Lyra: Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert 9783110318401, 9783110318357

The essays validate the humanistic foundations and transformations of poetical theory up to their culmination in the can

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Lyra: Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert
 9783110318401, 9783110318357

Table of contents :
Teil I: Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen
1 Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie
2 Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert
3 Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung
4 Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel
Teil II: Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
1 Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert
2 „Ich öffne meines Herzens Wunden“. Wandlungen des Epicediums in den Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau bei Besser, Canitz und Haller und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert. Eine Skizze
3 „Sterben ist der langen Narrheit Ende“. Die Trauergedichte des jungen Schiller. Eine Skizze
4 Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums. Mit einem unbekannten Gedicht auf den Tod der württembergischen Königin Katharina
Teil III: Bibelwort, Erbauungsliteratur und Lyrik
1 Lehr- und Trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts
2 Andreas Gryphius und Johann Arndt. Zum Verständnis der „Sonn- und Feiertags-Sonette“
3 „De quatuor novissimis“. Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius
4 Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock
Teil IV: Dichter und ihr Werk
1 Paul Gerhardt
2 Friedrich Gottlieb Klopstock
Nachweise
Nachwort

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Hans-Henrik Krummacher Lyra

Hans-Henrik Krummacher

Lyra Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert

ISBN 978-3-11-031835-7 e-ISBN 978-3-11-031840-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy DTP, Brennberg Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Teil I: Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen   1 1 Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie   3 2 Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert   77 3 Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung    125 4 Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel   181 Teil II: Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte   213 1 Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert   215 2 „Ich öffne meines Herzens Wunden“. Wandlungen des Epicediums in den Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau bei Besser, Canitz und Haller und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert. Eine Skizze   273 3 „Sterben ist der langen Narrheit Ende“. Die Trauergedichte  des jungen Schiller. Eine Skizze   331 4 Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums. Mit einem unbekannten Gedicht auf den Tod der württembergischen Königin Katharina   361 Teil III: Bibelwort, Erbauungsliteratur und Lyrik   383 1 Lehr- und Trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts   385 2 Andreas Gryphius und Johann Arndt. Zum Verständnis der „Sonn- und Feiertags-Sonette“   419 3 „De quatuor novissimis“. Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius   439 4 Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock   501 Teil IV: Dichter und ihr Werk   527 1  Paul Gerhardt   529 2  Friedrich Gottlieb Klopstock   549 Nachweise  Nachwort 

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Teil I: Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

1 Principes Lyricorum Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie* „In lyrischer Poesie“ – so kann man es bei Emil Staiger lesen – „gewinnt die Musik der Sprache größte Bedeutung“ (S. 52); – solche Poesie ist „unmittelbares Verlauten von Stimmung“ (S. 16); – „... ‚innen‘ und ‚außen‘ ... sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht geschieden“ (S. 60); – „Der lyrische Dichter leistet nichts. Er überläßt sich ... der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit Sprache wird ihm eingegeben“ (S. 24); – „Der Lyriker fordert nichts; im Gegenteil, er gibt nach; er läßt sich treiben, wohin die Flut der Stimmung ihn trägt“ (S. 42); – für ihn gibt es „nichts Dauerndes, nur Vergängliches ... fließt räumlich und zeitlich Nächstes und Fernstes zusammen ... Sprünge der Einbildungskraft ... nur für die Anschauung und den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern sie gleitet“ (S. 43f.); – „Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt“ (S. 81); – der „Lyriker ... ist einsam, weiß von keinem Publikum und dichtet für sich“ (S. 47); – „Die Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung aus. Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden soll, braucht nicht zu begründen“ (S. 49); – „Denken und Singen vertragen sich nicht“ (S. 37); – „... weil sogar die reinste lyrische Art, ein Lied, schon Dichtung ist, kann selbst ein Lied die Idee des Lyrischen nie ausschließlich realisieren“ (S. 77); – „Lyrisches Dichten ... ist jenes an sich unmögliche Sprechen der Seele“ (S. 78); – „lyrische Dichtung ... zwar seelenvoll, aber geistlos“ (S. 81).

* Die für diese Abhandlung benutzten Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare zum Werk der beiden antiken Dichter sind mit genaueren (wenn auch zumeist gekürzten) Titelangaben und mit Exemplarnachweisen in chronologisch geordneten Listen im Anhang zusammengefaßt. Sie werden im Text in sinngemäßer Vereinfachung angeführt und in den Anmerkungen im allgemeinen in der Kurzform zitiert, die über den jeweiligen bibliographischen Angaben des Anhangs notiert ist. Auch zu den ebenfalls in verkürzter Form angeführten Werken der humanistischen Poetik und zu einigen weiteren, häufiger zitierten Quellen finden sich die näheren bibliographischen Angaben mit Exemplar- oder Nachdrucknachweisen – alphabetisch geordnet – im Anhang. Alle Titelangaben und alle Zitate aus den Quellen werden typographisch vereinfacht wiedergegeben, Kürzel werden, soweit es zur leichteren Lesbarkeit erforderlich erscheint, aufgelöst. – Unter den Bibliotheken, auf deren Beständen diese Abhandlung beruht, gilt mein lebhafter Dank vor allem diesen: StuUB Göttingen, Stadtbibl. Mainz, StB München, HAB Wolfenbüttel. Der Herzog August Bibliothek bin ich darüber hinaus zu besonderem Dank dafür verpflichtet, daß sie vor Jahren durch die Einladung zu einem mehrmonatigen Gastaufenthalt die Erarbeitung der Grundlagen für diese Abhandlung wirksam unterstützt hat.

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

Mit Wendungen und Sätzen wie diesen hat Emil Staiger in seinen 1946 zuerst erschienenen und alsbald für geraume Zeit kanonisch gewordenen „Grundbegriffen der Poetik“,¹ auch wenn er dabei keine normative Gattungspoetik mehr vertreten wollte, weit verbreitete Anschauungen von lyrischer Dichtung so wirkungsvoll formuliert, daß beispielsweise Karl Otto Conrady in seinem für die neuere Barockforschung wichtigen Buch über „Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17.  Jahrhunderts“ (1962), auch wenn er gewisse Vorbehalte nicht verschwieg, doch nicht wagte, die von ihm untersuchte antike und frühneuzeitliche Dichtung lyrisch zu nennen, sondern als „nicht-lyrische Lyrik“ ausgab.² Ihm war offenkundig so wenig wie Staiger selbst³ bewußt, daß dieser mit seinem Bild lyrischer Dichtung, das so deutlich nur an liedhafter Lyrik und an deren Beispielen bei Goethe, in der Romantik und im 19. Jahrhundert orientiert war, doch zugleich noch in einer viel weiter zurückreichenden und mancherlei Wandlungen des Lyrikbegriffs einschließenden Tradition der Lyriktheorie stand, an deren Beginn das dem Griechischen entlehnte lateinische Adjektiv „lyricus“ eine sehr andere Bedeutung hatte, als sie Staiger dem Begriff des Lyrischen beizulegen suchte, in welchem er einen der literaturwissenschaftlichen „Namen für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins“ (S. 209) sah, und daher gerade zur Bezeichnung vieler Beispiele der von Conrady untersuchten Lyrik dienlich war. Symptome dieses nicht mehr bewußten Zusammenhangs sind Vorstellungen wie die von der notwendigen Kürze des Liedes, von den Sprüngen der Einbildungskraft, vom unrhetorischen Charakter des Liedes oder von der Musik der Sprache, von denen noch die Rede sein wird.

1 Alle voranstehenden Zitate nach der 3. Auflage, Zürich 1956. 2 Vgl. den entsprechend überschriebenen Abschnitt am Ende der Einleitung (S. 52–54), worin es schon im ersten Satz heißt: „Lyrik im Banne der lateinischen Tradition ist nicht lyrisch in dem Sinne, in dem Emil Staiger das Lyrische erläutert hat“ und dann trotz Ansätzen zur Kritik an Staiger konzediert wird: „Das Wort ‚lyrisch‘ allerdings sollte in Zukunft nur mehr in seinem Sinne angewendet werden“ (S. 53). Die Einwände zielen vor allem darauf, daß Staigers Voraussetzungen zu eng seien und sein Begriff des Lyrischen daher „nur auf einen sehr kleinen Teil von Dichtung anwendbar“ (S. 53). Die Einwände bleiben damit ganz auf der Ebene einer geforderten morphologischen Deskription, die mit Staigers anthropologischem Ansatz nicht zu leisten sei, lassen sich aber, auch wenn vom „unhistorischen Verfahren Staigers“ (S.  53) kritisch die Rede ist, nicht wirklich auf das Problem der Geschichtlichkeit und des geschichtlichen Werdegangs der literaturwissenschaftlichen Begriffe ein. 3 Obgleich dieser in seiner Einleitung (S. 7) immerhin einen knappen Hinweis auf die Orientierung des antiken Begriffs „lyrisch“ an den neun kanonischen griechischen Lyrikern und an Horaz gegeben hatte, die z. B. Catull nicht als Lyriker gelten ließ (s. zu Staiger auch noch Anm. 63).

Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus 

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Staigers Anschauungen von der lyrischen Dichtung, die wohl die Lyrik vom jungen Goethe bis zum Beginn der Moderne, doch weder die der Moderne selbst noch diejenige älterer Epochen zu erläutern vermögen, haben neben jenen Erscheinungen von Lyrik, an denen sie sich ersichtlich orientieren, zunächst die Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Voraussetzung, in welcher diese Lyrik reflektiert wird. Bei Friedrich Theodor Vischer (1857), für welchen – die Nähe zu Staiger, der denn auch Vischer ausdrücklich mehrfach zitiert (S. 23, 60f., 66), ist unverkennbar – der „lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht“, und der Lyriker „es daher so [sagt], daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt“,⁴ bei Vischer oder zuvor schon in Hegels „Ästhetik“ (postum gedruckt 1835–1837) steht – wie dann ausschließlicher noch bei Staiger – im Mittelpunkt das Lied, mit Vischers Worten: „Die wahre lyrische Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, so daß dieses ihn ausspricht, indem es frei und einfach sich und seinen augenblicklichen Stimmungszustand ausspricht, begreift die große Masse des Liederartigen. Alle Grundzüge des Lyrischen ... gelten vorzüglich von dieser Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit und Sangbarkeit ist seine Natur“ (S. 1351, § 891). Unterschieden wird vom Lied neben anderen lyrischen Arten vor allem die dabei immerhin noch eigens bedachte Ode als – so Vischer – „hoch erregter Gesang wesentlich erhabenen Inhalts in kunstreichen Strophen und kühn abspringender Composition“, die aber, wie Vischer unter Berufung auf Hegel⁵ kritisch hinzusetzt, „zwei entgegengesetzte Seiten“ habe, „die hinreißende Macht des Inhalts und die subjective poetische Freiheit, welche im Kampfe mit dem Gegenstande ... hervorbricht; Gluth und unläugbarer Frost sind in ihr verbunden“ (S.  1349, § 890). Gut ein halbes Jahrhundert zuvor hatte es in Johann Georg Sulzers „Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“⁶ von der Ode noch etwas anders geheißen: „... darin kommen alle Kunstrichter mit einander überein, daß die Oden die höchste Dichtungsart ausmachen, daß sie das Eigenthümliche des Gedichts in einem höhern Grad zeigen, und mehr Gedicht sind,als irgend eine andere Gattung ... Da sie die Frucht des höchsten Feuers der Begeisterung ... ist: so kann sie keine beträchtliche Länge haben. Denn dieser Gemüthszustand kann seiner Natur nach nicht

4 Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 3. Theil, 2. Abschnitt, H. 5: Die Dichtkunst, Stuttgart 1857, S. 1325, § 885. 5 Die von Vischer gemeinte Stelle in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1955, S. 1024f. 6 Bd. 3, 21793 (ND Hildesheim u. a. 1994).

