. und 1295 bei Bonifaz VIII. Für Clemens V., der erste Papst, der in Avignon residierte, war das Werk Liber de fine (= De expugnatione Terrae Sanctae) bestimmt, das die Konzeption für einen Kreuzzug enthielt. Auch die Disputation Raimundi Christiani et Homeri Saraceni fasst die wiederholt vertretenen Anliegen zusammen: Sprachunterricht in den orientalischen Sprachen, Fusion der Ritterorden, Verwendung des Zehnten für einen Kreuzzug. Mit diesen Vorschlägen reagierte Lullus natürlich auch auf den Verlust des Heiligen Landes. Die Ritterorden suchten neue Tätigkeitsfelder, die Johanniter fanden diese später in Rhodos und Malta, der Deutsche Orden in Preußen, aber dem Templerorden fehlten bis zu seiner Auslöschung 1314 offensichtlich neue Aufgaben. Lullus’ Versuche ordnen sich zugleich in eine Vielzahl von Schriften ein, wie man nach dem Verlust der letzten Bastionen im Heiligen Land neue Perspektiven entwickeln könnte.15 Lullus besaß gegenüber seinen sehr profiliert denkenden Zeitgenossen wie Pierre Dubois allerdings den Vorteil, dass ihn seine mallorquinische Heimat im Zu-

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sammenleben und in der Auseinandersetzung mit der muslimischen Welt praktisch vertraut gemacht hatte. Insofern fehlen bei ihm auch Bemerkungen zur Reconquista, der sogenannten Wiedereroberung in der iberischen Welt, nicht. So schrieb Christian Spinola aus Genua 1308 an den König Jakob von Aragón, Raimundus Lullus habe ihn dazu veranlasst, der Papst solle die verschiedenen Nationen dazu führen, gegen „das Gebiet der Sarazenen“, also das „Land des Königs von Granada, das heilige Kreuz zu nehmen“.16 Aber nicht nur die Rückeroberung, sondern auch die Predigt wurde sogar dem Laien Lullus in Katalonien zugestanden. So wurde auf königliche Order im Oktober 1299 dem „Magister Lull die Erlaubnis gewährt und erteilt, an den Sabbaten und Sonntagen den Juden in den Synagogen und an den Freitagen und Sonntagen den Sarazenen in den Moscheen zu predigen und […] die Wahrheit des katholischen Glaubens auseinanderzusetzen […]“.17

Werke

Lullus blieb in wissenschaftlicher Hinsicht eher Autodidakt. Seine Sicht Gottes und der Welt erschloss er zum Beispiel in den Symbolen des Kreises und des Dreieckes. Aber auch Darstellungen der Wissenschaften in Form eines Baumes wurden später als Titelholzschnitte für seine Werke verwendet. Dabei tragen Wurzeln wie pietas oder sapientia die Früchte an den Ästen des Wissenschaftsbaumes (Abb. 26). Sein Wissen führte er aber zugleich auf seine mystischen Visionen zurück. Lullus verfasste fast dreihundert Werke über Theologie und Philosophie, Grammatik und Mystik, Astronomie und Logik. Besonders hervorzuheben ist, dass nur wenige der Bücher in Latein geschrieben wurden, denn Lullus nutzte bewusst das Katalanische und übersetzte auch zahlreiche seiner Werke ins Arabische, weil er nur so die Möglichkeit sah, seine Ziele zu erreichen. Im Vordergrund stand die Vernunft, denn er glaubte, dass Anders- und Ungläubige mit Vernunftgründen für den christlichen Glauben zu gewinnen seien. Diese Grundhaltung zeigt sich auch bei seinen skizzierten Kreuzzugsplänen, die er den Päpsten präsentierte: Die friedliche Überzeugung des Glaubensgegners stand am Anfang seiner Bemühungen. Lullus gilt zugleich als Begründer der katalanischen Literatur, die er mit Poesie und dem Roman Blanquerna bereicherte.

Resignation und Tod

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Abb. 26: Raimundus Lullus, „der Baum der Wissenschaften“, Titelholzschnitt des gleichnamigen Buches. Wurzeln wie pietas (Frömmigkeit) tragen im oberen Teil entsprechende Früchte.

Resignation und Tod

Der durchschlagende Erfolg blieb lange Zeit aus. Seine Kontakte in die gelehrte Welt (unter anderem an der Pariser Sorbonne) waren wenig erfolgreich. Dies änderte sich erst zu Ende seines Lebens. Aus Bugia schrieb er an König Jakob II. von Aragón, dass er ihn um Unterstützung bei seinem Vorhaben bitte, das er nun Papst Clemens V. vortragen wolle.18 Im Spätsommer 1311 konnte er mit Empfehlungsschreiben des Königs von Frankreich, der Artistenfakultät und des Kanzlers von Paris zum Konzil von Vienne ziehen. Sein Anliegen goss er in die Form eines Dialogs, der eine Zwiesprache zwischen dem Kleriker Petrus und dem „Phantasten“ Raimund wiedergab.19 Schließlich setzte er wohl auf dem

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Raimundus Lullus († 1316)

Abb. 27: Das Grab des Raimundus Lullus in Palma de Mallorca.

Konzil von Vienne (1312) den sogenannten Sprachenkanon durch, womit an einigen Universitäten die Lehre von Hebräisch, Griechisch, Arabisch und Chaldäisch festgelegt wurde. Das große Gesamtziel blieb aber zu seinen Lebzeiten unerreicht. In den letzten Lebensjahren widmete er sich vor allem der Bekehrung von Muslimen in Mallorca, Messina und Nordafrika. Die Umstände seines Todes sind umstritten. Es wird vermutet, dass er 1316 entweder in Tunis oder auf der Schiffsreise nach Mallorca verstarb. Berichte über eine angebliche Steinigung sind nicht sicher überliefert. Er wurde jedenfalls in der Franziskanerkirche in Palma de Mallorca beigesetzt. Dort ist bis heute sein Sarg unter dem Gewölbe des Altarraumes (Abb. 27). Da die zahlreichen Werke Raimunds durchaus eigenwillig, teilweise auch in sich widersprüchlich waren, kam es dazu, dass Papst Gregor IX. 1376 Lullus zum Ketzer erklärte, seine Schriften verbot und verbrennen ließ. Es waren andere Personen, wie Nikolaus von Kues, die später seine Werke sammelten, rezipierten und weiterverbreiteten. Seine auf Mallorca bald einsetzende Verehrung wurde 1750 von Papst Benedikt XIV. bestätigt, 1847 erfolgte die Seligsprechung durch Papst Pius IX. Dieses rastlose Leben und der stete, wiederholte und unermüdliche Kampf für die als richtig angesehenen Ideale machen aus Raimundus Lullus auch eine

Schlüsselgestalt

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tragische Gestalt. Waren seine Vorstellungen für die Zeit verfrüht? Ohne Zweifel geht auch aus seinen Werken hervor, welch große Bedeutung er der Sprache, dem überzeugenden Wort, beimaß, und wie er Glaubensgegner durch Argumente überzeugen wollte. Blickt man allerdings auf die letzte Lebensphase, so scheinen diese – auf den Praktiken der Franziskaner aufbauenden – Versuche schließlich auch dem größeren Ziel untergeordnet, Jerusalem durch einen neuen Kreuzzug wiederzuerlangen. Seine Aktivitäten bis zum Ende seines Lebens lassen zugleich erkennen, wie seine Aktionsräume in Italien und Nordafrika in gewisser Weise auch den Expansionsräumen der Krone Aragón entsprachen. Insofern war Lullus ein Kind seiner Zeit, das den Expansionsprozess Aragóns in einer anderen Weise erläutern kann.

Schlüsselgestalt

Inwieweit kann Lullus aber als Schlüsselgestalt Spaniens gelten? Zumindest treffen wir in ihm eine weitere Facette zum großen Thema der mittelalterlichen iberischen Geschichte, dem Verhältnis von Christen, Juden und Muslimen. Die Ansätze, die gesamtkirchlich von den Bettelorden zur Bedeutung von Predigt und Vorbild (verbo et exemplo) seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts propagiert wurden, fanden bei Lullus eine neue Ausprägung, indem das Konzept der Überzeugungsmission durch Bildung und Sprachkenntnisse konkretisiert wurde. Man kann ihn als Laientheologen und autodidaktischen Universalgelehrten bezeichnen. Obwohl seine Werke zeitweise als ketzerisch galten, griffen spätere Gelehrte die Vorschläge Lullus’ vielfach auf, so Nikolaus von Kues († 1464) oder Gottfried Wilhelm Leibniz († 1716).20 Sein Heiligsprechungsverfahren konnte zu seinem 700. Todestag 2016 noch nicht abgeschlossen werden und ist noch anhängig. Raimundus Lullus erschließt aber weitere Aspekte: Nachdem unter anderem seit Alfons dem Weisen die Volkssprachen Galicisch und Kastilisch ihren Platz als Literatur- und Fachsprache zunehmend eroberten, gilt der Mallorquiner auch als Vater des Katalanischen, denn er schrieb nicht nur in Lateinisch und Arabisch, sondern auch zu einem großen Teil in dieser Sprache. Er steht damit für die heute wieder heftig diskutierte Sprachenvielfalt auf der Iberischen Halbinsel. Zugleich repräsentiert er den Aufbruch der Krone Aragón, die gerade in dieser Zeit über die Grenzen Spaniens hinaus agierte: in Südfrankreich, in Sizilien, in Nordafrika, ja sogar bis ins östliche Mittelmeer hinein. Lullus’ Reisen und Werke spiegeln diesen Prozess in sehr eindrücklicher Weise und unterstreichen, wie sehr gerade

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Raimundus Lullus († 1316)

die Krone Aragón zu dieser Zeit „Weltgeschichte“ schrieb, was Kastilien erst in späterer Zeit vergönnt sein sollte. Die besonders in Mallorca greifbare franziskanische Spiritualität – denken wir an den mallorquinischen Thronfolger Jakob, der anstatt König Franziskaner wurde – wird in Lullus deutlich. Damit setzte er auch etwas fort, was der heilige Franziskus selbst schon im Dialog mit dem Sultan Al-Kamil 1219 praktiziert haben soll.21 Aber war Lullus wirklich die Person, die Toleranz und Verständnis predigte? Bis heute dominiert dieser Aspekt in vielen Diskussionen, und Dialog wird grundsätzlich als etwas Positives angesehen. Jedoch bleibt ein Grundproblem, wenn man fragt, weshalb Religionen gestiftet wurden. „Religionen sind weder zu dem Zweck gestiftet worden, miteinander ins Gespräch zu treten, noch haben sie diese Fähigkeiten kultiviert. Durch ihre Religion unterscheidet eine Gemeinschaft sich gerade von anderen“22, bemerkt Jacques Waardenburg. Statt Gespräch gehe es eher um einen Wettkampf zwischen den Religionen. Dies trifft sich mit einem weiteren Befund, dass Religionsfriede im Mittelalter fast immer auf Dialogvermeidung beruhte.23 Der bis heute in den Würdigungen Lullus’ bestimmende Aspekt seiner Dialogkultur sollte zudem ergänzt werden um die Perspektive, dass hier eine neue Form von Mission angestrebt wurde, die den Laientheologen und Autodidakten fast zwischen Franziskanern – er gehörte dem dritten Orden an – und Dominikanern platzierte. Die neuen Formen der Überzeugungsmission, wie sie auch in der Neuzeit praktiziert wurden – in Ostasien oder Lateinamerika – fanden hier ihren Ausgangspunkt. Hinzu tritt sein Beitrag zu Theologie und Philosophie, der allerdings erst relativ spät gewürdigt wurde. Raimundus Lullus präsentiert sich mit vielen Facetten, er bezeichnete sich in dem genannten Dialog mit einem Kleriker als Phantasten. In vielen Phasen seines Lebens schien er allein geblieben zu sein. Ritter zu Beginn seines Lebens, Dichter, Philosoph und Menschenerzieher, aber auch Kämpfer und Utopist könnten ihn in verschiedenen Phasen seines Lebens charakterisieren. Erhard W. Platzeck antwortet mit folgender Charakterisierung: Lull, offenbar ein lebensoffener, pyknischer Typ, war ein durch und durch ritterlicher Mensch, ein zu hoher Lyrik fähiger Dichter, ein umsichtiger Pädagoge, ein findiger Methodiker, ein scharfsichtiger Magister artium im vollen Sinne des Mittelalters, anerkannt von Paris, Montpellier und Neapel, ein echt christlicher Philosoph, ein kühner Missionar, […], ein tiefgläubiger und betender Schriftsteller mit zu Herzen gehender Gedankentiefe. Er war ein überaus mutiger Einzelgänger in vielfacher Weise: Eremit zu Beginn, Mahner, Warner,

Schlüsselgestalt

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Lehrer, Missionar im weiteren Verlauf des Lebens und Märtyrer Christi zum Beschluß.24

War Lullus also eine Schlüsselgestalt Spaniens? Sein Wirken im Mittelmeerraum weist eher darauf hin, dass er besonders für die Krone Aragón steht. Damit wird zugleich deutlich, welche große Bedeutung diese Herrschaft und der Mittelmeerraum für die iberische Geschichte vor allem im späten Mittelalter besaßen.

Weiterführende Literatur Domínguez Reboiras, Fernando, P. Villalba-Varneda, P. Walter (Hg.): Arbor scientiae. Der Baum des Wissens von Ramon Llull. Akten des Internationalen Kongresses aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums des Raimundus-Lullus-Institutes der Universität Freiburg. 29. September–2. Oktober 1996, (Instrumenta Patristica et Medievalia 42, Subs. Lull. 1), Turnhout 2002. Friedlein, Roger: Der Dialog bei Ramon Llull: Literarische Gestaltung als apologetische Strategie (Beihefte zur Zeitschrift für romanischen Philologie 318), Tübingen 2004. Gómez Moreno, Ángel, Teresa Jiménez Calvente: Raimundo Lulio y Fernando el Católico, in: Klaus Herbers/Teresa Jiménez Calvente (Hg.): Spanien auf dem Weg zum religiösen Einheitsstaat (15. Jh.). España en el camino hacia un estado homogéneo en lo religioso (s. XV). Spain on its Way to Religious Unity (15th c.) (Wolfenbütteler Forschungen 168), Wolfenbüttel 2022, S. 179–202. Pindl, Theodor (Hg.): Raimund Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen, Stuttgart 2017. Stünkel, Knut Martin: Una sit religio: Religionsbegriffe und Begriffstopologien bei Cusanus, Lull und Maimonides, Würzburg 2013. Walter, Peter: Muss(te) Raimundus Lullus scheitern? Die Möglichkeiten des Religionsdialogs damals und heute, in: Klaus Oschema/Ludger Lieb/Johannes Heil (Hg.), Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im Mittelalter (Das Mittelalter, Beihefte 2), Berlin u. a. 2015, S. 50–68.

Anmerkungen 1 2

3 4

Vgl. Kapitel 6. Vgl. Klaus Herbers: Conclusiones, in: Gisela Drossbach/Gottfried Kerscher (Hg.): Utilidad y decoro. Zeremoniell und symbolische Kommunikation in den ‚Leges Palatinae‘. König Jacob III. von Mallorca (1337), Wiesbaden 2013, S. 205–212, S. 212. Vgl. Kapitel 8. Vgl. Erhard Wolfram Platzeck: Raimund Lull. Sein Leben und seine Werke, 2 Bände,

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Raimundus Lullus († 1316)

Düsseldorf 1962–1964, Bd. 1, S. 11–12; zu den gesicherten und erschlossenen Lebensdaten ebd. S. 16–41. 5 Die Vita liegt (zusammen mit einigen anderen Dokumenten) in deutscher Übersetzung vor: Erhard Wolfram Platzeck (Hg.): Das Leben des seligen Raimund Lull: Die „Vita coëtanea“ und ausgew. Texte zum Leben Lulls aus seinen Werken u. Zeitdokumenten, Düsseldorf 1964. 6 Literatur und Material sind zugänglich in den beiden Datenbanken: https://quisestlullus.narpan.net/de/chronologie und http://www.ub.edu/llulldb/index.asp?lang=en (zuletzt abgerufen am 08.04.2022). 7 Platzeck: Leben, S. 34 f. 8 Platzeck: Leben, S. 37 f. 9 Ebd. 10 Vgl. Eusebio Colomer: Raimund Lulls Stellung zu den Andersgläubigen. Zwischen Zwie- und Streitgespräch, in Bernard Lewis/Friedrich Niewöhner (Hg.): Religionsgespräche im Mittelalter (Wolfenbütteler Mittelalter Studien 4), Wiesbaden 1992, S. 217–236. 11 Joseph Solzbacher (Hg. und Übers.), Das Ave-Maria des Abtes Blanquerna, Paderborn 1954, S. 54 f. 12 Vgl. Platzeck, Raimund S. 17–22. 13 Platzeck: Leben, S. 93–97. 14 Ebd., S. 98. 15 Thomas Ertl: De Recuperatione Terrae Sanctae. Kreuzzugspläne nach 1291 zwischen Utopie und „Useful Knoweldge“. in: Klaus Oschema/Bernd Schneidmüller (Hg.): Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien (Vorträge und Forschungen 90), Ostfildern 2021, S. 283–312, S. 305–311. 16 Platzeck: Leben, S. 115. 17 Ebd., S. 111. 18 Vgl. ebd., S. 116 f. 19 Vgl. ebd., S. 122 f. 20 Ermenegildo Bidese/Alexander Fidora/Paul Renner (Hg.): Ramon Llull und Nikolaus von Kues: Eine Begegnung im Zeichen der Toleranz (Instrumenta Patristica et Mediaevalia 46, Subsidia Lulliana 2), Turnhout 2005. 21 Vgl. Amir Dziri/Angelica Hilsebein/Mouhanad Khorchide/Bernd Schmies (Hg.): Der Sultan und der Heilige. Islamisch-Christliche Perspektiven auf die Begegnung des hl. Franziskus mit Sultan al-Kamil (1219–2019), Münster 2021. 22 Jacques Waardenburg: Religionsgespräche. IV. Altgläubig – protestantisch und innerprotestantisch, in: Theologische Realenzyklopädie 28, ND 2006, S. 654–681, S. 654. 23 Vgl. Michael Borgolte: Hört zu, wir müssen reden! Über Begegnungen von Christen, Muslimen und Juden im Mittelalter, in: Dziri/Hilsebein/Khorchide/Schmies: Der Sultan, S. 7–38, S. 38. 24 Platzeck: Leben, S. 17 f.

Birgit Aschmann:

SCHLÜSSELGESTALTEN DER NEUZEIT

10. Isabella I. (1451–1504) Die Löwen-Königin und der Aufstieg Spaniens zur Weltmacht

Wenn eine Phase der spanischen Geschichte als „Schlüsselepoche“ bezeichnet werden kann, dann die Zeit, in der Isabella I. die kastilische Krone trug. Am Ende des 15. Jahrhunderts waren die Grundlagen dafür gelegt, dass Spanien für rund eineinhalb Jahrhunderte die dominierende Macht im europäischen Staatengefüge, wenn nicht gar der Welt wurde. Ein Imperium entstand, und die Umrisse des späteren Nationalstaats wurden erkennbar, wobei die einzelnen Territorien der Monarchie ihre eigenen Rechte behielten. Auch wenn der Erfolg von Isabellas Politik der Mitarbeit ihres Ehemannes, König Ferdinand von Aragón, bedurfte, so bleibt es doch faszinierend, dass es gerade eine Frau war, unter der sich dieser rasante machtpolitische Aufstieg Spaniens „zur bedeutendsten politischen Macht der damaligen Zeit“1 vollzog. Unterstützt von Ferdinand gelang es Isabella nicht nur, die konkurrierenden Machtansprüche kastilischer Adeliger in die Schranken zu weisen. Durch Zentralisierung und Bürokratisierung etablierte sie auch ein – gemessen an den Zeitumständen – relativ effizientes, frühabsolutistisches Herrschaftssystem, das die so verschiedenen Gebiete der Monarchie zusammenhielt und Ressourcen für eine bemerkenswerte Machtexpansion bereitstellte. Damit leitete Isabella Entwicklungen ein, die in anderen europäischen Ländern erst fünfzig bis hundert Jahre später einsetzten. Spanien, das der Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert so oft klischeehaft als rückschrittlich gilt, war damals als „Pionier“2 seiner Zeit weit voraus. Dabei vermitteln schon die Herrschaftstechniken der „Katholischen Könige“, wie der von Papst Alexander VI. verliehene Ehrentitel lautete, einen Eindruck von der bedrückenden Dialektik der Moderne. Die Maßnahmen staatlicher Effizienzsteigerung gingen nicht nur einher mit kriegerischer Expansion, sondern vor allem mit rigiden Exklusionsprozessen. Die staatliche Arrondierung war die Voraussetzung einer brutalen religiösen Homogenisierung: Juden und Muslime wurden zur Taufe gezwungen bzw. vertrieben und die „Rechtgläubigkeit“ mithilfe der neuen spanischen Inquisition durchgesetzt, auf deren Scheiterhaufen schließlich tausende „Häretiker“ bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Das Urteil über „Europas erste große Königin“3 muss daher so ambivalent ausfallen, wie es das Projekt der Moderne insgesamt war.

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Isabella I. (1451–1504)

Kindheit und Jugend: Der Weg zur Thronfolge

Am 22. April 1451 erblickte Isabella in Madrigal de las Altas Torres, einer kleinen Stadt 80 km nordwestlich von Ávila, das Licht der Welt. Sie war das erste Kind aus der zweiten Ehe des kastilischen Königs Johann II. mit der portugiesischen Königstochter Isabella. Als ihr Vater knapp drei Jahre nach ihrer Geburt starb, zog sich seine Witwe mit ihren Kindern Isabella und Alfons in die ihr testamentarisch zugesprochene kastilische Provinzstadt Arévalo zurück. Nachfolger Johanns II. wurde nunmehr Isabellas älterer Halbbruder Heinrich IV., der sieben Jahre verstreichen ließ, bevor er seine beiden Halbgeschwister an den Hof holte. In dieser Zeit der Zurückgezogenheit in Arévalo wurden die ersten Grundlagen von Isabellas Ausbildung gelegt. Was ihr hier inhaltlich vermittelt wurde, lässt sich nicht genau rekonstruieren, fest steht nur, dass sie Portugiesisch ebenso wie Reiten und traditionelle weibliche Handarbeiten lernte. Prägend dürften darüber hinaus die Kontakte zu ihrer politisch erfahrenen Großmutter Isabella von Braganza, der verwitweten Königin von Portugal, gewesen sein, die sich nicht zuletzt deshalb um ihre Enkelkinder kümmerte, weil sich deren Mutter – offenbar von Depressionen geplagt – immer weniger ansprechbar zeigte. Auch die Königin von Aragón, eine Tante Isabellas, hielt sich zwischenzeitlich in Arévalo auf, womit Isabella in frühen Kinderjahren verschiedene starke Frauenpersönlichkeiten als Vorbilder wahrgenommen haben dürfte. Aber nicht nur Begegnungen aus dem höfischen Umfeld formierten die Erlebniswelt Isabellas. Die Ausflüge in die nahegelegene Messestadt Medina del Campo und die Beobachtungen des dortigen Volkstreibens dürften hilfreich für die Entwicklung ihrer späteren Volkstümlichkeit gewesen sein. Von besonders dauerhaftem, wenn nicht lebenslangem Eindruck waren die Begegnungen mit den Franziskanern aus dem Kloster von Arévalo: Mehr noch als die Bildung, die die Mönche vermittelten, dürfte die Frömmigkeit, die diese Männer lebten, Isabella geprägt haben. Zeit ihres Lebens fühlte sie sich diesem Bettelorden verpflichtet: So wählte sie Beichtväter und Ratgeber aus diesem Kreis, setzte sich nachhaltig für eine Reform der Bettelorden ein und gründete nach der Rückeroberung in Granada ein Franziskanerkloster, in dem sie sich – gekleidet in den schlichten Habit einer Franziskanerin – nach ihrem Tod beisetzen ließ. Dabei stellte die Religion, die den Alltag der Menschen im 15. Jahrhundert bestimmte, ein Glaubenssystem bereit, dessen universalistischer Erklärungsansatz einen spezifischen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickeln ließ. Die heilsgeschichtlichen Überzeugungen waren in Kastilien seit

Kindheit und Jugend: Der Weg zur Thronfolge

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Abb. 1: Isabella I. von Kastilien (1451–1504), Porträt entstanden um 1490, von einem unbekannten Künstler vermutlich flämischer Herkunft.

langer Zeit eng mit den politischen Erwartungen an Land und König verquickt. Vermutlich wurde das mythische Geschichtsverständnis der späteren Königin Isabella schon in der Kindheit grundgelegt, welches sich durch die Überzeugung einer göttlichen Auserwähltheit Spaniens im Allgemeinen und der kastilischen Könige im Besonderen auszeichnete. In dem Bewusstsein, dass auch in ihren Adern das Blut von Helden, Monarchen und Heiligen fließe, kam sie 1461 mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder an den Hof von Heinrich IV. Dort wurde Isabella im folgenden Jahr Taufpatin des ersten Kindes des Monarchen. An dieses Kind hatte kaum noch einer glauben mögen: Von seiner ersten Gattin hatte sich Heinrich nach sieben kinderlosen Ehejahren scheiden lassen, jetzt waren nach der zweiten Heirat 1455 weitere sieben Jahre bis zur Niederkunft seiner zweiten Gattin vergangen. Diese lange Zeit hatte Zweifel an der Zeugungsfähigkeit des Königs aufkommen lassen. Diesbezügliche Gerüchte endeten auch mit der Geburt der Tochter Juana nicht.

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Isabella I. (1451–1504)

Zweifel scheinen nicht unberechtigt in Anbetracht offensichtlich homosexueller Neigungen des Monarchen sowie des Umstandes, dass die späteren Kinder seiner Gattin nicht von ihm stammten und seine eigenen Aussagen über die Tochter widersprüchlich blieben. Eine Beweiskraft kommt diesen Indizien natürlich nicht zu. Entscheidend war jedoch damals, dass schon der diskreditierende Zweifel die Stabilität der Monarchie bedrohte, indem er nicht nur die Sukzession, sondern die moralische Legitimation des Königs in Frage stellte. Dies kam manchen Adeligen Kastiliens schon deshalb gelegen, weil ihre Herrschaft umso mehr Raum gewann, je schwächer die Krone war. So fand sich schließlich eine Liga oppositioneller Adeliger, die mit Verweis auf das moralische Versagen des Königs diesen zu stürzen entschlossen war – geführt nicht zuletzt vom Erzbischof von Toledo, Alfonso de Carrillo, der drei Jahre zuvor die kleine Juana getauft hatte, deren legitime Geburt er jetzt in Abrede stellte. Am 5. Juni 1465 inszenierte diese Liga vor den Stadtmauern Ávilas ein Ritual der Königsentmachtung, indem sie eine – Heinrich IV. repräsentierende – Strohpuppe nach und nach der königlichen Insignien beraubte, bevor sie den elfjährigen Bruder Isabellas zum neuen König Alfons XII. ausrief. Da Heinrich dieser Revolte nicht tatenlos zusehen konnte, begann nunmehr ein Bürgerkrieg, der insofern vom jungen Alfonso als eine Art Kulturkrieg geführt wurde, als er demonstrativ für eine neue Sittlichkeit, also gegen die Heinrich nachgesagte Häresie, Blasphemie und „Sodomie“ (womit üblicherweise Homosexualität gemeint war) ins Feld zog. Isabella lebte inzwischen seit vier Jahren am Hof Heinrichs IV., mit dem sie gut auszukommen schien. Von gemeinsamen Abenden berichten die Chronisten, an denen Isabella getanzt und Heinrich gesungen habe. Ansonsten hielt sie sich – sehr bewusst, wie ratsam es war, das Decorum zu wahren – von allem fern, was den Anschein des moralisch Zwielichtigen hatte, war doch ein (nach Maßstäben der damaligen Zeit) moralisch fragwürdiges Verhalten längst zum Politikum geworden. In den ersten Monaten des Bürgerkriegs verhielt sich Isabella gegenüber Heinrich loyal. Erst als die Gefolgsleute von Alfons im September 1466 Segovia einnahmen und der Hof die Flucht ergriff, blieb Isabella und wechselte damit die Seite. Ursächlich war womöglich die Sorge um ihre Zukunft, hatte doch Heinrich zuvor über ihren Kopf hinweg ihre Hand einem Adeligen zugesagt, der ihm im Gegenzug für diese Verbindung dringend benötigtes Geld und Unterstützung im Krieg zugesichert hatte. Als der Prätendent auf der Anreise jedoch an schwerem Fieber erkrankte und starb, sah Isabella ihre Gebete erhört. Ein Indiz dafür, dass dieses drohende Heiratsschicksal eine Rolle

Die Hochzeit von 1469 und die Bedeutung Ferdinands von Aragón

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bei ihrem Seitenwechsel gespielt haben könnte, ist der Umstand, dass sie baldmöglichst ein Dokument unterschreiben ließ, in welchem ihr Bruder und seine Unterstützer zusagten, Isabella nicht gegen ihren Willen zu verheiraten. Drei Jahre währte dieser Krieg schon, als der vierzehnjährige Alfonso im Juli 1468 erkrankte und drei Tage später starb. Auch wenn die Chronisten Isabellas von einer Vergiftung ausgingen, scheint es ebenso wenig ausgeschlossen, dass der Jugendliche Opfer der Pest geworden war. Isabella verzichtete in diesem Moment darauf, die Nachfolge ihres verstorbenen Bruders zu reklamieren, sondern erklärte sich nach dessen Tod zur Erbin Heinrichs. Damit rückte sie von der kriegführenden Opposition insofern ab, als sie zwar die Legitimität von Heinrichs Tochter, nicht aber die von Heinrich selbst in Frage stellte. Dies bot offenbar eine auch für Heinrich akzeptable Kompromisslösung, so dass es im September 1468 zur Versöhnung zwischen Heinrich und Isabella kam. Während Isabella zugesichert wurde, dass sie die Nachfolge Heinrichs würde antreten können, versprach sie ihrerseits, nur in Abstimmung mit Heinrich eine Ehe einzugehen.

Die Hochzeit von 1469 und die Bedeutung Ferdinands von Aragón

Unklar ist, inwieweit Heinrich wirklich willens war, sich dauerhaft an seine Zusage zu halten. Isabella jedenfalls war es offenbar nicht. Zu wichtig schien ihr die Frage der eigenen Eheschließung, als dass sie ihrem Halbbruder die Entscheidung darüber hätte überlassen wollen. Wegweisend für die spanische und europäische Geschichte der Frühen Neuzeit wurde ihr Entschluss, sich gegen den Wunsch Heinrichs IV., der eine Verbindung Isabellas mit dem portugiesischen König Alfons anstrebte, auf Ferdinand, den Erbprinzen von Aragón, festzulegen. Andernfalls wäre es vermutlich zu einer portugiesisch-kastilischen und nicht einer kastilisch-aragonesischen Verbindung gekommen. Unter größter Geheimhaltung trafen Isabella und Ferdinand im Oktober 1469 in Valladolid erstmals aufeinander; einen festen Platz nehmen in allen Biographien die Erzählungen von dieser Begegnung ein, in der die 18-jährige, relativ große, dunkelblonde junge Frau erstmals ihren künftigen Gatten sah, der es auf sich genommen hatte, in die Rolle eines Maultiertreibers zu schlüpfen, um unbemerkt nach Kastilien reisen zu können. Fünf Tage nach diesem ersten Kontakt wurden Isabella und Ferdinand am 19. Oktober 1469 getraut. Nichts an dem durchaus ungewöhnlichen Leben von Isabella sei, so die amerikanische

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Isabella I. (1451–1504)

Historikerin Peggy Liss, dermaßen bemerkenswert wie die lebenslange Liebe und der wechselseitige Respekt, den die Eheleute seit ihrer ersten Begegnung füreinander empfunden haben sollen. Das ist schon deshalb so ungewöhnlich, weil der Entscheidung nicht persönliche, sondern dynastische bzw. innen- und außenpolitische Überlegungen zugrunde gelegen haben dürften. Womöglich war die Empfehlung des Toledaner Erzbischofs Carrillo ausschlaggebend, der zuvor Isabellas verstorbenen Bruder Alfons unterstützt und sich nunmehr hinter Isabella gestellt hatte. Sie selbst verwies in einem rechtfertigenden Schreiben an ihren Bruder nicht zuletzt auf die Territorien, die Ferdinand in die Ehe einbringen würde. Dies gilt als eines der wenigen Indizien dafür, dass Isabella schon früh damit liebäugelte, die beiden Königreiche Kastilien und Aragón zusammenzubringen. Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, dass das außergewöhnlich gute Verhältnis zwischen den Ehepartnern von entscheidender Bedeutung für das Gelingen von Isabellas Herrschaftsprojekten werden sollte. Ganz ohne Krisen verlief die Beziehung gleichwohl nicht: Gerade die Festlegung von Zuständigkeiten und die Zuweisung bzw. Begrenzung von Herrschaftsbereichen barg hinreichend Konfliktstoff. Doch in einer Verbindung von vertraglicher Festlegung und gelassener Praxis vermochten Isabella und Ferdinand eine Lösung zu finden, die beide zufriedenstellte. Dabei galt es zunächst, die aragonesischen Herrschaftsansprüche abzuwehren, wobei unklar bleibt, inwieweit dies auf Isabellas individuelles Machtbewusstsein oder vielmehr den Einfluss ihrer Ratgeber zurückzuführen ist, die ein persönliches Interesse daran hatten, die Ambitionen von Ferdinands Vater, Johann II. von Aragón, einzuhegen. Da Ferdinands Vater Johann II. bei einer grundsätzlichen Nichtanerkennung der weiblichen Thronfolge – wie dies in Aragón geltendes Recht war – aufgrund seiner Verwandtschaftsverhältnisse Ansprüche auf den kastilischen Thron anmelden konnte, lag den Rechtsberatern Isabellas daran, alle Zweifel an Recht und Vorrecht der kastilischen Königin auszuräumen. Während die Formulierungen des Ehevertrags von 1469 insoweit offen waren, als sich Ferdinand noch der Illusion hingeben konnte, de facto als Gatte Isabellas zum Herrscher Kastiliens zu werden, machten die vertraglichen Vereinbarungen nach dem Tod Heinrichs IV. diese Hoffnungen zunichte. In den vom königlichen Kastilienrat im Januar 1475 erlassenen Bestimmungen wurde festgelegt, dass allein Isabella die kastilische Krone und die Eidesleistung der Adeligen zustünden und dass allein sie für die Ernennung von Beamten und die Vergabe von Privilegien zuständig sei. Allerdings sollten die Eheleute gemeinsam Recht sprechen, wenn sie beisammen seien; bei vorübergehender Trennung sei

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jedoch jeder befugt, eigenständig zu entscheiden. Für die Beziehung war diese offizielle Zurücksetzung offenbar umso kritischer, als Ferdinand tief gekränkt reagierte, nachdem er erfahren hatte, dass Briefe zur Korrektur zurückgeschickt worden waren, wenn der König vor der Königin erwähnt worden war. Erneut drohte Ferdinand, Isabella zu verlassen. Erst als diese in Tränen ausbrach und versicherte, dass das alles nicht ihre Absicht, sondern die Schuld Carrillos gewesen sei, um schließlich zu beteuern, ohne ihn nicht leben zu können, lenkte Ferdinand ein. Fraglos wäre es ihm lieber gewesen, die Thronfolge wäre unmittelbar auf ihn übergegangen, doch ließ er sich von dem Argument überzeugen, dass der Ausschluss einer weiblichen Thronfolge zum Nachteil ihres bislang einzigen Kindes, der 1470 geborenen Tochter Isabella, sei. Den Tränen Isabellas kann die Authentizität nicht abgesprochen werden. Zugleich aber entsprach das Emotionsmanagement ihren Interessen, gelang es ihr doch geschickt, die Akzeptanz Ferdinands für die Bestimmungen von 1475 zu gewinnen. Dazu trug bei, dass sie auf symbolpolitischer Ebene kompensierte, was er auf der machtpolitischen eingebüßt hatte. So trat sie ostentativ gemeinsam mit Ferdinand auf und suggerierte durch zahlreiche Gesten den Eindruck völliger Gleichrangigkeit. Nicht zuletzt in der königlichen Emblematik schlug sich diese Verbundenheit nieder: So wurde das Joch (Yugo) zum Wappenzeichen Ferdinands, welches zum einen mit dem Anfangsbuchstaben auf „Ysabel“ verwies und zum anderen das Projekt ge­ meinsamer Bemühungen symbolisierte. Das nach der nationalen Durchsetzung ihrer Thronansprüche in Toledo gegründete Franziskanerkloster San Juan de los Reyes versinnbildlicht dieses Programm: Schon dass der ursprünglich geplante Namen „San Juan de la Reina“ (Heiliger Johannes der Königin) mit seinem ausschließlichen Bezug auf Isabella ersetzt wurde durch jenen auf „die Könige“ (de los Reyes), belegt Isabellas Bestreben, zusammen mit Ferdinand als Herrschaftspaar wahrgenommen zu werden. An zahlreichen Stellen ist der Leitspruch in den Stein der Klosterarchitektur gemeißelt: „Tanto monta“ – was in Kürze das Vorhaben auf einen Nenner brachte, Kastilien gemeinsam regieren zu wollen. „Tanto monta, monta tanto Isabel como Fernando“, lautete der Leitspruch, den Kardinal Mendoza für Isabella entworfen hatte. Auf dieser Basis fanden die Eheleute zu einem weitgehend ungetrübten Miteinander, das offenbar nur einmal ernsthaft beeinträchtigt schien, als Ferdinand in seinen ersten Ehejahren nicht realisiert hatte, dass Seitensprünge die Eintracht mit Isabella gefährdeten. Die beiden Kinder, die Ferdinand vor der Ehe mit Isabella gezeugt hatte, fanden eine durchaus gewogene Aufnahme am Hof. Die beiden Mädchen jedoch, die nach 1469 außerehelich geboren wurden, wurden schnell in ein Kloster gegeben, wo

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Isabella I. (1451–1504)

Abb. 2: Wanddekoration in der ursprünglich als Grabkapelle gedachten Klosterkirche San Juan de los Reyes in Toledo mit den Herrschaftssymbolen der Katholischen Könige.

sie erst nach Isabellas Tod erfahren sollten, wer ihr Vater war. Es ist die einzige Missstimmung zwischen Isabella und Ferdinand, die die Chronisten andeuten. Aus den Briefen, die sich beide im Laufe ihres Ehelebens zukommen ließen, ist eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts, aber auch der tiefempfundenen Zuneigung herauszulesen, die weit über das hinausging, was sich königliche Gatten der Zeit zu schreiben pflegten. Entsprechend drücken die in San Juan de los Reyes genauso wie in der Grablege in Granada, der Capilla Real, immer wieder in Stein gehauenen Initialen „F“ und „Y“ sowie die unentwegte Abfolge ihrer Wappenzeichen (Joch und Pfeilbündel) nicht nur ein spezifisches Herrschaftskonzept, sondern auch ein intensives Zusammengehörigkeitsgefühl aus. Das Wappenzeichen Isabellas, mittig gebündelte Pfeile, verwies auf ihren königlichen Anspruch, Recht zu sprechen, wurden doch Verbrecher noch mit Pfeil und Bogen exekutiert. Doch um die landesweite Durchsetzung der dieserart symbolisierten königlichen Autorität mussten die Könige zunächst lange Jahre kämpfen. Die Auseinandersetzungen begannen kurz nach ihrer Eheschließung 1469, die von Heinrich IV. als Aufkündigung des Bündnisses mit Isabella betrachtet

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wurde. So fand der Krieg, der von 1465 bis 1468 zwischen den Anhängern Alfons’ und Heinrichs ausgetragen worden war, nunmehr seine Fortsetzung. Ende 1473 waren die Kriegsparteien und insbesondere Isabella und Heinrich selbst kriegsmüde und versöhnungsbereit, aber das wechselseitige Misstrauen war so groß, dass nach den Einflüsterungen Carrillos, der inzwischen die Seiten gewechselt hatte und Heinrich von einem Ausgleich mit seiner Halbschwester abriet, die Feindseligkeiten schnell wieder aufflammten. Da Heinrich offenbar noch auf dem Sterbebett seiner Tochter Juana das Erbrecht zusprach, war die legitime Thronfolge keineswegs geklärt, als der König am 11. Dezember 1474 im Alter von 49 Jahren in Madrid starb. Umso mehr rieten die Parteigänger Isabellas, nicht lange zu zögern. So ließ sie sich zwei Tage später in Segovia zur Königin proklamieren und nahm den Treueeid der anwesenden Kleriker, Adeligen, Ritter und Mitglieder ihres Rates entgegen. Bemerkenswert an dem mit ihrem ausgeprägten Gespür für die Macht von Symbolen gestalteten Zeremoniell war das Schwert Ferdinands III., das – mit dem Griff nach oben – von einem Gefolgsmann Isabellas an der Spitze der Prozession vom Hauptplatz zurück zum Alcázar getragen wurde. Schon mit dieser Geste brachte Isabella ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, ihre Untertanen zu richten – was offenbar nicht nur Ferdinand zunächst für mit der Weiblichkeit der Herrscherin unvereinbar hielt. Vorerst aber war diese Demonstration wohl dahingehend zu deuten, dass sie bereit war, ihre Thronansprüche mit Waffengewalt zu verteidigen, zumal viele Anhänger Heinrichs IV. die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs in Abrede stellten. Ihre Chancen standen umso schlechter, als der portugiesische König Alfons V. entschlossen war, Juana zu heiraten und deren Thronrechte seinerseits mit Gewalt durchzusetzen. So wurde aus dem dynastischen Krieg ein zwischenstaatlicher Konflikt, indem Alfons im Mai 1475 an der Spitze seines Heeres die kastilische Grenze überschritt. Doch als am 1. März 1476 die Truppen Alfons’ bei Toro nach der einzigen offenen Feldschlacht dieses Krieges zurückwichen, gaben zumindest die spanischen Widersacher die Sache Juanas verloren. Zwar sollte sich der Friedensschluss mit Portugal noch bis 1479 hinziehen, aber in dieser Zeit setzten Isabella und Ferdinand bereits zu umfassenden Neuerungen in der kastilischen Innenpolitik an, die nicht zuletzt ursächlich dafür sind, dass in dieser Zeit die Geburt des modernen Spanien verortet wird.

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Isabella I. (1451–1504)

Die Zentralisierung der Herrschaft und das Selbstverständnis der Monarchin

Wegweisend waren die Resultate der ersten Versammlung, zu welcher 1476 die Cortes, die Stände, in die Geburtsstadt Isabellas einberufen wurden. Der bedeutendste Beschluss betraf die Einrichtung der Santa Hermandad (Heilige Bruderschaft), einer Institution, die Banditen und Wegelagerern das Handwerk legen und Handel und Verkehr wieder sicher machen sollte. Da diese zentral kontrollierte Ordnungskraft in die Kompetenzen von Städten und adeligen Jurisdiktionsbereichen eingriff, hatten sich Fürsten und Bürger zunächst gegen deren Einrichtung zur Wehr gesetzt. Das Geschick der Könige, das Vorhaben nun so zu lancieren, dass es wie eine Initiative aus dem Kreis der Cortes wirkte, trug zur Akzeptanz einer Institution bei, die letztlich ein erstes staatliches Sicherheitsorgan darstellte. Damit hatten die Könige eine Politik der Zentralisierung eingeleitet, welche die Regierung der überaus heterogenen Landesteile stärker vereinheitlichen sollte. Kastilien umfasste damals 385.000 Quadratkilometer bzw. zwei Drittel der Iberischen Halbinsel, auf denen rund 4,5 Millionen Menschen in jeweils durch Geographie und Klima regional sehr unterschiedlichen Verhältnissen mit divergierenden politischen Traditionen und Mentalitäten lebten. Nun entstanden die ersten Institutionen, die ihren Geltungsbereich auf ganz Kastilien ausdehnen sollten. Unter dem Namen Consejo de la Hermandad wurde eine oberste Ratsbehörde geschaffen, die neben den Consejo Real de Castilla trat, den aus dem 14. Jahrhundert stammenden königlichen Kastilienrat. Dieser erhielt in der zweiten Ständeversammlung von 1480 in Toledo neue Kompetenzen. Jene mit Hilfe der Repräsentanten der Städte gegen die Interessen des Adels durchgesetzten Beschlüsse waren Teil einer Strategie, die darauf zielte, die königliche Autorität gegenüber den Partikularinteressen der bedeutenden Adelsfamilien durchzusetzen, die über Jahrzehnte hinweg von der Schwäche des Königtums profitiert hatten. Es ging Isabella, wie sie in ihrem Testament von 1504 niederschrieb, um die „absolute königliche Gewalt“, die „poderío real absoluto.“4 Diesem Zweck dienten die verschiedenen im Laufe der Zeit eingerichteten Consejos ebenso wie die regionalen Gerichtshöfe, die – auf der Basis einer 1485 vorgelegten Rechtssammlung – zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung beitragen sollten. Aber so sehr die Bürger und ihre Städte von der Einhegung der adeligen Vorrechte zu profitieren schienen, so sorgten königliche Institutionen doch auch für eine enge Kontrolle ihrer Sphären. So wurden die Cortes, die sich mehr und mehr zum Sprachrohr der städtischen Interessen entwickelt hatten, nach 1480 immer seltener einberufen. Stattdessen brachten von der Königin ernannte Cor­

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regidores den monarchischen Willen gegenüber den Vertretern der Städte selbst in entlegenen Reichsteilen zur Geltung. In den Residenzstädten allerdings ließ es sich Isabella nicht nehmen, die Anliegen der Bevölkerung anzuhören und persönlich Recht zu sprechen. Das machte sie zum einen populär und trug zum anderen dazu bei, öffentlichkeitswirksam den Anspruch zu bekräftigen, unbestechlich die königliche Autorität in Gesetzgebung und Rechtspraxis durchzusetzen. Tatsächlich waren Respekt und Angst vor ihr wichtige Bestandteile des Ursachenbündels, das dazu führte, dass adelige und bürgerliche Untertanen die Maßnahmen der Könige akzeptierten. Das umfangreiche Reformprogramm wird von der Forschung als Versuch gewertet, „einen neuen und modernen Staat in Frieden und Gerechtigkeit“5 zu etablieren. Dieses Programm wiederum basierte auf einem spezifischen Herrschaftsverständnis Isabellas. Isabellas Verhalten erklärt sich dabei nicht nur aus einem sicheren Gespür für das situativ Mögliche, Sinnvolle und Machbare. Vielmehr ist es auf ein Herrschaftsverständnis und ein Selbstbild zurückzuführen, welche sich aus einer Mixtur von (höchst selektiven) historischen Kenntnissen, persönlichen Überzeugungen und tradierten Wissens- und Glaubensbeständen der damaligen kastilischen Gesellschaft speisten. In deren Zentrum stand eine Überhöhung einerseits Spaniens und andererseits der eigenen Person. Beidem wurde eine universal- bzw. heilsgeschichtlich herausragende Position zugeschrieben. Dass Spanien eine besondere Rolle zukomme, war seit Isidor von Sevilla Teil eines elitären spanischen Selbstverständnisses, schließlich – so die Annahme – habe Spanien Israel als das von Gott auserwählte Volk abgelöst. Die privilegierte Stellung ergebe sich schon aus der Abstammung der Spanier, welche über Herkules direkt bis zu Noah zurückreiche. Die spanische Lesart der Prophetien des Alten Testaments, insbesondere der Bücher Daniel und Ezechiel, und der apokalyptischen Visionen der Offenbarung des Johannes führten zu dem Glauben, dass in Spanien der ultimative Kampf gegen den Antichristen stattfinden werde, dessen Erscheinen der Wiederkehr Christi vorausgehen müsse. Dass Isabella den Heiligen Johannes als Schutzpatron wählte, eben jenen Jünger Jesu, dem damals noch sowohl das Johannesevangelium als auch die Offenbarung zugeschrieben wurden, kann als weiteres Indiz für ihre Verpflichtungsgefühle gegenüber der Apokalypse gesehen werden. Der in ihrer Emblematik so ubiquitäre Adler war daher nicht allein ein Zeichen monarchischer Macht, sondern (in der Tradition der bis in die Antike zurückgehenden Ikonographie) zugleich ein Verweis auf den Evangelisten und dessen Schriften. Zudem gründete sich das Selbstverständnis Isabellas auf die Verheißungen eines kastilischen Epos aus dem Jahr 1260, wonach aus der Höhle des Herkules

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einst ein kastilischer „Löwen-König“6 kommen werde. Ihm sei es gemeinsam mit seinen Söhnen vorbehalten, nach der Niederringung der Feinde Gottes innerhalb Spaniens im Anschluss daran Afrika und Asien zu besiegen, um schließlich Jerusalem zu befreien. Nachdem diese Prophetien schon auf den Vater Isabellas bezogen worden waren, deutet viel darauf hin, dass sie in sich selbst die verheißene Königsgestalt wahrnahm, sich aber vor allem dem apokalyptischen Programm verpflichtet fühlte, der Wiederkehr Christi durch die Bekämpfung seiner Feinde den Boden zu bereiten. Dafür war sie bereit zu kämpfen – wie Johanna von Orléans. In einer Chronik über die französische Heilige, die im Besitz von Isabella war, fanden sich Widmungsworte, in denen Isabella mit der Heiligen verglichen wurde: So wie die Jungfrau die französische Krone erlöst und wiederhergestellt habe, könne auch eine mächtige und hervorragende spanische Königin verlorene Königreiche wiedergewinnen. Sich innerhalb der heilsgeschichtlich relevanten Rolle Spaniens eine prominente Position zuzuschreiben war für Isabella aber auch deshalb von immenser Bedeutung, weil ihre dynastische Legitimität nicht über jeden Zweifel erhaben war. Schließlich hatte Heinrich noch kurz vor seinem Tod auf seine Tochter Juana verwiesen, die sich selbst als die legitime Nachfolgerin betrachtete und wichtige Dokumente mit „Yo la reyna – Ich, die Königin“ unterzeichnete.7 Die Rigorosität, mit welcher Isabella im Friedensvertrag mit Portugal 1479 darauf bestand, Juana auszuschalten und in einem Kloster zu isolieren, verrät, welche Gefahr sie fürchtete. Gerade in den Jahren nach ihrer Hochzeit mit Ferdinand bis zum Friedensschluss mit Portugal 1479 war die Legitimität von Isabellas Thronfolge umstritten, zumal zu den dynastischen noch moralische Zweifel laut geworden waren: Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die päpstliche Bulle, die den notwendigen Dispens für die Heirat von Isabella und Ferdinand wegen des hohen Verwandtschaftsgrades überbrachte, eine Fälschung gewesen war, zögerte Heinrich nicht, seine Halbschwester als „Konkubine“ zu diskreditieren, so wie diese ihrerseits über Heinrichs Tochter Juana nur als „la Beltraneja“ (also als Tochter von Don Beltrán und eben nicht Heinrich) schreiben ließ. Erst drei Jahre nach der Hochzeit erhielten Isabella und Ferdinand rückwirkend die Genehmigung des Papstes. In dieser Zeit war es umso wichtiger, die Adeligen Kastiliens nicht nur durch materielle Zuwendungen zu gewinnen, sondern vor allem durch eine überzeugende Legitimationsstrategie. Entsprechend war erst die Auseinandersetzung mit Heinrich, dann die mit den Anhängern Juanas zu einem Kampf um die öffentliche Meinung geworden, wie es ihn in Kastilien noch nicht ge-

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geben hatte. Dies dürfte zusätzlich dazu beigetragen haben, dass sich bei Isabella ein Gespür für populäre Tendenzen ausprägte, zumal sie zudem bereit war, sich hinsichtlich eines „angemessenen“ Verhaltens beraten zu lassen. Dies schien ihr bezeichnenderweise gerade in dem Moment wichtig, als ihre machtpolitische Situation sich nach dem Sieg über die Anhänger Juanas konsolidiert hatte. So bat sie ihren Beichtvater Hernando de Talavera erst 1476 und später 1481 erneut um Rat, woraufhin dieser ihr einen Text an die Hand gab, der so etwas wie ein „Königinspiegel“ war und viele Ratschläge für „richtiges“ Verhalten enthielt.8 Tatsächlich ist der Einfluss, den ihre Beichtväter auf sie ausübten, kaum zu überschätzen. Keiner dieser Kleriker scheint so bedeutsam gewesen zu sein wie Kardinal Pedro González de Mendoza, der ihr von 1472 bis zu seinem Tod 1495 als steter Begleiter und engster Ratgeber kaum von der Seite wich. So dürften die innenpolitischen Maßnahmen nicht zuletzt auf die Initiativen von Mendoza und Talavera zurückzuführen sein. Für ihr religiöses Sendungsbewusstsein jedoch brauchte sie die Kleriker nicht. Sie mochten sie darin bestärkt haben, aber die Grundzüge dürften schon viel früher angelegt worden sein. Zu diesen Grundzügen zählte die Bereitschaft, mit aller Gewalt gegen die vermeintlichen Feinde des Glaubens vorzugehen, wozu sie sich gemäß der Tradition der spanischen Reconquista verpflichtet sah. Dass das nicht nur Pflicht, sondern auch opportun war, weil sich mit dem Hinweis auf Heinrichs vermeintliche Nachlässigkeit im Umgang mit Juden und Mauren während des Bürgerkrieges Anhänger gewinnen ließen, dürfte die Vehemenz noch zusätzlich forciert haben, mit welcher Juden, Muslime und Conversos, also zum Christentum übergetretene Juden, als „Glaubensfeinde“ bekämpft werden sollten. Jedenfalls sollten die Könige ihr militärisches Potential gegen diese Gruppen richten, sobald der Krieg um den Thron gegen die Anhänger Juanas und insbesondere gegen Portugal mit dem Vertrag von Alcáçovas 1479 beendet worden war und Ferdinand die Nachfolge im Königreich Aragón angetreten hatte. Im Kampf gegen die religiösen Minderheiten schufen Isabella und Ferdinand auch eine Institution, die dauerhaft die Ambivalenz in der historischen Beurteilung ihrer Herrschaftszeit begründen sollte: die Inquisition.

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Die Genese der spanischen Inquisition zeigt, wie untrennbar religions- und machtpolitische Aspekte ineinander verwoben waren. So lag dieser Institution der Wunsch zugrunde, sowohl eine religiöse Orthodoxie als auch die monarchi-

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sche Autorität durchzusetzen. Insofern ist es kein Zufall, wo das Inquisitionsgericht das erste Mal zuschlug: in Sevilla. Die andalusische Stadt war damals mit 45.000 Bewohnern die bevölkerungsreichste ganz Kastiliens und wegen des großen, zum Atlantik hin gelegenen Hafens ein bedeutendes Handels- und Finanzzentrum, in dem sich Einwohner unterschiedlichster Herkunft niedergelassen hatten. Die Randlage der Frontier-Stadt, fernab vom kastilischen Machtzentrum, abseits des kastilischen Erbfolgekrieges, aus dem sich der Süden Spaniens weitgehend herausgehalten hatte, und nahe der Grenze zum maurischen Herrschaftsbereich von Granada, hatte dazu beigetragen, dass sich hier eine relativ offene Gesellschaft entwickeln konnte, auf welche die Könige umso weniger Einfluss hatten, als hier die konkurrierenden Herzöge von Cádiz und MedinaSidonia das Sagen hatten. Neben Genuesen, Florentinern, Bretonen, Engländern und Katalanen gab es hier auch gut sichtbare Kommunitäten von Juden und Muslimen. Größer noch war die Anzahl der Conversos. Mehr als 2.500 sogenannte neue Christen lebten hier, über welche die Gerüchte umgingen, dass sie nicht nur zahlreicher und mächtiger als in anderen Teilen Kastiliens seien, sondern auch weniger glaubensfest und in auffälliger Weise noch mit den traditionellen jüdischen Riten vertraut. Da diese Conversos zumeist Familien entstammten, die in den Pogromen von 1391 und 1410 die Taufe nicht aus Überzeugung, sondern aus Todesangst angenommen hatten, war die Vermutung plausibel, dass sich viele nach wie vor dem Judentum verbunden fühlten. Doch bedurfte es des Zusammenfließens diverser Faktoren, dass diejenigen, die nun verdächtigt wurden, vom Christentum wieder heimlich abgefallen zu sein, in die Fänge der Inquisition gerieten, die ebenso bürokratisch wie erbarmungslos die „Reinheit“ des Glaubens sicherstellen sollte. Dazu zählte zunächst die Annahme, dass aus dem Keim jüdischer Häresie zugleich der Widerstand gegen die monarchische Autorität hervorgehe. So hatte sich der Herzog von Medina-Sidonia bei seinem Protest gegen die Santa Hermandad offenbar auf einflussreiche Conversos stützen können. Eine derartige politische wie religiöse Unzuverlässigkeit war aber gerade angesichts der Nähe der beiden Königreiche Portugal und Granada (als islamischem Herrschaftsgebiet) höchst unerwünscht. Also ließ Isabella zunächst die Ländereien derjenigen Conversos einziehen, die in der Auseinandersetzung über die Thronfolge den portugiesischen König unterstützt hatten. Derartige Entrechtungsmaßnahmen riefen bei der Gemeinschaft der „alten“ Christen umso mehr Zustimmung hervor, als ihre Vorbehalte gegen die zum Teil sehr wohlhabenden, mächtigen Conversos aus Neid und Missgunst massiv gewachsen waren und sie

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nun die Chance witterten, deren Einfluss zu schmälern, wenn nicht zu eliminieren. Indem Isabella sich diese Erwartungen zunutze machte, konnte sie ihre Popularität in weiten Teilen der Gesellschaft ausbauen, zumal ihr Vorgehen mit ihrem Anspruch einherging, das Christentum zu stärken. So waren es an erster Stelle wohl die theologischen bzw. religionspolitischen Argumente, die Isabella für die Inquisition einnahmen. Dass diese bei ihr besonders fruchteten, dürfte wiederum mit dem kontingenten Faktor zu tun haben, dass diejenigen Kleriker, die sich für die Inquisition einsetzten, ihr besonders nahestanden. Besonders lautstark sprachen sich die Dominikaner in Sevilla für das neue Glaubensgericht aus. Durch die Verbreitung der Thesen, wonach die Conversos heimliche Juden seien, die das Bildnis Jesu beleidigen und christliche Kinder kreuzigen würden, schürten sie den Unmut der Bevölkerung gegen diese Bevölkerungsgruppe. Dass Isabella 1477 als Laienschwester dem Dominikanerorden beitrat, belegt ihre Nähe zu diesem Orden. Eine weitere Schlüsselrolle dürfte der Beichtvater von Ferdinand, Tomás de Torquemada, gespielt haben, der Isabella schon als Prior des Dominikanerklosters Santa Cruz in Segovia begegnet war. Es war dieser Dominikaner, der wenige Jahre später als Generalinquisitor Spaniens für den Verbrennungstod zahlreicher vermeintlicher Häretiker verantwortlich sein sollte. In Anbetracht der Tatsache, dass die soziale Gruppe der Con­ versos zur Zielscheibe der neuen Institution wurde, mag zunächst der Umstand erstaunen, dass die lautstärksten Befürworter der Inquisition ihrerseits aus Con­ versos-Familien stammten. Sowohl Torquemada als auch Hernando de Talavera, der langjährige Beichtvater Isabellas, hatten jüdische Vorfahren. Ausgerechnet letzterer lieferte mit theologischen Ausführungen das argumentative Rüstzeug für eine Institution, die ihm am Ende seines Lebens selbst zum Verhängnis werden sollte. Im Jahre 1481 legte der Hieronymitenmönch seiner Königin eine Abhandlung vor, um welche sie ihn – ähnlich wie 1476 – gebeten hatte. Hernando warnte vor dem (nahen) Tag der Rache, an dem Gott das Gute vom Bösen scheiden werde, weshalb der Mensch angehalten sei, sich unentwegt um Perfektion und Erlösung zu bemühen. Toleranz gegenüber Glaubensfeinden dürfe es dabei nicht geben. Die einstmals gottgefälligen Juden hätten sich durch ihre Weigerung, den Messias anzuerkennen, als Anomalien der Geschichte erwiesen, die der Wiederkehr Jesu im Wege stünden, zumal allgemein angenommen wurde, dass mit dieser erst zu rechnen sei, wenn die Welt von Juden und Häretikern befreit wäre. Diejenigen Neuchristen, die den Herrn erkannt hätten und aufrechte Christen geworden seien, müssten geachtet werden, wer aber von ihnen heimlich den jüdischen Riten treu bleibe, sei vom Teufel gelenkt und verdiene den Tod.9

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Der Schlüssel zum Verständnis, warum sich Talavera – wie auch Torquemada – für einen derart harten Umgang mit den „schlechten“ Neuchristen aussprach, liegt darin, dass gemäß dieser Logik die „guten“, aufrichtigen Neuchristen (und damit sie selbst sowie unzählige andere Conversos von Rang und Namen) integraler Bestandteil der christlichen Gemeinschaft blieben. Damit setzten sie sich gegen Auffassungen zur Wehr, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts immer mehr Raum gegriffen hatten, wonach schlichtweg alle Conversos als Krypto-Juden gelten müssten. Damit schlich sich ein proto-rassistisches Denken in die anti-jüdische Propaganda ein, welches sich in den Statuten der „Blutsreinheit“ (Limpieza de sangre) niederschlug. Ein solches Statut, das wichtige Positionen von Staat, Stadt und Kirche denjenigen vorbehielt, die einen judenfreien Stammbaum nachweisen konnten, war erstmals von den Vertretern der Stadt 1449 in Toledo erlassen, jedoch von Kirche und König noch strikt zurückgewiesen worden. Es zeugt von der Eigendynamik des Kampfes gegen vermeintliche Glaubensfeinde, dass sich entgegen der traditionellen Überzeugung von Papst und Königen, wonach der aufrechte Glaube an der Gesinnung und nicht an der Herkunft zu erkennen sei, mehr und mehr eine Haltung durchsetzte, die alle Conversos unter Generalverdacht stellte. So wurde dem Hieronymitenorden 1486 zwar noch von Isabella und Ferdinand untersagt, durch ein Statut der Limpieza de sangre die Conversos aus dem Orden auszuschließen. Zehn Jahre später hingegen wurde dies durch eine Bulle von Papst Alexander VI. genehmigt. Andere Orden und Diözesen übernahmen diese Regel, bis schließlich im Jahre 1547 die Nachfahren von Conversos aus sämtlichen religiösen Orden Spaniens ausgeschlossen wurden. Auch wenn diese Entwicklung erst lange nach Isabellas Tod ihren Höhepunkt erreichte, steht außer Frage, dass das Verhalten der Monarchen erheblich zur Ausgrenzung der Conversos beigetragen hatte. Wie weit sich die Herrscher von Isabellas ursprünglicher Ansicht entfernt hatten, zeigen die Bestimmungen von 1501, die das Prinzip der Limpieza de sangre in die Regierung einführten: Weder Söhne noch Enkel von Conversos durften fortan einen Sitz im Königlichen Rat innehaben, die Nachkommen der zum Verbrennungstod verurteilten Inquisitionsopfer sollten prinzipiell kein öffentliches bzw. königliches Amt bekleiden können. Zwanzig Jahre nach dem ersten Auto de fe, das im Februar 1481 in Sevilla stattgefunden hatte, war die Idee einer individuellen Seelenrettung einer Praxis kollektiver Stigmatisierung gewichen. Dabei hatten die Könige schon 1478 die päpstliche Genehmigung zur Einrichtung einer Inquisitionsbehörde erhalten. Dass zwei Jahre vergingen, ehe das erste Gerichtsverfahren geführt wurde, dürfte

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daran gelegen haben, dass Isabella und Ferdinand kein Interesse daran hatten, ein Inquisitionsverfahren mittelalterlicher Tradition zu installieren, das dem Papst zentrale Befugnisse zugestanden hätte. Vielmehr gelang es ihnen, in diesen beiden Jahren die Weichen für ein Verfahren zu stellen, das – mit päpstlichem Einverständnis – den spanischen Monarchen derartige Vorrechte beließ, dass aus der eigentlich kirchlichen Institution im Kern ein Instrument monarchischer Herrschaftspraxis wurde. Dabei war die päpstliche Konzessionsbereitschaft höchst irdisch motiviert: Der Papst war auf die Unterstützung Isabellas und Ferdinands im Kampf gegen Frankreich angewiesen. Auch bei der nunmehrigen Einrichtung der Inquisition waren Bürokratisierung und Zentralisierung als vorherrschende Leitprinzipien erkennbar, wurde der 1488 gegründete Consejo de la Suprema y General Inquisición doch zu der einzigen Behörde, in der sowohl die aragonesischen als auch die kastilischen Angelegenheiten zusammenliefen. So wurde ausgerechnet die Inquisition zum institutionellen Keim eines spanischen Einheitsstaates. Vor der Einrichtung der Inquisition berief Isabella zunächst eine Kommission, die sich mit der religiösen Lage der Conversos in Sevilla auseinandersetzen und nach Wegen suchen sollte, die angeblich Wankelmütigen zu aufrechten Christen zu machen. Deren Arbeit konzentrierte sich darauf, Rituale zu benennen, die den Verdacht begründen könnten, von Juden praktiziert zu werden, sowie auf die Festschreibung von Verhaltensweisen, anhand derer ein wahrer Christ zu erkennen sei – was letztlich einer an äußerlichen Kultformen orientierten Frömmigkeitspraxis Auftrieb gab. Wer im Geruch stand, den Sabbat zu respektieren, zu wenige Heiligenbilder im Haushalt hatte oder gar Juden zur Unterweisung von Familienangehörigen ins Haus kommen ließ, geriet leicht in die Fänge der Inquisitionstribunale. Diese wurden von Inquisitoren geleitet; die ersten, die im September 1480 in Sevilla ernannt wurden, waren zwei Dominikaner aus Kastilien. Sie reagierten auf Denunziationen, wobei die Angeklagten nicht erfahren durften, wer sie beschuldigt hatte. In den nicht-öffentlichen Verhandlungen hatten letztere keinen Rechtsbeistand, ausgeklügelte Foltermethoden sorgten allzu oft für Geständnisse, die den Erwartungen der Folterknechte entsprachen. Es gab nur wenige Personen im Umfeld der Königin, die diese Institution und ihr Vorgehen offen missbilligten. Zu ihnen gehörte der Chronist Fernando del Pulgar, der es für klüger hielt, unwissende Menschen zu belehren, anstatt sie zu verbrennen. Doch auch er hütete sich bald, die Inquisition öffentlich zu verurteilen, weil dies als Kritik an der Königin galt. Dass bei den Inquisitionsverfahren auch Unschuldige betroffen sein könnten, räumten

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die Mitarbeiter der Inquisitionsbehörde bereitwillig ein, gewannen aber Isabellas Zustimmung mit der Argumentation, dass dieser Schaden geringer sei, als wenn religiöse Abweichungen geduldet würden, welche die wahre Doktrin ernsthaft gefährden könnten. Schließlich stünde auch in der Bibel, dass es besser sei, mit weniger Gliedmaßen als gar nicht in das Himmelreich zu gelangen. Daher gelte es, mit unbarmherziger Gründlichkeit den sozialen Körper zu reinigen und von allen Infektionsquellen zu befreien. Zudem fügte sich die Argumentation in die apokalyptische Weltsicht, die auch Isabella teilte, wonach die aktuelle Säuberung Teil des endzeitlichen Kampfes zwischen dem „Guten“ und „Schlechten“ sei, in welchem Spanien eine besondere Rolle spiele. Der Gnade Gottes aber werde die Welt erst dann teilhaftig, wenn die schlechten Menschen ausgerottet seien. Außerdem wurde als Argument für die Inquisition ins Feld geführt, dass diese grundsätzlich dazu diene, Respekt und Angst vor Gott und den Königen zu verbreiten. Tatsächlich arbeiteten kirchliche und staatliche Stellen bei der Inquisition Hand in Hand: Das Gerichtsverfahren lag nominell in der Verantwortung der Kirche, während der Staat für die Durchführung der Strafmaßnahmen zuständig war. Keineswegs alle Verfahren endeten dabei mit dem Tod. Minderschwere religiöse Vergehen konnten durch Rituale der Buße gesühnt werden, zu welchem Zweck bald unzählige Bürger in Massenprozessionen durch spanische Städte geführt wurden: Barfuß, barhäuptig, zum Teil im Sanbenito, dem stigmatisierenden Büßergewand, und mit einem Spitzhut auf dem Kopf wurden die Verurteilten durch die Straßen getrieben, in Toledo die Frauen nackt, selbst bei klirrender Kälte. Schwere Verfehlungen und Uneinsichtigkeit wurden allerdings mit dem Verbrennungstod bestraft. Gerade in den ersten Jahren gingen die Inquisitionsgerichte mit unerbittlicher Härte ans Werk. Die Gesamtzahlen der auf den Scheiterhaufen Hingerichteten werden seit langem in der Historiographie kontrovers diskutiert. Gerade aus der Anfangszeit fehlen Unterlagen, so dass die Schätzungen z. T. weit auseinandergehen. Vermutlich ist davon auszugehen, dass in den ersten 60 Jahren der Inquisition am Ende von 45.000 Prozessen rund 5.500 Menschen exekutiert wurden.10 Am 6. Februar 1481 wurden die ersten sechs Männer und Frauen als Conversos verbrannt. Schnell breitete sich die Inquisition in ganz Spanien aus. 1482 wurde ein weiterer Gerichtshof in Córdoba eingerichtet, im Jahr danach folgten weitere in Jaén und Ciudad Real, 1485 war es in Toledo so weit. Allein dort wurden in den folgenden zwei Jahren 5.200 Menschen und damit mehr als ein Viertel der Bewohner der Königsstadt wegen „Judaisierung“ zu Strafritualen verurteilt.

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Nachdem 1485 ein Inquisitor in Zaragoza erschlagen worden war, ordneten die Könige die Verbrennung eines jeden Conversos in Aragón an, dem jüdische Praktiken nachgewiesen werden könnten. Das Eigentum der Betroffenen sollte unmittelbar zugunsten der Krone eingezogen werden, was den Königen mehr als willkommen war, da gerade im Königreich Aragón zahlreiche sehr wohlhabende Conversos lebten. Tatsächlich führte die Inquisition zu einer erheblichen Besitzverschiebung von Grundbesitz und Geldmitteln, schließlich wurde das Eigentum der zum Tode Verurteilten grundsätzlich eingezogen, und bei den „Versöhnungsritualen“ flossen nennenswerte Geldsummen. Auch wenn der genaue Umfang dieser Transaktionen ebenso umstritten ist wie die Frage, ob der finanzielle Aspekt ein Motiv für die Einrichtung der Inquisition gewesen sein mag, bleibt es unstrittig, dass sowohl Krone als auch Inquisitoren von diesen Umschichtungen erheblich profitierten. So wurde ebenso die königliche Klosterstiftung San Juan de los Reyes wie der Dominikanerkonvent des Großinquisitors in Ávila aus diesen Mitteln finanziert. Entscheidend aber war, dass ohne diese Gelder jenes kostspielige Unternehmen der Könige wohl nicht möglich gewesen wäre, das sie selbst mit diesen Mitteln an die Grenzen der finanziellen Leistungsfähigkeit bringen sollte: die militärische Eroberung Granadas.

Der spanische Kreuzzug: Die Reconquista

In den Vereinbarungen anlässlich ihrer Eheschließung 1469 hatten Isabella und Ferdinand die Pflicht anerkannt, Krieg gegen die Mauren zu führen, sobald sie die Macht über die beiden Königreiche Kastilien und Aragón innehätten. Nachdem 1479 der Friedensvertrag mit Portugal geschlossen worden war und Ferdinand die Nachfolge in Aragón angetreten hatte, erinnerten die Könige anlässlich der Versammlung der Cortes 1480 in Toledo an diese Pflicht und verkündeten, nunmehr gegen das Königreich Granada vorgehen zu wollen. Ein keineswegs ungewöhnliches Scharmützel an der Grenze der beiden Reiche am 27. Dezember 1481 wurde zum Auftakt der letzten Phase der Reconquista. Dieser Krieg, der sich zehn Jahre lang hinzog, war das besondere Anliegen der Königin. Persönlich überwachte sie die Kampfvorbereitungen, organisierte den Nahrungsmittel- und Finanznachschub und sorgte durch ihre regelmäßige Präsenz an den Fronten unermüdlich für eine gleichbleibend hohe Einsatzbereitschaft der Kämpfenden. Als es diesen gelang, 1485 Ronda einzunehmen, sprach man in Europa anerkennend vom spanischen Kreuzzug. Die Ketten der in Ronda be-

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freiten christlichen Gefangenen, die Isabella an der Außenfassade der Kirche San Juan de los Reyes anbringen ließ, sollten verdeutlichen, wie sehr es ihr in diesem Kampf um die Niederringung der Glaubensfeinde und eine „Befreiung“ des Christentums ging. Dabei war eine Freiheit nach ihrem Verständnis gemeint: Wer sich nicht zum Christentum bekannte, hatte jegliches Recht auf Freiheit verloren. Nirgendwo zeigte sich dies deutlicher als bei der Einnahme Málagas 1487. Nach mehrmonatiger Belagerung kapitulierte die wichtigste Hafenstadt des Emirats, wobei der ausgehungerten Bevölkerung die grausamen Übergabebedingungen verschwiegen worden waren. Unter den 11.000 Einwohnern der Handelsmetropole befanden sich zahlreiche zum Islam konvertierte ehemalige Christen und vor der Inquisition geflohene Conversos. Alle Angehörigen dieser Gruppen erwartete nun der Tod auf dem Rad oder dem Scheiterhaufen. Die maurischen Einwohner wurden in drei Gruppen eingeteilt: Ein Drittel sollte gegen christliche Gefangene eingetauscht werden, das zweite Drittel, rund 2.500 bis 3.000 Männer und Frauen, wurden sofort als Sklaven an christliche Adelige und kirchliche Würdenträger verteilt, und das letzte Drittel sollte sich gegen Lösegeld freikaufen können. Die Beträge, immerhin zwei Millionen Maravedís, kamen der Staatskasse zugute und finanzierten die nächstfolgende Belagerung. Die Gelder flossen aber nicht nur in Ausrüstung und Lebensmittel, auch die Angehörigen der rund 20.000 Spanier, die während des Krieges zumeist an Krankheiten und den Folgen der Kälte starben, mussten versorgt werden. Zudem gingen regelmäßig Zahlungen an Boabdil, den letzten Nachkommen der Nasridendynastie in Granada. Nachdem dieser in der Schlacht von Lucena 1483 gefangengenommen worden war, hatte er sich im Gegenzug für die Freilassung auf eine Kooperation mit den Katholischen Königen eingelassen. Dass deren Heere immer weiter auf Granada vorrücken konnten, war nun auch durch die bürgerkriegsartigen Unruhen innerhalb Granadas bedingt, für die Boabdil verantwortlich war, dessen Militär nicht zuletzt aus der kastilischen Staatsschatulle finanziert wurde. Im Frühjahr 1491 begann mit der Belagerung Granadas die letzte Phase dieses Feldzugs. Da Boabdil seine Gefolgsleute davon überzeugen konnte, dass die Stadt ohne Hilfe von außen verloren sei, ließ er sich auf die relativ milden Kapitulationsbestimmungen ein: Der Bevölkerung wurden das Leben und Eigentum garantiert sowie das Bleiberecht und Religionsfreiheit zugestanden; Boabdil und seiner Familie wurden umfangreiche Geldsummen sowie große Ländereien in den Alpujarras zugesichert. Nachdem Boabdil schon am 1. Januar einen Getreuen Isabellas heimlich zu sich gerufen hatte, um ihm im Comaresturm den Schlüssel der Alhambra auszuhändigen, kam es am 2. Ja-

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Abb. 3: Übergabe der Schlüssel der Alhambra (2. Januar 1492), Historiengemälde von Francisco Pradilla y Ortiz von 1882.

nuar 1492 zur offiziellen Übergabe der Stadt, in welcher Isabella und Ferdinand am 6. Januar, dem Dreikönigstag, feierlich Einzug hielten. Isabella war 40 Jahre alt und stand auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Sie hatte ihr Ziel erreicht, die letzte Maurenherrschaft in Europa zu beenden. Von der religiösen Homogenität, die ihr vorschwebte, war das Reich allerdings weit entfernt. Nicht nur die Muslime Andalusiens, denen sie vertraglich Religionsfreiheit zugesichert hatte, standen diesem Ziel entgegen. Vor allem galt es, gegen die jüdischen Gemeinden, die unbeeindruckt von Inquisition und militärischem Siegeszug der christlichen Heere dem Glauben ihrer Väter treu blieben, vorzugehen.