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

lange dauern“ (S.  538f.). Dem Lied hingegen spricht Sulzer „Gleichförmigkeit und Einfalt“ „in Absicht der Gedanken und Aeußerung der Empfindungen“ zu (S. 253), das „einfacheste ist zum Lied das beste, wenn es nur sehr genau in dem Ton der Empfindung gestimmt ist“ (S. 254). Solche Abgrenzung und Bewertung von Ode und Lied und die dabei hervortretenden Unterschiede sind das Ergebnis eines längeren Prozesses, in welchem im 18.  Jahrhundert sich zugleich mit der allmählichen Unterscheidung von Ode und Lied erstmals ein viele einzelne Arten – darunter schließlich auch die zuvor ganz separat behandelte Elegie – umfassender Begriff von Lyrik im seither geläufigen Sinne als dem einer Hauptgattung neben Epik und Dramatik ausbildet. Das aber geschieht zunächst unter Führung der Ode, die einer noch selbstverständlich rhetorisch fundierten Poetik als die höhere und, als Ausdruck gesteigerten Empfindens, für lyrischer und überhaupt für poetischer gilt, die aber aus dieser Vorrangstellung in der Lyriktheorie dann nach und nach durch das einfachere Lied verdrängt wird, seit im Gefolge der Genieästhetik ein zunehmendes Verlangen nach Formen eines unmittelbareren, individuelleren lyrischen Sprechens immer mehr hervortritt.⁷ Die im 18.  Jahrhundert zunächst als Theorie der Ode sich entfaltende Lyriktheorie weist ihrerseits zurück auf die Poetik des Barock mit ihren Kapiteln über „Oden und Lieder“,⁸ worin diese, weil sie als Entsprechungen zur sangbaren strophischen Dichtung der Antike gelten, noch nicht von jenen unterschieden werden, und über die barocke Poetik hinaus noch weiter zurück auf die ihr zugrunde liegende, zumeist lateinsprachige Poetik des europäischen Humanismus in der 2. Hälfte des 16. und der 1. Hälfte des 17.  Jahrhunderts. Hier begegnet man erstmals in der Neuzeit einer ausformulierten Lyriktheorie. Sie behandelt, gelegentlich um eigene Kapitel über besondere Arten wie Hymnus oder Dithyrambus ergänzt, immer aber von der Erörterung der Elegie getrennt, unter der Bezeichnung „lyrica“ oder „lyrica poesis“ jene Dichtungen in antiken strophischen Formen, für die sie auch das in der klassischen Antike noch ungebräuchliche Wort „ode“ verwendet, die aber späterhin als Folge jenes angedeuteten Veränderungsprozesses in der Lyriktheorie immer weniger als eigentlich lyrisch gelten werden, während von den Humanisten gemäß antiker Überlieferung überhaupt nur die Verfasser derartiger Gedichte

7 Näheres zu diesem vielschichtigen Prozeß in der Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 8 Vgl. auch dazu die eben genannte Abhandlung.

Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus 

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und damit vor allem die neun oder zehn kanonischen λυρικοὶ der Griechen und Horaz als poetae lyrici angesehen werden.⁹ In der bis ins 18. Jahrhundert hinein einflußreichen Poetik Julius Caesar Scaligers (1561) beispielsweise heißt es von solchen Gedichten: „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas ... Neque enim ea sine cantu atque Lyra pronuntiabant. vnde & Lyricorum appellatio. Odas quoque à canendo titulum suorum librorum fecit Horatius …“, „Lyricorum materiam planè demonstrauit Horatius. Mihi ita videtur. Quaecunque in breue Poema cadere possunt, ea Lyricis numeris colligere ius esse … Poscit verò frequentiam sententiarum …“¹⁰ (Am nächsten kommt das lyrische Gedicht in seiner Hoheit der Erhabenheit des Epos ... man trug sie nämlich nicht ohne Gesang und Lyra vor. Daher auch der Name der lyrischen Gedichte. Auch hat wegen des Gesanges Horaz seinen Büchern den Titel Oden gegeben ... Den Gegenstand der lyrischen Gedichte hat ganz klar Horaz gezeigt. Es scheint mir demnach so [zu sein]: Alles, was in ein kurzes Gedicht paßt, darf in lyrische Verse gefaßt werden ... Es fordert aber häufige Sinnsprüche). Oder in der Poetik des großen Späthumanisten Gerhard Johannes Vossius (1647), die durch ihre Gelehrsamkeit besonders aufschlußreich ist, kann man in

9 Dazu besonders ausführlich Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 80–85, c.15. – Nur um die jahrhundertelang gültige communis opinio von lyrischer Dichtung, die mit den von Vossius gründlich erörterten griechischen lurikoὶ und Horaz umrissen ist und das Fundament einer sich daraus entfaltenden und freilich dann auch sich wandelnden Lyriktheorie der Neuzeit darstellt, kann es im hier verfolgten Zusammenhang gehen. So erübrigt sich eine nähere Auseinandersetzung mit dem Bild der antiken Lyrik in der gegenwärtigen Klassischen Philologie, die sich zwar anders als frühere – noch lange vom Dichtungsverständnis der Goethezeit geprägte – Generationen der Unterschiede zwischen antiker und neuzeitlicher Lyrik deutlicher bewußt ist, aber vielfach trotzdem – offenkundig weiterhin im Banne der um 1800 etablierten Gattungstrias stehend – einen Jambos, Elegie und Melos zusammenfassenden Begriff von Lyrik für die Antike zu rekonstruieren sucht: vgl. z. B. die Artikel s.v. „Lyrik“ in: Der Neue Pauly, Bd. 7 (1999), Sp. 586–594. – Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, hrsg. v. Bernhard Zimmermann (Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Bd. 1), München 2011, S. 124–138: Andreas Bagordo, Lyrik: Einleitung; hier S. 124 die problematische Behauptung, Proklos habe „als eine Gruppe der poetischen Formen Jambos, Elegie und Melos (‚Lied‘, ‚Gesang‘)“ zusammengefaßt, „die mit dem Epos das ‚Erzählende‘ (dihghmatikόn) vertreten“, obgleich bei Proklos tatsächlich diese vier Arten ohne eine erkennbare Zusammenfassung der drei bei Bagordo als erste genannten nebeneinander aufgezählt werden (wie als Teile des mimhtikόn Tragödie, Satyrspiel und Komödie nebeneinander gestellt werden): tὸ mὲn dihghmatikὸn ἐkφέretai di᾿ ἔpouς ἰάmbou te kaὶ ἐlegeίou kaὶ mέlouς (Proklos, Chrestomathia, innerhalb der „Bibliotheca“ des Photios: Migne, Patrologia Graeca, Bd. 103, Sp. 1196). 10 Poetices libri septem, S. 47 (l.I, c.44) und S. 169 (l.III, c.124 [recte 123]). S. jetzt auch die zweisprachige Ausgabe von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 378–381; Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 198f.

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

den breit angelegten Kapiteln über die Lyrica noch genauer differenzierende und erklärende Sätze lesen wie diese:¹¹ „... lyricorum nomen est ab instrumento, quo carmen illud caneretur ...“ (S. 60), „Materies carminis lyrici primò fuit in argumento gravi. Ut sunt laudes Deorum, vel heroum … Postea extensus odarum usus ad convivia, & amatoria“ (S.  65f.), „… carmen … extendit se  … ad … omne illud, quod breviter versibus lyricis constringi possit“ (S.  67), „… eâdem odâ amplecti varia permissum: ut res multorum annorum: sed sic ut breui omnia percurramus“ (S.  74), „Ordinem verò in vario argumento magis regit impetus poëtae, quàm anxia artis cura. Itaque concessum etiam est subitò ab uno ad aliud devolare argumentum … Imò varietas haec, atque immutatio, non modo est concessa: sed magis commendat carmen lyricum. Fit autem saepe per digressionem“ (S. 75), „Nihil verò est, cujus in carmine ly rico aequè studiosum esse oporteat, quam … suavitatis.¹² Nempe hoc suavitas est in lyricis, quod in epicis gravitas …“ (S.  75), „In dictione oblectant lumina tum verborum, tum sententiarum. Verba igitur sunto picta, ac florida, & polita. Interim, ne suavitas ista sit expers majestatis, lyrici solent imitari dictionem Homeri“ (S. 76), „In numeris est metrum, sive pedum collocatio metro Lyrico idonea … Ac primitus quidem uniusmodi erat metrum … Postea versus misceri coeperunt, quia varietate illâ aures magis demulcerentur“ (S. 77f.) (Der Name der lyrischen Gedichte stammt von dem Instrument, zu welchem das Gedicht gesungen wurde ... Der Gegenstand des lyrischen Gedichts bestand zunächst in erhabenen Dingen, wie es das Lob der Götter oder der Heroen ist ... Später ist der Gebrauch der Oden auf Trinkgelage und Liebesdinge ausgedehnt worden ... Das Gedicht erstreckt sich auf all das, was kurz in lyrische Verse gefaßt werden kann ... Es ist erlaubt, in ein und derselben Ode verschiedenes, wie etwa Ereignisse aus vielen Jahren, zu behandeln, aber so, daß man es in knapper Form durchlaufen kann ... Die Anordnung aber des verschiedenartigen Inhalts bestimmt mehr der Schwung des Dichters als die ängstliche Sorge der Kunst. Daher ist es auch erlaubt, plötzlich von einem Gegenstand zum anderen zu fliegen ... Ja, diese Abwechslung und Veränderung ist nicht nur zugelassen, sondern macht das lyrische Gedicht noch angenehmer. Das geschieht aber meistens durch Abschweifung ... Nichts aber gibt es, worum man im lyrischen

11 Die folgenden Zitate nach: Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres, III, S. 60–85, c.12– 15. 12 Vossius verweist am Ende dieses Absatzes auf seine Rhetorik, in der er auseinandergesetzt habe, „Quomodo verò suavitas à pulchritudine differat“: s. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum sive Oratoriarum Institutionum Libri sex, 3Leiden 1630 (ND Kronberg 1974), Pars altera, l.VI, S. 491–493: c.7, sectio 15: De secunda moratae orationis parte, quae est suavitas.

Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus 

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Gedicht so bemüht sein muß wie um die Lieblichkeit. Denn diese Lieblichkeit [suavitas] ist im lyrischen Gedicht das, was im epischen die Erhabenheit ... In der Redeweise erfreut Schmuck an Worten und Sinnsprüchen. Die Worte sollen darum fein ausgeführt, blühend und geschmackvoll sein. Zuweilen pflegen die lyrischen Gedichte, damit ihre Lieblichkeit nicht der Erhabenheit entbehrt, die Redeweise Homers [also des Epos] nachzuahmen ... In den Versen ist für das lyrische Gedicht ein Versmaß oder eine Verknüpfung von Versfüßen passend ... Zuerst war das Versmaß freilich nur von einer Art ... Späterhin begann man Versmaße zu mischen, weil durch solche Verschiedenartigkeit den Ohren mehr geschmeichelt wird). In der Poetik der Humanisten, die sich damit auch in diesem Bereich als Voraussetzung aller neuzeitlichen Literatur erweist, finden sich, wie solche Zitate hinreichend andeuten, im Kern all jene Einzelmomente der Lyriktheorie, die in der Folgezeit, wie immer im einzelnen aus- und umgedeutet, eine Rolle spielen. Wo aber stammen sie her? Wie kommt es zu dieser hier erstmals voll ausgebildeten neuzeitlichen Lyriktheorie? In der antiken Überlieferung, deren umfassende Aneignung Ursprung und Nährboden des Humanismus war, konnten die Humanisten keine geschlossene Theorie lyrischer Dichtung finden. Für Epik und Dramatik hatte vor allem die Aristotelische Poetik, die seit ihrer Wiederentdeckung (Erstdruck in lateinischer Übersetzung 1481,¹³ in griechischer Sprache 1508) zum wichtigsten Fundament neuzeitlicher Literaturtheorie wurde, einen Ausgangspunkt geboten, auch wenn in der Geschichte ihrer allmählichen Rezeption keineswegs ewig gültige Gattungsgesetze nur wiederentdeckt, sondern geschichtlich geprägte neu entwickelt und weiter entfaltet wurden. Für eine nähere Bestimmung lyrischer Dichtung hingegen, die man als solche bei Aristoteles, wie immer man sich deren Fehlen erklären mochte, jedenfalls nicht fand, konnten auch die beiläufigen Erwähnungen des aus der Antike ohnehin nur lückenhaft überlieferten Dithyrambos bei Aristoteles – auch wenn die Vierzahl der Gattungen Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambos (Poetik, c.1, 1447a) in der humanistischen Poetik neben anderen antiken Schemata von Dichtungsarten wiederholt erwähnt und dabei zum Teil der Dithyrambos mit dem Melicum oder Lyricum

13 Es handelte sich um die aus dem Jahr 1256 stammende, auf dem „mittleren Kommentar“ von Averroes beruhende lateinische Übersetzung des Hermannus Alemannus (s. Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. 7, 2010, Sp. 131f.), deren Druck bis ins 20. Jahrhundert hinein der Forschung unbekannt geblieben ist. Erstmals zur Wirkung kam der Text der Poetik mit der 1498 gedruckten lateinischen Version von Giorgio Valla und der 1536 folgenden lateinischen Übersetzung von Alessandro de’ Pazzi.

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gleichgesetzt, durch dieses ergänzt oder ersetzt wird¹⁴ – ebenso wenig dienlich sein¹⁵ wie der für das Dichtungsverständnis des Aristoteles zentrale Begriff der Mimesis, der vielmehr, sobald er im Lauf des 16. Jahrhunderts die europäische Poetik zu beherrschen begann, immer wieder der Theorie der Lyrik zu schaffen gemacht hat¹⁶ bis hin zur Nachahmungstheorie von Charles Batteux und der kritischen Auseinandersetzung Herders, Klopstocks und anderer Autoren des 18. Jahrhunderts mit ihr.¹⁷ Horaz andererseits hatte in seiner „Ars poetica“, die auch dem Mittelalter bekannt geblieben war¹⁸ und noch vor der Aristotelischen Poetik zum anderen Grundtext neuzeitlicher Poetik wurde,¹⁹ nur in wenigen Versen (83–85) von lyrischer Dichtung gesprochen und eigentlich nur

14 Vgl. dazu u. a. Minturno, De Poeta (1559), S. 104 (... Melici etiam, & Dithyrambici) – Viperano, De Poetica (1579), S. 27 (… Dithyrambicum, siue Melicum) – Riccoboni, Poetica Aristotelis (1587), Paraphrasis S. 14 – Ceruti, De re poetica (1588), S. 10 – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 97 (… Dithyrambica, seu Lyrica) – Vossius, De Artis Poeticae Natura (1647), S. 86. 15 S. dazu auch die Hinweise in Anm. 146 und im zugehörigen Text. 16 Vgl. dazu u. a. Minturno, De Poeta (1559), S.  387f. – Vettori, Commentarii (1560), S.  3f. – Minturno, L’Arte Poetica (1564), S. 175ff. – Viperano, De Poetica (1579), S. 149ff. (l.III, c.X: An vlla sit in lyrico imitatio: quotve lyrici poёmatis partes sint) – Ceruti, Paraphrasis (1588), S. 20 – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 134 – Donatus, Ars poetica (1633), S. 26ff., 28ff., 327 – Vossius, De Artis Poeticae Natura (1647), S. 20f. (… si poesis citra figmenta foret nulla; David, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poёtarum numero debeant excludi) – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, P. II (1661), S. 327. 17 Vgl. dazu in diesem Band die einschlägigen Partien in den Abhandlungen „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ und „Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung“ (hier in Anm. 59 und 109 auch die oben in Anm. 16 zitierten Stellen aus Viperano und Vossius als Belege für den langen Traditionszusammenhang des Problems der Mimesis in der Lyrik herangezogen). 18 Vgl. dazu u. a. Accessus ad Auctores, S. 49ff., 111ff. – Faral, Les Arts Poétiques, bes. S.109– 193: Matthieu de Vendôme, Ars versificatoria; S. 265–320: Geoffroi de Vinsauf, Documentum de modo et arte dictandi et versificandi (Nachweise der zahlreichen Horaz-Zitate in den Marginalien des Herausgebers) – Karsten Friis-Jensen, Commentaries on Horace’s Art of Poetry in the incunable period, in: Renaissance Studies 9, 1995, S. 228–239 – Maria-Barbara Quint, Untersuchungen zur mittelalterlichen Horaz-Rezeption, Frankfurt a.M. u. a. 1988, S. 204–241: Horaz als Lehrer der Dichtkunst. 19 Erstdruck der „Ars poetica“ wohl innerhalb der ersten Ausgabe der „opera“ des Horaz um 1470, wohl in Venedig oder Mailand (vgl. F.L.A. Schweiger, Bibliographisches Lexicon der gesamten Literatur der Römer, T.1, Leipzig 1832, ND Amsterdam 1962, S. 386f.). Bei Schweiger, S. 427ff. auch zahlreiche – teils undatierte, seit 1503 durchwegs datierte – Einzeldrucke der „Ars poetica“, die deren intensive Rezeption vor Augen führen; viele der frühen Drucke sind unkommentierte Lese- und Studienausgaben, die mit auffallend viel Durchschuß reichlich Platz für Notizen der gelehrten oder noch lernenden Benutzer boten und nach dem Zeugnis mancher überlieferten Exemplare entsprechend genutzt worden sind.

Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus 

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ihre Gegenstände benannt, von denen man allenfalls einzelne Arten lyrischer Dichtung und unter Umständen auch gewisse Stilunterschiede ableiten konnte.²⁰ Aus der vielfach nur trümmerhaften Hinterlassenschaft hellenistischer und spätantiker Philologie, in der es mancherlei einschlägige Schriften gegeben hat,²¹ und bei ihren byzantinischen Nachfolgern konnte man wohl manches auflesen.²² Sie bot, ergänzt durch gelegentliche ähnliche Hinweise bei Cicero (de opt. gen. or. I,1) oder schon bei Platon (rep. III,394), Schemata zur Einteilung der Dichtungsgattungen²³ nach Darbietungsweisen oder Gegenständen, in welche die Lyrica durch ausdrückliche Nennung einbezogen waren oder doch eingeordnet werden konnten,²⁴ sie lieferte Belege für den Zusammenhang der Lyrica mit

20 Die Horaz-Verse – zitiert im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung – sind in der neuzeitlichen Poetikliteratur allenthalben so präsent, daß sich Belege dafür hier erübrigen. 21 Vgl. zur antiken und byzantinischen Philologie, ihrer Überlieferung und deren Lücken (worunter manches vor allem die Lyrica betreffend): Alfred Gudemann, Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, 2 Berlin, Leipzig 1909 (mit näheren Angaben zu zahlreichen antiken Autoren), u. a. S. 13–82 (A. Das Altertum. 1. Die Griechen, a-d), 99–132 (2. Die Römer), 139–150 (B. Das Mittelalter. 1. Die byzantinische Epoche) – Rudolf Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Reinbek 1970 (engl. 1Oxford 1968), u. a. S. 150f., 164f., 224–233, 252–257, 334f. – Einleitung in die griechische Philologie, hrsg. v. Heinz-Günther Nesselrath, Stuttgart, Leipzig 1997, S.  87–103: Nigel Wilson, Griechische Philologie im Altertum; S. 104–116: Nigel Wilson, Griechische Philologie in Byzanz – Einleitung in die lateinische Philologie, hrsg. v. Fritz Graf, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 3–16: Robert A. Kaster, Geschichte der Philologie in Rom; S. 17–34: Ilsetraut Hadot, Geschichte der Bildung; artes liberales. – Speziell zu den Scholien und ihren zumeist verlorenen Quellen vgl. Ernst Friedrich August Gräfenhan, Geschichte der klassischen Philologie im Alterthum, Bd. 3, Bonn 1846, S. 274–287, § 227. Scholien; Bd. 4, 1850, S. 256–268, § 276. Stoff der Exegese; S. 276–330, § 278. Kommentatoren – A. Gudemann, Grundriß, S.  82–94: Die griechischen Scholien und ihre Quellen; 132–139: Lateinische Scholien und ihre Quellen; 139–150: Das Mittelalter: 1. Die byzantinische Epoche (mit verstreuten Hinweisen zu Scholien) – RE, 2. Reihe, 3. Halbbd., 1921, Sp. 625–705 (A. Gudemann, Scholien) – Der Neue Pauly, Bd. 11, 2001, Sp. 209–214. 22 Vgl. die zahlreiche (im Humanismus freilich erst teilweise bekannte) Belege zusammentragende Arbeit von Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936, und den Färber kritisch ergänzenden Aufsatz von A.E. Harvey, The classification of Greek Lyric Poetry, in: The Classical Quarterley 49, 1955, S. 157–175, der auf den begrenzten Erkenntniswert der späten antiken Zeugnisse für das ursprüngliche Verständnis der Lyrik in der Antike hinweist, sowie die materialreiche Monographie von Pascal Hummel, Philologica lyrica. La poésie lyrique grecque au miroir de l’érudition philologique de l’antiquité à la Renaissance, Paris 1997. 23 Vgl. dazu auch den ersten Abschnitt der freilich in manchem unzureichenden Arbeit von Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen, Halle 1940. 24 Vgl. die Hinweise bei Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, T. I, S.  3ff.; T. II, S. 5ff. sowie I. Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, S. 9ff.