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Die seit der Antike in Spanien nachweisbaren jüdischen Gemeinden hatten im Mittelalter eine wechselvolle Geschichte durchlebt. Auf Blütephasen der Con­ vivencia, welche dazu beigetragen hatten, die Gruppe der spanischen Juden zu einer der größten innerhalb Europas anwachsen zu lassen, waren immer wieder

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Momente des Hasses gefolgt. Dieser entlud sich vor allem dann in Pogromen, wenn nach Naturkatastrophen oder Epidemien Schuldige gefunden werden mussten und der König, dem die Juden direkt unterstellt waren, seinerseits wenig Bereitschaft zeigte, die ihm Schutzbefohlenen tatsächlich zu schützen. Auch Isabella hatte bei ihrem Regierungsantritt die Schutzherrschaft gegenüber den Juden Kastiliens bekräftigt, aber nicht ohne dem Zeitgeist durch verächtliche Äußerungen zu entsprechen. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts hatte sich die Stimmung gegenüber den Juden zusehends verschlechtert. Aus den Mitte des 15. Jahrhunderts aufgekommenen Debatten über die soziale Integrationsfähigkeit der Conversos gingen die Juden insofern als Verlierer hervor, als sich in deren Ablehnung alle Widersacher einig waren. Retrospektiv erscheint die Religionspolitik Isabellas und Ferdinands als zielgerichtete Maßnahme, um auf der Basis eines gesellschaftlich breit akzeptierten Antijudaismus und motiviert durch die feste Überzeugung, Gottes Willen auszuführen, den Aktionsraum der jüdischen Bevölkerungsgruppen immer stärker zu beschneiden. Die Ausweisung der Juden im Jahre 1492 war demgemäß das letzte Glied in einer Kette zunehmender Repressionen. Schon die Beschlüsse der Cortes von 1480 hatten die soziale Lage der Juden massiv verschärft: So waren sie genötigt worden, ihre Wohnungen unter den christlichen Nachbarn aufzugeben und ausschließlich in Judenvierteln zu siedeln. Das Verbot, auf den zentralen Plätzen um die Kirchen herum Geschäfte zu betreiben, beraubte viele jüdische Händler ihrer Lebensgrundlage. Schon jetzt mussten zwangsweise mehr und mehr Juden ihre Heimat verlassen: 1481 wurden sie aus Sevilla, zwei Jahre später aus Andalusien vertrieben. In diesen Jahren trug die Inquisition nach Kräften dazu bei, die Antipathien gegen alles Jüdische weiter anzufachen. Schließlich wurden bis 1492 rund 13.000 Conversos ausfindig gemacht, die sich jüdische Praktiken hätten zuschulden kommen lassen. Welche Folgen die Hasskampagnen hatten, konnten die Könige Schriftstücken entnehmen, die sie zu weiteren Drangsalierungen ermunterten. Gezielt übernahmen dabei die Könige in Streitfragen die Rolle vermeintlich unparteiischer Vermittler, weshalb sich auch viele Juden hilfesuchend an die Könige wandten und bereit waren, für einen wohlwollenden Rechtsentscheid hohe Zahlungen zu leisten. Die hohen Beträge, die die jüdischen Gemeinden in dieser Zeit entrichteten, waren für die Kriegführung gegen das Emirat Granada keineswegs unbedeutend. Gleichzeitig nahm Isabella ungerührt die Dienstleistungen jüdischer Ratgeber und Finanziers in Anspruch. Als aber die Abhängigkeit von ihnen zum Ende des Krieges schwand, konnte sie ihrer religiösen Überzeugung von der

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Notwendigkeit einer rigorosen Reinigung freien Lauf lassen. Drei Monate nach der Einnahme Granadas unterzeichneten die Könige am 31. März 1492 ein Edikt, das die Ausweisung aller Juden aus ihren Königreichen verfügte. Begründet wurde dies mit dem Scheitern der Bemühungen, durch eine Separation von Christen und Juden innerhalb Spaniens den angeblich unheilvollen Einfluss der Juden vor allem auf die Conversos zu unterbinden. Jetzt bliebe nur noch die Ausweisung, es sei denn, die Juden würden endlich ihren religiösen Irrtum einsehen und zum Christentum konvertieren. So drängte auch Isabella ihren persönlichen Ratgeber und Finanzier Isaac Abravanel, dessen immense Kreditsummen ihr seit 1484 die Kriegführung gegen Granada erleichtert hatten, dazu, er möge die Taufe annehmen. Abravanel hatte noch sein Möglichstes getan, das Dekret abzuwenden. Doch Ferdinand, der schon bereit gewesen war, die Ausweisung zumindest zu verschieben, verwies ihn schließlich an Isabella; diese wiederum schob die Verantwortung auf Ferdinand. In mancherlei Hinsicht ging ihr Kalkül nicht auf: Abravanel ließ sich trotz Bitten und Drohungen nicht davon abhalten, das Land zu verlassen – ebenso wie rund 150.000 der insgesamt 175.000 Juden in Spanien, welche die Auswanderung der Taufe vorzogen. Da das Dekret erst Ende April 1492 verkündet wurde, blieben bis zum Ende der gesetzten Frist nur drei Monate. Die wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahme werden nach wie vor kontrovers diskutiert. Während die kurzfristigen Mehreinnahmen der Könige unstrittig sind, weil das jüdische Eigentum als Besitz von Häretikern vom Staat eingezogen wurde, bleibt es schwierig, die wirtschaftlichen Folgekosten zu ermessen, die sich aus der Vertreibung dieser Bevölkerungsgruppe ergaben. Für Unzählige begann nun ein unbeschreiblicher Leidensweg. Die meisten suchten ihr Glück in Portugal, wo sie allerdings hohe Zahlungen leisten mussten und im darauffolgenden Jahr ebenfalls vertrieben werden sollten. Am schlimmsten erging es denjenigen, deren Schiffe Nordafrika angesteuert hatten. Angesichts der Grausamkeiten der Muslime gegenüber den glaubensfremden Flüchtlingen kehrten viele, wenn sie irgend konnten, nach Spanien zurück. Die Taufe erschien ihnen inzwischen als das kleinere Übel. So nahmen am Ende insgesamt rund 50.000 Juden den christlichen Glauben an – zumindest der Form nach. Die Umstände ihrer Konversion schürten schnell Zweifel bei den Glaubenshütern, weshalb diese Conversos der Inquisition ein weiteres Betätigungsfeld boten. Kritik an der Ausweisung der Juden wurde außerhalb der Gruppe der Betroffenen nirgends laut. Ausdrücklich lobte Papst Alexander VI. das Vorgehen, in welchem er einen guten Dienst an der Kirche zu erkennen meinte; nicht zuletzt dieser „Leistung“

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wegen verlieh er 1496 Ferdinand und Isabella den offiziellen Titel „Katholische Könige“. Aus dem europäischen Ausland, wo die Juden zumeist schon viel früher vertrieben worden waren, war ohnehin nicht mit Kritik zu rechnen, und selbst namhafte Humanisten billigten die Maßnahme. So rechtfertigte der italienische Humanist Petrus Martyr von Anghiera, der – ein großer Verehrer Isabellas – seit 1487 am spanischen Hof unter anderem mit der Ausbildung adeliger Knaben beschäftigt war, die Vertreibung der Juden später als Reinigung von „fauliger Pestilenz“, welche die Christen bedroht habe.11 Da die Juden alles verschmutzen würden, was sie nur berührten, sei es schon milde und gnädig, dieses verwerfliche Volk nur auszuweisen. Allerdings gilt es den Kontext dieser Worte in Rechnung zu stellen: Geäußert wurden sie 1502 am Hof des ägyptischen Herrschers im Rahmen einer diplomatischen Reise, deren Räson es war, um Verständnis für die Ausweisung der Muslime aus Spanien zu werben. Dabei unterstrich der Botschafter Spaniens die angebliche Freiwilligkeit, schließlich würden die Muslime nicht zur Übernahme des christlichen Glaubens gezwungen, sondern hätten die Freiheit auszureisen. De facto aber hatte gerade die Freiwilligkeit bei der Annahme des Christentums eine immer geringere Rolle gespielt. Hernando de Talavera, der nach der Einnahme Granadas zum dortigen Erzbischof ernannt worden war, hatte gegenüber den Mauren noch auf das Prinzip der Freiwilligkeit gesetzt. Auch ihm ging es darum, die muslimische Bevölkerung der Stadt für das Christentum zu gewinnen, allerdings wollte er sich dazu rhetorischer Überzeugungsstrategien bedienen. Der Erfolg entsprach jedoch nicht den Erwartungen der Katholischen Könige, die 1499 nach Granada zurückkehrten und feststellten, wie wenig sich in den vergangenen Jahren an dem nach wie vor islamischen Erscheinungsbild der Stadt geändert hatte. Nun nahm Francisco Cisneros die Angelegenheit in die Hand. Der asketische Franziskanermönch war seit 1492 als neuer Beichtvater Isabellas zu ihrem engsten Berater avanciert. Als Kardinal Mendoza starb, setzte Isabella durch, dass Cisneros ihm als Erzbischof von Toledo und damit als Primas der spanischen Kirche folgte. Ende 1499 begann er nun mit einer Kampagne, die den Druck zur Konversion auf die Muslime in Granada erhöhte. Als sich diese zur Wehr setzten und einen bewaffneten Widerstand organisierten, ließ Cisneros ihnen bis zum Februar die Alternative Tod oder Taufe. Die Einwohner von Bergdörfern, in denen sich weiter Widerstand regte, wurden gnadenlos mit Hilfe des königlichen Heeres versklavt oder umgebracht. Es begann die Phase der Massentaufen, bis im Oktober 1500 die meisten muslimischen Einwohner des Königreichs Granada Moriscos, getaufte Mauren, geworden waren. Zwei Jahre später wurden alle verbliebenen

Christoph Kolumbus und die „Entdeckung“ Amerikas

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erwachsenen Muslime Kastiliens per Dekret vor die Wahl zwischen Taufe und Exil gestellt. Anders als die Juden zehn Jahre zuvor entschied sich die überwältigende Mehrheit für die Taufe – wohlweislich, ohne an ihrem Verhalten etwas zu ändern. Hernando de Talavera war über diese Entwicklung enttäuscht. Wie wenig opportun es allerdings inzwischen geworden war, an der Religionspolitik der Könige Kritik zu äußern, zeigt sich daran, dass Talaveras Rechtgläubigkeit im Zuge eines Inquisitionsverfahrens in Frage gestellt wurde. Selbst vor einem Erzbischof machte die Inquisition nicht mehr halt, zumal er durch die Abstammung von Conversos ohnehin verdächtig war. Während durch Ausweisung und Inquisition mit allen Mitteln eine religiöse und kulturelle Homogenität innerhalb Spaniens erzwungen werden sollte, hatte die Expansionspolitik Isabellas inzwischen ein Tor geöffnet, das die kastilische Politik unvermeidlich global machte und ihr zahlreiche neue Erfahrungen mit „dem Anderen“ eintrug.

Christoph Kolumbus und die „Entdeckung“ Amerikas

Nach der Einnahme Rondas im Jahr 1485 hatte der Herzog von Cádiz die Kastilier an jene alte Prophezeiung erinnert: Die Zeit sei offenbar gekommen, in welcher ein spanischer König aus der Höhle des Herkules käme, um in Gestalt eines Löwen die Mauren aus Spanien hinwegzufegen, dann Afrika zu erobern und schließlich sein Banner in Jerusalem aufzurichten. Er werde der Herrscher der Welt sein. In einer Zeit, in der diese Assoziationen mit Isabella verknüpft wurden, fielen die weltumspannenden Pläne und Vorschläge des vermutlich aus der Nähe von Genua stammenden Seefahrers Christoph Kolumbus bei ihr offenbar auf fruchtbaren Boden. In diesem Kontext trafen Kolumbus und Isabella das erste Mal aufeinander. Späteren Berichten von Kolumbus zufolge hätten sie damals über Indien gesprochen und das Verlangen asiatischer Fürsten, mehr über das Christentum zu erfahren; da aber der Papst nicht reagiert habe, hätten die Könige als Feinde aller Götzenanbetung und Häresie ihn, Kolumbus, damit beauftragt, nach Westen zu segeln, um diese Fürsten und ihre Völker kennenzulernen und um nach einem geeigneten Weg für ihre Konversion zu suchen. Re­ conquista, Inquisition und der Aufbruch Kolumbus’ sind dieser Argumentation entsprechend Ausdruck des allumfassenden Anspruchs, die Führungsrolle in der christlichen Welt zu übernehmen. Was in den Schriften des Seefahrers weniger zum Ausdruck kommt, waren die ökonomischen Aspekte, die gleichermaßen

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mit all diesen Unternehmungen verknüpft waren. Isabella musste für die Idee, über eine Westroute den Weg nach Asien zu suchen, umso aufgeschlossener sein, als seit dem Vertrag mit Portugal von 1479 den Portugiesen die Seefahrt entlang der afrikanischen Küste südlich von Kap Bojador vorbehalten geblieben war. Dass Bartolomeo Díaz 1488 den Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung entdeckt hatte, gab der Suche nach alternativen Wegen einen neuen Reiz. Immerhin hatte Kastilien im Gegenzug für die Zugeständnisse des Vertrags mit Portugal die Kanarischen Inseln erhalten, was sich für die Fahrten Kolumbus’ als wegweisend herausstellen sollte: Zum einen wurden sie zum logistisch günstigen Ausgangspunkt der Westfahrten, zum anderen konnten bei der Eroberung der Kanaren Erfahrungen gesammelt werden, auf die die Spanier zurückgriffen, als sie auf die karibischen Inseln stießen. Gleichwohl sollte eine halbe Dekade nach dem ersten Gespräch vergehen, bis Kolumbus die Zustimmung der Könige erhielt. Die Eroberung Granadas hatte Priorität. Bezeichnend jedoch ist, dass Isabella das Projekt nicht vergaß, obwohl eine zum Zwecke der Prüfung eingesetzte Kommission zu dem Schluss kam, dass es für die Investitionen in die Ausrüstung des Seefahrers mangels dessen seriöser Kalkulationen keinen hinreichenden Grund gebe. So gewährte Isabella Kolumbus Privilegien, die ihm ein sorgloses Reisen innerhalb Spaniens ermöglichten und verhinderten, dass sich andere Investoren der Sache annahmen. Als sich im Herbst 1491 der Sieg in Granada abzeichnete, war es Zeit, sich über weitere Ziele klarzuwerden. Gemäß den alten Prophezeiungen musste letztlich alles auf die Befreiung Jerusalems ausgerichtet sein, dafür bot Kolumbus’ Plan eine Perspektive, schließlich würde – so die Annahme – schon das erbeutete Gold die Kosten nicht nur der Expedition, sondern auch eines Feldzugs zur Befreiung Jerusalems decken. Daher lud Isabella Kolumbus im Dezember 1491 ein, nach Santa Fe zu kommen, von wo aus die Könige die Belagerung Granadas organisierten. Erneut sah es so aus, dass seine Bitten abschlägig beschieden werden würden, da gab der Ratschlag von Isabellas Schatzmeister, Luis de Santángel, den Ausschlag: Er empfahl ihr, das Unternehmen nicht anderen zu überlassen, sich stattdessen die Führungsrolle unter den europäischen Fürsten anzueignen und das Risiko einzugehen, zu dessen Finanzierung er selbst bereit war, mit einem großzügigen Kredit auszuhelfen. So schlossen Isabella und Ferdinand mit Kolumbus unter dem Datum des 17. April 1492 einen Vertrag, der zur Folge hatte, dass am 3. August 1492 drei Karavellen in See stachen. Am 12. Oktober stießen sie auf eine Insel, von der Kolumbus bis zu seinem Tod glaubte, es handele sich

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um dem asiatischen Festland vorgelagertes Territorium. Das erhoffte Gold aber fand er nicht. Dass er erwog, stattdessen die dortigen Einwohner als Arbeitskräfte einzuspannen und als Sklaven zu verkaufen, trug ihm später den Unmut Isabellas ein. Sie betrachtete die dortige Bevölkerung als Untertanen, denen das Christentum zu vermitteln sei. Zugleich aber sah auch sie die Notwendigkeit, sich ihrer Arbeitskraft zu bedienen, um das immer noch ersehnte Gold heben zu können. Damit lag ihren Direktiven eine widersprüchliche Mischung aus Schutzbestimmungen und Repressionsmaßnahmen zugrunde, die die spanische Politik gegenüber den Einwohnern der Neuen Welt noch lange nach Isabellas Tod prägen sollte. Dass den missionarischen Intentionen von Beginn an machtpolitische und ökonomische Überlegungen beigemischt waren, zeigt die Schnelligkeit, mit der Isabella Besitzansprüche auf die Territorien anmeldete und gegen Portugal durchsetzte. Schließlich wurde im Vertrag von Tordesillas 1494 eine Demarkationslinie 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln festgelegt, die die portugiesischen und spanischen Einflusszonen trennte. Spanien und Portugal hatten sich die Welt aufgeteilt. Mit der Einrichtung der Handelsbörse 1503 in Sevilla sowie der Verfügung, dass fortan sämtliche Schiffe aus dem Amerikahandel in Sevilla zu landen und dort Abgaben zu entrichten hätten, legte Isabella die Grundlage für den spanischen Wohlstand des kommenden Jahrhunderts. Dass Isabella gleichwohl in diesen Jahren mit Anflügen von Schwermut und Resignation zu kämpfen hatte, dürfte nicht zuletzt an der Erkenntnis gelegen haben, dass zentrale Vorhaben und Pläne gescheitert waren: Die unzähligen Zwangstaufen hatten keineswegs das Land befriedet, das Gold aus den neuen Ländern blieb aus, ein westlicher Seeweg nach Indien war nicht zu finden. Besonders aber litt sie darunter, dass die in einer ausgeklügelten Heiratsdiplomatie zum Ausdruck gekommenen dynastischen Pläne durch den frühen Tod ihrer Kinder und Enkel zunichtegemacht wurden.

Isabellas Kinder: Thronfolge und Außenpolitik

Fortpflanzungsfähigkeit, Ehevollzug und Niederkunft waren bei einer Thronfolgerin bzw. Königin alles andere als private Angelegenheiten. Kinder bedeuteten allem voran die Garantie dynastischer Kontinuität. Dabei sicherte ein Thronfolger nicht nur die Zukunft der Monarchie. Auch für die Akzeptanz eines Herrschers spielte dessen Fortpflanzungsfähigkeit keine unbedeutende Rolle. So war

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während der Jahre des Bürgerkriegs die Position Isabellas dadurch erheblich gestärkt worden, dass sie bereits kurz nach der Heirat schwanger geworden war. Als sie 1470 mit ihrer Tochter Isabella niederkam, war die Enttäuschung bei Ferdinand zunächst groß, schließlich war in Aragón nur ein männlicher Nachkomme erbberechtigt. Umso mehr hoffte das Thronfolgerpaar in den kommenden Jahren auf einen Sohn. Fünf Jahre später hätte es so weit kommen können, doch in der Hektik der Kriegsvorbereitung gegen Portugal kam 1475 ein Sohn tot zur Welt. Weitere drei lange Jahre sollten vergehen – längst hatte Isabella bei den als gute Ärzte bekannten Hieronymitenmönchen in Guadalupe Rat gesucht –, als 1478 der ersehnte Junge zur Welt kam, der den Namen ihres Patrons erhielt: Johannes (Juan). In kurzen Abständen wurden drei weitere Mädchen geboren: Johanna (1479), Maria (1482) und Katharina (1485). Schon weil die Gesundheit ihres einzigen Sohnes seit Kindertagen nicht allzu stabil wirkte, ließen die Könige nicht nur ihm, sondern auch den Mädchen eine gute Ausbildung zuteilwerden. Außerdem sollten sie schon sprachlich den Herausforderungen an jenen Höfen gewachsen sein, in die sie verheiratet werden sollten. Schließlich waren Königskinder eine überaus kostbare Ressource bei der damaligen Gestaltung der Außenpolitik. Auch wenn gerade unter den Katholischen Königen durch den systematischen Aufbau eines Botschafternetzes der Grundstein eines diplomatischen Dienstes gelegt wurde, blieb der Heiratsmarkt der zentrale Ort, an dem die internationale Rangordnung der Königshäuser manifest, Konflikte beigelegt und Bündnisse besiegelt wurden. Entsprechend spiegeln die Ehen, welche für die Kinder Isabellas beschlossen wurden, zum einen die außenpolitische Orientierung und zum anderen den Status, den die Katholischen Könige im europäischen Umfeld erlangt hatten. Außenpolitisch folgten die Könige den Traditionen Aragóns, welches infolge der territorialen Streitigkeiten mit Frankreich ein Bündnis mit dessen Gegnern suchte und daher die Annäherung an England und Burgund betrieb. Zwar war Frankreich über lange Zeit der Partner Kastiliens gewesen, aber da sich der französische König im Bürgerkrieg auf die Seite ihrer Gegner und letztlich die Portugals gestellt hatte, war Isabella zu Frankreich auf Distanz gegangen. Das Bündnis mit Portugal nach dem Friedensschluss von 1479 wurde besiegelt durch die Ehevereinbarung für die älteste Tochter Isabellas mit dem Thronfolger. Insgesamt zwei ihrer Töchter sollten mit einem portugiesischen Thronfolger bzw. König verheiratet werden, eine mit dem Thronfolger Heinrich VIII. in England, zwei Kinder mit zweien des habsburgischen Kaisers Maximilian. Dieses Bündnis

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Abb. 4: Zeitgenössisches Porträt der damals 50jährigen Königin Isabella I. von Kastilien, gemalt von Juan de Flandes um 1500.

mit Habsburg entsprach insofern der außenpolitischen Tradition, als der Kaiser durch die Heirat der Tochter Karls des Kühnen auch die Erbansprüche auf Burgund an sein Haus gezogen hatte. Zugleich spiegelte sich darin das imperiale Selbstverständnis der Katholischen Könige. Denn wenn auch – so der Gelehrte Antonio de Nebrija – der Titel des „Imperiums“ vom Deutschen Reich beansprucht werde, liege doch die reale Macht eines Imperiums in den Händen der spanischen Monarchen. Nebrija hatte im „Jahr der Wunder“12 1492 die erste Grammatik einer Volkssprache überhaupt vorgelegt mit dem Hinweis, dass die Sprache der untrennbare Begleiter imperialer Macht sei.13 In seinen historischen Aussagen zeigte er sich überzeugt, dass mit den Katholischen Königen gemäß der Prophetie Daniels das letzte, größte, messianische Reich angebrochen sei. Es ist jedoch auszuschließen, dass die Katholischen Könige bei dieser Doppelhochzeit tatsächlich schon jenes Reich im Auge hatten, das 1516/1519 ihrem Enkel Karl einmal zufallen sollte. Da die von Juan geehelichte Margarete nicht

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erbberechtigt war und Juana, die Philipp den Schönen heiratete, in der Erbfolge keinen vorderen Platz einnahm, dürfte niemand ernsthaft an eine solche Möglichkeit gedacht haben. Tatsächlich bedurfte es erst der unglücklichen Verkettung von vier aufeinanderfolgenden Todesfällen, bis aus Juana die Thronerbin Spaniens wurde. Es waren Schicksalsschläge, die Isabella hart zusetzten – nicht nur aus Gründen der Staatsräson. Als 1497 ihr Sohn Juan kurz nach seiner Hochzeit im Alter von 19 Jahren nach einem Fieberschub in Salamanca starb, brach für sie eine Welt zusammen. Ferdinand konnte verhindern, dass sie vom Tod des erkrankten Sohnes erfuhr, bevor er selbst bei Isabella war, um ihr beizustehen. Ihre dynastischen Hoffnungen richteten sich jetzt auf das ungeborene Kind ihres Sohnes, mit dem Margarete schwanger war – es kam jedoch tot zur Welt. Nunmehr ging die Thronfolge auf Isabella, die älteste Tochter, über, die mit dem portugiesischen König verheiratet war und ihrerseits ein Kind erwartete. Mit großen Ängsten hatte sie der Entbindung entgegengesehen und mehrfach den eigenen Tod prophezeit. Tatsächlich starb sie im August 1498 im Kindbett. Immerhin überlebte ihr Sohn Miguel, um dessen Wohl sich Isabella fortan intensiv sorgte. Doch sie konnte nicht verhindern, dass das Kleinkind im Alter von noch nicht zwei Jahren im Juli 1500 in ihren Armen starb. Zu ihrem persönlichen Leid gesellte sich nun die Sorge um ihr Lebenswerk. Zwar hatten die Cortes von Aragón entgegen der eigenen Rechtstradition die weibliche Thronfolge in Ermangelung eines männlichen Erben anerkannt und somit Johanna die Gefolgschaft zugesichert. Aber die geistige Verfassung ihrer Tochter machte Isabella zu schaffen. Immer heftiger manifestierten sich Anzeichen eines Krankheitszustandes, der damals als „geistige Umnachtung“ begriffen wurde und der Johanna bald den Beinahmen „die Wahnsinnige“ eintrug. Heute würde die Symptomatik wohl als schwere Depression gelten. Eine erbliche Disposition lag vor: Das Verhalten ihrer Tochter erinnerte Isabella an das ihrer Mutter während ihrer gemeinsamen Jahre in Arévalo. An Staatsangelegenheiten hatte Johanna kein Interesse. Ohnehin hatte sie keine Eile gezeigt, aus Flandern nach Spanien zurückzukehren. Juana zog sich immer mehr zurück, sprach und aß kaum, die öffentliche Meinung war ihr ebenso gleichgültig wie religiöse Belange oder die Betreuung ihrer eigenen Kinder. Im Februar 1500 hatte sie ihren Sohn Karl geboren, den Erbprinzen, den sie zum Kummer ihrer Mutter in Flandern zurückgelassen hatte; jetzt brachte sie im März 1503 in Alcalá de Henares ihren zweiten Sohn zur Welt, der von Cisneros persönlich auf den Namen seines Großvaters getauft wurde: Ferdinand. Dankgottesdienst und Taufe wurden

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noch einmal zu Momenten, in denen Isabella ihr Selbstverständnis zur Schau trug. Stets hatte sie verstanden, festliche Zeremonien zu Symbolen ihrer Macht zu stilisieren; das hatte ihre Königsproklamation 1474 ebenso geprägt wie den Dankgottesdienst in Toledo nach dem Sieg bei Toro 1476 oder die Übergabe der Schlüssel von Granada 1492. Noch einmal zeigte sie sich jetzt ostentativ in königlicher Pracht. Es sollte das letzte Mal gewesen sein. Bald wurde sie kränklich, ab Mai 1504 konnte sie das Bett nicht mehr verlassen. Dennoch führte sie von ihrer Lagerstatt in Medina del Campo aus die Regierungsgeschäfte unermüdlich weiter. Seit Juli wich das Fieber nicht mehr, im Oktober unterzeichnete sie ihr Testament, am 26. November 1504 erlag sie einem Krebsleiden. „Sie war die beste und exzellenteste Frau, die jemals ein König gehabt hat“,14 schrieb Ferdinand nach ihrem Tod. Sie war mehr als das. Der Historiker Manuel Fernández Álvarez vermutete, dass sie „womöglich die wichtigste Persönlichkeit“15 der spanischen Geschichte sei. Über die Jahrhunderte hinweg blieb sie insofern eine „Schlüsselpersönlichkeit“, als sie nicht nur dazu beigetragen hatte, die Weichen für die spanische Neuzeit zu stellen. Darüber hinaus wurde sie zum zentralen Referenzpunkt auch kommender Generationen, so dass in den weiteren Porträts immer wieder auf sie zurückzukommen sein wird. So wurde sie mit Teresa von Ávila in Bezug gesetzt, im 19. Jahrhundert als Ahnherrin von Isabella II. gerühmt und nicht zuletzt von Franco als Legitimationsressource instrumentalisiert. Mit Blick auf diese Langlebigkeit scheint die vor wenigen Jahren von Henry Kamen gestellte Diagnose gerechtfertigt, wonach einer der „außergewöhnlichsten Aspekte des spanischen 16. Jahrhunderts“ der Umstand sei, dass „viele Spanier immer noch darin leben. Gewissermaßen haben sie es nie verlassen“.16

Weiterführende Literatur Ballesteros Gaibrois, Manuel: La obra de Isabel la Católica, Segovia 1953. Boruchoff, David A. (Hg.): Isabel la Católica, Queen of Castile. Critical Essays, New York 2003. Caro Baroja, Julio: Los judíos en la España moderna y contemporánea, 3 Bde., Madrid 1961. Caro Baroja, Julio: Los moriscos del Reino de Granada, Madrid 1976. García Cárcel, Ricardo: Orígenes de la Inquisición española. El Tribunal de Valencia (1476–1530), Barcelona 1976.

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Herbers, Klaus/Jiménez Calvente, Teresa: Spanien auf dem Weg zum religiösen Einheitsstaat (15. Jh.), Wiesbaden 2022. Kamen, Henry: Spain 1469–1714. A Society of Conflict, Harlow 2005. Ladero Quesada, Miguel Ángel: La España de los Reyes Católicos, Madrid 1999. Liss K., Peggy: Isabel, Myth and History, in: Boruchoff, David A. (Hg.): Isabel la Católica, Queen of Castile. Critical Essays, New York 2003, S. 57–78. Martínez Medina, Francisco Javier/Biersack, Martin (Hg.): Fray Hernando de Talavera, primer arzobispo de Granada. Hombre de iglesia, estado y letras, Granada 2011. Maza Zorrilla, Elena: El mito de Isabel de Castilla como elemento de legitimidad política en el Franquismo, in: Historia y Política 31 (2014), S. 167–192. Pérez, Joseph: Ferdinand und Isabella. Spanien zur Zeit der katholischen Könige, München 1989. Pérez, Joseph: Isabel la Católica and the Jews, in: Boruchoff, David A. (Hg.): Isabel la Católica, Queen of Castile. Critical Essays, New York 2003, S. 155–170. Weissberger, Barbara (Hg.): Queen Isabel I of Castile. Power, Patronage, Persona, Woodbridge 2008.

Anmerkungen 1 2 3 4

5 6 7 8

9

Manuel Fernández Álvarez: Isabel la Católica, Madrid 2003, S. 18. James Casey: Early Modern Spain: A Social History, New York 1999, S. 1. Giles Tremlett: Isabella of Castile: Europe’s First Great Queen, London/New York 2017. El Testamento de Isabel la Católica y otras consideraciones en torno a su muerte, eingeleitet und kommentiert von Vidal González Sánchez, Madrid 2001, S. 27, bzw. Testamento de doña Isabel I la Católica, esposa de don Fernando II de Aragón y V. De Castilla, Rey Católico, Dokument XIV, in: Manuel Ballesteros Gaibrois: La obra de Isabel la Católica, Segovia 1953, S. 376; zur Verbreitung des Konzepts siehe José Manuel Nieto Soria: La nobleza y el „poderío real absoluto“ en la Castilla del siglo XV, in: Cahiers d’Etudes Hispaniques Médiévales 25 (2002), S. 238–254, hier S. 242. Tarsicio de Azcona: La reforma religiosa y la confesionalidad católica en el reinado de Isabel I de Castilla, la Católica, in: Carthaginensia 31 (2015), S. 111–136, hier S. 114. Vgl. Peggy K. Liss: Isabel the Queen: Life and Times, Revised Edition, Philadelphia 2004, S. 102. Vgl. Hans Leicht: Isabella von Kastilien: Königin am Vorabend der spanischen Weltmacht, Regensburg 1994, S. 112. Die Ausarbeitung trug nicht zuletzt den Hinweis „ad usum reginae“, vgl. Hernando de Talavera: Dos escritos destinados a la reina Isabel: Colación muy provechosa. Tratado de loores de San Juan Evangelista, ediert und herausgegeben von Carmen Parrilla, Valencia 2014. Vgl. Hernando de Talavera: Loores de San Juan Evangelista, in: Ders.: Dos escritos, S. 133–244.

Anmerkungen

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10 Die Zahlen beruhen nicht zuletzt auf den Ergebnissen der langjährigen Forschungen von Gustav Hennigsen in spanischen Archiven, vgl. u. a. Gustav Hennigsen: Archivos e historiografía de la Inquisición española, in: Príncipe de Viana 81, Nr. 278 (2020), S. 975–998. Henry Kamen hält dagegen eine Zahl von „nur“ 2.000 Todesopfern der Inquisition in den ersten Jahren (bei einer Gesamtzahl von 3.000) für plausibel, vgl. Henry Kamen: The Spanish Inquisition. A Historical Revision, New Haven/New York 2014, S. 253; Joseph Pérez geht von weniger als 10.000 umgesetzten Todesurteilen aus, vgl. Joseph Pérez: The Spanish Inquisition: A History, New Haven 2005, S. 173. Zur Literaturübersicht und dem Abgleich der Zahlen siehe Tomasz Karlikowski: Spanish Inquisition: number of victims, http://ereticopedia.wikidot.com/number-of-victims-spanish-inquisition#toc5, letzter Zugriff: 8.04.2022. 11 Pedro Mártir de Anglería/Luis García y García (Hg.): Una Embajada de los Reyes Católicos a Egipto, Valladolid 1947, S. 162. 12 Bernard Vincent: „Das Jahr der Wunder“. Spanien 1492: Die Vertreibung der Juden und Mauren und die Einführung der Grammatik, Berlin 1992. 13 Vgl. Antonio de Nebrija/Rogerio Sánchez (Hg.): Prólogo a la gramática de la lengua castellana (Salamanca 1492), Madrid 1931. 14 Zitiert in: Liss, Isabel, S. 403. 15 Fernández Álvarez, Isabel, Klappentext. 16 Henry Kamen: Imagining Spain. Historical Myth & National Identity, Yale 2008, S. IX.

11. Philipp II. (1527–1598) Spaniens umstrittenster König

Kaum ein Bild einer Persönlichkeit der Weltgeschichte ist so umstritten wie das Philipps II., des (nach der Eroberung der nach ihm benannten Philippinen) ersten Herrschers über ein wirklich globales Reich, das Territorien in Asien, Amerika, Afrika und Europa umfasste. Wenn man den Worten von Prudencio de Sandoval glauben will, einem Benediktinermönch aus dem 16. Jahrhundert, dann war Philipp II. der „umsichtigste und weiseste König […], den Spanien seit seiner Besiedlung je gehabt hatte.“1 Doch schon unter den Zeitgenossen gab es viele, die dem Ordensmann heftig widersprochen hätten. Der seinerzeit „mächtigste Monarch der Welt“2 bot schon damals Anlass zu heftiger Kritik. Im 18. Jahrhundert sollte das Bild des spanischen Königs endgültig zu dem düsteren Image gefrieren, welches Friedrich Schiller dem europäischen Bildungsbürgertum mit seinem Drama Don Carlos überliefert hat. In einer historischen Abhandlung aus dem Jahre 1788 legte Schiller die Grundlagen seines PhilippBildes dar: „Freude und Wohlwollen“ hätten dem königlichen Gemüt gefehlt, wofür Herkunft und die „frühen finstern Kinderjahre“ ursächlich gewesen seien. Sein „dürftiger Geist“ sei daher nur von zwei Begriffen gefüllt gewesen: „Egoismus und Religion.“ Sein Glaube aber sei „grausam und finster“ gewesen, so wie das Bild seines Gottes, vor dem er knechtisch gezittert habe.3

Arglist und Tyrannei: Die Beharrungskraft der Leyenda negra

Damit reproduzierte Schiller jene Aspekte des antispanischen Gelehrtendiskurses, die seit der französischen Aufklärung zum europäischen Allgemeingut geworden waren. Ende 1750 hatte Voltaire in seinem Essai sur les mœurs4 ein Spanienbild gezeichnet, das die Wahrnehmung des iberischen Landes in Europa in den nachfolgenden Jahrhunderten vorgeben sollte, so sehr sich auch spanische Stimmen gegen diese Leyenda negra erhoben. Im Kern setzte sich diese aufklärerische Anklage zusammen aus Kritik an der spanischen Inquisition, an den Gräueltaten der spanischen Konquistadoren in Übersee und an der Herrschaft Philipps II. als solcher. Dabei konnte Voltaire sich auf Zeitzeugenberichte aus dem unmittelbaren Umfeld des spanischen Königs stützen, überging aber geflis-

Arglist und Tyrannei: Die Beharrungskraft der Leyenda negra

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sentlich, dass diese Berichte schon seinerzeit mit der dezidierten Absicht verfasst worden waren, Philipp II. zu diskreditieren. So setzte sich das negative Philipp-Bild derart hartnäckig fest, dass selbst Intellektuelle wie August Wilhelm Schlegel, die im Zuge einer romantischen Verklärung das Hohelied auf Spanien und die kastilischen Heldennaturen anstimmten, diesen Suggestionen erlagen. Es war nun das gute und tapfere Volk, das ungerechterweise für den Herrscher in Haft genommen werde: „Die arglistige und tyrannische Politik Philipps des Zweiten hat unverschuldeter Weise den Haß der Ausländer auf sie gezogen.“5 Im Zentrum der jahrhundertelangen Kritik stand Philipps religiöser Rigorismus, der nicht nur Spaniens Geistesleben, sondern auch seine machtpolitische Bedeutung ruiniert habe. Bis im 19. Jahrhundert der konservative Gelehrte Marcelino Menéndez Pelayo trotzig seine Gegenthese präsentierte, wonach gerade Philipps religiöser Furor die spanische Größe bedingt habe: „Die materielle Größe Spaniens, die Ausdehnung seines Hoheitsgebiets durch Bündnisse, Heiraten und Erfolge während des ganzen 16. Jahrhunderts ist nichts im Vergleich zu diesem großen Prinzip der katholischen und romanischen Einheit im Widerstand gegen den Norden, die Ketzerei und die Barbarei, das im 16. Jahrhundert Seele, Impuls und wahre Größe unseres Volkes war.“ Menéndez Pelayo drehte den Spieß der Kritik um und richtete seine Polemik gegen Frankreich und den „orientalischen, absolutistischen und halbasiatischen Pomp des Hofs Ludwigs XIV.“, wovon sich Philipp II., der „immer klösterlich einfach und schlicht“ gelebt habe, wohltuend unterschieden habe. Und wenn überhaupt eine Dynastie für den Niedergang Spaniens und seiner eigenständigen Traditionen verantwortlich zu machen sei, dann nicht die bis 1700 regierenden Habsburger, sondern ihre Nachfolger, die französischen Bourbonen.6 Selbst die Studie des britischen Historikers Henry Kamen von 1997 ist offenbar noch dem Bestreben geschuldet, Philipp gegen jahrhundertealte Verleumdungen in Schutz zu nehmen.7 Verklärung, Diskreditierung und Verteidigung gaben so über 400 Jahre hinweg die oftmals inkohärenten Leitlinien der Wahrnehmung Philipps II. vor, weshalb Fernand Braudel nicht zu Unrecht anmahnte, dass es sich bei einer Annäherung an den spanischen König empfehle, „erst einmal Tabula rasa zu machen, das heißt vorsichtshalber zunächst mit sämtlichen Verleumdungskampagnen und Lobeshymnen aufzuräumen, deren Gegenstand dieser König war“.8 Dabei ist gerade Braudel ein Kronzeuge für die Schwierigkeiten des Biographen, sich dieser Persönlichkeit zu nähern. „Ich für meinen Teil“, klagte Braudel, „beschäftige mich seit über 40 Jahren mit dieser schweigsamen Person [...] und doch kenne ich ihn nicht besser als meine Vorgänger.“9 Vergeblich suchte Brau-

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Philipp II. (1527–1598)

del in den unzähligen Randbemerkungen des Königs an der amtlichen Korrespondenz nach Manifestationen von Gefühlen, die auf die Persönlichkeit hätten rückschließen lassen können. Seine Ziele und die Motive seines Handelns waren umso schwieriger zu dechiffrieren, als er selbst seinen Ministern vorgegeben hatte, möglichst „heimlich und mit Verstellung“10 zu agieren. Das nach außen gekehrte Bild zeigte einen bedrohlich unnahbaren König, der seine verunsichernde Wirkung auf andere als Herrschaftsmittel eingesetzt zu haben scheint. Doch gerade weil die Persönlichkeit in den Schriften so wenig greifbar wird, bedarf es der Rekonstruktion seines Lebens.

„Von der Gnade Gottes“: Kindheit, Jugend, Regentschaft

Geboren wurde Philipp II. am 21. Mai 1527 als Sohn der portugiesischen Infantin Isabella und deren Cousin, des deutschen Kaisers und spanischen Königs Karl V./I., Enkel der Katholischen Könige. Karl und Isabella hatten im Jahr zuvor in Sevilla geheiratet und die Wochen nach der Hochzeit in der Alhambra Granadas verbracht. Als der Kaiser nach dem Ausbruch eines neuen Kriegs gegen Frankreich Andalusien verlassen musste, war die Königin, die ihn in den Norden begleitete, bereits schwanger. Nach einer strapaziösen Reise entband sie in Valladolid. Die ersten Worte, die der Kaiser an den Neugeborenen richtete, enthielten den Wunsch, Gott, der Herr, möge einen guten Christen aus ihm machen. Dass er die Prägung seines vermutlichen Nachfolgers von Beginn an nicht aus der Hand geben und den Adeligen Kastiliens überlassen wollte, verriet bereits die Szene über dem Taufbecken. Als der Bischof die Frage stellte, welchen Namen das Kind erhalten sollte, antwortete der Herzog von Alba: „Fernando“, doch setzte Karl schließlich den Namen seines eigenen Vaters durch: Der Säugling wurde auf den Namen „Felipe“ getauft und der Herold verkündete im Anschluss: „Hört, hört, hört, Don Felipe ist von der Gnade Gottes Prinz von Kastilien.“11 Zwei Jahre blieb Karl bei Frau und Kind in Valladolid, 1529 verließ er Spanien, um erst vier Jahre später für einen längeren Zeitraum zurückzukehren. Inzwischen hatte Philipp eine Schwester bekommen: Maria. Im Jahresrhythmus kamen weitere Kinder zur Welt, doch das dritte, der 1529 geborene Fernando, starb schon im folgenden Jahr. Vier Jahre später erlitt Isabella eine Totgeburt, bevor 1535 die Tochter Juana das Licht der Welt erblickte. Zu dieser Zeit war der Thronfolger seiner unbeschwerten Kindheit bereits seit einem Jahr entwach-

„Von der Gnade Gottes“: Kindheit, Jugend, Regentschaft

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sen: Mit sieben Jahren hatte der Unterricht für Philipp begonnen. Dieser war einem Kleriker, dem späteren Erzbischof von Toledo, Juan Martínez de Silíceo, und Juan de Zúñiga, einem adeligen Vertrauten und Comendador mayor von Kastilien, anvertraut worden. Beide waren an der Universität Alcalá de Henares ausgebildet worden, deren geistiges Klima stark von der Rezeption des Humanisten Erasmus von Rotterdam geprägt war. Sie unterwiesen Philipp in Lesen, Schreiben, Grammatik, Mathematik sowie Architektur. Für den Unterricht in Geschichte und Geographie wurden die Gelehrten Cristóbal Calvete de Estrella und Juan Ginés de Sepúlveda herangezogen. Damit sollte eine breite Bildung des künftigen Herrschers gewährleistet werden, auch wenn der Lernerfolg ungleich verteilt war. Philipp soll ein nur mäßig guter Schüler in Mathematik gewesen sein und wenig Talent beim Erlernen von Sprachen an den Tag gelegt haben; wobei es später als Manko angesehen wurde, dass er zwar Latein und Griechisch, nicht aber moderne Fremdsprachen erlernt hatte, was ihm die Herrschaft in den nichtspanischen Teilen seines Reiches erschwerte. Als er nach der Übernahme der Regierung in den Niederlanden seine erste Erklärung von anderen musste vortragen lassen, weil er sich des Französischen nicht hinreichend sicher fühlte, war das seinem Prestige nicht zuträglich. Zu den unentbehrlichen Techniken, in denen der Thronfolger mit mehr Erfolg unterwiesen wurde, zählten Reiten, Fechten und Schießen. Letzteres öffnete ihm den Zugang zur Jagd, die ihm lebenslang ein wichtiger Ausgleich war. Die Lage seiner Residenzen und selbst die Auswahl Madrids als Hauptstadt wurden nicht zuletzt von der Erwägung bestimmt, dass sie nahe an seinen Jagdgebieten lagen. Ähnliche Neigungen zeigte Philipp nicht nur bei der religiösen, sondern vor allem auch der musikalischen Ausbildung; hier wurde jenes Talent sichtbar, das offenbar in der Familie lag. Jenseits der Pädagogen setzte sich sein engeres Umfeld – neben der Schwester Maria – u. a. aus den sechs adeligen Pagen zusammen, die zu seinem Hofstaat zählten und mit ihm durch Kinderturniere und Tänze fürstliche Alltagspraktiken erlernten. Er soll die meiste Zeit seines Lebens sowohl Turnieren als auch Tanzveranstaltungen gegenüber aufgeschlossen gewesen sein. Einer dieser Pagen, der fünf Jahre ältere Portugiese Ruy Gómez de Silva, wurde ihm ein so wichtiger Vertrauter, dass sich schließlich bei Hof Unmut über den vermeintlichen Einfluss des Höflings breit machte: Aus Ruy Gómez wurde „Rey Gómez“12, eine geringe phonetische Verschiebung, in der sich der Unmut über die vermeintliche Anmaßung artikulierte. Die Anhänglichkeit an diesen jungen Portugiesen wurde u. a. damit erklärt, dass dieser ein Bindeglied zu Philipps Mutter darstellte,

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in deren Gefolge der Knabe einst an den spanischen Hof gekommen war. Diese Verbindung schätzte Philipp umso mehr, als Isabella bereits 1539 bei der Geburt ihres fünften Kindes starb, das seinerseits den Tag nicht überlebte. Der Tod seiner Mutter, von der Fernand Braudel zu wissen meinte, es sei die einzige Frau gewesen, die Philipp wirklich geliebt habe, markiert die erste der für Philipp folgenreichen Zäsuren.13 Es war nun der Zwölfjährige, der die Aufgabe übernahm, den Trauerzug mit den sterblichen Überresten der Kaiserin nach Granada zu geleiten – Karl V. hatte sich vor Gram in ein Kloster zurückgezogen. Schon jetzt manifestierte sich ein abweichendes Emotionsmanagement: Während der Vater von Stimmungsschwankungen geprägt war und Phasen depressiver Niedergeschlagenheit kannte, schien Philipp die ihm eigene eiserne Disziplin auch auf den Umgang mit Gefühlen zu übertragen. Diese Fähigkeit zur Selbstbeherrschung dürfte den Vater zusätzlich davon überzeugt haben, Philipp im Jahr 1543 für die Jahre seiner Abwesenheit die Regentschaft in Spanien zu übertragen. Damals war der Thronfolger 16 Jahre, und damit so alt wie Karl, als ihm 1516 die Krone Spaniens zugefallen war. In dieser Zeit wurde zudem die erste Hochzeit Philipps mit der portugiesischen Cousine María Manuela arrangiert. Damit endete offiziell die Ausbildung Philipps; umso mehr lag dem Vater daran, dem Sohn und Nachfolger die wichtigsten Ratschläge ans Herz zu legen, zumal er sich nie sicher war, ob er von seinen Reisen und Schlachten lebend zurückkehren würde. In zwei Testamenten vom 4. und 6. Mai 1543 riet er zu vorsichtigem Verhalten sowohl als Herrscher als auch als Ehemann und verpflichtete seinen Sohn, streng über die religiöse Einheit in Spanien zu wachen.14 Die Ratschläge sollten Philipp zu lebenslangen Leitlinien werden, an denen er sowohl die individuelle Lebensform als auch seine Herrschaftspraxis ausrichtete. Doch diese Selbst- und Fremdverpflichtung zur religiösen Orthodoxie bedeutete keineswegs, dass Philipp von Beginn an bestrebt gewesen wäre, die Verbindungen zum nördlichen Europa zu kappen. Ganz im Gegenteil begannen gerade jetzt die Reisen in die italienischen, deutschen und niederländischen Landesteile, aus denen er zahlreiche Eindrücke mit nach Spanien nehmen sollte. Oftmals ist Philipp in Abgrenzung zu seinem so reisefreudigen Vater als unbeweglicher Monarch dargestellt worden, der sich im kastilischen Escorial vor den geistigen Strömungen Europas verbarrikadiert habe. Doch eine Rekonstruktion seines Itinerars hat ergeben, dass Philipp II. kaum weniger unterwegs war als Karl V. Abgesehen von den vielen Reisen innerhalb Spaniens hielt er sich 14 Monate in England und ganze fünf Jahre in den Niederlanden auf. Selbst in Deutsch-

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Abb. 5: Philipp II. als Thronfolger um 1551, Gemälde von Tizian.

land summierte sich seine Anwesenheit auf ein Jahr und drei Monate. Darüber hinaus reiste er mehrere Wochen durch Italien und blieb schließlich zwei Jahre und vier Monate in Portugal. Damit dürfte er mehr von der Welt gesehen haben als viele seine Kritiker, die ihm in den späteren Jahrhunderten Provinzialität vorwerfen sollten. Gleich seine erste Reise sollte ihn von 1548 bis 1551 für fast drei Jahre durch Europa führen. Anlass war das Vorhaben Karls V., nach seinem Sieg über die Protestanten bei Mühlberg im Jahr 1547 allmählich den Nachlass zu regeln. Philipp sollte nun einerseits die Niederlande, aber auch das Reich kennenlernen, welches Karl ebenfalls seinem Sohn übertragen wollte. Spanien für eine so lange Zeit zu verlassen, war keinesfalls unproblematisch. Als sein Vater 1520 kurz-

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fristig dem Land den Rücken gekehrt hatte, um die Kaiserwürde im Deutschen Reich anzunehmen, hatte eine Gruppe von Bürgern (die sogenannten Comune­ ros) einen Aufstand gegen Karl V. angezettelt. Wurde doch befürchtet, dass der König auswärtige Günstlinge zu Lasten eigener Privilegien bevorzugen könnte. Philipp trug jetzt zu ähnlichen Überfremdungsängsten bei, indem er 1548 das in Spanien fremde burgundische Hofzeremoniell einführte und die Regentschaft während seiner Abwesenheit nicht nur der eigenen Schwester Maria, sondern auch deren Ehemann Maximilian von Habsburg übertrug, mit dem Maria unmittelbar vor der Abreise Philipps verheiratet worden war. Doch im Ganzen war die Wahl der Regenten offenbar glücklich, denn Unruhen blieben in Spanien diesmal aus. So konnte Philipp am 19. Oktober 1548 von Katalonien aus nach Italien zu seiner Grand Tour aufbrechen. Begleitet von mehr als 1.000 Hofleuten, Klerikern, Adeligen und Bediensteten landete er in Genua und reiste über norditalienische, süddeutsche und niederländische Städte bis nach Brüssel, wo er am 1. April 1549 mit seinem Vater zusammentraf, den er sechs Jahre zuvor das letzte Mal gesehen hatte. Tränen der Freude soll Karl V. beim Wiedersehen vergossen haben. In Brüssel blieben sie für drei Monate, bevor sich Philipp in Begleitung seines Vaters auf die Reise durch die 17 niederländischen Provinzen begab, um den Treueeid seiner künftigen Untertanen entgegenzunehmen. Der Ertrag der Reise ist schwer zu bemessen, dürfte aber in mancherlei Hinsicht für die Herrschaft und das Selbstverständnis Philipps II. wegweisend gewesen sein. Wie wichtig diese Tour für die Selbstdarstellung der spanischen Monarchie war, ergibt sich schon daraus, dass Karl V. den Hofchronisten Calvete de Estrella autorisierte, 1552 in Antwerpen einen offiziösen, dickleibigen Bericht über die Reise zu publizieren. Kurzfristig diente die Fahrt der Festigung von Beziehungen mit politischen Amtsträgern und wichtigen Geschäftspartnern; nicht zuletzt die Treffen mit Inhabern der italienischen Bankhäuser dürften für die spanische Politik nützlich gewesen sein – auch wenn sich diese Kontakte in den späteren Konflikten von nur begrenztem Wert erweisen sollten. Analog vollzog sich die Begegnung mit ranghohen niederländischen Adeligen: Die harmonischen Treffen mit Wilhelm von Oranien oder den Grafen Egmont und Hoorn deuteten nicht im Mindesten darauf hin, dass diese demnächst zu den Hauptakteuren eines antispanischen Aufstandes werden sollten. Ganz im Gegenteil suggerierten die triumphalen Empfänge, die Philipp allerorten bereitet wurden, eine hohe Akzeptanz des neuen Herrschers, der seinerseits vom kulturellen Reichtum Flanderns beeindruckt

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Abb. 6: Hieronymus Bosch, Garten der Lüste (1490–1500), seit 1593 im Escorial (heute im Prado).

war. Nicht nur auf dem Speisezettel des Königs sollte die Reise ihre dauerhaften Spuren hinterlassen, auch sein ästhetischer Geschmack erhielt einen unauslöschlichen flämischen Stempel. Dauerhaft bevorzugte er niederländische Künstler – wie z. B. Hieronymus Bosch – und gab seinen Garten- und Palastarchitekten die Anweisung, im „flämischen Stil“ zu bauen. Gerade weil Philipp offenbar tiefe Sympathien für die Provinzen entwickelt hatte, soll er später umso enttäuschter über den Aufstand der Niederländer gewesen sein. Vollends enttäuschend verlief die Reise gemessen an den Hoffnungen Karls V., seinem Sohn den Kaisertitel und damit die Herrschaft im Reich zu sichern. Die pompöse Gestaltung der Reise mit unzähligen Theateraufführungen und Festivitäten war Ausdruck des Versuchs, Philipp als würdigen Nachfolger des Kaisers in Szene zu setzen. Doch mehr noch als der Zustimmung der deutschen Kurfürsten bedurfte es vorab einer familiären Einigung, um welche Karl V. letztlich vergeblich rang. Ferdinand, der für seinen Bruder Karl die Statthalterschaft im Reich und den habsburgischen Besitz übernommen hatte, war mehr und mehr in die Rolle des faktischen Herrschers geraten. Unter dem Druck des osmanischen Vordringens 1531 war er zum römischen König gewählt worden, was nicht nur von ihm als

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Präjudiz für die Kaiserwürde verstanden worden war. Nun trafen sich anlässlich des Reichstags 1550 in Augsburg die Brüder zu zähen Verhandlungen um die Erbfolge, zu denen sie als Vermittlerin ihre Schwester Maria hinzuzogen. Schließlich verständigten sie sich im März 1551 auf eine Lösung, die Philipp den Weg zum Kaisertum zu ebnen schien. Doch währte die Konzessionsbereitschaft Ferdinands nicht lange: Sobald Karl V. machtpolitisch erneut durch die Auseinandersetzung mit den Reichsfürsten in die Defensive geriet, war von den Zugeständnissen keine Rede mehr. Als Karl V. schließlich noch zu Lebzeiten designierte und ab 1555 sukzessive auf die Herrschaftsrechte in seinen Territorien verzichtete, ging die spanische Krone mit allen ihren Besitzungen an Philipp, während im Reich Ferdinand der Kaiser wurde. Als sein Sohn Maximilian 1562 von den Kurfürsten zum Römischen König gewählt wurde, war die Trennung der vormals von Karl V. gemeinsam regierten Reiche in eine österreichische und eine spanische habsburgische Linie definitiv vollzogen.

Heiratspolitik: Die vier Ehen Philipps II.

Die für Philipp entwickelte „Heiratspolitik“ wurde – so Braudel – „mit mehr Aufmerksamkeit und Ausdauer betrieben als eine wohldurchdachte Schachpartie“.15 Angesichts des seit den 1550er Jahren absehbaren Einflussverlustes im Reich erschien die Perspektive umso attraktiver, mit der Einheirat in die englische Königsfamilie neuen macht- und religionspolitischen Einfluss zu gewinnen. Eine solche Möglichkeit ergab sich plötzlich, als 1553 Maria Tudor den Thron bestieg. Als Tochter von Katharina von Aragón und Heinrich VIII. war Maria die Cousine von Karl V., der sich für die wegen ihrer katholischen Religionszugehörigkeit in Bedrängnis geratene Verwandte stark gemacht hatte. Da ihre Thronansprüche mit der Annullierung der Ehe ihrer Eltern verloren gegangen waren, kam sie als mögliche Nachfolgerin erst ins Spiel, als Eduard 1553 starb, der einzige Sohn Heinrichs VIII. Da ihre Thronfolge – nicht zuletzt wegen ihrer katholischen Religionspolitik – weiterhin umstritten war, bedurfte Maria der Unterstützung durch eine auswärtige Großmacht, weshalb sie sich schnell auf Eheverhandlungen mit Philipp einließ. Sie hatte wenig Zeit zu verlieren, wenn sie die katholische Erbfolge in England sicherstellen wollte, schließlich war sie bereits 38 Jahre alt. Philipp war elf Jahre jünger als seine Großtante, aber offenbar nicht weniger zu dieser Ehe entschlossen als sie. Seit neun Jahren war er Witwer. Seine erste Frau war im Alter von 17 Jahren nur wenige Tage nach

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der Geburt ihres ersten Kindes gestorben, das dem Vater wegen seiner begrenzten geistigen Zurechnungsfähigkeit noch reichlich Sorgen machen sollte: Don Carlos. Eine Liebesheirat war die erste Ehe Philipps ebenso wenig gewesen wie es die zweite sein sollte. Ausschlaggebend für die Wahl der ersten Gattin seines Sohnes dürfte der Umstand gewesen sein, dass der Schwiegervater sich zu einer immensen Mitgift bereit gezeigt hatte, was für die kriegerischen Unternehmungen Karls von unmittelbarer Bedeutung gewesen war. Philipp II. ließ diejenigen, die ihn auf 125 Schiffen im Juli 1554 nach England begleiteten, während der Überfahrt wissen, dass es sich nicht etwa um eine Vergnügungsreise, sondern um einen Kreuzzug handele. Da sich im Frühjahr aus Protest gegen die anstehende Verbindung Marias mit Spanien zahlreiche Protestanten in England erhoben hatten, entbehrt diese Wahrnehmung nicht einer gewissen Plausibilität. So lässt sich nicht leugnen, dass die Englandpolitik Philipps II. bei allen pragmatisch-machtpolitischen Erwägungen auch von religiösem Sendungsbewusstsein geprägt war. Für die Vision eines einheitlich katholischen spanisch-englischen Weltreiches aber bedurfte es zuallererst eines Erben – doch gerade diesbezüglich erwies sich die Ehe als glücklos. Als sich eine früh verkündete Schwangerschaft als Fehldiagnose herausstellte, reiste Philipp enttäuscht ab. Offenbar hatte ihm der Englandaufenthalt zugesetzt, schließlich hatten die Engländer in allerlei kleinen symbolischen Gesten kein Hehl daraus gemacht, dass Philipp in Rang und Status der Königin unterlegen sei, auch wenn ihm Karl V. zuvor noch schnell das Königreich Neapel und das Herzogtum Mailand übertragen hatte. Jetzt folgte er offenbar bereitwillig der Aufforderung seines Vaters, zur Übernahme der Herrschaft in Spanien und den Niederlanden auf den Kontinent zurückzukehren. Dass auch diese Ehe nicht ohne finanzielle Aspirationen geschlossen worden war, zeigte sich zwei Jahre später, als Philipp II. 1557 deshalb zu Maria zurückkehrte, um von ihr Gelder für den Krieg gegen Frankreich zu erbitten. Erneut klammerte diese sich an die Hoffnung, schwanger zu sein. Doch offenbar war es ein Krebsgeschwür, das ihren Leib anschwellen ließ. Am 17. November 1558 starb Maria, ohne einen Erben geboren zu haben. Zunächst bemühte sich Philipp nun um ihre Nachfolgerin, die Halbschwester Elisabeth. Doch als diese sich dem Werben allzu lange widersetzte, entschied er sich für eine grundsätzliche heiratspolitische Kurskorrektur: Standen die früheren Verbindungen nicht zuletzt im Dienst der Bildung einer antifranzösischen Allianz, so besiegelte die Heirat mit Elisabeth von Valois, der ältesten Tochter von Heinrich II. von Frankreich und Katharina von Medici, nunmehr den 1559 geschlossenen Frieden mit Frankreich. Diesem kam insofern eine epochale Be-

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deutung zu, als der jetzt folgende dreißigjährige Friedenszustand Philipp eines Konfliktherdes enthob, der die Regierungszeit seines Vaters dauerhaft belastet hatte. Wie sehr die junge Prinzessin, die bei der Hochzeit im Januar 1560 gerade 14 Jahre alt war, als Unterpfand des allgemein ersehnten Friedens galt, geht aus dem Beinamen hervor, den die Spanier für sie fanden: Reina de la paz, Friedenskönigin. Die junge Frau brachte eine neue Vitalität in die kastilischen Städte. Deren Kargheit und mangelnde Infrastruktur waren ihr zuwider, den Sommer in Toledo ertrug sie nur schwer, den Winter schon gar nicht. Dass schließlich Madrid zur neuen Hauptstadt des Königreiches wurde, wird nicht zuletzt ihrem Einfluss beziehungsweise ihrer Abneigung gegen das provinzielle, karge Toledo zugeschrieben. Auf ihre Bedürfnisse galt es schon deshalb Rücksicht zu nehmen, weil ihre Gebärfähigkeit nicht beeinträchtigt werden durfte. Für den Geschlechtsverkehr hatte man ihren 15. Geburtstag abgewartet, nun wartete der Hof auf die erste Schwangerschaft. 1564 erlitt sie eine Fehlgeburt, zwei Jahre später brachte sie endlich ein gesundes Kind zur Welt. Auch wenn die Enttäuschung zunächst darüber groß war, dass es sich „nur“ um ein Mädchen handelte, wuchs Philipp II. seine Tochter Isabel Clara Eugenia fest ans Herz. Ebenso wie die im Folgejahr geborene Tochter Catalina Micaela. Die erst 1884 aufgefundenen Briefe Philipps II. an seine Töchter geben Einblick in die Beziehungen zwischen Vater und Töchtern und zeigen Seiten Philipps II., die den Historiographen bis dato verborgen gewesen waren. Doch die beiden Mädchen hatten die Nachfolgefrage immer noch nicht befriedigend geklärt, die Geburt eines Jungen hätte es einfacher gemacht, die Thronfolge wegen der Unzurechnungsfähigkeit des Erstgeborenen Don Carlos zu verändern. Wieder schöpfte der König Hoffnung, als Elisabeth erneut schwanger war, doch das jetzige Kind, das zu früh und lebensunfähig zur Welt kam, kostete seine Mutter das Leben. Es war das Jahr 1568, das annus horribilis, in dem nicht nur die 23-jährige Gattin, sondern auch – zwei Monate zuvor – der Erstgeborene gestorben war. Das Schicksal von Don Carlos hat insbesondere die Nachwelt bewegt. Schillers gleichnamiges Drama, welches das Bild eines jungen Helden zeichnete, der die Freiheit und die Stiefmutter heißblütig liebte und von seinem egozentrischen Vater in den Tod getrieben wurde, hat entscheidend dazu beigetragen, den Sohn zur tragischen Lichtgestalt und den Vater zum Tyrannen zu stilisieren. Die Akten zeichnen ein anderes Bild. Offenbar bereitete nicht nur die physische Entwicklung, sondern auch das emotionale und moralische Verhalten

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des Thronfolgers schon frühzeitig Sorgen. Er galt als jähzornig, unbeherrscht und brutal, wobei er seine Grausamkeiten nicht zuletzt an Tieren ausließ. Ein schwerer Unfall, bei dem er 1562 eine Treppe hinunterstürzte und sich am Kopf so verletzte, dass die Ärzte die einzige Heilungschance in einer Kopfoperation sahen, scheint die Verhaltensauffälligkeiten verstärkt zu haben. Als nun dieser Sohn, dessen Verhalten der König für unberechenbar hielt, sich anschickte, in die Politik einzugreifen und die Statthalterschaft in den Niederlanden anzustreben, zögerte Philipp nicht, den eigenen Sohn verhaften zu lassen, zumal dieser mit den gegnerischen Flamen Kontakt aufgenommen hatte. Um Don Carlos von der Thronfolge auszuschließen, galt es nun, seine moralische und mentale Andersartigkeit hervorzukehren. Zum Verhängnis wurde dem körperlich und psychisch Geschwächten schließlich das eigene Essverhalten. Auf einen Hungerstreik folgten kulinarische Maßlosigkeiten. Nach übermäßigem Verzehr von Eiswasser erkrankte er offenbar an der Ruhr. Schließlich starb er am 24. Juli 1568, ohne dass sein Vater ihm die Bitte einer letzten Begegnung erfüllt hätte. Erst Philipps vierte und letzte Frau brachte den künftigen Erben und Thronfolger zur Welt. Noch bevor Elisabeth von Valois den letzten Atemzug getan hatte, wurden bei Hofe Überlegungen bezüglich einer weiteren Heiratsmöglichkeit angestellt. Schließlich einigte man sich auf Anna, die älteste Tochter aus der Ehe von Maximilian von Habsburg und Philipps Schwester Maria. Die zweiundzwanzig Jahre jüngere Braut war damit seine Nichte. Diplomaten berichteten von einer großen wechselseitigen Anhänglichkeit. In Zeiten der Trennung schrieben sich die Eheleute wöchentlich mehrmals Briefe und wussten Treffen zu arrangieren, um sich zumindest kurzfristig zu sehen. Wieder gab es Turniere am Hof, bei denen Philipp davon ausging, dass sie die Gattin unterhielten. Anna erfüllte die dynastischen Hoffnungen insofern, als sie fünf Kinder gebar. Schon ein Jahr nach der Heirat 1570 kam das erste Kind zur Welt, dann jeweils im Zwei- oder Dreijahresrhythmus die nächsten. Nachdem Philipp so lange auf einen gesunden Knaben gewartet hatte, schien sich das Blatt jetzt zu wenden: Vier der fünf geborenen Kinder waren Jungen. Allerdings starb einer nach dem anderen noch im Kleinkindalter, so dass schließlich nur ein einziges Kind, der nunmehrige Thronfolger Philipp, überlebte. Dieser aber wuchs ohne Mutter auf, weil auch ihr die Reproduktionsaufgabe zum letalen Risiko wurde: Sie starb 1580 im Alter von 31 Jahren nach der Geburt ihres fünften Kindes, dem wiederum nur drei Lebensjahre vergönnt sein sollten.

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Schon in den 1540er Jahren hatte der gichtgeplagte Karl V. erwogen, die Herrschaft seinem Sohn zu übertragen. Eine solche Lösung war aber nicht möglich, solange Johanna die Wahnsinnige lebte. Rund 50 Jahre (!) lang vegetierte die Mutter Karls V. im Kloster von Tordesillas, wo sie auf Befehl ihres Vaters 1506 wegen depressiver Selbstverwahrlosung weggeschlossen worden war. Gleichwohl blieb sie in all diesen Jahren die rechtmäßige Herrscherin, die nominell gemeinsam mit Karl regierte, der die Herrschaft in ihrem Namen ausübte. Ein Rücktritt Karls hätte die Herrschaft daher nicht an Philipp weiter-, sondern an Juana zurückgegeben. Erst ihr Tod 1555 gab Karl V. den Weg zum sukzessiven Rückzug aus der Regierungsverantwortung frei. Im Oktober jenes Jahres übertrug Karl sodann Philipp die Herrschaft in den Niederlanden, im Januar 1556 folgten die restlichen spanischen, italienischen und amerikanischen Territorien. Mit den nach ihm benannten Philippinen, die 1571 hinzukamen, war Philipp nun tatsächlich – auch ohne die deutschen Staaten – Herrscher über ein globales Reich. Die Durchdringung der Territorien mit seinem Herrschaftsanspruch war jedoch sehr unterschiedlich und ist insbesondere für die räumlich weiter entfernten Territorien, zuweilen aber selbst für die spanischen Regionen schwer zu beurteilen. Um den vielfältigen Aufgaben gerecht zu werden, strebte Philipp ein zentralistisches Herrschaftssystem an, in dem die Fäden einer stetig wachsenden Bürokratie allein in seinen Händen zusammenlaufen sollten. Das Projekt war schon wegen der strukturellen Überforderung eines Einzelnen an der Spitze eines solchen Weltunternehmens von Beginn an zum Scheitern verurteilt, aber mit dem Typus eines Königs, der die Entscheidungen nicht mehr durch eigene Präsenz auf den Schlachtfeldern oder vor den regionalen Autoritäten suchte, sondern durch seine exorbitante Schreibtischtätigkeit, wies es Spanien (und Europa) den Weg in moderne bürokratische Herrschaftsformen. Die meiste Zeit des Tages verbrachte der König mit Akten, zu deren wachsendem Umfang er deshalb beitrug, weil er persönliche Begegnungen, die ihn zu schnellen Entscheidungen nötigten, nach Möglichkeit vermied und die Angelegenheiten lieber schriftlich verhandelte. Die Bedachtsamkeit bei der Entscheidungsfindung trug ihm den Beinamen „Rey prudente“16 ein, wobei dieser Zuschreibung von „Klugheit“ eine nicht allzu versteckte Kritik am zögerlichen Verhalten des Königs innewohnte. Dieses aber war nicht nur durch die Persönlichkeitsmerkmale Philipps, sondern auch durch dessen Arbeitslast bedingt. Die Marginalien aus seiner Feder am Rand

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unzähliger Dokumente zeugen vom ungewöhnlichen Pensum eines Monarchen, den die Spanier nicht ohne Spott auch „Rey papelero“17 nannten: Papierkönig. Innerhalb von fünf Monaten soll der König 16.000 Petitionen bearbeitet und an einem einzigen Tag rund 400 Dokumente unterschrieben haben.18 In den 1580er Jahren legte er sich schließlich einen Stempel zu, mit welchem er seinen Namen auf die Unterlagen drückte. Unentwegt las und schrieb er – und kam doch nicht gegen die wachsende Papierflut an. Die ältere Forschung tendierte dazu, das Manische in diesem Arbeitsverhalten hervorzuheben und mit einer Mischung aus Mitleid und Überheblichkeit die Geringfügigkeit der Themen zu benennen, in denen sich Philipp zwangsläufig verzetteln musste. Die neuere Forschung hingegen erkennt darin einen Paradigmenwechsel in der Herrschaftslegitimation: Der König musste alles wissen. Herrschaft sollte grundsätzlich nur denen anvertraut werden, die „entera noticia“19 (vollständige Kenntnis) hätten. Dass der Monarch nun nicht nur die immer schon erwünschte allgemeine „Klugheit“, sondern vor allem konkrete Kenntnisse besitzen sollte, spiegelte eine neue Wertschätzung des Wissens. So entwickelte sich gerade in Spanien im Umfeld des Hofes eine praxisorientierte, empirienahe Wissenskultur, die mit klaren politischen Zielsetzungen einherging. Spanien, so sieht es ein neuerer Forschungstrend, wurde zum „Mutterland der systematischen Verbindung von Herrschaft und Wissen“.20 Systematisch wurden beispielsweise Fragenkataloge erstellt, versandt und ausgewertet, mit denen das Wissen über die entfernt gelegenen Kolonien bilanziert und die Herrschaftspraxis ausgelotet werden sollte. Dieses Wissen zur politischen Nutzung bereitzuhalten, war nicht zuletzt auch Anstoß für die Einrichtung des ersten Zentralarchivs in Simancas. Auch die Bibliothek des Escorial wurde zu einem Ort des Wissens. Leicht war Philipp für die humanistische Idee zu gewinnen gewesen, eine Universalbibliothek einzurichten. Das verweist einerseits auf eine dezidierte Bibliophilie des Herrschers, andererseits darauf, dass der Besitz kostbarer Drucke zu einem Prestigeobjekt geworden war, das die anderen europäischen Herrscher neben ihm verblassen ließ. Entstand doch im Escorial die umfangreichste Privatbibliothek Europas, die Werke aus den verschiedensten Fachgebieten der damaligen Zeit von der Theologie über die Geographie bis zu Romanen umfasste. Von Beginn an war es das Ziel Philipps, diese Werke der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Zwar dürfte für viele Gelehrte der Weg in die kastilische Berglandschaft zu beschwerlich gewesen sein, aber nachweisbar ist, dass sich eine Gruppe von Hofmitgliedern um Philipp scharte, die in ihren regen literarischen, historischen und archäologischen Debatten Bezug auf die Bücher im Besitz des

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Königs nahm. In dessen Bibliothek fanden sich auch zahlreiche theologische und philosophische Schriften, die schon deshalb nur hier zu lesen waren, weil sie durch den spanischen Index von 1559 verboten und eingezogen worden waren. Diese Ambivalenz zwischen dem Wunsch, auf universale Gelehrtheit zurückgreifen zu können, und dem Ziel, dabei nur die Kenntnisse zugänglich zu machen, die die reine katholische Lehre nicht gefährdeten, verweist auf die charakteristische Ambiguität seiner Herrschaft als spanischer König. Philipp II. verfolgte zugleich das Ziel, die Effektivität der Regierung durch die Zusammenführung aller Ratsgremien an einem Ort zu erhöhen. Insofern war es kein Zufall, dass er nach den langen Jahrhunderten des Reisekönigtums zwischen den verschiedenen Residenzen eine Hauptstadt für sein Reich schuf, auch wenn zunächst wenig auf Madrid hingedeutet hatte. Philipp hatte zunächst Valladolid bevorzugt, aber nach seiner Rückkehr nach Spanien im Jahr 1559 schien gerade hier der katholische Glaube durch mehrere Häresie-Fälle bedroht zu sein. Nunmehr orientierte sich der Hof an dem historischen und religiösen Zentrum Kastiliens: Toledo. Doch die dortige Welt der Kleriker und des beschränkten Komforts kollidierte in mancherlei Hinsicht mit den Erwartungen vieler Hofleute, die kurz zuvor die freizügigere Atmosphäre und die hygienischen Standards niederländischer Städte genossen hatten. Dass die Königin, wie erwähnt, an der Stadt keinen Gefallen fand, dürfte das Seine dazu beigetragen haben, dass der König sie nicht zur Hauptstadt erhob. Hinzukam die geographische Anlage des Stadtkerns, die durch den Tajo, der die Stadtanlage fast umschloss, kein organisches Wachstum an der Peripherie ermöglichte. So fiel die Wahl schließlich auf eine Stadt, für die die Lage an den Verkehrsknotenpunkten des Landes, eine gute Wasserversorgung und die Nähe sowohl zu den alten Residenzen als auch den Jagdgebieten des Königs sprachen: Madrid. Welchen Sogeffekt die Ernennung der kastilischen Kleinstadt zur Hauptstadt im Jahr 1561 entwickelte, lässt die Bevölkerungsentwicklung erahnen: Wohnten 1550 deutlich weniger als 10.000 Menschen in Madrid, waren es 1561 schon 16.000 und 1570 immerhin 34.000 Menschen. Dass die neue spanische Kapitale längst nicht mit anderen europäischen Hauptstädten konkurrieren konnte, ging aus den diskreditierenden Kommentaren Annas von Österreich hervor, die 1570 in Madrid einzog. Dabei wurde die Entwicklung einer kontinuierlichen Hofkultur dadurch beeinträchtigt, dass der König als Fixpunkt der höfischen Gesellschaft immer wieder ausgedehnte Reisen unternahm und daher über lange Zeit abwesend war. Hinzu kam, dass er sich unmittelbar, nachdem er Madrid zur Hauptstadt ernannt hatte, entschloss, für den eigenen Aufenthalt zusätzlich

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Abb. 7: Der Escorial als 1563–1584 errichtete Palast- und Klosteranlage mit Grablege der spanischen Könige.

einen neuen Gebäudekomplex in den Bergen errichten zu lassen. Auch hierzu dürften ihn die Niederlande inspiriert haben, war er doch von deren Prinzip, Palast und Landschaft als eine Einheit zu betrachten, begeistert gewesen. So suchte er jetzt die direkte Nähe zur Natur, die bald einen solchen Stellenwert einnahm, dass Henry Kamen Philipp II. als ersten Umweltaktivisten unter den europäischen Herrschern bezeichnet hat. Der Bau des Escorial wurde schließlich nicht nur zum kulturell wichtigsten Projekt seiner Herrschaft, sondern ist immer wieder als Sinnbild des spanischen Königs selbst verstanden worden, dessen Architektur Schlichtheit, Frömmigkeit und Autorität verkörperte. Zwei zentrale Aufgaben hatte der Herrscher dem Palast zugedacht: Er sollte dem Lob Gottes und dem Ruhm der Dynastie dienen. Das Sakrale und das Profane, Religion und Politik sollten aufs Engste zusammenkommen. Schon 1557 hatte Philipp offenbar nach einem Sieg gegen die Franzosen gelobt, dem Heiligen Laurentius eine Kirche zu errichten. Da es zudem galt, dem Vater, dessen sterbliche Überreste vorerst in der kleinen Klosterkirche des Hieronymitenordens in Yuste beigesetzt waren, eine angemessene Grabstätte zu verschaffen, entstand die Idee, Kloster, Priesterseminar, Grablege, Bibliothek und Palast miteinander zu vereinen. Die Entscheidung fiel im November 1561, im

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folgenden Jahr wurden die Pläne entwickelt und 1563 der Grundstein gelegt. Drei Jahre später konnte der König seine Gemächer beziehen, aber erst 1584 war das Bauwerk fertig. Wie sehr es schon die Zeitgenossen zu beeindrucken vermochte, belegt die Euphorie japanischer Adeliger, die in jenem Jahr den Escorial als das großartigste Bauwerk bestaunten, welches sie jemals gesehen hätten oder sich auch nur vorstellen könnten. Die Historiographie hat an diesem Bauwerk stets die Vorstellung fasziniert, wie von diesem Ort der Abgeschiedenheit aus die Geschicke eines weltumspannenden Reiches gelenkt wurden. „Sein Körper“, berichtete sein damaliger Sekretär, „war nur an einem Ort tätig, aber die Tätigkeit seiner Seele breitete und weitete sich über beide Weltteile aus und schuf mit Federstrichen so viel wie alle seine Vorväter mit der Spitze ihres Schwertes.“21 Einer, der noch über zweihundert Jahre später von der Vorstellung eines unbewegten Herrschaftszentrums fasziniert war, sollte Leopold von Ranke sein, der ausführlich beschrieb, wie sich die „Geschäfte des weitläufigsten Reichs sämmtlich an seinem Tische versammelten. […] Von hier aus […], oft in vollkommener Einsamkeit, regierte er die ihm unterthänige Welt.“22 Weniger wohlwollende Stimmen sprachen von der „Spinne im Netz“23, bei der alle Fäden zusammenliefen – inmitten der Provinzialität ländlicher Idylle. Aber alle diese Bilder führen schon deshalb in die Irre, weil sie eine Allmacht suggerieren, über die Philipp II. zu keiner Zeit verfügte. Die Funktionstüchtigkeit seiner Herrschaft war abhängig von der Loyalität der untergeordneten Amtsträger und vom guten Rat seiner Vertrauten. Im Wissen um diese Abhängigkeiten sollte Philipp seinem Sohn später raten, sich niemals über den Rat seiner besten Minister hinwegzusetzen und nicht alles ohne sie regeln zu wollen, denn „was kann man […] von einem König erwarten, der auch nur ein Mensch ist und Opfer seiner Leidenschaften und Fehler, wenn er sich nicht mit jemandem berät?“24 Zugleich aber warnte er davor, diesen Ratgebern zu sehr zu vertrauen, um nicht Irrtümern aufzusitzen und in Abhängigkeiten zu geraten. Diesen Leitlinien war Philipp offenbar weitgehend gefolgt. So hatte er Ratgeber aus verschiedenen sozialen Kreisen an sich gebunden: Mit dem Herzog von Alba war der alte Adel vertreten, mit dem Jugendgefährten Ruy Gómez de Silva ein Angehöriger des niederen Landadels und mit Diego de Espinosa kamen die Le­ trados, die Gelehrten zum Zuge. Zugleich aber gewährte er sein Vertrauen nur auf Zeit. Im Schnitt fielen selbst diejenigen nach zehn Jahren in Ungnade, die zuvor vermeintlich unanfechtbare Positionen innegehabt hatten. Welch fatale Auswirkungen die Folge von Gunst und Ungnade haben konnte, zeigte sich am Fall Antonio Pérez. Dieser war 1568 im Alter von 28 Jahren Sekretär von Phi-

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lipp geworden und wurde in den folgenden elf Jahren der engste Vertraute des Königs. Seine Kenntnisse über Spionagegeheimnisse, die zum diplomatischen Alltagsgeschäft der damaligen Zeit gehörten, machten ihn zu einem der mächtigsten Höflinge. Dabei waren letztlich sowohl der König als auch Antonio Pérez in so viele Intrigen verstrickt, dass es bis heute schwer fällt zu beurteilen, wer wem eine Falle stellen wollte. Opfer dieser Intrigen wurde schließlich der Halbbruder von Philipp II., Don Juan de Austria. Als Philipp nach dessen Tod durch die Lektüre seiner Briefe erkennen musste, dass dieser ihm gegenüber doch viel loyaler eingestellt gewesen war, als er vermutet hatte, scheint er seine Wut gegen den Sekretär gerichtet zu haben. Pérez wurde 1579 verhaftet, konnte jedoch nach Aragón fliehen und setzte von dort aus zum publizistischen Gegenangriff an. Nachdem ein von ihm forcierter Aufstand in Aragón niedergeschlagen worden war, floh er nach Frankreich, wo sein rhetorischer Rachefeldzug als Propaganda gegen den Erzfeind hochwillkommen war. Seine Argumentationsmuster, nicht zuletzt das negative Bild von Philipp II., avancierten zu Kernbestandteilen der Leyenda negra. Diese fiel auf umso fruchtbareren Boden, als Philipp II. in einigen Aspekten seiner Regierungszeit tatsächlich wenig erfolgreich oder doch zumindest unglücklich agierte. Zu den Unausgewogenheiten seiner Regierung zählt auch die Finanzpolitik. Die Kriege, die Spanien bis auf die Jahre 1559 bis 1566 unablässig führte, erforderten zu viel Geld, zumal erst in den 1570er Jahren die Silberlieferungen aus den Bergwerken der Anden, allen voran aus Potosí, exponentiell zunahmen. Die Anhebung der Steuerlast führte innenpolitisch zu Schwierigkeiten und die Aufnahme von Krediten bei europäischen Bankhäusern zu außenpolitischen Verwicklungen. Gleich viermal – 1557, 1560, 1575 und 1596 – sah sich Philipp zur Begleichung der Schulden nicht mehr in der Lage und flüchtete sich in den Staatsbankrott. Doch schon im 16. Jahrhundert hatte ein Staatsbankrott gesamteuropäische Auswirkungen und schadete dem Image der spanischen Großmacht. Das internationale Bild Philipps war jedoch vor allem geprägt durch seine Religionspolitik.