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dem Gesang und für die Etymologie ihrer Namen²⁵ oder eine Erläuterung zum triadischen Bau vieler Oden Pindars.²⁶ Bei dem Rhetor Menander (3. Jh. n. Chr.) begegnete man in einem Traktat zur epideiktischen Beredsamkeit auch Hinweisen zum Umfang und Stil verschiedener Preisgedichte.²⁷ Die von dem gelehrten byzantinischen Theologen Photios (9. Jh.) in seiner „Bibliotheca“ überlieferte Chrestomathie des Proklos (wohl 2. Jh. n. Chr.) enthielt die Namen und eine knappe Charakterisierung zahlreicher Gedichtarten auf Götter und Menschen.²⁸ Aber das alles waren doch nur verstreute Einzelheiten, und ergiebiger zeigten sich auch die antiken Grammatiken nicht, die bis in die frühe Neuzeit hinein

25 Zwei übereinstimmende Belege für eine prägnante Formulierung dieser offenkundig über Jahrhunderte tradierten Erklärung, die dann im frühen 16. Jahrhundert allenthalben aufgegriffen wird, seien hier angeführt: in den erhaltenen Fragmenten des Grammatikers Didymos (1. Jh. v. Chr., Verfasser u. a. einer verlorenen Schrift perὶ lurikῶn poihtῶn) finden sich die Sätze: lurikoὶ dέ eἰsin oὗtoi· ᾽Alkmάn, Sthsίcoroϛ, ;᾽Alkaῖoϛ, ῎Ibukoϛ, ᾽Anakrέwn, Simwnίdhϛ, Pίndaroϛ, Bakculίdhϛ. oὕtw dὲ proshgoreύqhsan diὰ tὸ prὸϛ lύran ᾄδesqai tὰ poiήmata aὐtῶn. (Die Lyriker aber sind diese: Alkman, Stesichoros, Alkaios, Ibykos, Anakreon, Simonides, Pindaros, Bakchylides. So aber werden sie benannt wegen des Gesangs ihrer Gedichte zur Lyra) (Didymi Chalcenteri Grammatici Alexandrini Fragmenta, ed. Mauricius Schmidt, Leipzig 1854, ND Amsterdam 1964, S. 395). Diese Sätze mitsamt ihrem Kontext hat Drachmann nach einer Pariser Handschrift als letztes der „Capitula ad praefationem pertinentia“ im Anhang seiner Ausgabe der Pindar-Scholien (Vol. III, S. 310f.) abgedruckt. – S. auch die Nachweise ähnlicher Stellen in Anm. 64 und 67. 26 Als Belege (die z.T. erst später gedruckt worden sind, die aber zum Teil durch die Handschriftenkenntnisse früher Humanisten gewirkt haben dürften und jedenfalls symptomatisch für ein verbreitetes Verständnis des Baus Pindarischer Oden sind) vgl. z. B. Didymi Fragmenta, S. 395: tῶn dὲ ᾠdῶn aἱ mέn eἰsi monόstroφoi, aἱ dὲ triadikaί ... triadikaὶ dὲ aἱ sunestῶsai ἔk te stroφῆϛ kaὶ ἀntistrόφou kaὶ ἐpῳdoῦ. – Scholia vetera in Pindari Carmina, Vol. I, S. 8 (in: Pindάrou gέnoϛ, sogen. Vita Thomana) – Eustathios von Thessaloniki (der byzantinische Gelehrte und Theologe des 12. Jahrhunderts, Verfasser u. a. eines Kommentars zu Pindar, von dem nur die Vorrede erhalten ist): Prooimion zum Pindarkommentar. Einleitung, kritischer Text, Indices, besorgt v. Athanasios Kambylis, Göttingen 1991, S. 31 – s. auch in Anm. 30 Belege aus spätantiken Grammatikern. 27 Vgl. Menander, Perὶ ἐpideiktikῶn, I. Geneqlίwn diaίresiϛ tῶn ἐpideiktikῶn, S. 334–344, in: Rhetores Graeci, hrsg. v. L. Spengel, Bd. 3, Leipzig 1856 (ND Frankfurt a.M. 1966), S. 331–367 und die Einzelausgabe: Menander Rhetor, ed. with translation and commentary by D.A. Russel, N.G. Wilson, Oxford 1981, S.  6–28. – Gedruckt worden sind die beiden Traktate Menanders erstmals 1508. Poliziano aber z. B. hat sie schon zuvor offenkundig aus einer Handschrift gekannt und benutzt (s. bei den Drucknachweisen in diesem Band den Nachtrag zu Anm. 29 des Aufsatzes über das barocke Epicedium). 28 Migne, Patrologia Graeca, Bd.  103, Sp. 1199ff. (Laut S.F.W. Hoffmann, Bibliographisches Lexicon der gesammten Literatur der Griechen, Bd.  3, Leipzig 1845, ND Amsterdam 1961, S. 292, und Bd. 1, Leipzig 1838, ND Amsterdam 1961, S. 202, erstmals gedruckt Frankfurt 1590, mit lateinischer Übersetzung von Andreas Schott).

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für den Lateinunterricht maßgeblich geblieben sind. In ihrem üblichen metrischen Teil, zu welchem da und dort auch kurze Bemerkungen über Dichtungsgattungen gehören, referieren sie zwar rudimentäre Vorstellungen von Epos und Drama, die dadurch auch im Mittelalter als dünnes Rinnsal von Gattungspoetik geläufig geblieben waren und dann als Anknüpfungspunkte noch für Rezeption und Ausdeutung der aristotelischen Poetik im 16. Jahrhundert von Einfluß sein konnten,²⁹ für die Lyrik hingegen gibt es kaum mehr als die auch sonst verbreiteten Hinweise zu ihren Namen und ihrem Zusammenhang mit dem Gesang und im übrigen Erläuterungen der vielfältigen Metren, insbesondere des Horaz.³⁰ Mehr wissen denn auch die Grammatiken und metrischen Traktate der frühen Humanisten noch nicht zu sagen.³¹ Was die Verfasser der dann entstehenden, über Vers- und Stillehre hinausgehenden Poetiken an verstreuten Einzelheiten der antiken Überlieferung gebrauchen konnten, das ist in ihren Werken verarbeitet und immer wieder, mit oder ohne Nennung der antiken Gewährsleute,

29 Das gilt vor allem für den Abschnitt „De poematibus“ in Buch III der „Ars grammatica“ des Diomedes (Grammatici latini, Vol. I, S. 482–492) mit ihrer besonders wirkungsreichen antithetischen Bestimmung von Komödie und Tragödie (S. 487f.); s. aber auch mancherlei knappere Bemerkungen zu verschiedenen Gattungen, zur Etymologie ihrer Namen und vor allem zum Zusammenhang bestimmter Metren mit bestimmten Gattungen in den Werken verschiedener Autoren zur Grammatik, u. a. Grammatici latini, Vol. I, S. 494ff.; Vol. VI, S. 50, 173, 182, 210, 274, 312, 519; Vol. VII, S. 259, 337; Vol. VIII, S. CCXV, 236. 30 Vgl. u. a. Grammatici latini, Vol. I, S. 518ff.; Vol. IV, S. 468ff.; Vol. VI, S. 50, 58ff. (hier auch wie S.  294f. zur triadischen Gliederung von „carmina in deos scripta“, ohne Nennung des Namens Pindar), 160ff., 173, 183f., 266ff., 294ff., 305f., 406ff., 600. 31 Vgl. z. B. Franciscus Niger, Grammatica ... cum metrica arte ejusdem, Basel 1499 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl.  103r (Liricum carmen dicitur a lira: quum veteres huiusmodi carminum Scriptores ad liram poemata sua cantare consueuerint. Liricum carmen in quattuor partes diuisum est: in oden: s. epodon. palinodiam & psalmodiam) – Johannes Aventin, Rudimenta Grammaticae … Ex Varrone, Cicerone, Quintili Diomede, Phoca, Aelio Donato, Seruio, Prisciano, Terentiano, Martiano Capella, collecta, Leipzig 1522 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. Y4v (Lyricum de varijs leuiusculis / … & hymnos complectitur. Ode gesang … gassenhawer / die man auff der lauten schlecht / apud nos simillima sunt / ita dicta vt est apud Ciceronem quod ad Lyram canebantur. Horatius) – Joh. Susenbrot, Grammaticae artis institutio, o.O. u.J. (Verf. †1543) (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl.  25v (Sunt & alia complura carminum genera, quorum rationem apud Diomedem, modulationem apud Horatium, Martial, & Catullum exacte cognosces) – Heinrich Bebel, Ars versificandi & carminum condendorum, Tübingen 1512 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. F6r – Joh. Despauterius, Ars versificatoria, Straßburg 1512 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. CLXXIIv (Lyricum quod ad lyram canitur, vt sunt ea genera quibus in Odis vtitur Horatius … de quibus omnibus in X. lib. grammaticae suae Franciscus Niger ex Diomede & aliis scripsit pulcherrime) – Joachim Fortius Ringelbergius, Compendium de conscribendis versibus, Leiden 1531 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 4.