„Verteidiger des katholischen Glaubens“: Der König und die Religion

Zeit seines Lebens war Philipp II. ein tiefreligiöser Mann, bei dem sich religiöse und politische Inhalte untrennbar vermischten. Dabei ergaben sich im Laufe seines Lebens unterschiedliche Schwerpunktsetzungen: Nachdem zunächst

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machtpolitische Erwägungen dominant gewesen waren, traten ab den 1580er Jahren die konfessionellen Motive in den Vordergrund. Bei dem Versuch, Philipps Frömmigkeit zu quantifizieren, verweisen die Biographen regelmäßig auf seinen ausgeprägten Reliquienkult, schließlich hatte er insgesamt rund 7.000 Überreste heiliger Körper zusammentragen lassen, darunter 144 Köpfe Heiliger, 306 Arme und Beine, auch Haare von Jesus und Maria sollen in der Sammlung gewesen sein, wie auch unzählige Fragmente des Heiligen Kreuzes und der Dornenkrone. Nicht zuletzt die Reliquiendichte in Deutschland, vor allem in Köln, soll ihn 1550 beeindruckt und animiert haben, seinen Gesandten Sammelaufträge zu erteilen. Noch wenige Monate vor seinem Tod erhielt Philipp II. vier große Behältnisse mit Reliquien aus Köln. Doch dürfte auch diese Sammlung durchmischt mit profanen Interessen gewesen sein, schließlich waren auch Reliquien ein Feld, auf dem Philipp den Vorrang der spanischen Monarchie im europäischen Christentum unterstreichen wollte. Da die zahlreichen Trophäen in kostbaren Silberreliquiaren verwahrt wurden, war die Sammlung nicht nur ein Ausweis des spirituellen, sondern auch des materiellen Glanzes Spaniens. Zugleich aber war der ins Extreme gesteigerte Heiligen- und Reliquienkult Ausdruck einer katholischen Orthodoxie, um deren Verteidigung Philipp II. mehr als alles andere besorgt war. Schon in seiner Erziehung waren diesbezügliche Schwerpunkte gesetzt worden. Gerade jene hatten dabei einen zentralen Einfluss gehabt, die die Limpieza de sangre für das wichtigste Instrument zur Reinhaltung von Spaniens Verwaltungs- und Kircheneliten hielten. Die mehrfache Bitte seines Vaters, sich dem Schutz des katholischen Glaubens zu verpflichten, tat das Ihre, Philipps Selbstverständnis und Weltbild entsprechend zu festigen. Er möge, schärfte der Vater dem Sohn bei der Amtsübergabe ein, der „eifrige Verteidiger des katholischen Glaubens“ bleiben.25 Noch in seinem letzten Brief an den Sohn vom September 1558 beschwor Karl V. seinen Sohn „mit aller Inständigkeit und Dringlichkeit“, bzw. befahl es ihm sogar „als sein liebender Vater und um des Gehorsams willen, den Er mir schuldig ist, als Wichtigstes und Hauptsächliches, daß die Ketzer vernichtet und bestraft werden mit allem nur möglichen Nachdruck der Gewalt, ohne Ausnahme und ohne Barmherzigkeit“.26 Im Reich hatte Karl V. mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 diesen Kampf bereits verloren. Umso vehementer galt es nun, die Ausbreitung der „Häresie“ in den spanischen Landesteilen zu verhindern. Da sich in den Niederlanden schon erwies, wie schwierig es war, die protestantische bzw. calvinistische Bewegung einzuhegen, nachdem sie erst einmal Wurzeln hatte schlagen können, galten Philipps Bemühungen in Spanien dem Ziel, es gar nicht

„Verteidiger des katholischen Glaubens“: Der König und die Religion

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erst so weit kommen zu lassen. Als er 1559 nach dem Sieg über Frankreich nach Spanien zurückkehrte, das er vier Jahre zuvor verlassen hatte, signalisierten zwei Maßnahmen die Entschlossenheit des Königs, in Glaubensfragen keinerlei Toleranz zu dulden. Zum einen erschien nun der von Großinquisitor Fernando de Valdés zusammengestellte Index der verbotenen Bücher, zum anderen fanden in diesem Jahr ausgedehnte Ketzerprozesse statt. In Valladolid und in Sevilla führten sie zu Autos de fe, jenen „Glaubensinszenierungen“, bei denen von Mai bis Oktober 1559 insgesamt 49 Menschen verbrannt wurden. Im Dezember standen in Sevilla erneut Scheiterhaufen in Flammen. Die Härte der spanischen Inquisition ist in der Forschung zuletzt relativiert worden. Brendecke hat darauf hingewiesen, dass die Inquisition durch die unzähligen Befragungen nicht zuletzt der Anhäufung von Wissen diente. Zudem ist unstrittig, dass den Hexenprozessen in anderen Ländern weit mehr Menschen zum Opfer fielen. Auch kamen in der einen Bartholomäusnacht vom 24. auf den 25. August 1572 in Paris rund 3.000 Hugenotten um – was die Zahl von 5.500 Hingerichteten in den ersten 60 Jahren der spanischen Inquisition nicht weniger schlimm macht, aber in ein anderes Verhältnis setzt.27 Mit Beginn der Herrschaftszeit von Philipp II. gingen die Todeszahlen allerdings zurück: In der zweiten Phase der Inquisition von 1540 bis 1699 kann von 1.600 Hingerichteten ausgegangen werden. Allerdings wird man der Breitenwirkung der Inquisition nicht gerecht, wenn man „nur“ die Zahlen der Exekutierten zugrunde legt. Unzählige mehr wurden Opfer von Demütigungen oder hatten physische und materielle Beeinträchtigungen zu erleiden. Welches Ausmaß zudem die allgemeine Angst vor der Inquisition erreichte und inwiefern diese die spanische Gesellschaft deformierte, wäre anders als spekulativ nicht zu beantworten. Die Allgegenwart dieser Fragen in der Literatur des Siglo de Oro lässt allerdings vermuten, dass der gesellschaftliche Alltag von diesem Phänomen massiv geprägt war. Philipps Motive unterschieden sich offenkundig nicht sonderlich von denen der Katholischen Könige, die diese Institution 1478 ins Leben gerufen hatten. Wie seine Großeltern war auch er davon überzeugt, dass bei Fragen des religiösen Heils keine Nachlässigkeit gestattet war. Auch ihn dürfte darüber hinaus die Zugriffsmöglichkeit auf das Vermögen, das durch den Einzug der Besitztümer der Verurteilten der Krone anheimfiel, von der Nützlichkeit der Institution überzeugt haben. Machtinteressen und religiöse Überzeugung gingen Hand in Hand. Gleichwohl vollzog sich unter Philipp insofern ein signifikanter Wandel, als nunmehr erstmals systematisch die Protestanten in das Visier der Inquisition

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gerieten. Die Brutalität, mit der die Inquisition lutherische Zirkel in Valladolid und Sevilla zerschlug, dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass der Protestantismus in Spanien keine Wurzeln schlagen konnte. Doch auch in der Verfolgung der Konvertierten ließ Philipp nicht nach. Dabei wurden Konflikte aktiviert, die in der Religionspolitik seiner Vorgänger angelegt waren. Das betraf insbesondere die Morisken Granadas. Diese hatten in massenhaften Zwangstaufen 1502 vielfach nur zum Schein den christlichen Glauben angenommen und mehr oder weniger verdeckt ihre islamischen Traditionen gepflegt. Unter Karl V. war ihnen dies im Jahr 1526 als Privileg für 40 Jahre zugestanden worden. Diese Frist lief 1566 ab. Als die islamischen Riten nun untersagt werden sollten, erhoben sich die Morisken, was 1568 in einen zweijährigen, überaus grausam geführten Krieg mündete, dem über 90.000 Menschen zum Opfer fielen.28 Die noch etwa 300.000 Morisken wurden schließlich von einer hochgerüsteten Armee unter Don Juan de Austria niedergeworfen. Wer überlebte, wurde nach Kastilien, Aragón oder in die Extremadura deportiert. Anders als bei Philipp ist zumindest die Empathie des 23 Jahre alten Feldherrn belegt, der es als „das Traurigste von der Welt“ bezeichnete, zusehen zu müssen, „wie sich diese armen Leute, da es zum Zeitpunkt des Abmarsches heftig regnete, stürmte und schneite, jammernd aneinanderklammerten“. Don Juan führte Befehle aus, machte aber kein Hehl daraus, dass er dies für „das Jämmerlichste [hielt], was sich denken lässt“.29 Der Krieg gegen die „heimlichen“ Muslime in Spanien erwies sich retrospektiv als Auftakt zu dem, was als letzter großer Kreuzzug im Mittelmeer in die Geschichte eingehen sollte. Dieser war Teil der Außenpolitik des Königs.

Die spanische Kriegspolitik: Teil einer „Großen Strategie“?

An Anfang und Ende seiner Regierungszeit standen Krieg und Frieden mit Frankreich. Da der französische König Heinrich II. hoffte, einen Moment der Schwäche während des Regierungswechsels von Karl zu Philipp nutzen zu können, kam es gleich nach Philipps Machtübernahme zu ersten Angriffen der Franzosen. Doch sowohl in den italienischen Besitzungen als auch an der französisch-niederländischen Grenze verstanden es die spanischen Truppen, den französischen Angreifern Paroli zu bieten. Am 10. August 1557 kam es schließlich in Saint-Quentin zu einem so bedeutsamen Sieg über das französische Heer,

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dass Philipp gelobte, dem Heiligen des Tages, dem Hl. Laurentius, eine Kirche zu bauen – ein Vorsatz, der sich später im Palast des Escorial materialisieren sollte. Der Friedensschluss von 1559 fiel gleichfalls zu Gunsten Spaniens aus: Nachdem sich Frankreich und Spanien rund 60 Jahre lang die Vorherrschaft in Italien streitig gemacht hatten, war Spaniens Vormacht nunmehr gesichert – nicht nur in Italien. Der Frieden von Cateau-Cambrésis besiegelte den Höhepunkt der hegemonialen Stellung Spaniens in Europa. Da Frankreich im Gegenzug aus den Territorien des Deutschen Reiches Metz, Toul und Verdun sowie der bislang englische Hafen Calais zugesprochen wurde, erklärte sich Heinrich II. mit den Konzessionen einverstanden, womit schließlich auch der rund achtzigjährige Konflikt zwischen Habsburg und Frankreich beigelegt schien. Die lange Friedensperiode mit Frankreich nach 1559 war die Voraussetzung dafür gewesen, dass Spanien sich mit so viel Vehemenz dem Versuch widmen konnte, den Aufstand in den Niederlanden niederzuschlagen: Ein Krieg mit Frankreich hätte die Nutzung der Verkehrswege zu Wasser und zu Land beeinträchtigt. Die Ursachen der Erhebung in den Niederlanden sind vielfältig. Zugrunde lag die allgemeine Unzufriedenheit angesichts erheblicher Steuerlasten, mit denen Philipp II. die wohlhabenden Provinzen belastete, zumal sich deren Wirtschaft durch politische und klimatische Umstände ohnehin ungewohnten Schwierigkeiten stellen musste. Hinzu kam die Ausbreitung des Calvinismus, was umso mehr zu Spannungen führte, als Philipp beabsichtigte, die Inquisition in den Niederlanden einzuführen. Auch die Enttäuschung der führenden Adeligen spielte eine Rolle, die fürchteten, durch Philipps Personalpolitik marginalisiert zu werden. Dies empfanden gerade diejenigen als bedrohlich, die wie der Graf von Hoorn oder der Graf von Egmont lange Zeit zu den engsten Gefolgsleuten Philipps gezählt hatten. Als schließlich 1566 calvinistische Prediger ihre Anhänger zum Sturm katholischer Kirchen animierten, beendete Philipp die konziliante Politik seiner Halbschwester Margarete, die bisher als Statthalterin in den Niederlanden tätig gewesen war. Gegen den Rat u. a. seines Jugendfreundes Ruy Gómez, der für eine friedliche Lösung eintrat, entsandte er 1567 den Herzog von Alba an der Spitze einer Interventionsarmee in die Niederlande. Sie sollte mit allen Mitteln – und entsprechender Grausamkeit – den regionalen Widerstand niederkämpfen und die „Häretiker“ vernichten. Da den langjährigen Getreuen Philipps II. Egmond und Hoorn jetzt als Hochverrätern der Prozess gemacht wurde, war jede Möglichkeit einer konzilianten Einigung verstellt. Dass Philipp II. beide trotz der Fürsprache selbst des Kaisers am 6. Juni 1568 in Brüssel hinrichten ließ, trug maßgeblich zu seinem negativen Image innerhalb

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Europas bei. Nach einem harten Strafgericht, im Rahmen dessen Tausenden Holländern der Prozess gemacht wurde, kehrte bald wieder Ruhe in die Provinzen ein, bis der Herzog von Alba zur Finanzierung der auswärtigen Truppen, die den Frieden sichern sollten, in die Steuerhoheit der niederländischen Stände eingriff. Schnell breitete sich ein zweiter Aufstand aus, der nach harten Kämpfen und Grausamkeiten schließlich de facto in eine Teilung der Provinzen mündete, die definitiv erst im Westfälischen Frieden besiegelt wurde. Der Verlauf des insgesamt achtzigjährigen Kampfes um die Unabhängigkeit der Niederlande war abhängig vom professionellen Geschick verschiedener Führungsfiguren und Feldherren, der jeweiligen Kassenlage Spaniens und wechselnden internationalen Konstellationen. Den individuellen Beitrag Philipps dabei auszuloten, bleibt daher schwer, erkennbar aber ist, dass er immer wieder entgegen dem Ratschlag, sich konziliant zu zeigen, auf der rigorosen Hispanisierung der Territorien, der Disziplinierung der Führungselite und der Bewahrung der katholischen Orthodoxie beharrte. Zwar konnte er die Vorherrschaft im südlichen Teil der Niederlande behaupten, aber nur um den Preis unzähliger Menschenleben, eines zerrütteten persönlichen Images in Nordeuropa und der umso entschiedeneren Sezessionsbestrebungen der nördlichen Provinzen. Die internationalen Verwicklungen lassen sich beispielhaft anhand der Bartholomäusnacht nachweisen, die 1572 zum Tod Tausender französischer Hugenotten führte, was die niederländischen Calvinisten eines zuverlässigen Bündnispartners beraubte – und Philipp II. zu einem seiner extrem seltenen Emotionsausbrüche veranlasste: Er soll in lautes Gelächter ausgebrochen sein und im Zimmer herumgetanzt haben. In den Jahren zuvor waren zudem die spanischen Truppen gebunden gewesen durch den Krieg in Granada und die militärische Auseinandersetzung mit den Osmanen. Die Osmanen forderten die spanische Dominanz im Mittelmeerraum heraus und drangen mit ihren Kriegsschiffen immer weiter nach Westen vor. In den Aufständen der Morisken wurde schließlich der Versuch der Osmanen gesehen, die Südküste Spaniens zu islamisieren. Nach der brutalen Niederwerfung der Erhebung 1570 setzte Philipp II. nun zu dem erwähnten Kreuzzug an, der dem Expansionsstreben der Osmanen endgültig Einhalt gebieten sollte. Den Anlass gab deren Ausgreifen nach Zypern, dessen Übergabe sie von der Republik Venedig forderten. Venedig, der Papst und Spanien schlossen sich nun in einer „Heiligen Liga“ zusammen. Die gemeinsame Flotte unter Führung Spaniens und dem Befehl Juan de Austrias traf am 7. Oktober 1570 bei Lepanto auf die gegne-

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rischen Kriegsschiffe, denen sie in der größten Seeschlacht des 16. Jahrhunderts eine schwere Niederlage beibrachten. Wiederum war der Blutzoll enorm. Angewidert beschrieb der Hofhistoriograf Cabrera de Córdoba, wie sich das Meer in Blut verwandelte: „Verwundet, getötet, verbrannt und ins Wasser geworfen wurden Köpfe, Beine, Arme, Körper, Männer in erbärmlichem Zustand.“ Aber dem christlichen Berichterstatter zufolge waren es eben „Leiber ohne Seelen […] denen die Christen den Gnadenstoß versetzten“.30 Neben den 25.000 Osmanen fanden auch 8.000 Christen den Tod. Einer der unzähligen, die als Invaliden heimkehrten, war Miguel de Cervantes, der womöglich weiter Soldat geblieben und nicht zum Dichter geworden wäre, wenn ihm nicht die linke Hand in dieser Seeschlacht verstümmelt worden wäre. Das Echo dieser Schlacht war in der christlichen Welt enorm. Die politischen Folgen blieben aber weit hinter den symbolischen zurück. Nur zwei Jahre später trat Venedig Zypern an die Osmanen ab, im Jahr darauf ging die Festung Tunis an die Osmanen verloren. Philipp II. sah sich aus Finanznot gezwungen, in einen Waffenstillstand einzuwilligen, schließlich hatte er 1575 erneut den Staatsbankrott erklärt und sich entschlossen, die verbliebenen Gelder vor allem in den Krieg in den Niederlanden zu investieren. Als zwei Jahre später die Silberflotte mit Edelmetall in dem für damalige Verhältnisse astronomischen Wert von zwei Millionen Dukaten in Sevilla eintraf, konnte zumindest dieser Kriegszug mit neuen Ressourcen in Angriff genommen werden. Dass das westliche Mittelmeer infolge des Abkommens mit den Osmanen den Spaniern vorbehalten blieb, war wegen der unbeeinträchtigten Route nach Italien von hohem Wert. Die inzwischen gewachsene Ausbeutung der südamerikanischen Silbervorkommen und der damit verknüpfte Geldfluss, der mit dem Anlanden der Silberflotte der spanischen Staatskasse zugutekam, beflügelten die Pläne des spanischen Königs, was den expansiven Zug seiner Außenpolitik seit dem Ende der 1570er Jahre erklärt. Dieser wurde auch durch die Krise der portugiesischen Dynastie begünstigt, war doch der letzte Thronfolger aus dem Hause Avis 1580 kinderlos verstorben. Unter den jetzigen Anwärtern konnte Philipp II. wegen seiner engen verwandtschaftlichen Bindungen als Sohn einer portugiesischen Prinzessin durchaus plausible Ansprüche erheben. Letztlich musste er sie aber mit Waffengewalt durchsetzen, wofür er auf den zwischenzeitlich in Ungnade gefallenen Herzog von Alba zurückgriff. Indem Philipp II. am 16. April 1581 von den portugiesischen Ständen in Tomar als König anerkannt wurde, erfüllte sich der seit den Katholischen Königen gehegte Wunsch, die iberischen Königreiche unter einer Krone zu vereinen. Da er mit der portugiesischen Krone

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auch Portugals ausgedehntes Kolonialreich übernommen hatte, welches den Gewürzhandel mit Asien entlang der afrikanischen Küste kontrollierte, erfuhr das spanische Königreich eine erhebliche territoriale Ausdehnung. Philipp II. stand im Zenit seiner Macht. Dass sich mit dem Abfall der nördlichen Niederlande bereits das Blatt zu wenden begann, zeichnete sich erst im Rückblick ab. Im Bewusstsein seiner neuen Machtfülle konkretisierte Philipp in den folgenden Jahren vielmehr die Pläne einer Invasion in England. England hatte seit den Katholischen Königen eine bedeutende Rolle im politischen Kalkül der spanischen Außenpolitik gespielt: zunächst als potentieller Partner in einer Allianz mit antifranzösischer Spitze, später als Einflussraum zur Kompensation des verlorengegangenen Deutschen Reichs. Nachdem sich dieser Einfluss über eine friedliche Heiratspolitik nicht hatte herstellen lassen, wurden unter Philipp II. immer wieder Möglichkeiten erwogen, diesen mit Gewalt durchzusetzen. Mehr und mehr spielten dabei konfessionelle Gründe eine Rolle, so sehr der König aus pragmatischen Erwägungen zwischenzeitlich auch immer wieder überkonfessionelle Koalitionen einging. Dass die englische Königin Elisabeth offen Francis Drake protegierte, der mit seiner Piraterie dem spanischen Überseehandel zusetzte, wo er nur konnte, trug zur Verschlechterung des spanisch-englischen Verhältnisses bei. Den Ausschlag gab schließlich 1587 die Enthauptung der katholischen Königin Schottlands, Maria Stuart. Ihr waren Gerüchte um Putschpläne zum Verhängnis geworden, in die Spanien verwickelt sein sollte. Nun fiel der Entschluss, in England einzumarschieren. Im Mai 1588 stach die spanische Armada mit 158 Schiffen in See, doch von Beginn an stand das Unternehmen unter einem ungünstigen Stern. So war der für den Oberbefehl vorgesehene Kommandeur plötzlich gestorben und musste durch einen auf See unerfahrenen Befehlshaber ersetzt werden. Dessen Bedenken sollten sich als allzu berechtigt erweisen, setzte doch ein Sturm im Ärmelkanal der Flotte derart zu, dass sie die in Flandern bereitstehende Invasionsarmee nicht an Bord nehmen konnte. Schnell wurden die Landungsabsichten fallengelassen und angesichts der nach wie vor stürmischen See, die eine direkte Rückkehr unmöglich machte, durch den Plan ersetzt, die britischen Inseln zu umsegeln – ein Unternehmen, das einem Drittel der Schiffe an den Klippen der schottischen und irischen Küste zum Verhängnis wurde. Zu einem Gefecht mit den Engländern war es nur einmal vor der niederländischen Küste gekommen, so dass diese das Desaster der Spanier nicht der eigenen Überlegenheit, sondern den Witterungsbedingungen verdankten. Doch in der Londoner Propaganda wurde aus der spanischen Niederlage schnell ein englischer Sieg, dessen Dimen-

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sionen völlig überzeichnet wurden, schließlich waren weder die Armada noch die spanische Vorherrschaft zur See zerstört. Vielmehr führten die Verluste zu Verbesserungen im Schiffsbau, welche den spanischen Vormachtanspruch nachhaltig unterstrichen. Dennoch kann man das spanische Invasionsprojekt nicht anders als gescheitert betrachten, ebenso wie jenes, in den Niederlanden die staatliche und religiöse Einheit wiederherzustellen. Schon die Berater Philipps II. waren von dessen Erfolgsbilanz nicht angetan und kritisierten unverhohlen die Vielzahl der Konfliktherde, die zwangsläufig zu einer Schwächung der Kräfte hatte führen müssen. Doch so sehr sie es begrüßt hätten, wenn sich der König auf nur ein Ziel konzentriert hätte, so hätte dies doch seinem Selbstverständnis als Verteidiger des katholischen Glaubens in Europa widersprochen. Die Historiographen kommen in Bezug auf Philipps Kriegspolitik zu widersprüchlichen Urteilen: Während die einen die Existenz eines klaren Planes abstreiten, erkennen andere eine „Große Strategie.“31 Tatsächlich sind beide Konzepte leicht miteinander zu vereinen: Basierend auf dem seit Isabella I. und Karl V. tradierten missionarischen Selbst- und Staatsverständnis stand Philipp wenn nicht für die katholische Universalmonarchie, so doch für die katholisch-spanische Hegemonie in der westlichen Welt. Indem er dieses utopische Ziel verfolgte, stieß er zwangsläufig auf Widerstände, auf die er meinte, reagieren zu müssen, wo sie auch auftraten. Dadurch gab er notgedrungen das Heft des Handelns aus der Hand und machte das eigene Reich durch die Überdehnung der Fronten angreifbar. Was er tat, tat er im Bewusstsein strikter Gewissenhaftigkeit und Pflichterfüllung. Wie sehr er sein Leben diesen Prinzipien unterordnen wollte, zeigte sich ein letztes Mal in der Art, wie er seinen Tod inszenierte. Leid und Krankheit hatte er seit langem ertragen: Bereits mit Anfang 30 hatten sich die ersten Gichtschübe eingestellt, die den König zusehends bewegungsunfähig machten, bis er schließlich die letzten Lebensjahre in einer Art Rollstuhl verbringen musste.

Ein langsames Sterben: Der Tod Philipps II.

Seit 1592 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, im Frühjahr 1598 war das Ende des Königs absehbar, doch es war ein „langsame(s) Sterben“.32 Fieber, offene Geschwüre, Gicht und Ohnmachtsanfälle schwächten die physische Konstitution des 71-Jährigen. Gegen ärztlichen Rat ließ er sich Anfang Juli von Madrid in den Escorial tragen und nötigte die engsten Familienmitglieder so-

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wie die klerikale und politische Elite des Landes, mit ihm zu ziehen. Sie wurden Zeugen eines prämortalen Verwesungsprozesses, den Philipp II. mit dem Bewusstsein eines Märtyrers erlitt. Mit dem Blick auf den Hochaltar ertrug er von seinem Bett aus, wie nach und nach die Abszesse an seinem Leib geöffnet wurden. Da die Schmerzen jede Bewegung und damit auch die Reinigung des Körpers und des Bettes unmöglich machten, war es schließlich für alle eine Erlösung, als Philipp II. am 13. September 1598 starb. Nach 42-jähriger Herrschaft endete damit das von „Machtpolitik und Glaubenskampf“33 geprägte Leben eines Monarchen, der sich letztlich vergeblich bemüht hatte, das überdimensionierte Erbe, wenn nicht zu mehren, dann doch zumindest zu wahren, welches ihm die Großeltern und der Vater hinterlassen hatten.

Weiterführende Literatur Bouza-Alvarez, Fernando J.: Monarchie en lettres d’imprimerie. Typographie et propagande au temps de Philippe II, in: Revue d’Histoire Moderne & Contemporaine 41/2 (1994), S. 206–220. Edouard-Laurent, Sylvène: Problématique d’une Monarchie du XVIe Siècle. Philippe II, Un Roi Absolu?, in: Revue Historique 294/2 (1995), S. 225–242. Hinterhäuser, Hans (Hg.): Spanien und Europa. Texte zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München 1979. Kohler, Alfred (Hg): Quellen zur Geschichte Karls V., Darmstadt 1990. Lazure, Guy: Possessing the Sacred. Monarchy and Identity in Philip II’s Relic Collection at the Escorial, in: Renaissance Quarterly 60/1 (2007), S. 58–93. Mulcahy, Rosemarie: Philip II of Spain. Patron of the Arts, Dublin 2004. Parker, Geoffrey: The World Is Not Enough. The Imperial Vision of Philip II of Spain, Waco 2001. Pérez, Joseph: La leyenda negra, Madrid 2009. Samson, Alexander: A Fine Romance. Anglo-Spanish Relations in the Sixteenth Century, in: Journal of Medieval & Early Modern Studies 39/1 (2009), S. 65–94. Sánchez, Magdalena S.: Empress, the Queen & the Nun. Women & Power at the Court of Philip II of Spain, Baltimore 1998. Sánchez-Molero, José Luis Gonzalo: El príncipe Juan de Trastámara, un “exemplum vitae” para Felipe II en su infancia y juventud (Prince John de Trastámara, an ‚exemplum vitae‘ for Philip II in his infancy and youth), in: Hispania 59/3 (1999), S. 871–896. Tellechea Idígoras, Juan Ignacio: Felipe II y el Papado. (Philip II and the papacy), in: Cuadernos de Historia Moderna 25 (2000), S. 273–278. Vázquez de Prada, Valentín: Felipe II y Francia (1559–1598). Política, religión y razón de estado, Pamplona 2004.

Anmerkungen

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Fray Prudencio de Sandoval: Historia de la vida y hechos del emperador Carlos V., máximo, fortissimo, Rey Católico de España y de las Indias, Islas y Tierra firme del mar Océano, Bd. 2, Madrid 1955, S. 233, auf deutsch zitiert in: Friedrich Edelmayer: Philipp II.: Biographie eines Weltherrschers, Stuttgart 2009, S. 32. Markus Reinbold: Philipp II. von Spanien: Machtpolitik und Glaubenskampf, Gleichen 2009, S. 9. Friedrich Schiller: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (1788), in: Gesammelte Werke Bd. 1, hg. von Hans-Günther Talheim, Berlin 2005, S. 56. Voltaire: Essai sur les mœurs, hg. von R. Pomeau, Bd. 2, Paris 1963, bezüglich der Passagen zur Leyenda negra vgl. die deutsche Übersetzung in: Hans Hinterhäuser (Hg.): Spanien und Europa: Stimmen zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München 1979, S. 54–62. August Wilhelm von Schlegel in Vorlesungen 1809–1811, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Eduard Böcking, Bd. 6, Leipzig 1846, zitiert in: Hinterhäuser, Spanien und Europa, S. 112. Vgl. Marcelino Menéndez Pelayo: La ciencia española, zitiert in: Hinterhäuser, Spanien und Europa, S. 192 f. Vgl. Henry Kamen: Philip of Spain, New Haven/London 1997. Fernand Braudel: Philipp II., in: Ders.: Schriften zur Geschichte, Bd. 2: Menschen und Zeitalter, Stuttgart 1993, S. 227–279, S. 228. Braudel, Philipp II., S. 227. Zitiert in: Geoffrey Parker: Imprudent King: A New Life of Philip II, New Haven/ London 2015, S. XVI. Sandoval, Historia, S. 248, zitiert in: Edelmayer, Philipp II., S. 39. Braudel, Philipp II., S. 251. Vgl. Braudel, Philipp II., S. 229. Instrucciones del Emperador Carlos V a su hijo el Príncipe D. Felipe, Palamós, 4 y 6 de Mayo de 1543, in: March, José María (Hg.): Niñez y juventud de Felipe II.: Documentos inéditos sobre su educación civil, literaria y religiosa y su iniciación al gobierno (1527–1547), Madrid 1942, S. 12–39. Braudel, Philipp II., S. 232. Vgl. Markus Reinbold: Jenseits der Konfession. Die frühe Frankreichpolitik Philipps II. von Spanien 1559–1571, Ostfildern 2005, S. 16. Arndt Brendecke: Imperium und Empirie: Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009, S. 32. Vgl. ebd. Ebd., S. 217 f. Ebd., S. 28.

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21 Auf Deutsch zitiert in: Brendecke, Imperium, S. 35. 22 Leopold von Ranke: Fürsten und Völker von Süd-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Vornehmlich aus ungedruckten Gesandtschaftsberichten, Bd. 1, Hamburg 1827, S. 118 f., siehe: https://www.digitale-sammlungen.de/de/ view/bsb10717009?page=146, letzter Zugriff: 27.01.2022. 23 Vgl. das Kapitel „Die Spinne im Netz. Philipp II. und der El Escorial“, in: Brendecke, Imperium, S. 31–37. 24 Instruktionen von Philipp II. von 1597 an seinen Sohn, zitiert in: Reinbold, Philipp II., S. 59. 25 So in dem an Philipp gerichteten Teil in der Ansprache Karls V. vor den Deputierten der niederländischen Generalstände, Brüssel, 25.10.1555, in: Alfred Kohler (Hg): Quellen zur Geschichte Karls V., Darmstadt 1990, S. 466–468, hier S. 468. 26 Zitiert in: Luise Schorn-Schütte: Karl V.: Kaiser zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 2000, S. 19. 27 Zu den Zahlen vgl. in diesem Buch das Kapitel über Isabella I. von Kastilien, S. 179–211, insb. S. 191 f. 28 Vgl. u. a. Parker, Imprudent King, S. XVII. Belletristisch ist dieses Kapitel der spanischen Geschichte verarbeitet worden von Ildefonso Falcones: Die Pfeiler des Glaubens, München 2010 (Ersterscheinung auf Spanisch in Barcelona 2009). 29 So Don Juan im Schreiben an Ruy Gómez, zitiert in: Braudel, Philipp II., S. 254. 30 So der spanische Hofhistoriograph Luis Cabrera de Córdoba in seiner „Historia de Felipe II rey de España“, deutsch zitiert in: Reinbold, Philipp II., S. 81. 31 Geoffrey Parker: The Grand Strategy of Philip II, Wiltshire 1998. Siehe hier das Kapitel „Did Philip II. have a Grand Strategy?“, S. 1–10. 32 Edelmayer, Philipp II., S. 267. 33 So der Titel der Studie von Reinbold: „Machtpolitik und Glaubenskampf“.

12. Teresa von Ávila (1515–1582) Gender, Körper und Emotionen im Ringen mit Gott und der Welt

Philipp II. las lieber Akten, als dass er viele Menschen um sich versammelte. Wenn es zu persönlichen Begegnungen kam, hinterließ er offenbar einen düsteren, furchteinflößenden Eindruck. So jedenfalls beschreiben moderne Biographen des Königs seine Wirkung auf Teresa von Ávila. Sie zitieren dann Briefe der Ordensfrau, aus denen hervorgeht, wie sehr sie der durchdringende Blick des Königs, der „bis in ihre Seele“ zu sehen schien, verunsichert habe. Nervös und mit niedergeschlagenen Augen habe sie so schnell wie möglich ihr Anliegen vorgetragen, um sich baldmöglichst zurückzuziehen.1 Nur: Diese Biographen saßen Briefen der Heiligen auf, die sich längst als gefälscht herausgestellt haben. Es gibt keinen Beleg dafür, dass der König und Teresa sich jemals persönlich begegnet sind. Gleichwohl prägten beide nicht nur das frühneuzeitliche Spanien. Beide wurden weit über ihre Zeit und die Iberische Halbinsel hinaus bekannt. Philipp II. scheint durch die Leyenda negra bis heute die dunkle Seite der spanischen Geschichte zu verkörpern. Der 1970 von Papst Paul VI. in den Rang einer Kirchenlehrerin erhobenen Heiligen wird hingegen weltweit Bewunderung entgegengebracht. Dabei standen sich der König und die Nonne näher, als diese konträre Wahrnehmung vermuten lässt. Philipp II. hat die Ordensgründerin wohlwollend unterstützt und sich ihre Schriften in den Escorial bringen lassen. In vier (authentischen) Briefen hat sich Teresa von Ávila in den 1570er Jahren an den König gewandt und einen durchaus vertraulichen Ton angeschlagen. Die unterwürfige Schüchternheit, die aus den apokryphen Briefen herauszulesen war, zeigt sich in diesen Texten nicht. In ihrer Autobiographie ließ Teresa keinen Zweifel daran, dass sie den Königen gern ihre Meinung „ins Gesicht sagen würde“, auch wenn sie wusste: „Ich wage mich ganz schön weit hinaus.“2 Jedenfalls würde es sie glücklich machen, wenn Gott, der Herr, die Könige dazu bringen könnte, „Wahrheiten zu erkennen! [...] Wie sehr viel mehr brächte es ihnen, danach zu streben als nach Gewaltherrschaft!“3 Dabei wechseln diese überaus selbstbewussten Abschnitte mit Passagen, in denen sich Teresa demütig zurücknimmt und nachgerade klein macht. Deutlich wird dabei, wie sehr die Verfasserin navigiert, um einerseits ihre eigene Position zu vertreten und andererseits den Rollenerwartungen an eine Ordensfrau im Spanien des 16. Jahrhunderts gerecht zu werden. Um sich größtmögliche Frei-

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Teresa von Ávila (1515–1582) Abb. 8: Teresa von Ávila, Porträt von Peter Paul Rubens (1615).

räume zu wahren und keine Widerstände zu provozieren, nutzte Teresa von Ávila eine Kommunikationsstrategie der Unterwürfigkeit, die den Hierarchievorstellungen der männlichen Adressaten entsprach. Nicht zuletzt deshalb lassen ihre Texte rückschließen auf theologische und gesellschaftliche Vorstellungen und Machtverhältnisse der damaligen Zeit. Die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit Teresas von Ávila eröffnet damit einen Blick auf die damalige spanische Gesellschaft, der die Perspektive ergänzt, die durch die Auseinandersetzung mit Philipp II. gewonnen worden ist. So soll im Folgenden erst ihr Lebenslauf vorgestellt werden, bevor auf der Basis ihrer Autobiographie näher auf die soziokulturellen Rahmenbedingungen, die religiösen Deutungskämpfe, ihre Einstellung zur Geschlechterfrage und die Relevanz von Emotionen und Körperlichkeit eingegangen wird. Abschließend soll schlaglichtartig die Resonanz aufgezeigt werden, die ihr Leben bis in das 20. Jahrhundert hinein gefunden hat.

„Als hätte der Herr mich gerufen“: Biographie und spirituelle Weichenstellungen

Am Mittwoch, den 28. März 1515, wurde Teresa in oder bei Ávila geboren. Sie war das dritte Kind aus der zweiten Ehe von Alonso Sánchez Cepeda (ca. 1480–

„Als hätte der Herr mich gerufen“: Biographie und spirituelle Weichenstellungen

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1543). Nach dem Tod seiner ersten Frau hatte der wohlhabende Kaufmann die damals vierzehnjährige Beatriz Ahumada geheiratet, die in den nächsten 19 Jahren insgesamt zehn Kinder zur Welt brachte, bevor sie 1528 kurz nach der Geburt der letzten Tochter im Alter von 33 Jahren starb. Teresa erinnerte sich daran, dass die Mutter, der sie „beachtliche Intelligenz“4 attestierte, Zeit ihres Lebens an „Beschwerden“ 5 gelitten habe. Gleichwohl hatte sie die Tochter sowohl intellektuell als auch spirituell angeleitet. So konnte Teresa mit sechs oder sieben Jahren lesen. Sie ließ sich nicht nur von Heiligenlegenden, sondern auch – wie die Mutter – von Ritterromanen begeistern und wurde zugleich zu gängigen Frömmigkeitspraktiken und insbesondere zur Marienverehrung angehalten. Wie sehr die religiöse Erziehung die Kinder prägte, zeigte sich, als die siebenjährige Teresa mit einem älteren Bruder aufbrach, um im Land der Mauren den Märtyrertod zu sterben, auf dass sie möglichst schnell in den Himmel kommen könnten. Von einem Onkel unterwegs aufgelesen und zurückgebracht, verlegten sich die Geschwister darauf, Ordensleute und Einsiedler zu spielen. Nachdem die Mutter gestorben war, flehte die Dreizehnjährige die Mutter Gottes an, nun die Mutterrolle ihr gegenüber zu übernehmen. Kurze Zeit darauf wandte sie sich unter dem Einfluss einer Cousine weltlicheren Dingen zu. In ihrer Autobiographie berichtet Teresa von diversen Geselligkeiten, dem eitlen „Wunsch zu gefallen“, ihrer Wirkung auf Männer und der besonderen Nähe eines Cousins. Als die deutlich ältere Schwester durch Heirat aus dem Haushalt ausschied, schien es dem Vater endgültig angebracht, die sechzehnjährige Teresa in das Internat eines Augustinerinnenklosters zu geben. Auch wenn diese Entscheidung gegen Teresas Willen fiel, fand sie doch dank der Betreuung durch eine einfühlsame Ordensschwester schnell Zugang zur klösterlichen Lebensform, die sie mehr und mehr als Option in Rechnung zu stellen begann. Allerdings musste sie nach anderthalb Jahren von ihrem Vater nach Hause geholt werden: Teresa war schwer erkrankt. Es zeigten sich erstmals massive physische Beeinträchtigungen, die sie im Laufe des Lebens in unterschiedlicher Intensität mehrfach erleben sollte und über deren Ursachen sich die Fachwelt bis heute nicht einig ist. Jedenfalls bedurfte sie längerer Erholung. Dafür wurde sie zur älteren Schwester aufs Land geschickt. Auf dem Weg machte sie Halt bei einem frommen Onkel, der sie mit spanischsprachiger Frömmigkeitsliteratur ausstattete. Die Lektüre trug dazu bei, dass in ihr die Einsicht reifte, wonach es für die Erlangung der ewigen Güter besser sei, den irdischen zu entsagen und doch den Weg ins Kloster zu wählen, „da es wohl die beste und sicherste Lebensform sei“.6 So bat sie am 2. November 1535 im Alter von 20 Jahren an der Pforte des Kar-

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melitenklosters Encarnación (Fleischwerdung) in Ávila um Einlass. Auch wenn der Vater Teresa diesen Weg erst nach seinem Tod hatte freigeben wollen, stattete der Kaufmann sie doch jetzt mit einer reichen Mitgift aus, um ihr das Leben im Kloster so angenehm wie möglich zu machen. Ein Jahr nach ihrem Eintritt in das Kloster begann das Noviziat, ein weiteres Jahr später, im November 1537, legte Teresa die ewigen Gelübde ab. Ihr Leben war fortan nicht frei von Widersprüchen: Einerseits war in dem Karmelitenkloster ein durchaus geselliges Leben mit durchlässigen Grenzen nach draußen möglich, schließlich hatten hier auch zahlreiche Frauen eine Bleibe gefunden, die weniger an Spiritualität als an einer Zukunft ohne Heiratsnotwendigkeit interessiert waren. Teresa berichtete von Tanz, Gesang und diversen Festlichkeiten. Andererseits nahm Teresa sich die Regeln monastischer Bußpraxis mit Fasteneinheiten und Selbstgeißelungen zu Herzen. Erneut manifestierten sich die Inkohärenzen in physischen Krisenphänomenen: Teresa wurde ein weiteres Mal schwer krank. Im Oktober 1538 erlitt sie einen Zusammenbruch, fiel immer wieder in Ohnmacht, klagte über Herzschmerzen. Es begann das, was in ihrer Biographie als ihre „große Krankheit“ bezeichnet wurde: Fast vier Jahre (1538–42) war sie davon beeinträchtigt. Als die betreuenden Ärzte keinen Rat mehr wussten, nahm der Vater Teresa zu sich. Schließlich sollte sie der Obhut einer „Heilerin“ anvertraut werden, wofür sie erneut aufs Land verschickt wurde. Doch der mehrmonatige Aufenthalt dort verschlimmerte die Krankheit nur, so dass sie mit akut verschlechtertem Gesundheitszustand in die Stadt zurückkehrte. Die Ärzte verloren die Hoffnung, und die vollkommen Abgemagerte bat um die Sterbesakramente. Am 15. August 1539 fiel sie schließlich in ein Koma. Die Schwestern hielten sie für tot. Im Kloster wurde das Grab vorbereitet. Mit Wachs, das sie später auf den Lidern fand, wurden der vermeintlich Toten die Augen verschlossen. Doch der Vater, der an den Tod nicht glauben und den Körper der Tochter nicht dem Kloster überlassen wollte, sollte recht behalten: Nach vier Tagen wachte Teresa auf. Allerdings war sie weit entfernt davon, gesund zu sein. Erst nach und nach vermochte sie ihre Glieder zu bewegen; noch drei Jahre später litt sie an Lähmungserscheinungen. Kurz nach der Genesung im Jahr 1543 starb ihr Vater. An dessen Krankenbett hatte sie seinen Beichtvater kennengelernt, zu dem sie ihrerseits Vertrauen fasste und der sie darin bestärkte, Gebetspraktiken einzuüben, die Teil der spanischen monastischen Reformbewegungen waren. Sie führten weg von äußeren Ritualhandlungen und dem repetitiven, laut gesprochenen Gebetstext hin zu individuellen Glaubenserfahrungen im Rahmen des sogenannten inneren Ge-

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bets. Anleitungen dazu hatte sie schon einem Buch entnommen, das ihr von jenem frommen Onkel ans Herz gelegt worden war, bei dem sie auf dem Weg zur „Kur“ – wie schon im Kontext der ersten Erkrankung – Halt gemacht hatte. Bei diesem Buch handelte es sich um das seinerzeit in Spanien weit verbreitete Tercer Abecedario Espiritual (das dritte geistliche ABC) von Francisco de Osuna, der diese Form des kontemplativen Gebets verbreitet hatte.7 Sein Buch wurde zum zentralen Referenzwerk der spanischen Mystik des 16. Jahrhunderts. Aus der Autobiographie Teresas wird deutlich, wie sehr sie sich in den folgenden Jahren mit der Form des „inneren Gebets“ auseinandersetzte. Rund zwanzig Jahre nachdem sie in den Orden eingetreten war, kam es 1554/1555 zu spirituellen Erlebnissen, die zum Wendepunkt in ihrem Leben wurden und die sie als „Bekehrung“ bezeichnen sollte. Wegweisend wurde dabei eine Kombination aus intellektuellen Leseeindrücken und kontemplativ-sinnlicher Bildbetrachtung. Der entscheidende Impuls ging in der Karwoche 1554 von einem Bildnis des gegeißelten Jesus aus: Da geschah es mir, dass ich eines Tages beim Eintritt in den Gebetsraum ein Bild sah, das man zur Verehrung dorthin gebracht und für ein Fest, das im Haus gefeiert wurde, aufgestellt hatte. Es war das Bild eines ganz mit Wunden bedeckten Christus und so andachterweckend, dass es mich beim Anblick zuinnerst erschütterte, ihn so zu sehen, denn es stellte gut dar, was er für mich durchlitten hatte. Das, was ich empfand, weil ich mich für diese Wunden kaum dankbar gezeigt hatte, war so gewaltig, dass es mir war, als würde es mir das Herz zerreißen. Aufgelöst in Tränen warf ich mich vor ihm nieder und flehte ihn an, mir ein für allemal die Kraft zu geben, ihn nicht mehr zu beleidigen.8

Ganz im Sinne des gegenreformatorischen Bildprogramms in Spanien zeichneten sich die in dieser Zeit entstandenen Sakralskulpturen durch eine expressive Leiddarstellung aus, die die Betrachter zum Mitfühlen animieren sollte. Um eine derartige wundengezeichnete Jesusdarstellung muss es sich hier gehandelt haben, die bei Teresa die intendierte Erschütterung – wenn auch in extremen Ausmaßen – hervorrief. Dieses emotionale Ereignis ließ sich von Teresa umso leichter als Zäsur deuten, als sie in dieser Zeit die „Bekenntnisse“ des Heiligen Augustinus gelesen hatte, die wenige Monate zuvor erstmals in spanischer Sprache erschienen waren. „Als ich die Bekenntnisse zu lesen begann“, berichtete Teresa, „kam es mir vor, als fände ich mich da wieder.“ Die entscheidenden Passagen, in denen Augustinus von seiner Bekehrung berichtete, übertrug Teresa

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auf ihre eigene Erfahrung. So hätte auch sie gefühlt, „als hätte der Herr mich gerufen“.9 In dieser Zeit erlebte Teresa immer mehr Visionen, die sie als Ausdruck der Auserwählung und der Nähe Gottes beglückten. So berichtete sie, plötzlich im Gebet den Eindruck gehabt zu haben, „als wäre Christus neben mir“, der „immer wieder mit mir sprach, wie mir vorkam“.10 Zugleich verunsicherten sie diese Erlebnisse nicht nur deshalb, weil ihr diese Erfahrungen neu waren, sondern vor allem, weil die Herkunft solcher Visionen umstritten war. So war es in der damaligen Zeit zwar unstrittig, dass Kommunikation mit der Sphäre des Übernatürlichen möglich war. Es blieb aber unklar, ob die Visionen göttlichen oder doch eher teuflischen Ursprungs waren. „Der Böse“ galt als ähnlich aktiv und um die Menschen bemüht wie Christus. So ist auch „der Böse“ eine prominente Figur in der Autobiographie Teresas, dem es auszuweichen oder mit Kreuzzeichen oder anderen abwehrenden Gesten entgegenzutreten galt. Während göttliche Visionen Anlass für Verehrung der entsprechenden Person waren, drohte denjenigen, von denen man annahm, sie seien im Bund mit „dem Bösen“, die Inquisition. Kurz bevor sich die Visionen bei Teresa einstellten, war 1546 eine spanische Ordensschwester von der Inquisition verurteilt worden. Nachdem sie lange in weiten Teilen Spaniens wegen ihrer Verbindung zu Gott wie eine Heilige verehrt worden war, hatte sie schließlich zugegeben, dass ihre Eingebungen vom Teufel stammten. Darüber hinaus fanden in den Jahren, in denen Teresa mit ihren Beichtvätern um die Deutung ihrer Visionen und die Rechtgläubigkeit ihrer Gebetspraktiken rang, aufwändige Inquisitionsgerichte in Sevilla und Valladolid statt, in die auch Ordensschwestern verwickelt waren, denen zu große Nähe zum Protestantismus vorgeworfen wurde. Tatsächlich kamen zwei der von Teresa ins Vertrauen gezogenen Beichtväter zu dem Ergebnis, dass ihre Visionen wohl auf „den Bösen“ zurückzuführen seien. Umso wichtiger war es für Teresa, dass andere, an Rang oder Prestige übergeordnete Kleriker ihr zusicherten, dass ihre Ansichten mit den Vorstellungen der Kirche übereinstimmten und ihre Visionen, die in den 1560er Jahren zunahmen, vermutlich göttlichen Ursprungs seien.

Die Gründung des Ordens der Unbeschuhten Karmelitinnen

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Aufbruch und Unruhe: Die Gründung des Ordens der Unbeschuhten Karmelitinnen

Die Kritik an ihr brandete allerdings in dem Moment so richtig auf, als Teresa zu dem Ergebnis kam, dass die milde Regel der Karmelitinnen und der lockere Lebensstil der Schwestern in ihrem Kloster mit den eigenen Überzeugungen von einer adäquaten monastischen Lebensform nicht in Einklang zu bringen waren. So wie schon zuvor die Franziskanerinnen in Ávila ihr Kloster verlassen hatten, um in Madrid als „Unbeschuhte“ nach den neuen Regeln des Ordensreformers Pedro de Alcántara zu leben, so wollte auch Teresa für „Unbeschuhte Karmelitinnen“ ein neues Kloster mit strenger Observanz gründen. Die Bezeichnung „unbeschuht“ galt dabei als Hinweis auf eine streng asketische, kontemplative Ausrichtung. Teresa hatte den hochangesehenen Mystiker und Asketen Pedro de Alcántara nach ihrem „Bekehrungsereignis“ persönlich kennen- und schätzen gelernt, zumal dieser sie in ihrer eigenen Religiosität und Gebetspraxis bestärkte. Seit 1560 plante sie nun die Gründung eines neuen Klosters, das weltabgewandt und dem Armutsgelübde verpflichtet sein sollte. In einem Brief an ihren in Lateinamerika zu Reichtum gekommenen Bruder Lorenzo kündigte sie im Dezember 1561 an, dass in dem Kloster „fünfzehn Schwestern [...] in größter Zurückgezogenheit“ leben sollen, „so dass sie niemals herausgehen, wie auch niemanden zu Gesicht bekommen, außer mit einem Schleier vor dem Gesicht“, damit sie sich gänzlich auf das innere Gebet konzentrieren könnten.11 Ein halbes Jahr später zogen die ersten Ordensschwestern in ein Haus, das mit Hilfe von Teresas Verwandten heimlich für diesen Zweck erworben worden war. Mit der Überbringung einer geweihten Hostie galt das Kloster San José in Ávila am 24. August 1562 als gegründet. Doch der Widerstand aus dem Orden und der Stadt war enorm. Teresa hatte sich vor dem Ordensgericht zu rechtfertigen, und der Corregidor in Ávila, der Stellvertreter des Königs, forderte die Schließung des Klosters. Nach langen Kontroversen wurde der Fall dem Consejo Real, dem Königlichen Rat in Madrid, vorgelegt – mit dem für Teresa günstigen Ergebnis, dass die Gründung genehmigt wurde. Anders als für ihre Schwestern vorgesehen, blieb Teresa nicht in der Klausur. Paradoxerweise mündete gerade ihr Einsatz für die Ausbreitung der kontemplativen Lebensform in eine recht aktive Vita. Dabei verlief auch die Expansion der Unbeschuhten Karmelitinnen alles andere als konfliktfrei. In Toledo und Medina del Campo verliefen die beiden ersten der insgesamt 18 Klostergründungen weitgehend reibungslos. Als drittes Kloster rief sie bezeichnenderweise einen

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Mönchskonvent ins Leben, womit Teresa von Ávila eine der wenigen Frauen der Geschichte ist, die auch einen männlichen Zweig begründeten. Zu den beiden ersten eingekleideten Unbeschuhten Karmelitern gehörte Johannes vom Kreuz, der neben Teresa einer der bekanntesten Mystiker und Dichter des frühneuzeitlichen Spaniens werden sollte. Gemeinsam mit ihr aber musste er zunächst den massiven, durchaus gewaltsam ausgetragenen Widerstand der Ordensleitung erdulden, der auch der reformierte Zweig zunächst unterstellt blieb. Der Konflikt eskalierte, als sich die Unbeschuhten in Andalusien auszubreiten begannen. 1575 war Teresa dorthin gereist, als ihren Schwestern ein Gebäude zur Gründung eines Konvents angeboten worden war. Zunächst war sie dort willkommen geheißen worden, schließlich hatten sich auch Brüder der Unbeschuhten schon dort niedergelassen. Einer der Mönche war der 30 Jahre alte Fray Jerónimo Gracián de la Madre de Dios, der als Visitator des Ordens Teresas Ordensgründung unterstützte und ihr, auch als Beichtvater, bald sehr nahestand. Wie brüchig aber die Unterstützung durch die Ordensleitung war, wurde deutlich, als sich nach einigen Personalveränderungen der Wind zu drehen begann. Nachdem einige Protektoren der Reformbewegung durch Vertreter der alten Richtung abgelöst worden waren, bekamen die männlichen und weiblichen Unbeschuhten den massiven Widerstand vor allem der männlichen beschuhten Karmeliter zu spüren, die in Sevilla die Konkurrenz durch die Reformbewegung nicht tolerierten. Der Ordensgeneral ließ Teresa wissen, dass die Genehmigung zur Gründung von Klöstern nur für Kastilien, nicht aber für Andalusien gegolten habe. Nicht nur, dass die jüngsten Gründungen geschlossen und die Ordensleute in ihre früheren Konvente zurückgeschickt wurden. Teresa und Johannes vom Kreuz wurden weitere Gründungsaktivitäten untersagt. Der „Feldzug“ gegen sie mündete – wie sie in der Autobiographie schrieb – in die „große Verfolgung“, als 1577 mit dem vatikanischen Nuntius der letzte Fürsprecher Teresas in der Kirchenhierarchie starb. Das Urteil des neuen Nuntius über Teresa war vernichtend: Sie sei „ein unruhiges, herumvagabundierendes, ungehorsames und verstocktes Weibsbild, das unter dem Vorwand von Frömmigkeit falsche Lehren erfand, und gegen die Anordnung des Konzils von Trient und der Oberen die Klausur verließ, und wie eine Lehrmeisterin andere belehrte, ganz gegen das, was der hl. Paulus lehrte, als er anordnete, dass Frauen nicht lehren sollen“.12 Teresa wurde aufgetragen, sich in ein Kloster zurückzuziehen und die Klausur nicht mehr zu verlassen. Sie blieb vorerst in dem Konvent in Toledo. Angesichts der erzwungenen Untätigkeit verlegte sie ihre Aktivität auf eine rastlose schriftliche Kommunikation. Durch unzählige Briefe hielt sie die Kontakte außerhalb

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des Klosters aufrecht und organisierte von hier aus die Klosterreformen. Ihren männlichen Gefährten erging es deutlich schlechter: Fray Gracián wurde denunziert, Johannes vom Kreuz verschleppt und unter unwürdigen Bedingungen eingekerkert. In dieser Situation wandte sich Teresa an die höchste Instanz, die noch Rettung versprechen konnte: Sie schrieb Philipp II. Zwei der vier von Teresa an Philipp geschriebenen Briefe stammen aus dem Jahr 1577. Offenbar setzte sich auch im Umfeld des Königs jemand für ihre Belange – und damit auch zugunsten von Gracián und Johannes vom Kreuz – ein. Jedenfalls wurden jetzt vier Berater herangezogen, die den Streit zwischen den beiden Zweigen der Karmeliter schlichten sollten. Die Sympathien des Königs für die Reformvorhaben dürften eine Rolle dabei gespielt haben, dass der massive Widerstand plötzlich erodierte. Der Nuntius befreite die Unbeschuhten von der Gehorsamspflicht gegenüber den Karmelitern, 1580 wurden die Zweige vollständig voneinander getrennt. Die Mönche wurden aus der Gefangenschaft entlassen und die inzwischen 64-jährige Teresa erhielt die Freiheit zurück, sich auch außerhalb des Klosters zu bewegen. Dies nutzte sie für weitere Klostergründungen außerhalb Kastiliens, denen fortan kein Stein mehr in den Weg gelegt wurde. Die Aktivitäten Teresas wurden nur durch ihre zunehmend schwächere Gesundheit beeinträchtigt, die sie die entbehrungsreichen Reisen im Planwagen als immer strapaziöser empfinden ließ. 1580 erlitt sie einen Schlaganfall. Doch es war nicht ihre Gesundheit, die sie davon abhielt, 1581 beim ersten Generalkapitel der jetzt unabhängigen Unbeschuhten dabei zu sein: Als Frau war ihr verwehrt, daran teilzunehmen. So blieb ihr nur, ihre Vorstellungen über Gracián in die Versammlung einzubringen, der nun zum Ordensprovinzial gewählt wurde. Trotz ihrer fragilen Gesundheit unternahm Teresa auch 1582 Reisen, um neue Klöster zu gründen. Kaum dass sie von einer Krankheit genesen war, machte sie sich im Herbst jenes Jahres auf Geheiß des stellvertretenden Provinzials auf den Weg nach Alba de Tormes, wo die Herzogin von Alba mit ihr sprechen wollte. Dort erkrankte sie erneut und starb am 4. Oktober 1582. Am Tag darauf, der wegen der (zehn Tage überspringenden) gregorianischen Kalenderreform der 15. Oktober 1582 war, wurde sie im dortigen Kloster unter schweren Steinplatten bestattet. Die Eile war offenbar dadurch bedingt, dass die Unbeschuhten Karmelitinnen in Alba de Tormes Fakten schaffen wollten, bevor die Schwestern in Ávila den Körper der Ordensgründerin für sich reklamierten. Tatsächlich entbrannte bald ein Streit über den Verbleib der sterblichen Überreste. Im Oktober 1585 wurde der Leichnam exhumiert und nach Ávila gebracht, nachdem der linke Arm abgetrennt und den Nonnen in Alba als Kompensation dagelassen

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worden war. Doch der mächtige Herzog von Alba setzte alles in Bewegung, um die Translation rückgängig zu machen. Tatsächlich verfügte Papst Sixtus V. die Rückkehr des nach wie vor wunderbarerweise unverwesten Körpers nach Alba, wo er – ungeachtet der Proteste der Schwestern aus Ávila – dauerhaft bleiben sollte. Allerdings hatte die Kunde der ausbleibenden Verwesung die Zuschreibung von Sakralität forciert, was die Begehrlichkeiten nach Reliquien wachsen ließ. Nicht nur das Herz und der linke Arm wurden in separaten Reliquiaren in Alba ausgestellt. Zahlreiche andere Glieder wurden abgetrennt und reisten mit Verehrern in ferne Länder. Jerónimo Gracián, jener Karmelit, der, 30 Jahre jünger als Teresa, ihr nicht nur als Beichtvater emotional sehr verbunden war, trug bis an das Ende seines Lebens ein Reliquiar mit einem ihrer Finger um den Hals. Bereits in dieser Zeit wurden die ersten Stimmen laut, die sich für eine Heiligsprechung Teresas einsetzten. Es war der Beginn einer postmortalen Prominenz, die mehrere Jahrhunderte überdauerte, unterschiedliche Züge annahm und letztlich dazu beitrug, dass Teresa noch heute die bekannteste Heilige Spaniens ist. Als bleibendes Vermächtnis können wohl weniger ihre Klöster angesehen werden, die mit ihrer streng kontemplativen Ausrichtung heute nur noch für wenige Menschen eine attraktive Lebensform darstellen. Auf bis in die Gegenwart ungebrochenes Interesse stößt jedoch ihre mystische Gebetsform. Ihre schriftlichen Hinterlassenschaften haben zudem bis in die jüngste Gegenwart hinein Schriftsteller und Wissenschaftler fasziniert.13 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist zum einen das Briefwerk von besonderem Interesse, weil es Rückschlüsse auf die Lebenswelt Teresas und auf ihr breites Netzwerk ermöglicht. Von den mindestens zehntausend Briefen, die Teresa von Ávila geschrieben hat, ist mit rund 480 Exemplaren allerdings nur ein Bruchteil erhalten. Die Schreibaktivität ist umso bemerkenswerter, als sie eigentlich zum Schreiben wenig Zeit hatte und oftmals bis in die Nacht an den Schriftstücken saß. Erst nach 1576 ging sie – auch wegen zunehmender körperlicher Gebrechen – dazu über, die Briefe einer Schwester zu diktieren. Doch der unumstritten bedeutsamste Text, den Teresa hinterließ, war ihre Autobiographie. Schon der Entstehungszeitraum ist bemerkenswert: Seit 1554 legte sie ihren Beichtvätern regelmäßig eine Art Rechenschaftsbericht über ihr Leben und ihre Spiritualität vor, der in mehr als zehn Jahren immer wieder aktualisiert und verändert wurde, bis 1565/1566 die endgültige Form vorlag. Dabei ist diese Vida nicht nur als Ausdruck des permanenten, performativen Ringens um individuelle Selbstverständigungsprozesse von Interesse, sondern auch als Spiegel des gesellschaftlichen und religiösen Lebens im Spanien des 16. Jahrhunderts – reflektieren doch Teresas Sozialisation und ihre Aktivitäten die zentralen

Die Vida: Soziokulturelle Rahmenbedingungen der Autobiographie

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Spannungen ihrer Zeit: als Angehörige einer Familie von Conversos, als religiöse Reformerin inmitten eines umkämpften religiösen Feldes und als Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft.

Die Vida: Soziokulturelle Rahmenbedingungen der Autobiographie

Dass Teresas Vater einer jüdischen Familie entstammte, war lange Zeit in Vergessenheit geraten bzw. verdrängt und erst in den 1940er Jahren durch einen zufälligen Archivfund definitiv geklärt worden.14 Zum Vorschein kamen Akten aus den verschiedenen Prozessen, die Teresas Familie geführt hatte, um die Rechtmäßigkeit des (niederen) Adelstitels als „Hidalgo“ zu belegen. Aus den Dokumenten ging hervor, dass der Familie zwar der Adel zertifiziert wurde – was in Anbetracht der damit verbundenen Steuerbefreiung durchaus lukrativ war, zumal die damaligen Kriegszüge Spaniens zu einer Zunahme der Steuerlast geführt hatten. Aber diese Klärung hatte insofern ihren Preis, als dadurch zugleich öffentlich bekannt wurde, dass der Adelsbrief käuflich erworben worden war, während die Familie die Limpieza de sangre, also einen Stammbaum über mehrere Generationen ohne jüdische Verwandtschaft, gerade nicht nachweisen konnte. Ganz im Gegenteil war der jüdische Großvater Teresas, Juan Sánchez, mitsamt der Familie unter dem Druck eines zunehmenden Antijudaismus in Toledo am Ende des 15. Jahrhundert konvertiert. Damit zählte er zu der Gruppe von Conversos, die im besonderen Aufmerksamkeitsfokus der Inquisition standen. Als 1485 das Inquisitionsgericht in Toledo alle diejenigen zur Selbstanzeige aufforderte, die sich judaisierende Praktiken zu Schulden hatten kommen lassen, gehörte Juan Sánchez zu den vielen Conversos, die es vorzogen, selbst Verfehlungen anzugeben. Damit nahm man zwar eine geringfügige Strafe in Kauf, vermied aber eine rigide Strafverfolgung mit unklarem Ausgang. Schließlich drohte die Inquisition bei gravierenden Verfehlungen mit der Beschlagnahmung des Vermögens, wenn nicht sogar mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen. Insofern wurde Teresas Großvater in den Unterlagen der Stadt Toledo fortan als Häretiker geführt, der zugegeben hatte, „viele schwere Verbrechen und Vergehen der Häresie und Apostasie gegen den heiligen katholischen Glauben“15 begangen zu haben, wofür ihm ein demütigendes Bußritual auferlegt worden war. Der Umzug der Familie nach Ávila im Jahr 1490 wird nicht zuletzt mit dem Wunsch erklärt, diese Erinnerungen zu tilgen. Doch mit dem Streit um das Adelsprivileg in den 1520er Jahren waren diese Zusammenhänge wieder sehr präsent.

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Der Umgang Teresas mit dieser Thematik in ihrer Autobiographie ist dabei ein Beispiel für die Relevanz von Leerstellen: Gerade weil die Zugehörigkeit zu Conversos-Familien als gesellschaftliches Stigma galt, wurde darüber geschwiegen. So verlor Teresa über die Herkunft ihrer Familie in ihrer Vita kein Wort. Zugleich können einige Verhaltensweisen geradezu als typisch für Conversos-Familien gelten. Dazu gehört das Interesse an der Vermittlung von Bildung an Kinder beiderlei Geschlechts oder das ostentative Bemühen um Teilhabe an den Werten und Praktiken der spanischen Gesellschaft: Die Religiosität der Tochter kann dabei ebenso als Hinweis gelten wie die Präferenz ihrer Brüder, die Zukunft in der Neuen Welt zu suchen. Sämtliche neun Brüder haben sich auf diesen Weg gemacht. Vermutlich dürfte auch die Einstellung Teresas, wonach die Tugend höher geschätzt werden müsse als die Abstammung, vor diesem biographischen Hintergrund zu verstehen sein. Auch der Umstand, dass sie sich über die Forderung nach Limpieza de sangre in ihren eigenen Klöstern hinwegsetzte und bereitwillig Schwestern aus Conversos-Familien aufnahm, spricht dafür. Weitere Wertvorstellungen der damaligen Zeit spiegeln sich in der Relevanz von „Ehre“ in Teresas Texten. Die Honra (Ehre), der die Spanier ihrer Zeit Gut und Leben unterordneten, spielte auch in ihrer Vida immer wieder eine Rolle: Sei es, indem sie die Bedeutung der Ehre allgemein kritisierte, oder sei es, dass sie selbst zugab, Zurücksetzungen auch im Kloster nicht ertragen zu haben. Es habe nur den Eindruck, bedauerte Teresa, „als lassen wir alles Prestigedenken [im span. Original: Honra, BA] hinter uns, wenn wir ins Kloster eintreten […], doch kaum rührt man in auch nur einem Punkt an unsere Ehre, und schon denken wir nicht mehr daran, daß wir sie Gott gegeben haben, sondern wollen uns von neuem mit ihr hervortun“.16 Auch in der Gleichsetzung von Sünden mit „Beleidigungen“ Gottes kommt diese Relevanz der Ehrsemantik zum Tragen, müssen doch „Beleidigungen“ als das Allerletzte zu betrachten sein, was Gott zuzumuten wäre.

Der Kontext: Deutungskämpfe auf dem religiösen Feld

Diese „Beleidigungen“ konnten sich auf ein weites Spektrum moralischen und religiösen Fehlverhaltens beziehen. Was „richtig“ war, wurde in dem komplexen Regelwerk des damaligen religiösen Feldes ausgehandelt, auf welches damalige weltkirchliche Strömungen, nationale Bewegungen und lokale Gegebenheiten Einfluss nahmen. Hintergrund der religiösen Deutungskämpfe im damaligen

Der Kontext: Deutungskämpfe auf dem religiösen Feld

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Spanien war das Ringen mit dem aufkommenden Protestantismus. Da Karl V. ja nicht nur Kaiser im Reich, sondern zugleich König in Spanien war, hatte das Scheitern des Einsatzes für die religiöse Einheit unmittelbar Auswirkungen auch auf die Iberische Halbinsel. So trug der Religionsfriede von Augsburg, der 1555 die religiöse Spaltung in Deutschland zementierte, dazu bei, dass Karl V. vorzeitig die Herrschaft niederlegte – nicht ohne seinem Sohn Philipp II. zuvor einzuschärfen, in Spanien alles dafür zu tun, dass sich der Protestantismus nicht ausbreite. Dies führte zu einer massiven Anspannung des religiösen Klimas, dessen Härte – so Mariano Delgado – nur mit der Modernismuskrise um 1900 verglichen werden könne.17 Das Höchstmaß der Verhärtung war Ende der 1550er Jahre erreicht, als die Inquisition in Valladolid und Sevilla protestantische Häretiker zum Tode verurteilte und Bücherverbote als intellektueller Cordon sanitaire die spanische Gesellschaft vor der Diffusion häretischer Glaubensäußerungen schützen sollten. Auf den Index gerieten nicht nur volkssprachliche Bibelübersetzungen, sondern auch zahlreiche andere geistliche Werke in spanischer Sprache – nicht zuletzt die Werke von Francisco de Osuna. Nicht nur Lutheraner, auch die Alumbrados wurden als Häretiker verfolgt. Dabei handelte es sich um Gruppen mystisch orientierter Gläubiger, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Spanien auf individuelle Erleuchtung jenseits kirchlicher Vermittlung setzten. Schon weil auch sie das „innere Gebet“ propagierten, ergaben sich Schnittstellen zu Francisco de Osuna und Teresa von Ávila. Wie gefährlich der Verdacht sein konnte, dieser Gruppe anzugehören, zeigte sich, als der Dominikaner Bartolomé Carranza, immerhin ein langjähriger Beichtvater Karls V. und Erzbischof von Toledo, von der Inquisition verhaftet wurde: Der Theologe Melchior Cano hatte den dominikanischen Mitbruder in einem Gutachten schwer belastet, indem er ihn fünfzigmal als Alumbrado bezeichnete (und zwanzigmal als Lutheraner). Für Teresa lag eine analoge Denunziation umso näher, als nicht nur Conversos, sondern insbesondere Frauen eine besondere Nähe zu den Alumbrados nachgesagt wurde. Umso vehementer hatte sich Melchior Cano dafür eingesetzt, Frauen von theologischer Lektüre auszuschließen, indem religiöse Texte nicht in der Volkssprache erscheinen durften. „So sehr die Frauen mit unersättlichem Appetit danach verlangen, von dieser Frucht [der Hl. Schrift] zu essen, so notwendig ist es, sie zu verbieten und ein Flammenschwert aufzustellen, daß das Volk nicht daran kommt.“18 Der „theologische Aristokratismus“ der Universitätstheologen aus dem Dominikanerorden hielt sich auf diese Weise das „niedere Volk“ auf Distanz, dem anstatt intellektueller Lektüre und individueller Glaubenserfahrung das laute Gebet und äußere Ritu-

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ale nahegelegt wurden – während sich Jesuiten und Franziskaner vielfach dafür einsetzten, über volkssprachliche religiöse Texte breite Bevölkerungsschichten für ihre Botschaften zu gewinnen. In diesem komplexen Terrain galt es für Teresa, geschickt zu navigieren, um einerseits von ihren mystischen Glaubenserfahrungen zu berichten sowie ihre eigenen theologischen Vorstellungen zu vertreten und andererseits nicht anzuecken, um womöglich durch obrigkeitliche Disziplinierungen Handlungsspielräume zu verlieren.

Genderstrategien als Rezeptionsmanagement

Dabei hatte die Ordensfrau nicht nur auf theologisch unanfechtbare Positionen zu achten. Hinzu kam das Erfordernis, sich den Erwartungen zu stellen, die Gesellschaft und Theologie an das rollenadäquate Verhalten von Frauen hatten. Vielfach verwies Teresa auf die Probleme, die sie nur ihres Geschlechts wegen hatte. Damit befand sich Teresa in einer doppelt asymmetrischen Position: Als Frau waren ihr theologische Studien versagt, und in der pastoralen Konstellation war sie ihren Beichtvätern untergeordnet. Diese doppelte Asymmetrie durchzieht ihre Autobiographie: Immer wieder beugte sie sich demütig vor den „Studierten“ und „den Beichtvätern“. Zudem wurde sie nicht müde, auf die Geringfügigkeit der eigenen Person hinzuweisen, deren „Erbärmlichkeit“ sie unentwegt betonte: „Im übrigen reicht es schon, Frau zu sein, daß mir die Flügel herunterfallen, um wieviel mehr noch Frau und erbärmlich.“19 Doch – und das macht diese Autobiographie so komplex – wird diese Ebene der Demut immer wieder gebrochen. Letztlich ist diese dadurch lesbar als raffinierte Rhetorik, die zwar durch den Gestus der Unterwürfigkeit Leseerwartungen von kritischen Theologen befriedigt, aber in anderen Passagen immer wieder dem eigenen Anspruch als Lehrmeisterin gerecht wird. Seit den 1990er Jahren war es nicht zuletzt ein Schwerpunkt der amerikanischen Teresa-Forschung, die Genderaspekte ihrer „Politics of Sanctity“20 herauszuarbeiten. Unzählige Textbausteine wurden bei dieser Forschung auf jene rhetorischen Strategien untersucht, die die paradoxe Selbstrepräsentation einer „schwachen Frau“ ermöglichten, die zugleich ungemein wirkmächtig war. Teresa versuchte dabei, jedem Verdacht allzu eigenständiger Aktivität oder Theologie stets vorzubeugen. So verwies sie in allen Aktivitäten mehrfach darauf, nur der Anregung bzw. dem Befehl anderer zu gehorchen, auch in der

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Gründung von Klöstern oder der Niederschrift ihres Lebensberichts. Zur Absicherung ihrer Ansichten und Praktiken nutzte sie geschickt die Vielfalt des religiösen Feldes, indem sie zum Beispiel gegen die ersten Beichtväter, die ihre Visionen für teuflisch hielten, die Autorität von Jesuiten oder die Prominenz von Pedro de Alcántara in Stellung brachte. Für besonders entscheidende Momente bezog sie die Legitimation dann von Jesus persönlich, der sie direkt beauftragt habe und dem sie natürlich Gehorsam schulde. So stünde der Wille Gottes nicht nur am Beginn ihrer Visionen und Verzückungen. Gott selbst sei auch der Initiator der ersten Klostergründung: Eines Tages nach der Kommunion trug mir Seine Majestät eindringlich auf, mich mit aller Kraft dafür einzusetzen, wobei er mir große Versprechungen machte, daß das Kloster errichtet und ihm darin sehr gedient würde, und […] daß es ein Stern wäre, der großen Glanz ausstrahlte […] Und daß ich meinem Beichtvater sagen sollte, was er mir auftrage.21

Der Hinweis auf den Beichtvater ist alles andere als zufällig. Durch die Autorisierung durch Christus selbst erhielt nicht nur das neue Vorhaben eine andere Legitimität, sondern Teresa als Beichtende einen anderen Stellenwert. Das war offenbar umso nötiger, als sie von diversen Beichtvätern massiv unter Druck gesetzt wurde und von ihnen „die verletzendsten“ Worte hörte, „die man von einem Beichtvater nur ertragen kann“.22 Dass Teresa ihre eigene Gebetsform propagierte und sich damit zugleich als Lehrende zeigte, erregte offenbar immer wieder Widerstand bei verschiedenen klerikalen Gesprächspartnern: „Gleich dachten sie, ich wolle sie belehren und würde mich für gescheit halten. Und das landete alles bei meinem Beichtvater.“23 De facto aber vermittelte sie mit ihren Schriften Kenntnisse über das Verständnis des „inneren Gebets“ und die Wirkmächtigkeit von Visionen, dabei immer eingebunden in eine bemerkenswert breite Kenntnis der theologischen Literatur. Immer wieder arbeitete sie mit eingängigen Metaphern. So verglich sie die Seele beim Beten mit einem Garten, der bewässert werden müsse. Die vier Techniken des inneren Gebets beschrieb sie als das mühsame Schöpfen mit dem Wassereimer, sodann die Bewässerung mit Schöpfrädern und Rohrleitungen, drittens als Nutzung von Bächen und Flüssen oder als Freude über den großzügigen von Gott gespendeten Regen. Dabei waren die Techniken, die Teresa lehrte, auch deshalb so populär, weil sie allen Leser:innen einen Zugang zur individuellen sakralen Erfahrung in Aussicht stellten – unabhängig vom Grad theologischer Bildung. Ganz im Gegenteil

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helfe oftmals „ein wenig Studium der Demut und ein einziger Demutsakt mehr als alles Wissen der Welt“. Gehe es doch „nicht ums Argumentieren, sondern um das aufrichtige Anerkennen dessen, was wir sind, und um das schlichte Versetzen in die Gegenwart Gottes“.24 Entsprechend habe „seine Majestät“ ihr selbst es geschenkt, all das Wichtige der mystischen Theologie „in aller Deutlichkeit zu verstehen und ausdrücken zu können, so daß sich meine Beichtväter wunderten“.25

Die Relevanz von Körperlichkeit und Emotionen

Dabei hatten diese Selbsttechniken spiritueller Gotteserfahrung eine eindeutige emotionale bzw. eine physische, körperliche Komponente. So gehörten zu den Visionen immer wieder „Erschütterungen“ und Tränen. Tränen galten als Ausweis authentischer Gefühle und intakter Gottesverbindung. Nicht weinen zu können wurde als „Trockenheit“ problematisiert und mit „Einsamkeit“ korreliert. Es war schließlich Gott selbst, der hier eingriff und ihr „die Gabe der Tränen“ schenkte.26 Zugleich war es das Ziel der damaligen Frömmigkeitsliteratur, die Teresa studiert hatte, den Leser zu Tränen und im Sinne einer „affektiven Spiritualität“27 damit zu den „richtigen“ Emotionen zu bewegen. Dazu zählte Liebe, denn diese, so hatte Teresa bei Francisco de Osuna gelesen, sei wichtiger als der Intellekt bei der Erfahrung Gottes. Immer aber spielte auch Schmerz eine wichtige Rolle. Damit war Teresa seit früher Jugend vertraut, hatte sie doch immer wieder an schweren Krankheiten und anderen physischen Dysfunktionen gelitten. Nahrungsaufnahme und Verdauung blieben über Jahrzehnte ein Problem, sie berichtete von Abführmitteln und routinemäßig mit einer Feder provoziertem Erbrechen. Zudem hatte die traditionelle Frömmigkeit dieser Zeit ohnehin eine Körper-Dimension: Auch Teresa fügte sich durch Bußpraktiken wie Geißelungen selbst Schmerzen zu. „Schmerz“ war grundsätzlich eine wichtige sinnliche Komponente ihrer mystischen Erfahrungen, in denen das „Fühlen“ den zentralen Raum einnahm. Dabei handelte es sich um eine paradoxe Mixtur aus „Angst“ und „Schmerz“ einerseits und „Freude“, „Glück“, „Liebe“ und „Genuss“ andererseits. Schon der Begriff „Liebeswunden“ verweist auf die Verbindung von Lust und Leid. Nirgendwo wird diese Kombination von Gefühlen plastischer als bei jenen Visionen, in denen sie einen Pfeil imaginiert, der ihre Eingeweide durchbohrt. In der bekanntesten ihrer Visionen empfand sie eine Herzdurchbohrung (Transverberation):

Die Relevanz von Körperlichkeit und Emotionen

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Abb. 9: Heilige Teresa im Moment der „Unio mystica“, Skulptur von Giovanni Lorenzo Bernini in Rom (1652).

Ich sah einen Engel neben mir an meiner linken Seite, und zwar in leiblicher Gestalt […]. Ich sah in seinen Händen einen langen goldenen Pfeil, und an der Spitze dieses Eisens schien ein wenig Feuer zu züngeln. Mir war, als stieße er es mir einige Male ins Herz, und als würde es mir bis in die Eingeweide vordringen. Als er es herauszog, war mir, als würde er sie mit herausreißen und mich ganz und gar brennend vor starker Gottesliebe zurücklassen. Der Schmerz war so stark, daß er mich diese Klagen ausstoßen ließ, aber zugleich ist die Zärtlichkeit, die dieser ungemein große Schmerz bei mir auslöst, so überwältigend, daß noch nicht einmal der Wunsch hochkommt, er möge vergehen, noch daß sich die Seele mit weniger als Gott begnügt. Es ist dies kein leiblicher, sondern ein geistiger Schmerz, auch wenn der Leib durchaus Anteil daran hat, und sogar ziemlich viel.28

An anderer Stelle beschrieb sie die Gefühle als „leiblichen Schmerz“ und wunderte sich, dass damit ein solches „geistiges Glücksgefühl“29 zusammengehen

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Teresa von Ávila (1515–1582)

könne. Diese fluide Grenze zwischen imaginativen Erlebnissen und Physis führte dazu, dass nach ihrem Tod Mediziner Teresas Herz auf Spuren von Durchbohrungen untersuchten. Die Unebenheiten des in einem Reliquiar in Alba de Tormes aufbewahrten Organs gaben divergierenden Interpretationen Raum – so wie ohnehin die postmortale Wahrnehmung und Wertschätzung Teresas eine Geschichte für sich ist.

Postmortales Weiterleben: Nationale Instrumentalisierungen

Schon kurze Zeit nach ihrem Tod 1582 wuchs die allgemeine Verehrung auf ein erstaunliches Maß. 1614 wurde Teresa von Papst Paul V. selig- und vierzig Jahre nach ihrem Tod im Jahr 1622 von Gregor XV. heiliggesprochen. Das war umso bemerkenswerter, als sich in dieser Zeit der Vatikan mit Heiligsprechungen relativ zurückhielt. Diese Verfahren wurden jeweils von Personengruppen forciert, die zur Durchsetzung ihrer Vorschläge an der Formierung spezifischer Teresa-Bilder mitwirkten. Diese damit verknüpften Deutungskämpfe sind deshalb von Interesse, weil sich darin Identitätskonflikte des spanischen Katholizismus zu Beginn des 17. Jahrhunderts niederschlugen. Dabei ist zunächst bemerkenswert, wie schnell Teresa, die immer wieder gegenüber kirchlichen Autoritäten um ihre Akzeptanz hatte ringen müssen, nun zur religiösen Vorbildfigur geformt wurde. Für die breite Anschlussmöglichkeit erwies sich dabei die in die Texte eingeschriebene doppelte Lesart als förderlich: So galt sie den einen wegen ihrer außerordentlichen Demut und Fügsamkeit als vorbildlich, während andere die mystische Verbindung mit Gott oder die intellektuelle Produktion als bewundernswert hervorhoben. Die meisten bildlichen Darstellungen des 17. Jahrhunderts zeigen Teresa entweder in visionärer Verzückung oder mit der Feder als Schreibgerät in der Hand. Diese Bilder prägen noch heute das kulturelle Gedächtnis. Dabei ist vollkommen in Vergessenheit geraten, dass es in dieser Zeit auch gänzlich abweichende Darstellungen gab: Teresa als Kriegerin. Diese Repräsentationen lassen sich auf Versuche zurückführen, Teresa nicht als universale Heilige, sondern als nationale Patronin zu etablieren. Forciert wurde dies von den Unbeschuhten Karmelitern, auf deren Antrag hin das kastilische Parlament, die Cortes, im Jahr 1617 beschloss, Teresa zur Kopatronin Spaniens zu erheben. Dies aber löste einen Proteststurm unter denjenigen spanischen Katholiken aus, die darin eine Herabsetzung des bislang alleinigen Nationalpatrons Spaniens, Jakobus (Santiago), erblickten. Dieser Widerstand wiederum provozierte eine

Postmortales Weiterleben: Nationale Instrumentalisierungen

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Kampagne der Teresa-Anhänger, in der es in Predigten, Schriften und Bildmaterial darum ging, die nationale Tauglichkeit „ihrer“ Heiligen herauszustellen. Dies mündete in eine ausgeprägte Hispanisierung und Militarisierung der Heiligen. Nun kam ihr zugute, dass ihr Bewegungsradius – anders als bei vielen in den Status von Heiligen erhobenen Ordensgeistlichen – auf Spanien beschränkt geblieben war. So beteuerte ein Unbeschuhter Karmelit: „Sie wurde in Spanien geboren, sie wuchs in Spanien auf […], sie gründete Klöster in Spanien, sie schrieb in Spanien, sie kommunizierte mit Gott in Spanien, sie lebte ihr ganzes Leben in Spanien, verließ Spanien nie, sie starb in Spanien und ihr jungfräulicher Körper blieb in Spanien.“30 Auch wurde sie (zusammen mit dem Heiligen Jakobus) in ein Figurenensemble der nationalen Mythenerzählungen eingefügt: So wie seinerzeit das moralische Fehlverhalten des westgotischen Prinzen Rodrigo mit Florinda den Untergang des Westgotenreichs besiegelt hätte, so würde das Heiligenduo Santiago und Teresa den Beginn neuer nationaler Herrlichkeit bedeuten. Die Militarisierung setzte bei der Stilisierung Teresas als Kriegerin im Kampf gegen den Protestantismus an. Diese Deutung konnte sich auf einige, eher beiläufig gefallene Äußerungen über die Lutheraner in Teresas Schriften beziehen. Daraus wurde u. a. in Predigten nun extrapoliert, dass Gott Teresa den Kampf gegen die Häresie übertragen habe, weshalb ihr das Patronat über Spanien zuzusprechen sei, dessen besondere nationale Aufgabe im Kampf gegen den Protestantismus liege. Plötzlich entstanden Bilder, auf denen Teresa als jungfräuliche „Pallas“ mit Schwert in der Hand, Schild am Arm und Helm auf dem Kopf dargestellt wurde. Ein Altarbild in Granada zeigte Jesus als Kind, der Teresa einen Speer überreicht mit den Worten: „Ich wähle dich zur Kapitänin, damit du Spanien gegen die Heiden verteidigst.“31 Dass es eine Frau war, die so martialisch auftrat, wurde dadurch vermittelt, dass Teresa zu den biblischen Ausnahmefrauen wie Judith gezählt wurde (wobei Teresa zu Luther in ein ähnliches Verhältnis gebracht wurde wie Judith zu Holofernes). Andernorts wurde sie zu einer „männlichen Frau“ (Mujer varonil) stilisiert, die eben nicht weiblich im Sinne von „schwächlich“ gewesen sei. Nicht ohne Widerspruch wurde von anderen gerade ihre Schwachheit betont: Es sei für den Teufel halt besonders demütigend, ausgerechnet von einer schwachen Frau besiegt worden zu sein. Bezeichnenderweise fielen die martialischen Teresa-Darstellungen einem späteren Bildersturm zum Opfer: Nachdem Papst Urban VIII. 1627 den Bitten nachgekommen war und Teresa neben Santiago zur nationalen Patronin erhoben hatte, setzte ein derartiger Protest der Anhänger Santiagos ein, dass der Beschluss zwei Jahre später rückgängig gemacht wurde. Mit dieser Entscheidung

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ging ein Dekret einher, dass die Vernichtung aller Darstellungen anordnete, die Teresa als nationale Patronin inszenierten. Erst zweihundert Jahre später kam die Forderung wieder auf: die progressiven Cortes von 1812 setzten das Kopatronat Teresas durch. Doch gaben die Progressiven im Laufe des 19. Jahrhunderts das Religiöse mehr und mehr preis. Teresa wurde vor einem antiklerikalen Hintergrund am Ende des 19. Jahrhunderts ganz neu gedeutet: Die physisch-psychischen Phänomene, die Teresa beschrieben hatte, führten nun zu ihrer Pathologisierung. All die nicht erklärlichen Phänomene wurden zum Formenkreis neu entdeckter femininer Hysterie gezählt. Es waren nun die Konservativen, die Teresa vereinnahmten – und dabei an die nationale Deutung anschlossen. Einen kolonialistischen Unterton gewann die Teresa-Deutung in den Gedichten, die ihr im Rahmen eines zum 300. Jahrestags ihrer Heiligsprechung angesetzten Wettbewerbs gewidmet wurden. Die Tochter von Conversos avancierte zur San­ ta de la raza – zur Heiligen der Rasse, die den lateinamerikanischen Kulturraum verbinde. Den Höhepunkt erlebte dieser Kult während des Franquismus, schließlich galt Teresa die besondere Wertschätzung des Diktators Francisco Franco. Die Reliquie mit Teresas linkem Arm ließ Franco 1962 – zum 400. Jahrestag der Klostergründung – erst quer durch Spanien fahren, um ihr dann auf Madrids Plaza Mayor die Ehren als „Generalkapitänin mit Befehlsgewalt“ zukommen zu lassen.32 Eine Reliquie ihrer Hand war während des Bürgerkriegs in Francos Besitz geraten – er behielt sie fortan in seiner Nähe. Selbst das heimische Ehebett stand so, dass der Blick auf die Reliquie fiel. So wie Karl V. in Yuste und Philipp II. im Escorial zelebrierte Franco die alltägliche Nähe zum Sakralen. Doch neben der dezidiert nationalistischen Aneignungsgeschichte der Heiligen hat es immer eine universale und spirituelle gegeben. So war es nicht zuletzt die Lektüre von Teresas Autobiographie im Sommer 1921, die die begabte jüdische Philosophin Edith Stein bewog, zum Katholizismus zu konvertieren und Karmelitin zu werden.33 Es hat eben die verschiedensten Gründe, dass Teresas Vida zu den wirkmächtigsten Autobiographien der Weltliteratur zählt.

Weiterführende Literatur Bilinkoff, Jodi: The Avila of Saint Teresa. Religious Reform in a Sixteenth-Century City, Ithaca 1989. De la Madre de Dios, Efrén/Steggink, Otger: Tiempo y Vida de Santa Teresa, Madrid 1968. Eire, Carlos: The Life of Saint Teresa of Avila, Princeton NJ 2019. Koldau, Linda Maria: Teresa von Avila. Agentin Gottes 1515–1582, München 2014.

Anmerkungen

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Lorenz, Erika/Loose, Helmuth N.: Teresa von Avila. Eine Biographie. Freiburg i. Br. 1994. Mujica, Bárbara: Teresa de Ávila. Portrait of the Saint as a Young Woman, in: Romance Quarterly 63/1 (2016), S. 30–39. Pérez, Joseph: Teresa de Ávila y la España de su tiempo, Madrid 2007. Rowe, Erin Kathleen: Saint and Nation. Santiago, Teresa of Avila, and Plural Identities in Early Modern Spain, University Park 2011. Teresa von Ávila: Gesammelte Werke, hg. von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, 9 Bde., Freiburg 2001–2013. Teuber, Bernhard: Von der Lebensbeichte zur kontemplativen Selbstsorge. Autobiographisches Schreiben als Ästhetik mystischer Existenz bei Teresa von Avila, in: Moog-Grüne­ wald, Maria (Hg.): Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge, Heidelberg 2004, S. 57–72.

Anmerkungen 1

Vgl. Henry Kamen: Philip of Spain, New Haven 1998, S. 222; vgl. Geoffrey Parker: The Grand Strategy of Philip II, New Haven 1997, S. 15. 2 Teresa von Ávila: Das Buch meines Lebens (Vida). Vollständige Neuübertragung, Gesammelte Werke Bd. 1, hg. von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, Freiburg i. Br. 2001, S. 311. 3 Vida, S. 309. 4 Vida, S. 78. 5 Ebd. 6 Vida, S. 100. 7 Francisco De Osuna/Melquíades Andrés Martín: Tercer abecedario espiritual, Madrid 1972. 8 Vida, S. 163. 9 Vida, S. 168. 10 Vida, S. 385. 11 Vgl. Brief von Teresa an Lorenzo de Cepeda, Ávila 23.12.1561, in: Teresa von Ávila: Schicken Sie mir doch ein paar Täubchen, Briefe I, Gesammelte Werke Bd. 6, hg. von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, Freiburg i. Br. 2011, S. 83–84. 12 So Nuntius Filippo Sega über Teresa gegenüber Juan de Jesús (Roca), zitiert in: Teresa von Ávila: Noch nie habe ich Euch so geliebt wie jetzt, Briefe II, hg. von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, Gesammelte Werke Bd. 7, Freiburg i. Br. 2011; siehe auch Anm. 12, S. 437; vgl. dazu auch das Schreiben von Teresa von Ávila an Pater Pablo Hernández in Madrid, Ávila, 4. Oktober 1578, (Carta 269), in: Ebd. 13 Vgl. Martina Bengert/Iris Roebling-Grau (Hg.): Santa Teresa: Critical Insights, Filiations, Responses, Tübingen 2019. 14 Narciso Alonso Cortés: Pleitos de los Cepeda, in: Boletín de la Real Academia Española (BRAE), 5 (1946), S. 85–110, hier S. 91. 15 Cortés, Pleitos, S. 90.

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16 Vida, S. 183. 17 Mariano Delgado: Mystik in harten Zeiten: Zum historischen Kontext der Mystik von Teresa von Ávila und Juan de la Cruz, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 111 (2000), S. 56–69. 18 Censura de los maestros fray Melchor Cano y fray Domingo de Cuevas sobre los Comentarios y otros escritos de D. Fray Bartolomé de Carranza (1559); übersetzt zitiert in: Fermín Caballero: Vida de fray Melchor Cano, zitiert in: Ulrich Dobhan/ Elisabeth Peeters: Einführung, in: Dies. (Hg.): Teresa von Ávila: Das Buch meines Lebens, Bd. 1, Freiburg i. Br. 2001, S. 15–80, hier S. 70. 19 Vida, S. 179. 20 Vgl. Gillian T. W. Ahlgren: Teresa of Avila and the Politics of Sanctity, Ithaka und London 1996; Alison Weber: Teresa of Avila and the Rhetoric of Femininity, Princeton 1996. 21 Vida, S. 478. 22 Vida, S. 440. 23 Vida, S. 414. 24 Vida, S. 237 f. 25 Vida, S. 201. 26 Vida, S. 107. 27 Elena Carrera: Pasión and afección in Teresa of Avila and Franciso de Osuna, in: Bulletin of Spanish Studies 84/2 (2007), S. 175–191, hier S. 179. 28 Vida, S. 426 f. 29 Vida, S. 429. 30 So der Unbeschuhte Karmelit: Pedro de la Madre de Dios, zitiert in: Erin Kathleen Rowe: The Spanish Minerva. Imagining Teresa of Avila as Patron Saint in Seventeenth-Century Spain, in: The Catholic historical review 92 (2006), S. 574–596, hier S. 587. 31 Zit. ebd., S. 591. 32 Vgl. Giuliana Di Febo: La Santa de la Raza: Teresa de Ávila: un culto barroco en la España franquista (1937–1962), Barcelona 1988, S. 132. 33 Siehe Christian Feldmann: Edith Stein, Hamburg 2004, S. 55–57; Hanna-Barbara Gerl: Unerbittliches Licht – Edith Stein: Philosophie, Mystik, Leben, Mainz 1991, S. 20–25.

13. Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares (1587–1645) Vom Aufstieg und Fall des „Günstlings“ Philipps IV.

Dass Teresa von Ávila vierzig Jahre nach ihrem Tod zur Kopatronin Spaniens ernannt wurde, verdankte sie weniger dem Karmelitenorden als vielmehr dem Einsatz zweier namhafter weltlicher Vertreter: Kein Geringerer als König Philipp IV. hatte sich für die Ordensfrau eingesetzt, deren Fürsprache er – wie er glaubte – die Gesundung nach schwerer Krankheit im Jahr 1627 verdankte. Die Krankheit war just in dem Augenblick gewichen, als Philipp davon erfuhr, dass Papst Urban den Wunsch gebilligt hatte, Teresa zur Kopatronin zu erheben. Noch in seinem Testament verwies Philipp IV. auf die besondere Verehrung, die er dieser Heiligen gegenüber zeitlebens empfunden habe. Diese Verehrung teilte er mit seinem ersten Minister und Günstling Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares. Gemäß den Familienerzählungen hatte Teresa dessen Mutter noch in Kindheitstagen in wundersamer Weise von einer Erkrankung geheilt. Die Herz-Reliquie Teresas, die auf nicht rekonstruierbare Weise zwischenzeitlich in seinen Besitz gekommen war, hielt er für das Kostbarste, was er besaß. Doch gerade weil sich der Conde-Duque für Teresa stark machte, entwickelte sich aus der Frage um das Kopatronat eine der „heftigsten politischen und literarischen Debatten“1 Spaniens im 17. Jahrhundert. Eine literarische Debatte entstand nicht zuletzt deshalb, weil einer der bedeutendsten Dichter der Zeit, Francisco de Quevedo, in dieser Auseinandersetzung Position bezog. Dabei kann die so emotional geführte Kontroverse als Stellvertreterkrieg bezeichnet werden, in dem es weniger um die nationale Tauglichkeit Teresas ging als vielmehr um die damalige Regierungsform: Hinter den Argumenten gegen die sakrale Doppelspitze verbarg sich letztlich ein vehementer Angriff auf die geteilte Herrschaft von König und Günstling. Wer dafür eintrat, dass der Heilige Jakobus (Santiago) der Tradition entsprechend alleiniger Patron Spaniens blieb, gab damit zu verstehen, dass er neben dem legitimen König keinen weiteren Machtinhaber akzeptierte. So war die hitzige Debatte über die Stellung Teresas im Kern eine Auseinandersetzung über den Conde-Duque de Olivares.

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Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares (1587–1645)

Schon zu Lebzeiten war diese Persönlichkeit höchst umstritten. Am Ende der Herrschaft des ersten Ministers gab es nur wenige, die ihn schätzten. Der König gehörte noch dazu, aber er konnte seinen Vertrauten nicht mehr halten, gegen den sich der Unmut breiter Bevölkerungsgruppen vom Adel über den Klerus bis in die einfachen Volksschichten richtete. Als der König ihn im Januar 1643 entließ, musste er durch einen Hinterausgang entweichen, wartete doch längst eine Meute vor dem Palast, die sich am Spektakel des gedemütigt abreisenden Conde-Duque delektieren wollte. Tiefer konnte der Sturz kaum sein: Derjenige, der mehr als zwanzig Jahre lang die Zügel der Welt- und europäischen Hegemonialmacht Spanien in seinen Händen gehalten hatte, musste nach dem Scheitern seiner Pläne mit Schimpf und Schande davonschleichen. Es ist diese Fallhöhe und damit ein Schicksal, das repräsentativ für den Niedergang der spanischen Nation in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts steht, was diese Vita so außergewöhnlich macht. Olivares’ Laufbahn lässt noch einmal die Bedeutung Spaniens in der Frühen Neuzeit aufscheinen und nach den Ursachen des Machtverlustes fragen. Zudem entwickelte sich eine besondere Dramatik im Verhältnis zwischen Kastilien und den peripheren Provinzen, die die Einheit des Königreiches in Frage stellte. Nicht zuletzt für das katalanisch-spanische Verhältnis stellte die Phase der Regierung Olivares eine Schlüsselepoche dar. Dabei war der Conde-Duque sowohl eine Ausnahmegestalt als auch ein typisches Produkt seiner Zeit. Heben ihn sein Ehrgeiz, sein Machtpotential, seine Fähigkeiten und seine Schaffenskraft aus der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts heraus, so schien die Position, die er am spanischen Hof einnahm, in Europa keineswegs einzigartig. Insofern war es das Anliegen des Historikers John H. Elliott, gerade das Europäische an diesem Staatsmann aufzuzeigen und die Parallelen zu Kardinal Richelieu herauszuarbeiten, der am Hof des französischen Königs Ludwig XIII. eine ähnliche Rolle spielte. Anders als der Franzose ist der spanische Politiker jedoch aus dem kollektiven Gedächtnis Europas weitgehend verschwunden. Das ist umso bemerkenswerter, als sein Name seinerzeit in „ganz Europa bekannt“ war, wie ein französischer Dichter im 17. Jahrhundert versicherte.2 Die damnatio memoriae setzte bald nach seinem Sturz ein. Unter anderem wurde seine Person aus einem Gemälde entfernt, das ihn inmitten von Mitgliedern der Königsfamilie zeigte. Wenn man sich später an ihn erinnerte, dann nur in den dunkelsten Tönen: Er hielt Einzug in das „Pantheon der figuras negras“ der spanischen Geschichte.3 Da Olivares für den Niedergang des Landes verantwortlich gemacht wurde, ließ auch die Historiographie im 19. Jahrhundert kaum ein gutes Haar an ihm, bis sich

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Abb. 10: Conde-Duque de Olivares, Porträt von Diego Velázquez (1624).

Ende des Säkulums das Bild langsam aufzuhellen begann. Doch noch die Biographie von Gregorio Marañón aus den 1930er Jahren war von der negativen Sicht geprägt, wobei der Mediziner und Historiker den Staatsmann umfassend pathologisierte: Vermeintliche Auffälligkeiten wurden einer „Erbsyphilis“, seiner Disposition als „Zyklothymiker“, seinen „Depressionen“ oder „Größenwahn und Machtpsychose“ zugeschrieben.4 Für Marañón war klar: Olivares war der „am meisten gehaßte aller Staatsmänner Spaniens“.5 Zugleich aber attestierte er ihm, ein überragender Politiker gewesen zu sein – eine Wertschätzung, die sich mit dem Urteil der angloamerikanischen Historiographie in den 1980er Jahren

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Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares (1587–1645)

deckte, als im Umfeld des 400. Geburtstags des Protagonisten einige wegweisende Studien erschienen. In einer Studie über Philipp IV. galt dessen Günstling als „one of the most complete and gifted politicians of early-modern Europe“,6 und in seiner nach wie vor unübertroffenen Biographie skizzierte John H. Elliott den Conde-Duque quasi als „spanischen Churchill.“7 Vielleicht wäre er noch besser als „spanischer Bismarck“ beschrieben, denn sowohl die absolute Treue zum Monarchen als auch die Abhängigkeit von dessen Vertrauen war bei beiden Staatsmännern gleich. Nur die Expansionspolitik verlief diametral anders: Olivares wird eben nicht mit dem machtpolitischen Aufstieg, sondern dem Abstieg Spaniens assoziiert. Mit Blick auf die Würdigung der politischen Persönlichkeit steht die Historiographie vor neuen Herausforderungen. So gab der Madrider Frühneuzeithistoriker Manuel Rivero Rodriguez jüngst zu bedenken, dass vieles, was man über den Conde-Duque zu wissen glaubte, womöglich auf damals weitverbreiteten Fälschungen fußt, so dass es notwendig sei, seine wirklichen Intentionen erst einmal von all diesen später verfälschenden Deutungen freizulegen.8

Von Rom bis an den Madrider Hof: Der Aufstieg des Conde-Duque

Zumindest die Kenntnis über seinen Lebenslauf gehört zu den unstrittigen Überlieferungen. Geboren wurde Gaspar de Guzmán am 6. Januar 1587 in Rom. Da es in Spanien üblich war, die Kinder nach dem Tagesheiligen zu benennen, wurde aus den Namen der drei heiligen Könige gelost. Der Geburtsort ergab sich aus der diplomatischen Laufbahn des Vaters, der seit fünf Jahren Botschafter Spaniens am Heiligen Stuhl war. Bald darauf wurde er zum Vizekönig in Sizilien und Neapel ernannt. So kam es, dass Gaspar erst im Alter von dreizehn Jahren mit seinem Vater nach Spanien kam, als dieser in den Staatsrat, den Con­ sejo de Estado, aufgenommen wurde; die Mutter war schon sieben Jahre zuvor verstorben. Als zweitältester lebender Sohn (auch der älteste Bruder war bereits tot) wurde Gaspar für eine kirchliche Laufbahn vorgesehen, weshalb er zunächst das Studium des kanonischen Rechts an der Universität Salamanca aufnahm. Dort erwarb er nicht zuletzt auch rhetorische Kompetenzen, die ihm später zugutekommen sollten. Er blieb dort, bis im Jahr 1604 unerwartet der ältere Bruder starb, so dass Gaspar de Guzmán jetzt, im Alter von 17 Jahren, zum Erben des Grafentitels avancierte. Gemäß den Gepflogenheiten der damaligen Aristokratie suchte er nun eine Perspektive am Hof. Dafür begab er sich zunächst nach

Von Rom bis an den Madrider Hof: Der Aufstieg des Conde-Duque

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Valladolid, wohin der Hof im Jahr 1601 umgesiedelt war, und dann wieder nach Madrid. Doch noch bevor ihm die väterliche Protektion den Zugang zu einem Amt am Hof ermöglicht hätte, starb 1607 sein Vater. Dem Distinktionsbedürfnis des Vaters, dessen Ehrgeiz immer (wenn auch vergeblich) darauf gerichtet war, in die Hocharistokratie Spaniens, die Granden, aufgenommen zu werden, versuchte der Sohn durch ein pompöses Begräbnis und die Heirat mit einer der Hofdamen der Königin zu entsprechen. Eine Zukunft am Hof aber schien sich vorerst nicht aufzutun, so dass er sich auf die eigenen Ländereien in Andalusien zurückzog. Die folgenden acht Jahre bis 1615 verbrachte er in Sevilla, das zu seiner Heimat werden sollte. Die Stadt am Guadalquivir war damals die wohl aufregendste Spaniens: Durch das Monopol im Amerikahandel waren nicht nur die jährlichen Silberlieferungen, sondern mit dem Geld auch Menschen aus dem In- und Ausland gekommen, die Sevilla zu einer pulsierenden und wirtschaftlich wie künstlerisch prosperierenden Stadt machten: Eine Erfahrung, die den Aristokraten, der sich zu einem nennenswerten Kunstmäzen entwickelte, zeit seines Lebens prägte, auch wenn er 1615 nach Madrid umzog. Inzwischen hatte sich doch eine Möglichkeit ergeben, Karriere am Hof zu machen: Der spanische Kronprinz wurde im zarten Alter von zehn Jahren mit Isabelle de Bourbon, der Schwester des französischen Königs Ludwig XIII., verheiratet, weshalb ihm nun ein eigener Hofstaat zugebilligt wurde. Olivares wurde einer der sechs Kammerherren, die sich um den künftigen König kümmerten. Es war für diesen zunächst keine leichte Aufgabe, sich die Zuneigung des Kronprinzen zu erarbeiten. Die Mühe machte sich aber unerwartet schnell bezahlt: Niemand hatte damit gerechnet, dass Philipp III. schon 1621 im Alter von nur 42 Jahren sterben würde. Gerade weil der noch nicht 16 Jahre alte neue König zu jung war, um die Amtsgeschäfte eigenständig zu führen, sah sich Olivares am Ziel: „Alles ist mein!“, soll er selbstbewusst gesagt haben.9 Zumindest die vom Vater übernommene Ambition, zum Kreis der Granden zu gehören, wurde schnell befriedigt: Zehn Tage nach der Thronübernahme forderte der neue König Olivares auf, den Kopf in seiner Gegenwart bedeckt zu halten – damit war der Aufstieg in den höchsten spanischen Adel gewährt. Knapp vier Jahre später ernannte ihn der junge König zum Herzog. Sein offizieller Titel lautete nun Conde (Graf ) von Olivares und Duque (Herzog) von San Lúcar la Mayor; seitdem unterschrieb er seine Dokumente mit „Conde-Duque“. Doch entgegen seiner selbstbewussten Ankündigung, wonach ihm mit der Thronbesteigung Philipps IV. nun alles gehöre, blieb die Regierung zunächst

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in den Händen seines Onkels Don Baltasar de Zúñiga, der als erfahrener Diplomat die innen- und außenpolitischen Richtlinien vorgab. Als dieser schon im Oktober 1622 starb, trat de facto sein Neffe an seine Stelle, auch wenn zunächst die Aufgaben von einem Triumvirat versehen werden sollten. Doch war für ausländische Beobachter schon nach wenigen Monaten unstrittig, in wessen Händen die Fäden der Macht wirklich zusammenliefen. Auch wenn Olivares diese Position in den folgenden zwanzig Jahren innehaben sollte, blieb seine Stellung doch prekär – durch den unklaren Status als Valido bzw. „Günstling“.

Die „Günstlingsherrschaft“ als frühneuzeitliche Regierungsform

Die Regierungsform, in der neben einem König ein „Günstling“ die Geschäfte führte, war im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert in Europa weit verbreitet. Die Epoche gilt in der Forschung als das „klassische Zeitalter des Favoriten“.10 Wenn ein Mann im Umfeld des Königs nicht nur dessen besonderes Vertrauen, sondern auch das Privileg besaß, die politischen Geschicke der Monarchie zu gestalten, wurde aus dem Favoriten ein „Günstlings-Minister“.11 Gerade aber weil am Fürstenhof der Frühen Neuzeit alle Adeligen um die Gunst des Monarchen buhlten, führte die Privilegierung des einen bei den anderen in der Regel zu Missgunst. So war der Günstling angesichts wachsamer Kontrolle und scharfer Kritik der Konkurrenten nicht nur auf das Wohlwollen des Königs angewiesen. Er musste zugleich seine Stellung dadurch absichern, dass er einen Kreis aus Verbündeten um sich und den Fürsten scharte. Wie flüchtig die Macht sein konnte, zeigte sich an Olivares’ Vorgänger: Der Günstling Philipps III., Duque de Lerma, hatte zwar durch rigorosen Nepotismus und großzügige Geschenke des Königs an Hochadelige ein Patronagenetz bilden können. Doch löste diese Praxis zugleich massive Kritik aus: Angesichts der problematischen Haushaltslage der Monarchie galten die finanziellen Gunstbeweise bzw. Landgeschenke als verantwortungslose Verschwendung und – neben einer eher pazifistischen Politik – als eine Ursache des Machtverlustes Spaniens. Diese Kritik hatte schließlich 1618 den Sturz des Herzogs von Lerma provoziert. Um nun als neuer Favorit Akzeptanz am Hof und in der Bevölkerung zu finden, musste sich Olivares als ein Gegenmodell zu Lerma in Szene setzen. Entsprechend unterstrich er durch zahlreiche symbolische und praktische Maßnahmen den Bruch mit dem Regime des Vorgängers. Wurden diesem „niedere“ Interessen wie Selbstbereicherung, Korruption und Verschwendung zugeschrieben, nahm Olivares für sich das in

Die „Günstlingsherrschaft“ als frühneuzeitliche Regierungsform

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Abb. 11: Der Conde-Duque de Olivares als Atlas auf dem Frontispiz des Werkes El Fernando o Sevilla restaurada (1632).

Anspruch, was er als die wahren Regierungsqualitäten ausgab: Pflicht, Dienst, Gehorsam, Disziplin. Auch die Praktiken am Hof veränderten sich: Der König wurde instruiert, Gunstbezeugungen auf symbolische Kapitalsorten, also z. B. Rangerhöhungen, zu beschränken und auf materielle Belohnungen zu verzichten; die Hoftracht wurde vereinfacht, der höfische Lebensstil frugaler. Der Herzog selbst verzichtete (zumindest zunächst) auf Geschenke für sich und jeden Pomp bei der Selbstinszenierung. Wie er selbst gesehen werden sollte, illustriert eindrücklich eine Darstellung auf dem Frontispiz des 1632 von einem Parteigänger veröffentlichten Werkes El Fernando o Sevilla restaurada. Das Titelbild wird gerahmt von zwei Darstellungen des Günstlings: Beide Male erscheint Olivares als Atlas, der die Weltkugel trägt, doch das eine Mal nackt mit der Unterschrift deinteres, das andere Mal mit Fellbekleidung und der Kennzeichnung de valor.12 So wollte der Staatsmann wahrgenommen werden: frei von niederen, eigenen Interessen und bekleidet mit Mut bzw. Kompetenz.

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Der nackte Olivares hält dem Leser zudem die Handflächen entgegen: Sie sind leer und sauber. Wichtiger, so Olivares, als die Limpieza de sangre (Blutsreinheit) war die Limpieza de manos (Reinheit der Hände).13 Diese Hände aber mussten zupacken: Die Geltung des Leistungsprinzips zeigte sich an der Inszenierung als unentwegter Arbeiter. Das Arbeitsethos des Conde-Duque war tatsächlich kaum zu übertreffen: Nach der morgendlichen Beichte um 5.00 Uhr begann der Arbeitsalltag mit Aktenstudium und Audienzen und endete erst mit dem Abendessen um 23.00 Uhr. In kritischen Zeiten schien er sich kaum Schlaf zu gönnen. Feste Programmpunkte im Tagesrhythmus waren die Begegnungen mit dem König: Zumindest in den ersten Jahren hatte Olivares beim Aufstehen und Zubettgehen des Königs ebenso zugegen zu sein wie an der Mittagstafel. Die bevorzugte Position des Günstlings am frühneuzeitlichen Hof spiegelte sich in der physischen Nähe zum Monarchen. Repräsentierte der Schreibtisch des Günstlings-Ministers die Professionalisierungsprozesse der Regierungsführung, so stand der Kult um den königlichen Körper für das personale Prinzip der alten Monarchie. Als Oberkammerherr (Sumiller de corps) und Haushofmeister (Mayor­domo mayor) hatte Olivares gleich zwei Ämter inne, die ihm den dauerhaften und unmittelbaren Zugang zum Monarchen sicherten. Sein Einfluss auf Philipp IV. ist auch daran zu ermessen, dass dieser erst 1642 erstmals eine Reise ohne Olivares unternahm. Und doch war diese Nähe prekär: Erstens weil sie immer das womöglich flüchtige Wohlwollen des Königs voraussetzte und zweitens weil dieses daran gebunden blieb, dass die physische Nähe nicht als Gleichrangigkeit gedeutet werden konnte. So war Olivares immer darauf bedacht, in seiner Kommunikation den großen Abstand zwischen dem König und sich zu verdeutlichen, der physisch nicht vorhanden war – und zwar durch eine Rhetorik der Unterwürfigkeit. Zu welchen Selbstdemütigungen er in dieser asymmetrischen Beziehung bereit war, zeigt die legendäre Nachttopf-Episode: Als er noch um die Sympathien des Kronprinzen rang, soll er einmal auf dessen schlechte Laune mit einem Kuss auf Philipps Nachttopf reagiert haben – gefolgt vom Angebot, sich aus dem Amt zurückzuziehen. Ähnliche Demutsgesten sowie die dem König wiederholt unterbreiteten Entlassungsgesuche dienten fortan immer wieder als Beleg, dass es dem Günstlings-Minister nicht um sich selbst, sondern nur um den Monarchen bzw. die Monarchie und die Dynastie ging. Philipp IV. schätzte jedenfalls Olivares’ „Art, mit den Königen zu sprechen“.14 Der Günstling machte sich klein und den König groß. Entsprechend basierte das Regierungsprogramm von Olivares auf dem Versprechen, den Verfall der

„Reputation“ und „Erneuerung“: Regierungsprogramm und erste Erfolge

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Macht Spaniens aufzuhalten und die Herrschaft Philipps IV. zu einer bedeutenden zu machen. So trug das erwähnte Buch mit den Abbildungen von Olivares als Atlas die Widmung: „für Philipp, den Großen“.

„Reputation“ und „Erneuerung“: Regierungsprogramm und erste Erfolge

Letztlich kreiste das Programm des Herzogs um zwei Prinzipien: „Reputation“ und „Erneuerung“. Untrennbar miteinander verknüpft waren dabei innen- und außenpolitische Überlegungen, sollten doch die innenpolitischen Reformen vor allem Wege eröffnen, um Ressourcen für ein kraftvolles Auftreten auf internationaler Bühne bereitzustellen. Darüber hinaus hatte ein innenpolitisches Neujustieren schon deshalb immer auch globale Auswirkungen, weil zur spanischen Monarchie nicht nur die Iberische Halbinsel, Teile der Niederlande und Italiens, sondern auch weite Territorien auf dem amerikanischen Kontinent und im pazifischen Raum zählten. Auch wenn die christliche Universalherrschaft, von der Karl V. geträumt hatte, nicht mehr zu realisieren war, sollte doch zumindest die Vorherrschaft der Dynastie in Europa gesichert bleiben. Insofern konnte es den spanischen Habsburgern nicht gleichgültig sein, als die Herrschaft der österreichischen Linie 1618 in Böhmen in Frage gestellt wurde und der Dreißigjährige Krieg begann. Die Friedenspräferenzen des Herzogs von Lerma hatten im selben Jahr dessen Sturz beschleunigt. Mit Soldaten und Geldzahlungen unterstützten die spanischen Könige fortan ihre Verwandten in Wien. Die Weichen für eine aggressivere Außenpolitik waren somit gestellt, noch bevor Olivares das Ruder übernahm. Das galt auch für den niederländischen Kriegsschauplatz: Der 1609 ausgehandelte zwölfjährige Waffenstillstand lief 1621 ab, und die Entscheidung, den Krieg wiederaufzunehmen, verantwortete noch Olivares’ Onkel. Die Außenpolitik von Olivares ist – wie auch die von Philipp II. – danach befragt worden, ob sie eine „große Strategie“ erkennen lasse. Doch abgesehen von dem Wunsch, einerseits Spaniens Ruhm und Stellung zu festigen und andererseits dem Katholizismus Geltung zu verschaffen, entsprach die spanische Außenpolitik dieser Zeit keinem klaren Plan. Vielmehr folgte Olivares der Notwendigkeit, auf je neue Konstellationen reagieren zu müssen. Schon der Mangel an Geld und Soldaten ließ anderes kaum zu. Entsprechend zielten die mit zunächst großem Elan in Angriff genommenen innenpolitischen Reformen darauf, die Wirtschaftskraft zu stärken, die Bevöl-

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kerung zu mehren und den Staatshaushalt zu sanieren. Um die entsprechenden Planungen zu beschleunigen, wurden neue Gremien geschaffen: Anstelle der behäbig agierenden traditionellen Consejos, den Gerichtshöfen mit legislativen und exekutiven Funktionen, setzte Olivares nun auf neueingerichtete Räte, die Juntas, wie die Junta de Reformación und die Junta Grande. Tatsächlich trugen zahlreiche bevölkerungspolitische und sozioökonomische Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftslage bei; aber eine substantielle Veränderung des Steuersystems war ohne die Zustimmung der Vertreter der Stände nicht zu haben. Eine Reise des Königs 1624 in den Süden des Landes führte nicht dazu, dass die andalusischen Städte neue Abgaben zusichern wollten. Allerdings zeigten sich in den Werften und Häfen die Resultate der Rüstungsanstrengungen der zurückliegenden Jahre, die nicht zuletzt der Armada zugutegekommen waren. Der Ausbau des militärischen Potentials war die Grundlage für die Erfolge im Jahr 1625, das als „annus mirabilis“15 in die Geschichtsschreibung einging. Dabei gelang es, zunächst einen niederländischen Vorstoß in der Neuen Welt abzuwehren. 1624 waren holländische Flottenverbände in der brasilianischen Bucht Todos los Santos erschienen und hatten Bahía erobert. Brasilien gehörte zu Portugal und war damit seit 1580 Teil der spanischen Monarchie. Auf die Nachricht von dem Verlust der Stadt war umgehend ein spanisch-portugiesisches Expeditionskorps von 52 Schiffen entsandt worden, dessen 12.000 Soldaten in einer Schlacht am 1. Mai 1625 die Wiederherstellung der spanisch-portugiesischen Hoheit besiegelten. Im Sommer konnte dann der spanische Heerführer Ambrosio Spínola nach rund einjähriger Belagerung die niederländische Stadt Breda einnehmen und im November gelang es der Armada, die britisch-holländische Flotte vor Cádiz zurückzuschlagen, die offenbar eine Invasion an der andalusischen Küste geplant hatte und jetzt unverrichteter Dinge zurücksegeln musste. Die spanischen Erfolge waren so eindeutig, dass Olivares glaubte, darin einen göttlichen Urteilsspruch erkennen zu können: „Gott ist ein Spanier und steht an diesen Tagen an der Seite der spanischen Nation.“16 Andererseits war ihm bewusst, dass der Staatshaushalt keine weiteren Belastungen durch kostspielige Rüstungsprogramme und Kriegszüge vertrug. Gegen den Druck derjenigen im Staatsrat, die im Siegesrausch nun den Krieg nach Frankreich hineintragen wollten, setzte er sich mit allen Mitteln zur Wehr und bot schließlich sogar dem König in einem Memorandum den Rücktritt an. Dass dieser das Angebot tunlichst nicht annehmen sollte, war allerdings insofern in das Schriftstück hineingeschrieben, als Olivares den Anlass nutzte, die Erfolgsbilanz der letzten drei Jahre aufzuzeigen. Alle Reiche der Monarchie befänden

Kunst und kulturelle Apotheose: Der Palast del Buen Retiro

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sich in einem so großartigen Zustand, dass sie mit Verachtung auf die Verschwörungen blicken könnten, die sie von allen möglichen Seiten bedrohten.17 Der König verzichtete entsprechend darauf, seinen Günstlings-Minister zu entlassen, und folgte dessen Rat. Tatsächlich wäre das Heer kaum zu einer solchen Kraftanstrengung wie einem Frankreichfeldzug in der Lage gewesen. Nach dem Ende der Belagerung von Breda waren die Sieger nicht weniger am Ende ihrer Kräfte als die Verlierer. Die geordnet aufrecht gehaltenen Lanzen im spanischen Lager, mit denen der Maler Diego Velázquez die Übergabe von Breda später festhielt, suggerieren eine Überlegenheit, die mit der Realität nicht in Einklang stand. Zu einem weiteren Vorstoß in die Generalstaaten, der die abtrünnigen Provinzen noch einmal in den spanischen Herrschaftsverband hätte zwingen können, war das flämische Heer jedenfalls nicht imstande. Die begrenzten militärischen Möglichkeiten Spaniens zu Lande zeigten sich wenige Jahre später, als es während des dreijährigen Erbfolgekriegs (1628–1631) um das kleine italienische Herzogtum Mantua nicht gelang, die spanischen Interessen durchzusetzen. Die zahlreichen spanischen Gefallenen – zu den Toten zählte auch der Heerführer Spínola – waren letztlich umsonst gewesen. Am Ende profitierte nur Frankreich von dem Krieg, dessen Einfluss in Italien wieder zunahm – wodurch ein bewaffneter Konflikt zwischen den Erbrivalen Frankreich und Spanien immer wahrscheinlicher wurde. Schließlich waren durch die Expansion Frankreichs die Heerstraßen zwischen den italienischen und flämischen Teilen der Monarchie bedroht. Vorerst aber arbeitete Olivares daran, seinem König ein Denkmal zu setzen, das diesen nicht mit Kriegen in Verbindung brachte, sondern seine Größe und seinen Ruhm über kulturellen Glanz verewigen sollte.

Kunst und kulturelle Apotheose: Der Palast del Buen Retiro

In den 1630er Jahren realisierte der Conde-Duque ein gigantisches Bauvorhaben im Osten der Stadt Madrid: Innerhalb weniger Jahre entstand der Palast del Buen Retiro. So wie der Escorial in mancherlei Hinsicht als Symbol Philipps II. gedeutet werden kann, so repräsentiert der Palacio del Buen Retiro das Selbstund Monarchieverständnis des Conde-Duque de Olivares. Ohne seine Initiative, seine Energie und Beharrlichkeit, seine Kreativität und sein Mäzenatentum hätte es dieses Bauwerk nicht gegeben. Noch heute sähen das Stadtbild Madrids und der Prado anders aus – auch wenn die zentralen Bauten ebenso verschwun-

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den sind wie die Erinnerung an den Staatsmann im kollektiven Gedächtnis. Glanz und Niedergang sowohl Spaniens als auch des Conde-Duque verdichten sich im Schicksal dieses Schlosses. Den Nukleus des neuen Areals bildete das alte Hieronymitenkloster, in dessen Kirche Philipp III. nach seinem Tod aufgebahrt worden war und von dem aus der trauernde Sohn seinen Zug zum architektonischen Zentrum der politischen Macht, dem Alcázar Madrids, angetreten hatte. Das Kloster lag inmitten von Ländereien, in denen sich Philipp IV. auch gern zur Jagd und Erholung aufhielt. Als dort 1632 dem dreijährigen Thronfolger Baltasar Carlos die Treue geschworen wurde, wofür einige Umbauten initiiert wurden, entstand die Idee für einen Palastbau als Naherholungs- und Rückzugsort – eben als Retiro. In den folgenden Jahren wurde gebaut, und – bedingt durch eine regelrechte „Bauwut“,18 der sowohl der Conde-Duque als auch der König verfielen – die Gebäude immer wieder erweitert. Am Ende war um die Hieronymitenkirche herum nicht nur eine gigantische Palastanlage mit mehreren repräsentativen Plätzen, sondern auch ein riesiger Park entstanden, in dem es großräumig verstreute Eremitagen sowie Seen zum Rudern samt Inseln gab. Der eigentliche Palastbau entsprach von außen dem kargen Stil des Escorial, doch die prachtvolle Innenausstattung sollte umso mehr den Ruhm „Philipps, des Großen“ zur Geltung bringen. Diesem selbst wurde ein Denkmal errichtet. Der seinerzeit bedeutendste Bronzekünstler Pietro Tacca realisierte ein Reiterstandbild, das schon statisch ein Novum war, ruhte das gesamte Gewicht der Skulptur doch auf den Hinterbeinen des Pferdes. Die Bedeutung des Königs sollte sich in der Einzigartigkeit dieses Denkmals spiegeln, das schließlich im Oktober 1642, und damit achteinhalb Jahre nach der Erteilung des Auftrags, im Eingangsbereich des Palastes errichtet werden konnte. Mehr noch als in Skulpturen wurde in Gemälde investiert. Philipp IV. war ein Kunstsammler, mit dem es kaum ein anderer Fürst im 17. Jahrhundert aufnehmen konnte. Die königlichen Sammlungen wurden während seiner Herrschaft um nicht weniger als 2.000 Gemälde erweitert. Die Sammelleidenschaft spiegelte sich auch im neuen Palast, für den 800 Gemälde angeschafft wurden.19 Die Wände waren so überreich mit Gemälden behängt, dass ein französischer Besucher in den 1660er Jahren beeindruckt feststellte, man könne in diesem Palast mehr Kunstwerke sehen „als in ganz Paris“.20 Da zudem diverse Vizekönige oder Botschafter ihrerseits ihren Ehrgeiz darin investierten, wertvolle Gemälde für den Palast zu schicken, fand sich an den Wänden eine einzigartige Kollektion spanischer, italienischer, französischer und flämischer Werke aus den Werk-

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stätten von Rubens, Velázquez, Zurbarán, Poussin und anderen – es sind jene Kunstwerke, die heute die Bedeutung des Prado ausmachen. Reichtum und Luxus der Anlage gipfelten im politischen und ästhetischen Zentrum des Komplexes: dem Salón de los Reinos (Saal der Königreiche). Repräsentiert durch ihre jeweiligen Wappen waren die vierundzwanzig Reiche der spanischen Krone hier präsent. Schon allein dieser Raum verdeutlichte den Status der spanischen Krone als „zusammengesetzte Monarchie“. Die Bedeutung des Raumes wurde zudem durch die Wandgestaltung unterstrichen: So waren bedeutende Maler der Zeit beauftragt worden, Schlachten für diesen Saal zu malen, die den Ruhm des Monarchen mehren sollten. Fünf der zwölf Schlachtengemälde zeigten Szenen aus dem annus mirabilis 1625. Die bedeutendsten beiden Gemälde sind die „Übergabe von Breda“, die Velázquez in Auftrag gegeben worden war, sowie die Wiedereinnahme von Bahía, gemalt vom Dominikanerpater Juan Bautista Maino. Das womöglich interessanteste Bild ist das letztere: Hier rückte der Maler zunächst nicht einen Schlachtenheroismus, sondern das Leid der Verletzten in den Vordergrund. Zugleich aber ließ er in einer komplexen Mise en abyme den porträtierten siegreichen Heerführer Don Fadrique de Toledo auf ein Bild im Bild verweisen: einen Wandteppich mit einer Darstellung Philipps IV., dem von der Göttin Minerva und dem Conde-Duque von hinten ein Lorbeerkranz gereicht wurde. Kongenial setzte dieses Bild damit die Intention des Initiators des Palastes um: Sollte es doch um eine Apotheose Philipps IV. gehen, die wiederum vom Conde-Duque selbst veranlasst wurde. Hier wurde der Rey planeta in Szene gesetzt. In weiteren fünf Gemälden des Saals, die an den Stirnseiten hingen, hatte Velázquez Mitglieder der Königsfamilie zu Pferde dargestellt. Schließlich fungierte der Saal während der Anwesenheit des Königspaars als Thronsaal. In der Praxis diente er jedoch weniger repräsentativen politischen Zwecken als vielmehr der Unterhaltung, wurden von hier doch Theaterstücke verfolgt, die in den Innenhöfen aufgeführt wurden. Auch diese Theaterinszenierungen zahlten auf das Konto des symbolischen Kapitals des Königs ein, indem sie die kulturelle Vormachtstellung Spaniens im Siglo de Oro zeigten, jener kulturellen Blütezeit Spaniens, in der u. a. die Schriftsteller Cervantes, Tirso de Molina, Lope de Vega, Quevedo und Calderón de la Barca sowie die Maler Zurbarán, Murillo und Velázquez lebten und wirkten. Sämtliche Künstler, nicht nur Architekten und Maler, auch die Theaterautoren profitierten von Olivares’ Mäzenatentum. So hatte der kulturelle Reichtum der Epoche einerseits mit dem Glanz Sevillas

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als frühneuzeitlicher Wirtschaftsmetropole und andererseits mit der gezielten Förderung durch den Conde-Duque de Olivares und seinen König zu tun. Eine ambivalente Spannung ergab sich allerdings daraus, dass diese Höhenkammkultur finanziert wurde in einer Zeit, in der Spanien das Kriegsglück abhandengekommen war. Dass so viele finanzielle Mittel erst in den Bau und dann in die dortigen Vergnügungen investiert wurden zu einer Zeit, in der die steuerzahlende Bevölkerung Kastiliens immer schwerere Lasten tragen musste, um die Kosten der Kriege aufzubringen, traf auf immer weniger Verständnis. Verglichen mit den Verteidigungsausgaben in dieser Zeit war die für Bau und Dekoration des Palastes investierte Summe gar nicht so hoch. Die ca. drei Millionen Dukaten entsprachen dem Volumen, das jedes Jahr allein für die spanische Armee in Flandern ausgegeben wurde.21 Aber gerade weil es an Mitteln fehlte, die Armee so auszustatten, dass sie Siege erringen konnte, trafen die Ausgaben für einen Palast, in dem sich der Hof sechs bis acht Wochen im Jahr vergnügte, auf immer mehr Kritik.

Die zerbrechliche Einheit der Monarchie und der Konflikt mit Katalonien

Die zahlreichen Gedichte, die zur Einweihung des Palastes 1635 entstanden, rühmten Monarch und Minister als Heroen sowohl des „Pinsels“ als auch des „Schwertes“. Armas y letras, also Waffen und Worte, Krieg und Kunst miteinander zu verbinden, stellten ein Ideal des 17. Jahrhunderts dar. Dies blieb insofern eine Utopie, als sich schnell herausstellte, dass es leichter war, Kunst zu sammeln als Kriege zu gewinnen. Im selben Jahr 1635, als in unzähligen Werkstätten Kunstwerke für den Retiro entstanden und der Palast seine Tore für die Nutzung öffnete, erklärte Frankreich Spanien den Krieg. Zu den Kriegsschauplätzen in Italien, Holland und im Reich kam jetzt die spanisch-französische Grenzregion hinzu. Ganze 24 Jahre lang sollte dieser Krieg dauern, bis – elf Jahre nach dem Westfälischen Frieden – Gesandte beider Monarchien 1659 den Pyrenäenfrieden unterschrieben. Zu Beginn des Kriegs dominierte Optimismus in Spanien. Viele glaubten gar an die Möglichkeit eines Blitzkriegs. Ein Historiker fühlte sich an den Leichtsinn erinnert, mit dem die Wehrmacht 1941 glaubte, die Sowjetunion niederwalzen zu können. Olivares habe gehofft, man müsse „nur die Tür eintreten und die ganze verrottete Struktur dahinter wird zusammenbrechen“.22 Aber Frankreich war auf den Krieg gut vorbereitet und konnte seine Kräfte besser zusammen-

Die zerbrechliche Einheit der Monarchie und der Konflikt mit Katalonien

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halten als Spanien. Zwar gelang es den spanischen Heeren in den beiden ersten Jahren, den Krieg auf das französische Gebiet zu tragen, aber der Vormarsch blieb stecken, und hier und da gelangten die Franzosen sogar zwischenzeitlich auf die spanische Seite der Pyrenäen. Es mangelte den spanischen Heerführern durchgehend an Geld und Soldaten. Dem Conde-Duque war das nur zu bewusst, schließlich hatte eine Umverteilung der Kriegslasten einen zentralen Teil seines Reformprogramms der 1620er Jahre gebildet. Nach dem alten System musste weitgehend Kastilien die Kriegslasten schultern, während andere Reichsteile auf überkommene Privilegien pochen konnten, die sie vom Kriegsdienst unter kastilischem Kommando verschonten. Da Spanien mit nur 8,5 Millionen Einwohnern gegenüber Frankreich ohnehin demographisch zurücklag, fiel es durchgängig schwer, die notwendigen Kontingente zusammenzustellen. Durch die weitgehende Beschränkung auf die kastilischen Untertanen drückten die Lasten hier in besonderer Weise, zumal die finanzielle Manövriermasse durch die schwindende Zuverlässigkeit der Silberlieferungen aus Amerika immer kleiner wurde. Damit aber wuchs der Unmut in der Region. Die Idee, alle Teile der Monarchie gleichermaßen an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen, führt zu der Nahtstelle, an der Innen- und Außenpolitik untrennbar miteinander verflochten waren, verweisen die Probleme doch auf das Kernelement von Olivares’ Regierungspolitik: die Stärkung von „Einheit“ gegenüber der Vielheit der eigenständigen Reichsteile. Als Schlüsseldokument für diese Politik gilt das Gran Memorial, die große Denkschrift von 1624. Keine Biographie, kaum ein Aufsatz kommt ohne Verweis auf dieses Schriftstück aus, das zum Dreh- und Angelpunkt der Bewertung des Staatsmannes geworden ist – zumal der Zentralismus zum einen und der Zynismus gegenüber den eigenständigen Teilgebieten zum anderen bald in das bis heute wirkmächtige Narrativ eines überdauernden katalanisch-kastilischen Konfliktes integriert wurden. Olivares legte dem jungen König nahe, sich vor allem zum König von Spanien zu machen und sich nicht mehr damit zufriedenzugeben, „nur“ der Fürst der jeweiligen Teilkönigreiche zu sein, also König von Portugal, Aragón und Valencia, Graf von Barcelona etc. Vielmehr solle er im Geheimen darauf hinarbeiten, die einzelnen Teile der Monarchie dadurch zu einem Ganzen zusammenzufügen, dass sie „in Stil und Gesetzen“ das kastilische Modell übernehmen sollten – „ohne irgendeinen Unterschied“.23 Nur wenn ihm dieses gelinge, würde aus dem spanischen König der mächtigste Monarch der Welt werden. Als effizientestes Mittel, das Einverständnis auch widerstrebender Gebiete zu erlangen, wurde

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dem König nun geraten, in machiavellistischer Manier in den betreffenden Territorien Volkstumulte zu provozieren. Diese würden dann den Vorwand bieten, einzumarschieren und im Zuge der Pazifizierung die kastilischen Gesetze zu dekretieren. Es ist nicht zuletzt dieser Text gewesen, der aus Olivares die Bête noire der katalanischen Geschichtsschreibung gemacht hat. Nun ist allerdings in den letzten Jahren die Authentizität dieses Textes in Zweifel gezogen worden. Schon Elliott und de la Peña, die 1978 die Schriften Olivares’ herausgaben, haben in ihren einleitenden Kommentaren auf die problematische Quellenlage hingewiesen, gab es doch zahlreiche verschiedene Versionen des Textes und weder Klarheit über den Entstehungszeitraum noch die Autorschaft. Vielmehr ließ die Heterogenität der Textteile darauf schließen, dass sich ein Autorenkollektiv an der Niederschrift beteiligt hatte. Inzwischen nimmt der Historiker Manuel Rivero Rodríguez an, dass es sich bei diesem Text um eine Fälschung handelt, die erst nach der katalanisch-kastilischen Eskalation 1640 entstand und Katalanen wie Franzosen als Legitimationshilfe für ihre Politik diente. Entsprechend stehen nun viele Fragen im Raum: Ist der Text des Gran Memo­ rial zumindest insofern wahr, als er doch ein Kernanliegen von Olivares spiegelt? Oder muss eine neue Deutung von Olivares versucht und damit eine Neujustierung eines zentralen Bereichs der spanischen wie katalanischen Geschichtsschreibung vorgenommen werden, deren Selbstverständnis sich nicht zuletzt auf die berechtigte Abwehr skrupelloser Zentralisierungsversuche Madrids gründet? Und wie kam es überhaupt zu der besagten Eskalation von 1640? Zumindest ist festzuhalten, dass sich Olivares’ Bemühen, die verschiedenen Territorien an den Verteidigungsanstrengungen zu beteiligen und dafür regionale Gesetze abzuschaffen, in zahlreichen zeitgenössischen Quellen niederschlug. Ein Motto wie „multa regna sed una lex“24 (viele Reiche, aber nur ein Gesetz) oder Appelle, dass alle Teile für das Ganze einstehen müssten wie auch andersherum das Ganze für die jeweiligen Einzelteile, weisen auf die Bemühungen hin, das Verhältnis von Einheit und Vielfalt neu zu definieren. Dem CondeDuque lag besonders daran, wechselseitige Vorbehalte abzubauen und die „Trockenheit und Trennung der Herzen“25 zu überwinden. Aber natürlich ging es nicht nur um Emotionen, sondern auch um Interessen – und das Interesse der einen Region an den Belangen der anderen schien nicht sonderlich groß. In der „Waffenunion“ ging es darum, die verschiedenen Teile der Monarchie davon zu überzeugen, feste Kontingente an Geld und Soldaten für den Krieg beizusteuern. Rivero Rodríguez zufolge war diese Politik jedoch nicht Ausdruck

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eines absolutistischen Zentralismus oder gar eines spanischen Protonationalismus. Die staatsrechtliche Eigenständigkeit der Regionen habe Olivares nicht beschneiden wollen und selbst deren Rechte sollten nur insoweit eingeschränkt werden, als es Hürden zu beseitigen galt, die der allgemeinen finanziellen und militärischen Kooperation im Wege standen. Insgesamt, so der Historiker, habe Olivares de facto durch eine Politik, die den Vizekönigen mehr Kompetenzen übertrug, die Eigenständigkeit der Provinzen sogar noch gefördert. Letztlich zeige sich hier nicht ein spanischer Zentralismus, sondern vielmehr ein Modell des kastilischen Föderalismus. Allerdings blieb der Zielkonflikt zwischen möglichst gleichberechtigter Behandlung einerseits und der Sicherstellung des kastilischen Vorrangs andererseits ungelöst. Dabei zeigt die Eskalation von 1640, wie sich durch wechselseitige Vorbehalte und Missverständnisse ein Konflikt zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ aufschaukelte, der für die „zusammengesetzten Monarchien“ der Frühen Neuzeit (wie im Übrigen auch für die Gegenwart) typisch war. Er hatte eine längerfristige Vorgeschichte, wurde kurzfristig verschärft und durch situative Momente ausgelöst. Die längerfristigen Strukturen führen auf die Versuche Olivares’ zurück, die besagte Waffenunion durchzusetzen. In einem Memorandum aus dem Jahr 1625, in welchem er die Waffenunion vorschlug, waren die Leistungen der jeweiligen Provinzen festgehalten. Mit 44.000 Soldaten sollte Kastilien zusammen mit der Neuen Welt den Löwenanteil aufbringen. Katalonien, Portugal und Neapel sollten jeweils 16.000, Flandern 12.000, Mailand 8.000 sowie Valencia, Sizilien und die pazifischen Gebiete jeweils 6.000 Mann zur Verfügung stellen.26 Doch bedurfte es zunächst des Einverständnisses der betroffenen Regionen. In den drei Untergliederungen der Krone Aragóns (Aragón, Valencia und Katalonien) ging es um die Zustimmung der regionalen Ständeversammlungen. Um diese zu gewinnen, reiste der König (natürlich in Begleitung von Olivares) 1626 in die Region. In Zaragoza und Valencia stieß er auf Vorbehalte, aber konnte zumindest eine Beteiligung aushandeln, wenn auch weniger Soldaten als vielmehr äquivalente Geldleistungen zugesagt wurden. Nur in Barcelona, wo der CondeDuque mit Hassparolen empfangen wurde, stießen die Bitten auf taube Ohren. Als eine Abstimmung in den Cortes erzwungen werden sollte, um dem König die baldige Heimreise zu ermöglichen, kam es zu Tumulten, weshalb der König und Olivares Barcelona ohne Ergebnis verließen. Im Jahr 1632 wiederholte sich das Schauspiel. Erneut endete die Einberufung der Cortes, der katalanischen Ständevertretung, wegen des kompromisslosen Verhaltens der Katalanen ergebnislos, die ihrerseits auf die durch Seuchen und Dürre geplagte Bevölkerung

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und andererseits auf ihre traditionellen Vorrechte verwiesen. Die wechselseitigen Vorbehalte verfestigten sich. Das Finanzierungsproblem für die Kriegführung blieb ungelöst. Es war noch größer geworden, seit auch Frankreich zu den Gegnern zählte. Umso notwendiger schien es, immer wieder Steuern zu erhöhen und Soldaten in den Dienst zu pressen. Dass immer rigider durchgegriffen und als einzige Legitimation auf die „große Notwendigkeit“ verwiesen wurde, wurde auch in Kastilien, nicht zuletzt von dem Dichter Francisco Quevedo, scharf kritisiert. Quevedo wurde bald selbst Opfer des zunehmend repressiver werdenden Regimes: 1639 wurde der ehemalige Gefährte des Conde-Duque verhaftet und für die nächsten vier Jahre in einer feuchten Klosterzelle weggesperrt. Ob dies nur eine Strafe für seine kritischen Schriften oder die Reaktion auf Intrigen mit dem französischen Feind war, ist bis heute nicht geklärt. Allerdings ist evident, dass das Ausmaß an Repressionen im Frankreich Richelieus um einiges höher war. Gleichwohl zeigt der Umgang mit Quevedo, wie blank die Nerven der Herrschenden in Spanien inzwischen lagen. Die Popularität des Conde-Duque bewegte sich auf den Tiefpunkt zu. Die Sympathien der Aristokratie hatte er schon in den ersten Tagen verloren, die Landbevölkerung begann, gegenüber den Steuereintreibern zu rebellieren, auch die Städte litten unter dem Finanzmangel, und nicht nur das Silber, auch das Prestige Spaniens schien der Conde-Duque zu verschleudern. Ein militärischer Erfolg war lange überfällig. Tatsächlich konnte 1639 die südfranzösische Stadt Salces nach langer Belagerung eingenommen werden. Olivares nahm dies zum Anlass, für das kommende Frühjahr einen Einfall nach Frankreich zu planen, weshalb er die Truppen anwies, in Katalonien zu überwintern. Die darbenden Bauern waren jedoch nicht willig, die hungernden Soldaten aufzunehmen, und die Diputats, die Repräsentanten der katalanischen Volksvertretung, forderten deren Abzug. Was aus der Perspektive der Bauern sinnvoll schien, dünkte Olivares vollkommen irrational, weil ein Abzug der Soldaten die Region dem Expansionsdrang der französischen Krone hätte preisgeben können. Um die Befolgung der Anweisungen sicherzustellen, beschloss der Aragonien-Rat in Madrid drastische Maßnahmen, mit deren Umsetzung der regionale Vizekönig beauftragt wurde. So sollte u. a. zur Disziplinierung des Kollektivs einer der Diputats verhaftet werden. Doch die kurzfristig wiederhergestellte Ruhe wurde durch Entwicklungen auf dem Land schnell wieder gestört. Dass Gerichtsdiener in den Dörfern die Einquartierung der Soldaten verfügten, löste unter der Landbevölkerung eine Protestbewegung aus, die vom Klerus noch dadurch geschürt wurde, dass den Truppen Profanisierungen der

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katalanischen Kirchen nachgesagt wurden. Die aufständischen Bauern trugen die Empörung in die Städte, wo diejenigen als „Verräter“ gejagt wurden, die die Madrider Beschlüsse umsetzen wollten. Der Widerstand gegen die Einquartierungsmaßnahmen war zu einer sozialen Revolte ausgewachsen, die sich gegen die Privilegierten richtete. Elliott spricht von „Anarchie“.27 Am 7. Juni 1640 erreichte die Eskalation den Höhepunkt. Bewaffnete Rebellen mischten sich unter die Schnitter, die traditionell am Fronleichnamsfest nach Barcelona kamen. Sobald die Empörten sich innerhalb der Stadtmauern befanden, begannen sie die Suche nach „Verrätern“. Der spanische Vizekönig Santa Coloma, ein gebürtiger Katalane, ahnte die Gefahr. Er wurde bei einem Fluchtversuch am Strand von Barcelona von den Aufständischen erschlagen. Der König selbst war geschockt: „Noch niemals zuvor hat es so etwas jemals in einer Provinz meines Weltreiches gegeben.“28 Sowohl in Madrid als auch in Barcelona gab es Gruppen, die kein Interesse an einer Deeskalation hatten. Schließlich war auch der zunächst zögernde CondeDuque entschlossen, Stärke zu zeigen, um den Unruhen ein Ende zu bereiten und nicht andere Regionen zu ähnlichen Rebellionen einzuladen. Gleichwohl signalisierte er weiterhin Kompromissbereitschaft, sollten die Katalanen zu einem Entgegenkommen bereit sein. Die Diputats mussten sich entscheiden, ob sie einlenken oder sich an die Spitze der Revolution stellen wollten. Pau Claris, der 1638 zum Präsidenten der Diputació gewählte Kanoniker aus der Diözese Urgell, entschied sich für letzteres: Mit der Bitte um Unterstützung im Krieg und der Versicherung „ewiger Brüderschaft“ gegenüber Frankreich war de facto die Trennung von Spanien besiegelt; Pau Claris konnte nicht mehr zurück. Die soziale Revolte wurde damit von einer politischen Separationsbewegung gegen die spanische Monarchie überlagert. Katalonien befand sich im Sommer 1640 in einer doppelten „Revolution“.29 Zunächst stieß das spanische Heer in Katalonien auf wenig Widerstand. Doch zwei Phänomene machten eine schnelle Lösung unmöglich: Zum einen trugen Gewaltakte der Spanier dazu bei, den Widerstand der Katalanen anzufachen. Zum anderen hatte die spanische Monarchie es plötzlich mit einem weiteren Konfliktherd zu tun: Auch Portugal löste sich von Spanien, indem es am 1. Dezember 1640 dem Herzog von Braganza die Krone anbot. „Dieses Jahr“, notierte ein verzweifelter Olivares, „ist ohne Zweifel das unglücklichste, das die Monarchie erlebt.“30 War das Jahr 1625 das annus mirabilis, so wurde Jahr 1640 das annus horribilis der spanischen Monarchie unter dem Conde-Duque. Der fromme Olivares begann inzwischen, am göttlichen Wohlwollen zu zweifeln.

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Längst schien Gott kein Spanier mehr zu sein. Das Ansehen des Günstlings war auf einem Tiefpunkt angelangt. Auch die Polemiken aus Katalonien richteten sich vor allem gegen seine Person. Damit konnte der König zunächst aus der Schusslinie gehalten werden, schließlich brachten viele Katalanen dem Monarchen Loyalitätsgefühle entgegen. Aber auch dieses Band wurde schließlich gekappt: Am 16. Januar 1641 erklärte Pau Claris unter dem Schutz des französischen Königs Katalonien zur unabhängigen Republik. Allerdings missfiel den Franzosen diese Lösung, weil die Unabhängigkeit nicht die erhoffte Anbindung an Frankreich sicherte. So dauerte die Unabhängigkeit nur eine Woche. Am 23. Januar wurde Katalonien von Frankreich inkorporiert. Die Abwehrkräfte gegen die Spanier wuchsen dadurch schlagartig und die katalanisch-französischen Truppen schlugen die spanische Armee vorerst in die Flucht. Die militärische Auseinandersetzung wurde begleitet von einer propagandistischen: Beide Seiten produzierten eine Flut von Pamphleten, die das eigene Verhalten rechtfertigten und den Gegner ins Unrecht setzten. Möglicherweise entstand in diesem französisch-katalanischen Umfeld das Gran Memorial, das das zentralistische und skrupellose Denken Olivares’ aufdecken und dadurch sowohl die katalanische Revolution als auch die französische Expansion legitimieren sollte. Veröffentlicht wurde es ohnehin erst im 18. Jahrhundert, als es dazu dienen konnte, die zentralistische Politik der spanischen Bourbonen in eine Kontinuitätslinie seit Olivares zu integrieren. In der Zwischenzeit waren die Katalanen – anders als die Portugiesen – wieder in den spanischen Staatsverband zurückgekehrt. Nur bis 1652 waren sie französische Untertanen geblieben. Doch gaben die Franzosen nicht sämtliche katalanischen Territorien heraus. Als 1659 Frankreich und Spanien den Pyrenäenfrieden schlossen und damit den Schlussstrich unter die zahlreichen Konflikte des Dreißigjährigen Krieges setzten, gingen dauerhaft alle Gebiete nördlich der Pyrenäen und damit ein Fünftel des katalanischen Territoriums verloren. Doch das erlebte Olivares nicht mehr, ebenso wenig wie den endgültigen Verzicht auf die holländischen Gebiete im Westfälischen Frieden von 1648.

Das Ende des Siglo de Oro und der Fall des Günstlings

Nachdem die spanischen Armeen in den Jahren 1641 und 1642 nicht in der Lage gewesen waren, Katalonien zurückzuerobern, geschweige denn, auf anderen Kriegsschauplätzen Gelände zu gewinnen, war der glücklose Olivares nicht

Das Ende des Siglo de Oro und der Fall des Günstlings

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Abb. 12: Reiterporträt des Conde-Duque de Olivares von Diego Velázquez, vermutlich 1636.

mehr zu halten. Auch wenn sich der König ihm nach wie vor eng verbunden fühlte, nahm er dann doch am 17. Januar 1643 das Rücktrittsgesuch des Günstlings-Ministers an. Heimlich musste dieser aus dem Palast entweichen. Auf die Hasstiraden und Schmähschriften, die seinen Abgang begleiteten, reagierte Olivares von seinen Besitzungen aus noch einmal mit einer Gegenattacke: Unter dem Titel Nicandro (womit „Gegengift“ gemeint war) veröffentlichte er eine Rechtfertigungsschrift, mit der er noch einmal Staub aufwirbelte, weil er seinen adeligen Gegenspielern ebenso Vorhaltungen machte wie dem König. Dieser Text war zwar Marañón zufolge eines der „fesselndsten politischen Dokumente“31 der spanischen Geschichte, trug seinem Verfasser aber nur weiteren Ärger ein. Die Inquisition prüfte die Bibelzitate, und der Hof verfügte, dass sich Olivares in noch weiter entferntes Gebiet zurückziehen musste. In der erzwungenen Ruhe manifestierten sich bald die Spuren des körperlichen Raubbaus, den die rastlose Tätigkeit von 22 Jahren mit sich gebracht hatte. Nach schwerer Krankheit starb am 22. Juli 1645 Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares im Palast seiner Schwester in Toro.

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Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares (1587–1645)

Gemessen an seinen großen Projekten war er tragisch gescheitert. Die spanische Monarchie hatte nicht an Reputation gewonnen, sondern musste den Vorrang in Europa an Frankreich abtreten. Anstatt die „Einheit“ innerhalb Spaniens zu sichern, war es zu temporären und dauerhaften Abspaltungen gekommen. Die Reformen hatten Spanien keine prosperierende Wirtschaft hinterlassen, sondern der jahrzehntelange Krieg hatte das Land finanziell und demographisch ruiniert. Als 1649 noch die Pest nach Spanien kam und u. a. in Sevilla ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte, war auch das Siglo de Oro vorbei. Selbst der Retiro-Palast verfiel bald und wurde von französischen Truppen im Zuge des Unabhängigkeitskrieges seit 1808 weitgehend zerstört. Und doch sind Überreste, die an Olivares erinnern, in der spanischen Gesellschaft omnipräsent: sei es die katalanische Nationalhymne Els Segadors, die an den Aufstand der Schnitter von 1640 erinnert, oder sei es das Denkmal von Philipp IV., das heute in Madrid zwischen Oper und Königspalast steht. Vor allem aber bleiben der Retiro-Park und nicht zuletzt die Gemäldesammlung des Prado, von der unzählige Bilder einst nur wenige Meter entfernt im Palacio del Buen Retiro hingen – ohne Retiro und Prado ist das heutige Madrid nicht zu denken. Und inmitten der unvergleichlichen Velázquez-Gemälde im Prado beeindruckt nach wie vor das große Reiterporträt des Conde-Duque, dessen königsgleicher Gestus wie kein anderer Überrest an die politische Bedeutung dieses Staatsmannes erinnert.

Weiterführende Literatur Elliot, John Huxtable: A Europe of Composite Monarchies, in: Past and Present 137 (1992), S. 48–71. Elliott, John Huxtable/Brockliss, L. W. B. (Hg.): El mundo de los validos, Madrid 2000. Elliott, John Huxtable/Lozoya, Teófilo de: El Conde-Duque de Olivares. El político en una época de decadencia, Barcelona 1998. Elliott, John Huxtable: Olivares como mecenas, in: Noble Wood, Oliver J./Roe, Jeremy/ Lawrance, Jeremy (Hg.): Poder y saber. Bibliotecas y bibliofilia en la época del condeduque de Olivares, Madrid 2011, S. 11–27. Gil Martínez, Francisco: Las hechuras del Conde Duque de Olivares. La alta administración de la monarquía desde el análisis de redes, in: Cuadernos de Historia Moderna 40/0 (2015), S. 63–88. Houben, Birgit: Una corte para un príncipe. La política militar de Olivares y la corte bruselense del gardenal infante (1634–1641), in: Ebben, Maurits Alexander/Vermeir, René (Hg.): Agentes e identidades en movimiento. España y los Países Bajos, siglos XVI–XVIII, Madrid 2011, S. 151–171.

Anmerkungen

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Jiménez Moreno, Agustín: Las Órdenes Militares y el Conde Duque de Olivares. La convocatoria de los caballeros de hábito (1621–1641), Madrid 2013. Jiménez Moreno, Agustín: En busca de una nobleza de servicio. El conde duque de Olivares, la aristocracia y las Órdenes Militares (1621–1643), in: Rivero Rodríguez, Manuel (Hg.): Nobleza hispana, nobleza cristiana. La Orden de San Juan: Vol. 2, Madrid 2009, S. 209–256. Noble Wood, Oliver J./Roe, Jeremy/Lawrance, Jeremy (Hg.): Poder y saber. Bibliotecas y bibliofilia en la época del conde-duque de Olivares, Madrid 2011. Rivero Rodríguez, Manuel: El conde duque de Olivares y los territories. Notas al debate sobre la composición de la Monarquía, in: Pérez Samper, Mª Ángeles/Betrán Moya, José Luis (Hg.): Nuevas perspectivas de investigación en Historia Moderna: Economía, Sociedad, Política y Cultura en el Mundo Hispánico 2018, S. 494–513. Rivero Rodríguez, Manuel: El conde duque de Olivares, mecenas de la Historia y creador de opinión, in: López Poza, Sagrario/Sueiro, Nieves Pena/De La Campa, Mariano/Pérez Cuenca, Isabel/Byrne, Susan/Vidorreta Torres, Almudena (Hg.): Docta y sabia atenea. Studia in honorem Lía Schwartz, Coruña 2019, S. 701–723.

Anmerkungen 1

Erin Kathleen Rowe: St. Teresa and Olivares: Patron Sainthood, Royal Favorites, and the Politics of Plurality in Seventeenth-Century Spain, in: Sixteenth Century Journal 37/3 (2006), S. 721–737, hier S. 721. 2 So Vincent Voiture, zitiert in: John Huxtable Elliott: Richelieu and Olivares, Cambridge 1984, S. 6. 3 Manuel Rivero Rodríguez: El „gran memorial“ de 1624 o la construcción imaginaria del conde duque de Olivares“ (2016), S. 53–80, in: https://repositorio.uam.es/handle/10486/691030, letzter Zugriff: 1.12.2021. 4 Vgl. Gregorio Marañón: Olivares: Der Niedergang Spaniens als Weltmacht, München 1948, die Zitate S. 72, S. 109, S. 111, S. 307. 5 Ebd., S. 198. 6 Robert Stradling: Philip IV and the Government of Spain 1621–1665, Cambridge 1988, S. 36. 7 Manuel Rivero Rodríguez, „El gran memorial“, S. 53. Zur Biographie: John Huxtable Elliott: The Count-Duke of Olivares. The Statesman in an Age of Decline, New Haven und London 1986, vgl. auch Ders.: El Conde-Duque de Olivares. El político en una época de decadencia, Barcelona 2004. 8 Vgl. Manuel Rivero Rodríguez: El conde duque de Olivares. La búsqueda de la privanza perfecta, Madrid 2017, S. 9 f. sowie Ders., El „gran memorial“, S. 80. 9 Zitiert in: Marañón, Olivares, S. 98. 10 Ronald Asch: Schlußbetrachtung. Höfische Gunst und höfische Günstlinge zwischen Mittelalter und Neuzeit. 18 Thesen, in: Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Hg.):

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Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares (1587–1645) Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert, Ostfildern 2004, S. 515–531, hier S. 529. Hillard von Thiessen: Der entkleidete Favorit. Legitimation von Günstlings-Herrschaft und politische Dynamik im Spanien des Conde-Duque de Olivares, in: Ronald Asch/Birgit Emich/Jens Ivo Engels (Hg.): Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt a. M. 2011, S. 131–147, hier S. 133. Juan Antonio de Vera y Figueroa: El Fernando o Sevilla restaurada, Mailand 1632. Vgl. Thiessen, Favorit, S. 141. Zitiert in: John Huxtable Elliott: Conservar el poder. El conde-duque de Olivares, in: John Huxtable Elliott/Laurence Brockliss (Hg.): El mundo de los validos, Madrid 1999, S. 165–180, hier S. 168. Elliot, Conde-Duque, S. 263. Zitiert in: Ebd., S. 275. Vgl. El Conde Duque a Su Majestad en 26 de julio de 1625, in: John Huxtable Elliot/ José de la Peña, (Hg.): Memoriales y Cartas del Conde Duque de Olivares, Bd. 1, Madrid 1978, S. 143–157, hier S. 154. Zur „manía de edificar“ vgl. Jonathan Brown/John Huxtable Elliot: Un palacio para el rey. El Buen Retiro y la corte de Felipe IV, Madrid 1985, S. 65. Zu den Zahlen vgl. Brown/Elliott, Palacio, S. 121. So der französische Kleriker Jean Muret, der den Erzbischof von Embrun 1667 nach Madrid begleitete, zit. in Brown/Elliott, Palacio, S. 120. Zu den Zahlen vgl. Brown/Elliott, Palacio, S. 107. So Stradling: „Like Hitler when launching his attack in the Soviet Union in 1941, Olivares hoped that, we have only to kick in the door and the whole rotten structure will come tumbling down‘“, in: Ders.: Olivares and the Origins of the Franco-Spanish War, 1627–35; in: English Historical Review 101 (1986), S. 68–94, hier S. 91. Gran Memorial (Instrucción secreta dada al rey en 1624), Dokument IV, in: Memoriales y Cartas Bd. 1, S. 49–100, hier S. 96. Zitiert in: Elliott, Conde-Duque, S. 232. La unión de armas, in: Memoriales y cartas Bd. 1, S. 173–193, hier S. 187. Ebd., S. 192. John Huxtable Elliott: La rebelión de los catalanes: Un estudio sobre la decadencia de España (1598–1640), Madrid 2. Aufl. 2014, S. 425. Zitiert in: Ebd., S. 457. So die Überschrift in dem entsprechenden Kapitel in ebd., S. 457–492. Zitiert in: Elliott, Rebelión, S. 507. Marañón, Olivares, S. 378.