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angeführt.³² Aber eine zusammenhängende Theorie hatten sie mit der Rezeption solcher Quellen noch nicht, und wesentliche Momente der von ihnen dann entwickelten Lyriktheorie fehlten darin ganz. Wie also entstand diese dann? Betrachtet man mit dieser Frage die humanistische Poetik, die wie die Lehrbücher der Rhetorik durch praecepta und exempla, Regeln und Muster zu imitatio und aemulatio, zu Nachahmung und überbietendem Wetteifer mit den Mustern anleiten will, so kann einem auffallen, wie sehr ihre Darlegungen zur lyrica poesis vor allem auf zwei Muster gegründet sind,³³ ja zu großen Teilen geradezu Auslegung nur dieser Muster sind, als Erklärung dieser Muster entwickelt werden. Bei dem Bemühen, in Anknüpfung an die neu gesehene und in zunehmender Breite erschlossene Überlieferung der Antike und im Wetteifer mit ihr eine eigene umfassende Poetik zu schaffen, die dann zur Grundlage der neuzeitlichen Gattungen auch in den Nationalsprachen geworden ist, blieb offenkundig den Humanisten für die Lyrik, wo eigentliche praecepta fehlten, allein die Orientierung an Mustern. Diese Muster, legitimiert als solche schon durch den Katalog vorbildlicher griechischer und römischer Autoren in Quintilians Lehrbuch der Rhetorik (X,1,46–131), sind Horaz zuvörderst und neben ihm Pindar. Humanistische Lyriktheorie ist weithin Exegese der Gedichte Pindars und des Horaz, angeleitet von zwei antiken Gewährsleuten, von dem, was Quintilian in seinem Katalog musterhafter Autoren zu beiden gesagt hatte,³⁴ und von der

32 Besonders aufschlußreich sind dafür das Werk Scaligers (s. das Register der im Nachdruck vorliegenden Erstausgabe und die darüber hinausführenden Register in Bd. 6 der zweisprachigen Neuausgabe) sowie die einige Jahrzehnte jüngere Poetik des G.J. Vossius (s. darin das Register und die zahlreichen Marginalien). Es könnte eine lohnende, doch alles andere als leichte Aufgabe sein, die in diese und in viele andere Werke der humanistischen Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts eingegangene antike Überlieferung genauer zu sichten und zu erschließen. – Zur Rezeption verstreuter antiker Quellen in humanistischen Werken der Poetik s. ferner auch die Register in: A. Manuzio d.J., In Q. Horatii Flacci ... Librum de Arte Poetica (1576) – Pigna, Poetica Horatiana (1561) – Riccoboni, Poetica Aristotelis (1587) – Vadianus, De Poetica (1518) – Vettori, Commentarii (1560). 33 Neben vielen entsprechenden Partien in zahlreichen Werken, die dafür anzuführen wären, sind auch zusammenfassende Abschnitte kennzeichnend wie im 5. Buch bei Scaliger das 7. Kapitel mit der Überschrift „Horatii et Graecorum comparatio“ oder bei Vossius im 3. Buch das 15. Kapitel: „Quis carmen melicum invenerit, et qui eo maxime excelluerint“, das den zweiten Teil der Überschrift insbesondere mit nachdrücklichen Hinweisen zur Bedeutung von Pindar und Horaz beantwortet. 34 S.  den Abdruck der betreffenden Stellen (X,1,61 und 96) im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. – Die langwährende Autorität der Äußerungen von Quintilian und Horaz dürfte die maßgebliche Ursache dafür gewesen sein, daß zwei antike Autoren, die späteren Zeiten ganz selbstverständlich als bedeutende lyrische Dichter gegolten haben, lange neben den Principes Lyricorum Pindar und Horaz keine bestimmende Rolle spielen: Anakreon (obgleich

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Huldigung an Pindar zu Beginn der 2. Ode im 4. Odenbuch des Horaz.³⁵ Darin aber sind der Poetik die Horaz- und Pindarausgaben mit ihren Kommentaren vorausgegangen, die ihrerseits vielfach ohne Zweifel noch wiederum das spiegeln, was zunächst in akademischen Vorlesungen oder im Schulunterricht vorgetragen worden ist. Wie die humanistische Poetik selbst fundiert und ergänzt wird von Kommentaren zur ars poetica des Horaz und dann zur Poetik des Aristoteles³⁶ und wie etwa auch die neuzeitliche Satiretheorie – Jürgen Brummack hat das eindrücklich vorgeführt³⁷ – in humanistischen Kommentaren zu den

zu den neun kanonischen griechischen λѵρικοί gerechnet, bei Quintilian allerdings namentlich nicht genannt) und Catull (der mit seinen Formen ohnehin dem ursprünglichen Begriff der λѵρικοί nicht entsprach und dessen späterer Aufstieg zum Rang eines Lyrikers eine eigene Untersuchung – u. a. anhand der Ausgaben und Kommentare – wert wäre). 35 S. den Abdruck der Ode im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. 36 Vgl. die einschlägigen Beispiele aus der von Bernhard Fabian herausgegebenen Nachdruckreihe „Poetiken des Cinquecento“ im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung. 37 Zu Begriff und Theorie der Satire, in: DVjs 45, 1971, Sonderheft Forschungsreferate, S. 275*– 377*, darin bes. S. 286*–298*. – In den letzten Jahrzehnten ist in verschiedenen philologischen Disziplinen ein lebhaftes Interesse an den vielfältigen Erscheinungen und Leistungen von Kommentaren (darunter auch an antiken Kommentaren und den Scholien) wahrzunehmen, wie beispielhaft eine Reihe von Sammelbänden sowie Monographien und Aufsätzen belegen mag: der kommentar in der renaissance, hrsg. v. August Buck u. Otto Herding, Boppard 1975 – Les Commentaires et la Naissance de la critique littéraire France/Italie (XIVe–XVIe siècles), hrsg. v. Gisèle Mathieu-Castellani, Michel Plaisance, Paris 1990 – Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, hrsg. v. Jan Assmann u. Burkhard Gladigow, München 1995 – Commentatori e Traduttori di Properzio dall’Umanesimo al Lachmann, hrsg. v. Guiseppe Catanzaro u. Francesco Santucci, Assisi 1996 – Commentaries – Kommentare, hrsg. v. Glenn W. Most, Göttingen 1999 – Der Kommentar in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Ralph Häfner u. Markus Völkel, Tübingen 2006 – Frank La Brasca, L’Humanisme vulgaire et la genèse de la critique littéraire italienne: étude descriptive du commentaire dantesque de Cristoforo Landino, in: Chroniques Italiennes N.6, 1986, S. 3–96 – Maria Teresa Casella, Il metodo dei commentatori umanistici esemplato sul Beroaldo, in: Studi medievali 16, 1975, S. 627–701 – Paul M. Clogan, The Latin Commentaries to Statius: a bibliographical project, in: Acta Conventus NeoLatini Lovaniensis, 1973, S. 149–157 (Fortsetzungen in: Acta Conventus Neo-Latini 1988 und 1991) – Herbert Jaumann, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden u. a. 1995 (darin S. 105–126 über „Kommentar und Kritik“) – Michael Roberts, Interpreting Hedonism: Renaissance Commentaries on Horace’s Epicurean Odes, in: Arethusa 28, 1995, S. 289–307 – Udo W. Scholz, Zur Persius-Kommentierung um 1500: Scholia und Kommentare, in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung, hrsg. v. Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1987, S. 143–156 – vgl. auch das von Paul Oskar Kristeller in Gang gebrachte große Unternehmen: Catalogus Translationum et Commentariorum. Medieval and Renaissance Latin translations and commentaries. Annotated lists and guides, 1960ff. Nur ein Teil der einschlägigen Arbeiten auf diesem Gebiet allerdings widmet sich so wie Brummack dem Anteil von Autorenkommen-

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römischen Satirikern Juvenal, Persius und Horaz sich auszubilden beginnt, so befestigen, wie zu zeigen sein wird, die Kommentare die Geltung von Pindar und Horaz als den allein maßgeblichen Mustern lyrischer Dichtung und entwickeln, indem sie deren Gedichte charakterisieren und erläutern, einige immer wieder auftauchende Gesichtspunkte zum Verständnis solcher Texte. Hier liegen – in Verknüpfung mit den verstreuten Hinweisen, die der antiken Überlieferung sonst zu entnehmen waren – die eigentlichen Wurzeln der humanistischen und damit der ganzen neuzeitlichen Lyriktheorie. Schon die erste Horaz-Ausgabe mit einem neuzeitlichen Kommentar, die 1482 in Florenz, 1483 in Venedig erschienene Ausgabe des Cristoforo Landino – vorausgegangen waren seit etwa 1470 einige wenige unkommentierte Ausgaben³⁸ und die ersten Drucke mit den antiken Horaz-Scholien des Porphyrio und des Ps. Acro,³⁹ – schon die Ausgabe des Landino preist Pindar in der Vorrede und im Kommentar zur Horazischen Ode IV,2 unter Berufung auf diesen selbst und

taren an Entstehung und Tradierung von Aspekten der Poetik oder gibt wenigstens Hinweise dazu: vgl. u. a. Anthony Grafton, Renaissance Readers and Ancient Texts: Comments on Some Commentaries, in: Renaissance Quarterly 38, 1985, S. 615–649 – Concetta Carestia Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics 1250–1500, Lewisburg u. a. 1981 – Malcom Heath, Unity in Greek Poetics, Oxford 1989 – Marvin T. Herrick, Comic Theory in the sixteenth Century, Urbana 1950 – Rainer Jakobi, Die Kunst der Exegese im Terenzkommentar des Donat, Berlin, New York 1996 – Roos Meijering, Literary and Rhetorical Theories in Greek Scholia, Groningen 1987 – Joyce Monroe Simons, Martial in the Renaissance: Three „Lost“ Commentaries Found, in: Acta Conventus Neo-Latini Torontonensis, 1991, S. 689–696 – Rainer Stillers, Humanistische Deutung. Studien zu Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance, Düsseldorf 1988 – Bernard Weinberg, Badius Ascensius and the Transmission of Medieval Literary Criticism, in: Romance Philology 9, 1955/56, S.  209–216 – Penelope Wilson, Pindar and his Reputation in Antiquity, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 206, 1980, S. 97–114. 38 Vgl. Schweiger, Bibliographisches Lexicon der gesamten Literatur der Römer, T.1, S. 386ff. 39 Ps.Acro wohl zuerst Mailand 1474 (s. Schweiger, T.1, S. 387, 447). Porphyrio (zusammen mit Ps.Acro) zuerst wohl Venedig 1481 (s. Schweiger, T.1, S. 388, 447); die maßgeblichen kritischen Ausgaben der beiden Sammlungen s. im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung. Daß die beiden antiken Scholien-Sammlungen in zahlreiche weitere Horaz-Ausgaben (insbesondere der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) aufgenommen worden sind (s. die Nachweise bei Schweiger und viele der Titel im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung) und vielfach als Quellen der weiteren Kommentierung gedient haben, bedarf kaum der Erwähnung. – Zu Ps.Acro (die Autorschaft des wohl im 2. Jh. n.Chr. lebenden Grammatikers Helenius Acron ist zweifelhaft) und zu Pomponius Porphyrio (2./3. Jh. n.Chr.) vgl. u. a. Gräfenhan, Geschichte der Klassischen Philologie im Alterthum, Bd. 4, S.260–263, 308–313 – Gudemann, Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, S. 136f. – RE 14, 1912, Sp. 2841–2844 – Schanz-Hosius, Geschichte der Römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian, 3.T., München 1922, S.165–168 – Silke Diederich, Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen

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auf Quintilian: „Ex omnibus autem qui apud graecos inter lyricos enumerantur Pyndarus sine controuersia princeps habetur: quem multi homero praeponere non dubitarunt“ (Bl. a1v)⁴⁰ (Von allen aber, die bei den Griechen unter den Lyrikern aufgezählt werden, gilt Pindar ohne Widerspruch als der princeps; viele zögerten nicht, ihn dem Homer vorzuziehen), und sie läßt zugleich nicht im unklaren darüber, daß ihm Horaz an Weisheit und Kunst vergleichbar sei. Von da an findet man immer wieder in zahlreichen Ausgaben ihrer Werke beide Autoren, einzeln oder zusammen, als Princeps oder Principes Lyricorum, als die Ersten, die Besten, die Anführer oder Fürsten der griechischen oder römischen oder überhaupt aller Lyriker benannt, vielfach unter Berufung auf jene Stellen bei Quintilian und Horaz,⁴¹ und viele Ausgaben bekunden solche Einschätzung schon auf dem Titelblatt, das „Horatii ... Poetae amoenissimi, exactissimique, atque inter Lyricos Latinos Principis opera“⁴² oder „Pindari Poetae vetustissimi, Lyricorumque omnium Principis, Olympica, Pythica, Nemea, Isthmia“⁴³ ankündigt. Diesen Ehrentitel der beiden Musterautoren machen sich dann auch viele der Poetiken zu eigen.⁴⁴ Nimmt man das Zeugnis von Schulordnungen⁴⁵ und

der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition, Berlin, New York 1999 – Der Neue Pauly, Bd. 5, 1998, Sp. 281; Bd. 10, 2001, Sp. 173f. 40 Zitiert nach der Ausgabe von 1483; ähnlich Bl. m8r zu Horaz Od. IV,2. 41 Vgl. als Belege in Horaz-Ausgaben z. B.: Badius Ascensius 1503, Bl.4v (Horatii Venusini Vita), XCVIIv (zu Od.IV,2) – Basel 1521, Bl.a 3v (Q. Horatii Flacci vita per Petrum Crinitum) – Basel 1531, S. 140 (zu Od.IV,2) – Glarean 1533, S. 141 (zu Od.IV,2) – Figulus 1546, Bl.**8r (Vorrede), S. 513 (zu Od.IV,2) – als Belege aus Pindar-Ausgaben z. B.: Lonicerus 1535, Bl.α3v (Widmungsvorrede) – Neander 1556, S. 13f. (De vita Pindari) – Melanchthon 1558, S. 125f. (De Pindaro) – Sudorius 1575, Bl. 3v (Widmungsvorrede). 42 Ausgabe Basel 1527. 43 Lateinische Übersetzung der Epinikien Pindars von Joh. Lonicerus, Basel 1528. Weitere Belege erübrigen sich angesichts der außerordentlichen Verbreitung solcher Angaben auf den Titelblättern der frühneuzeitlichen Pindar- und Horaz-Ausgaben (eine Reihe von Beispielen findet sich in den Titelangaben im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung). 44 Vgl. z. B. Vadianus, De Poetica (1518), S. 256f. (Horaz) – Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica (1550), S. 123 (Pindar) – Minturno, De poeta (1559), S. 379 (Pindar) – Minturno, L’Arte Poetica (1564), S.  169 (Pindar), 182 (Pindar) – Donatus, Ars Poetica (1633), S.  331 (zit. Quintilian zu Pindar und Horaz) – Vossius, Institutionum Poeticarum libri tres (1647), III, S. 81 (zit. Quintilian zu Pindar), 83f. (zit. Quintilian zu Horaz). Besonders markant für die Rolle von Pindar und Horaz als den entscheidenden Mustern der Lyrica ist eine Stelle im Abschnitt „De Ode“ in der im Schulbetrieb des 17. Jahrhunderts lange verbreiteten „Poetica“ der Gießener Professoren Conrad Bachmann und Christoph Helvicus (31623), an der Pindar und Horaz zusammen erwähnt werden als die „principes Lyricorum“ (S. 332 [recte 326]). 45 Vgl. Evangelische Schulordnungen, hrsg. v. Reinhold Vormbaum, Bd. 1, Die evangelischen Schulordnungen des sechszehnten Jahrhunderts, Gütersloh 1860, u. a. S. 494 (Stralsund, 1591), 536 (Brandenburg, 1564), 559 (Gandersheim, 1571), 663, 665 (J. Sturm, 1538), 688, 690 (J. Sturm,

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

Fakultätsstatuten⁴⁶ über die Bedeutung dieser Autoren im Unterricht der Schulen und Universitäten hinzu, für den viele der Ausgaben – wie die handschriftlichen Spuren in zahlreichen Exemplaren zeigen – intensiv benutzt worden sind, so mag man sich eine einigermaßen zutreffende Vorstellung davon machen,

1565: „Horatiana vel Pindarica carmina commutare non verbis, sed carminum generibus, laudabile est et fructuosum“), 737 (Lauingen, 1565) – Bd. 2, Die evangelischen Schulordnungen des siebenzehnten Jahrhunderts, Gütersloh 1863, u. a. S.  46 (Sachsen-Coburg-Gotha, 1605), 100, 102 (Görlitz, 1609), 148, 157f., 163, 167 (Kurpfalz, 1615), 186 (Landgrafschaft Hessen, 1618), 206 (Soest, 1618), 273, 280 (Moers, 1635), 383 (Stralsund, 1643), 417, 418 (Braunschweig-Wolfenbüttel, 1651; mit Empfehlung zahlreicher Kommentare), 440 (Frankfurt a.M., 1654), 455 (Landgrafschaft Hessen, 1656), 485 (Grafschaft Hanau, 1658), 561 (Halle, 1661), 594 (Güstrow, 1662), 619 (Bremen, 1663), 767 (Nürnberg, 1698/99). 46 Vgl. dazu u. a.: Acten und Urkunden der Universität Frankfurt a.O., hrsg. v. Georg Kaufmann u. Gustav Bauch, H.3, Breslau 1900, S.  23 (Statuta facultatis philosophicae, zwischen 1640 und 1648: u. a. Vergil, Horaz, Lukrez, Juvenal als Prüfungsgegenstände) – Statuten und Reformationen der Universität Heidelberg vom 16. bis 18. Jahrhundert, bearb. v. August Thorbecke, Leipzig 1891, S. 98 (Reformation des Kurfürsten Otto Heinrich, 1558: Vorlesung zur griechischen Sprache über Homer, Hesiod, Theokrit, Apollonius, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Pindar, Arat, Demosthenes, Platon, Thukydides, Herodot, Xenophon u. a.), 100 (Professor der Poesie und Historie soll lesen u. a. über Livius, Caesar, über Plautus und andere mit Darlegung der Regeln des Aristoteles und des Horaz), 104 (Entwurf für das Pädagogium, 1557: als Lektüre Vergil, Episteln des Horaz, Ovid, Terenz, Plautus u. a.), 200 (Reformation des Kurfürsten Ludwig VI., 1580: lection poetices: Plautus, Lukrez, Vergil, Horaz, Ovid, Seneca, Lukan, Caesar, Sallust, Livius, Sueton, Tacitus u. a.; lection graecae linguae: diverse Historiker, Philosophen u. a.; Poeten: Homer, Hesiod, Sophokles, Euripides, „Pyndarus“, Theokrit etc.) – Die Statuten der Universität Helmstedt, bearb. v. Peter Baumgart u. Ernst Pitz, Göttingen 1963, Statuten von 1576: S. 128f. (§ 226: Aufgabe des Professors der griechischen Sprache u. a. Erklärung griechischer Autoren: Homer, Hesiod, Isokrates, Demosthenes, Euripides, Sophokles, Pindar, Herodot, Thukydides, Aristoteles, Ptolemaeus, Galen), 160 (§ 364: im Zusammenhang mit der Musica erwähnt Pindar und Simonides: „odas suas ipsi ad lyram ... cecinerunt“), 157 (§ 350: Horaz erwähnt im Zusammenhang mit der poetica), 158 (§ 356: Vorlesungen über Vergil, Ovid, Horaz, Seneca, Lukan), 162 (§ 371: Professor poesos soll lesen bes. über Vergil und Horaz de arte poetica) – Urkundenbuch der Universität Wittenberg, T.1 (1502–1611), bearb. v. Walter Friedensburg, Magdeburg 1926, S. 627 (Gutachten der Philosophischen Fakultät zum Entwurf der Universitätsordnung des Kurfürsten Christian II., nach 1603: der Professor graecae linguae hat schon längst gelesen über Homer, Demosthenes, Sophokles, teils sich vorgenommen, künftig zu lesen über Pindar, Isokrates, Thukydides, hält aber auch Hesiod, Theokrit, Euripides, die z.T. in den gedruckten alten Statuten genannt sind, für geeignet), 672 (letzte Fassung des Entwurfs, 1606: der Professor der griechischen Sprache soll lesen über Homer, Thukydides, Demosthenes, Isokrates, Sophokles oder auch Pindar und was die Fakultät für nützlich hält; der Professor oratoriae soll lesen über Cicero, Caesar, Livius etc., der Professor der lateinischen Sprache soll professor poeseos sein und lesen über Vergils Aeneis, Plautus, Terenz, Horaz, Ovid); T.2 (1611–1813), 1927, S. 249 (Satzung der Philosophischen Fakultät, 1666: der professor poeseos soll über Vergil, Plautus, Terenz, Horaz, Ovid u. a. lesen).

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wie sehr seit der Wende zum 16. Jahrhundert Horaz und Pindar für jeden Gebildeten Inbegriff lyrischer Dichtung sein mußten, wie sehr das, was Quintilian vom Rang beider Dichter, was er von Pindars Eigenart, von der Großartigkeit seines Geistes und dem Fluß seiner Beredsamkeit, was er von der Ebenbürtigkeit des Horaz und was dieser von der erhaben-enthusiastischen Dichtung Pindars gesagt hatte, zu den verbreitetsten literarischen Vorstellungen gehört haben muß. Das in den Kommentaren zuerst entwickelte Bild von Pindar und Horaz, die durch sie geleistete intensive Rezeption machten es möglich, daß diese Autoren nicht nur in der humanistischen Poetik als Muster fungieren, sondern – wie sich auch noch in der weiteren Geschichte der Pindar- und Horazphilologie und ihrem Verständnis der beiden Dichter bekundet⁴⁷ – diese für Jahrhunderte allen Lesern eingeprägte Rolle für die Lyriktheorie, bei allen Wandlungen, die diese durchmacht, bis in den Ausgang des 18.  Jahrhunderts in hohem Grade behalten.⁴⁸ Allerdings gilt es auch Unterschiede zu beachten. Horaz, der auch im Mittelalter nicht vergessen war, auch wenn die Teile seines Werks in unterschied-

47 Ein markantes Beispiel aus dem 17. Jahrhundert für die Verknüpfung von Pindar-Rezeption und -Deutung mit den Grundlagen zeitgenössischer Produktion und Deutung von Literatur ist die noch bis weit ins 18.  Jahrhundert hinein präsente Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid (1616) mit ihren rhetorisch-dialektischen Analysen der Pindarischen Epinikien. – Beispiele für das produktive Wechselverhältnis zwischen dem Literaturverständnis und insbesondere der Entfaltung der Lyriktheorie und der Pindar- und Horaz-Interpretation im 18. Jahrhundert sind u. a. diese Ausgaben und Schriften über Pindar: Vauvilliers 1772 – Schneider 1774 – Gedike 1777 – Greene 1778 – Gedike 1779 – Heyne 1798/99 – Costa 1808 – sowie diese Horaz-Ausgaben: Pellegrin 1715 – Dacier 1727 – Sanadon 1728 – Groschuf 1749 – Schmidt 1776 – Jani 1778/82 – Dorighello 1780. Manche anregenden Hinweise zur Geschichte der Pindar- und Horaz-Rezeption und -Deutung im 18. Jahrhundert bieten die Beiträge von Ernst A. Schmidt (Das Interesse am horazischen Einzelgedicht) und Thomas Gelzer (Pindarverständnis und Pindarübersetzung im deutschen Sprachbereich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert) in dem von Walther Killy herausgegebenen Sammelband „Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz“ (München, 1981, S. 19–70 und 81–115), denen allerdings eine noch intensivere und differenziertere Berücksichtigung der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts gutgetan hätte. 48 Dafür mögen als prägnante Beispiele genügen: Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4Leipzig 1751 (ND Darmstadt 1962), S. 423, 425, 429, 432 (T.II, 1. Hauptstück: Von Oden, oder Liedern) – Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, Berlin, Stettin 1783 (Expl. StB Berlin), S. 110, 111, 113 (Die lyrische Poesie) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3 (2 1793), S. 538, 540, 541, 542, 544, 545f., 547, 548, 549 (Artikel Ode). Vgl. auch zur Rolle von Pindar und Horaz für die Entwicklung von Herders Lyrikanschauung die Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band sowie zum Erlöschen der Rolle von Pindar und Horaz als Muster lyrischer Dichtung im 19. Jahrhundert den Schlußteil der Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“.

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lichem Maße bekannt waren,⁴⁹ ist früher gedruckt worden, ist in einer viel größeren Zahl von Ausgaben verbreitet, viel häufiger kommentiert, entsprechend häufiger auch übersetzt und nachgeahmt worden, wird als Gegenstand des Schulunterrichts viel häufiger genannt, ist sicherlich auch jenseits der Schule viel intensiver gelesen worden und damit ungemein stärker gegenwärtig gewesen – noch die eingehenden Auseinandersetzungen Lessings oder Herders mit Horaz bezeugen dies im 18. Jahrhundert,⁵⁰ und als es Klopstock gelang, antike Odenmaße im Deutschen nachzubilden, da waren es die Formen des Horaz und nicht die Pindars, so wichtig das seit dem 16. Jahrhundert überlieferte Bild seiner Dichtung für Klopstocks Dichtungs- und Selbstverständnis gewesen ist. Pindar, dessen Sprache die Humanisten im westlichen Europa sich anders als das immer lebendig gebliebene Latein erst neu aneignen mußten,⁵¹ ist mit dem einzigen vollständig erhaltenen Teil seines Werkes, den Epinikien, erst 1513 (Venedig), mehr als vier Jahrzehnte nach Horaz, durch den Druck zugänglich geworden. Zwar enthielt schon die nächste, 1515 in Rom erschienene Ausgabe auch die antiken Scholien,⁵² aber auch sie erschienen damit erst mehr als drei Jahrzehnte nach den Horaz-Scholien. Der Melanchthonschüler Johannes Lonicerus, dessen Vorreden die Schwierigkeiten der frühen Pindar-Rezeption zugleich mit dem Werben für diesen Dichter andeuten,⁵³ legte 1535 zusammen mit der zweiten Auflage seiner lateinischen Prosawiedergabe der Gesänge Pindars den ersten

49 S. dazu zusammenfassend die Arbeit von M.-B. Quint, Untersuchungen zur mittelalterlichen Horaz-Rezeption, 1988. 50 Vgl. dazu – von vielen möglichen Einzelbelegen abgesehen – insbesondere Lessing: Ein Vade mecum für den Hrn. Sam. Gotth. Lange (1754) – Rettungen des Horaz (1754) – Herder: Briefe über das Lesen des Horaz (Adrastea, Bd. 5, 1803) – Nachdichtungen von Oden und Sermones des Horaz (SW, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 26, S. 213–283). 51 Die hingegen in Byzanz gegebene sprachliche Kontinuität hat es mit sich gebracht, daß hier Pindar auch im Mittelalter präsent geblieben ist (vgl. dazu: Johannes Irmscher, Pindar in Byzanz, in: Aischylos und Pindar. Studien zu Werk und Nachwirkung, hrsg. v. Ernst Günther Schmidt, Berlin 1981, S. 296–302). 52 Nähere bibliographische Angaben zu den beiden Ausgaben mit Exemplarnachweisen sowie zur maßgeblichen kritischen Ausgabe der Scholien im Anhang zu dieser Abhandlung. – Zu den aus vielen Quellen unterschiedlichen Alters gespeisten Pindar-Scholien vgl. u. a. Gräfenhan, Geschichte der Klassischen Philologie im Alterthum, Bd. 3, S. 279f. – Gudemann, Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, S. 84 – RE, 2. Reihe, 3. Halbbd., 1921, Sp. 647–652 – Mary R. Lefkowitz, The Pindar Scholia, in: American Journal of Philology 106, 1985, S. 269–282 – Dies., First-Person Fictions. Pindar’s Poetic ‚I‘, Oxford 1991, S. 72–88, 147–160 (in beiden Arbeiten der Verf. sehr kritische, aber nicht durchwegs überzeugende Bewertung der Scholien und ihrer Wirkungsgeschichte). 53 Ausgabe Basel 1528 (erste gedruckte lateinische Pindar-Übersetzung), Bl. A 2r f. – Ausgabe Basel 1535, u. a. Bl.  α2v (Widmungsvorrede von 1532: ... Enarrationes adiecimus, e Graecis

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Kommentar vor, dem nur einige erläuternde Marginalien in der ersten Ausgabe seiner Übersetzung von 1528 vorangegangen waren – dies erst rund ein halbes Jahrhundert nach den ersten Horazkommentaren. Viel geringer bleibt denn auch in der Folgezeit die Zahl der Pindarausgaben und der Kommentare, und man kann zudem feststellen, daß Horaz vielfach auch in den Werken zur Poetik häufiger genannt und eingehender erörtert wird. Trotz solchen Verzögerungen und Beschränkungen der Rezeption gehen aber, seit er in das Blickfeld humanistischer Philologie getreten ist, auch von Pindars Werk, verstärkt durch die Autorität der einprägsamen Zeugnisse von Quintilian und Horaz, bedeutende Wirkungen auf die sich ausbildende Lyriktheorie aus. Freilich verbinden sie sich mit denen des anderen Musters, Horaz, auf komplizierte Weise. Aber gerade darin, im spannungsreichen Mit- und Gegeneinander der beiden verschiedenartigen Muster liegen auch Keime späterer Entwicklungen und Wandlungen der Lyriktheorie beschlossen. Wie den Rang Pindars und des Horaz als Principes Lyricorum und damit als Muster der Lyrik, so verknüpfen die Kommentare, vor allem in ihren Vorreden oder in ihren Erläuterungen zu den Versen 83–85 der Horazischen ars poetica, auch einige andere allgemeine Aussagen zu lyrischer Dichtung, für die sie ihrerseits Stichworte oder Anregungen in der Überlieferung vorfanden, von früh an mit diesen Mustern und prägen sie so für lange Zeit als Konstanten des zeitgenössischen Lyrikverständnisses ein, denen man dann in den Werken der Poetik wiederbegegnet. Ähnlich wie Johannes Franciscus Philomusus (d.i. Giovanni Francesco Superchi) aus Pesaro in einem Widmungsgedicht zu seiner Horazausgabe von 1490 (ungez. Bl. verso) und Jakob Locher in einer der lyrischen Dichtung geltenden Ode an Apoll, die in seiner Horazausgabe von 1498 der Widmungsvorrede folgt (Bl. 3v), hat Badius Ascensius, einer der wichtigsten humanistischen Kommentatoren antiker Literatur, in seiner Horazausgabe von 1503, im Blick auf v. 83–85 der ars poetica, als materia des carmen lyricum „laudes diuorum aut deorum [recte: heroum] victoriae / amores aut potationes“ (T. II, Bl. VIIIv) (Lob der Götter oder Siege der Heroen, Liebesdinge oder Trinkgelage) genannt. Solche Aufzählung der verschiedenartigen Gegenstände lyrischer Dichtung, später unter anderem bei Figulus (1546), im Kommentar zu Horaz, Ode I,6, v. 17, in die knappe, bei vielen anderen Kommentatoren und Poetikverfassern wiederkehrende oder in ihren Darlegungen zur Entfaltung der Lyrica abge-

Scholijs & optimis quibusque utriusque linguae autoribus decerptas: quarum opere Pindarum nostrum apertiorem fore quam antehac, equidem spero).

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wandelte ⁵⁴ Formulierung gefaßt: „Deorum et fortium uirorum laudes primum, postea iuuenum amores & conuiuia canebantur“ (S. 56) (zuerst wurde das Lob der Götter und kühnen Männer, später Liebesdinge der jungen Leute und Gastmähler besungen),⁵⁵ klingt noch nach in Hegels Aussagen über den Inhalt von Oden⁵⁶ und ist im 18. Jahrhundert eine der Voraussetzungen für die Unterscheidung von Ode und Lied. Gelegentlich wird dabei auch die in solchen Gegenständen sich erweisende varietas als solche eigens benannt,⁵⁷ die auch später noch häufiger als charakteristisches, von anderen Gattungen unterscheidendes, als auszeichnendes oder auch die Theorie erschwerendes Merkmal erörtert wird.⁵⁸