14. Francisco de Goya (1746–1828) Der erste politische Maler der Moderne

El sueño de la razón produce monstruos – Die zwei Möglichkeiten, den Titel für diese bekannteste Radierung von Goya zu übersetzen, versinnbildlichen die Position des Malers an der Schnittstelle von Ancien Régime und Moderne. Wer die Bildunterschrift als „Schlaf der Vernunft“ interpretiert, reiht Goya in die Tradition der aufklärerischen Kritik des 18. Jahrhunderts: Wenn die Vernunft schläft, kommen die Ungeheuer zum Zuge, weshalb allen daran gelegen sein muss, der Vernunft zum dauerhaften Durchbruch zu verhelfen. Manches spricht jedoch auch dafür, dass Goya nicht den Schlaf, sondern den „Traum der Vernunft“ gemeint hat, der selbst ursächlich sei für das Aufkommen der Monster. So ist das Bild gedeutet worden als frühe Darstellung einer Dialektik der Aufklärung und damit als Ikone einer ambivalenten Moderne. Daher gilt Goya nicht nur für Kunsthistoriker als „Prophet der Moderne“.1 Wegen der Komplexität bzw. Vieldeutigkeit seiner Bilder ist Goya auch als „philosophischer Maler“2 bezeichnet und immer wieder mit Goethe verglichen worden. Seine historischen Darstellungen haben ihm zudem den Titel „erster politischer Maler der Moderne“3 und die Klassifizierung als Kämpfer für den Liberalismus und Vorreiter der Demokratie eingebracht. Dies bleibt allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Dass sich in seinen verbalen und ästhetischen Äußerungen Hinweise finden, die sowohl die Verankerung in traditionellem Denken belegen als auch Ansätze einer radikalen Hinterfragung gängiger Denkmuster aufweisen, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass er in seinen 82 Lebensjahren Zeuge massiver internationaler und nationaler politischer Umbrüche und Krisenerfahrungen wurde, die sich unmittelbar auf sein künstlerisches Programm auswirkten.

Von der Provinz an den Hof: Der mühsame Aufstieg

Am 30. März 1746 kam Francisco Goya in dem nahe der aragonesischen Hauptstadt Zaragoza gelegenen Heimatdorf der Mutter, Fuendetodos, als viertes von sechs Kindern zur Welt. Die Familie lebte in Zaragoza, wo der Vater als Vergolder zwar eine angesehene Position innehatte, gleichwohl aber mit finanziellen Sorgen zu kämpfen hatte, schließlich war mit dem Klassizismus die große

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Francisco de Goya (1746–1828) Abb. 13: Der Traum der Vernunft gebiert Monster – Radierung Nr. 43 aus der 1799 veröffentlichten Serie Caprichos.

Nachfrage nach barocker, illusionistischer Bildrahmung deutlich zurückgegangen. Als Francisco mit 13 Jahren die Schule verließ, war klar, dass die väterliche Werkstatt, in der bereits der ältere Bruder tätig war, nicht auch noch diesen Sohn ernähren konnte. Außerdem schien ein sozialer Aufstieg nur möglich in jenem künstlerischen Bereich der Maler, die sich innerhalb der in vielen europäischen Ländern entstehenden „Akademien“ mit Hilfe königlicher Protektion dem strikten Reglement der Zunftgesetze entziehen konnten. So begann Francisco eine Lehre bei José Luzán, einem in Zaragoza angesehenen Professor der dortigen Kunstakademie, der wohl den jungen Goya deshalb unter seine Fittiche nahm, weil zwei seiner Brüder Kollegen von Goyas Vater waren. Luzán vermittelte seinem Schüler nicht nur die handwerklichen Grundlagen seines Metiers, sondern auch Kontakte zu den Honoratioren der Stadt, zu deren aufgeklärtem Selbstverständnis sowohl die Förderung der Künste als auch die Forcierung so-

Von der Provinz an den Hof: Der mühsame Aufstieg

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zioökonomischer Reformen zählten. Mit einigen von ihnen blieb Goya zeit seines Lebens verbunden, und die Annahme liegt nahe, dass er bereits in diesem Umfeld mit Bildungsinhalten vertraut wurde, die ihm die kurze Schulzeit nicht hatte vermitteln können. Nach vierjähriger Ausbildung in Zaragoza bemühte sich Goya um die Anerkennung der Direktoren der Madrider Akademie der Künste, war doch deren Akzeptanz die Voraussetzung für eine Künstlerkarriere. Doch vergeblich beteiligte er sich 1763 und 1766 an Wettbewerben, die ihm mit der Anerkennung durch die Madrider Akademiedirektoren auch ein sechsjähriges Romstipendium hätten eintragen können. Schließlich entschied er sich, auf eigene Kosten nach Italien zu reisen. So gut wie nichts ist bekannt über diese Zeit, die für seine Sozialisation nicht unbedeutend gewesen sein dürfte. Erst 1771 hat Goya wieder Spuren hinterlassen, als er in Parma bei einem Wettbewerb zwar nicht den Siegespreis, aber immerhin explizites Lob erntete. Über die Italienfahrt und die Objekte, denen sich seine Studien in dieser Zeit widmeten, weiß man erst seit 1993 Näheres, als das Skizzenbuch gefunden wurde, welches Goya in dieser Zeit angelegt hat. Diese Skizzenbücher, später in chronologischer Reihenfolge von A bis H gekennzeichnet, sollte Goya im Laufe seines Lebens noch mit unzähligen Zeichnungen füllen, die deshalb von so großer Bedeutung sind, weil hier der Künstler spontan und ohne Auftrag, sondern ausschließlich für sich selbst Eindrücke festhielt, die mit gewisser Plausibilität auf seinen Gedankenkosmos schließen und Veränderungen nachvollziehbar werden lassen. Das in Italien angelegte Skizzenheft gibt Auskunft auch über seine Tätigkeit im Anschluss an die Rückkehr nach Zaragoza im Jahre 1771. Hier gelang es ihm erstmals, als eigenständiger Unternehmer seiner Künste aufzutreten, indem er im Auftrag des Klerus Fresken für die Hauptkirchen der Heimatstadt fertigte. Dabei profitierte er von der innerspanischen Konkurrenz der Kultorte, die den damaligen Künstlern ein reiches Betätigungsfeld boten. Die Basilika del Pilar in Zaragoza verfügte dabei über eine Madonnenskulptur, die Pilgerscharen weit über die aragonesische Region hinaus anzog. 1771/72 war Goya damit beauftragt, für diese Basilika eine „Anbetung des Namen Gottes“ an die Decke einer Kuppel zu malen. Später folgte die Bemalung der Kartause Aula Dei unweit von Zaragoza. Die Beschäftigung mit religiösen Motiven markiert dabei die erste jener drei Schaffensperioden, die der Goya-Forscher Werner Hofmann in dem Titel einer seiner Publikationen zu folgendem Dreischritt verdichtete: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“4 Dem Aspekt „Welt“ wandte Goya sich vor allem in Madrid zu, wohin er Ende 1774 zog. Dort begann er im folgenden Jahr, sogenannte Kartons als Vorlagen für Wandteppiche zu entwerfen, die von der

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Francisco de Goya (1746–1828)

königlichen Teppichmanufaktur für diverse königliche und Adelspaläste produziert wurden. Er hatte das Glück, dass Anton Raphael Mengs, der in Madrid von 1761 bis 1777 als Hofmaler die künstlerische Aufsicht führte, beschlossen hatte, die Arbeit insofern neu zu strukturieren, als die Teppiche nicht mehr wie bisher niederländische Motive kopieren, sondern volkstümliche spanische Szenerien abbilden sollten. Als Mengs dafür nach begabten jüngeren Künstlern Ausschau hielt, dürfte die Empfehlung von Francisco Bayeu für die Anstellung Goyas ausschlaggebend gewesen sein. Dieser aragonesische Künstler hatte bereits 1763 den Sprung von Zaragoza nach Madrid geschafft, als er nach Einsendung eines Bildes Mitglied der Madrider Akademie der Schönen Künste geworden und von Mengs mit der dekorativen Ausgestaltung diverser Königsresidenzen beauftragt worden war. Goya, der Bayeu seit der Tätigkeit bei seinem Lehrmeister Luzán kannte, war diesem damals nach Madrid gefolgt, ohne dass seine vermutliche Hoffnung, von seinen Kontakten profitieren zu können, in Erfüllung gegangen wäre. Erst nachdem Goya 1773 die Schwester Bayeus geheiratet hatte und in den Madrider Haushalt des Schwagers gezogen war, setzte sich dieser für ihn ein – mit Erfolg. Das Verhältnis der beiden Männer dürfte nicht unkompliziert gewesen sein. Privat und beruflich war Goya seinem Schwager untergeordnet, dem 1777 die Aufsicht über die Kartonmaler übertragen worden war. Wie wenig Goya hingegen die künstlerische Autorität Bayeus anzuerkennen bereit war, zeigte sich 1780, als Goya schließlich in die Akademie der Schönen Künste aufgenommen wurde und dies als Ausweis verstand, fortan in künstlerischen Fragen autonom zu agieren. Noch im selben Jahr kam es zum Eklat, als Goyas Anspruch auf Eigenständigkeit bei der Gestaltung von Fresken für die Basilika del Pilar Anstoß erregte. Da das vorgegebene Konzept, dem sich Goya widersetzte, vom Schwager stammte, geriet diese Auseinandersetzung zum Machtkampf zwischen den verwandten Künstlern. Dass die Auftraggeber letztlich Bayeu folgten und Goya zum Nachgeben nötigten, hat ihm fortan den Aufenthalt in seiner Heimatstadt dauerhaft verleidet und das Verhältnis zum Schwager nachhaltig getrübt. Bayeu blieb der überlegene Konkurrent: Als 1788 ein Direktor für Malerei an der Akademie gewählt werden sollte, siegte Bayeu mit 20 Stimmen – niemand hingegen hatte für Goya votiert. Erst als der Schwager 1795 starb und Goya zu seinem Nachfolger gewählt wurde, dürfte die familiäre Konkurrenz beendet gewesen sein. Der Konflikt verweist insgesamt auf ein leicht verletztes Ehrempfinden Goyas, der höchst sensibel reagierte, wenn ihm im Ranggefüge seiner Gesellschaft ein Status zugewiesen wurde, der unterhalb seiner Selbstein-

Aufnahme in die Akademie: Karriere im Kontext des aufgeklärten Absolutismus

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schätzung lag. Selbstbewusst hatte er sich den Adelstitel „de Goya“ zugelegt, lange bevor er durch die Aufnahme in die Akademie offiziell nobilitiert wurde und obwohl die von ihm angestrengten Recherchen bezüglich familiärer Rechte auf den Adelstitel offenbar ergebnislos verlaufen waren. Dieses in vielen Kleinigkeiten immer wieder erkennbare Status- und Rangbewusstsein legt die Vermutung nahe, dass er die Langwierigkeit und Mühseligkeit seines Karrierewegs nicht immer leicht ertragen hat. Fünf lange Jahre musste er nahezu ausschließlich Kartons für rein dekorative Zwecke des Hofes malen, bevor ihn 1780 das rund zweijährige Engagement für die Basilika del Pilar zwischenzeitlich davon erlöste. Erst 1785, inzwischen arbeitete er zehn Jahre in Madrid, wurde er zum Professor an der Madrider Akademie ernannt, im folgenden Jahr erhielt er den Titel „Maler des Königs“ (Pintor del rey). Der Titel täuscht insofern, als er keineswegs vorzugsweise nun den König porträtierte, womit er erst als Hofmaler (Pintor de cámara) beauftragt wurde. 1789 erhielt er diesen Titel und erreichte schließlich den Höhepunkt seiner Karriere, als er 1799 im Alter von 53 Jahren zum Ersten Hofmaler (Primer pintor de cámara) ernannt wurde. Dabei suggeriert auch dieser Titel insofern Falsches, als er ihn sich mit dem Konkurrenten Mariano Salvador de Maella zu teilen hatte.

Aufnahme in die Akademie: Karriere im Kontext des aufgeklärten Absolutismus

Will man die Bedeutung der einzelnen Karrierestufen gewichten, so kommt zweifelsohne der Aufnahme in die Akademie 1780 eine besondere Bedeutung bei. Berechtigte ihn doch der neue Status, fortan selbsttätig Verträge zu schließen und Aufträge anzunehmen. Zugleich wurden höfische und adelige Kreise auf ihn aufmerksam, die durch ihre Protektion den Bekanntschaftsgrad Goyas ihrerseits steigerten und ihm dadurch immer mehr Aufträge eintrugen. 1783 porträtierte er sowohl die Familie des königlichen Bruders als auch den Minister Floridablanca, wobei ihn letzterer offenbar um den Lohn der Arbeit prellte. Wegweisend war die Förderung durch die Herzöge von Osuna, die ihm zahlreiche Werke in Auftrag gaben und in ihren Bekanntenkreis einführten. Diese Entwicklung hatte zunächst einmal finanzielle Bedeutung. 1786 konnte er, nachdem er in früheren Briefen immer wieder über Geldsorgen geklagt hatte, seinem Schulfreund Martín Zapater mit großer Zufriedenheit berichten: „Ich antichambriere überhaupt nicht mehr. Wer etwas will, muß mich auf-

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Francisco de Goya (1746–1828)

suchen.“5 Die privaten Aufträge trugen ihm, zusammen mit dem schließlich sprungartig steigenden Jahreseinkommen, das den Ersten Hofmaler geradezu fürstlich entlohnte, schließlich ein gewisses Vermögen ein, das ihn finanziell ein gutes Stück unabhängig von den späteren politischen Wechselfällen machte. Lange hatte Goya nur monetäre Engpässe gekannt. Das Elternhaus hatte verkauft werden müssen, weil die Hypotheken nicht mehr bezahlt werden konnten, und während vieler Jahre war er nur mit Mühe für den Bedarf der verwitweten Mutter und in Bedrängnis geratene Geschwister aufgekommen. Immer wieder wurde der ehemalige Schulfreund Zapater bemüht, Goyas Mutter nicht nur Grüße, sondern auch Geld zukommen zu lassen. Ein Ehevertrag hatte mit seiner Frau Josefa Bayeu schon deshalb nicht aufgesetzt werden müssen, weil es nichts gab, was einem von beiden hätte zugeschrieben werden können. Wie sich die Verhältnisse geändert hatten, zeigt das Inventar, das anlässlich des Todes von Josefa 1812 erstellt wurde, um die Erbansprüche von Vater und Sohn zu ermitteln. Goya war inzwischen Besitzer einer geräumigen, zweigeschossigen Wohnung im Zentrum Madrids, die sich durch Luxusgüter wie Eisenofen und Badewanne auszeichnete. Auffällig sind die 56 registrierten Sitzgelegenheiten, von denen anzunehmen ist, dass ihre vorrangige Funktion darin bestand, Prestige und Status anzuzeigen. In Anbetracht seiner kleinbürgerlichen, geradezu ärmlichen Herkunft dokumentiert das Inventar einen bemerkenswerten sozialen Aufstieg. Nicht minder bemerkenswert aber ist der Umstand, dass aus dem aragonesischen Handwerkerkind, dessen Mutter Analphabetin war und das selbst nur rudimentäre Schulbildung genossen hatte, eine kulturelle Größe werden konnte, die mit Goethe verglichen wurde. Fragt man nach Einflüssen, die diese Entwicklung ermöglichten, müssen die frühen Kontakte zu den Reformern Zaragozas und die Impulse aus der Italienreise genannt werden. Die vermutlich wichtigste Weichenstellung für die Ausprägung seines intellektuellen Horizonts dürfte die Aufnahme Goyas in die Königliche Akademie der Schönen Künste gewesen sein. Von da an wurden Adelige auf sein Talent aufmerksam, durch deren Protektion er wiederum in Kontakt mit den führenden adeligen und bürgerlichen Reformpolitikern der Madrider Gesellschaft kam. Karl III., der seine ersten Erfahrungen als Monarch im aufgeklärten Parma hatte sammeln können, bevor er 1759 seinem Bruder auf den spanischen Thron folgte, hatte Ideen und Mitarbeiter mit nach Madrid gebracht, die dem Projekt der Aufklärung verpflichtet waren. Ob im Zuge von Infrastrukturmaßnahmen oder der Wirtschaftsförderung, der Finanz-, Justiz-, Bildungs- oder Religionspolitik – allerorten setzte Karl III. Maßstäbe. Er gilt

Persönliche Krisenerfahrungen und ihr ästhetischer Niederschlag

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daher zurecht als einer der führenden „aufgeklärten Absolutisten“ unter den damaligen europäischen Monarchen. Mit einigen von denen, die diese Reformprojekte umsetzten, stand Goya in freundschaftlichem Verhältnis. Das galt auch für die Zeit nach 1788, als Karl IV. die Erbschaft seines Vaters antrat. Gaspar Melchior de Jovellanos, ­Leandro ­Fernández de Moratín, Juan Menéndez Valdés und andere machten Goya mit dem Gedankengut der Aufklärung, aktuellen politischen Debatten und der spanischen Literatur vertraut. Wie sehr Goya dieses Wissen verinnerlichte und sich seinerseits an aktuellen Auseinandersetzungen über Fragen der Moral und (Kirchen-)Politik beteiligte, belegen zahlreiche seiner Werke, so beispielsweise die sechs Bilder eines Hexenzyklus, die Goya im Auftrag der Herzöge von Osuna malte, in welchen – jeweils literarische Vorlagen aufgreifend – die Angst vor Hexenkunst karikiert wurde. Weitaus bekannter wurden – wenn auch posthum – die Caprichos, eine 1799 veröffentlichte Sammlung von 80 Drucken, die die typischen Denkmuster der aufklärerischen Kritik an Betrug, Verstellung und Unmoral spiegelten, sich auf konkrete Vorkommnisse innerhalb der spanischen Gesellschaft bezogen oder mit intermedialen Zitaten aus der spanischen Literatur spielten. Der Traum der Vernunft ist eine Radierung aus dieser Sammlung.

Persönliche Krisenerfahrungen und ihr ästhetischer Niederschlag

1797–98 hatte Goya an den Caprichos gearbeitet, im Februar 1799 kündigte er in zwei Madrider Zeitungen ihren Verkauf an. Ein einträgliches Geschäft wurde dieses Unternehmen allerdings nicht: Vier Tage nachdem der Verkauf begonnen hatte, zog Goya die Radierungen wieder zurück; von den rund 300 Exemplaren waren nur 27 Stück verkauft worden. Ob Vermutungen stimmen, wonach befürchtete Scherereien mit der Inquisition den prophylaktischen Rückzug bewirkt hatten, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Vermutlich waren seine Darstellungen auch nicht marktgängig, was grundsätzlich und immer mehr für alle Bilder gelten dürfte, die er aus eigenem Antrieb malte. Diesem ließ er vermehrt in den 1790er Jahren Raum, da – wie er einem Freund erklärte – in den Auftragsarbeiten „Laune und Einbildungskraft“ nicht frei schalten und walten könnten. Im gleichen Schreiben hatte er auf seine „gequälte Phantasie“6 verwiesen, die von der Betrachtung seiner Leiden abgelenkt werden müsse. Dies verweist auf die individuelle Lebenskrise Goyas, die sich nur wenige Jahre vor der kollektiven politischen Krise Spaniens ereignen sollte, die wiederum in Rückkoppelungs-

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Francisco de Goya (1746–1828) Abb 14: Selbstporträt von Goya (1815)

prozessen die individuellen Unsicherheiten Goyas verstärkte, was sich in Bildwerken niederschlug, die in der damaligen Welt Europas nicht ihresgleichen hatten. Ausgelöst wurde die Lebenskrise Goyas durch eine schwere Erkrankung während der im Januar 1793 unternommenen Andalusienreise. Von einem Freund in Cádiz gepflegt, konnte er sich zwar im Verlauf einiger Monate wieder erholen, hatte aber dauerhaft sein Hörvermögen verloren: Goya blieb für den Rest seines Lebens taub. Inwiefern ihn diese Behinderung beeinträchtigt hat, ist schwer zu ermessen. Einerseits hat er selbst mit Verweis auf die Kommunikationsschwierigkeiten um die Entbindung von den Lehrverpflichtungen gebeten, die mit dem Direktorenamt verbunden waren. Andererseits könnte dies nur ein willkommener Anlass gewesen sein, sich lästiger Aufgaben zu entledigen. Seiner Karriere jedenfalls tat die Taubheit zunächst keinen Abbruch: Erst jetzt wurde Goya Erster Hofmaler und als solcher mit der Anfertigung von königlichen Einzelporträts sowie eines Bildes der Familie Karls IV. beauftragt. Selbstbewusst bewarb er sich zudem 1804 trotz seiner Gehörlosigkeit um die Stelle des Generaldirektors der Akademie. Dass jedoch der einzige Gegenkandidat einstimmig gewählt wurde, könnte darauf hinweisen, dass ihm – bei aller

Persönliche Krisenerfahrungen und ihr ästhetischer Niederschlag

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Wertschätzung seines künstlerischen Talentes – nun doch krankheitsbedingt bestimmte Bereiche verschlossen blieben. Zwangsläufig muss sich seine Rolle in den Madrider Gesellschaftskreisen verändert haben, wo er zuvor ein gern und häufig gesehener Gast der Tertulias, jener Gesprächszirkel der oberen Gesellschaftsschichten, gewesen war. Ein Indiz für den Rückzug aus der Gesellschaft ist der Umstand, dass Moratín, eigentlich ein enger Freund Goyas, allmählich aufhörte, Besuche bei Goya in seinem Tagebuch zu erwähnen. Umso mehr intensivierte Goya die Auseinandersetzung mit sich selbst. Mit seinen insgesamt 26 Selbstporträts nimmt er Tendenzen des 19. Jahrhunderts vorweg, das sich – so Peter Gay – als das „Jahrhundert der Introversion“7 ausgezeichnet habe durch eine geradezu manische Beschäftigung des Bürgers mit sich selbst. Doch nicht nur die Selbst-, sondern auch die Weltsicht Goyas erhält nach der Erkrankung andere Züge. Die von ihm in den 1790er Jahren gemalten Schiffbrüchigen, die vor einem Brand Flüchtenden oder Insassen von Irrenhäusern verbindet die Verzweiflung, die in allen diesen Bildern zu Tage tritt. Einmal noch dominiert plötzlich ein heiterer Zug in seinen Zeichnungen: Es ist das Skizzenheft, das er in Sanlúcar de Barrameda anlegte, als er zu Besuch auf dem Landgut der Herzogin von Alba weilte. Dieser Aufenthalt 1797 bei der erst kürzlich verwitweten attraktiven Herzogin hat zahlreiche romantische Spekulationen über eine amouröse Verbindung beflügelt, die noch dazu genährt wurden durch ein Bild Goyas, in dem die Herzogin mit ihrem Finger auf den Sand zu ihren Füßen weist, wo sich der Schriftzug „Solo Goya“ lesen lässt. Einzig belegbar sind jedoch nur einige freizügigere Skizzen, von denen nicht nachweisbar ist, ob hier die Herzogin oder die Fantasie Goya Modell stand, sowie der grundsätzlich heitere Tenor, der das Skizzenheft durchzieht – und brüsk endet, als Goya mit der Rückkehr nach Madrid ein neues Skizzenheft anlegte. Fortan tritt ein bissiger, sarkastischer Ton in den Vordergrund, der auch die Caprichos bestimmte. Über Goyas Ansichten und Gemütszustände nach dieser Zeit lässt sich schon deshalb wenig mit Sicherheit sagen, weil jetzt der Briefwechsel mit seinem Schulfreund Martín Zapater abrupt endet. Da aber keinerlei Erklärungsansätze vorliegen, warum es jetzt, drei Jahre vor dem Tod des Freundes, plötzlich zu diesem Abbruch der Kommunikation kommt, ist der Verdacht nicht ganz unbegründet, der Neffe von Martín Zapater, welcher die 140 Briefe Goyas als Erbe des Onkels verwahrte, könnte hier Dokumente entfernt haben, mit deren Inhalten er nicht übereinstimmte. War er doch gleich nach dem Erscheinen der ersten französischen Biographie über Goya, in welcher der Künstler als liberaler Antiklerikaler gewürdigt worden war, in die Offensive gegangen mit der Behauptung, Goya sei

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Francisco de Goya (1746–1828)

stets ein treuer Anhänger von Monarchie und Kirche gewesen. Als Beleg gab er Teile des Briefwechsels in den Druck. Tatsächlich ging aus einigen der Exemplare hervor, wie devot sich Goya über Gunstbezeugungen des Monarchen freuen konnte, und dass seine Weltsicht von einem unhinterfragten, traditionellen Gottglauben geprägt war. Doch illustriert seine Bildsprache der späteren Jahre, wie sehr er inzwischen zu den Institutionen und inhaltlichen Angeboten des Ancien Régime auf Distanz gegangen war. Dieser Wandel ereignete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Folge des politischen Umsturzes des Jahres 1808, dessen Folgen Goyas individuelles Krisenbewusstsein zusätzlich verschärften.

Die Zäsur von 1808: Der Unabhängigkeitskrieg in Spanien

Der allgemeine Zäsurcharakter dieser Ereignisse kann daran ermessen werden, dass sie als „Urknall“ in der spanischen Geschichte bezeichnet worden sind. Alles begann mit dem Aufstand von Aranjuez im März 1808, als sich der Kronprinz Ferdinand, gelenkt von einer letztlich wider die Reformpolitik des Ersten Ministers Manuel Godoy gerichteten Adelsclique, gegen seinen Vater erhob. Wegen der allgemeinen Unpopularität Godoys löste der Rücktritt Karls IV. Begeisterung in weiten Teilen des Landes aus, die allerdings schnell in Empörung umschlug, als sich herausstellte, dass der mit Spanien verbündete Napoleon nicht bereit war, den jungen Bourbonen im Nachbarland regieren zu lassen. Vielmehr bestellte er Vater und Sohn zu sich ins französische Bayonne, wo er beide zur Abdankung nötigte, um die spanische Krone seinem Bruder Joseph, nunmehr José I., zuzusprechen. Dabei unterschätzten die Bonapartes den Widerstand der Spanier. Am 2. Mai 1808 hatten sich erstmals die Bewohner Madrids zur Wehr gesetzt, um den Abtransport königlicher Familienmitglieder aus der Hauptstadt zu verhindern. Schnell sollte sich die Annahme als Irrtum herausstellen, dass mit der raschen Niederschlagung und kaltblütigen Exekution der Beteiligten am folgenden Tag der Aufstand im Keim erstickt worden sei. Vielmehr wurde daraus das Fanal zu einer landesweiten Erhebung, die in einen sechsjährigen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich mündete. Später sollte Napoleon dieses Spanienengagement für seinen größten Fehler halten; tatsächlich lässt sich im Nachhinein in diesen Kämpfen jene Zäsur erkennen, die der Beginn des napoleonischen Untergangs war, wurden doch hier Truppenteile gebunden, die auf anderen Kriegsschauplätzen bitter nötig gewesen wären. Insgesamt ist der spanische Unabhängigkeitskrieg Teil der langjährigen antinapoleonischen Krie-

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Abb. 15: Mit und ohne Grund – Radierung Nr. 2 aus der Serie Desastres de la guerra, entstanden 1810–1820.

ge in Europa. Der Verlauf in Spanien beeinflusste den Krieg Napoleons auch jenseits der Pyrenäen und die Erfolge und Misserfolge des Korsen an östlicheren Fronten hatten wiederum Rückwirkungen auf den Kriegsverlauf in Spanien. Dabei machten die französischen Heere insofern ganz neue Erfahrungen auf der Iberischen Halbinsel, als die nach den Schlachten von Austerlitz, Jena und Auerstedt oder Friedland siegverwöhnten Franzosen sich mit den Kampfstrategien der Guerrilla plötzlich anderen Formationen gegenübersahen, derer sie so leicht nicht Herr wurden. Auch der Umstand, dass sich einmal niedergerungene Truppen plötzlich auflösten, um sich woanders neu zusammenzufinden, ließ vormalige Verfahren der Befriedung eines Gebietes ins Leere laufen. Die Franzosen reagierten darauf mit einer ungeheuren Brutalität auch gegenüber der Zivilbevölkerung, die zusätzlich durch die Arroganz forciert wurde, mit welcher die vermeintlich Zivilisierteren auf die spanischen „Barbaren“ herabblickten, was dem französischen Auftreten in Spanien die Züge eines Kolonialkrieges verlieh. Umso geschockter reagierten die französischen Autoritäten auf die Nachricht, dass Ende Juli 1808 die spanischen Widerstandstruppen beim andalusischen

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Bailén die französische Armee geschlagen hatten, woraufhin José I., dem erst vor nicht einmal zwei Wochen der Weg nach Madrid freigekämpft worden war, zurück nach Burgos fliehen musste. Erst als Napoleon höchstpersönlich mit frischen Truppen in den Kampf eingriff, rückten die französischen Heere wieder vor, so dass José I. im Dezember 1808 erneut in Madrid einzog. In der Zwischenzeit hatte der spanische General Palafox, der Zaragoza erfolgreich gegen die französische Belagerung hatte verteidigen können, Künstler eingeladen, in die aragonesische Hauptstadt zu reisen und die „Ruinen des neuen Numantia“ für die Ewigkeit festzuhalten. Auch Goya verließ Madrid, um die Kriegsfolgen in seiner Heimatstadt in Augenschein zu nehmen. Dem Auftrag jedoch, den heroischen Kampf in Zaragoza zu glorifizieren, wurde er nicht gerecht. Seine Kriegsbilder, die Desastres de la guerra, muten schließlich gerade deshalb so modern an, weil sie sich jeglicher manichäischen Zuschreibung von „gut“ und „böse“ entziehen und eben nicht patriotisches Heldentum im Sinne simpler Propaganda und Massenmobilisierung beschwören. „Fatale Konsequenzen des blutigen Krieges in Spanien“ hieß bezeichnenderweise die 1810 bis 1820 erstellte Serie von 82 Radierungen, die zu einer großen Anklage des Krieges wurde, insofern als die verschiedensten Opfer in ihrem Leid dargestellt wurden: Zivilisten, Männer und Frauen, die exekutiert werden; Mädchen, die vor den Augen ihrer Väter zu Zwecken verschleppt werden, die allzu offenkundig sind; Männerkörper, die zerstückelt werden; Hungertote, die in Scharen zum Friedhof gekarrt werden (der Hungerwinter 1811/12 hatte in Madrid Zehntausende von Toten gefordert, die Schätzungen gehen von bis zu 30.000 Verhungerten aus); Kinder mit angstverzerrten Gesichtern und solche, die um ihre Mutter weinen. Die Radierungen sind dabei von derart bedrückender Authentizität, dass sie als „Kriegsfotografie avant la lettre“8 bezeichnet worden sind – auch wenn die Bildanordnungen auf gezielte Kompositionen schließen lassen. Gerade die Zeit- und Ortlosigkeit des Bildhintergrundes bei einer Motivwahl, die nicht nur diesen Konflikt spiegelt, trug Goya die Bezeichnung „Chronist aller Kriege“9 ein. Einzelne Bilder lassen sich dabei konkreten Ereignissen zuordnen, wie z. B. das Abschlachten der Dorfbewohner von Chinchón, über das Goya von seinem Bruder, der in dem Ort als Kaplan lebte, unterrichtet worden war. Wenn der Künstler unter derartige Bilder schrieb: „Yo lo vi“ (Ich habe das gesehen), wollte er offenbar die Authentizität seiner Bilder bekräftigen. Dabei kann er die Szenen allenfalls mit dem inneren Auge gesehen haben, hatte Goya doch während der Kriegsjahre Madrid nicht verlassen – von der Reise 1808 nach Zaragoza abgesehen.

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Abb. 16: El tres de mayo (1814). Goya dokumentierte hier die Hinrichtungen von Aufständischen am 3. Mai 1808.

Bezeichnenderweise sind es keineswegs nur Franzosen, die auf den Bildern Goyas Gräueltaten vollbringen, auch die spanischen Zivilisten werden zu Bestien. Schon wegen dieser Ausgewogenheit hätten die Bilder, die erst 35 Jahre nach Goyas Tod erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, nicht als Kriegspropaganda getaugt. Welche politische Position Goya in dem Unabhängigkeitskrieg eingenommen hat, ist eine Frage, die in der biographischen Literatur immer wieder eine Rolle spielt. Jenes Messer, in dessen Griff er die Worte „Tod den Franzosen“ und in dessen Spitze er den Namenszug „Goya 1808“ eingeritzt haben soll, ist verloren gegangen, würde aber für eine eindeutig antinapoleonische Haltung sprechen, wie auch die Spenden, die er der spanischen Aragón-Armee für den Kampf gegen die Franzosen hatte zukommen lassen. Auch die Historiengemälde „2. und 3. Mai“ sind lange als Indiz einer antifranzösischen Gesinnung gedeutet worden. Bekannt ist vor allem das Bild vom 3. Mai, auf welchem die Aufständischen vom Vortag durch französische Soldaten exekutiert werden.

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Während die Franzosen als ein anonymes, feindliches Kollektiv dargestellt sind, verlieh Goyas Pinsel den spanischen Hinrichtungsopfern individuelle Züge, die Empathie einfordern. Im zentralen Fokus des Bildes steht ein Spanier, der – dargestellt mit ikonografischen Anlehnungen an die Christusfigur, erkennbar an den ausgebreiteten Armen und den Stigmata an den Händen – mit Schrecken im Gesicht und doch aufrecht den Tod erwartet. Aus dem Bild wurde, wenn auch viel später, eine nationale Ikone. Doch der Zeitpunkt der Entstehung dürfte eher von Goyas Pragmatismus zeugen, schließlich bot er sich erst an, diese Bilder zu malen, als der Krieg entschieden und ein Beleg seiner patriotischen Haltung überaus opportun war – schließlich war unklar, wie die neue spanische Regierung mit denjenigen verfahren wollte, die sich dem bonapartistischen König angedient hatten. Dieser war durch den Vormarsch der Briten 1812 umso mehr in Bedrängnis geraten, je stärker die französischen Truppen durch die Kriegführung in Russland beansprucht worden waren. Nach einigem Hin und Her hatte José I. dann im Mai 1813 Madrid für immer verlassen müssen, kurz bevor im Juni 1813 die Entscheidungsschlacht bei Vitoria zugunsten der englisch-spanischen Truppen ausging und der Weg der Briten über die Pyrenäen nach Frankreich offenstand. Um sich dieser offenen Flanke zu entledigen, hatte sich Napoleon im Dezember 1813 auf einen Vertrag mit Ferdinand VII. eingelassen, der diesem die Rückkehr auf den spanischen Thron ermöglichte. Dass ihn die Vertragsbestimmungen eigentlich daran hinderten, die Josefinos, also die einstigen Kooperationspartner Josés in Spanien, zur Rechenschaft zu ziehen, focht Ferdinand VII. ebenso wenig an wie der Umstand, dass in den Jahren des Unabhängigkeitskriegs in Cádiz spanische Abgeordnete eine Verfassung erarbeitet und im Jahr 1812 proklamiert hatten, welche die Souveränität des Monarchen erheblich zugunsten der des Volkes einschränkte. Über beides setzte sich Ferdinand VII. – erneut gedrängt von einer Allianz erzkonservativer Kräfte – hinweg: Im Mai 1814 wurde sowohl die Verfassung von Cádiz aufgehoben als auch eine Kommission eingesetzt, die die staatlichen Mitarbeiter auf das Ausmaß der Kollaboration mit José hin überprüfen sollte, um jede Weiterbeschäftigung der Josefinos auszuschließen. Goya überstand zwar anstandslos seinen rund einjährigen „Reinigungsprozess“, aber dies wohl nur, weil der Kommission entgangen war, wie sehr Goya doch bereit gewesen war, mit José zusammenzuarbeiten. So hatte er nicht nur wie alle anderen Akademiemitglieder einen Treueschwur auf den damaligen König geleistet und sich – wie viele andere Prominente – mit dem von José geschaffenen neuen nationalen Orden dekorieren lassen, sondern hatte darüber hinaus an

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einer Kommission mitgewirkt, die für die Auswahl von Kunstwerken zuständig war, die für das große Museumsprojekt Napoleons außer Landes geschafft werden sollten. Die Kooperationsbereitschaft kann insofern nicht weiter verwundern, als ein nennenswerter Teil seines Freundeskreises sich dezidiert auf die Seite Josés gestellt hatte, in dessen Reformen sie die Fortsetzung ihrer aufklärerischen Bemühungen sahen und dem sie am ehesten zutrauten, Spanien auf einen Weg der Modernisierung zu führen. Die von Napoleon dekretierte Verfassung von Bayonne und die Auflösung der Inquisition schienen diese Ansicht zu bestätigen. Doch die Reformansätze des Roi philosophe, wie José bezeichnet wurde, kamen schon deshalb nicht zum Tragen, weil erstens die Finanzmittel vom Krieg aufgezehrt wurden und weil sich zweitens seine Herrschaftsgewalt nie über ganz Spanien erstreckte, zumal sie nicht nur von der aufständischen spanischen Junta, sondern auch von den eigenständig agierenden und zum Teil gegen ihn intrigierenden französischen Militärs untergraben wurde. Während einige von Goyas alten Freunden sich derart mit dem Projekt Josés identifizierten, dass sie ihm auch folgten, wenn er aus der Hauptstadt flüchten musste, blieb Goya durchgängig in Madrid und passte sich den jeweils herrschenden Machtverhältnissen einigermaßen geschmeidig an. So malte er im Auftrag der Akademie 1808 erst ein Bildnis von Ferdinand VII., im folgenden Jahr eines für die Stadt von José I. Gerade dieses Bildnis, die Allegorie der Stadt Madrid, wurde zu einem politischen Palimpsest, welches die Anpassungsbereitschaft von Stadt und Künstler symbolisiert: Als José im Sommer 1812 aus Madrid fliehen musste, wurde das Porträt ersetzt durch den Schriftzug Constitución, der wieder zugunsten des Bildes verschwand, als José im Winter zurückkehrte. Ähnliches wiederholte sich im folgenden Jahr, als José im Mai 1813 endgültig Madrid verließ, woraufhin das Medaillon erneut die Consti­ tución würdigte, bis 1814 ein Bildnis Ferdinands VII. an die Stelle des Schriftzugs trat. (Es blieben nicht die letzten Transformationen: 1823 ließ Ferdinand VII. das Porträt durch ein anderes austauschen, 1843 beauftragte der Bürgermeister Madrids, Ferdinand zu entfernen und die Worte „El libro de la constitución“ einzusetzen. Im Jahre 1872 wurde das Bild schließlich ein letztes Mal verändert, indem nunmehr die Devise ausgetauscht wurde gegen „Dos de Mayo“). Ungerührt führte Goya zu seinen Zeiten die Aufträge aus beziehungsweise veranlasste ihre Ausführung. Allerdings trat er als Künstler in die zweite Reihe. Als Erster Hofmaler kam nun sein Konkurrent Maella zum Zuge. In dieser Zeit hielt Goya offenbar auch Kontakt mit den Abgeordneten in Cádiz, wo 1811 im Semanario patriótico erstmals eine ausführliche Besprechung von Goyas C ­ aprichos sowie eine Verkaufsanzeige veröffentlicht wurde. Dem Verfassungsprojekt von

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Cádiz dürfte Goya positiv gegenübergestanden haben, schließlich machten sich die Abgeordneten mit ihrem Kampf gegen das Ancien Régime, gegen die Privilegien der Adelsgesellschaft, gegen Aberglauben und Inquisition auch diejenigen Themen zu eigen, die Goya in seinen Caprichos kritisch zur Sprache gebracht hatte. So war es kein Zufall, dass sich Puigblanch in seiner 1811 in Cádiz veröffentlichten Kritik der Inquisition explizit auf die Illustrationen aus der „berühmten Sammlung satirischer Drucke von Don Francisco Goya y Lucientes“ bezog. Insgesamt dürfte Goya durchaus bereitwillig im August 1812 den Eid auf die Verfassung von Cádiz abgelegt haben, als zwischenzeitlich britische und spanische Truppen den Rey intruso, wie José bezeichnet wurde, vertrieben hatten. Dabei erfolgte der Gelöbnisakt im Rahmen einer Zeremonie, welche die Madrilenen vor dem Palacio Real an einem Bildnis Ferdinands VII. vorbeiführte, das anstelle des abwesenden Monarchen unter einem Baldachin auf dem Hauptbalkon befestigt war – und welches mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jenes Bild gewesen sein dürfte, das Goya noch 1808 von Ferdinand gemalt hatte. Dass sich Ferdinand nun nach seiner Rückkehr 1814 ganz gegen die Verfassung stellte, die Inquisition wieder einführte und die Anhänger des Liberalismus einer rigorosen Repression unterwarf, zwang Goya dazu, eindeutiger Position zu beziehen: Der Künstler ging immer mehr auf Distanz zum Hof und dem restaurativen System.

Kollision mit dem Restaurationsregime und der Weg ins Exil

Seine Kritik artikulierte er in jenen Caprichos enfáticos, die zum Bestandteil der Desastres wurden, womit Goya die Wiedereinführung von Inquisition und Ständegesellschaft als „fatale Kriegsfolgen“ attackierte. Auch die von 1816 bis 1819 entstandene dritte Sammlung von 22 Platten, die Disparates, zeugen von einer zunehmend düsteren Weltsicht. Mit der Inszenierung irrationaler Mächte, von Dunkelheit und Schrecken provozierte er die ästhetischen Gewohnheiten der Zeit. Selbst räumlich nahm er jetzt Abstand vom Hof: Hatte er 1800 auf dem Höhepunkt seiner Karriere eine repräsentable Wohnung im Zentrum von Stadt und Macht bezogen, so kaufte er jetzt, 1819, ein Haus am Fluss Manzanares am Stadtrand Madrids, welches als Quinta del Sordo bekannt werden sollte. Aufsehen erregte vor allem dessen Innengestaltung, malte er doch mit den Pinturas negras seinen Protest gegen die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in großen Formaten direkt auf die Wände. Mit diesen Werken vollzog er auch ästhetisch seine Abkehr von der Tradition.

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Abb. 17: Saturn, der seine Kinder verschlingt – eines der Gemälde aus der Reihe der Pinturas negras (schwarzen Gemälde), die Goya in den 1820er Jahren auf die Wände seines Hauses auftrug.

Noch einmal blitzte eine optimistische Weltsicht auf, als 1820 mit dem Putsch des Generals Rafael del Riego der König gezwungen werden konnte, die Verfassung von 1812 anzuerkennen. Lux ex tenebris – Licht aus der Finsternis, betitelte er eine in dieser Zeit entstandene Zeichnung, auf der eine weibliche Figur – die aus anderen Bildnissen auch als „Wahrheit“ oder „Freiheit“ bekannt ist – als Engel über der Finsternis schwebt und diese durch ein Büchlein im Strahlenkranz erhellt, welches als Text der Verfassung von Cádiz gedeutet worden ist. In einer anderen Zeichnung feiert Goya die neue Meinungsfreiheit als Divina libertad (Göttliche Freiheit) und lässt in einer weiteren eine als Divina razón (Göttliche Vernunft) bezeichnete Frauenfigur mit kräftigen Peitschenschwingen die Nachtvögel des Ancien Régime vertreiben. Doch der Optimismus währ-

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te nicht lange. Die Zerrissenheit innerhalb der Liberalen und die militärische Intervention der Heiligen Allianz, die auf Bitten Ferdinands VII. ein französisches Heer nach Spanien sandte, setzten dem neuen Verfassungsexperiment ein baldiges Ende. Dass das 1823 einmarschierte Interventionsheer aus Frankreich von zahlreichen Spaniern unterstützt worden war, die alles daran setzten, den Liberalismus zu bekämpfen, dürfte dazu beigetragen haben, dass Goyas zwischenzeitliche Euphorie in verstärkten Skeptizismus umschlug: Aus einer Figur, die – wie radiographische Untersuchungen ergeben haben – wohl erst ein Tänzer hatte werden sollen, wurde Saturn, der sein Kind verschlingt. Zwei Männer, die, mit den Beinen tief in den Boden versunken und zur Unbeweglichkeit verdammt, mit großen Keulen aufeinander eindreschen, wurden zum dauerhaften Sinnbild der Zerrissenheit des Landes, zum Symbol der Dos Españas. Goya selbst gehörte offenbar immer mehr jenem Teil an, der von den Machthabenden als „Anti-Spanien“ diskreditiert wurde. Dabei mochte eine Rolle gespielt haben, dass die Frau, mit der er jetzt zusammenlebte, Leocadia Zorrilla, als Liberale von den Repressionen bedroht war, mit denen Ferdinand VII. nach dem Sieg das Land überzog. Entschiedener als je zuvor setzten seine Schergen den Liberalen zu, die für den Putsch von 1820 und die Verbreitung aufklärerisch-liberalen Gedankenguts verantwortlich waren. So übertrug Goya sein Haus am Manzanares dem Enkel Mariano und zog mit Leocadia und deren Tochter Rosario nach Bordeaux. Dabei blieb insofern ein Rest des alten Pragmatismus spürbar, als er sich nicht mit dem König überwarf, sondern das Land erst verließ, nachdem dieser ihm eine Badekur in Frankreich genehmigt hatte, was ihm den Anspruch auf Pensionszahlungen erhielt. Auch wenn die Aussage seines Freundes Leandro Fernández Moratín, dass Goya nach Frankreich gekommen war, ohne ein Wort Französisch zu sprechen, nicht ganz richtig ist, so bleibt doch die Tatsache, dass sich Goya nun im hohen Alter in einer völlig neuen Umgebung zurechtfinden musste. Nach Madrid kehrte er nur zweimal kurz zurück, um die Weiterzahlung seiner Pension zu erwirken. Letztlich war er einer der vielen Spanier, für die das Exil den lebenslangen Abschied von der Heimat bedeuten sollte. Lange allerdings war Goya nicht mehr zu leben beschieden: Am 16. April 1828 starb Francisco de Goya im Alter von 82 Jahren in Bordeaux. Noch in den letzten Jahren war er sich insofern treu geblieben, als er immer noch mit innovativen Techniken experimentierte und seine Eindrücke in Skizzen festhielt. Wieder waren es Randfiguren der Gesellschaft, die er zeichnete: Wahnsinnige, Gefangene, Arme – und jetzt vor allem Alte und Gebrechliche. Zu seinen letzten Zeichnungen gehörte ein Selbstpor-

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Abb. 18: Aun aprendo. Zeichnung mit dem Selbstporträt des alternden Goya aus dem Bordeaux-Notizbuch (um 1825–1828).

trät: Es zeigt ihn als alten Mann, auf zwei Stöcke gestützt, mit der Bildüberschrift: „Ich lerne noch.“

Weiterführende Literatur Andioc, René: Goya. Letra y figuras, Madrid 2008. Aschmann, Birgit: Der Traum der Vernunft und seine Monster. Goyas Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Berlin 2013. Bell, David A.: The First Total War. Napoleon’s Europe and the Birth of Warfare as We Know It, Boston 2007. Busch, Werner: Goya, München 2018. Esdaile, Charles: Napoleon’s Wars. An International History 1803–1815, New York 2008. Esdaile, Charles: Peninsular Eyewitnesses. The Experience of War in Spain and Portugal 1808–1813, Barnsley 2008. Francisco de Goya: Träume und Alpträume – Briefe, aus dem Spanischen von Christiane Quandt, Berlin 2021.

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Fraser, Ronald: Napoleon’s Cursed War. Popular Resistance in the Spanish Peninsular War 1808–1814, London 2008. Gade, Regina: “de mi invención”? Francisco de Goya im Dienst der spanischen Monarchie von 1775 bis 1792, München 2015. Held, Jutta: Francisco de Goya mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1980. Jacobs, Helmut C./Preyer, Nina: Goya für alle – Einführung in die Caprichos, Würzburg 2019. Jacobs, Helmut C.: Der Schlaf der Vernunft. Goyas Capricho 43 in Bildkunst, Literatur und Musik, Basel 2006. Schwander, Martin (Hg.): Goya, Ausstellungskatalog, Berlin 2021. Todorov, Tzvetan: Goya à l’ombre des Lumières, Paris 2011. Tomlinson, Janis A.: Goya. A Portrait of the Artist, Princeton/Oxford 2020. Zens, Herwig (Hg.): Briefe an Martin Zapater, übers. von Eva Fritz und Ottmar Binder, Weitra (Österreich) 2005.

Anmerkungen 1

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Peter-Klaus Schuster/Wilfried Seipel (Hg.): Goya. Prophet der Moderne, Katalog der gleichnamigen Ausstellung der Alten Nationalgalerie Berlin (13.7.–3.10.2005), Köln 2005. Als Philosoph wurde Goya schon in der ersten französischsprachigen Studie von 1867 bezeichnet, vgl. Charles Yriarte: Goya, Paris 1867, S. 2. Jacques Soubeyroux bezeichnet Goya als „un peintre politique, sans doute le premier peintre politique de l’histoire“, Ders.: Goya politique, Paris 2011, S. 11. Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, München 2003. ,,[...] no quiero acer antecamaras, tengo bastante y no me mato por nada.“ Schreiben vom 25. März 1786 von Goya an Zapater, in: Mercedes Agueda/Xavier de Salas (Hg.): Cartas a Martín Zapater, Madrid 1982, S. 146. Zur deutschen Übersetzung siehe Herwig Zens (Hg.): Briefe an Martin Zapater, übers. von Eva Fritz und Ottmar Binder, Weitra (Österreich) 2005, S. 118. Francisco de Goya in einem Schreiben an seinen Freund Don Bernardo de Iriarte, 4.1.1794, zitiert in: Hofmann, Goya, S. 52. Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997, S. 11. Vgl. Gérard Dufour: Goya durante la Guerra de la Independencia, Madrid 2008, S. 40. Instituto Cervantes Berlin und Calcografia Nacional. Real Academia de Bellas Artes de San Fernando (Hg.): Goya. Cronista de todas las guerras. Los Desastres y la fotografía de guerra, Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Instituto Cervantes (13.2.–30.3.2012), Madrid/Berlin 2012.

15. Isabella II. (1830–1904) Das Scheitern der konstitutionellen Monarchie

Von 1843 bis 1868 stand erstmals seit den Tagen von Isabella I. im 15. Jahrhundert wieder eine Königin an der Spitze der spanischen Politik. Ihr Vater Ferdinand VII. war zwar schon 1833 gestorben, aber die Thronfolgerin war damals erst drei Jahre alt. Nachdem zunächst andere die Regentschaft für die minderjährige Isabella II. ausgeübt hatten, bestieg sie im Alter von dreizehn Jahren den Thron und wurde – kaum 38 Jahre alt – im Jahr 1868 gestürzt. Im Jahr 1874, also nur sechs Jahre später, kam es erstaunlicherweise zu einer restaurativen Wende. Obgleich die Bourbonen-Herrscherin seinerzeit unter übelsten Beschimpfungen das Land hatte verlassen müssen, war die Dynastie nach einem Gastspiel eines italienischen Monarchen und einem kurzen republikanischen Experiment auf der Iberischen Halbinsel wieder willkommen. Allerdings galt dies nicht für Isabella selbst, die im Pariser Exil zugunsten ihres Sohnes Alfons auf den Thron verzichtet hatte. Aber dass ihr selbst während der Herrschaft ihres Sohnes verwehrt wurde, sich in Spanien niederzulassen, focht sie schwer an, war sie in Frankreich doch nicht wirklich heimisch geworden. Der spanische Ministerpräsident Antonio Cánovas del Castillo erklärte Isabella, warum sie nicht zurückkehren könne: Bei ihr handele es sich eben nicht bloß „um eine Person“, sondern um „ein Königreich“, um eine „historische Epoche“.1 Die aber sei ein für alle Mal vorbei. Tatsächlich lässt sich von ihrer Person ausgehend nachzeichnen, warum es gerade in Spanien nicht gelang, die Monarchie nach den revolutionären Stürmen um die Wende zum 19. Jahrhundert neuzuerfinden. Die Störanfälligkeit und spezifischen Problemlagen konstitutioneller Monarchien werden auf diese Weise besonders deutlich. Dabei spielte auch der Umstand eine Rolle, dass Isabella eine Frau war. Allerdings zeigt der Vergleich mit der britischen Queen Victoria, die von 1837 bis 1901 regierte, dass sich ein konstitutionelles System im 19. Jahrhundert durchaus mit einer weiblichen Staatsspitze vertrug. Die „isabellinische Zeit“ ist demgegenüber ein Beispiel für das Scheitern von Versuchen, das Verhältnis zwischen Krone und Parlament so auszuhandeln, dass es das politische System stabilisiert. Geschlecht und Körper waren in beiden Fällen von Bedeutung, hingegen unterschieden sich die Umstände der Thronbesteigung und die genderspezifischen

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Isabella II. (1830–1904) Abb. 19: Isabella II., Hofporträt aus den 1860er Jahren, aufgenommen von Jean Laurent, der 1861 zum „Fotograf der Königin“ ernannt worden war.

Verhaltensweisen von Isabella und Victoria erheblich. Während sich Victoria geschickt den Erwartungen des bürgerlichen Zeitalters im 19. Jahrhundert anzupassen verstand, richtete Isabella ihr Verhalten weder an Kriterien der Staatsräson noch an den Vorstellungen eines bürgerlichen Emotionsmanagements aus. Das „Private“ und das „Politische“ waren dabei immer wieder aufs Engste miteinander verquickt. Am Ende ihrer Herrschaft floss die weit verbreitete Kritik an ihrem Lebenswandel mit dem Unmut über ein dysfunktionales politisches System zusammen. Es war die Kombination aus politischen Fehlentscheidungen einerseits und dem Vorwurf maßloser moralischer Verfehlungen andererseits, die Isabella im Jahr 1868 den Thron kostete. Beide Phänomene wurzeln vermutlich bereits in den frühen Kindheitsjahren, in denen Isabella weder eine umfassende politische Bildung genoss noch in einem stabilen persönlichen und politischen Umfeld aufwuchs.

Frühe Kindheit: Der Krieg um die Krone

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Frühe Kindheit: Der Krieg um die Krone

Noch vor der Geburt war das Geschlecht Isabellas zum Politikum geworden. Dabei war schon die Schwangerschaft als solche ein Ereignis. Die 23 Jahre alte Mutter María Cristina, ihrerseits Tochter des Königs von Sizilien und Neapel und einer Schwester des spanischen Königs Ferdinand VII., hatte erst im Dezember 1829 ihren 55 Jahre alten Onkel geheiratet. Keine fünf Monate später wurde verkündet, dass die Königin im vierten Monat schwanger sei. Das war schon deshalb eine Sensation, weil es sich um die vierte Ehe Ferdinands VII. handelte. Drei Ehefrauen waren gestorben, ohne den ersehnten Thronfolger zur Welt gebracht zu haben. Längst hatten sich Teile des Hofes darauf eingestellt, dass der nächstältere Bruder des Königs die Krone erben würde. Don Carlos hatte sich inzwischen auch politisch von seinem Bruder abgesetzt und eine eigene Anhängerschaft um sich geschart: Seit Ferdinand VII. von seinem strikt absolutistischen Kurs abgewichen war, empfahl sich Karl als Hort unbeugsamer Absolutisten. Deren Ziele gerieten mit der Schwangerschaft María Cristinas in Gefahr. Umso wichtiger wurde nun das Geschlecht des erwarteten Kindes, waren Frauen doch gemäß der von den Bourbonen Anfang des 18. Jahrhunderts in Spanien eingeführten salischen Erbfolgeregelung von der Thronfolge ausgeschlossen. Doch Ferdinand machte die Hoffnung seiner Gegner auf die Geburt eines Mädchens schnell zunichte. Er veröffentlichte eine Pragmatische Sanktion, die seit den Tagen seines Vaters in der Schublade gelegen hatte. Das salische Erbfolgegesetz wurde aufgehoben und Frauen – wenn es an männlichen Nachkommen fehlte – wieder der Zugang zum Thron ermöglicht. Als schließlich am 10. Oktober 1830 ein Mädchen das Licht der Welt erblickte, zeigte sich die ambivalente Erleichterung in dem Ruf, der durch Madrid ging: „Ein Erbe, wenn auch weiblich!“2 In die Freude über die Geburt einer Thronfolgerin mischte sich die Sorge um die Akzeptanz der königlichen Tochter. Umso mehr beeilte sich Ferdinand, Isabella den Titel „Prinzessin von Asturien“ zu verleihen, welcher den spanischen Thronerben vorbehalten war. Dass seine Sorge nicht unberechtigt war, zeigte sich zwei Jahre später. 1832 nutzten die Anhänger von Don Carlos eine schwere Erkrankung des Königs, um ihm und seiner Gattin unter Beschwörung der Gefahr eines Bürgerkriegs den Verzicht der Tochter auf den Thron abzuringen. Doch unerwartet erholte sich der Todkranke, besann sich eines Besseren, schrieb erneut die Thronfolge für Isabella fest und ließ die Vertreter der Stände

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im Juni 1833 den Treueid auf die Prinzessin von Asturien ablegen. Insoweit war die Erbfolge eigentlich geregelt, als Ferdinand VII. nur drei Monate später, am 29. September 1833, starb. Da Isabella als Dreijährige nicht regieren konnte, übernahm ihre Mutter für die Jahre der Minderjährigkeit die Regentschaft, so wie es Ferdinand VII. in seinem Testament bestimmt hatte. Doch stand keineswegs das ganze Land hinter dieser Lösung. Don Carlos, der sich im Juni geweigert hatte, seiner Nichte den Eid zu leisten und daraufhin des Landes verwiesen worden war, erklärte sich nun seinerseits zum König. Hinter ihm standen die dezidiert konservativ, beziehungsweise absolutistisch und katholisch Gesonnenen: der Klerus, breite Teile der ländlichen Bevölkerung und Handwerker aus kleineren Städten im Inneren des Landes, vorzugsweise in den nordöstlichen Regionen des Landes, also aus dem Baskenland, Navarra und Katalonien. Hingegen setzten sich die Vertreter von Reform und Aufklärung aus Adel und Bürgertum, eben die Liberalen, sowie die Bevölkerung aus Städten der Küstenregionen sowie aus Madrid mehrheitlich für Isabella ein. Die Konfrontation mündete in einen Bürgerkrieg, den „Karlistenkrieg“, in dem nicht nur dynastische Konkurrenten, sondern auch Absolutismus und Konstitutionalismus, die politischen Ideologien des damaligen Europas, miteinander rangen. Das führte dazu, dass schon an diesem spanischen Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts zahlreiche Freiwillige aus anderen Ländern teilnahmen. Die ideologische und religiöse Aufladung des Konfliktes wiederum trug zu einer Brutalisierung bei, die an die grausamen Szenen aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon erinnerte, wie sie Goya in seinen Radierungen festgehalten hat. Erst sieben Jahre später ging der Bürgerkrieg zu Ende. Er hatte nicht nur zahllose Menschenleben gekostet und finanzielle Ressourcen verschlungen. Auch seine mittel- und langfristigen Folgen waren erheblich. So zementierte der Karlistenkrieg dauerhaft die Neigung der spanischen Gesellschaft zu einer scharfen ideologischen, mit Gewalt verbundenen Polarisierung, der Spaltung in die Dos Españas, also die „zwei Spanien“.3 Auch die für die effiziente Kriegsführung erforderlichen Zentralisierungsmaßnahmen waren von langfristiger Dauer, darunter die noch im November 1833 von Javier de Burgos vorbereitete Einteilung Spaniens in Provinzen. Auch dass das Militär in der Politik des Landes bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine federführende Rolle spielte, lag allem voran an den Karlistenkriegen, schließlich folgten auf den ersten Krieg um die legitime Thronfolge zwei weitere in den 1840er und 1870er Jahren. Die zentralen politischen Figuren während

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der isabellinischen Zeit waren daher ranghohe Militärs, die sich während des ersten Karlistenkriegs (1833–1839) einen Namen gemacht hatten. Konsequenzen hatten auch die Zugeständnisse gegenüber den Liberalen, forderten diese für die Unterstützung von María Cristina doch einen politischen Preis. Die Überzeugung, dass sich die Königin „dankbar“ zu zeigen habe, zeigte sich unmittelbar im Zuge des Übergangs zum konstitutionellen System, als 1834 das Estatuto Real, das „Königliche Statut“, proklamiert wurde. Damit war die absolutistische Zeit, in der die Monarchen ohne Bindung an ein Gesetz von Verfassungsrang regieren konnten, in Spanien definitiv vorbei. In den folgenden Jahrzehnten drehte sich die Politik immer wieder darum, das Pendel mithilfe von Verfassungsänderungen oder neuer Verfassungen entweder zugunsten der „Krone“ oder des „Parlaments“ zu verlagern; niemals aber standen die gänzliche Aufhebung der Verfassung bzw. die dauerhafte Auflösung des Parlaments zur Diskussion. Weitere Folgen hatte der Krieg um die Krone insofern für die spanische Gesellschaft, als die Liberalen für die Finanzierung des Krieges zu einem Mittel Zuflucht nahmen, das aus den Tagen der französischen Revolutionsregierung bekannt war: Mit dem von Juan Álvarez Mendizábal vorangetriebenen Desamortisationsgesetz von 1836 wurde es möglich, Kirchenbesitz zu enteignen und zu verkaufen. Dieses Vorgehen trieb nicht nur den Klerus umso stärker in die Arme der Karlisten, sondern auch den Vatikan, der die Regierung von María Cristina nicht anerkannt hatte. Die persönliche Sicherheit der Regentin und ihrer zwei Töchter – 1832 hatte Isabella mit Luisa Fernanda eine Schwester bekommen – blieb während der Kriegsjahre nicht nur durch die Karlisten gefährdet, zumal deren Einheiten 1837 bis vor die Tore Madrids vordringen konnten. Von den (gemäßigteren) Liberalen, den Moderados, hatte sich eine entschlossenere Gruppe, die „Fortschrittlichen“ (Progresistas), abgespalten, denen die Zugeständnisse nicht genügten und deren Protestdynamik in revolutionäre Unruhen überzugehen drohte. Als María Cristina von ihrem durch das Königliche Statut gesicherten Recht Gebrauch machte und den Minister Mendizábal entließ sowie die Cortes auflöste, mündete der spontane Protest gegen die als Willkür empfundene Maßnahme in eine Welle der Empörung, die das ganze Land erfasste. An vielen Orten bildeten sich revolutionäre Juntas, und im August wurde María Cristina im Königspalast La Granja mit Waffengewalt gezwungen, die Verfassung von 1812 wiedereinzusetzen, die die Rechte der Krone beschnitt und das Parlament wieder aufwertete. Es ist anzunehmen, dass die sechsjährige Isabella die angespannte Situation realisierte, immerhin berichteten Augenzeugen später, dass das Leben von

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Mutter und Kindern nicht mehr sicher gewesen wäre, wenn die Regentin die Forderungen der Progressisten zurückgewiesen hätte. Dass Unruhen in einem Blutbad münden konnten, hatte sich 1834 gezeigt, als Madrid nicht nur durch den Karlistenkrieg, sondern auch durch die Cholera bedroht gewesen war. Gerüchte, wonach die Epidemie durch Priester verbreitet worden sei, die Brunnen vergiftet hätten, mündeten in einen Gewaltexzess inmitten der Hauptstadt, dem rund 70 Ordensleute, vor allem Jesuiten, zum Opfer fielen. María Cristina lag nach den Ereignissen von 1836 daran, nicht nur die Thronansprüche der Karlisten abzuwehren, sondern auch die Macht der Progressisten einzuhegen. Um die Politik in den Städten besser kontrollieren zu können, ließ sie unmittelbar nach dem Ende des Karlistenkriegs 1839 ein Gesetz vorbereiten, das die Autonomie der Gemeinden und Rathäuser rigoros begrenzen sollte. Dieses Gesetz wurde der Regentin zum Verhängnis, weil sich erneut eine Welle des Protestes quer durch Spanien ausbreitete. Damals befand sich María Cristina in Barcelona, wohin sie mit den Töchtern gereist war, um Isabellas angeborene Hautkrankheit durch Badekuren zu lindern. Für die Zehnjährige und ihre zwei Jahre jüngere Schwester stellte die Reise schon deshalb ein einschneidendes Erlebnis dar, weil sie auf dieser Reise erstmals längeren Kontakt zur eigenen Mutter hatten: Nie zuvor hatten sie die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen. Umso verunsichernder dürfte die Erfahrung gewesen sein, die gerade intensivierte Beziehung zur Mutter innerhalb weniger Tage gänzlich zu verlieren. Der Unmut über das Gesetz war so angeschwollen, dass die erst vor kurzem mit großer Begeisterung in Katalonien willkommen geheißene Regentin derart in Bedrängnis geriet, dass sie schließlich nur noch eine Möglichkeit sah, das eigene Leben und den Thronanspruch für die Tochter zu retten: Sie überließ diese der Obhut der liberalen Politiker und floh nach Frankreich. Die Trennung von ihren beiden Töchtern aus der Ehe mit Ferdinand VII. dürfte ihr womöglich deshalb nicht allzu schwergefallen sein, weil sie in Frankreich mit ihrer zweiten Familie zusammenkam. Heimlich war María Cristina bereits drei Monate nach dem Tod von Ferdinand VII. eine neue Ehe mit einem Leutnant der Leibgarde des Königs eingegangen. Das war nicht nur deshalb ein Problem, weil der Offizier Agustín Fernando Muñoz y Sánchez nicht standesgemäß war. Vor allem aber war die Ausübung der Regentschaft testamentarisch an den Verzicht auf eine erneute Eheschließung der Regentin gebunden. Insofern führte María Cristina fortan ein Doppelleben, das allerdings schon deshalb ein offenes Geheimnis war, weil sich die bald festgestellte Schwangerschaft zwar vor der Öffentlichkeit, nicht aber am Hof verbergen ließ. Noch im Jahr 1834

Intrigen am Hof: Die Regentschaft von General Espartero

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wurde das erste von insgesamt acht Kindern geboren, die aus der Beziehung mit Fernando Muñoz hervorgingen. Während sich María Cristina nun ganz auf ihre zweite Familie konzentrieren konnte, blieb Isabella mit ihrer Schwester verwaist zurück.

Intrigen am Hof: Die Regentschaft von General Espartero

Als der spanische Romancier Benito Pérez Galdós Königin Isabella im Exil für ein Interview aufsuchte, beschrieb diese rückblickend, wie sehr ihr Leben von den Intrigen am Hof und der eigenen Überforderung geprägt worden war. Kaum habe sie die Hinweise des einen Beraters verstanden und beherzigt, sei ein anderer gekommen, der ihr das Gegenteil nahegelegt habe. Tatsächlich wechselten die Bezugspersonen von Isabella oft, so dass stabile Beziehungen nicht entstehen konnten. Zudem gab es in ihrem Umfeld niemanden, der nicht aus eigenen Interessen ihre Zuneigung suchte und die Beziehung abbrach, wenn sie ihm nicht mehr nutzte. So wurde die künftige Königin ein frühes Opfer der zunehmenden Interessenskollisionen innerhalb des liberalen Lagers. Deren Begehrlichkeiten richteten sich darauf, sich über Isabella einen größtmöglichen Einfluss auf die spanische Politik zu sichern. Dabei waren nach der Vertreibung María Cristinas die Progressisten im Vorteil. Die Regentschaft für die zehnjährige Thronfolgerin übernahm nunmehr der progressistische General Baldomero Espartero. Dieser, ein einfacher Fuhrmannssohn aus der Mancha, hatte im Unabhängigkeitskrieg gegen die Franzosen gekämpft, dann (mit weniger Erfolg) versucht, die Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika niederzuwerfen, und war im Zuge des Karlistenkriegs zur populärsten Figur der spanischen Liberalen geworden. Der charismatische Offizier wurde nicht nur für seine Erfolge auf dem Schlachtfeld, sondern seit dem groß inszenierten Ende des Karlistenkriegs in der sogenannten Umarmung von Vergara im Jahr 1839 von vielen Spaniern als „Friedensbringer“4 verehrt. María Cristina hatte vergeblich versucht, Espartero für ihre Ziele einzuspannen; nach der Flucht der Regentin hatte er nun den privilegierten Zugriff auf Isabella. Dabei lag ihm daran, durch einen Wechsel der Pädagogen und andere Schwerpunkte des Bildungsprogramms die künftige Königin im Sinne des Liberalismus zu prägen. So wurden jetzt namhafte Dichter wie Manuel José Quintana oder der Rhetoriker Agustín Argüelles für den Unterricht engagiert, und die liberale Juana María de la Vega, Gräfin Espoz y Mina, übernahm die Funktion

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der Erzieherin. Espartero sah das Vorbild in Großbritannien: So lautete der Auftrag an die Gräfin Espoz y Mina, „eine andere Queen Victoria“5 heranzuziehen. Doch schon Unterrichtsstoff und Umfang unterschieden sich erheblich. Wurde Victoria systematisch auf die Übernahme des Thrones vorbereitet, beschränkte sich die Ausbildung Isabellas weitgehend auf das, was seinerzeit den höheren Töchtern in Spanien vermittelt wurde: Neben Handarbeiten und Religion standen spanische Rechtschreibung und Grammatik, Französisch und Geographie sowie musikalische Fertigkeiten auf dem Stundenplan. Die meiste Freude bereitete ihr der Gesangsunterricht. Als der Unterricht drei Jahre später eingestellt wurde, weil Isabella im Alter von 13 Jahren für volljährig erklärt wurde, blickte der Religionslehrer insgesamt pessimistisch auf die Lernerfolge: Isabella sei ein Mädchen mit „geringem Verstand“.6 Dass die Lernfortschritte begrenzt blieben, dürfte auch daran gelegen haben, dass sich auch andere Machtzirkel aus dem familiären Umfeld bemühten, auf das Mädchen zuzugreifen. Eine Erziehung zur Selbstständigkeit schien ihnen relativ gleichgültig, wenn nicht gar inopportun. So versuchte zunächst die Tante Isabellas, den Rückzug von María Cristina zum eigenen Vorteil zu nutzen. Dabei handelte es sich um die ältere Schwester der Regentin, Luisa Carlota, die mit dem jüngsten Bruder von Ferdinand VII., Francisco de Paula, verheiratet worden war. Aus der Ehe waren zwei Söhne hervorgegangen. Die Macht der Mutter, so das Kalkül, würde sich sprunghaft vergrößern, wenn es gelänge, einen dieser Söhne mit Isabella zu verheiraten. So suchte Luisa Carlota fortan die Nähe ihrer Nichte, um ihr eine solche Option möglichst frühzeitig nahezulegen. Luisa Carlota war mit ihrem zum Progressismus neigenden Mann von María Cristina zuvor des Land verwiesen worden, konnte jetzt, in der Zeit des Exils der Schwester, zurückkehren und quartierte sich im Königspalast ein. Als jedoch herauskam, dass einer von Isabellas Lehrern sich dazu hergegeben hatte, der kleinen Isabella heimlich ein Bild des älteren Sohnes Francisco de Asís zuzustellen, wurde der Überbringer sofort entlassen. Vorgänge dieser Art wiederholten sich: Berichtete Isabella über Versuche, Vertraulichkeiten mit ihr auszutauschen, veranlassten die übergeordneten Instanzen am Hof regelmäßig den Abbruch der Beziehung. Was einerseits eine Ohnmachtserfahrung des Kindes darstellte, barg zugleich die Erfahrung grenzenloser Macht, weil die kleine Isabella immer wieder erlebte, dass von ihren Aussagen Schicksale abhingen. Konkret führte z. B. die Entlassung des Reformpädagogen Luis Ventosa dazu, dass ausgerechnet derjenige Lehrer fortan fehlte, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, dem Kind Spaß am Lernen zu vermitteln.

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Nicht zuletzt die Initiativen ihrer Schwester nötigten María Cristina, sich aus dem Exil heraus intensiver in das Beziehungsgeflecht um ihre Tochter zu drängen. Einen Machtzuwachs von Schwager und Schwester wollte sie ebenso verhindern wie eine progressistische Beeinflussung oder auch eine Ehe mit einem der Söhne von Luisa Carlota. Zusammen mit ihrem neuen Ehemann entwickelte María Cristina Strategien, die ihren Einfluss in Spanien und auf Isabella sichern sollten. Besondere Bedeutung kam der Absicht zu, andere Vertrauenspersonen auszustechen und einen prioritären Zugriff auf Geist und Körper der jungen Königin zu gewinnen. Da der Mutter aus politischen Gründen keine persönliche Nähe zur Tochter gestattet war, suchte sie nach Stellvertretern, die ihren Willen – an den offiziellen Erziehern vorbei – Isabella übermitteln und so eine privilegierte Beziehung zwischen Mutter und Tochter herstellen konnten. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Joaquina Téllez-Girón, Marquesa de Santa Cruz. Seit Isabellas Geburt gehörte die Hocharistokratin als Kinderfrau und Chefin des weiblichen Hofstaats zum engsten Kreis um die Infantin. Zwar wurde sie 1840 als Kinderfrau bzw. Erzieherin durch die Gräfin Espoz y Mina abgelöst, blieb aber als oberste Hofdame (Camarera mayor) omnipräsent. Um Isabella (und mit ihr die spanische Politik) effizienter kontrollieren zu können, versuchte der Zirkel um María Cristina sogar, das Kind zu entführen. Im Oktober 1841, unmittelbar vor ihrem 11. Geburtstag, griffen dafür militärische Formationen den Königspalast an, in dem Isabella und ihre Schwester wohnten. Dass die Angreifer dabei durchaus in Kauf nahmen, das Leben der Kinder zu gefährden, zeigten die Kugeln, die im Zimmer der Prinzessinnen in den Wänden einschlugen. Der Angriff auf den Palacio Real konnte abgewehrt werden. Einige ranghohe Offiziere unter den Angreifern flohen daraufhin zu María Cristina nach Paris; andere, die nicht entkommen konnten, wurden exekutiert. Es dürfte kaum der emotionalen Stabilität der künftigen Königin gedient haben, dass das progressistische Hofpersonal den Entführungsversuch der Mutter anlastete – auch wenn die absolutistischen Gegenspieler am Hof die Erzählungen als Verleumdung abtaten. Grundsätzlich illustriert diese Aktion, wie niedrig die Schwelle zur Gewalt in der spanischen Politik war. Espartero zeigte seine schon im Karlistenkrieg dokumentierte Bereitschaft zur massiven Gewaltausübung, als 1842 in Katalonien einige Offiziere aus einer Verbindung von politischen und wirtschaftlichen Motiven sowie regionalen Aversionen gegen ihn putschten. Dass Espartero Barcelona vom Stadtberg Montjuïc aus bombardieren und anschließend 17 Aufständische erschießen ließ, kostete ihn nicht nur die Sympathien der Katalanen.

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Seine Legitimationsbasis war innerhalb des liberalen Lagers längst durch interne Zwistigkeiten erodiert. 1843 wurde der Regent gestürzt und ging – anders als die Konservativen und Aristokraten, die in der Regel nach Frankreich ins Exil auswichen – nach England. Am Hof konnten sich nunmehr diejenigen durchsetzen, die eine weitere Regentschaft vermeiden wollten. Dazu zählten vor allem die Parteigänger der vormaligen Regentin und die konservativeren Liberalen, die sogenannten Mode­ rados, die am Hof als heimliches Sprachrohr von María Cristina und Fernando Muñoz agierten. Sie wollten Isabella vorzeitig für volljährig erklären lassen, um so die Rückkehr von María Cristina und Fernando Muñoz zu ermöglichen und deren Einfluss auf Isabella zu verstärken.

„Die unschuldige Königin“ und die Suche nach einem passenden Ehemann

In seinem Testament hatte Ferdinand VII. noch von einer Regentschaft gesprochen, die erst mit dem 18. Geburtstag der Thronfolgerin enden sollte. Das spanische Gesetz sah inzwischen eine Volljährigkeit eines Thronfolgers bei 14 Jahren vor. Um die gerade erst Dreizehnjährige nun schon für volljährig zu erklären, bedurfte es eines eigenen Gesetzes und einer entsprechenden Debatte im Parlament. Dort wurde die „unschuldige Königin“ als Garant für das nationale Glück, als „sicherstes Unterpfand für den Frieden“7 gepriesen. Als „ersehnten Engel“, der Frieden stiften werde zwischen den Fraktionen der „Guten“, umwarb die liberale Presse das Mädchen.8 Der Jurist Juan Donoso Cortés verwies darauf, dass es keinen Unterschied mache, ob Isabella 13 oder 14 Jahre alt sei. Entscheidend sei der Umstand, dass sie eine Institution repräsentiere, die seit 14 Jahrhunderten existiere. Dabei dürfte kaum ein anderer sich so über die persönlichen Grenzen der jungen Königin im Klaren gewesen sein, die im November 1843 auf die Verfassung schwor und damit offiziell den Thron übernahm. Der 1809 geborene Donoso Cortés – den Carl Schmitt im Deutschland des 20. Jahrhunderts wegen seiner um 1848/49 gehaltenen Reden über die Diktatur bekannt machen sollte – gehörte seit 1832 zum Umfeld von María Cristina. War er zunächst dezidiert liberal gesonnen, so rückte er im Laufe der 1830er und 1840er Jahre mehr und mehr ins konservative Lager und wurde zu einem führenden Repräsentanten der Moderados. Vor allem aber fühlte er sich María Cristina und deren Mann verbunden. In

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Abb. 20: Isabella II. als junge Königin, Porträt des Hofmalers Federico de Madrazo y Kuntz aus dem Jahr 1844.

der Zeit der Trennung von Mutter und Tochter hatte er in unzähligen Briefen María Cristina und Fernando Muñoz über die Entwicklungen am Hof auf dem Laufenden gehalten. Nun setzte er sich für die Rückkehr der Exilierten ein, die mit dem Progressisten Salustiano Olózaga, einem inzwischen eng mit Isabella verbundenen Politiker, in Paris vorbesprochen wurde. Als Olózaga, der nunmehr die Regierungsgeschäfte leitete, die Pläne hingegen dilatorisch behandelte, setzte Donoso Cortés darauf, ihn zu stürzen. Eine günstige Gelegenheit bot sich, als der Regierungschef seinen nachgerade freundschaftlichen Kontakt zur unerfahrenen Monarchin ausnutzen wollte, um noch Ende November 1843 ihre Unterschrift für die Auflösung des Parlaments zu erhalten. Für diese Machtüberschreitung rächten sich die Moderados unter der heimlichen Federführung von Donoso Cortés, indem sie Isabella die Erzählung abrangen, Olózaga habe die junge Monarchin nur unter Einsatz physischer Gewalt dazu gebracht zu unterschreiben. Es wurde ein öffentlicher Skandal. Ein Regierungschef, der der

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Königin Gewalt antat, war untragbar. Eine Woche lang wurde in den Cortes über das Ereignis diskutiert, wobei Olózaga insofern die Hände gebunden waren, als ein Beharren auf seiner für ihn entlastenden Version bedeutet hätte, die Königin der Lüge zu zeihen. So lief am Ende der „Vorfall Olózaga“ darauf hinaus, dass auch dieser Politiker das Land verließ – und mit ihm eine weitere Persönlichkeit, mit der Isabella freundschaftliche Gefühle verband. Juan Donoso Cortés und die ihm nahestehenden Moderados nutzten dagegen das Vakuum, um ihre politischen Präferenzen durchzusetzen. Um ihre Vorstellungen vom „richtigen“ Verhältnis zwischen Vorrechten der Krone und des Parlaments dauerhaft zu realisieren, machte sich eine Kommission unter dem Vorsitz von Donoso Cortés zügig an die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die Bemühungen mündeten in die neue Verfassung von 1845, die die Bedeutung der Krone zu Lasten der Rechte des Parlaments stärkte. So stand es der Monarchin nunmehr wieder frei, Minister und Regierungschefs nach Gutdünken zu ernennen oder zu entlassen. Doch was als Element der Machtsicherung für die Moderados gedacht war, drohte plötzlich der konkurrierenden Partei zugute zu kommen. Ausschlaggebend waren dabei die Folgen der Eheschließung Isabellas. Spätestens seit den Avancen der Tante Isabellas, die einem ihrer Söhne – zumindest als Gatten – auf den Thron verhelfen wollte, war die mögliche Heirat Isabellas zu einem Politikum geworden. Von welcher Bedeutung grundsätzlich die Wahl des Bräutigams war, hatte bereits der Ehemann von Queen Victoria wissen lassen: Eine konstitutionelle Monarchin könne ein Glücksfall für die Staaten sein, so Albert – wenn sie denn den richtigen Mann an ihrer Seite habe.9 Doch darüber, was „richtig“ war, gingen die Meinungen auseinander. María Cristina, die wieder nach Spanien hatte zurückkehren können und schnell zur heimlichen Entscheidungsinstanz avanciert war, hatte bald einen Spross aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha im Blick. Schließlich hätten sich die Männer dieser Dynastie (nicht zuletzt Albert, der 1840 Queen Victoria geheiratet hatte) als ideale Monarchinnen-Gatten bewährt. Womöglich hätte eine solche Lösung tatsächlich die Geschicke Spaniens in andere Fahrwasser lenken können. Aber Frankreich widersetzte sich dieser Option schon deshalb, weil die Dynastie der Coburger durch die Verbindungen nach Großbritannien, Belgien und Portugal zu mächtig zu werden drohte. Selbst das Angebot, die Schwester Isabellas im Gegenzug mit dem Herzog von Montpensier, dem Sohn des französischen Bürgerkönigs Louis Philippe, zu verheiraten, konnte die Franzosen nicht überzeugen. So zeigt sich die ambivalente Bedeutung Spaniens in dem

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Geschacher Frankreichs und Englands: Einerseits galt Spanien als groß genug, um den Thron keinem fremden Einfluss zu überlassen. Andererseits war das Land inzwischen von der vormaligen Machtposition in der Frühen Neuzeit so weit entfernt, dass es sich der Einigung der auswärtigen Mächte letztlich fügen musste. Die Regierungsvertreter Englands und Frankreichs, die einem Sprössling des jeweils anderen Landes nicht die königliche Braut gönnten, kamen im September 1845 überein, dass ausschließlich ein spanischer Bourbone für Isabella in Frage käme. Damit waren de facto nur noch ein Bruder María Cristianas und die – von ihr zuvor vehement ausgeschlossenen – Söhne ihrer Schwester im Spiel. Wegen seiner absolutistischen Neigungen kam der neapolitanische Prinz für die Liberalen Spaniens nicht in Frage. Am Ende wurde Isabella doch nahegelegt, in die Heirat mit ihrem Cousin Francisco de Asís, dem älteren Sohn von Luisa Carlota und Francisco de Paula, einzuwilligen. Der jüngere, Enrique, hatte sich durch progressistische Positionierungen dem liberalen Lager verdächtig gemacht. Gleichwohl hatten Luisa Carlota und Francisco de Paula nun ihr mit vielen Intrigen seit langem verfolgtes Ziel erreicht. Die Hochzeit fand an Isabellas 16. Geburtstag statt, dem 10. Oktober 1846. Dieses Datum wurde zur Zäsur für das persönliche Geschick, aber auch für die Innen- und Außenpolitik Spaniens. Gerade hier zeigt sich die Verflochtenheit von „Privatem“ und „Politischem.“ Zunächst brach erneut Krieg aus: Nachdem der Sohn des karlistischen Prätendenten keine Chance gehabt hatte, die Hand der Königin zu erhalten, erklärten seine Anhänger noch im Oktober 1846 den zweiten Karlistenkrieg. Selbst diese Frontstellung brachte die Eheleute nicht zusammen. Es hatte sich schnell herausgestellt, dass die Partner miteinander nicht glücklich werden würden. Zudem trug der Gatte nicht zur Stabilisierung der spanischen Politik bei; vielmehr potenzierte die Ehe die Unberechenbarkeit der jugendlichen Monarchin. So mühte sich der Ehemann redlich, das symbolische Kapital der eigenen Frau nicht etwa zu mehren, sondern durch Diskreditierungskampagnen zu schmälern. Und schließlich bot die britische Presse für derartige Herabwürdigungen einen bedrohlichen Resonanzraum. Noch vor der Heirat hatten die britischen Blätter dem Ehebündnis den Kampf angesagt. Dabei richtete sich der Unmut weniger gegen die Heirat Isabellas als vielmehr gegen die ihrer Schwester. Abweichend von früheren Vereinbarungen mit den Briten hatten die Franzosen von dem Angebot, Luisa Fernanda mit dem Herzog von Montpensier zu verheiraten, dankend Gebrauch gemacht. Da aber die Fähigkeit, Nachwuchs zu bekommen, sowohl bei Isabella als auch bei Francisco de Asís wegen diverser Grunderkrankungen Anlass zu Spekulatio-

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nen bot, war die Wahl des Bräutigams der Schwester alles andere als irrelevant. Schließlich handelte es sich um die potentielle Erbin der Thronansprüche. Dass die Franzosen sich aber über die Vereinbarungen mit den Briten derart hinwegsetzten, bedeutete das Ende der Entente Cordiale von 1834; darüber hinaus revanchierten sich die Briten mit einer Pressekampagne, die beide Ehen ins Lächerliche zog. Gerade aber der Bräutigam Isabellas bot eine leichte Zielscheibe für Spott. Sowohl seine politischen Präferenzen für den Karlismus als auch sein physisches Handicap beim Harnlassen – Francisco litt an einer Harnröhrenverengung, einer Hypospadie – wurde zum Thema in Karikaturen und fand Eingang in die Spottlieder der unteren Bevölkerungsschichten. Die gerade verheirateten Eheleute brachte dies schnell auseinander. Innerhalb weniger Monate jedenfalls war die Ehe bankrott. Im Sommer des Jahres 1847 hatte Isabella einen Liebhaber und sann über Scheidungsmöglichkeiten nach. Der Gatte weigerte sich öffentlich, der Monarchin in den Sommerpalast nach Aranjuez zu folgen. Dass seine Frau ihn nicht liebe, sei ja in Ordnung, schließlich – so ließ er einen Minister wissen – liebe er sie auch nicht. Aber es wäre doch nötig gewesen, den Schein zu wahren.10 Donoso Cortés schrieb Fernando Muñoz von seinen vergeblichen Bemühungen, auf die aus dem Gleichgewicht geratene Königin Einfluss zu nehmen: An einem Tag hatte sie z. B. beschlossen, nicht mehr zu sprechen, sondern nur noch zu trällern – und trieb den Besucher mit als Arien intonierten Redebeiträgen zur Weißglut. Donoso Cortés begann vollends am Verstand der jungen Frau zu zweifeln. Die Lage war umso bedrohlicher, als die individuellen Abneigungen und Vorlieben unmittelbar politische Konsequenzen zeitigten. So schenkte die junge Monarchin plötzlich einem Progressisten ihr Herz, also einem politischen Konkurrenten. Um dem „schönen General“ Francisco Serrano zu gefallen, scheute Isabella nicht, das Instrumentarium zu nutzen, welches ihr die Verfassung von 1845 bereitgestellt hatte. Also entließ sie die Minister nach dem Wunsch ihres neuen Partners und beauftragte die Progressisten, eine Regierung zu bilden. Während Großbritannien in den 1840er Jahren de facto zur parlamentarischen Regierungsform überging, weil die Regierung fortan von der Parlamentsmehrheit abhing, griff die spanische Königin immer wieder auf den absolutistischen Gestus königlicher Willkür bei der Zusammensetzung der Regierung zurück. Das delegitimierte die Cortes und ließ das Vertrauen auf reguläre Regierungswechsel erodieren. Zudem polarisierte Isabellas Verhalten die Bevölkerung: Hielten die einen sie für verrückt, priesen die anderen die konstitutionelle Königin, zu deren Ehre Hymnen angestimmt wurden.

Zwischen Popularität und Verachtung: Die „isabellinische Zeit“

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Doch riskierte Isabella nicht allein die politische Stabilität im Land, sondern auch den eigenen Thron. Ihr Verhalten führte im Sommer 1847 zu Überlegungen, ob sie nicht schon wegen ihres Geisteszustandes abgesetzt werden müsste. Eine Reise der Mutter zur zweiten Tochter nach Paris in dieser Zeit ist vor diesem Hintergrund zu sehen, zumal María Cristina offenbar keinen Hehl daraus machte, dass sie die jüngere Schwester für fähiger hielt als die Erstgeborene. Doch die Diskreditierungskampagne der Briten wurde abrupt eingestellt, als das Gerücht an Plausibilität gewann, dass Luisa Fernanda als die Gattin des französischen Königssohnes auf den Thron kommen könnte. In der Zwischenzeit brachte sich darüber hinaus der Ehemann Isabellas als zusätzliche Alternative ins Spiel – er hoffte, von den Karlisten als Regent eingesetzt zu werden. Als diese auf die Avancen nicht eingingen, sondern das Schreiben mit dem Angebot Franciscos in ihrer Presse veröffentlichten, galt seine Person als nahezu gänzlich diskreditiert. Insgesamt nahm das Bild Isabellas in der Öffentlichkeit durch diese Ereignisse Schaden – die ersten diskreditierenden Deutungen waren lanciert und ließen sich nicht wieder einhegen. Die extrem divergierenden Bilder von der unschuldigen, von anderen zu eigenen Interessen missbrauchten Königin einerseits und der unfähigen, moralisch bzw. sexuell devianten Monarchin andererseits wurden bis zu der Revolution des Jahres 1868 immer wieder gegeneinander ausgespielt.

Zwischen Popularität und Verachtung: Die „isabellinische Zeit“

Die Politik in dieser „isabellinischen Zeit“ verlief überaus wechselhaft. Die Instabilität ist schon an den zahlreichen Regierungswechseln abzulesen: In den 25 Jahren ihrer Herrschaft von 1843 bis 1868 lösten 33 Regierungen einander ab.11 Diese häufigen Wechsel haben mit einem jener Strukturphänomene zu tun, die als Erklärungsmuster für die Entwicklungen in der spanischen Politik dieser Zeit herangezogen werden können. Dazu gehört die Ambivalenz von Macht und Ohnmacht der Königin. Sie blieb der Spielball konkurrierender Kräfte, der sie seit ihrer Geburt gewesen war. Lange wurde sie in der Korrespondenz von bzw. mit Fernando Muñoz als Prenda oder Presa12 bezeichnet: als Beute oder Faustpfand. Bezeichnenderweise hatten sowohl ihr Gatte Francisco de Asís als auch ihre Mutter María Cristina mit ihrem Mann jeweils eine „Kamarilla“ aus loyalen Gefolgsleuten um sich geschart, die ihnen Informationen zutrugen oder zum verlängerten Arm ihrer politischen und persönlichen Vorstellungen wurden. Isabella, die am politischen Geschäft wenig Interesse zeigte, verfügte be-

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zeichnenderweise über eine solche Kamarilla nicht. Dieser Ohnmacht stand die institutionelle Macht gegenüber, deren Wirkmächtigkeit sie schon in der Kindheit kennengelernt hatte. Ihrer Biografin Isabel Burdiel zufolge war Isabella II. daher zugleich „Herrin und Sklavin am Hof“.13 Die königliche Macht nutzte sie immer wieder aus affektiven Impulsen heraus. Auf diese Weise herbeigeführte Regierungswechsel schürten allerdings nur die politische Opposition. Ein zweites Strukturmerkmal bildete der dialektische Wechsel von eher autoritären Herrschaftsformen und revolutionären Reaktionsmustern. Schließlich lässt sich auch bei der öffentlichen Schuldzuschreibung von Missständen ein Muster erkennen: Gerade weil niemand verkannte, wie sehr Isabella den Machtambitionen konkurrierender Hofzirkel ausgesetzt blieb, war die Bereitschaft hoch, für die Missstände zunächst nicht die „unschuldige“ Monarchin selbst, sondern das jeweilige höfische Umfeld verantwortlich zu machen. So richteten sich die Aufstände und „Reinigungsmaßnahmen“ vorerst gegen diese Zirkel, bis schließlich am Ende der 1860er Jahre Isabella II. selbst als Alleinverantwortliche übrigblieb. Nun ballte sich die Macht der zwischenzeitlich immer wieder reaktivierten und intensivierten negativen Bilder zu einer solch delegitimierenden Wucht, dass der Sturz nahezu unumgänglich erschien. Dass sich die Eheleute nach der ersten schweren Krise im Herbst 1847 zumindest vordergründig versöhnten, lag nicht zuletzt an den Interventionen der Ordensleute im Umfeld von Francisco de Asís, die das Gehör von Isabella fanden. Die entscheidende Rolle aber dürfte General Ramón María Narváez gespielt haben, der seit dem ersten Karlistenkrieg zum Umfeld von María Cristina gehörte, nach dem Sturz Esparteros als Anführer der Moderados politische Karriere gemacht, von 1844 bis 1846 das Amt des Ministerpräsidenten innegehabt und nun im Oktober 1847 erneut die Regierungsverantwortung übernommen hatte. Er sollte – in verschiedenen Funktionen – bis an das Ende der Regierungszeit Isabellas (er starb im April 1868) eine bedeutende Funktion für die Königin haben. Er setzte sich nicht nur für ihren Thron ein, sondern auch für ihre persönliche Sicherheit, vor allem während der Niederschlagung der (schwachen) revolutionären Ansätze im europäischen Revolutionsjahr 1848, aber auch in der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Gatten. Dieser hatte die eigenen Ansprüche auf den Thron noch keineswegs aufgegeben und reagierte insbesondere auf die Entbindungen Isabellas aggressiv. Zehn Schwangerschaften hat Isabella ausgetragen, allem Anschein nach stammte keines der Kinder von ihrem Ehemann. Nicht nur physisch dürfte diese Zeit strapaziös für die Mutter gewesen sein: Nur fünf der Kinder überleb-

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ten die ersten Tage nach der Geburt. Den Moment physischer und psychischer Schwäche nach dem Tod ihres Sohnes Ferdinand einen Tag nach der Entbindung am 12. Juli 1850 nutzte Francisco de Asís prompt, um die Möglichkeit auszuloten, seine Frau wegen Regierungsunfähigkeit als Regent auf dem Thron zu ersetzen – und scheiterte an dem entschiedenen Widerstand von María Cristina. Diese wurde immer mehr zur eigentlichen Schlüsselfigur der spanischen Politik, zumal es ihr zusehends geschickter gelang, ihre Tochter zu lenken. So war für den Rücktritt von General Narváez im Folgejahr ausschlaggebend, dass ihm das Vertrauen María Cristinas fehlte. Die Regierung des nachfolgenden Ministerpräsidenten Bravo Murillo von 1851/1852 ist als erster Versuch in die spanische Geschichte eingegangen, die Monarchie mit den Mitteln einer Diktatur zu verbinden. Wegweisend waren dabei die politischen Entwicklungen im Nachbarland: der Staatsstreich von Napoleon III. und die Umwandlung der Französischen Republik in ein (neues) Kaiserreich. Die Popularitätsgewinne der spanischen Monarchie schienen dafür einen guten Moment zu bieten. Nicht nur der Abschluss des Konkordats mit dem Vatikan hatte der Krone allgemeine Anerkennung gesichert. Auch die Beliebtheit der Königin war – tragischerweise nach einem Attentat – immens gestiegen: Am 1. Februar 1852 hatte sich die Königin, nachdem sie am 20. Dezember ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht hatte, mit dieser Tochter erstmals der Öffentlichkeit bei einem Dankritual vor der Virgen de Atocha zeigen wollen, als sich ein Priester näherte und mit einem Dolch auf Isabella einstach. Offenbar verhinderte das Korsett Schlimmeres: Die Königin wurde nur leicht verletzt und erholte sich schnell. Jetzt flogen ihr die Sympathien der Bevölkerung zu, deren Bild vom „unschuldigen Opfer“ bestätigt schien. Doch so, wie der Mythos um die Inthronisation von 1843 wenig später durch den Eheskandal desillusioniert worden war, so wurden die Sympathien jetzt durch den massiv repressiven Kurs der Regierung Bravo Murillo enttäuscht. Das autoritäre Durchgreifen des Konservativen provozierte progressistische Gegenreaktionen, die in die sogenannte Revolution von 1854 mündeten. Zu Fall gebracht wurde jetzt die für übermächtig gehaltene María Cristina. Zum Verhängnis wurden ihr Finanztransaktionen, die es leicht machten, ihr Korruption und Habgier vorzuwerfen. Wie schon 1840 wich sie nach Frankreich aus, ohne ihre Kontakte in das Umfeld der Tochter preiszugeben. In den beiden folgenden Jahren gaben in Madrid die Progressisten wieder den Ton an, ohne aber breite Akzeptanz gewinnen zu können. So konnte 1856 die Königin ohne großen Widerstand das Parlament auflösen, noch bevor es

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gelungen war, die angekündigte neue Verfassung auszuarbeiten. Die Regierung ging nun wieder über in die Hände der Moderados unter der Leitung von Narváez, dessen Partei in den Wahlen von 1857 einen überwältigenden Sieg errang. Die Moderados machten sich daran, die Gesetze der vorangegangenen Regierung rückgängig zu machen und rückten die allgemeine Politik nach rechts. Das entsprach einer Positionsverlagerung auch der Königin. Das Jahr 1857 war schon deshalb für Isabella bedeutend, weil sie – nach vier weiteren Fehl- oder Totgeburten – am 28. November 1857 einen Sohn zur Welt brachte. Gerade aber weil die Vaterschaft eines anderen Mannes ein offenes Geheimnis war, wurde es für die Sicherung der Thronansprüche des Jungen namens Alfons zentral, dass Francisco de Asís das Kind öffentlich anerkannte. Damit aber wurde Isabella erpressbar. Ihr gegenüber ihrem Mann konzilianteres Verhalten wurde in der liberalen Öffentlichkeit auch als Folge ihrer Annäherung an die federführenden Figuren in der Kamarilla ihres Mannes gedeutet. Dabei zeigte ihre Anhänglichkeit an die Ordensleute Schwester Patrocinio und Pater Claret, wie problematisch es war, klare Grenzen zwischen den jeweiligen Einflusszonen ziehen zu wollen. Im katholischen Spanien fühlte sich eine bemerkenswerte Spannbreite von absolutistischen Karlisten bis zu den Liberalen von solchen Heilsverwaltern angezogen. Am Hof konnten die Ordensschwester und der Beichtvater die Fraktionen überbrücken und das Vertrauen sowohl der karlistisch als auch der liberal gesonnenen Familienmitglieder gewinnen. Gerade das aber machte sie in den Augen der Progressisten überaus verdächtig. Nachdem die Kamarilla um María Cristina vertrieben worden war, galt der Kampf jetzt den vermeintlichen Verschwörungen der Klerikalen. Doch bevor diese Deutung in den 1860er Jahren hegemonial wurde, gab es eine Phase des Kompromisses, die der Monarchie noch eine Zukunftsperspektive beließ. Nach den Pendelausschlägen einer je zweijährigen progressistischen und dann konservativen Regierungszeit setzte der General Leopoldo O’Donnell auf ein Kompromissmodell. Seine von 1858 bis 1863 regierende Unión Liberal integrierte Vertreter beider Parteien. Zu seinen Bemühungen, das Land zu einen, gehörte zum einen eine prestigeorientierte Außenpolitik, zum anderen die Entwicklung der Monarchin zu einem Integrationssymbol. Beides verlief (gemessen an den Zielen) zunächst außerordentlich erfolgreich. Der Sieg im kolonialen Kriegszug in Marokko 1859 schien Spanien als gewichtige Macht auf die weltpolitische Bühne zurückzubringen und verwandelte die militärischen Akteure in populäre Helden. Selbst Isabella profitierte davon, wurde sie doch unmittelbar mit Isabella I. verglichen – beide hätten ihre Juwelen versetzt, um Spanien zum Erfolg zu verhelfen. Doch im Zentrum der Imagekampagne,

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die O’Donnell für Isabella inszenierte, standen ganz zivile Elemente: Sie reiste in die verschiedenen Provinzen der Monarchie und kleidete ihre Kinder in die Trachten der Regionen. Die ostentative Großzügigkeit gegenüber Armen und Kranken, die sie dabei zeigte, sollte die spanische Krone als „soziale Monarchie“ erscheinen lassen und unterstrich den Anspruch, für alle Untertanen da zu sein. Dass die Monarchin die Reisen unternahm, um Infrastrukturprojekte zu unterstützen, etwa Eisenbahnstrecken, oder um Fabriken und Kanäle zu eröffnen, ließ die Monarchie modern erscheinen – eine Botschaft, die schon dadurch verstärkt wurde, dass ein britischer Fotograf die Reisen begleitete und für die Verbreitung der entsprechenden Bilder sorgte. Die Anklänge an die Reisen, die Queen Victoria quer durch ihr Land unternahm, waren keineswegs zufällig. Die Popularitätsgewinne für Isabella waren mit den Händen zu greifen – aber nicht von Dauer, schon weil 1863 der Ministerpräsident zurücktrat. Das Bild der über allen Fraktionen stehenden Monarchin, deren Herz allen Untertanen gehörte, implodierte, als ihr Zug 1866 bei einer der Reisen in die Provinz einige der Schaulustigen überrollte, ohne dass die Monarchin davon Kenntnis nahm. Die Kondolenzbekundung für die Toten auf der Rückreise kam zu spät.

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Die wachsende Unzufriedenheit mit der Regierung des Konservativen Narváez schlug sich in der Zunahme von Unruhen nieder. Dass Narváez seinerseits diese Aufstände umstandslos niederschlagen ließ, heizte die Konfliktdynamik nur an. Die Nähe von Narváez und Isabella wurde konterkariert durch die Verbindungen, die María Cristina und Fernando Muñoz zu den Progressisten aufnahmen. Letztere in eine Regierung einzubinden, hielten die beiden für die einzige Möglichkeit, um eine neuerliche Revolution aufzuhalten. Diese ungewöhnliche Eintracht mit den Progressisten führte dazu, dass ihnen die Einreise nach Spanien nicht länger verwehrt wurde. 1867 kehrte María Cristina abermals nach Madrid zurück. Der Hass der Progressisten hatte sich inzwischen gänzlich auf Sor Patrocinio und Padre Claret verlagert. Mehr und mehr aber war auch Isabella in den Fokus der Kritik geraten. Warnende Worte waren schon 1865 von Emilio Castelar gekommen, einem Geschichtsprofessor, der wegen kritischer Artikel im März jenes Jahres von der Regierung Narváez entlassen worden war, was zu blutig niedergeschlagenen Studentenprotesten geführt hatte. Im Juni 1865 erschien in

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der Zeitung La Democracia ein offenbar von Castelar verfasster Artikel unter der Überschrift „Der Fall von Marie Antoinette“.14 So wie die französische Königin ihrerseits am Ende ihres Lebens Opfer einer Delegitimierungskampagne geworden war, so ergoss sich analog in den nächsten Jahren über Isabella ein politpornographischer Shitstorm. In Texten und Bildern wurden – aus Sicht der Liberalen – der Königin drei kapitale Fehlhaltungen vorgeworfen, mit denen sie sämtlichen Kredit verspielt habe: falsches Denken, falsches Handeln und falsches Fühlen. Anstatt dem aufklärerischen Projekt treu zu bleiben, sei sie einem vormodernen Klerikalismus verfallen; anstatt alle an der Politik teilhaben zu lassen, stehe sie für brutale Repression, und anstatt den bürgerlichen Rollenerwartungen an ein nicht zuletzt genderspezifisches Emotionsmanagement zu genügen, sei sie unfähig zu einer sittlichen Liebesbeziehung und stattdessen sexuell enthemmt. Die repressive Brutalität zeigte sich nach der Niederschlagung eines militärischen Putschversuchs im Juni 1866. Isabella, die sonst so großzügig Begnadigungen ausgesprochen hatte, beharrte jetzt darauf, dass die 87 Todesurteile allesamt vollstreckt wurden. Ihr damaliger Regierungschef prophezeite, dass das vergossene Blut bis zu ihrem Balkon aufsteigen und sie ertränken werde.15 Die hartherzige Repression kostete Isabella die letzten Sympathien unter den Militärs. Die im Bürgertum offenbar noch wirksamere Diskreditierung setzte an ihrem sexuellen Fehlverhalten an, wobei sich Moralkritik und Antiklerikalismus verbanden. In zahlreichen Visualisierungen verdichtete sich der Vorwurf von maßloser Repression, emotional-sexueller Haltlosigkeit und klerikaler Abhängigkeit. Die heftigste Bildkritik kam in den Aquarellen zum Ausdruck, die um 1868/1869 von den Brüdern Gustavo Adolfo und Valeriano Bécquer verbreitet wurden.16 Wenn auch schon in der Frühen Neuzeit politischen Frauen mit Mitteln pornographischer Darstellungen zugesetzt worden ist, so gipfelten die Bilder hier doch in einer einzigartigen Drastik, die nirgendwo auf der Welt ihresgleichen fand. Isabella wurde dargestellt als willenlose, krankhaft-perverse Femme fatale, die ausschließlich von ihrem „furor uterino“17 getrieben war und – ähnlich wie die Ordensfrau Sor Patrocinio – hemmungslos mit den Männern aus Hof und Politik kopulierte, die mit erigiertem Glied Schlange standen. Mit einem solchen Verhalten aber habe Isabella – so der implizite Vorwurf – die Monarchie entehrt und die eigenen Ansprüche auf den Thron verwirkt. Progressisten und Moderados waren sich einig in der Überzeugung, dass es nicht mehr genüge, nur die Person zu entfernen: Isabellas Verhalten habe die gesamte Dynastie diskreditiert. So richtete sich auch die Bilderserie der Brüder Bécquer

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Abb. 21: Politpornographische Darstellung aus der Sammlung Los Borbones en pelota, Aquarelle von 1868 der Brüder Valeriano und Gustavo Adolfo Bécquer.

gegen „die Bourbonen“. Salustiano de Olózaga, der seit seiner Demütigung 1843 zur Galionsfigur des antidynastischen Kampfes geworden war, warnte jetzt vor der „lepra borbónica“.18 Auch der ehemalige Gesandte Preußens in Madrid, Georg von Werthern, war sich schon im Februar 1867 sicher: „Alles deutet darauf hin, dass es mit den Bourbons zu Ende geht.“19 Weder Narváez noch O’Donnell konnten noch vermittelnd eingreifen: Beide waren innerhalb weniger Monate um die Jahreswende 1867/68 gestorben. Die Führung im Lager der Unión Liberal übernahm nun General Serrano, der ehemalige Liebhaber Isabellas. Die Revolution war nicht mehr aufzuhalten: Im September 1868 vollzog sich die „Glorreiche Revolution“. Korrespondierend zur Delegitimierungskampagne veröffentlichten die Militärs, die sich jetzt gegen die Königin erhoben, eine Proklamation mit dem Titel: „Es lebe ein Spanien mit Ehre“ (Viva España con honra). Isabella, die mit Hof und Familie gerade im Baskenland Urlaub machte, war angesichts der Übermacht der Aufständischen gezwungen, nach Frankreich zu

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fliehen, aber nicht ohne dass man ihr am Grenzübergang noch einmal die Nationalhymne, die Marcha Real, spielte und ihr Gelegenheit gab zu versichern, dass sie ihren Thronrechten nicht abschwören würde. Von Frankreich aus ließ sie in den Blättern der europäischen Presse einen Aufruf veröffentlichen, der den Aufständischen vorwarf, „die Interessen der Religion, die Grundlagen der Gesetzlichkeit und des Rechts und die […] Ehre Spaniens in Gefahr“ zu bringen. Sie sehe sich in ihrem „Stolz als Spanierin“ und in ihrer „Würde als Königin“ verletzt.20 „Vernunft und Ehre“ seien in Spanien – hoffentlich nur temporär – verfinstert. In aller Deutlichkeit bestritt sie die Rechtmäßigkeit der Erhebung und forderte die Spanier auf: „Lasset den revolutionären Taumel.“21 Grundsätzlich sei sie überzeugt, dass „die Monarchie von fünfzehnhundert Jahren“ nicht innerhalb von vierzehn Tagen untergehen könne. Doch ihr Aufruf verhallte ungehört. Zumindest mit Isabella gab es keine Zukunft der Monarchie in Spanien mehr. Vielmehr machte sich die spanische Übergangsregierung daran, nach einem neuen Monarchen im Ausland Ausschau zu halten. Als sich im Juni 1870 Gerüchte verbreiteten, dass die spanischen Politiker mit Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen handelseinig geworden seien, erkannte Isabella, dass nun wirklich nicht nur für die eigenen Ansprüche Gefahr drohte, sondern auch für die ihres Sohnes. Jetzt suchte sie die Flucht nach vorn und dankte offiziell zugunsten ihres Sohnes Alfons ab. Wie sehr die Nachbeben des Sturzes von Isabella die europäische Stabilität erschütterten, zeigte sich an den Folgen des Thronangebots an den Hohenzollernprinzen: Die Offerte mündete – obgleich der Thronkandidat rechtzeitig verzichtete – in den deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Die französische Regierung hielt die spanisch-preußische Absprache für eine Herausforderung nicht nur der eigenen Interessen, sondern auch der nationalen Ehre, was sie schließlich mit der Kriegserklärung quittierte. Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs, das aus dem deutsch-französischen Krieg hervorging, ist somit auch eine Folge des Scheiterns von Isabellas Monarchie. Noch während des Krieges fiel die Entscheidung in Madrid zugunsten eines italienischen Kandidaten: Amadeus von Savoyen wurde Anfang 1871 als König von Spanien auf die neue Verfassung von 1869 vereidigt. Nach zwei Jahren jedoch, in denen das Land erneut von einem Karlistenkrieg heimgesucht wurde, vor dem finanziellen Bankrott stand und durch politische Flügelkämpfe gelähmt schien, verzichtete Amadeus auf die Krone und trat zurück. Nun wurde 1873 in Spanien die Erste Republik ausgerufen. Jetzt bot sich die Chance, eine republikanische Verfassung zu erarbeiten und das Land föderalistisch neu

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zu strukturieren. Doch die Konflikte, denen die Politiker entgegentreten mussten, waren zu viele: Zum Karlistenkrieg gesellte sich der Unabhängigkeitskrieg auf Kuba, und im Süden der Iberischen Halbinsel stellten anarchistisch-föderalistische Gruppierungen, die sogenannten Kantonalisten, flächendeckend das Gewaltmonopol des Staates in Frage. Angesichts der ungeordneten Verhältnisse in der jungen Republik sahen die Monarchisten neue Chancen. Um einem karlistischen Coup zuvorzukommen, beschlossen Konservative um den Politiker Antonio Cánovas del Castillo, die Bourbonen-Dynastie durch einen Putsch im Jahr 1874 wieder einzusetzen. Nicht eine Sekunde wurde dabei an Isabella gedacht. Vielmehr richteten sich die Hoffnungen auf ihren Sohn, wobei Cánovas Sorge für eine größtmögliche Distanz zwischen Alfons und seiner Mutter trug. Um den Thronfolger zu einem „Soldatenkönig“ (Rey soldado) zu formen, wurde Alfons ins britische Sandhurst auf die Militärakademie geschickt. Zu Isabellas großer Enttäuschung blieb Cánovas unbeugsam: Ein Umzug nach Madrid wurde ihr selbst nicht genehmigt, allenfalls ein kurzer Besuch bei ihrer Schwester in Sevilla. So verbrachte Isabella die verbleibenden dreißig Jahre ihres Lebens weitgehend monoton in einem „Kastilien“ genannten Palast in Paris. Ihre Gesellschaft beschränkte sich auf ihre Töchter und – wechselnde – Partner. Von ihrem Mann hatte sie sich unmittelbar nach Ankunft im französischen Exil zunächst räumlich und dann durch eine offizielle Ehescheidung getrennt. Dabei hatte gerade Francisco de Asís sich vehement gegen eine Abdankung ausgesprochen, weil sich durch Abdankung und Scheidung auch seine Stellung schlagartig verschlechterte. Diejenigen, die Isabellas Leben bisher bestimmt hatten, waren nach und nach gestorben: Padre Claret, Fernando Muñoz, María Cristina. Als Isabella im Alter von 73 Jahren am 9. April 1904 starb, eilte der Enkel, Alfons XII., nicht an das Totenbett. Der Sarg wurde unmittelbar zum Pantheon der Könige in den Escorial überführt. Noch hundert Jahre später, als eine Ausstellung in Madrid der Königin Isabella II. gedachte, blieben die Mitglieder des Königshauses der Eröffnungsfeier fern. Heute, wo das Königshaus mit Finanz- und Sexskandalen konfrontiert ist, dürfte es noch weniger opportun sein, in die Nähe einer Königin gerückt zu werden, die im 19. Jahrhundert das gesamte symbolische Kapital der spanischen Monarchie verspielt hatte. Dabei ist das Scheitern Isabellas eben nicht nur persönlichen, sondern vor allem strukturellen Defiziten des damaligen Konstitutionalismus anzulasten wie auch der mangelnden Gemeinwohlorientierung und Kompromissbereitschaft der meisten politischen Akteure, die die Monarchin umgaben.

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Weiterführende Literatur Aschmann, Birgit: Charisma der Königin? Isabella II. und die Krise der spanischen Monarchie, in: Witthaus, Jan-Henrik/Eser, Patrick (Hg.): Machthaber der Moderne. Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit, Bielefeld 2016, S. 147–179. Aschmann, Birgit: Die zwei Körper der Königin. Isabella II. von Spanien und das doppelte Zerwürfnis in Ehe und Nation, in: Gelz, Andreas/Hüser, Dietmar/Ruß-Sattar, Sabine (Hg.): Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin/Boston 2014, S. 79–106. Aschmann, Birgit: Jenseits der Norm? Die spanische Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Wildt, Michael (Hg.): Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute, Göttingen 2014, S. 81–99. Brennecke, Christiana: Von Cádiz nach London. Spanischer Liberalismus im Spannungsfeld von nationaler Selbstbestimmung, Internationalität und Exil (1820–1833), Göttingen 2010. Burdiel, Isabel (Hg.): La política en el reinado de Isabel II, Madrid 1998. Burdiel, Isabel: Isabel II. Un perfil inacabado, in: Dies. (Hg.): La política en el reinado de Isabel II, Madrid 1998, S. 187–216. Martí Gilabert, Francisco: Iglesia y estado en el reinado de Isabel II, Pamplona 1996. Mücke, Ulrich: Gegen Aufklärung und Revolution. Die Entstehung konservativen Denkens in der iberischen Welt (1770–1840), Köln 2008. Pando Fernández, Manuel Marqués de Miraflores: Memorias del Reinado de Isabel II., 3 Bde., Madrid 1964. Perez Garzón, Juan Sisinio (Hg.): Isabel II. Los espejos de la reina, Madrid 2004. Pérez Ledesma, Manuel/Burdiel, Isabel (Hg.): Liberales eminentes, Madrid 2008. Rueda, Hernanz Germán: Isabel II., Madrid 2001. Sánchez, Raquel: Románticos españoles. Protagonistas de una época, Madrid 2006.

Anmerkungen 1 2

3 4 5

Zitiert in: Isabel Burdiel: Isabel II. Una biografía (1830–1904), Madrid 2. Aufl. 2011, S. 838. „Un heredero, aunque hembra“, vgl. Cambronero: Isabel II, íntima. Apuntes históricos y anecdóticos de su vida y de su época, Barcelona 1908, zitiert in: Isabel Burdiel: Isabel II. No se puede reinar inocentemente, Madrid 2004, S. 25. Santos Juliá: Historias de las dos Españas, Madrid 2004. Vgl. Adrian Shubert: Espartero, el Pacificador, Barcelona 2018. So Salustiano Olózaga gegenüber der Gräfin; zitiert in: Isabel Burdiel: Isabel II. Un perfil inacabado, in: Dies. (Hg.): La política en el reinado de Isabel II, Madrid 1998, S. 187–216, S. 199.

Anmerkungen 6

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Zitiert in: Martin Baumeister: Isabella II. (1833–1868), in: Walther L. Bernecker/ Carlos Collado Seidel (Hg.): Die spanischen Könige, München 1997, S. 224–243, S. 229. 7 So in den Cortes am 26.10.1843, zitiert in: Jorge Vilches: Isabel II. Imágenes de una reina, Madrid 2007, S. 31. 8 Zitiert in ebd., S. 33, vgl. u. a. die progressistische Zeitung Eco del Comercio, 11.11.1843. 9 So Isabel Burdiel: The Queen, the Woman and the Middle Class. The Symbolic ­Failure of Isabel II of Spain, in: Social History 29 (2004), S. 301–319, S. 304. 10 Vilches, Isabel II, S. 95. 11 Baumeister, Isabella II., S. 233. 12 Nicht zuletzt Juan Donoso Cortés benutzte diese Begrifflichkeit immer wieder, vgl. Burdiel, Isabel II, 2011, S. 189. 13 Burdiel, Isabel II, 2011, S. 224. 14 „La caída de María Antonieta“, in: La Democracia, 6.6.1865; zitiert in: Vilches, Isabel II, S. 227. 15 Vgl. Vilches, Isabel II, S. 237. 16 Die 89 Aquarelle wurden erstmals 1991 unter dem Pseudonym SEM vom Verlag El Museo Universal veröffentlicht und befinden sich heute in den Beständen der Biblioteca Nacional in Madrid; vgl. SEM: Los borbones en pelota [Valeriano Bécquer und Gustavo Adolfo Bécquer], hg. von Robert Pageard, Lee Fontanella und María Dolores Cabra Loredo, Madrid 1991. Zur Protektion der Brüder durch die Moderados vgl. Robert Pageard: Reflexiones sobre las acuarelas secretas de los hermanos Bécquer, in: Ebd., S. 13–20, S. 19. 17 So noch die Darstellungen des Literaten Ramón María del Valle-Inclán: La corte de los milagros, Madrid 1927. Vgl. Auch Vilches, Isabel II, S. 339. 18 Vgl. Isabel Burdiel: Salustiano de Olózaga: La res más brava del progresismo, in: Manuel Pérez Ledesma/Isabel Burdiel (Hg.): Liberales eminentes, Madrid 2008, S. 77– 124, S. 77. 19 Schreiben des Gesandten von Werthern, Berlin, an die Prinzessin Karl vom 4.2.1867, in: Josef Becker (Hg.): Bismarcks spanische „Diversion“ 1870 und der preußisch deutsche Reichsgründungskrieg, Bd. I. Der Weg zum spanischen Thronangebot (Spätjahr 1866–4. April 1870), Paderborn u. a. 2003, S. 3. 20 Aufruf vom 30.9.1868 in: Berliner Abendblätter, 6.10.1868; in: PAAA R 11656 I. 21 Ebd.

16. José Ortega y Gasset (1883–1955) Ein spanischer Intellektueller und die europäische Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts

„Wenn ich einmal sterbe“, schrieb 1905 der 23 Jahre alte Student aus dem Marburger Auslandssemester seiner Verlobten, „dann hoffe ich, dass mein Leben eine tiefe, fruchtbringende Furche in der Geschichte Spaniens hinterlassen wird.“1 Nicht erst an den Nachrufen in den internationalen Feuilletons ließ sich erkennen, wie sehr der Wunsch des jungen Ortega y Gasset in Erfüllung gegangen war. Schon zu Lebzeiten galt er als einer der bedeutendsten Zeitkritiker des 20. Jahrhunderts, als einer der „einflussreichsten Exponenten des europäischen Geisteslebens“.2 Gerade deutsche Stimmen artikulierten immer wieder eine immense Wertschätzung. Der deutsche Botschafter in Madrid beteuerte 1955, dass mit Ortegas Tod „ein unersetzliches Stück Deutschland in Spanien“3 dahingegangen sei. Doch bezeichnenderweise nahm die Bewunderung für den spanischen Philosophen in Deutschland ganz andere Dimensionen an als innerhalb Spaniens. Während sich die deutschen Journalisten in den Nachkriegsjahren sicher waren, dass „sein Name […] für Spanien Ehre, Ansehen und Ruhm“4 bedeute, war Ortega y Gasset sowohl im Franco-Regime als auch unter den Exilspaniern umstritten. Unstrittig aber war, dass er eine intellektuelle Ausnahmeerscheinung war, der es wie kaum einem anderen in Rede und Schrift gelungen war, große Teile des Bildungsbürgertums im In- und Ausland zu faszinieren. Dabei war es innerhalb Spaniens nicht allein das geisteswissenschaftliche Wirken Ortegas, das ihn in die Zeitgeschichte einschrieb. Darüber hinaus vermochte er in seinen Werken zugleich die politische und gesellschaftliche Situation der Intellektuellen Spaniens zu spiegeln und mischte sich schließlich als Intellektueller mit dem Vorhaben, die spanische Gesellschaft zu verändern, in die Politik des Landes ein. Die Lage Spaniens, schrieb er mehrfach, zwinge eben zur politischen Aktion. In mancher Hinsicht ist seine Vita die melancholische Geschichte eines Scheiterns. Aber so wie die europäische Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne Ortegas Hauptwerk, „Der Aufstand der Massen“, nicht erzählt werden kann, so ist der Einfluss Ortegas auf die spanische Kultur schon durch die immense Vermittlung europäischer Literatur nicht hoch genug einzuschätzen. Eine „Intellectual history“ Europas, die die Transferbezüge zwischen den Ländern West-

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Abb. 22: José Ortega y Gasset in Aspen (USA), 1948.

europas im 20. Jahrhundert aufspüren möchte, wird jedenfalls auf den Namen Ortega nicht verzichten können.

„Auf einer Rotationsmaschine“: Die Sozialisation in einer Intellektuellenfamilie

Am 9. Mai 1883 wurde José Ortega y Gasset geboren – „auf einer Rotationsmaschine“5 wie er selbst sagte, um die intensive Verbindung seiner Familie zum Zeitungswesen anzudeuten. Sein Großvater mütterlicherseits hatte 1867 El Impar­ cial gegründet, die lange Zeit angesehenste spanische Tageszeitung mit dezidiert liberaler Ausrichtung. Nach dem Tod des Gründers übernahm der jüngere Sohn, Rafael Gasset, die Herausgeberschaft, bis er 1900 ein Ministeramt annahm und die Leitung der Zeitung nunmehr seinem Schwager, Ortegas Vater, übertrug. José Ortega Munilla, Ortegas Vater, war literarisch interessiert und zunächst für den Literaturteil der Zeitung verantwortlich gewesen, bevor er die Tochter des Herausgebers kennengelernt und geheiratet hatte. Neben dem journalistischen Alltagsgeschäft und seinen kulturellen Interessen, die 1902 durch die Wahl in die Real Academia Española gewürdigt wurden, engagierte auch er sich als Abgeordneter in der Politik. Gesprächspartner aus allen diesen Kontexten, Schrift-

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steller, Journalisten und Politiker, waren regelmäßig Gäste in seinem Haus.6 In diesem Umfeld wuchs José Ortega y Gasset auf. Das Interesse an der spanischen Kultur, die spätere Präferenz, sich in journalistischen Texten zu artikulieren, und der Wille, auf die spanische Politik Einfluss zu nehmen, dürften mit diesen frühen Erfahrungen zu tun haben. Der religiöse Glaube der Mutter hingegen vermochte den Sohn weniger zu prägen. Letztlich erwies sich die Entscheidung, José zusammen mit dem älteren Bruder Eduardo auf ein Jesuiteninternat zu schicken, im Sinne einer religiösen Sozialisation als kontraproduktiv. Nach Grundschuljahren im Escorial und in Córdoba, wo die Familie wegen eines Herzleidens der Mutter einige Zeit im Haus von Verwandten lebte, hatten sich die Eltern entschlossen, den neunjährigen José und den älteren Bruder Eduardo auf die Schule San Estanislao de Kostka in Miraflores del Palo bei Málaga zu schicken. Die Jesuitenschule in Madrid war offenbar deshalb keine Alternative, weil die Kinder nicht den dort gängigen Polemiken gegen die laizistische Ausrichtung des Imparcial ausgesetzt werden sollten. Doch die Realität am andalusischen Internat entsprach nicht den hohen Erwartungen an eine jesuitische Schulbildung. Anstatt intellektueller Auseinandersetzung blieb Ortega nur ritualisierte Frömmigkeit und inhaltslose Disziplinerziehung in Erinnerung, was seine spätere Distanz gegenüber religiösen Praktiken im Allgemeinen und den Jesuiten im Besonderen mitbegründete. Gleichwohl nahm er nach dem Abitur 1897 das Studium von Philosophie und Jura zunächst an der Jesuitenhochschule Deusto in Bilbao auf, bevor er schließlich die letzten Jahre an der Universidad Central von Madrid, der späteren Complutense, studierte. Nach dem Abschluss 1902 verdiente er zunächst mit Literaturunterricht an zwei Madrider Schulen etwas Geld, was er weitgehend in den Erwerb von Büchern investierte. Die Lektüre war Teil eines sich selbst auferlegten Bildungsprogramms, mit dem er sich die Denkhorizonte „Europas“ erschließen wollte, was für ihn bedeutete, die deutsche, französische und britische Literatur – zumeist noch in spanischen Übersetzungen – zu rezipieren. So las er Honoré de Balzac, Stendhal, Émile Zola, François-René de Chateaubriand, Ernest Renan, Maurice Barrès, William Shakespeare, Thomas Carlyle, Charles Darwin, Johann Wolfgang von Goethe, Arthur Schopenhauer und vor allem Friedrich Nietzsche. Dieses intensive und breitangelegte Lektürepensum gehörte zu seinem bereits im Alter von 19 Jahren entwickelten Plan, in den nächsten Jahren zu einem der gebildetsten Spanier zu werden, der auf der Basis eines festen Bildungsfundaments dazu beitragen könne, Spanien zu verändern.7 Als Orientierungsmarke,

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als Leuchtturm wollte er der spanischen Gesellschaft in deren Genesungsprozess behilflich sein, und so hießen keineswegs zufällig einige der von ihm gegründeten Zeitschriften Faro (Leuchtturm), Sol (Sonne) oder Luz (Licht).

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Dabei lässt sich der Plan des jungen Ortega nur angemessen verstehen vor dem Hintergrund der spanischen Politik- und Bildungsgeschichte, schließlich spiegeln sich darin die Grundelemente des Krausismo und die Überzeugungen der „Generation 98“. Mit letzterer ist jene Gruppe von Intellektuellen gemeint, die sich nach dem Verlust von Spaniens letzten Kolonien Kuba, Puerto Rico und den Philippinen infolge des verlorenen Krieges gegen die USA 1898 mit der Frage auseinandersetzte, wie sich Spanien wieder „regenerieren“ könne. Diejenigen, die wie Joaquín Costa jetzt darauf setzten, Spanien zu „europäisieren“, konnten auf Strömungen zurückgreifen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Spanien auf eine Bildungsreform gesetzt hatten. Diese Impulse gingen zurück auf die spanische Rezeption des deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause, dessen „Urbild der Menschheit“ (1811) im Jahre 1860 auf Spanisch erschienen war. Das dort beschriebene Humanitätsideal schien einigen Intellektuellen Spaniens mit den Mitteln kirchlicher Doktrinen nicht zu erreichen zu sein, so dass sie außerhalb des religiös geprägten Bildungssektors mit der Institución Libre de Enseñanza eine Institution ins Leben riefen, die sich einer breiten, säkularen Schul- und Hochschulbildung verpflichtet fühlte. Diese allgemein hohe Wertschätzung von Bildung ist der Kontext, in dessen Rahmen Ortega seine jetzigen Ziele formulierte. Dabei zeichnete er sich früh durch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein bezüglich seiner eigenen Rolle bei der Regenera­ ción Spaniens aus. Daran, dass die erwünschte und notwendige Bildung nicht von spanischen Politikern und nicht einmal anderen spanischen Wissenschaftlern zu erwarten wäre, hatte er keinen Zweifel: Die Apologie auswärtiger Wissenschaft ging einher mit seiner scharfen Kritik an spanischen Intellektuellen und am Zustand des heimischen Bildungsbetriebs. Insoweit lag es nahe, dass er nach seiner Promotion 1904 nach Deutschland reiste, jenem Land, das nicht zuletzt durch den Krausismo von den spanischen Akademikern besonders geschätzt wurde. Aus den Briefen, die er in die Heimat schrieb, wird deutlich, dass ihn die Reise ins winterliche Deutschland erst einmal desillusionierte und wie dicht Hybris und Selbstzweifel beieinanderlagen. Er, der sich schon als der

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José Ortega y Gasset (1883–1955)

ganz große Reformer Spaniens gewähnt hatte, fühlte sich plötzlich als „ein Etwas ohne jede Bedeutung“.8 Leipzig, wo er von Februar bis Oktober 1905 lebte, kam ihm überaus hässlich vor, und Kontakte schloss er so gut wie keine, schon gar nicht zu deutschen Intellektuellen – wenn man davon absieht, dass er Psychologievorlesungen bei Wilhelm Wundt hörte, den er zwischenzeitlich bereit war, für den bedeutendsten Philosophen im gegenwärtigen Europa zu halten.9 Zum Wintersemester wechselte er nach Berlin, motiviert offenbar durch den Umzug einer befreundeten spanischen Familie. Hier beeindruckte ihn Georg Simmel, dessen Soziologie Ortega lebenslang inspirierte und dessen Rat er beherzigte: Wer sich für Kant interessiere, solle sich an Hermann Cohen halten. Kant aber beschäftigte Ortega in besonderem Maße, hatte er sich doch vorgenommen, der Spanier mit der besten Kant-Expertise zu werden; er rühmte sich schon jetzt, Kant auf Deutsch lesen zu können wie sonst keiner seiner Landsleute.10 Tatsächlich hatten die ersten beiden Semester in Leipzig und Berlin vor allem dem Spracherwerb gedient. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie trat erst im Herbst 1906 in ihre entscheidende Phase. Nachdem es ihm gelungen war, ein Stipendium für einen weiteren Auslandsaufenthalt zu erhalten, reiste er im Oktober 1906 nach Marburg, um jetzt ein weiteres Jahr bei Hermann Cohen Philosophie und bei Paul Natorp Psychologie und Pädagogik zu studieren, beziehungsweise mit ihnen zu diskutieren.11 Stolz berichtete er nach Hause, dass Hermann Cohen ihm bescheinigt hatte, klüger zu sein als all die armen Tölpel, die ihn sonst umgäben.12 Sowohl der Neukantianismus der Marburger Schule als auch die Sozialpädagogik von Paul Natorp, deren Verständnis von Erziehung als Instrument gesellschaftlich-politischen Handelns den Überzeugungen des spanischen Krausismo so sehr entsprach, wurden wegweisend für Ortega. Dass und wie sich Philosophen politisch engagieren sollten, nahm er ebenfalls aus Marburg mit. Analog zu Cohen und Natorp bekannte auch er sich nunmehr zur Arbeiterbewegung: Die Synthese von Politik und Philosophie, schrieb er 1907, liege im Sozialismus.13 Damit ging er zum Liberalismus auf Distanz, den der Imparcial nach wie vor dezidiert unterstützte, was Ortega nicht davon abhielt, in den Beiträgen just dieser Zeitung gegen den spanischen Liberalismus zu wettern. Er hielt ihn für überlebt. „Ich glaube“, schrieb er, „dass der aktuelle Liberalismus notwendigerweise ein Sozialismus sein muss.“ Ein Liberalismo socialista sei das Ziel. Dabei sah er seine eigene Zukunft nicht innerhalb der sozialistischen Partei, der es in Spanien erst 1910 erstmals gelingen sollte, einen Abgeordneten ins Parlament zu senden. Ohnehin stimmten seine Vorstellungen nur höchst begrenzt mit den politisch organisierten Sozialisten überein. So bezeichnete er

„Ich und meine Umstände“: Der politische Philosoph

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sich selbst als „heterodoxen Sozialisten“14 und bezog Stellung sowohl gegen den in spanischen Linksparteien verbreiteten Antiklerikalismus als auch gegen den Marxismus. Unter einer idealen sozialistischen Partei verstand er eine „Partei der Europäisierung Spaniens“, welche die Ansicht vertrete, dass alle Menschen über die Kultur in die Lage versetzt werden müssten, wahre Menschen zu werden.15 Entsprechend erklärte er es zu seiner Pflicht, eine Kulturpartei („partido de la cultura“) zu gründen. Dafür warb er in Faro, der von ihm 1908 gegründeten Zeitschrift, in der sich die Intellektuellen der Generation 98, Miguel de Unamuno, Ramiro de Maeztu und Pérez de Ayala, gemäß Ortegas Ziel engagierten: Die Kulturelite des Landes sollte zur Erzieherin des Volkes werden.16 „Die Sozialpädagogik als politisches Programm“ lautete ein Vortragstitel aus dem Jahre 1910.17 Er selbst nutzte zudem seine Lehrtätigkeit, um auf die jüngere Generation einzuwirken. Seit 1909 war er Professor für Psychologie, Logik und Ethik an der Höheren Schule für das Lehramt an Volksschulen, wo er bis 1912 unterrichtete, obwohl er schon 1910 auf den Lehrstuhl für Metaphysik an der Madrider Zentraluniversität berufen wurde. Vorerst aber trat er diesen nicht an, weil ihm zeitgleich ein Stipendium gewährt worden war, welches ihm ermöglichte, in Begleitung von Rosa Spottorno, die er nach langer Verlobungszeit 1910 geheiratet hatte, ein drittes Jahr (1911) in Deutschland zu verbringen. Im Mai wurde in Deutschland ihr erstes Kind geboren: Miguel Germán, benannt nach Cervantes (wobei Ortega die Anklänge an den „deutschen Michel“ gern akzeptierte) und dem Tagesheiligen Hermann. Daraus spricht nicht zuletzt die Begeisterung, die ihn zunächst für die deutsche Kultur erfüllte, aus der er so viele Anregungen wie möglich nach Spanien mitnehmen wollte. Er sei, schrieb er retrospektiv, eine „keltiberische Flamme gewesen, die im deutschen Universitätsleben vor Begeisterung“ gebrannt habe, wovon er etwas „Lebendiges, Fleischiges“ für die „spanische Schlossruine“ 18 habe heimholen wollen.

„Ich und meine Umstände“: Der politische Philosoph

Dabei klangen in Ortegas damaligen Berichten bereits durchaus auch kritische Töne gegenüber seinem Gastland an; auch die Schwerpunkte in der Philosophie hatten sich leicht verschoben: Nunmehr faszinierte ihn insbesondere die Phänomenologie Husserls, dessen Philosophie helfe, wahrhaft die Dinge zu sehen und sich nicht mit den Fragen nach der Wahrnehmung und der Subjektivität zu begnügen, die den Neukantianismus prägten. Den Neukantianismus hielt er bald

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für die Lehre der Vergangenheit, die Phänomenologie für die der Gegenwart. Beides unterrichtete er in Madrid, nachdem er im Dezember 1911 von Marburg Abschied nehmen musste. Dabei begann er schließlich, aus der Kombination von Neukantianismus und Phänomenologie eigene Positionen zu entwickeln, die zu seiner spezifischen Lebensphilosophie führen sollten, die er selbstbewusst für die Philosophie der Zukunft hielt. Seine Einsichten, die er als Philosoph und Kulturkritiker in der Auseinandersetzung mit dem Idealismus und Materialismus zum einen und der spanischen Politik zum anderen gewonnen hatte, formulierte er in seinem ersten, 1914 veröffentlichten Buch: Las Meditaciones del Quijote. In diesem Buch sind bereits zentrale Grundelemente von Ortegas Philosophie zu erkennen: Mit der berühmten Synthese: „Ich bin ich und meine Umstände“ (Yo soy yo y mi circunstancia)19 bekannte er sich zu Historizität und Kontingenz. Zugleich warb er für ein antiutilitaristisches Heldentum gerade angesichts des „Schiffbruchs“, welchen – bei einem Verzicht auf jegliche transzendentale Vertröstung – das Leben von Beginn an darstelle. Zugleich führte er aus, dass es der Liebe als fortwährenden Stimulus der Veränderung bedürfe. Das Werk war entstanden, wie fortan alle Monographien Ortegas entstehen sollten: aus einer Reihe diverser Essays, die zumeist bereits anderweitig abgedruckt waren. Dies erklärt den heterogenen Charakter des Werkes. Neben den verschiedenen theoretischen Ansätzen enthielt es vor allem einen kritischen Blick auf die gegenwärtige Lage Spaniens. Mit der Diagnose, sie sei das Resultat einer Krankheitsgeschichte, übernahm er das seit spätestens 1898 unter spanischen Intellektuellen gängige Niedergangsnarrativ. Gemäß einem Rezensenten profilierte sich Ortega mit dieser Schrift als fundiertester Denker Spaniens und Lehrer der jüngeren Intellektuellen. Es sei das patriotische, wissenschaftliche und ästhetische Idearium einer neuen Generation. Auf diese neue Generation versuchte Ortega in seinen Lehrveranstaltungen und in Gesprächen in der Residencia de Estudiantes, die weniger Studentenwohnheim als vielmehr das zentrale Forum der jungen Intellektuellen in der spanischen Hauptstadt war, einzuwirken. Zeitgleich engagierte Ortega sich in der Politik. Schon 1909 hatte er massive Kritik am System der Restauration geäußert, als es nach den antiklerikalen Ausschreitungen im Rahmen der Semana Trágica in Barcelona zu einem juristisch fragwürdigen Prozess gegen den Anarchisten Francisco Ferrer gekommen war, der schließlich exekutiert worden war, ohne dass ihm eine Mitschuld an der Eskalation von 1909 nachgewiesen werden konnte. Nach der Rückkehr aus Deutschland nahm er 1912 die Kritik an der Regierung erneut auf und spitzte sie

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in den nächsten Jahren immer mehr zu. Zielscheibe seiner Polemik waren zum einen das politische System, das Regierungswechsel durch manipulierte Stimmenmehrheiten sicherte, und zum anderen die beiden Parteien, die konservative und die liberale, die sich in steter Regelmäßigkeit an der Macht ablösten. Doch als die Attacken auch auf die liberale Partei, die er als Störfaktor auf dem Entwicklungsweg Spaniens beschimpft hatte, zunahmen, war er schließlich für den Imparcial nicht mehr tragbar: Im April 1913 kam es zum ersten – vier Jahre später zum definitiven – Bruch mit dem Familienblatt. Das von ihm 1913 verfasste Manifest, das die Gründung einer neuen politischen Gruppierung ankündigte, der Liga de Educación Política (Liga für politische Erziehung), erschien in einer anderen Zeitung. Das Konzept für die neue Gruppierung entsprach Ortegas früheren Vorstellungen von einer „Kulturpartei“, und so befanden sich unter den rund 100 Mitgliedern der Liga zahlreiche Intellektuelle: u. a. Antonio Machado, Ramiro de Maeztu, Américo Castro und Pedro Salinas. Nun probte Ortega sein Charisma als Rhetor auf politischer Bühne. Vor großem Publikum und unter tosendem Beifall rief er im Teatro de la Comedia dazu auf, die „Toten zu töten“, um Spanien wiederzubeleben, auf dass sich ein „gesundes Spanien“ erhebe, „una España vertebrada y en pie“ – aufrecht und mit Rückgrat.20 Hier deutete sich an, was er in einer Artikelserie in der neu gegründeten Zeitschrift El Sol veröffentlichte und was zum Nucleus einer Publikation werden sollte, die 1922 unter dem Titel España invertebrada (Spanien ohne Rückgrat) erschien und in der er seine Auffassung von den politischen Fehlentwicklungen Spaniens noch einmal kondensierte.21 Was 1914 sein Verdikt über die spanische Politik noch bestärkte, war die willkürliche Absetzung Unamunos im August 1914 als Rektor der Universität Salamanca. Auch wenn sich Ortega an Unamuno wegen dessen Tendenz zum Mystizismus in den letzten Jahren massiv abgerieben hatte, führte diese Maßnahme doch zur Solidarisierung mit dem Intellektuellen und einer weiteren Distanzierung von der offiziellen Politik, die bei ihm – wie er schrieb – nur noch Ekel auslöste. Die Empörung wich in den nächsten Jahren jedoch einer plötzlich massiv wachsenden Enttäuschung, und anstelle eines zielstrebigen politischen Engagements zog er sich schließlich vielmehr aus der Politik zurück. Eine Rolle spielte dabei der Erste Weltkrieg, der die spanische Gesellschaft in Aliadófilos (Pro-Alliierte) und Germanófilos (Pro-Deutsche) unterteilte. Auch wenn Ortega zusammen mit seinen intellektuellen Freunden in Spanien Manifeste zugunsten der Alliierten unterzeichnete und der deutschen Politik überaus kritisch gegenüberstand, hielt er doch unbeirrt an der Annahme einer kulturellen Überlegenheit der Deutschen fest. Diese Zwischenposition forcierte seine Überzeugung,

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dass der Intellektuelle zu schweigen habe, wenn erst die Waffen sprächen. Das politische Engagement diverser von ihm verehrter deutscher Wissenschaftler, die sich zu Beginn des Weltkrieges demonstrativ hinter die deutsche Regierung gestellt hatten, bestätigte seine Auffassung von der notwendigen Zurückhaltung der Intellektuellen. Eine weitere Enttäuschung zeichnete sich ab, als der von ihm unterstützte Politiker Melquíades Álvarez sich mit seiner reformistischen Partei als Kooperationspartner der liberalen Partei unter dem Conde de Romanones anbot und damit das Restaurationssystem nicht mehr etwa in Frage stellte, sondern vielmehr stützte. Die Liga de Educación Política, die sich als intellektueller Arm der Partei von Melquíades Álvarez verstanden hatte, löste sich daraufhin auf.

Zwischen Moderne und Tradition: Der „Aufstand der Massen“

Den Ausschlag für Ortegas einstweiligen Rückzug aus der Politik gab letztlich das Scheitern seiner Kandidatur für das spanische Parlament im April 1916. Indem Ortega ein Wahlkreis zugeteilt wurde, der unter der Kuratel desjenigen stand, der die Wahlen leitete, deren Ausgang er als regionaler Kazike beeinflussen konnte, war das Scheitern des Konkurrenten Ortega vorprogrammiert. Aus all den Enttäuschungen wuchs die Bereitschaft, in die Ausführungen zum heroisch-tragischen Scheitern des Don Quijote, den er immer wieder als Metapher Spaniens heranzog, nunmehr Anspielungen auf sich selbst einzuschreiben. Eine zweite Konsequenz war die nunmehrige Konzentration auf seine philosophische Tätigkeit, die sich zum einen in dem schwer zu klassifizierenden Projekt des Espec­ tador niederschlug, einer unregelmäßig erscheinenden Zeitschrift, in der er in mehreren Artikelserien zu Politik und Philosophie Stellung bezog. Zum anderen zeigte sich sein neuer Wunsch nach Systematisierung seines philosophischen Zugangs in den Vorträgen, die Ortega im Herbst 1915 im Zentrum für historische Studien in Madrid sowie jenen, die er im Folgejahr in Buenos Aires hielt. Die Reise nach Argentinien vom Juli 1916 bis Januar 1917 war von weitreichender Bedeutung für die Vita Ortegas, erstens weil er Victoria Ocampo kennenlernte, eine Argentinierin, die auch nach dem Abebben der Leidenschaft für ihn ein lebenslanger intellektueller Referenzpunkt blieb; zweitens weil er hier seine gegen den Darwinismus und Utilitarismus gerichtete vitalistische Philosophie entfaltete und drittens, weil er in den argentinischen oberen Gesellschaftsschichten von einer bisher nicht erlebten Euphorie empfangen und gefeiert wurde, die das ausgeprägte Selbstbewusstsein Ortegas zusätzlich stärkte. Umso ignoranter erschie-

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nen ihm nach der Rückkehr in die Heimat seine Landsleute, die die Triumphe Ortegas in der Neuen Welt kaum zur Kenntnis genommen hatten. Offenbar beeinflusste auch diese individuelle Erfahrung mangelnder Wertschätzung seine Versuche, die spanische Niedergangsgeschichte als Ausdruck einer charakteristischen Missachtung herausragender Persönlichkeiten zu erklären. Darauf basierte seine Massentheorie, die er schon 1914 erstmals skizziert hatte und jetzt entfaltete, um sie schließlich im Laufe der nächsten Jahre zu einer allgemeinen Erklärung abendländischer Fehlentwicklungen auszubauen. Als solche fand sie letztlich Eingang in zwei Artikelserien 1929/30 und wurde 1930 unter dem Titel La rebe­ lión de las masas als Monographie veröffentlicht. Die noch im selben Jahr erschienene deutsche Übersetzung Der Aufstand der Massen wurde zu einem der größten Verkaufserfolge des deutschen Buchmarktes, aber auch in anderen europäischen Ländern und selbst in den USA schlug das Buch ein. Dass Ortegas Name 1934 (und erneut 1951) auf der Kandidatenliste für den Nobelpreis auftauchte, dürfte wohl insbesondere diesem Buch zu verdanken sein. Dabei war das zentrale Argument Frucht der Lektüre von Otto Seecks Geschichte des Untergangs der antiken Welt, dessen erster Band (1865) 1913 in einer Neuauflage erschienen war, die Ortega erworben hatte. In dem Kapitel „Die Ausrottung der Besten“ erläuterte Seeck, wie die Auslöschung derjenigen, die sich „über das Niveau der Mittelmäßigkeit“22 erhoben, sowohl zum geistigen als auch politischen Niedergang der antiken Mächte geführt habe. Die Missgunst der Masse gegenüber der Elite und die daraus folgende negative Selektion, welche Mediokrität und Feigheit fördere, wurden fortan zur zentralen Erklärungsfolie Ortegas für den Niedergang Spaniens. Zugleich aber sei diese Fehlentwicklung keine ausschließlich spanische Erkrankung. Vielmehr liege die Gefahr dem demokratischen Prinzip zugrunde, welches der Mittelmäßigkeit der Mehrheit politisches Gewicht verleihe. Wenn Ortega von der „Democracia morbosa“23 (krankhafte Demokratie) schrieb, artikulierte sich ein Unbehagen gegenüber Mehrheitsentscheidungen, das typisch war für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich manifestiert sich hier die Janusköpfigkeit Ortegas, der mit Beobachtungen der Gegenwart brillierte und manches Zukünftige richtig voraussah, aber zugleich doch auch tief im 19. Jahrhundert verwurzelt blieb. Nirgendwo wurde das so deutlich wie in seinen essentialistischen Urteilen über „die Frau“, so wenn Ortega über den „Beruf des Weibes“ schwadronierte, der darin bestehe, „der Zauber, die Illusion des Mannes zu sein“. Die Mission der Frau liege – so Ortega – in der „Vervollkommnung des Mannes“.24 Derartige Aussagen interpretierte Ortegas Tochter später ratlos als Ausdruck eines anhaltenden iberischen Machismo.25

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Aber aus dem vergangenen Säkulum rührte auch sein Denken in ständischen Kategorien der Ungleichheit, bzw. sein Beharren auf dem Vorrang einer geistigen Aristokratie als Lösungsweg für spanische und europäische Probleme. Dieses Erbgut des 19. Jahrhunderts ging einher mit einer dezidierten Kritik an dessen kleinbürgerlicher Moral, die in ihrem uninspirierten, an Nützlichkeitskriterien orientierten Krämergeist die wahre Kreativität der Menschen abgewürgt habe. Diesem sei nunmehr mit dem „Imperativ der Vitalität“26 entgegenzutreten. Es sind die verschiedenen Spielformen der Vitalität, mit denen sich Ortega fortan auseinandersetzte und die ihn zu einem Vertreter jener philosophischen Richtung der „Lebensphilosophie“ machten, die „das Leben“ (und nicht mehr die Vernunft) in das Zentrum ihrer Reflexionen stellte. Seine Auseinandersetzung mündete schließlich in das Konzept des Raciovitalismo, der sich zwar nicht von der Rationalität abkehrt, aber um ihre Grenzen weiß und davon ausgeht, dass allen rationalen Erkenntnissen intuitives und irrationales Wissen vorausgelagert sei.27 Politisch führte dies zunächst zur Beschwörung eines „neuen, vitalen Spanien“ basierend auf dem „neuen spanischen Menschen“, bzw. überhaupt „dem neuen Menschen“, welcher sich durch einen neuen Adel auszeichne, durch ein Streben nach Ehre und Ruhm und die Bereitschaft, sich auch ohne unmittelbare Nutzanwendungen zu verausgaben. Verdichtungen dieser Haltung erkannte er einerseits in der emotionalen Verausgabung Liebender (weshalb er Don Juan als vorbildlich rühmt, dessen zweckfreie Leidenschaftlichkeit nur durch mediokre Bürgermoral diskreditiert worden sei) und andererseits im Sport, in dem der ebenso zweckfreie Wettbewerb Energien und Kreativität freisetze. Sport sei daher, so Ortega, nicht nur das zentrale Medium der Kulturschöpfung, sondern auch der Ursprung von Staatlichkeit.28 Die Schnittmengen zum Körper- und Jugendkult der Zeit sind nicht zu übersehen. Diese führten ebenso wie der Wunsch nach radikaler Veränderung der Politik dazu, dass sich bald nicht allein die linken politischen Kräfte, sondern mehr und mehr auch die rechten vom konservativen bis ins faschistische Lager auf Ortega beriefen. Prominente Falangisten wie Giménez Caballero oder José Antonio Primo de Rivera waren unmittelbare Schüler Ortegas. Die Wortführer der Rechten konnten sich dadurch bestärkt sehen, dass Ortega in der Überzeugung, dass die aktuellen politischen Institutionen vernichtet werden müssten, um etwas ganz Neues zu schaffen, zunächst sowohl den Militärputsch von 1917 als auch die Erhebung Primo de Riveras 1923 begrüßte.

Vitale Vernunft: Ortega in der Diktatur Primo de Riveras

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Vitale Vernunft: Ortega in der Diktatur Primo de Riveras

Sein publizistisches und philosophisches Wirken wurde durch die Diktatur Miguel Primo de Riveras (1923–1930) zunächst nicht beeinträchtigt; erst am Ende der 1920er Jahre sollte er sich wieder stärker politisch zu Wort melden. Vorerst konzentrierte er sich auf den Auf- und Ausbau seiner Großprojekte: Vor allem lässt sich in dieser Zeit erkennen, dass der Fokus auf Spanien ergänzt wurde durch einen mehr und mehr globalgeschichtlichen Blick, zu dem er einerseits durch die Lektüre von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, andererseits durch die Schriften des deutschen Ethnologen Leo Frobenius angeregt wurde. Die Erkenntnisse von Frobenius, der sich ohne die sonst gängige eurozentrische Arroganz der Universalgeschichte mit der Entstehung afrikanischer Kulturen beschäftigt hatte, bestärkten ihn in der Auffassung von der Pluralität der Lebenswege und der Relativität der Standpunkte, weshalb es für die philosophische Erklärung der Welt nötig sei, auf jeden normativen Fixpunkt zu verzichten.29 Dabei verband sich die Einsicht von der historischen Bedingtheit allen Seins (Razón histórica) mit der Überzeugung der Gleichberechtigung seiner pluralen Erscheinungsformen. So forderte er eine „historia universal policéntrica“ und für Gegenwartsbeschreibungen die gleichberechtigte Berücksichtigung partikularer Horizonte „wie in einem kubistischen Gemälde“. Diese verschiedenen Perspektiven gelte es zu einer „integralen Wahrheit“ zu verbinden.30 All dies war Teil seines Konzeptes der „vitalen Vernunft“ (Razón vital). Diese Philosophie hielt er für das übergeordnete System, in welchem die Erkenntnisse Einsteins und Heisenbergs aufgingen. Dass Einstein selbst, der 1923 Spanien besuchte und in Begleitung Ortegas Toledo und den Escorial besichtigte, für die philosophische Dimension, die Ortega seinen Entdeckungen beimaß, nur begrenztes Verständnis zeigte, enttäuschte Ortega und bestätigte sein abschätziges Urteil über das Spezialistentum aktueller Wissenschaftler. Ein solches Expertentum ließ sich aber nur vermeiden, wenn die Ergebnisse wissenschaftlichen Forschens zugänglich waren. Um der iberischen Welt diesen Anschluss an die auswärtige Wissenschaftslandschaft zu ermöglichen, rief Ortega zwei Großprojekte ins Leben, die den Vernetzungsgrad der spanischen Intellektuellen mit denen anderer europäischer Länder erheblich intensivierten. Ab 1922 erschienen in der von ihm ins Leben gerufenen Reihe „Bibliothek der Ideen des 20. Jahrhunderts“ (Biblioteca de Ideas del siglo XX) zahlreiche ins Spanische übersetzte Monographien (vor allem deutscher) Geistes- und Naturwissenschaftler: Mehr als 140 deutsche Autoren wurden übersetzt, darunter Johann

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Gottlieb Fichte, Leo Frobenius, Johann Wolfgang von Goethe, Gerhard Hauptmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Heinrich Heine, Edmund Husserl, Carl Gustav Jung, Immanuel Kant, Hermann Keyserling, Theodor Litt, Paul Natorp, Rudolf Otto, Max Scheler, Friedrich Schiller, Arthur Schopenhauer, Georg Simmel, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies. Im darauffolgenden Jahr gründete Ortega die Revista de Occidente, seine fünfte Zeitschrift, die unter Beteiligung der bekanntesten Intellektuellen Spaniens und des Auslandes schnell zur bedeutendsten Zeitschrift der hispanischen Welt avancieren sollte. Sie wurde zum wichtigsten Einfallstor internationaler wissenschaftlicher Diskurse in den spanischsprachigen Raum: So wurden Beiträge von Kafka und Virginia Woolf, Einstein und Heisenberg, Max Scheler und Georg Simmel, Wilhelm Wundt und Karl Mannheim, Karl Vossler und dem Physiker Hermann Weyl hier in spanischer Übersetzung veröffentlicht.

Karriere in Deutschland: Die wegweisende Bekanntschaft mit Helene Weyl

Zugleich machten diese Kontakte Ortega selbst innerhalb der deutschen Intellektuellenzirkel bekannt. Eine Scharnierfunktion besonderer Relevanz übernahm dabei Helene Weyl. Diese war in Begleitung ihres Mannes, der als renommierter Physiker 1923 zu Vorträgen nach Madrid und Barcelona eingeladen worden war, nach Spanien gereist und war bei ihren Besuchen auf die Texte Ortegas aufmerksam gemacht worden. Über ihren Mann händigte Ortega ihr schließlich einige Bücher aus. Daraufhin entwickelte Helene Weyl eine solche Begeisterung für die Schriften des spanischen Philosophen, dass sie begann, diesen zu übersetzen und für die Verbreitung seiner Schriften im deutschsprachigen Raum Sorge zu tragen. Neben dem Romanisten Ernst R. Curtius, der erstmals 1925 in einem Beitrag der „Neuen Rundschau“ auf Ortega aufmerksam gemacht hatte, wurde Helene Weyl zur entscheidenden Multiplikatorin der Werke Ortegas in Deutschland. 1928 hatte sie – neben einigen Essays zuvor – die erste Monographie übersetzt: Die Aufgabe unserer Zeit; unmittelbar nach dem Erscheinen von Rebelión de las masas in Spanien lag schon 1930 ihre Übersetzung Der Auf­ stand der Massen vor. Wie geduldig und selbstlos sie dabei die Empfindsamkeiten Ortegas ertrug, geht aus dem inzwischen publizierten Briefwechsel der beiden hervor.31 Perplex reagierte sie, als sich Ortega Ende 1929 schwer enttäuscht von ihr abwandte. Auslöser seiner tiefen Verletzung war wohl ein Zeitungskommentar ihrerseits, in dem sie ein festeres theoretisches Fundament seiner Schriften

Hoffnung und Enttäuschung: Die Zweite Spanische Republik

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anmahnte, womit sie einen wunden Punkt Ortegas getroffen hatte. Seine philosophischen Ansichten waren in verschiedenen Essays verstreut zu lesen, aber nie in einem Guss systematisch zusammengebracht worden. Das Defizit war ihm umso schmerzlicher bewusst nach dem, was sein Biograph Jordi Gracia als „deutsches Erdbeben“32 bezeichnet hatte: der Erscheinung von Heideggers Sein und Zeit im Jahre 1927. Vieles von dem, was Heidegger in seinem Hauptwerk thematisierte, hatte Ortega schon lange umgetrieben. Dass er in privaten Briefen darauf hinwies, Heidegger zuvorgekommen zu sein, half wenig: Selbst seine eigenen Schüler pilgerten fortan fasziniert nach Freiburg im Breisgau. Mit dem Auftauchen des populären Konkurrenten hatte sich seine stille Hoffnung, zum bedeutendsten Philosophen Europas im 20. Jahrhundert zu werden, als Hybris erwiesen. Gleichwohl gelang es Ortega, mit dem Bestseller Der Aufstand der Massen die Auflagenhöhen der Werke Heideggers zu übertreffen. Das Werk ging aus einer seit Oktober 1929 publizierten Artikelserie hervor und wurde weniger wegen seiner philosophischen Inhalte als vielmehr wegen seiner politischen Urteile wahrgenommen. Dabei ging er sowohl zu den rechten Diktaturen in Spanien und Italien als auch zum Kommunismus auf Distanz. Während sich sein Freundes- und Schülerkreis in diesen Jahren immer stärker polarisierte und Anschluss an die extremen politischen Lager suchte, war Ortega weder rechts noch links einzuordnen, bzw. vertrat Überzeugungen, die mal dem einen, mal dem anderen Lager näherkamen, ohne je gänzlich mit diesen übereinzustimmen. Dies führte schließlich zu Entfremdungen im Kreis ehemaliger Anhänger, die ihm sowohl von links (allem voran Rafael Alberti) als auch von rechts (allem voran José Antonio Primo de Rivera) verübelten, dass er nicht eindeutig Stellung bezog. Dabei lag Ortega gerade daran, im Namen einer „nationalen Orientierung“ eine derartige Spaltung der spanischen Gesellschaft zu verhindern. Entsprechend hielt er die Gründung einer „nationalen Partei“ für notwendig, die eine „nationale Politik“ im Rahmen eines „nationalen Staates“ betreiben könnte.

Hoffnung und Enttäuschung: Die Zweite Spanische Republik

Sein jetziges Engagement galt weniger der Durchsetzung parteiprogrammatischer Ziele als vielmehr der Veränderung der Staatsform. Die Monarchie hatte sich in seinen Augen spätestens im Rahmen des Scheiterns der Diktatur von Miguel Primo de Rivera (1923–1930) als gänzlich untauglich erwiesen, Spanien in die Zukunft zu führen. Mit seinem am 15. November 1930 veröffentlichten

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Zeitungsartikel „Delenda est Monarchia“33 hatte er allerdings einen Schlachtruf kreiert, unter dem sich fortan die spanische Linke formierte. Aber die Beziehungen Ortegas zur politischen Linken blieben problematisch, auch wenn er anlässlich der Gemeindewahlen im März 1931 dazu aufrief, das republikanisch-sozialistische Wahlbündnis (Conjunción Republicano-Socialista) zu wählen. Innerhalb dieses Bündnisses stellte sich die Agrupación al Servicio de la República zur Wahl, als im Juni 1931 die Verfassungsgebenden Cortes gewählt wurden. Mit 13 Abgeordneten erhielt die Agrupación die geringste Zahl an Mandaten. Diese Agrupación, die Ortega selbst im Januar 1931 mitgegründet hatte, entsprach in Ziel und Zusammensetzung weitgehend der früheren Liga de Educaci­ ón Política. Es sollte eine Intellektuellenbewegung sein, an deren Spitze Ortega selbst stand. Wieder hoffte er, von der politischen Bühne aus als Intellektueller auf die Geschicke des Landes Einfluss nehmen zu können. Er sollte vollkommen scheitern. Wie ungeeignet das Parlament für intellektuelles Räsonnement geworden war, zeigte sich bereits bei Ortegas erstem Auftritt in den Cortes am 30. Juli 1931. Seine metaphernreichen Wortkaskaden wurden vom Sozialistenführer Indalecio Prieto als „weiße Taube“ bespöttelt, die wie der Heilige Geist durch das Parlament herumflattere. Ortega y Gassets Rechtfertigung, er stehe halt für eine „poetische, philosophische, herzliche und fröhliche Politik“, schien niemanden recht zu überzeugen.34 Aber nicht nur die Politiker waren von Ortega enttäuscht, auch dieser war seinerseits nur allzu bald von der republikanischen Politik desillusioniert. In den Debatten vermisste er allgemeine Kompetenz ebenso wie spezielle Sachkenntnis. Als die Verfassung vom 8. Dezember 1931 zur Abstimmung stand, ging er davon aus, dass kaum einer genau wisse, was der Inhalt und die Folgen seien. In besonderer Weise rieb er sich an dem katalanischen Statut, welches er als Abkehr von dem von ihm propagierten „nationalen“ Weg verurteilte. Auch die Religionsbestimmungen, insbesondere die Gesetze über die religiösen Orden, welche den Jesuitenorden verboten und auch allen anderen Orden die schulische Ausbildung untersagten, verurteilte er scharf. Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil Ortega aus seiner allgemeinen Distanz zum spanischen Katholizismus und seiner Kritik an der eigenen Schulausbildung bei den Jesuiten im Besonderen nie ein Hehl gemacht hatte. Doch fürchtete er – nicht zu Unrecht – dass jetzt die restriktiven Gesetze nur zu einer gesellschaftlichen Polarisierung führen würden, mit nachteiligen Rückwirkungen auf das republikanische Projekt. Als er schließlich merkte, dass seine Appelle zur Mäßigung und gegen die Partikularinteressen von Parteien und Regionen wirkungslos verhallten, zog er sich aus dem Parla-

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ment zurück. Zwei Tage nachdem das Gesetz gegen die religiösen Orden am 7. Oktober 1932 angenommen worden war, verkündete Ortega seinen Abschied von der Politik, woraufhin sich die Agrupación offiziell auflöste. Abermals nutzte er den Rückzug aus der Politik jetzt für die Intensivierung seiner Philosophie. So ging er daran, seine Konzepte zur Razón vital und ihrem Verhältnis zur Razón histórica zu systematisieren. Auffällig war, dass sich zeitgleich der Fokus seiner Auseinandersetzung von Spanien auf Europa verschob. Begonnen hatte dies allerdings schon mit dem Aufstand der Massen, das – wie er selbst schrieb – das erste Buch gewesen sei, welches sich nicht allein an den spanischen Leser gerichtet habe. Nur wenige Jahre später allerdings holte die Politik die Familie wieder ein. Die Hoffnungen, die Ortega anlässlich der Regierungsübernahme durch die Rechten nach der Wahl von 1933 gehegt hatte, dass die Politik jetzt auf Mäßigung und nationale Eintracht setzen würde, hatten sich schnell zerschlagen. Vielmehr kam es zu einer zunehmenden Polarisierung, die in der Radikalisierung nach dem Sieg der Volksfront bei den Wahlen im Februar 1936 gipfelte. Dabei war die Familie Ortegas insoweit typisch, als sich die politischen Spaltungen in ihrer Mitte widerspiegelten: Während sein Bruder Eduardo fest im sozialistischen Lager verankert war, zählte Ortegas Sohn Miguel zu den Anhängern der Falange. Im Jahr 1934 hatte Miguel ausgerechnet im nationalsozialistischen Deutschland Medizin studiert und mit mehreren Falangisten zusammengewohnt. Wie sehr er den Falangegründer José Antonio Primo de Rivera verehrte, mag daraus hervorgehen, dass er diesem seine erste wissenschaftliche Monographie widmen sollte.

Bürgerkrieg und Franquismus: Der Verlust des spanischen Resonanzraums

Nachdem auf die Wohnung von Eduardo ein Anschlag verübt worden war, ging die Angst in der Familie um: Angst um die Kinder, auf deren Heimkehr täglich sorgenvoll gewartet wurde, und Angst um das eigene Leben. Dass das nicht unberechtigt war, zeigte sich am Tag nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, als Ortega offenbar nur knapp einem der irregulären republikanischen Kommandos entkam. Die Familie flüchtete sich zu anderen Intellektuellen in die Re­ sidencia de Estudiantes, ohne sich dort wirklich sicher zu fühlen. Tatsächlich wurde ihm (und anderen) dort von einem Trupp junger bewaffneter Antifaschisten eine Unterschrift unter die Erklärung abgenötigt, dass er auf Seiten der Republik und des Volkes stünde. Als schließlich Ende August 1936 während einer Razzia

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im Madrider Gefängnis einige seiner engsten Weggefährten ermordet wurden, plante Ortega die Flucht aus Madrid, die ihm und seiner Familie nur mit der Hilfe seines – als Sozialist unverdächtigen – Bruders Eduardo gelang. Mit der Flucht aus Spanien ging dauerhaft etwas zu Ende: Der zentrale Resonanz- und Wirkungsraum Ortegas war weggebrochen. Ein anderer, vergleichbarer ließ sich unter den gegebenen Bedingungen nicht erschließen, zumal Ortega plötzlich von Geldsorgen und zunehmenden gesundheitlichen Problemen geplagt war. Nach einigen Wochen in Belgien stieß Ortega in Paris auf Gregorio Marañón und Antonio Marichalar, zwei alte Bekannte. Beide hatten ebenso wie Ortega in der Residencia die Unterstützungserklärung für die Republik unterzeichnen müssen und sagten sich jetzt offiziell davon los. Ortega hingegen ergriff nicht eindeutig Partei für die Aufständischen. Gleichwohl lässt sich nicht verkennen, dass er sich in dieser Zeit auf die Franquisten zubewegte. Möglicherweise hatte ihn die Abreise seines jüngsten Sohnes zum franquistischen Heer im Dezember 1937 dazu motiviert, nachdem der ältere schon zu Beginn des Jahres in Burgos seine Dienste angeboten hatte. Womöglich haben auch Geldsorgen eine Rolle gespielt. Jedenfalls war Ortega plötzlich bereit, mit der profranquistischen Presse in London zusammenzuarbeiten. Aber so wie die Sozialisten 1931 mit Ortegas Rhetorik nichts anzufangen wussten, so erging es jetzt den Rechten: Die Schriften Ortegas waren zu subtil, als dass die franquistische Propaganda sie hätte in Dienst nehmen können. Deutlich genug allerdings war seine Kritik am Kommunismus und an den internationalen Intellektuellen – nicht zuletzt Einstein –, die mit ihrer voreiligen Parteinahme für die Republik nur ihre Unkenntnis spanischer Verhältnisse bewiesen hätten. Wie wenig er selbst allerdings bislang bereit war, direkt mit dem Franquismus zu kooperieren, ergibt sich aus dem Umstand, dass vorerst an eine Rückkehr nach Spanien kein Gedanke verschwendet wurde. Vielmehr siedelte er im August 1939 – knapp vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – nach Argentinien um. Doch der Aufenthalt in Argentinien, jenem Land, in dem er seine ersten spektakulären Triumphe gefeiert hatte, wurde jetzt zur herben Enttäuschung. Zum einen ging es ihm nicht gut. So wirkten die großen Operationen aus dem Vorjahr nach. Seit langem schon hatte er an entzündlichen Veränderungen der Gallengänge gelitten, zwischenzeitlich hatte ein französischer Arzt bereits die Hoffnung aufgegeben. Jetzt war er nach zwei Operationen zwar wiederhergestellt, aber noch keineswegs beschwerdefrei. Hinzukamen depressive Phasen, mit denen er immer wieder längere Zeit zu kämpfen hatte. Auch das soziale Netz hatte sich in Argentinien verändert. Zwar wurde er immer noch von einem Kreis

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vor allem wohlhabender Frauen hofiert, aber im Vorjahr hatte er sich mit Victoria Ocampo überworfen, die unbeirrt für die spanischen Republikaner Partei ergriffen hatte. Ausschlaggebend für das Scheitern seines Versuches, in Argentinien dauerhaft Fuß zu fassen, dürfte schließlich der Umstand gewesen sein, dass er – auch bei dem Verlag, den er in Spanien mitgegründet hatte – keinerlei Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten fand. So war es neben der Sehnsucht nach den in Spanien lebenden Kindern nicht zuletzt die unsichere finanzielle Lage, die 1942 die Entscheidung reifen ließen, nach Europa zurückzukehren. Aber Spanien näherte er sich nur langsam. Zunächst ließ er sich in Portugal nieder, wo er zwar gute Kontakte zum spanischen Botschafter, dem Bruder Francos, pflegte, aber mehr als zwei Jahre lang keine Genehmigung erhielt, an der Universität zu lehren. Als er 1945 erstmals wieder spanischen Boden betrat, erlag er dem Irrglauben, dass er im Franquismus die Möglichkeit haben würde, mit seinen Impulsen zur Veränderung in Spanien beitragen und dadurch das Land in die Welt westeuropäischer Intellektualität und Politik zurückführen zu können. Tatsächlich soll sein Name bei Überlegungen zur Regierungsumbildung gefallen sein. Sollte es je ein Fenster für eine solche Entwicklung gegeben haben, so hatte es sich – womöglich als Reaktion auf die dezidierte Ablehnung des Franquismus in der westlichen Nachkriegswelt – schnell geschlossen. Jedenfalls verkannte Ortega die Beharrungskraft des Franquismus, die Bedeutung, die der Nationalkatholizismus in den 1950er Jahren spielen sollte und die Entschlossenheit des Regimes, die Rückkehr des in Europa geschätzten Philosophen zu Propagandazwecken zu nutzen. Letzteres zeigte sich, als er die Einladung annahm, anlässlich der Wiedereröffnung des Ateneo, des traditionellen Forums der spanischen Intellektuellen, die Festrede zu übernehmen. So wurde er, der sich vor der Reise nach Madrid im Mai 1946 offen despektierlich über Franco als mediokren Massemenschen geäußert hatte, nun in der Öffentlichkeit als eng verbunden mit dem Franquismus inszeniert. Die spanischen Presseberichte über den 4. Mai 1946 trugen nur dazu bei, Ortegas verbliebene Freundschaften mit Exilspaniern in Lateinamerika zu belasten, die fassungslos diesen vermeintlichen Schulterschluss zur Kenntnis nahmen. An den Madrider Lehrstuhl kehrte er nicht zurück, stattdessen nahm er die Lehre an dem für ihn 1948 eingerichteten Instituto de Humanidades auf, an dem er hoffte, seine strukturellen Reformvorstellungen sowie seine Philosophie neu zur Geltung bringen zu können. Der Anspruch, als kritischer Intellektueller in die spanische Gegenwart wirken zu können, war durch ein neues Selbstbewusstsein gestärkt worden, das sich aus

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José Ortega y Gasset (1883–1955)

Abb. 23: José Ortega y Gasset mit Bundespräsident Theodor Heuss in Bonn 1954.

den Erfolgen seiner jetzigen Auslandsreisen speiste. In den USA, vor allem aber in der Bundesrepublik wurde Ortega eine Aufmerksamkeit zuteil, die alle Erwartungen übertraf. Hier entwickelte sich ein regelrechter „Kult“35 um den Philosophen. Unter den Tausenden, die zu seinen Vorträgen kamen, waren auch Bundespräsident Theodor Heuss und Vertreter der Bundesregierung. Ortega, der gewusst haben dürfte, dass damit sein symbolisches Kapital in der Heimat stieg, drohte nun damit, Spanien wieder zu verlassen, wenn ihm keine intellektuellen Freiräume eröffnet würden. Doch damit hatte er die Eigendynamik der außenpolitischen Konsolidierung und innenpolitischen Machttektonik im Franquismus unterschätzt. Die bewusste Stärkung des Katholizismus in Spanien während des Kalten Krieges führte zu einer wachsenden Dominanz scholastisch geprägter Wissenschaftler an den spanischen Universitäten, die in der areligiösen, laizistischen Philosophie Ortegas, die rigoros auf jegliche Metaphysik verzichtete, längst ihr Feindbild gefunden hatten. Als Ortega spürte, dass er von der Zensur eher mehr als weniger gegängelt wurde, brach er den Unterricht in Madrid ab und erwog, sein Institut ins Ausland zu verlegen. Auch wenn sich der Wunsch,

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dieses in München anzusiedeln, nicht realisieren ließ, so verlegte er doch einen Großteil seines nunmehrigen Engagements in die Bundesrepublik, wo er in den 1950er Jahren vor großem Publikum unzählige Vorträge hielt und sich mehrfach einige Monate im Jahr im „Bayerischen Hof“ in München einquartierte. Immer wieder äußerte er sich zum Thema „Der Mensch und die Leute“ (El hombre y la gente), ein Zusammenhang, der ihn seit den 1930er Jahren beschäftigte, worüber sein großes, soziologisches Werk entstehen sollte, das er als rund 1.000-seitiges Opus in den 1940er Jahren angekündigt hatte. Darauf warteten seine Verleger immer noch, als 1955 bei Ortega Magenkrebs in fortgeschrittenem Zustand diagnostiziert wurde.

„Die tiefe fruchtbringende Furche“? Tod und Nachleben

Sein Gesundheitszustand war in den zurückliegenden Jahren ohnehin sehr labil gewesen. Zudem fühlte er sich über lange Strecken niedergeschlagen und arbeitsunfähig. Immer wieder musste er seinen deutschen Korrespondenzpartnern erklären, warum sie über Monate kein Lebenszeichen von ihm erhalten hatten. Im Herbst 1955 verschlechterte sich sein Zustand rapide und am 18. Oktober 1955 starb José Ortega y Gasset. Zeit seines Lebens haben die verschiedenen ideologischen Lager Spaniens um ihn gerungen, und so ist es höchst bezeichnend, dass noch um einen der letzten Besuche am Krankenbett ein Deutungsstreit entbrannte: Der Jesuitenpater Félix García hatte ihm sub conditione die Krankensalbung erteilt, was – auch in der deutschen Presse – als Versöhnung Ortegas mit dem Katholizismus interpretiert wurde, während sich die Kinder Ortegas dieser Wahrnehmung strikt widersetzten. Die offenbar auf den Wunsch der gläubigen Gattin zurückzuführende sakramentale Handlung habe Ortega, der bis zuletzt nicht von seinen Standpunkten abgewichen sei, nicht mehr bei Bewusstsein erlebt. Diese Ohnmacht ist symptomatisch für Ortega, der die Politik Spaniens weit weniger prägen konnte als sie ihn. Als Politiker war er gescheitert, auch seine Hoffnung, der bedeutendste europäische Philosoph des 20. Jahrhunderts zu werden, blieb Makulatur. Selbst seine immense Popularität in Deutschland schien der Anerkennung als bedeutendem Philosophen eher im Wege zu stehen. Gleichwohl war seine Vita für die spanische Geschichte alles andere als bedeutungslos. Sei es als Kulturvermittler, der die hispanische Welt mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen Werken Europas in Verbindung brachte, sei es als Intellektueller, an

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dem sich die spanischen Politiker und Wissenschaftler orientierten oder rieben, oder sei es als Philosoph, dessen Werk gerade in jüngerer Zeit wiederentdeckt wird. Sein Wunsch, bei seinem Tod eine „tiefe, fruchtbringende Furche“ in der Geschichte Spaniens hinterlassen zu können, war jedenfalls in Erfüllung gegangen – wenn auch anders, als er es sich als 23-Jähriger wohl erhofft haben mochte.

Weiterführende Literatur Carriazo Ruiz, José Ramón: Viaje de Ortega a Alemania, 1949. Primera parte, in: Revista de estudios orteguianos 27 (2013), S. 49–106. Carriazo Ruiz, José Ramón: Viaje de Ortega a Alemania, 1949. Segunda parte, in: Revista de estudios orteguianos 28 (2014), S. 43–98. Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): Cartas de un joven español (1891–1908), bearbeitet von Soledad Ortega, Madrid 1991. Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): José Ortega y Gasset. Obras completas, Bde. 1–8, Madrid 2002–2008. Graham, John Thomas: The Social Thought of Ortega y Gasset. A Systematic Synthesis in Postmodernism and Interdisciplinarity, Columbia 2001. Jung-Lindemann, Frauke: Zur Rezeption des Werkes von José Ortega y Gasset in den deutschsprachigen Ländern. Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von philosophischer und populärer Rezeption in Deutschland nach 1945, Frankfurt a. M. 2001. Ortega y Gasset, José: Gesammelte Werke, 6 Bde., Stuttgart 1996. Pan-Montojo, Juan/Álvarez Junco, José: Más se perdió en Cuba. España, 1898 y la crisis de fin de siglo, Madrid 1998. Rodiek, Christoph: Ortega y la cultura europea. Simposio hispano-alemán de la Universidad de Dresde (18–19 de octubre de 2005), Frankfurt a. M. 2006. Sanchez-Blanco, Francisco: Ortega y Gasset. Philosoph des Wiederaufbaus? Anmerkungen zu einer unbedachten Rezeption, in: Hermand, Jost/Peitsch, Helmut/Scherpe, Klaus R./ Pelzer, Jürgen (Hg.): Nachkriegsliteratur in Westdeutschland, Berlin 1983, S. 101–111. Schildt, Axel (Hg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016. Schulze, Detlef Georgia/Berghahn, Sabine/Wolf, Frieder Otto (Hg.): Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne, Münster 2010. Wagner, Astrid/Ariso, José María (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, Berlin/Boston 2016.

Anmerkungen

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Anmerkungen 1

Vgl. Brief Nr. 116 von José Ortega y Gasset an seine Freundin und zukünftige Frau Rosa Spottorno, Berlin, 27.12.1905, in: Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): Cartas de un joven español (1891–1908), bearbeitet von Soledad Ortega, Madrid 1991, S. 409–417, hier S. 417. 2 Hamburger Allgemeine, 7.2.1949. 3 Zitiert in: Franz Niedermayer: José Ortega y Gasset, Berlin 1959, S. 80. 4 Hamburger Allgemeine, 7.2.1949. 5 Zitiert in: Niedermayer, Ortega y Gasset, S. 18. 6 Jordi Gracia: José Ortega y Gasset, Madrid 2014, S. 19. 7 Vgl. Brief Nr. 28 von José Ortega y Gasset an seinen Vater, Vigo, 9. August 1902, in: Cartas de un joven español, S. 89–91, hier S. 90. 8 Zitiert in: Gracia, José Ortega y Gasset, S. 43. 9 Vgl. Brief Nr. 34 von José Ortega y Gasset an seinen Vater, Leipzig, 13. März 1905, in: Cartas de un joven español, S. 111–115, hier S. 114. 10 Ebd. 11 Vgl. Brief Nr. 93, von José Ortega y Gasset an seine Muttter, Marburg, 30. Juli 1907, in: Cartas de un joven español, S. 284–285, hier S. 285. 12 Vgl. Brief Nr. 182 von José Ortega y Gasset an seine Freundin und zukünftige Frau Rosa Spottorno, Marburg, 5. Juli 1907, in: Cartas de un joven español, S. 572–573, hier S. 573. 13 Vgl. Brief Nr. 181 von José Ortega y Gasset an seine Freundin und zukünftige Frau Rosa Spottorno, Marburg, 3. Juli 1907, in: Cartas de un joven español, S. 507–571, hier S. 570. 14 Zit. in Gracia: José Ortega y Gasset, S. 108. 15 José Ortega y Gasset: Wissenschaft und Religion als politische Probleme [1909], in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Stuttgart 1996, S. 62–73, hier S. 62; José Ortega y Gasset: La ciencia y la religión como problemas políticos [1909], in: Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): Obras completas 1902–1925, Bd. 7, Madrid 2007, S. 130–138, hier S. 131. 16 Vgl. Brief Nr. 191 von José Ortega y Gasset an Ledesma Navarro, Leipzig, 28. Mai 1905, in: Cartas de un joven español, S. 609–620, hier S. 614. 17 José Ortega y Gasset: Sozialpädagogik als politisches Programm, in: Markus Hundeck/Eric Mührel (Hg.): José Ortega y Gasset. Von Spanien nach Europa, Wiesbaden 2015, S. 5–25; José Ortega y Gasset: La pedagogía social como programa político [1910], in: Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): Obras Completas 1916, Bd. 2, Madrid 2004, S. 86–103. 18 Zitiert in: Gracia, José Ortega y Gasset, S. 135. 19 José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote [1914], in: Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): Obras Completas 1902–1915, Bd. 1, Madrid 2004, S. 747–792, hier

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José Ortega y Gasset (1883–1955) S. 757.; Vgl. auch Rosemarie Winter: Ich bin ich und mein Umstand.... Grundlegung der Philosophie von José Ortega y Gasset, Marburg 2013. José Ortega y Gasset: Vieja y nueva política. (Conferencia dada en el Teatro de la Comedia el 23 de marzo de 1914) [1914], in: Obras Completas 1902–1915, Bd. 1, S. 710–744, hier S. 737. José Ortega y Gasset: Aufbau und Zerfall Spaniens [1921], in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1996, S. 7–79; José Ortega y Gasset: España invertebrada. Bosquejo de algunos pensamientos históricos [1922], in: Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): Obras completas 1917–1925, Bd. 3, Madrid 2005, S. 423–507. Otto Seeck: Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Darmstadt 2000, S. 269 f. José Ortega y Gasset: Democracia morbosa [1916], in: Obras Completas 1916, Bd. 2, S. 271–276. Fritz Ernst: José Ortega y Gassets Epistel an Victoria Ocampo „Über den Einfluss der Frau auf die Geschichte“, in: Neue Schweizer Rundschau 6 (1926), S. 545–565, hier S. 559. Vgl. Gracia, José Ortega y Gasset, S. 257. Zitiert in: Gracia, José Ortega y Gasset, S. 302. José Ortega y Gasset: Die Aufgabe unserer Zeit [1923], in: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 79–142, hier S. 139. José Ortega y Gasset: Der sportliche Ursprung des Staates [1930], in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Stuttgart 1996, S. 428–450; José Ortega y Gasset: El origen deportido del Estado [1925], in: Obras Completas 1917–1925, Bd. 3, S. 777–783. José Ortega y Gasset: Die Aufgabe unserer Zeit [1923], in: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 79–142, hier S. 134; José Ortega y Gasset: El tema de nuestro tiempo [1923], in: Obras completas 1917–1925, Bd. 3, S. 559–651, hier S. 611. José Ortega y Gasset: Los „ámbitos culturales“ [1924], in: Obras Completas 1917– 1925, Bd. 3, S. 757–767, hier S. 766. José Ortega y Gasset/Helene Weyl/Jaime de Salas/María Isabel Peña Aguado: Correspondencia: José Ortega y Gasset y Helene Weyl, Madrid 2008, S. 108 f. Gracia, José Ortega y Gasset, S. 403 f. José Ortega y Gasset: Delenda est Monarchia, in: El Sol, 15. November 1930, S. 1. Zitiert in: Gracia, José Ortega y Gasset, S. 461; Vgl. auch José Ortega y Gasset: Sobre lo de ahora. Una cuestión personal [1931], in: Fundación José Ortega y Gasset (Hg.): Obras Completas 1926–1931, Bd. 4, Madrid 2005, S. 803–809, hier S. 803. Birgit Aschmann: Der Kult um den massenphobischen spanischen Geistesaristokraten Ortega y Gasset in den 1950er Jahren, in: Axel Schildt (Hg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016, S. 28–56, hier S. 30.

17. Francisco Franco (1892–1975) Der Caudillo und seine chamäleonhafte Diktatur

Von allen Diktatoren des 20. Jahrhunderts gibt der spanische Caudillo Francisco Franco vielleicht die meisten Rätsel auf. Kaum jemand hat auf seine Zeitgenossen so widersprüchlich gewirkt: Schien er den einen als biederer, langweiliger Familienpatron, löste er bei anderen frenetischen Jubel aus. Selbst für diejenigen, die zu seinen engsten Mitarbeitern und Vertrauten zählten, blieb Franco unnahbar und undurchdringlich. Sein Cousin etwa, mit dem er über Jahrzehnte hinweg intensive Gespräche führte, konnte trotz aller Nähe allzu oft nur Mutmaßungen über die Motive des Diktators anstellen. Nicht zuletzt wegen seiner ungreifbaren Zentralfigur beschrieb der Historiker Walther L. Bernecker das Franco-Regime als einen „chamäleonhaften Systemtypus“.1 Für die Historiographie kommt die Problematik hinzu, dass die Akten aus Francos Regierungszeit allenfalls in Teilen verfügbar sind. Wie umfangreich die Bestände sind, die die Fundación Nacional Francisco Franco – welche wiederum von der Familie des Diktators geführt wird – zurückhält, ist unklar. Jedenfalls erschweren die archivalischen Lücken den Zugriff auf die Person, die annähernd 40 Jahre die Geschicke Spaniens bestimmte. Die meisten der inzwischen mehr als 200 biographischen Darstellungen, die Franco gewidmet sind, beschreiben in der Regel zwar ausführlich das franquistische Regierungssystem und die Geschichte seiner Herrschaft. Dabei aber bleibt die Figur, um die sich eigentlich alles dreht, zumeist merkwürdig blass.

Von Galicien nach Toledo: Die Formierung eines Militärs

Geboren wurde Francisco Franco am 4. Dezember 1892 in Ferrol an der galicischen Küste. Er war das zweite von vier Kindern von Nicolás Franco SalgadoAraujo, einem politisch linksliberal eingestellten Marineoffizier, und Pilar Bahamonde Pardo de Andrade, die einer dezidiert katholisch gesonnenen galicischen Mittelschichtfamilie entstammte. Gerade fünf Jahre war Francisco alt, als Spanien 1898 im Krieg gegen die USA unterlag und in der Folge die letzten verbliebenen Kolonien Kuba, Puerto Rico und die Philippinen verlor. Das schmähliche Ende des einst großen Impe-

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riums wurde zur zentralen Zäsur, die die Gesellschaft Spaniens, das Schicksal der Stadt Ferrol und die Vita Francisco Francos prägte. Die spanischen Intellektuellen mühten sich in den folgenden Jahrzehnten um eine Neudefinition der spanischen Identität nach diesem machtpolitischen Bankrott. Neben der Klärung vermeintlicher Ursachen für den Niedergang der vormaligen Weltmacht drehte sich die Auseinandersetzung um Möglichkeiten einer „Regeneration“, eines nationalen Wiederaufstiegs. Sämtliche politischen Projekte, vorzugsweise die des rechten Lagers, fühlten sich diesem Ziel verpflichtet. Als Franco im Winter 1940 einen autobiographisch geprägten, fiktionalen Text niederschrieb, der unter dem Titel Raza (Rasse) die Grundlage eines im Folgejahr ausgestrahlten Kinofilms war, ließ er die Geschichte mit dem Schlüsseljahr 1898 beginnen, welches durch den fiktiven Schlachtentod des Vaters den Charakter eines besonders verpflichtenden Vermächtnisses annahm. Für zahlreiche Familien in Ferrol spiegelte die Erzählung insofern die Realität, als viele Männer mit der spanischen Flotte gen Kuba aufgebrochen waren, hatte doch die Marine so manchen in Lohn und Brot gesetzt. Mit dem Untergang der spanischen Flotte und dem Verlust der Kolonien änderte sich das. Für Francisco Franco ergaben sich unmittelbare Folgen. Während sein älterer Bruder Nicolás noch die Laufbahn eines Marineoffiziers eingeschlagen hatte, war Francisco dieser Weg jetzt versagt. An Offizieren der Kriegsmarine bestand kaum noch Bedarf. So entschied er sich 1907 für die Infanterie und wurde im Alter von 14 Jahren von der Infanterieakademie in Toledo aufgenommen. Damit endete seine Schulzeit, in der er als schüchterner, zurückgezogener Schüler kaum aufgefallen war. Zugleich ließ er ein Familienleben hinter sich, das bedingt durch das gespannte Verhältnis zwischen den Eltern nicht glücklich gewesen war. Der Vater harmonierte wegen seiner politisch liberalen Ansichten kaum mit seiner konservativen, frommen Frau. Er verließ sie im selben Jahr für immer, in dem sein Sohn Francisco nach Toledo ging. Dieser verzieh seinem Vater niemals, die Mutter im Stich gelassen zu haben. Der dezidierte Antiliberalismus, der zu Francos dauerhaften politischen Überzeugungen zählte, wird zuweilen auch mit dieser Ablehnung des Vaters in Verbindung gebracht. Das ist nicht unplausibel, allerdings dürfte das Verhältnis zum Vater nur Urteile zementiert haben, die in Francos Umfeld ohnehin vorherrschten. Zumindest gehörte die Verachtung von Parlamentarismus und Liberalismus, denen der machtpolitische Niedergang Spaniens im 19. Jahrhundert angelastet wurde, zu den Denkmustern, die in der Infanterieakademie von Toledo gepflegt und vermittelt wurden.

Eine unauslöschliche Prägung: Einsatz in Afrika

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Die drei Jahre, die Franco von 1907 bis 1910 in Toledo verbrachte, wurden mit Blick auf politische Grundhaltungen, den Freundeskreis und das Welt- und Selbstbild entscheidend. Hier internalisierte der Jugendliche militärische Tugenden wie Ehrempfinden, Gehorsam, Disziplin und Opferbereitschaft. Hinzu kam die Orientierung an einem Nationalismus, der nostalgisch an untergegangener Größe festhielt und den Separationsbestrebungen an der Peripherie des Landes unterstellte, die Wiedergeburt spanischer Größe unterminieren zu wollen. Zugleich tradierten die Militärs in Toledo das Selbstbild als Ordnungshüter und Stabilitätsgaranten. Wie schon in der Schule fiel Franco nicht als übermäßig klug auf: Unter den 312 Kandidaten, die 1910 an den Abschlussprüfungen teilnahmen, erreichte er den 251. Platz. Dennoch gelang es dem mit einer Körpergröße von 1,64 Meter relativ kleinen, schmächtig wirkenden Offiziersanwärter, sich unter den Altersgenossen besonderen Respekt zu verschaffen. Dazu trug eine spezifische Furchtlosigkeit bei, die er nach Abschluss der Ausbildung gern unmittelbar in der Praxis demonstriert hätte. So bewarb er sich für einen Einsatz in Marokko, auf das sich nach 1898 die kolonialen Expansionswünsche Spaniens konzentrierten.

Eine unauslöschliche Prägung: Einsatz in Afrika

Im Zuge einer Klärung der Interessensphären mit Frankreich im Jahr 1904 war Spanien im Norden Marokkos ein Protektorat zugewiesen worden, welches es zunächst hoffte, friedlich durchdringen zu können. Diese Hoffnung zerplatzte angesichts des unerwarteten Widerstandes der indigenen Bevölkerung, der schließlich 1909 in einen langanhaltenden Kolonialkrieg eskalierte, von dem sich die jungen spanischen Offiziere nun attraktive Bewährungs- und Beförderungsmöglichkeiten versprachen. Vorerst aber wurde Francos Antrag abgelehnt: Zwei Jahre diente er als Leutnant in der Kaserne seiner Heimatstadt Ferrol, bevor er sich dann doch im Februar 1912 nach Marokko einschiffen konnte. Vier Jahre blieb Franco in Afrika, ehe er 1916 einer Verletzung wegen auf die Iberische Halbinsel zurückkehrte. Von 1920 an finden wir ihn wieder im Kolonialkrieg, wo er weitere sechs Jahre fast ununterbrochen Militärdienst leistete. Ohne die in rund zehn Jahren gesammelten Kriegs- und Kampferfahrungen lässt sich Francos spätere Rolle im Spanischen Bürgerkrieg nicht verstehen. Mit „unauslöschlicher Kraft“ würden die Erinnerungen in ihm fortleben: „Ohne

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Afrika“, so Franco 1939, „kann ich mich kaum mir selbst, geschweige denn meinen Waffenkameraden erklären.“2 Er selbst nannte als Spezifikum seines afrikanischen Erbes allem voran, dass dort die Überzeugung geboren worden sei, Spanien „erlösen“ zu können. Tatsächlich gründete sein späteres Gefühl, von der Vorsehung ausersehen zu sein, auf seinen militärischen Erfolgen aus dieser Zeit. Ein ebenso wichtiges Erbe war die Art der Kriegführung, die sich Franco aneignete und die es ihm ermöglichte, in bemerkenswert kurzer Zeit Karriere zu machen: 1926 wurde er im Alter von 33 Jahren zum jüngsten General Europas ernannt. Galt für die auf der Halbinsel eingesetzten Offiziere das Anciennitätsprinzip, so wurden die Afrika-Offiziere für ihre Kampfeinsätze ausgezeichnet. Und Franco war früh durch die Bereitschaft aufgefallen, sich ohne Rücksicht auf das eigene Leben an riskanten Kampfeinsätzen zu beteiligen. Leib und Leben anderer galten in diesem Krieg, der an Brutalität und Grausamkeit anderen Kolonialkriegen in nichts nachstand, noch weniger. Gerade die Einheiten, denen Franco vorstand, machten sich durch besondere Skrupellosigkeit einen Namen. Unmittelbar nach seiner Ankunft im Jahr 1912 ließ er sich zum Offizier einheimischer Söldnertruppen ernennen, die in irregulärer Kriegführung erfahren waren und vor Massakern an Kriegsgegnern ebenso wenig zurückschreckten wie vor Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Brandschatzung. Franco erwarb sich unter diesen Soldaten wiederum Anerkennung durch Draufgängertum, ostentative Furchtlosigkeit und den bald für mirakulös gehaltenen Umstand, dass er aus all diesen Unternehmungen unverletzt hervorging. Im Jahre 1916 erlitt er dann doch einen Bauchschuss mit erheblichen Komplikationen, so dass er nach der Genesung zunächst auf der Iberischen Halbinsel eingesetzt wurde. Möglicherweise rettete ihm das sein Leben, war doch der Blutzoll, den der Kolonialkrieg in Marokko kostete, in den Jahren 1916 bis 1921 besonders hoch: Mehr als 17.000 spanische Soldaten starben auf den nordafrikanischen Schlachtfeldern. Franco lebte in diesen Jahren in einer Kaserne der asturischen Hauptstadt Oviedo, wo er Kontakte zu der vermögenden Oberschicht knüpfte und seine spätere Frau Carmen Polo kennenlernte. Noch aber war der junge Major nicht gesellschaftsfähig genug, um als Schwiegersohn akzeptiert zu werden. So kehrte er 1920 nach Marokko zurück, um sich in den drei folgenden Jahren an der Seite des bald legendären Gründers der Fremdenlegion José Millán-Astray dem Aufbau dieser neuen militärischen Freiwilligeneinheit zu widmen. Die Fremdenlegionäre, deren Mitglieder sich in ihren Liedern als „Ausgeburten der Hölle“ und „Besessene“ besangen, überboten mit ihrer demonstrativen Todesver-

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achtung noch einmal die regulären afrikanischen Truppen im spanischen Dienst an Einsatzbereitschaft, Draufgängertum und Brutalität. Dass es seinen Einheiten gelang, nach der als demütigend empfundenen Niederlage von Annual, die 1921 zum Rückzug der spanischen Truppen aus dem Protektorat führte, dazu beizutragen, die Stadt Melilla zu „retten“, trug Franco zusätzlichen Ruhm ein. Zugleich wird in dieser Zeit deutlich, dass er die Wahrnehmung seiner eigenen Person auch außerhalb des afrikanischen, militärischen Umfeldes nicht dem Zufall überlassen wollte. Er griff redaktionell bei der Truppenzeitschrift Revista de Tropas Coloniales ein und ging mit einem Tätigkeitsbericht über seine Einheit, dem „Tagebuch einer Fahne“ (Diario de una bandera) 1922 an die Öffentlichkeit.3 So trug seine Selbstinszenierung neben diversen Anekdoten, in denen sich Erzählungen von Francos Wagemut, Unerschrockenheit und Opferbereitschaft immer wieder verdichteten, dazu bei, dass sich schon früh das Bild eines Helden etablierte, der – angetrieben nur von dem Wunsch, seine Pflicht zu erfüllen – Großes vollbracht habe, dabei aber stets bescheiden geblieben sei. Ausdruck der Wertschätzung wurde die allgemeine Anteilnahme an seiner Eheschließung im Oktober 1923, bei der – wenn auch vertreten durch den Militärgouverneur – der König selbst die Rolle des Trauzeugen wahrnahm. Die Trauung fand in Oviedo statt, wohin Franco Anfang des Jahres zurückgekehrt war, nachdem Millán-Astray das Kommando der Fremdenlegion entzogen worden war. Als der neue Kommandeur unerwartet schnell starb, wurde nunmehr Franco mit der Leitung der Einheit betraut, weshalb er noch im Sommer abermals nach Marokko aufgebrochen und nur zwischenzeitlich zur Eheschließung zurückgekehrt war. Drei Jahre sollte Franco an der Spitze der Fremdenlegion in Marokko stehen. Es waren zugleich die ersten Jahre der sechsjährigen Militärdiktatur von Miguel Primo de Rivera. Dass Franco zugeschrieben wurde, den Diktator von Plänen für einen vorzeitigen Rückzug aus Marokko abgebracht zu haben, trug ihm weitere Anerkennung unter den Afrika-Offizieren der spanischen Armee ein, zumal er mit seinen Fremdenlegionären zum Erfolg der spanisch-französischen Offensive gegen die Rif-Kabylen beitrug. Nach einer spektakulären Invasion mit Luft-Boden-Truppen bei Alhucemas 1925 und dem massiven Einsatz von Giftgas – das ohne deutsche Hilfeleistung nicht hätte produziert werden können – hatte der Kabylenführer Abd el-Krim im Jahr 1926 kapitulieren müssen. Franco wurde daraufhin zum Brigadegeneral ernannt und übernahm ein Kommando in Madrid. Der jüngste General Europas wurde von der spanischen Öffentlichkeit gefeiert und mit den großen Feldherren der spanischen Geschichte verglichen.

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Francisco Franco (1892–1975)

Der Erfolg und die Verehrung ließen in Franco das Bewusstsein keimen, mit Blick auf die Zukunft seines Landes zu Höherem berufen zu sein. Im Jahre 1928 befragt, was sein höchstes Ziel sei, antwortete er: „Dass Spanien wieder die Größe von einst erlange.“4

Gegen die „rote Gefahr“: Der jüngste General Europas

Jedenfalls verlagerte sich vorerst sein Tätigkeitsschwerpunkt. Aus dem aktiven Offizier wurde 1928 der erste Direktor der neu gegründeten Militärakademie von Zaragoza. Hier sollten fortan allen Offiziersanwärtern des Heeres dieselben Grundlagen vermittelt werden, bevor sie dann die spezifische Ausbildung in den jeweiligen Waffengattungen erhielten. Zur Vorbereitung auf seine neue Verwendung unternahm er eine seiner wenigen Auslandsreisen, die ihn nach Paris, Dresden und Berlin führte, wo ihm vergleichbare Ausbildungseinrichtungen vorgestellt wurden. Francos Aktionsforen und seine Kommunikationssituationen veränderten sich damit erheblich. Die neue Lebensform spiegelte sich in körperlichen Veränderungen: Aus dem schmächtigen Soldaten wurde ein gesetzter Offizier mit unübersehbarem Bauchansatz, aus dem Draufgänger ein misstrauisch abwägender Skeptiker. Dabei wirkte Franco mehr als je zuvor in die Öffentlichkeit hinein, sprach vor großem Publikum und musste auch zu Themen Stellung nehmen, die nicht allein militärische Fragen betrafen. In dieser Zeit rundete sich das Weltbild ab, dessen Grundzüge bereits in Toledo geformt worden waren. Entscheidend war jetzt die Lektüre antikommunistischer Pamphlete, die in Genf von einem Zusammenschluss reaktionärer Russen und konservativen Schweizern herausgegeben wurden: Die „Entente Internationale contre la Troisième Internationale“ hatte sich zum Ziel gesetzt, einflussreiche Persönlichkeiten Europas vor der „roten Gefahr“ zu warnen. Für die Wirksamkeit ihrer Propaganda könnte es kaum ein geeigneteres Beispiel als Franco geben, bei dem die antikommunistische Agitation auf fruchtbaren Boden fiel: Zeit seines Lebens sollte er überzeugt sein, dass den sozialen Unruhen in Spanien eine jüdisch-bolschewistisch-freimaurerische Verschwörung zugrunde lag, die mit Hilfe – vor allem ausländischer – Intellektueller das „wahre“ Spanien, dessen Einheit und den katholischen Glauben ruinieren wollte. Entsprechend interpretierte er die spanische Politik zu Beginn der 1930er Jahre. Zu einem politischen Eingreifen führte diese Überzeugung erst 1936. In den sechs Jahren davor verhielt er sich durchaus loyal gegenüber den wechselnden

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Abb. 24: Francisco Franco mit Winterumhang 1930 (als Direktor der Militärakademie von Zaragoza).

Regierungen und politischen Systemen, auch wenn unverkennbar war, dass seine Sympathien ungleich verteilt waren. Mit den Leitlinien der Diktatur von Miguel Primo de Rivera stimmte er weitgehend überein – weshalb es auch nicht überrascht, dass der Franquismus in vielen Aspekten den Herrschaftsprinzipien unter Primo de Rivera ähneln sollte. König Alfons XIII., der die Diktatur lange unterstützt hatte, war Franco in besonderer Weise gewogen, weshalb sich dieser von der Ausrufung der Republik im Jahre 1931 schon für die eigene Vita, aber auch für Spanien wenig versprach. Die Zeit der Republik wird gemeinhin unterteilt in zwei „Reformjahre“ (1931–1933), zwei „schwarze Jahre“ der konservativen Regierung (1933–1935) und das halbe Jahr der Volksfrontregierung vom Februar bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs im Juli 1936. Die konträren Stoßrichtungen dieser Regierungen spiegeln sich insofern in der Vita Francos, als seine Karriere in Zeiten konservativer Regierung an Fahrt aufnahm und in denen linksliberaler Vorherrschaft

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gebremst wurde. So schloss die erste „linke“ Regierung der Republik noch im Sommer 1931 die Militärakademie von Zaragoza und versetzte Franco erst in die galicische Peripherie nach La Coruña und später auf die Balearen. Dass man ihn vom Zentrum der politischen Macht und militärischen Kommandostruktur fernhalten wollte, war evident. Ebenso eindeutig waren die Bestrebungen der „rechten“ Regierung, ihn in dieses Zentrum zurückzuholen. Nach dem Wahlsieg des rechten Bündnisses 1933 wurde Franco, dessen Avancement durch die Vorgängerregierung blockiert worden war, zum Generalmajor befördert. Als im Folgejahr in Asturien nach einem Aufruf zum Generalstreik ein Aufstand losbrach, wurde die Aufgabe, ihn niederzuschlagen, Franco übertragen. Die Revolte der asturischen Bergarbeiter von 1934 sollte ein Schlüsselereignis werden – für die Vita Francos und die spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Bis auf den heutigen Tag gilt der Bergarbeiteraufstand für Repräsentanten des rechten Lagers als Beginn der militärischen Konfrontation, was es ihnen ermöglicht, die Schuld für den Bürgerkrieg den „Linken“ zuzuschreiben, die durch Arbeitskampf und Anarchismus der traditionalen Ordnung schon 1934 den Krieg erklärt hätten. Gemäß dieser Lesart stellt der Putsch der Generäle vom Juli 1936 dann nur einen Akt legitimer Verteidigung dar. Für Franco selbst bot der Aufstand die Möglichkeit, seine in Afrika bewährten Kampfpraktiken erstmals auf der Iberischen Halbinsel anzuwenden. Für zwei Wochen waren ihm quasi diktatorische Vollmachten übertragen worden, die einen Vorgeschmack des Spanischen Bürgerkriegs bieten sollten. Franco, schon jetzt davon überzeugt, dass es sich um einen Krieg gegen Sozialismus und Kommunismus, gegen die „Barbarei“ und für die „Zivilisation“ handelte, führte einen Weltanschauungskrieg mit den Mitteln eines Kolonialkriegs: So ließ er kurzerhand die kolonialen Truppen mitsamt der Fremdenlegion anrücken, mit deren skrupelloser Unterstützung es ihm schnell gelang, den Aufstand niederzuschlagen. Für die Regierung erwies er sich wegen des harten Durchgreifens abermals als fähiger Militär: 1935 wurde Franco zum Oberkommandierenden der Afrikaarmee ernannt, kurz darauf zum Chef des spanischen Generalstabs. Es war absehbar, dass er nach dem Sieg der Volksfront in den Wahlen von 1936 nicht in dieser Spitzenstellung bleiben würde. Tatsächlich soll er kurzfristig mit einer Gegenrevolution geliebäugelt und dem Regierungschef Niceto Alcalá Zamora vorgeschlagen haben, den Ausnahmezustand auszurufen, anstatt geordnet die Macht zu übergeben. Als dieser dafür nicht zu gewinnen war, verhielt Franco

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sich zähneknirschend loyal, wie bei den früheren Regierungs- bzw. Regimewechseln auch. So nahm er hin, erneut in die Peripherie versetzt zu werden, diesmal zu einem Kommando auf den Kanarischen Inseln. Das politische Wahlergebnis respektiere er, ließ er wissen. Ein Vordringen des Kommunismus in Spanien aber würde er nicht tolerieren. Dass ein kommunistischer Umsturz bevorstehe, war nicht nur Francos Sorge. Die neue Regierung vermochte das staatliche Machtmonopol kaum durchzusetzen. Landbesetzungen und Gewalt auf den Straßen der Städte ließen bald Rufe nach der ordnenden Hand des Militärs laut werden. Tatsächlich hatte sich unter der Führung von Emilio Mola bereits eine Gruppe von Offizieren gebildet, die einen Putsch vorbereiteten. Zum Startsignal wurde die Ermordung des führenden monarchistischen Politikers José Calvo Sotelo am 13. Juli 1936. Vier Tage später begann der Spanische Bürgerkrieg erst in Marokko, am 18. Juli 1936 dann auch auf der Iberischen Halbinsel.

Diktatorische Vollmacht: Der Caudillo im Bürgerkrieg

Es war keineswegs ausgemacht, dass Franco innerhalb weniger Wochen zur unumstrittenen Führungsfigur des sogenannten nationalen Lagers werden würde: In die Planung des Putsches hatte er sich kaum hineinziehen lassen und seine Absichten bis zum Schluss nicht offengelegt. Gleichwohl übertrugen ihm die Militärs, die in Burgos die Junta Nacional de Defensa gebildet hatten, am 1. Oktober 1936 die unumschränkte politische und militärische Macht. Und das aus mehreren Gründen. Zunächst spielte der Zufall Franco insoweit in die Hände, als mehrere Generäle durch ihren unerwarteten Tod als potentielle Konkurrenten ausgeschieden waren. So stürzte General José Sanjurjo, dem wegen seiner Putscherfahrung aus dem Jahr 1932 die Leitung anvertraut werde sollte, mit einem Flugzeug ab, das ihn am 20. Juli nach Burgos zur Kommandozentrale der Putschisten hatte bringen sollen. Die Generale Manuel Goded und Joaquín Fanjul wurden bei den Versuchen, Barcelona und Madrid einzunehmen, überwältigt und kurz darauf hingerichtet. Auf diese Weise reduzierte sich der Kreis derjenigen, die das zentrale Kommando hätten übernehmen können. Für Franco wiederum sprach allem voran sein Ruf, ein überaus erfolgreicher Militär zu sein, zumal ihm die kampferprobten afrikanischen Truppen bedingungslos folgten. Hinzu kam das Charisma, das ihm von Untergebenen zugesprochen wurde.

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Die Bilder des alternden Franco haben vielfach dazu verleitet, ihm – gerade im Vergleich mit anderen Diktatoren des 20. Jahrhunderts – jegliches Charisma abzusprechen. Doch dieser Anachronismus wird der Ausstrahlung nicht gerecht, die Franco zahlreichen Quellenberichten zufolge in den frühen Jahren seiner Militärlaufbahn gehabt haben muss. Seine Popularität wuchs im September 1936 noch einmal beträchtlich, als er auf dem Vormarsch nach Madrid 80 Kilometer vor der Hauptstadt abbog, um zunächst Toledo zu erobern und den dortigen Alcázar zu befreien, in dem sich die Anhänger des Aufstandes verschanzt hatten. Da es sich bei Toledo nicht nur um den Ort handelte, in dem er seine eigene erste militärische Sozialisation erfahren hatte, sondern um die mythisch aufgeladene letzte Hauptstadt des westgotischen Königreiches, deren Rückeroberung während der Reconquista im Jahr 1085 schon von immens hohem symbolischem Wert gewesen war, konnte Franco an nationale Mythen anknüpfen und den Nimbus weiter pflegen, die Vorsehung habe zum Wohle Spaniens Großes mit ihm vor. Ein weiteres Ursachenbündel für die bald allgemein anerkannte Überlegenheit Francos lag in der Unterstützung aus dem Ausland. Als der Putsch in den ersten Tagen daran zu scheitern drohte, dass die marokkanischen Einheiten nicht auf das spanische Festland transportiert werden konnten, weil die Marine auf Seiten der Republik geblieben war, hatte sich Franco an Deutschland und Italien mit der Bitte um Unterstützung gewandt. Nachdem sowohl Mussolini als auch das Auswärtige Amt zunächst abgewunken hatten, setzte Franco auf einen Unterhändler aus den Reihen der marokkanischen Auslands-NSDAP namens Johannes Bernhardt. Diesem gelang es durch Vermittlung von Rudolf Heß, in Bayreuth direkt Kontakt mit Hitler aufzunehmen. Im Anschluss an die Begegnung am 25. Juli 1936 beschloss dieser aus politischen und geostrategischen Motiven heraus, der Sache Francos zum Sieg zu verhelfen. Zunächst entsandte Hitler zwanzig unbewaffnete Flugzeuge, die nun die erste interkontinentale Luftbrücke der Welt bildeten und die afrikanischen Truppen nach Spanien brachten. Im Laufe dieser Aktion änderte sich der Charakter der Unterstützung: Nach ersten Feindberührungen realisierte Hermann Göring, Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, dass der Einsatz von Kampfflugzeugen in Spanien der Erprobung von Material und Taktik sowie dem Training von Piloten zugutekommen könnte. So kam die deutsche Luftwaffe im Kampf um Madrid, vor allem aber im Norden Spaniens zum Einsatz. Dort drangen die franquistischen Truppen im Frühjahr 1937 systematisch vor, nachdem sich die Hauptstadt als uneinnehmbar erwiesen hatte. Zum Sinnbild der deutschen Kriegsbeteiligung

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Abb. 25: Verehrung Francos auf der Plaza Mayor in Salamanca 1937 im Spanischen Bürgerkrieg.

wurde die Nacht zum 27. April, als die Legion Condor die baskische Stadt Guernica in Schutt und Asche legte – vorgeblich, um eine Brücke und damit eine Verbindungslinie der gegnerischen Truppen zu zerstören. Die deutsche Kooperation war neben der italienischen kriegsentscheidend, zumal die Republik nur von der Sowjetunion und den Internationalen Brigaden unterstützt wurde. Als letztere 1938 auf Wunsch der republikanischen Regierung, die den Einfluss des Auslands im eigenen Lager reduzieren wollte, abgezogen wurden, war der Vormarsch der Rebellen nicht mehr aufzuhalten. Am 1. April 1939 marschierten Francos Truppen in Madrid ein, der Bürgerkrieg war beendet. Mit der massiven Unterstützung aus Deutschland hatte Hitler nicht nur den militärischen Ausgang entschieden, sondern auch Franco zu seiner unumstrittenen Position verholfen, denn von Beginn an galt die Unterstützung gezielt seiner Person. Ungetrübt war das Verhältnis der faschistischen Diktatoren zu Franco dadurch nicht. Gerade an dessen Kriegführung war schnell Kritik laut geworden, denn Franco war es offenbar nicht gelungen, mit einem schnellen Sieg über die Hauptstadt den Krieg rasch zu entscheiden, was Zweifel an seinen militärischen

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Kompetenzen wachsen ließ. Allerdings stellte sich heraus, dass Franco an einem Blitzsieg gar kein Interesse hatte. In einem Interview im Februar 1937 offenbarte er sein „programa gradual“, das ihm zwar „weniger Ruhm, aber einen stabileren Frieden“ sichern werde.5 Für das „notwendigerweise langsame“ Werk der „Erlösung und Befriedigung“ wolle er „Stadt für Stadt besetzen, Dorf für Dorf“. Mit diesem „Reinigungsprogramm“ sollte das Hinterland der Front „gesäubert“ werden von allen Infektionsherden, die für die Verbreitung von Anarchismus, Freimaurertum und Kommunismus verantwortlich wären. De facto war das ein Vernichtungskrieg, dessen systematisches Vorgehen und ostentative Grausamkeit sowohl der Ausmerzung aller offenkundigen Opponenten als auch der dauerhaften Einschüchterung aller Unentschlossenen dienen sollte. Abermals zeichneten sich die Offiziere und Mannschaften der Afrikaarmee durch besondere Skrupellosigkeit aus. Ohne jeden Anflug eines Zweifels wurden Massenexekutionen wie die in der Stierkampfarena von Badajoz, bei der Tausende Menschen ermordet wurden, damit legitimiert, dass die Erschossenen andernfalls im Rücken der Armee wieder ein „rotes Badajoz“ hätten errichten können. Die Willkürakte der ersten Phase wurden allmählich durch eine systematischere Verfolgung von Regimegegnern abgelöst, die am Ende des Krieges durch Erlass einiger Gesetze sogar den Anschein von Legalität erhielt. Zudem boten diese Gesetze eine Basis, die Repressionen auch über das Kriegsende hinaus fortzusetzen. Besonders perfide war das „Gesetz über politische Verantwortlichkeit“ (Ley de Responsabilidades Políticas) vom 9. Februar 1939, welches in Umkehrung des realen Sachverhalts diejenigen zu Rebellen und Staatsfeinden erklärte, die sich dem franquistischen System widersetzt hätten. Sogar ein passives Verhalten bot nunmehr eine Grundlage dafür, belangt zu werden. Die fließenden Übergänge zwischen Willkür und Justiz erschweren die Quantifizierung der Opfer des Bürgerkriegs. Zu den circa 300.000 Kriegstoten kamen jedenfalls diejenigen hinzu, die der Repression im Rücken der Front zum Opfer gefallen waren: 50.000 Personen wurden im Herrschaftsbereich der Republik ermordet, für ca. 150.000 Tote war die franquistische Seite verantwortlich.

Vierzig Jahre Diktatur: Programmatik, Motive, Pragmatismus

Nach dem Ende des Bürgerkriegs im April 1939 wurden die Repressionsmaßnahmen auf das gesamte spanische Staatsgebiet ausgedehnt; der Estado Nuevo umfasste nun das ganze Land. Welche konkreten politischen Ziele mit dem

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Putsch der Generäle durchgesetzt werden sollten, blieb zunächst unklar: Zu sehr unterschieden sich die Vorstellungen der Aufständischen. 1936 war eine äußerst heterogene Gruppe von Monarchisten, Republikanern, Freimaurern und Falangisten in dem einen Ziel vereint, die Volksfrontregierung hinwegzufegen und den Krieg zu gewinnen. Dass die Bündelung der Macht in einer Hand dafür sinnvoll sei, glaubten die meisten Generäle. Ob Franco der Richtige wäre, wurde von einigen durchaus bezweifelt. Gerade der Repräsentant der Junta de Defensa Nacional, Miguel Cabanellas, übertrug als Freimaurer nur widerstrebend Franco „die absolute Macht“. Aber wegen seiner militärischen Kompetenz, der Unterstützung aus dem Ausland und seiner Popularität war an Franco nicht vorbeizukommen. Selbst die zunächst präferierte Formulierung, wonach die militärischen und politischen Vollmachten nur für die Dauer des Krieges übertragen würden, war am nächsten Tag aus den Proklamationen verschwunden. Er wisse, so Cabanellas bei der Übertragungszeremonie in Burgos am 1. Oktober 1936, dass er damit „den innigsten Wunsch des wahren spanischen Volkes“ erfülle.6 Diese kumulierte Macht als Oberbefehlshaber der Armee und Staats- und Regierungschef baute Franco sukzessive weiter aus: So wurde er der Führer jener Partei, zu der im April 1937 die Falangisten und Karlisten zwangsfusioniert wurden. Zwei Jahre später übertrug er sich selbst die Kompetenz, Dekrete und Gesetze zu erlassen. Zur Rechenschaft ziehen könnten ihn nur „Gott und die Geschichte“. Im eigenen Lager wurde diese Machtfülle begrüßt. Intellektuelle bejubelten ihn als einen neuen Alexander, der – anders als der impotente Parlamentarismus – imstande sei, den „gordischen Knoten eines jeden Tages zu zerschlagen“.7 Keineswegs war von Beginn an klar, welche politischen Zielvorstellungen Franco dabei verfolgte. In seiner Antrittsrede nach der Machtübertragung am 1. Oktober 1936 erläuterte Franco der Bevölkerung live sowie über Radioansprachen und Zeitungsberichte seine Interpretation des Bürgerkrieges und seine wichtigsten politischen Ziele. Den Bürgerkrieg stilisierte er zum Befreiungskrieg von den „Roten“, die ohne Zweifel von auswärtigen Kommunisten gelenkt seien – dass in einem „spanischen Herzen so viel Schlechtes“ wohne, sei ja wohl ausgeschlossen.8 Jetzt gelte es, für Ordnung und legitime Autorität, für die Zivilisation und die glorreiche Wiederauferstehung des spanischen Imperiums zu kämpfen. Um das Vaterland zum Höchsten zu führen, werde sein Herz nicht zittern und seine Hand fest sein. Neben dem nationalen Stolz und der Einheit Spaniens beschwor Franco das soziale, antikapitalistische Programm einer Volksgemeinschaft, in der sich

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alle zum Wohle der Allgemeinheit aufopfern müssten, wovon gerade die weniger Begüterten, die Arbeiterklassen und unteren Mittelschichten profitieren sollten. Auffallend wenig ging Franco in seinen ersten Ansprachen auf den Katholizismus ein, was umso bemerkenswerter ist, als in späteren Äußerungen der religiöse Aspekt immer stärker in den Vordergrund gerückt werden sollte. Tatsächlich wurde die Religion zur bedeutendsten Legitimationsquelle seiner Herrschaft und die katholische Kirche zu einer der tragenden Säulen des Franquismus. Strittig ist, ob Franco die katholische Kirche rein taktisch instrumentalisierte oder ob deren Bedeutung im Franquismus den Überzeugungen Francos entsprach. Mehrheitlich geht die Forschung von Letzterem aus, ohne sich einig darüber zu sein, ab wann die Religion für Franco eine so wichtige Rolle spielte. Zumeist wird aus dem Fehlen dieser Aspekte in Francos Äußerungen und seinem Verhalten aus früherer Zeit darauf geschlossen, dass Franco erst in den späten 1920er Jahren zum Katholizismus fand, wobei der Wandel auf seine Eheschließung mit der offenbar sehr frommen Carmen Polo zurückgeführt wird. Tatsächlich aber dürfte ihm die alltägliche Frömmigkeit bereits durch seine Mutter nahegebracht worden sein. Der Eintritt des jungen Offiziers in die Adoración nocturna, eine Gebetsvereinigung von Laien, die sich regelmäßig zur langen Anbetung vor dem Allerheiligsten versammelte, während seines Aufenthalts in Ferrol zwischen 1910 und 1912 spricht für eine Affinität zu religiösen Praktiken schon vor dem Spanischen Bürgerkrieg. Gleichwohl ist symptomatisch, dass die religiöse Argumentation in den ersten Proklamationen des Bürgerkriegs fehlte und erst in den Vordergrund trat, nachdem Vertreter der katholischen Kirche in Spanien die religiöse Deutungsfolie des Bürgerkriegs vorformuliert hatten. Diese Deutung wiederum war durch die antiklerikalen Exzesse auf republikanischer Seite forciert worden, bei denen insgesamt mehr als 6.800 Geistliche – zum Teil auf bestialische Weise – umgebracht worden waren. Die Grausamkeiten von Parteigängern des „linken“ Lagers hatten den Primas der spanischen Kirche, Kardinal Isidro Gomá, schon im August 1936 zu der These motiviert, „dass sich gegenwärtig Spanien und Anti-Spanien, die Religion und der Atheismus, die Christliche Zivilisation und die Barbarei“9 im Krieg gegeneinander befänden. Einen Monat später legte der Geistliche nach und erhob den Bürgerkrieg zur universalen Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, deren Keim seit Anbeginn der menschlichen Geschichte grundgelegt sei. Das göttliche Prinzip stehe gegen Kommunismus und Anarchismus, gegen Götzendienst und Antiklerikalismus.

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Abb. 26: Franco als Kreuzritter. Eine Allegorie gemalt vom bolivianischen Künstler Arturo Reque Meruvia (1948/1949).

Franco kam diese Argumentation insofern entgegen, als sie sich in seine Überzeugung fügte, von der Vorsehung zur Rettung Spaniens bestimmt zu sein. Die Kirche wiederum wertete den Caudillo auf, indem sie ihn zum Vollzugsorgan einer Entwicklung stilisierte, die in den mythischen Geschichten Spaniens und der Welt grundgelegt schien. Zudem mussten die Legitimität und Erfolgsperspektive des Kampfes gegen die Republik nicht weiter begründet werden, wenn Franco im Auftrag Gottes unterwegs war. Entsprechend zielte das franquistische Bildprogramm darauf ab, Franco in die sakrale Sphäre von Kultobjekten zu integrieren: So beispielweise in der Darstellung Francos als Kreuzritter, über den der Heilige Jakobus im Maurenkrieg hinwegreitet, wobei der helle Glanz, der von dem Patron Spaniens ausgeht, auch die Person Francos umfasst. Oder wenn in einem Schulbuch Franco kniend vor der Virgen del Pilar abgebildet wird und der Heiligenschein, der die Madonna auf der Säule umgibt, zugleich Francos Haupt einbezieht. Der Schulterschluss zwischen Franco und der katholischen Kirche dürfte einen Großteil der katholischen Bevölkerung für den Caudillo eingenommen haben. Die Anhänger der Falange wiederum befremdete diese Nähe. Diese Dissonanz führt zu dem entscheidenden Herrschaftsprinzip der franquistischen Diktatur: Die unumstrittene Position Francos fußte nicht zuletzt auf den Interessensvertretern verschiedener Gruppierungen, den sogenannten Familien, die

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allesamt an der Regierung beteiligt wurden und sich in ihren zum Teil konträren Zielsetzungen und Konkurrenzen wechselseitig kontrollierten und neutralisierten. Zu diesen „Familien“ zählten das Militär, die Kirche, die Monarchisten, der Großgrundbesitz und die Falange. Wie in einem Mobile konnte Franco dabei die Gesamterscheinung und Dynamik verändern, indem er einzelne Gruppen hervorhob, etwa durch die Zuteilung von Ministerposten. Auf diese Weise gewann das franquistische System eine Elastizität, die es ihm ermöglichte, sich den wechselnden innenpolitischen Anforderungen und außenpolitischen Einflüssen anzupassen, ohne die Grundprinzipien einer antiparlamentarischen, diktatorischen Herrschaft im Kern zu verändern. Die Umbildungen der Regierung spiegeln damit zugleich die Phasen der franquistischen Herrschaft: Auf den Bürgerkrieg (1936–1939) folgte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine Phase der Orientierung an den Achsenmächten. In dieser Zeit ließ Franco insbesondere denjenigen Kräften freien Lauf, die den Franquismus stärker faschistisch gestalten wollten, wozu insbesondere die Falange zählte. So nahm sein philofaschistischer Schwager, Ramón Serrano Súñer, der inoffizielle Führer der Falange in der Zeit nach dem Tod José Antonios, im Kabinett eine Schlüsselrolle ein. Zunächst war Serrano Innenminister, 1940 wurde er Außenminister. In beiden Positionen sorgte er für eine starke Stellung der Falange und eine enge Anlehnung an die Achsenmächte. Diese Annäherung führte zu Analogien in der Innen-, Wirtschafts- und Symbolpolitik: Von den Aufmärschen der Falange über ästhetische Vorlieben bis zum nationalen Wirtschaftsrat oder der Zusammensetzung der Volksvertretung – überall ließ sich das faschistische Vorbild erkennen. In der Außenpolitik allerdings hatte die Affinität Grenzen: Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erklärte sich das Franco-Regime als neutral. Allerdings war diese Haltung mehr den materiellen Möglichkeiten als dem Wunsch Francos geschuldet, Spanien aus dem Krieg herauszuhalten. Letzteres ist ihm bis nach seinem Tod als großer außenpolitischer Erfolg hoch angerechnet worden. Dabei belegen die Quellen unzweideutig, dass Franco im Sommer 1940, als die nationalsozialistische Kriegführung durch Blitzsiege beeindruckte und die Kapitulation Englands nur eine Frage der Zeit schien, Hitler anbot, an der Seite Deutschlands in den Krieg einzutreten. Dass es nicht so weit kam, verdankte das Land weniger dem geschickten Kalkül Francos als vielmehr dem glücklichen Umstand, dass Hitler in genau der Zeit, als Franco zum Krieg bereit war, meinte, auf Spaniens Beitrag verzichten zu können, zumal Spaniens exzessive Territorialforderungen in Afrika mit

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den französischen Ansprüchen nicht kompatibel waren. Die einzige direkte Kriegsbeteiligung Spaniens blieb die „Blaue Division“, jene Einheit von rund 47.000 Männern, die sich unmittelbar nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941 freiwillig meldeten, um als 250. Infanteriedivision des deutschen Heeres in Russland zum Einsatz zu kommen. Benannt war die Einheit nach dem blauen Hemd der Falange, aus der sich die meisten Freiwilligen rekrutierten. Dieser Einsatz markiert den Höhepunkt der Annäherung an die Achse. Mit dem sich wendenden Kriegsglück ging Franco mehr und mehr auf Distanz zum Faschismus. Die Entlassung Serrano Súñers 1942 als Außenminister ist in diesem Kontext zu sehen, auch wenn innenpolitische Friktionen ausschlaggebend für diese Personalentscheidung gewesen waren. Vorausgegangen war die wohl schwerste Krise des Franquismus, in der sich der Unmut monarchistischer Regimeanhänger manifestiert hatte. Diese verbanden mit dem Putsch von 1936 die Hoffnung auf eine baldige Wiedereinsetzung der Monarchie und reagierten auf die herausgehobene Stellung der Falange mit wachsendem Unverständnis. Die vielbeschworene Einheit des rechten Lagers schien in dem Moment auseinanderzubrechen, als Falangisten eine Gedenkveranstaltung der Karlisten in Bilbao mit einem Bombenattentat sabotierten. Franco reagierte mit einer Kabinettsumbildung, die den Forderungen der Monarchisten insoweit entgegenkam, als die Macht der Falangisten beschränkt wurde. Dieses Manöver erwies sich insofern für die Stabilisierung des Franquismus als überaus geschickt, als Franco sich erstens mit Serrano Súñer eines politischen Konkurrenten entledigen und zweitens den Alliierten mit der Entfernung des „Ministers der Achse“ Entgegenkommen signalisieren konnte. Doch diese und viele weitere Gesten wie der Rückzug der Blauen Division im Jahr 1943 konnten letztlich nicht das Verdikt abwenden, welches das FrancoRegime am Ende des Zweiten Weltkriegs traf: Da es mit Hilfe der faschistischen Staaten errichtet worden war, galt es als unerwünscht im Kreise der sich demokratisch definierenden westlichen Welt. Damit begann nach Bürgerkrieg und faschistischer Orientierung die dritte Etappe des Franquismus: der sogenannte Ostrakismos (1945–1953). Die westliche Welt setzte nun darauf, den Franquismus durch v. a. politische Boykottmaßnahmen in die Knie zu zwingen. Letztlich bewirkten die Sanktionen das Gegenteil: Angesichts des Drucks von außen und der Furcht, eine „linke“ Regierung könne Rache für die erlittenen Repressionen nehmen, stellten die Gruppierungen des franquistischen Lagers ihre Interessenskonflikte zurück und formierten sich demonstrativ hinter Franco. Nicht nur die politische Elite ver-

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hielt sich so: Nachdem die UN-Vollversammlung im Dezember 1946 verkündet hatte, alle Botschafter aus Spanien abzuziehen, kam es zu einer Massenversammlung vor dem Königspalast. Diese zeugte von der Popularität des Caudillos, die durch den Boykott nun noch einmal verstärkt wurde. Als weiterer geschickter Schachzug zur Stabilisierung seiner Position erwies sich die Proklamation des sogenannten Nachfolgegesetzes 1947: Dieses definierte das franquistische System als Monarchie, behielt es aber Franco vor, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der ebenfalls von ihm auszuwählende Monarch ernannt werden würde. Dieser Kompromiss entzog dem Widerstand der Monarchisten die Stoßkraft, zumal sich die Bewegung nun in diejenigen spaltete, die sich auf die von Franco angekündigte Monarchie einließen, und jene, die an einer Restauration der Bourbonenmonarchie unter dem Sohn des inzwischen verstorbenen Alfons XIII., Don Juan de Borbón, festhielten. Alfons XIII. hatte mit der Proklamation der Republik 1931 Spanien fluchtartig verlassen, aber nie seinen Thronverzicht erklärt. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich sein Sohn als Alternative zu Franco ins Spiel gebracht, zumal er aus dem Ausland dazu aufrief, eine demokratische, parlamentarische Monarchie zu errichten. Damit hatte er sich in den Augen Francos völlig diskreditiert. Allenfalls seinem Sohn wollte er eine Chance einräumen, unter der Maßgabe, dass ihm die Erziehung des damals zehnjährigen Juan Carlos übertragen würde. Der Prinz war eine Option; eine Festlegung Francos auf diese dynastische Linie ging damit nicht einher. Mit dem jetzigen Nachfolgegesetz verankerte er zwar grundsätzlich die Institution Monarchie, hielt sich aber weiter alle Personalentscheidungen offen. Das Gesetzeswerk nutzte Franco zu einer Volksbefragung: Das Plebiszit über das Nachfolgegesetz wurde de facto zu einer Abstimmung über sein Regime. Auch wenn diese Meinungserhebung nicht ohne Pressionen verlief, deutet alles darauf hin, dass sich auch ohne großen Druck eine deutliche Mehrheit für Franco ausgesprochen hätte. Um 1950 war sein Regime so stabil wie nie zuvor. Zudem ließ der außenpolitische Druck nach, je mehr der Kalte Krieg zu einer Verlagerung der internationalen Aufmerksamkeitsachse führte. Die demokratischen Defizite in Spanien wogen bald weniger schwer als die geostrategischen Vorteile der Iberischen Halbinsel bei einer möglichen Verteidigung Europas gegen einen Angriff der Sowjetunion. Da die westlichen Staatsmänner immer weniger Interesse an einer politischen Instabilität in Spanien haben konnten, waren sie immer mehr bereit, Francos autoritäres Regime zu akzeptieren. Schließlich trauten sie ihm am ehesten zu, Ordnung im Inneren und Sicherheit nach außen zu gewährleisten. Dies fiel ihnen umso leichter, als Franco

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durch Umbesetzungen im Kabinett den Akzent nun auf die Katholiken gelegt hatte. In den Europakonzeptionen eines christlichen Abendlandes fanden nun franquistische Minister und christlich-demokratische Politiker Westeuropas schnell zusammen. Die Rehabilitation des Franco-Regimes war weitgehend vollzogen, als 1953 der Vatikan ein Konkordat mit Franco schloss und die USA ein Stützpunktabkommen unterzeichneten, welches Spanien indirekt in die Nato und die Verteidigungskonzepte des Westens integrierte. Der „Gang durch die Wüste“10, den Franco anlässlich des Botschafterboykotts 1946 vorausgesagt hatte, war offenbar an ein Ende gekommen. Doch die Anerkennung, die ihm die Fortschritte bei der Westintegration eintrugen, wurde bald untergraben durch soziale Unruhen. Die Wirtschaft vermochte die Erwartungen der Bevölkerung auf eine Verbesserung des Lebensstandards nicht zu erfüllen. In Anlehnung an faschistische Wirtschaftsmodelle hatte Franco zunächst auf ökonomische Autarkiekonzepte gesetzt und diese in der Nachkriegszeit nicht aufgegeben, sondern ausgebaut. Die Isolierung aber brachte Spaniens Wirtschaft in Bedrängnis, auch wenn rückblickend nicht klar wird, wie dramatisch die Lage tatsächlich war. Unstrittig ist, dass die Autarkiepolitik konträr zur europäischen Entwicklung wirtschaftlicher Zusammenschlüsse stand. In Anbetracht wachsender Handelsbilanzdefizite, sozialer Unruhen und dem Wunsch, den Anschluss in Europa nicht zu verlieren, bildete Franco 1957 abermals das Kabinett um. Diese Entscheidung wurde wegen der ökonomischen Folgen bald als „kopernikanische Wende“11 gefeiert und leitete die vierte Phase des Franquismus ein (1957–1969). Die wirtschaftlichen Schlüsselressorts waren nunmehr mit Technokraten besetzt, die vielfach dem Opus Dei angehörten – einer 1929 in Spanien gegründeten ultrakatholischen Gemeinschaft, die eine religiöse Gesellschaftserneuerung durch Elitenrekrutierung anstrebte. Sie setzten eine wirtschaftliche Ausrichtung auf Europa durch, ohne auf politische Änderungen zu dringen. Die neuen Weichenstellungen trugen – zusammen mit den Deviseneinkünften aus dem Tourismus und den Geldsendungen spanischer Gastarbeiter – dazu bei, dass Spanien in den 1960ern sein „Wirtschaftswunder“ erlebte. Der Lebensstandard stieg so schnell, dass sich die spanischen Konsummuster den westeuropäischen immer mehr anglichen. In dieser Zeit wandelte sich die Legitimation des Franco-Regimes: Hatte bislang die Berufung auf den Sieg im Bürgerkrieg im Vordergrund gestanden, so inszenierte sich das Regime jetzt vermehrt als Garant von Frieden und Wohlstand.

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Erneut führte dieser Wirtschaftserfolg zu einer Stabilisierung des Systems, ohne aber verhindern zu können, dass sich wiederum Widerstand formierte. Am Ende der 1960er Jahre setzten Erosionsprozesse ein, die die Unterstützung des Franquismus just in den Gesellschaftsgruppen unterminierten, die bislang als zuverlässige Säulen des Franquismus gegolten hatten. Diese fünfte Phase reichte bis zu Francos Tod und kann als „Agonie“ des Franquismus bezeichnet werden. Der körperliche Verfall des Diktators versinnbildlichte dabei paradigmatisch die Krise des Systems. Das Schwinden physischer Kraft, das sich in Krankheiten oder auch darin manifestierte, dass Franco in langen Sitzungen seiner Müdigkeit nicht mehr Herr wurde, machte die Nachfolgefrage unabweisbar. Franco suchte selbst nach Lösungen, die das Überdauern seines Regimes gewährleisten könnten. Schließlich rang er sich dazu durch, Juan Carlos 1969 zum künftigen Monarchen und Luis Carrero Blanco 1973 zum Regierungschef zu bestimmen.

Im „Bunker“: Tod und Übergang zur Demokratie

Damit glaubte Franco, alles festgezurrt zu haben. Das Gegenteil war der Fall: Weite Kreise auch innerhalb der franquistischen „Familien“ waren von der Notwendigkeit politischer Veränderungen überzeugt. Vor allem die Kirche war seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mehrheitlich zu Franco auf Distanz gegangen, setzte sich für die Interessen der Arbeiter ein und forderte eine Demokratisierung. Kommunisten hatten sich über gewerkschaftliche Arbeit in die vertikal aufgebauten Syndikate wählen lassen, die neben den Vertretern von Gemeinden und Familien die Repräsentanten des spanischen Parlaments, der Cortes, stellten. Andere Gruppen äußerten ihren Protest mit Gewalt. 1959 hatte sich die baskische Terrororganisation ETA gegründet. In den 1960er und 1970er Jahren nahm die Intensität der Anschläge zu, die 1973 in dem spektakulären, tödlichen Anschlag auf Carrero Blanco gipfelten. Der Franco-Staat drohte, das Gewaltmonopol und mit dem Vermögen, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, auch seine zentrale Legitimationsressource zu verlieren. Entsprechend repressiv reagierte der Staat auf diese terroristische Herausforderung. 1970 waren einige Terroristen zum Tode verurteilt, die Urteile aber in Haftstrafen umgewandelt worden, ohne dass dies zu einer Abnahme der Häufigkeit von Anschlägen geführt hätte. Fünf Jahre später, im September 1975, wurde die Todesstrafe an mehreren Terroristen gnadenlos vollstreckt. Die Entrüstung im Ausland war groß. Bezeichnenderweise bat ausgerechnet der sozialistische Hoffnungsträger

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Felipe González den deutschen Botschafter, dafür zu sorgen, dass die Reaktionen nicht zu heftig ausfielen: Sie könnten Solidarisierungswellen in Spanien provozieren, die den Übergang zur Demokratie gefährden würden. Dieser wurde seit geraumer Zeit heimlich vorbereitet, nicht zuletzt durch den Thronfolger Juan Carlos, der trotz seines Eides auf die franquistischen Prinzipien nicht vorhatte, sich an diese zu halten. Er stand in Kontakt mit reformbereiten Politikern und nutzte nicht zuletzt die deutsche Botschaft, um Verbindungen zu Felipe González herzustellen. Aber solange Franco lebte, war an einen Systemwechsel nicht zu denken. Bis in sein hohes Alter hinein schien seine Herrschaft unantastbar, auch wenn vielfach nicht mehr klar war, was er noch eigenständig entschied und was nicht. Um ihn hatte sich in den letzten Jahren ein Kreis Getreuer geschart, der sich in politischen Denkmustern der Vergangenheit derart verbarrikadiert hatte, dass man ihn den „Bunker“ nannte. Dieser Kreis versuchte nun, mit dem Diktator auch den Franquismus am Leben zu halten. Nach einer ersten schweren Erkrankung im Jahre 1974, von der er allerdings so weit genas, um die Regierungsgeschäfte wieder zu führen, wurde Franco im Oktober 1975 nach einem Herzanfall ins Krankenhaus gebracht. Nach diversen Komplikationen und Operationen, an denen nicht zuletzt sein Schwiegersohn, der zum „Bunker“ zählte, beteiligt war, sollte er nicht mehr das Bewusstsein erlangen. Nachdem er eine Zeitlang künstlich am Leben erhalten worden war, ließ man ihn am 20. November 1975, dem Todestag José Antonios, sterben. Mit tränenerstickter Stimme verkündete Carlos Arias Navarro, der die Nachfolge von Carrero Blanco angetreten hatte, im Fernsehen: „Franco ist tot.“ Die Reaktionen auf seinen Tod waren so widersprüchlich wie sein Leben. Dieses schien in den letzten Jahrzehnten eher von unspektakulärer Bürokratie, Disziplin und Langeweile als von Glamour geprägt gewesen zu sein. Aufsehenerregende Auftritte gab es nicht, seine Reden waren alles andere als ein rhetorisches Feuerwerk, in den Akten tritt er als Akteur kaum hervor. Und dennoch attestierten ihm auch enge Mitarbeiter eine Wirkung, der man sich schwer entziehen könne. Die Reaktionen auf einige seiner Reden bestätigten dies. Noch im Tod konnte Franco mobilisieren: Unzählige Spanier nahmen weite Wege und lange Wartezeiten in Kauf, um am Sarg vom Caudillo Abschied zu nehmen. Doch spätestens mit seinem Tod schwand das Verpflichtungsgefühl gegenüber seinem Regime. Vergeblich versuchten sich die eingefleischten Franquisten einem Demokratisierungsprozess zu widersetzen, dem eine überwältigende Mehrheit der Spanier offen gegenüberstand und den sie an den Urnen absicher-

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te. Ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass sich die spanische Bevölkerung bis zuletzt mehrheitlich mit Franco arrangiert hatte, ist die Geschwindigkeit, mit der er nach seinem Tod vergessen wurde. Schon zehn Jahre nach seinem Ableben konstatierte die Zeitung El País, dass die nachwachsende Generation ihn kaum noch kennen würde. Die Erwachsenen wiederum stünden ihm vor allem gleichgültig gegenüber.12 Fast schon war Franco ein – wie der Titel einer spanischen Biographie lautete – „vergessener Caudillo“.13 Doch dreißig Jahre nach seinem Tod hatte sich die Situation radikal gewandelt. Nachdem Vertreter der Enkelgeneration begonnen hatten, Leichen der Bürgerkriegsopfer zu exhumieren, entbrannte eine Debatte über das franquistische Unrechtssystem. Forderten die einen Genugtuung für erlittenes Unrecht und langes Schweigen, fühlten sich die anderen provoziert und begannen, die Vorzüge des Franquismus zu betonen. Die Kontroverse wurde angeheizt durch das Gesetz zur „Wiedergewinnung der historischen Erinnerung“, mit dem 2007 verfügt wurde, alle Symbole des Franquismus aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. So verschwanden nach und nach sämtliche Reiterstandbilder Francos aus den spanischen Städten. Wie problematisch aber der Wunsch ist, alle Symbole des Franquismus zu tilgen, zeigte sich noch viele Jahre an dem Valle de los Caídos, jener Basilika, die Franco zwischen 1940 und 1959 unweit des Escorial in ein Bergmassiv hatte hauen lassen. Auch wenn die dort lebenden Benediktiner behaupteten, es handele sich schon deshalb um einen Ort der Versöhnung, weil dort die Gebeine von mehr als 33.000 Bürgerkriegsopfern beider Seiten aufbewahrt würden, so bleibt das Gebäude durch seine Ästhetik und seine Geschichte ein Erinnerungsort des Franquismus par excellence. Vor allem der Umstand, dass die Benediktiner tagtäglich die Messe in unmittelbarer Nachbarschaft der stets mit frischen Blumen geschmückten Grabplatte von Francisco Franco zelebrierten, der im November 1975 dort bestattet worden war, konnte als befremdliches Überdauern des spanischen Nationalkatholizismus verstanden werden. Im Oktober 2019 schuf die sozialistische Regierung unter Pedro Sánchez (PSOE) Fakten: Gegen den langanhaltenden Widerstand einerseits der Familie Francos und andererseits des Benediktinerpriors wurden die sterblichen Überreste Francos aus dem Valle de los Caídos entfernt und in eine Familiengruft auf dem Friedhof von Mingorrubio in einem Vorort von Madrid überführt. Die ultrarechten Anhänger Francos haben die neue Begräbnisstätte mittlerweile in ihre Jahresrituale integriert: Am Jahrestag des Beginns des Bürgerkriegs feiern sie zunächst eine Messe bei den Benediktinern im Valle de los Caídos, um dann mit erhobenem rechten Arm vor

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dem neuen Grab des Caudillo zu salutieren. Die Zukunft des Valle blieb vorerst ungewiss. Gemäß dem „Gesetz zur demokratischen Erinnerung“, welches die sozialistische Regierung im Sommer 2021 auf den Weg gebracht hat und das das frühere „Gesetz zur historischen Erinnerung“ von 2007 verschärfen soll, war für die Ordensleute dort kein Platz mehr – aus dem Gebäudekomplex sollte ein ziviler Friedhof mit einem nationalen Dokumentationszentrum werden. Allerdings ist die Erinnerung an Bürgerkrieg und Franquismus in Spanien längst Bestandteil einer überaus polarisierten Parteipolitik. Dass sich ein einheitliches, von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragenes Franco-Bild wird durchsetzen können, ist angesichts der polarisierten Gesellschaft daher trotz – oder vielleicht gerade wegen – der normativen Erinnerungsgesetze eher unwahrscheinlich.

Weiterführende Literatur Bernecker, Walther L.: Krieg in Spanien 1936–1939, Darmstadt 2. Aufl. 2005. Bernecker, Walther L.: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 6. Aufl. 2018. Bernecker, Walther, L./Brinkmann, Sören: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2010, Nettersheim 5. Aufl. 2011. Cardona, Gabriel: Franco y sus generales, Madrid 2001. Casanova, Julián: La Iglesia de Franco, Madrid 2001. Cazorla Sánchez, Antonio: Franco. The Biography of the Myth, London/New York 2014. Ellwood, Sheelagh M.: Franco, London 1994. Fusi, Juan Pablo: Franco. Spanien unter der Diktatur 1936–1975, München 1992. Juliá, Santos (Hg.): Víctimas de la guerra civil, Madrid 1999. Molinero, Carme: La anatomía del Franquismo. De la supervivencia a la agonía, 1945– 1977, Barcelona 2008. Payne, Stanley G.: Franco and Hitler. Spain, Germany and World War II, New Haven 2008. Payne, Stanley G.: The Franco Regime, 1936–1975, London 2000. Preston, Paul: Franco. A Biography, London 1995.

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Anmerkungen 1

Walther L. Bernecker: Das Franco-Regime in Spanien. Der Streit um einen chamäleonhaften Systemtypus, Frankfurt a. M. u. a. 2016. 2 Franco gegenüber dem Journalisten Manuel Aznar am 1. April 1939, gedruckt in: La Vanguardia Española, 4.4.1939, wiedergegeben in: Los grandes problemas de España: Declaraciones de Franco a don Manuel Aznar. 1 enero 1939, in: Marí Carmen GarcíaNieto/Javier Donézar (Hg.): La España de Franco 1939–1973, Madrid 1975, S. 56. 3 Francisco Franco Bahamonde: Marruecos. Diario de una bandera, Madrid 1922. 4 Interview in Estampa, 29.5.1928, zitiert in: Carlos Seidel Collado: Franco. General – Diktator – Mythos, Stuttgart 2015, S. 56 f. 5 Zitiert in: Enrique Moradiellos: Francisco Franco. Crónica de un caudillo casi olvidado, Madrid 2002, S. 86. 6 Vgl. ABC, 2.10.1939. 7 Vgl. die Rede des Rechtsphilosophen Francisco Elías de Tejada im Januar 1939, zitiert in: Carlos Collado Seidel, Franco, S. 125. 8 Ebd. 9 Zitiert in: María Luisa Rodríguez Aisa: El cardenal Gomá y la guerra de España. Aspectos de la gestión pública del Primado 1936–1939, Madrid 1981, S. 23. 10 Zitiert in: Birgit Aschmann: „Treue Freunde…“? Westdeutschland und Spanien 1945–1963, Stuttgart 1999, S. 56. 11 Ebd., S. 259. 12 Vgl. El País, 19.11.1985. 13 Moradiellos, Francisco Franco.

18. Dolores Ibárruri (1895–1989) La Pasionaria: Die wortmächtigste Kommunistin Europas

Als ihr Sarg am 16. November 1989 durch die Straßen Madrids gefahren wurde, säumten zahlreiche Menschen den Weg, die immer wieder „Dolores, Dolores!“ riefen und „No pasarán!“ skandierten. Rund 200.000 Männer und Frauen hatten sich auf den Weg gemacht, um Dolores Ibárruri das letzte Geleit zu geben. Zuvor hatten sie sich auf der Plaza Colón versammelt, wo aus den Lautsprechern noch einmal Auszüge aus einer ihrer letzten großen Reden erklangen, wo Gedichte rezitiert und Lieder gesungen wurden, die ihr einst gewidmet worden waren. Nur wenig andere Begräbnisse hatten in Spanien jemals so viele Menschen auf die Beine gebracht und solche Emotionen ausgelöst. Dabei hatten viele das Gefühl, an diesem Tag werde mehr als nur eine berühmte Kommunistin zu Grabe getragen. Gerade eine Woche war es her, dass in Berlin die Mauer gefallen und damit das Ende des kommunistischen Ostblockes mit den Händen zu greifen war. Dolores Ibárruri war in ihrem Leben zum zentralen Symbol der kommunistischen Partei Spaniens geworden. Es ist zumindest symptomatisch, dass ihre Lebensspanne die Zeit umfasste, in der der Kommunismus in Spanien Fuß fasste, sich entwickelte, an Anziehungskraft und maximalem Einfluss gewann, bevor er schließlich wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Als „Rettungsstern“ und „neue Morgendämmerung“ des spanischen Kommunismus war sie seinerzeit verklärt worden.1 Nun stand ihr Begräbnis zeichenhaft für den Niedergang der Partei. „Mit Pasionaria“, so stand es in einer spanischen Tageszeitung, werde „der Kommunismus in Spanien beerdigt“.2

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Dabei hatte in ihren ersten Lebensjahren wenig auf eine Karriere innerhalb der linken Arbeiterbewegung hingewiesen. Am 9. Dezember 1895 kam Dolores Ibárruri im baskischen Gallarta in einer kinderreichen Familie von Bergleuten zur Welt. Das Weltbild der Eltern wurzelte im konservativen Karlismus, der seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in der Region beheimatet war. In den drei Bürgerkriegen Spaniens im 19. Jahrhundert hatten die Karlisten für „Gott“, „Vaterland“, den (karlistischen) „König“ und die Fueros, die regionalen Rechte,

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Dolores Ibárruri (1895–1989) Abb. 27: Dolores Ibárruri im Jahr 1936, fotografiert von Louis Meurisse.

und gegen die liberalen Regierungen Zentralspaniens gekämpft. Auf ihrer Seite war auch Dolores’ Vater Antonio in den Krieg gezogen, ehe er wie die meisten Verwandten für den Rest seines Arbeitslebens in den baskischen Bergwerken verschwand. Die Biskaya hatte gegen Ende des Jahrhunderts von der im In- und Ausland wachsenden Nachfrage nach Eisenerzen profitiert. Antonio Ibárruri war indes kein einfacher Bergmann, sondern erhielt dank seiner Erfahrung im Umgang mit Sprengstoffen ein Gehalt, das oberhalb des üblichen Durchschnittseinkommens der Bergarbeiter lag. Insgesamt war der Lebensstandard der Basken im spanischen Vergleichsmaßstab recht hoch. Allerdings kam der neue Wohlstand nicht allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zugute. Während es einigen baskischen Familien sogar gelang, in die vor allem aus England mit Investitionen geförderte Eisen- und Stahlindustrie einzusteigen und durch das schnelle Wachstum der Schwerindustrie zu Reichtum zu kommen, fristeten insbesondere die aus anderen Regionen eingewanderten Arbeiter mehrheitlich ein entbehrungsreiches Leben in prekären Hygiene- und Wohnverhältnissen. Sie waren aus den strukturschwachen Regionen Spaniens in die Ballungszentren der Industrie geströmt und hatten dazu beigetragen, dass sich die Einwohnerzahl der baskischen Industrie- und Hafenstadt Bilbao in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vervierfachte.

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In vielen Regionen brachte diese Dynamik nicht nur eine Veränderung der demographischen Verhältnisse mit sich: Durch die neuen sozialen Erfahrungen wurden alte Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster in Frage gestellt, gerieten Weltbilder in Gefahr und andere, neue soziale Gruppierungen formierten sich auf der Basis neuer Überzeugungen. In Abwehr der neuen Verunsicherungen der Moderne bildete sich einerseits das politische Baskentum heraus, das die (vermeintlich) althergebrachten Traditionen der Region beschwor. Andererseits entstand eine Arbeiterbewegung, die sich durch religiöse Jenseitsverheißungen nicht mehr vertrösten lassen wollte, sondern sich die Forderungen der sozial Benachteiligten zu eigen machte. Diese Arbeiterbewegung breitete sich schnell in den Industrieregionen Nordspaniens und Kataloniens aus. Auch in Andalusien, wo Arbeiter saisonal als Tagelöhner in den landwirtschaftlichen Betrieben der Großgrundbesitzer zum Einsatz kamen, stieß die neue Bewegung auf Zustimmung. Bezeichnend für Spanien ist dabei der Umstand, dass die Arbeiterbewegungen der Regionen ganz unterschiedliche Wege einschlugen: Katalonien und Andalusien wurden zu Hochburgen des Anarchismus, während die Arbeiter in Spaniens Norden dem Sozialismus zuneigten. Diese Spaltungen standen der Bildung einer einheitlichen und damit einflussreichen Arbeiterbewegung im Wege. Wie sehr die unterschiedlichen Ideologien zu wechselseitigen Blockaden der Protestbewegungen führen konnten, zeigte sich nicht zuletzt in Spaniens Krisenjahr 1917. Spanien geriet an den Rand einer Revolution, weil sich das Restaurationssystem gleich von drei Seiten in die Zange genommen sah. So forderten erstens revoltierende Militärs, die sich in sogenannten Verteidigungsräten (Juntas de Defensa) zusammengeschlossen hatten, die Regierung heraus. Zweitens wollte der politische Katalanismus die Schwäche der Zentralregierung nutzen, um Katalonien durch eine rigorose Föderalisierung des spanischen Staates zu stärken. Drittens wollten die Gewerkschaften mit einem Generalstreik im August 1917 die spanische Wirtschaft lahmlegen und revolutionäre Unruhen provozieren. Die Gewaltbereitschaft der lange Zeit friedlichen Arbeiterbewegung war dadurch gewachsen, dass Spanien im Verlauf des Weltkrieges immer weniger von seiner Rolle als neutraler Staat inmitten kriegführender Nationen profitieren konnte. Die Nachfrage nach Textilprodukten brach ebenso ein wie die nach Eisenerzen. Zahlreiche Betriebe mussten angesichts des rapiden Auftragsrückgangs die Produktion drosseln, wenn nicht gar Fabriken schließen und Mitarbeiter entlassen. In dieser angespannten Lage wurden die Ereignisse in Russland besonders aufmerksam verfolgt. Während die Intellektuellen Spaniens der russischen Re-

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volution des Jahres 1917 schon deshalb kritisch gegenüberstanden, weil diese auf ein Ausscheiden Russlands aus dem Krieg und damit eine Schwächung der Alliierten hinauslief, reagierten die Arbeiter begeistert auf die Nachrichten aus Sankt Petersburg, zumal sich die Ansicht verbreitete, Spanien könne das nächste Land sein, das von einer vergleichbaren Revolution erfasst werden würde. Besonders enthusiastisch nahmen die Arbeiter im Baskenland die Informationen über die Ereignisse in Russland auf – auch wenn diese bedingt durch die Distanz, mangelnde Sprachkenntnisse und die von der Regierung als Reaktion auf die Krise von 1917 erlassene Zensur nur spärlich und fragmentarisch den Weg über die Pyrenäen fanden. Gerade in Anbetracht dieser diffusen Nachrichtenlage ist fraglich, was die damals knapp 22 Jahre alte Dolores im Winter 1917 wirklich erfuhr oder wie sie darauf reagiert haben mochte. In ihren eigenen, erstmals 1960 in der Sowjetunion publizierten Erinnerungen lässt sie keinen Zweifel: Sie sei elektrisiert gewesen, habe instinktiv gefühlt, „daß etwas unermeßlich Großes geschehen war“. Alle Traurigkeit, die ihre Tage bedrückt hätte, sei wie fortgeblasen gewesen: „Nun fühlte ich mich nicht mehr allein. Unsere Revolution […] war Wirklichkeit“.3 Unstrittig ist, dass die Russische Revolution dazu beitrug, das Jahr 1917 zu einer Zäsur in der spanischen Geschichte werden zu lassen. Zugleich aber wurde es zur Weichenstellung in der Vita von Dolores. Wie unzählige Spanierinnen und Spanier schien auch sie die Revolution als Beleg wahrgenommen zu haben, dass radikaler Wandel möglich sei. Diesen ersehnte sie nicht nur für das politische System oder die Arbeiterklasse, sondern ganz konkret für sich selbst. Es dürfte nicht zuletzt das Ineinandergreifen von politischer Perspektive und persönlicher Erlösungshoffnung gewesen sein, was Dolores fortan an die sowjetische Entwicklung band. Hatte doch ihr eigenes Leben sie offenbar zunächst in eine Sackgasse geführt. Ihr Wunsch, Lehrerin zu werden, hatte sich nicht realisieren lassen. Immerhin hatte sie von einer Bildungsoffensive profitiert, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem signifikanten Anstieg der Schulbildung für Mädchen geführt hatte. Im Jahr 1910, als Dolores die Schule verließ, stellten Mädchen immerhin fast die Hälfte der Schulkinder an Volksschulen. In den Mittelschulen lag der Anteil der Mädchen allerdings noch unter 15 Prozent.4 Dabei war es gerade diese „Norm“, die Dolores’ Eltern davon abhielt, ihre Tochter weiterhin die Schule besuchen zu lassen. Hinter der Weigerung der Eltern stand weniger ein Geldproblem, wie Dolores es in ihren Memoiren andeutete, als vielmehr die Annahme, dass es nicht ratsam sei, der Tochter eine höhere Ausbildung zu ermöglichen, als es im Ort für Frauen üblich war. Stattdessen sollte sie bei einer Schneiderin, als

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„Mädchen“ im fremden Haushalt und Aushilfe in einer Gastwirtschaft Fertigkeiten erwerben, die ihr im künftigen Leben an der Seite eines Gatten und bei der Haushaltsführung hilfreich sein würden. Immerhin war sie dadurch imstande, sich bis ins hohe Alter ihre Kleider selbst zu nähen. Darüber hinaus behielt sie diese Zeit nicht in guter Erinnerung. Den beengten Verhältnissen suchte sie sich dadurch zu entziehen, dass sie einen Mann heiratete, den sie während ihrer Arbeit kennengelernt hatte. Auch Julián Ruiz war ein Bergmann, aber anders als ihr Vater verdiente er schlecht. Nach dem Umzug in dessen nahegelegenen Heimatort Somorrostro lernte Dolores das Elend einer Arbeiterfamilie kennen. Neun Monate nach der Hochzeit im Februar 1916 brachte sie das erste von insgesamt sechs Kindern zur Welt. Als Frau eines Mine­ ro lebe man, so schrieb sie später, in „unendlicher Verzweiflung“.5 Sie habe nun, schrieb sie in ihren Erinnerungen, an den Spruch denken müssen, was die Ehe für Frauen bedeute: „Spinnen, Gebären und Weinen“.6 Der Status der Ehefrauen von Bergleuten gleiche dem einer „Haussklavin“: Sie seien bar aller Rechte, ohne jegliche „soziale Identität“, ihre Persönlichkeit sei wie ausgelöscht.7 Wie prekär die Lebensverhältnisse in einem Haus waren, das im Sommer schlecht vor der Hitze und im Winter kaum vor der Kälte schützte, zeigt sich schon daran, dass von ihren sechs Kindern nur zwei das Kleinkindalter überlebten. Die Situation war umso bedrückender, als ihr Mann oftmals nicht nur als Stütze im Haushalt, sondern auch als Familienernährer ausfiel: Sein politisches Engagement und die Beteiligung an Streiks wie dem von 1917 trugen ihm diverse Haftstrafen ein, während derer er kein Geld nach Hause brachte. Die Ehe bedeutete für Dolores nicht nur einen sozialen Absturz, sondern wegen der politischen Überzeugung ihres Mannes auch den Bruch mit der Familie. Julián Ruiz teilte nicht die katholische Weltanschauung seiner Schwiegereltern, sondern gehörte mit seiner Sympathie für den baskischen Sozialismus dem gegnerischen Lager an. Gerade im Baskenland standen sich in der Haltung zur Religion die Dos Españas, das katholisch-konservative und das antiklerikal-progressive Spanien, scharf gegenüber. Dolores, die in den Frömmigkeitsformen des spanischen Karlismus sozialisiert worden und wöchentlich zur Beichte gegangen war, die an den ortsüblichen Prozessionen teilgenommen hatte und Mitglied des jesuitischen Gebetsapostolates gewesen war, die sich schließlich ernsthaft fragte, ob sie zur Ordensschwester berufen sei, diese Dolores wechselte mit der Ehe in das antiklerikale Lager. Mehr und mehr ließ sie sich durch die Ausführungen ihres sozialistischen Ehemannes und den Besuch politischer Veranstaltungen, zu denen sie ihn begleitete, von der Attraktivität eines sozialistischen Weltbildes überzeugen.

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In der sozialen Notlage der jungen Mutter gab es nun kein Zurück mehr: Die Zuflucht in die familiäre Geborgenheit des Elternhauses war ebenso ausgeschlossen wie die Revitalisierung der alten religiösen Deutungssysteme. In dieser Aussichtslosigkeit bot Dolores der Kommunismus eine neue Perspektive. Die Vehemenz, mit der sie sich fortan für diesen starkmachte, dürfte auch damit zu tun haben, dass sie in ihm die einzige Möglichkeit sah, einen Weg aus dem materiellen Elend und der persönlichen Bedeutungslosigkeit heraus zu finden. Ihre Biographen beschreiben die ideologische Neuausrichtung denn auch als Konversion: Der katholische Glaube wurde durch den an den Kommunismus ersetzt.8 Er sei, so schrieb sie in ihren Memoiren, ein „gerechterer und soliderer Glaube“ als der religiöse gewesen.9

„Für diese opfere ich alles andere“: Eine Parteikarriere

Dabei haben sie die frühen religiösen Eindrücke ihr Leben lang geprägt, so u. a. der visuelle Eindruck der Pietà in ihrer Heimatkirche, der die Wahrnehmung mütterlichen Leides dauerhaft beeinflusste. Auch die bedingungslose Gefolgschaft gegenüber den Leitungsfiguren des sowjetischen Kommunismus könnte sich letztlich aus den Erfahrungen des Gebetsapostolates speisen, wurden doch die Gläubigen in diesen Gebetsgemeinschaften auf einen von Ignatius von Loyola empfohlenen Gehorsam eingeschworen, den Forderungen der Oberen blind zu gehorchen. Dabei blieb Dolores keineswegs unwissend mit Blick auf die neue Weltanschauung. Intensiv setzte sich die junge Kommunistin mit deren Grundlagen auseinander. Hatte sie im Hause ihrer Eltern nur die gängigen Frömmigkeitsbücher vorgefunden, sog sie nun die Literatur auf, die sie in der Bibliothek der nahegelegenen Casa del Pueblo in Somorrostro fand. In diesen „Volkshäusern“, die die spanische Arbeiterbewegung den belgischen Sozialisten abgeschaut hatte, sollten Arbeiter mit Kulturgütern in Kontakt gebracht und durch Bildung zur Überschreitung sozialer Grenzen ermächtigt werden. Über Arbeiterchöre, Theateraufführungen, Parteiversammlungen und Textlektüre wurden sie zudem mit dem Gedankengut des Sozialismus vertraut gemacht. Jede freie Minute verbrachte Dolores jetzt über den Büchern. So setzte sie sich mit den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels auseinander, las Das Kapital und immer wieder das Kommunistische Manifest. Sie und ihr Mann gehörten schließlich zu jener Minderheit von Sozialisten, die nach 1917 eine Radikalisierung der Partei forderten. Das Scheitern des Ge-

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neralstreiks jenes Jahres hatte viele Sozialisten in Spanien zu der Überzeugung kommen lassen, dass Erfolge nicht durch Revolutionen, sondern eher von Reformen zu erwarten seien. Dagegen stellten sich diejenigen, die auf einen Beitritt zu der 1919 von Lenin gegründeten Komintern drängten. Zu diesem Zweck spalteten sich Mitglieder aus Somorrostro und Gallarta von den Sozialisten ab. 1921 gründeten sie die Kommunistische Partei Spaniens (PCE). Dolores und ihr Mann gehörten dazu. Zuvor hatte sich Dolores in einigen Versammlungen und vor allem in der Parteipresse gelegentlich zu Wort gemeldet. Ihr erster Artikel, den sie in der Karwoche 1919 unter dem Titel „Religiöse Heuchelei“ in der Zeitschrift El Mi­ nero Vizcaino veröffentlichte, erschien unter dem Pseudonym La Pasionaria. Es avancierte zu dem Namen, unter dem Dolores schließlich international berühmt werden sollte. Noch aber war ihr Bekanntheitsgrad dadurch begrenzt, dass ihr Wirkungsfeld durch Geburten und Kinderbetreuung sehr eng war. 1920 kam ihr zweites Kind, Rubén, zur Welt. Kurz darauf starb ihre ältere, zweijährige Tochter. Drei Jahre später gebar sie Drillinge, die sie – nach schwerer Geburt ans Bett gefesselt – kaum versorgen konnte, zumal ihr Mann wieder einmal eine Freiheitsstrafe verbüßte. Eines der drei Mädchen starb wenige Tage nach der Geburt, ein anderes wurde wiederum nur zwei Jahre alt. Das dritte Mädchen, Amaya, war das einzige Kind, welches die Mutter überleben sollte, nachdem eine 1928 geborene Tochter wiederum nur zwei Monate leben und der Sohn Rubén auf Seiten der Sowjetunion 1942 im Kampf um Stalingrad fallen sollte. Über die finanziellen, physischen und psychischen Schwierigkeiten, die die materielle Not, die Schwangerschaften und Entbindungen, die Erfahrung von Krankheit und Tod der eigenen Kinder bedeuteten, lassen sich die Biographien kaum aus – zumal Dolores sich schließlich umso intensiver der Parteiarbeit widmete. Die PCE schien eine Perspektive zu bieten, um dem Schicksal einer „Haussklavin“ zu entrinnen. Diese Parteiarbeit nahm Fahrt auf, als die PCE nach der Ausrufung der Spanischen Republik im Jahr 1931 legalisiert wurde. Während der Diktatur Primo de Riveras (1923–30) hatte die Partei im Untergrund gewirkt. Dolores machte sich in diesen Jahren durch ihre Präsenz auf Versammlungen und durch sozialkaritatives Engagement einen Namen, indem sie den Bergarbeitern Lesen beibrachte und kommunistischen Kameraden Essen kochte oder die Socken stopfte. 1930 wurde sie in das Zentralkomitee der noch illegalen Partei gewählt. Es war nicht zuletzt der nach Spanien gereiste Prawda-Korrespondent Michail Kolzow, der erstmals die charismatische Ausstrahlung der Spanierin erkannte.

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Nachdem ihm auf dem damaligen Parteitag in Pamplona die junge Dolores vorgestellt worden war, war er überzeugt davon, dass diese Frau in dem schlichten schwarzen Kleid einen enormen Gewinn für die Partei bedeuten könnte. Um ihre Talente für die Partei nutzbar zu machen, wurde sie 1931 nach Madrid entsandt, um dort das Redaktionsteam der neu gegründeten Zeitung Mun­ do Obrero zu verstärken. Dieser Ortswechsel bedeutete den dauerhaften Bruch mit ihrem früheren Leben: Nie wieder sollte sie in die Rolle der Hausfrau und Gattin eines Bergmannes zurückkehren. De facto war dies das Ende einer unglücklichen Ehe, ihre Kinder ließ sie in der Obhut einer Schwester zurück. Aber es war auch nicht der Beginn der großen Freiheit: Nur kurz nach ihrer Ankunft in Madrid wurde sie unter dem Vorwurf verhaftet, einen kommunistischen Kameraden zu decken, der in Anschläge verwickelt sei. Drei Monate blieb sie in Haft. Anschließend wurde sie – als Verantwortliche für die Frauenthemen – in das Führungsgremium der PCE gewählt. Kurz darauf wurde sie wegen des Vorwurfs, bei einem Parteiauftritt die Regierung verunglimpft zu haben, abermals verhaftet. In den sieben Monaten, die sie jetzt im Gefängnis verbrachte, griff die Komintern in die spanische Parteiführung ein: Der bisherige Vorsitzende, dem Dolores ihren Aufstieg verdankte, wurde abgesetzt. Er war der sowjetischen Führung ein Dorn im Auge, weil er die spanische Republik unterstützen wollte, was sich nicht mit der rigorosen sowjetischen Konfrontationsstrategie gegenüber den Sozialisten vertrug. Dolores wurde jetzt zu einer Selbstkritik genötigt, deren Wortlaut in mancherlei Hinsicht bemerkenswert ist. In einem „offenen Brief“ versicherte sie dem alten Weggefährten ihre Wertschätzung. Gleichzeitig stellte sie gegenüber der „gesamten Partei“ klar: „Wenn die Zukunft der Partei auf dem Spiel steht und damit zugleich die der proletarischen Revolution […], dann existieren für mich keine Freundschaften, Gefühle, Familie oder Freunde, dann gibt es nichts außer der Partei und der Revolution – und für diese opfere ich alles andere.“10 Dieser Hierarchie der Werte blieb Dolores treu bis in die letzten Jahre ihres Lebens. Wenn Freundschaften mit der Parteiräson kollidierten, wurden sie zurückgestellt. Ähnliches galt für die Familie. So folgte sie 1935 dem Rat der Partei, die beiden Kinder, den 15-jährigen Rubén und die 12-jährige Amaya, in die Sowjetunion zu bringen, wo sie getrennt von ihr aufwuchsen. Als die Parteikarriere es erforderlich machte, sich von ihrem späteren Partner, dem Kommunisten Francisco Antón, zu trennen, zögerte sie nicht lang. Eine weitere Beziehung ging sie nicht mehr ein. Alle Verpflichtungsgefühle projizierte sie auf die sowjetische Parteiführung. Die Bewunderung, die sie erst Lenin, dann Stalin ent-

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gegenbrachte, speiste sich zum einen aus der Kompromisslosigkeit, mit der an die Stelle des religiösen Glaubens nun der neue Glauben an den Kommunismus und seine sowjetischen Hohepriester getreten war. Zum anderen war die sowjetische Parteiführung für die persönliche Karriere von Dolores von entscheidender Bedeutung. Es spricht einiges dafür, dass es ihr als Frau in der vom Machismo geprägten spanischen Gesellschaft kaum gelungen wäre, sich gegenüber männlichen Konkurrenten im Kampf um die höchsten Parteiämter durchzusetzen, wenn sie nicht die Rückendeckung der Vertreter der Komintern gehabt hätte. Das besondere Loyalitätsverhältnis von Dolores gegenüber der sowjetischen Führung wurde während ihrer ersten Reise als Delegierte des PCE nach Moskau 1933 besiegelt. Es war wie ein Initiationserlebnis: Das erste Mal trat sie – ungeheuer nervös – vor internationalem Publikum auf einem sowjetischen Parteikongress auf. „Ihr könnt stolz auf mich sein!“, schrieb sie danach den daheim gebliebenen Genossen. „Die Frau des armen Bergmannes von Somorrostro“ habe es geschafft, dass sich die Zuhörer mit lautstarken Ovationen von ihren Plätzen erhoben hätten und Stalin sich persönlich nach ihr erkundigt habe.11 Stalin selbst überzeugte Dolores, noch bis zum XVII. Parteitag der KPdSU Anfang 1934 in der Sowjetunion zu bleiben. Ihre Loyalität Stalin gegenüber war fortan in Stein gemeißelt. Die Jahre 1933/1934 waren von weichenstellender Relevanz für Dolores: Sie sicherte sich die – erstaunlich langlebige – Unterstützung durch die sowjetische Führung.

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Zudem machte sie die Erfahrung, dass ihr Redetalent auch dann seine Wirkung nicht verfehlte, wenn sie vor Menschen sprach, die ihr Spanisch nicht verstanden. Sowohl in Moskau als auch in Paris, wo sie im August 1934 als spanische Delegierte am ersten Weltkongress der „Mütter gegen Krieg und Faschismus“ teilnahm, nahm sie die Zuhörer und Zuhörerinnen schon durch ihr Auftreten und ihre Stimme für sich ein. Zu guter Letzt gelang es ihr in Spanien, überregional Aufmerksamkeit zu erregen und Sympathien zu gewinnen, als sie sich nach dem Aufstand der asturischen Bergarbeiter im Oktober 1934 für Frauen und Kinder einsetzte. Um den Widerstand der Bergleute zu brechen, hatte General Francisco Franco, der mit der Niederschlagung beauftragt worden war, auch Truppen der Afrikaarmee eingesetzt. Sie brachten die brutalen Praktiken der Kolonialkriegsführung auf das spanische Festland. Schon wegen der Eskalation

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der Gewalt gilt der Aufstand von 1934 als Präludium für den Spanischen Bürgerkrieg. Mehr als tausend Bergleute waren getötet worden, viele Kinder hatten ihre Eltern verloren. Hunderte von diesen Waisen wurden nun auf Veranlassung Dolores Ibárruris nach Madrid gebracht, um dort von solidarischen sozialistischen Familien aufgenommen zu werden. Die Kooperation mit den Sozialistinnen war umso leichter, als die Komintern 1935 von der bisherigen Praxis abrückte und nunmehr die Volksfrontpolitik in den Vordergrund rückte. Dies ermöglichte der PCE, ihre Kandidaten in den Wahlen vom Februar 1936 in einem gemeinsamen Block mit Sozialisten wählen zu lassen. Hatte die kommunistische Partei in Spanien bei der Wahl der Cortes 1933 nur rund 200.000 Stimmen erhalten und damit nur einen Abgeordneten in das Parlament entsenden können, stieg die Zahl der kommunistischen Parlamentsmitglieder jetzt auf sechzehn. Auch Dolores Ibárruri bekam als Abgeordnete für Asturien jetzt genug Stimmen, um – als eine von insgesamt fünf Frauen – in das spanische Parlament einzuziehen. Als sie dort am 2. April 1936 das erste Mal im Plenum sprach, wurden die Abgeordneten aller Parteien hellhörig. Sie hatte nicht viel Zeit zur Vorbereitung gehabt, weil sie erst drei Stunden vor dem Auftritt erfuhr, dass sie den erkrankten Parteivorsitzenden ersetzen sollte. So sprach sie über die Dinge, die sie in den Monaten zuvor immer wieder thematisiert hatte: Anschaulich schilderte sie das Elend der asturischen Bergarbeiterfamilien nach der Gewalterfahrung von 1934 und forderte, die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es war weniger der Inhalt als vielmehr die Art, wie sie sprach, die Aufmerksamkeit erregte und ihr parteiübergreifend Anerkennung eintrug. Selbst der führende sozialistische Politiker Indalecio Prieto, der sich noch 1931 aus Furcht vor einem konservativen Rückschlag gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatte, gratulierte der Kommunistin zu ihrem Auftritt. Nahezu sämtliche Tageszeitungen berichteten über Dolores, und die sozialistische Presse feierte die „wunderbare parlamentarische Neuentdeckung“ als eine „neue und authentische proletarische Stimme“.12 Tatsächlich wirkten ihre Solidaritätsbekundungen gegenüber den Bergleuten schon deshalb authentisch, weil sie – anders als die Sozialistinnen bürgerlicher Herkunft – immer wieder auf ihre Sozialisation und Erfahrung als „Frau eines armen Minero“ verweisen konnte. Als solche avancierte sie zum Symbol immer breiterer Kreise. Von der Repräsentantin des Kommunismus wurde sie nun zum Symbol des Sozialismus, ehe sie mit dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 zum Inbegriff des gesamten republikanischen Widerstandes wurde.

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Abb. 28: Dolores Ibárruri bei einer ihrer zahlreichen Reden.

Dazu trugen in erheblichem Maß die Reden bei, die sie zu Beginn des Bürgerkriegs hielt, und die den Wandel ihres Wirkungsradius belegen. Zwar hatte sie schon vor 1936 in Wahlkampfzeiten Parteilokale, Kinos und Stierkampfarenen gefüllt, aber das Publikum setzte sich zunächst aus Parteigängern zusammen, die nicht erst überzeugt werden mussten. Das Feld rein parteiinternen Wirkens hatte sie mit dem Einzug ins Parlament verlassen, welches ihr nun Möglichkeiten bot, sich auch an Zuhörer anderer politischer Gesinnung zu richten. Als sie in der Nacht des Putsches vom 17. auf den 18. Juli 1936 in Madrid in die Radiomikrophone der Regierungszentrale sprach, wandte sie sich an die gesamte Bevölkerung. Mit der Parole „No pasarán!“ prägte sie jetzt das Motto des republikanischen Widerstandes. Diese war nur eine der gängigen Formeln, die durch sie bekannt werden sollten. Dass es besser sei, stehend zu sterben als auf Knien zu leben, ist eine andere. Dolores war jeweils nicht die erste, die diese Sätze formuliert hatte, aber jetzt, verbunden mit ihrem Namen, gingen sie um die Welt. Es war symptomatisch für Dolores Ibárruri, dass sie nicht durch den Innovationsgehalt ihrer Reden überzeugte. Ihre Überzeugungskraft gründete in ihrer

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charismatischen Persönlichkeit. Spanier und Ausländer, Diplomaten oder Mitglieder der Internationalen Brigaden waren gleichermaßen beeindruckt: Die Schlichtheit ihres schwarzen Kleides, das stolz-aufrechte, aber zugleich unprätentiöse Auftreten und das Wissen um ihre Vita gaben ihren Beschreibungen vom Elend der Arbeiter und dem Leiden der Frauen die Weihen der Authentizität. Darüber hinaus wurde immer wieder berichtet, wie ansteckend ihre Energie und ihre Emotionen gewesen seien. So habe sie auch in kritischen Momenten Zuversicht und Freude verbreiten sowie Vertrauen wiederherstellen können. Demoralisierten Milizionären habe sie erneut Kampfesmut eingeimpft. „Ihr Esprit, ihr Mut und ihre menschliche Wärme“, berichtete eine amerikanische Schwesternhelferin, waren „ansteckend.“13 Berichteten Frauen mehrfach von der menschlichen Wärme, die Dolores ausstrahlte, registrierten Männer immer wieder ihre körperliche Attraktivität. Übereinstimmend erwähnten alle die nachgerade magische Wirkung, die von ihrer Stimme ausging. Etwas unglaublich Suggestives, etwas, was „Tausende bezaubern“14 könne, schien dieser Stimme eigen zu sein. Ihrer Wirkung erlagen selbst diejenigen, die kein Wort ihrer Rede verstanden. Allein ihr zuzuschauen und vor allem zuzuhören löste Gefühle aus: Vertrauen, Wärme, Zuversicht. Wie ein Leuchtturm habe sie so in einem Meer von Unsicherheit gewirkt, was umso wichtiger wurde, je mehr die Kampfmoral der zunehmend in die Defensive gedrängten Republikaner schwand. Die Qualität ihrer Stimme machte sie in einer Zeit zum idealen Sprachrohr, in der Anhänger bei Massenveranstaltungen oder über das Radio gefunden werden sollten. Beide Genres hatten dem Zeitungsartikel als Medium der Propaganda schon vor dem Krieg den Rang abgelaufen. Umso wertvoller war Dolores für die Kommunistische Partei, gab es doch niemanden sonst, der mit seiner Stimme in vergleichbarer Weise die Emotionen seiner Zuhörer hätte lenken können. Dolores, die sich an den parteiinternen Auseinandersetzungen kaum beteiligte, hatte Einfluss auf die Massen. Dass die Partei, die vor dem Krieg in ganz Spanien nur rund 30.000 Mitglieder hatte, innerhalb des ersten Kriegsjahres ihre Mitgliedszahlen verdreifachen konnte, dürfte nicht zuletzt an Dolores gelegen haben, die zu der Stimme der Partei, aber eben auch der Repräsentantin des republikanischen Widerstands gegen die franquistische Erhebung geworden war.

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Diese integrative Rolle konnte sie umso leichter spielen, als sie in ihren Reden – ganz im Sinne der Volksfrontdirektive der Komintern – keine Forderungen nach einer kommunistischen Revolution mehr laut werden ließ. Stattdessen sprach sie allen Republikanern aus dem Herzen, wenn sie das Leid der Frauen und Kinder anprangerte, welches mit den Angriffen der franquistischen Truppen einherging. So konnte sie schließlich wahrgenommen werden als „die Spanierin“, die im schlichten schwarzen Kleid den Stolz der Nation verkörperte. Zugleich aber galt sie, die um das Leid von Müttern wusste, die ihre Kinder verloren hatten, als Mater dolorosa. Für diese Rolle schien sie schon durch die beiden Namen Pa­ sionaria und Dolores prädestiniert: Durch diese ihr zugeschriebene Rolle rückte sie unweigerlich in den Bereich des Sakralen. Die Massen, so berichtete Franz Borkenau aus dem Spanischen Bürgerkrieg, hätten sie, die „Mutter der Revolutionäre“, wie eine „religiöse Persönlichkeit“ verehrt.15 Wie eine Heilige, die das Volk in den Tagen der Prüfung und Versuchung leiten sollte. Das Bedürfnis vieler Menschen, Dolores anzufassen, ähnelte der religiösen Inbrunst, mit der die Spanier Heiligenfiguren berührten. Da es zudem in Spanien eine Tradition gab, heilige Frauenfiguren wie Teresa von Ávila oder die Virgen del Pilar für militärische Unternehmungen zu vereinnahmen, ließ sich die populäre Sakralisierung Dolores’ problemlos mit ihren kriegerischen Appellen in Einklang bringen. Dolores profitierte von der Paradoxie des Frauenbildes in Spanien, das einerseits als Land des Machismo Frauen einen grundsätzlich inferioren Platz in der Gesellschaft zuwies, zugleich aber im Zuge eines Marianismo bereit war, als heilig verehrte Frauen auf ein unerreichbares Podest zu entrücken. Die säkulare Frömmigkeit, die Dolores von den Massen entgegengebracht wurde, trug maßgeblich dazu bei, dass sie unter den eigenen Genossen als unantastbar galt. Bezeichnenderweise setzte gerade an diesem Bild der „heiligen Frau“ die Gegenpropaganda des feindlichen Lagers an. So wurden ihr in einer Publikation, die mit einzelnen Repräsentanten des republikanischen Lagers abrechnete, Moral wie Weiblichkeit abgesprochen.16 Sie wurde als blutrünstige Hyäne dämonisiert, die als Ex-Nonne die freie Liebe predige und sich früher selbst prostituiert habe. Gleichzeitig wurde ihr abgesprochen, überhaupt eine „richtige Frau“ zu sein: Eine Ausgeburt der Natur, ein Mannweib sei sie, von niederen Instinkten und aggressiver Männlichkeit gesteuert. Von allen Frauen des niederen Volkes, die sich dem Hass und marxistischen Rachegelüsten ergeben hätten, sei sie die Schlimmste: eben weil sie die klügste und männlichste sei. Was bei Männern

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besonders anerkennenswert gewesen wäre, Klugheit und Männlichkeit, wurde in dieser Argumentation bei Frauen zum Stigma: Frauen konnte nichts Schlimmeres nachgesagt werden, als eben nicht „richtig weiblich“ zu sein. Wie tief verankert konservative Rollenbilder von Frauen in der spanischen Gesellschaft waren, zeigte sich nicht zuletzt im Verhalten von Dolores’ Parteigenossen. Als parteiinterne Konkurrenten ihr den Parteivorsitz streitig machen wollten, hofften sie, aus Dolores’ abweichendem Verhalten von weiblicher „Norm“ Kapital schlagen zu können. Jetzt wurde ihr das Verhältnis zu dem 15 Jahre jüngeren Francisco Antón vorgehalten – das allerdings erst während des Exils in Moskau. Während des Bürgerkrieges hatte die Partei es für ratsamer gehalten, ihre Beziehung zu dem jungen politischen Kommissar, mit dem sie gemeinsam die Frontabschnitte besuchte, geheim zu halten. Ihr Mann, hieß es, kämpfe an der Front. Eine Affäre mit einem Jüngeren hätte den Nimbus der unberührbaren, sakrosankten Mater dolorosa gefährden können. Dass dieses Verhältnis nun im Kreise der eigenen Parteigenossen skandalisiert wurde, verbitterte Dolores umso mehr, als sie sich auch nicht mehr an erotischen Erfahrungen zugestanden hatte, als es unter den Kommunisten im Bürgerkrieg üblich gewesen war. Doch das, was sie für eine „ganz normale“ Beziehung hielt, war es in den Augen ihrer männlichen Kollegen gerade nicht. Bezeichnenderweise aber setzte sie sich nicht für einen Wandel in der Wahrnehmung von Frauen ein, sondern fügte sich den Rollenerwartungen zugunsten der parteipolitischen Karriere. Sie trennte sich von dem Gefährten und ging keine weitere Beziehung mehr ein. So sehr Dolores sich für die Belange von Frauen einsetzte, so wenig engagierte sie sich für Frauenrechte. Schon während der Zweiten Spanischen Republik hatte sie sich nicht darum bemüht, über die Parteigrenzen hinweg zugunsten von Frauenrechten mit Mitgliedern anderer Fraktionen zu kooperieren. Folgerichtig stritt sie später ab, je eine Feministin gewesen zu sein. Ihr Anliegen war der bewaffnete Kampf gegen die Aufständischen. Alle anderen Wünsche, selbst die kommunistische Revolution, waren diesem Kampf unterzuordnen. Der Bürgerkrieg war ihre große Zeit, in der sie in Wort und Schrift eine größtmögliche Wirkung erzielte. Doch so sehr ihre Reden Mut einflößen und Kampfgeist wecken konnten, sie änderten nichts daran, dass die republikanischen Kräfte dem franquistischen Lager militärisch letztlich unterlegen waren. Am 23. Mai 1938 war es Dolores ein letztes Mal gelungen, Siegesgewissheit zu verbreiten. In einer dreieinhalbstündigen Rede vor der Vollversammlung des Zentralkomitees der PCE hatte sie zwar die Ausgangslage schonungslos beschrieben, aber dann mit der ihr eigenen Überzeugungskraft die Stimmung noch einmal herumgerissen.

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Fasziniert berichtete ein amerikanischer Journalist, wie sie mit ihrer unfassbaren Redegabe Wunder bewirken konnte, bis schließlich das gesamte Auditorium sie hochleben ließ.17 Aber immer wieder kam es zu politischen Entscheidungen, die dem Wunsch der Kommunisten entgegenstanden. Die Bereitschaft der republikanischen Regierung nach der Münchener Konferenz 1938, die Internationalen Brigaden abzuziehen, enttäuschte Dolores zutiefst. Die Ansprache, die sie anlässlich des Abschieds der Internationalen Brigaden hielt, zählt zu ihren großen Reden, mit denen sie noch einmal ihr rhetorisches Vermögen illustrierte, Niederlagen in moralische Siege zu verwandeln: Stolz könnten die Krieger heimkehren, seien sie doch zum Symbol heroischer Solidarität und der Universalität der Demokratie geworden. Niemals würden die Spanier sie vergessen. Und wenn erst der Olivenbaum des Friedens blühe, dann mögen sie zurückkehren, heim nach Spanien, wo sie ein Vaterland sowie Liebe und Dankbarkeit des gesamten spanischen Volkes finden würden.18 In diesen letzten Oktobertagen des Jahres 1938 dürfte ihr noch nicht klar gewesen sein, dass es nur fünf Monate dauern würde, ehe auch sie das Land verlassen musste. Auch wenn sich die Kommunisten gegen den Rückzug der Regierung nach Barcelona und schließlich die Bemühungen zur Wehr setzten, mit den vorrückenden Truppen Francos einen Kompromiss auszuhandeln: Nach dem Durchstoß der Franquisten zum Mittelmeer im Frühjahr 1938 war die Kapitulation der Republik nur noch eine Frage der Zeit. Wer aber bereit war, angesichts dieser militärischen Ausweglosigkeit vorzeitig die Waffen strecken zu wollen, wurde von Dolores mit scharfer Polemik diskreditiert. Noch in ihren Erinnerungen beschimpfte sie sie als „Ratten“ oder „elende Wichte“, die nur ihr „bis an die Wurzel verfaultes Leben“ hätten retten wollen und dafür bereit waren, „Spanien schmählich zu verschachern“.19 Dass an jedem Tag, an dem der aussichtslose Krieg weitergeführt wurde, Menschen starben, fiel nicht ins Gewicht. In Dolores’ Rhetorik war eine Niederlage nicht vorgesehen. Die Macht der Worte war das eine, die Macht der Waffen das andere. Die Kapitulation ließ sich schließlich nicht abwenden. Die Schuld dafür lastete Dolores den sozialistischen Regierungsmitgliedern und insbesondere Oberst Segismundo Casado an, der das militärische Oberkommando über Madrid und die Zentralarmee innehatte und nach einem Putsch gegen die Regierung versuchte, einen Frieden mit Franco auszuhandeln, der den Krieg um wenige Tage hätte verkürzen können. Franco aber bestand auf einer bedingungslosen Kapitulation.

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Unter dem Schutz Moskaus: Das lange Exil

Noch bevor er mit seinen siegreichen Truppen triumphal am 1. April 1939 in Madrid einmarschierte, hatte Dolores auf Drängen der Parteileitung das Land verlassen. „Sei’s drum! Wir werden unsere Pflicht erfüllen, und das Volk wird uns verstehen!“20, hieß es in ihren Erinnerungen. Dass es fast vierzig Jahre dauern sollte, bis sie wieder spanischen Boden betreten sollte, war in diesem Moment niemandem klar. Gemeinsam mit anderen führenden Kommunisten wurde sie von Spanien nach Algier geflogen. Von dort reiste sie über Frankreich nach Moskau. Dort nahm die innerparteiliche Karriere erst richtig Fahrt auf. Während fast alle russischen Spanienkämpfer den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer fielen, genoss Dolores den Schutz der Parteiführung. Dafür dürfte einerseits ihre unhinterfragte Loyalität gegenüber Stalin, zum anderen ihre Nützlichkeit für die sowjetische Propaganda ausschlaggebend gewesen sein. Stalin selbst soll sich dafür eingesetzt haben, dass ihr Sohn Rubén und ihr Partner Francisco Antón aus französischen Lagern, wo die „Rotspanier“ nach ihrer Flucht aus Spanien interniert worden waren, nach Russland gebracht wurden. Für derartige Gefangenenaustausche erwies sich der Hitler-Stalin-Pakt als nützlich, der grundsätzlich für die spanischen Kommunisten angesichts der ideologischen Inkompatibilität eine Herausforderung darstellte. Das Vertrauen von Dolores in die sowjetische Führung vermochte er offenbar nicht zu erschüttern. Umgekehrt setzte Moskau auf Dolores, um deren Popularität und internationale Bekanntheit auf Großveranstaltungen während des Krieges für Propagandazwecke zu nutzen. Der Rückhalt in der Sowjetführung wiederum stärkte Dolores’ Stellung im parteiinternen Machtkampf um den Vorsitz der PCE. Nachdem sich der Parteivorsitzende José Díaz 1942 nach langer schwerer Krankheit das Leben genommen hatte, konkurrierte sie mit Jesús Hernández um die Leitung der Partei, wobei letzterer versuchte, sie mit Indiskretionen über ihre Liebesbeziehung und Fehlinformationen über ihr vermeintlich dekadentes Luxusleben in Moskau in Verruf zu bringen. Das Jahr 1942 wurde nicht zuletzt deshalb zu einem Krisenjahr, weil sie Anfang September vom Tod ihres Sohnes Rubén erfuhr, der als sowjetischer Soldat in der Schlacht um Stalingrad gefallen war. Neun Monate lang zog sie sich nun in absolute Einsamkeit zurück, bevor sie – wie schon als junge Mutter – die Trauer durch Aktivitäten kompensierte. Sie trennte sich nun von Francisco Antón, wofür persönliche und strategische Gründe gleichermaßen in Anschlag gebracht werden können, und konzentrierte sich ganz auf die Parteiarbeit, die Betreuung von Exilspaniern in Russland oder die Radiopro-

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gramme für den kommunistischen spanischsprachigen Sender Radio Pirenaica. Die Protektion durch die sowjetische Parteiführung trug schließlich das Ihre dazu bei, dass der Konkurrent um den Parteivorsitz nach Mexiko geschickt und Dolores die neue Generalsekretärin der PCE wurde. Damit hatte sie den Gipfel der Macht innerhalb der kommunistischen Partei Spaniens erreicht. Gleichwohl war ihr Wirkungsfeld, das so auf ihre persönliche Ausstrahlung auf ein Auditorium ausgelegt war, durch die Existenz im Exil begrenzt. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hoffte Dolores auf eine baldige triumphale Rückkehr nach Spanien. Im Dezember 1945 reiste sie daher nach Toulouse, wohin die republikanische Exilregierung nach dem Ende des Bürgerkrieges ausgewichen war. Doch sowohl die nationale Erhebung der Spanier als auch die außenpolitische Intervention gegen Franco, mit der sie fest gerechnet hatte, blieben aus. Schließlich sollte sich auch das Konzept der Guerrilla-Strategie, mit der die Kommunisten das franquistische Spanien unterwandern wollten, als vollkommener Fehlschlag herausstellen. 1948 wurde der Guerrillakampf auf Geheiß Stalins aufgegeben. Im selben Jahr kehrte Dolores aus Frankreich nach Moskau zurück, um sich hier einer Gallenblasenoperation zu unterziehen. Die Routineoperation kostete sie wegen der Folgen einer fehlerhaften Intubation fast das Leben. Mehrere Monate rang sie wegen einer schweren Lungenentzündung mit dem Tod. Zur Untätigkeit verurteilt, widmete sie sich, sobald sich ihr Zustand etwas gebessert hatte, der Lektüre: Sie las Texte von Lenin, aber auch von Lope de Vega, García Lorca und sogar Teresa von Ávila. De facto begann mit der langen Rekonvaleszenz ihr Abschied von der Macht. Dieser wurde durch den Tod Stalins im Jahr 1953 beschleunigt. Sie, die ohne jeden Abstrich immer loyal gegenüber Stalin gewesen war, verlor mit der beginnenden Entstalinisierung nicht nur den eigenen Fixpunkt, sondern innerhalb der spanischen Kommunisten auch an Legitimität. In Paris, wo die Parteidirektion geblieben war, formierte sich um den jungen Santiago Carrillo eine neue Strömung. Diese setzte nicht mehr auf Konfrontation, sondern auf „Versöhnung“ (Reconciliación) mit den politischen Konkurrenten aus dem Bürgerkrieg. Ob diese neue Stoßrichtung der Partei, wie von Carrillo und ihr später behauptet, wirklich von Dolores Ibárruri inspiriert worden war, bleibt unklar. Sicher ist, dass nicht ihr Name, sondern der Carrillos mit dem (erst später so genannten) Eurokommunismus verknüpft wurde, der immer stärker zur Sowjetmacht auf Distanz ging. Als Dolores schließlich bemerkte, dass Entscheidungen an ihr vorbei getroffen wurden, trat sie 1959 als Generalsekretärin zurück, um auf dem

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6. Parteitag der PCE 1960 in Prag von Carrillo ersetzt zu werden. Ihr selbst wurde die neu eingerichtete Position einer Parteipräsidentin übertragen, womit der Machtverlust symbolpolitisch kompensiert wurde. Weiterhin repräsentierte sie die spanischen Kommunisten in der Sowjetunion sowie bei diversen kommunistischen Versammlungen im Ausland. Auf Fotografien ist sie auf ranghoch besetzten Podien oder zusammen mit Hồ Chí Minh, Mao und Fidel Castro zu sehen. Gleichwohl kühlte sich ihr Verhältnis zur Sowjetführung in den 1960er Jahren ab: Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei 1968 trug sie in Moskau den Protest der spanischen Kommunisten vor. Doch das trug nur zu ihrer wachsenden Isolierung bei. Umgeben von einem kleinen Kreis an Getreuen wie ihrer Tochter Amaya und ihrer engen Mitarbeiterin Irene Falcón lebte sie weitgehend isoliert sowohl von den spanischen Emigrierten als auch der sowjetischen Gesellschaft. Ihr Bekanntheitsgrad in Spanien litt darunter nicht – im Gegenteil. Das lag einerseits daran, dass Dolores jede Gelegenheit nutzte, sich zu politischen Fragen im Radio Pirenaica zu Wort zu melden, dessen Sendungen in Spanien gehört wurden. So äußerte sie sich beispielsweise über die Gerichtsprozesse gegen den Kommunisten Julián Grimau oder die ETA-Attentäter 1970. Immer wieder artikulierte sie scharfe Kritik am Franquismus und versuchte, die Nation gegen die Diktatur zu mobilisieren. Zur gleichen Zeit arbeitete sie am eigenen Vermächtnis bzw. daran, wie sie den Bürgerkrieg, die eigene Vita und die Geschichte der Partei festgeschrieben wissen wollte: So erschienen in Moskau 1960 zum einen unter dem Titel Der einzige Weg ihre Memoiren (bis zum Ende des Bürgerkrieges) und zum anderen eine Geschichte der kommunistischen Partei Spaniens aus ihrer Feder. Bald darauf wurde eine nicht zuletzt von ihr angeleitete vierbändige Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs vorgelegt. Für die Art und Weise, wie sie in Spanien im Gedächtnis blieb, war der Umstand wichtiger, dass sie dort längst zum Mythos geworden war. Gerade die Artikel, Gedichte und Lieder, die ihr anlässlich ihrer runden Geburtstage gewidmet wurden, zeugen von diesem Mythos, der womöglich gerade deshalb so gut gedeihen konnte, weil sie abwesend war. Als Heldin, als geniale Führerin, als Leuchtturm für das Volk, als Mutter aller Guerilleros und Revolutionäre, die jeder lieben müsse, wurde sie in höchsten Tönen gelobt, verehrt, verklärt. „Wer liebt sie nicht?“, hatte der Dichter und Kommunist Rafael Alberti zu ihrem 60. Geburtstag 1955 gedichtet. „Sie ist nicht nur die Schwester oder Gefährtin. Sie ist mehr: Sie ist die Arbeiterklasse […], unser Rettungsstern, die Morgendämmerung. Sie ist die Kommunistische Partei.“21

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Die Elogen nahmen in den folgenden Jahren nicht ab. Allerdings kaschierten die Hymnen zum 70. oder 75. Geburtstag nur schlecht, wie sehr Dolores sich verschätzt hatte, als sie in den vierziger Jahren geglaubt hatte, dass der Sturz Francos unmittelbar bevorstehe. Wenn sie direkt zu Spaniern sprechen wollte, reiste sie nach Paris (1971) oder Genf und Bern (1974), wo viele Exilspanier Dolores das erste Mal live erlebten. Besonders triumphal geriet die Feier zum 80. Geburtstag, die ihr im Dezember 1975 im Sportpalast von Rom ausgerichtet wurde. Viele alte Weggefährten aus dem Bürgerkrieg kamen und fühlten sich in alte Tage zurückversetzt, als sie die Stimme von Dolores hörten, die noch einmal ganz in ihrem Element war und die Stimmung in betäubenden Jubel eskalieren ließ, als sie mit den emphatischen Worten schloss: Sie sage nicht „Adiós“, sondern „Hasta pronto, en Madrid!“22 Dass sie so bald wie möglich dorthin zurückkehren wollte, daran gab es keinen Zweifel. Fast vierzig Jahre lang hatte sie immer prognostiziert, das Franco-System stehe kurz vor dem Kollaps, und das Volk werde sich erheben. Stattdessen hatte sich das Volk mit den Verhältnissen arrangiert. Die Wirtschaft prosperierte, die Repressionen waren weniger geworden. Selbst inmitten der Krise in der Mitte der 1970er Jahre gab es keinen Umsturz, Franco war friedlich im Bett gestorben. Schmerzlich hatte es Dolores getroffen, dass es nicht nur Francos Ablebens bedurfte, um ihr den Weg in die Heimat zu ebnen. Nur einmal, so erinnerte sich später die Enkelin, habe sie die Großmutter die ganze Nacht weinen gehört: Als man ihr auch nach Francos Tod nicht erlaubt hatte, nach Spanien zurückzukehren. Erst nach der – höchst umstrittenen – Legalisierung der PCE in der Karwoche 1977 war es so weit. Von vielen Spaniern wurde sie erwartet: „Sí, wir werden Dolores durch die Straßen Madrids spazierengehen sehen“23, lautete ein schnell populärer Schlager, gesungen von der bekannten Sängerin und Schauspielerin Ana Belén, komponiert und aufgenommen von deren Mann Victor Manuel 1977 in der DDR.

„Durch die Straßen Madrids“: Heimkehr und Tod

Am 13. Mai 1977 war es so weit. Nach 38 Jahren Exil landete Dolores auf dem Madrider Flughafen. Die 81-Jährige ließ sich erst einmal mit dem Auto durch die Straßen Madrids fahren. Noch einmal nahm die Partei sie in den Dienst: Für die ersten demokratischen Parlamentswahlen im Juni 1977 ließ sich Dolores Ibárruri – wie früher – für

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den Wahlkreis Asturien als Kandidatin aufstellen und wurde gewählt. Exakt zwei Monate nach ihrer Ankunft in Madrid zog sie zur konstituierenden Sitzung in die Cortes ein und übernahm zusammen mit dem alten Gefährten Rafael Alberti den Vorsitz als Alterspräsidentin. Auf dem Weg dorthin war ihr der neue Regierungschef, der aus dem Franquismus hervorgegangene Transitionspolitiker Adolfo Suárez, entgegengekommen und hatte ihr die Hand entgegengestreckt. Der Handschlag war nicht nur ein Akt der persönlichen Anerkennung, er geriet zugleich zum Symbol der auch von der PCE propagierten nationalen Versöhnung. Die letzten Lebensjahre blieben nicht frei von Verbitterung. So spürte sie bald, dass sie in der Partei zwar als Symbol willkommen war, nicht aber als aktive Politikerin, so dass sie sich schließlich immer mehr ins Privatleben zurückzog, obwohl sie bis ans Lebensende offiziell die (Ehren-)Parteivorsitzende blieb. Sie konnte den Niedergang der spanischen Kommunisten nicht verhindern, die in den Wahlen 1982 mit acht Prozent der Stimmen ein so enttäuschendes Ergebnis erzielten, dass Santiago Carrillo als Generalsekretär zurücktrat. Dass die Krise des PCE zugleich ein Teil des Niedergangs des Kommunismus war, zeigte sich im Jahr 1989 – dem Jahr, in dem die Mauer fiel und Dolores Ibárruri starb. Dabei schien sie in diesem Moment unsterblich, weil sich ihr Mythos verselbstständigt und spanischen sowie internationalen Kommunisten in Liedern und Gedichten eingeprägt hatte. Doch seitdem dieser nicht mehr in Ritualen vergegenwärtigt wird, fällt eine der im 20. Jahrhundert bekanntesten Frauen Europas mehr und mehr der Vergessenheit anheim.

Weiterführende Literatur Aschmann, Birgit: The Importance of Being Female. Women and (Counter-)Revolution in Spain (1917–1939), in: Rinke, Stefan/Wildt, Michael (Hg.): Revolutions and Counter-Revolutions. 1917 and its Aftermath from a Global Perspective, Frankfurt a. M. 2017, S. 261–285. Avilés Farré, Juan/Belmonte López, Isabel (Hg.): Pasionaria. La mujer y el mito, Barcelona 2005. Azcárate, Manuel: Derrotas y esperanzas. La república, la guerra civil y la resistencia, Barcelona 1994. Carrillo, Santiago/Maestro, Ángel: Dolores Ibárruri, Barcelona 2004. González, Miren Llona: La imagen viril de Pasionaria. Los significados simbólicos de Dolores Ibárruri en la II República y la Guerra Civil, in: Historia y política: Ideas, procesos y movimientos sociales 36 (2016), S. 263–287.

Anmerkungen

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Hamilton, C. L.: Activism & Representations of Motherhood in the Autobiography of Dolores Ibárruri, Pasionaria, in: Journal of Romance Studies 1/1 (2001), S. 3–16. Ibárruri, Dolores: They Shall Not Pass. The Autobiography of La Pasionaria, London 1966. Kirschenbaum, Lisa A.: Exile, Gender, and Communist Self-Fashioning. Dolores Ibárruri (La Pasionaria) in the Soviet Union, in: Slavic Review 71/3 (2012), S. 566–589. Low, Robert: La Pasionaria. The Spanish Firebrand, London 1992. Marmo Mullaney, Marie: Dolores Ibárruri, „la Pasionaria“. The Female Revolutionary as Symbol, in: Dies.: Revolutionary Women. Gender and the Socialist Revolutionary Role, New York 1983, S. 193–242. Preston, Paul: Dolores Ibárruri. Pasionaria de acero, in: Ders.: Las tres Españas del 36, Barcelona 2. Aufl. 2011, S. 365–415. Preston, Paul: Doves of War. Four Women of Spain, London 2002. Tisa, John: Recalling the Good Fight. An Autobiography of the Spanish Civil War, Massachusetts 1985. Vázquez Montalbán, Manuel: Pasionaria y los siete enanitos, Barcelona 2005.

Anmerkungen 1

So Rafael Alberti in seinem Gedicht, welches er 1955 für den 60. Geburtstag von Dolores Ibárruri geschrieben hatte, vgl. Rafael Cruz: Pasionaria. Dolores Ibárruri. Historia y símbolo, Madrid 1999, S. 17. 2 El Independiente, 17.11.1989. 3 Dolores Ibárruri: Der einzige Weg. Erinnerungen, Berlin (Ost) 1964, S. 95. 4 Zu den Zahlen vgl. Rosa María Capel: El trabajo y la educación de la mujer en España (1900–1930), Madrid 1986, S. 362–396. 5 Die Rede war retrospektiv von „perpetua desesperación“, vgl. El País, 23.5.1978. 6 Ibárruri, Der einzige Weg, S. 86. 7 Ibárruri, Der einzige Weg, S. 85. 8 Andrés Carabantes/Eusebio Cimorra: Un mito llamado Pasionaria, Barcelona 1982, S. 141. In ihren Memoiren beschrieb sie die politische Orientierung als „una nueva fe más justa y sólida que la fe religiosa", zitiert in: Cruz, Pasionaria, S. 36 f.; „Mein neuer Glaube war richtiger und fester begründet als der alte religiöse Glaube“, Ibárruri, Der einzige Weg, S. 88. 9 Zitiert in: Cruz, Pasionaria, S. 36. 10 „Al camarada Hurtado y a todo el Partido. Contestación a una carta abierta“, in: Mundo Obrero, 5.12.1932. 11 So im handschriftlichen Brief von Dolores vom 9.1.1934, in: Archiv des PCE, in: Cruz, Pasionaria, S. 74. 12 El Socialista, 3.4.1936, zitiert in: Cruz, Pasionaria, S. 106.

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Dolores Ibárruri (1895–1989)

13 So Celia Seborer: Blood for the Front (1937), in: Jim Fyrth/Sally Alexander (Hg.): Women’s Voices from the Spanish Civil War, London 2008, S. 157–161, hier S. 159. 14 So die britische Schriftstellerin Charlotte Haldane, in: Ebd., S. 306–310, hier S. 307. 15 Franz Borkenau: The Spanish Cockpit. An Eye-Witness Account of the Political and Social Conflicts of the Spanish Civil War, London 1937. 16 Francisco Casares: Azaña y ellos. Cincuenta semblanzas rojas, Granada 2. Aufl. 1939, S. 241–243. 17 Vincent Sheean: No Peace But a Sword, New York 1939, S. 185 f. 18 Dolores Ibárruri: En la lucha, Moskau 1968, S. 264–317. 19 Ibárruri, Der einzige Weg, S. 492 f. 20 Ibárruri, Der einzige Weg, S. 519. 21 Zitiert in: Cruz, Pasionaria, S. 17. 22 Zitiert in: Cruz, Pasionaria, S. 210. 23 Ana Belén/Víctor Manuel: „Veremos a Dolores“ Repositorio HISREDUC, https:// repositorio.historiarecienteenlaeducacion.com/items/show/2317, letzter Zugriff: 14.6.2022.

Karte 1: Das westgotisch, suebisch, byzantinisch dominierte Spanien um 572.

Karten

Klaus Herbers: Schlüsselgestalten des Mittelalters

Karte 2: Feldzüge des al-Manṣūr (978–1002).

402 Karten

Karte 3: Feldzüge des Cid (1086–1110)

Karten 403

Karten

Karte 4: Eroberungen der christlichen Reiche im 13. Jahrhundert.

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Karten 1, 3 aus: Herbers, Klaus: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 40, 169. Karten 2, 4 aus: Artola Gallego, Miguel: Enciclopedia de historia de España. Cronología. Mapas. Estadísticas., Bd. 6, Madrid 1993, S. 874, 892.

Karte 1: Das Spanien der Katholischen Könige (Mittelmeerraum), 1516.

Birgit Aschmann: Schlüsselgestalten der Neuzeit

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Karten

Karte 2: Unabhängigkeitskrieg der Niederlande in der Zeit Philipps IV. 1621–1659.

Karte 3: Der erste Karlistenkrieg, 1835–1837.

Karten 407

Karten

Karte 4: Der spanische Bürgerkrieg, Eroberungen der Putschisten bis zum 31.07.1936.

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Karten aus: Artola Gallego, Miguel: Enciclopedia de historia de España. Cronología. Mapas. Estadísticas., Bd. 6, Madrid 1993, S. 918, 952, 988, 1025.

Abbildungsnachweis Klaus Herbers: Schlüsselgestalten des Mittelalters Abb. 1: aus: Fontaine, Jacques: Isidore de Séville. Genèse et originalité de la culture hispanique au temps des Wisigoths, Turnhout 2000, S. 155, Fig. 30 (Miniatur des Manuskripts von Laon 10413). Abb. 2: aus: Fontaine, Isidore de Séville, S. 160, Fig. 37; Codex Aemilianensis, El Escorial D.I.1, fol. 205 verso. Abb. 3: aus: Fernández Montaña, José (Hg.): El códice albeldense o vigilano que se conserva en El Escorial, Madrid 1874, fol. 20r (aus dem Bestand der Biblioteca Nacional de España / Biblioteca Digital Hispánica: http://bdh-rd.bne.es/viewer. vm?id=0000205122 &page=7). Abb. 4: aus: Fontaine: Isidore de Séville, S. 82, Fig. 24; Codex Aemilianensis, El Escorial D.I.1, fol. 347 verso. Abb. 5: Isidorus, Hispalensis: Etymologiae, Buch 1 – 9, fol. 1r (München, Bayerische Staatsbibliothek – Clm 13031; urn:nbn:de:bvb:12-bsb00072196-9). Abb. 6: Königliches Pantheon San Isidoro, León: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Leon_(San_Isidoro,_pante%C3%B3n).jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0 Abb. 7: Statue Al-Manṣūrs in Algeciras: https://commons.wikimedia.org/w/index.php? curid=6494590; Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 3.0 Unported — CC BY-SA 3.0 Abb. 8a: aus: Herbers, Klaus: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 98, Abb. 8. Abb. 8b: aus: Lombard, Maurice: Blütezeit des Islam: Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte, 8.–11. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1992, S. 150 f. Abb. 9: aus: Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter, S. 98, Abb. 8. Abb. 10: Puerta de Burgos: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Burgos,_Arco_de_ Santa_Mar%C3%ADa_05.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0 Abb. 11: Charlton Heston, El Cid, 1961. © Allstar Picture Library Limited/Alamy Stock Photo. Abb. 12: Aljafería: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zaragoza-Aljaferia-islamicpalace-2.JPG; Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 3.0 Unported — CC BY-SA 3.0

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Abbildungsnachweis

Abb. 13: Reiterstatute El Cids in Burgos: https://commons.wikimedia.org/w/index. php?curid=89994212 Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0 Abb. 14: Königin Urraca, Miniatur aus dem 12. Jahrhundert. Archivo de la Catedral de Santiago, Tumbo A. Abb. 15: aus: Enrique Flórez: Memorias de las Reynas Catholicas de España: historia genealogica de la casa real de Castilla y de Leon, todos los infantes, trages de las reynas en estampas y nuevo aspecto de la historia de España, Volumen 1, Madrid 1761, S. 225. Abb. 16: Maimonides: Statue in Córdoba, Plaza Tiberiana: https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Ben_Maim%C3%B3nides._C%C3%B3rdoba,_Espa%C3%B1a-eue.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0 Abb: 17: Gaspar de Crayer: Dominikus: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gaspar_de_Crayer_-_Saint_Dominic.jpg Lizenz: public domain Abb. 18: Dominikus auf seinem Sterbebett (Miniatur aus der Elsässischen Legenda Aurea, Straßburg 1419): https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61951008 Lizenz: public domain Abb. 19: Giotto: Der Traum des Papstes Innozenz III.: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Giotto_-_Legend_of_St_Francis_-_-06-_-_Dream_of_Innocent_III.jpg Lizenz: public domain Abb. 20: Alfons X. von Kastilien (Abbildung aus dem Libro de los juegos, 1251–1282) https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=129915 Lizenz: public domain Abb. 21: Cantigas de Santa Maria: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1141048 Lizenz: public domain Abb. 22: Raimundus-Lullus-Denkmal in Palma de Mallorca: https://commons. wikimedia.org/wiki/File:073_Ramon_Llull,_d%27Horacio_de_Egu%C3%ADa,_ pg._de_Sagrera_(Palma),_al_fons_la_Catedral.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0 Abb. 23: nach: Platzeck, Erhard-Wolfram: Das Leben des seligen Raimund Lull: die „Vita coëtanea“ und ausgewählte Texte zum Leben Lulls aus seinen Werken und Zeitdokumenten, Düsseldorf 1964, S. 13. Abb. 24 und 25: Breviculum ex artibus Raimundi Lulli electum – Cod. St. Peter perg. 92 (Miniaturenzyklus über Leben und Lehre des Raimundus Lullus,  Badische Landesbibliothek Karlsruhe); f. 1v und 3v (urn:nbn:de:bsz:31-8765/fragment/page=105542 und urn:nbn:de:bsz:31-8765/fragment/page=105546). Abb. 26: aus: Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter, S. 242, Abb. 17.

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Abb. 27: Grab des Lullus in Palma de Mallorca: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Tombe_murale_de_Ramon_Llull._Palma,_Mayorque._Mars_2018.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0

Birgit Aschmann: Schlüsselgestalten der Neuzeit Abb. 1: Isabella I. von Kastilien (1450–1504): https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:IsabellaofCastile03.jpg Lizenz: public domain Abb. 2: Wanddekoration in der Klosterkirche San Juan de los Reyes in Toledo: https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Toledo_-_Monasterio_de_San_Juan_de_los_ Reyes_05.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 3.0 Spain — CC BY-SA 3.0 ES Abb. 3: Francisco Pradilla y Ortiz – Übergabe der Schlüssel der Alhambra: File:La Rendición de Granada - Pradilla.jpg - Wikimedia Commons Lizenz: public domain Abb. 4: Juan de Flandes – zeitgenössisches Porträt der 50-jährigen Königin Isabella I. von Kastilien: https://es.wikipedia.org/wiki/Archivo:Juan_de_Flandes_-_ Isabel_la_Cat%C3%B3lica_(Palacio_Real,_Madrid,_1500-04._%C3%93leo_ sobre_tabla,_63_x_55_cm).jpg Lizenz: public domain Abb. 5: Tizian – Philipp II. als Thronfolger: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Philip_II.jpg Lizenz: public domain Abb. 6: Hieronymus Bosch – Garten der Lüste: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:El_jard%C3%ADn_de_las_Delicias,_de_El_Bosco.jpg Lizenz: public domain Abb. 7: Der Escorial als Palast- und Klosteranlage mit Grablege der spanischen Könige: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vista_aerea_del_Monasterio_de_El_ Escorial.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution 2.0 Generic — CC BY 2.0 Abb. 8: Peter Paul Rubens – Teresa von Ávila: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Teresa_of_Avila_dsc01644.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 3.0 Unported — CC BY-SA 3.0 Abb. 9: Giovanni Lorenzo Bernini – Heilige Teresa im Moment der „Unio mystica“: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ecstasy_of_St._Teresa_HDR.jpg Lizenz: Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0

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Abb. 10: Diego Velázquez – Conde-Duque de Olivares: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Portrait_of_the_Count-Duke_of_Olivares_-_Google_Art_Project.jpg Lizenz: public domain Abb. 11: Der Conde-Duque de Olivares als Atlas: Vera y Figueroa, Juan Antonio de: El Fernando o Sevilla restaurada, München, Bayerische Staatsbibliothek – P.o.hisp. 218 f. (urn:nbn:de:bvb:12-bsb10608273-1), S. 5, Frontispiz Abb. 12: Diego Velázquez – Reiterporträt des Conde-Duque de Olivares: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Count-Duke_of_Olivares.jpg Lizenz: public domain Abb. 13: Francisco de Goya – Der Traum der Vernunft gebiert Monster: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Goya-Capricho-43.jpg Lizenz: public domain Abb. 14: Francisco de Goya – Selbstporträt: Museo de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Madrid Abb. 15: Francisco de Goya – Mit und ohne Grund: Calcografía Nacional, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Madrid Abb. 16: Francisco de Goya – El tres de mayo: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Francisco_de_Goya_y_Lucientes_-_Los_fusilamientos_del_tres_de_mayo__1814.jpg Lizenz: public domain Abb. 17: Francisco de Goya – Saturn, der seine Kinder verschlingt: https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Francisco_de_Goya,_Saturno_devorando_a_su_hijo_(18191823).jpg Lizenz: public domain Abb. 18: Francisco de Goya – Aún aprendo: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Aun_aprendo.jpg Lizenz: public domain Abb. 19: Isabella II., Hofporträt aus den 1860er Jahren: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Isabel_de_Borb%C3%B3n_y_Borb%C3%B3n-Dos_Sicilias.jpg Lizenz: public domain Abb. 20: Frederico de Madrazo y Kuntz – Isabella II. als junge Königin: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Federico_de_Madrazo_y_Kuntz_-_Retrato_de_Isabel_II_-_Google_Art_Project.jpg Lizenz: public domain Abb. 21: Politpornographische Darstellung, Aquarelle der Brüder Valeriano Domínguez Bécquer und Gustavo Adolfo Bécquer. Los Borbones en pelota, Sem, 1868, Bild 44 (aus dem Bestand der Biblioteca Nacional de España / Biblioteca Digital Hispánica: http://bdh-rd.bne.es/viewer.vm?id=0000180846&page=1) Abb. 22: José Ortega y Gasset in Aspen (USA), 1948: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Jose_Ortega_y_Gasset.jpg Lizenz: public domain

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Abb. 23: Ortega y Gasset und Theodor Heuss, 1954. © Ullstein Bild Abb. 24: Francisco Franco mit Winterumhang 1930: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Francisco_Franco_1930.jpg Lizenz: Creative Commons — CC0 1.0 Universal Abb. 25: Verehrung Francos auf der Plaza Mayor in Salamanca 1937 im Spanischen Bürgerkrieg: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Francoist_demonstration_in_ Salamanca.jpg Lizenz: Creative Commons — CC0 1.0 Universal Abb. 26: Alegoria De Franco y La Cruzada – 1948/9 – Pintura Mural – (Detalle Central). Künstler: Reque Meruvia Arturo. Lage: Archivo Historico Militar, Madrid. © akg-images/Album/Oronoz) Abb. 27: Dolores Ibárruri im Jahr 1936: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dolores_Ib%C3%A1rruri_1936.jpg Lizenz: public domain Abb. 28: Dolores Ibarurri, 1936. © akg-images/WHA/World History Archive

Nachweis Coverabbildungen Von links nach rechts und von oben nach unten: 1. Porträt von Philipp II.: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_Philip_II_of_Spain_by_Sofonisba_Anguissola_-_002b.jpg Lizenz: public domain 2. El Cid, Porträt: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:El_Cid_portrait_%C2%B7_HHWX54.svg, aus: The Historians’ History of the World, Vol. X, Spain and Portugal, London 1908 (https://archive.org/details/dli.ernet.14667/ page/53/mode/2up) Lizenz: public domain 3. Francisco de Goya – Selbstporträt: s. Abb. 14 (B. Aschmann) 4. Dolores Ibarruri: s. Abb. 27 (B. Aschmann) 5. Peter Paul Rubens – Teresa von Avila: s. Abb. 8 (B. Aschmann) 6. Konigin Urraca: s. Abb. 14 (K. Herbers) 7. Diego Velázquez – Porträt des Graf-Herzog von Olivares: https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Retrato_del_conde-duque_de_Olivares_(bust),_by_Diego_ Vel%C3%A1zquez.jpg Lizenz: public domain 8. Francisco Franco: s. Abb. 24 (B. Aschmann)

9. Moses Maimonides: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maimonides.jpeg Lizenz: public domain 10. Isabella I.: s. Abb. 1 (B. Aschmann) 11. Raimundus Lullus: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ramon_Llull.jpg Lizenz: public domain