54 Als prägnante Beispiele vgl. u. a. Viperano, De Poetica (1579), S. 148f. – Donatus, Ars Poetica (1633), S.  324 – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S.  65f. (Materies carminis lyrici primo fuit in argumento gravi. Ut sunt laudes Deorum, vel heroum … Postea extensus odarum usus ad convivia, & amatoria). 55 Ähnlich formuliert auch S. 515 (zu Od. IV,2,9) (unter Verweisung auf v. 83–85 der Ars poetica). 56 Ästhetik, S. 1024: „Einerseits ... erwählt sich der Dichter auch innerhalb dieser neuen Form und Äußerungsweise wie bisher einen in sich selbst gewichtigen Inhalt, den Ruhm und Preis der Götter, Helden, Fürsten, Liebe, Schönheit, Kunst, Freundschaft usf ...“. 57 Das geschieht wiederholt in engem Zusammenhang mit einer Würdigung der Dichtung des Horaz: vgl. z. B. Xylander 1576, Bl. a8v (Widmungsvorrede: ... mira est argumentorum & in lyrico carmine, & in sermoni ... varietas) – Stephanus 1588, Bl. )(4r (Dedikationsepistel: Multos alioqui eius amatores esse constet: quoniam vt varia sunt eius poematum argumenta, ita varias sui amandi occasiones pro ingeniorum varietate lectoribus praebet) – Torrentius 1608, Bl. ***2v (De Q. Horatii Vita ac Scriptis: Mira est in Odis & carminis argumentorum varietas …). 58 Vgl. dazu u. a. Daniel Georg Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (21700), hrsg. v. Henning Boetius, Homburg v.d.H. u. a. 1969, S.  339 (Es können alle Sachen sich zu den Oden schicken / Geistliche / Sittliche / Liebreitzende / Kriegrische und dergleichen mehr ...) – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (41751), S. 428 (Die Materien, die in Oden vorkommen können, sind fast unzählig ... [der] ersten Erfindung zufolge, würde man ... nur traurige, lustige und verliebte Lieder machen müssen; oder höchstens Lobgesänge auf Götter und Helden machen dörfen. Aber nach der Zeit hat man sich daran nicht gebunden ... Indessen wenn man sich die Natur der Sachen ansieht, so ist es wohl am besten, wenn man sich von der ersten Erfindung so wenig entfernet, als möglich ist; und das Lob der Helden und Sieger, den Wein und die Liebe mehrentheils darinn herrschen läßt) – Johann Bernhard Basedow, Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, Kopenhagen 1756 (Expl. StuUB Göttingen), S. 496 (... das Lob der Gottheit und andre Gebete; die Bewundrung und das Andenken außerordentlicher Thaten und Tugenden ... die Zärtlichkeit gegen Freunde und das schöne Geschlecht ... waren vermuthlich auch die Gegenstände der ersten Lieder ...), S. 606 (Man kann der Ode fast keine Regeln bestimmen, weil man den jedesmaligen Innhalt, und das Feuer, womit der Dichter schreibt, und welches verchiedne Grade haben kann, vor Augen haben muß ...) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3 (21793), S. 538 (Das kleine lyrische Gedicht, dem die Alten diesen Namen [Ode] gegeben haben, erscheinet in so mancherley Gestalt, und nimmt so vielerley Charaktere und Formen an, daß es unmög-

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Wie auf dieses, so machen, angeregt wohl von spätantiken Grammatiken, die auf die Vielzahl von Metren bei Horaz oder darauf hinweisen, daß in den scripta der lyricorum poetarum „diversa ... inter se metra posse coniungi“⁵⁹ (verschiedene Metren miteinander verbunden werden können), manche frühen Kommentare auch auf die „carminum varietas“, durch welche die Oden des Horaz erfreuen (delectant), auf die „varietas cantus“, die metrische Vielfalt als ein Kennzeichen lyrischer Dichtung aufmerksam,⁶⁰ das dann – zum Teil in Verbindung mit der varietas argumentorum – als ein Mittel der besonderen Wirkung lyrischer Dichtung auch in den Poetiken bedacht wird⁶¹ und einer Zeit, der die Wirkung und gattungsunterscheidende Kraft von Versen noch sehr unmittelbar bewußt und erfahrbar war, auch als Kriterium der Einteilung von Gedichtarten und der Abgrenzung von Gattungen gelten kann,⁶² als solches mit unverhohlener Kritik schließlich auch noch von Staiger erwähnt.⁶³ Eine Vorstellung, die noch weit größere Wirkung gehabt hat als die von der für Lyrik charakteristischen varietas argumentorum oder der varietas carminum hat schon der erste Horaz-Kommentator, Landino, in seiner einleitenden

lich scheinet, einen Begriff festzusetzen, der jeder Ode zukomme, und sie zugleich von jeder andern Gattung abzeichne). 59 Grammatici latini, Vol. VI, S. 600 (Malli Theodori liber de metris) – s. auch Vol. IV, S. 468 (Servius, De metris Horatii) – Vol. VI, S. 183 (Marius Victorinus, De metris Horatii) – S. 270ff. (Caesius Bassus, Fragmentum de metris). 60 Vgl. u. a. Landino 1483, Bl. a1v (Quod autem ad carminum genus pertinet: etsi hoc varium multiplexque sit: uno tamen nomine uniuersas huiuscemodi species lyricos uersus: quoniam ad lyram canuntur iure prisci illi graeci appellarunt) – Badius Ascensius 1503, T.I, ungez. Bl. 4r, Vorrede von Mancinelli (Delectant … carminum varietate) – Lonicerus 1535, S. 21 (Lyrici porro uersus & varij sunt, & variarum legum …) – Figulus 1546, S. 13f. (zu Od. I,1, v.33: Polyhymnia. Vna Musarum, quae lyram inuenit iuxta Apollonij commentarium. Sic dicta est a ua rietate cantus) – Xylander 1575, S. 417f. (At in Odis atque in Epodis magna est metri diuersitas). 61 In knapper Form schon bei Vadianus, De Poetica (1518), S. 76 (zu Horaz, unter Berufung auf Diomedes) – s. ferner z. B. Minturno, De Poeta (1559), S. 379, 381 – Viperano, De Poetica (1579), S. 148 – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 134 – Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S. 325 (zit. Pontanus) – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 76–79. 62 S. dazu u. a. Vadianus, De Poetica (1518), S. 74f. – Minturno, De Poeta (1559), S. 392f. – Viperano, De Poetica (1579), S. 53ff. (mit Hinweis auf die nähere Behandlung der Vielfalt von Metren bei den Grammatici) – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 134 (ebenfalls mit Hinweis auf die Grammatici) – Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S.  236ff. – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 75f. 63 Grundbegriffe der Poetik, S.  21: „Der alten Poetik, welche die Gattung nach metrischem Kennzeichen zu bestimmen versucht, bereitet die Lyrik nämlich gerade durch die Verschiedenheit der Maße, ‚varietate carminum‘, Schwierigkeiten. Es bleibt ihr am Ende nichts anderes übrig, als eben diese ‚varietas‘ kennzeichnend für die Gattung zu finden“.

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„Vita Poetae“ mit dem Satz formuliert: „Quod autem ad carminum genus pertinet: etsi hoc varium multiplexque sit: uno tamen nomine universas huiuscemodi species lyricos uersus: quoniam ad lyram canuntur iure prisci illi graeci appelarunt“ (Bl.  a1v) (Was aber die Art der Verse betrifft: auch wenn sie verschieden und mannigfaltig ist, haben jene alten Griechen derlei Arten zu Recht mit einem einzigen Namen lyrische Verse genannt, weil sie zur Lyra gesungen werden). Die mit der Etymologie der Namen lyricum und ode verknüpfte Feststellung, daß es sich dabei um Gedichte gehandelt habe, die gesungen wurden, konnte den Humanisten auch dadurch von Anfang an gegenwärtig sein, daß sie in rudimentärer Form auch von den spätantiken Grammatiken überliefert wurde.⁶⁴ Der wichtigste Gewährsmann jedoch, an den man nun zunächst anknüpft und durch den man jene Anschauung bekräftigt sieht, ist offenkundig Cicero mit seiner Erwähnung „eorum poetarum, qui lurikoὶ a Graecis nominantur, quos cum cantu spoliaveris, nuda paene remanet oratio“ (Orator 55, 183.184)⁶⁵ (jener Dichter, die von den Griechen Lyriker genannt werden, bei denen, wenn man sie des Gesanges beraubt, die Rede beinahe nackt zurückbleibt). Seit 1515 konnte man aber auch im Druck – in der zweiten, nun auch die Scholien bietenden Pindar-Ausgabe – die Anwendung jener lange tradierten Etymologie⁶⁶ auf Pindar innerhalb der von Calliergi hier mitgeteilten Scholien lesen, wo es bei Erläuterung des triadischen Odenbaus über Pindar heißt (Bl.  a 3r): ᾿Epeidὴ lurikός ἐstin ὁ Pίndaroς, kaὶ prὸς lύran ᾂdontai tὰ poiήmata aὐtoῦ, katὰ triάdaς, stroφὴn, ἀntίstroφon kaὶ ἐpῳdὸn, kaὶ ἐk kώlwn tὰ mέlh sunίstantai (Weil denn Pindar ein lyrikos ist und seine Gedichte zur Lyra gesungen werden, sind die Lieder nach Triaden: Strophe, Antistrophos und Epodos, und aus Kola zusammengesetzt).⁶⁷ Entsprechende Formulierungen, die beispielsweise bei Lonicerus im ersten Pindarkommentar (1535) lauten: „Lyrici igitur poëtae sunt,

64 So bei Marius Victorinus; s. Grammatici latini, Vol. VI, S. 50: „melicum autem sive lyricum, quod ad modulationem lyrae citharaeve componitur“ – s. dazu auch Anm. 25. 65 Auf diese Stelle berufen sich ausdrücklich z. B. Willichius 1539, S. 23: „Lyrici sunt quorum poemata ad lyram, quae cythara est, decantabantur, de quibus sic Cicero inquit, si optimorum quorumque poetarum, qui Lyrici a Graecis appellantur …” – Figulus 1546, Bl. **8r: „Canebantur enim huiusmodi carmina ad lyram, unde & Lyrici sunt poetae. De quibus ita Cicero de Oratore: Si optimorum quorumque poetarum, qui λѵρικοὶ a Graecis appellantur“ – Marcilius 1605, S.  33: „At Horatij Odae quidam Lyricae, siue ad lyram, & Horatius Poёta lyricus, siue canens ad Lyram. De quo genere Tullius Orat. perfecto. Lyricos poetas cum cantu spoliaueris nuda paene remanet oratio“. 66 S. die Nachweise in Anm. 25. 67 S. diese Stelle auch (S. 11) im Abdruck der metrischen Scholien aus Calliergis Pindar-Edition und verschiedenen Handschriften bei August Boeckh: Pindari Opera quae supersunt, Bd. 2, Leipzig 1819, S. 11–21.

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quorum poёmata ad lyram sunt decantata“ (Bl. α3r, Pindari Encomium ... Marpurgi pronunciatum) (Lyriker sind also Dichter, deren Gedichte zur Lyra gesungen worden sind),⁶⁸ werden dann vielfach in den Kommentaren benutzt,⁶⁹ um zu erklären, womit es der Leser in den Ausgaben zu tun hat, die den Autor oft schon auf dem Titelblatt einen poeta lyricus nennen oder carmina lyrica ankündigen.⁷⁰ Zwar konnte man angesichts der Ungunst der Überlieferung darüber, welcher Art denn die Musik zu solchen Gedichten gewesen sein mochte, nichts aussagen. Aber die enge Beziehung der Gedichte Pindars und des Horaz zur Musik war für die Humanisten eine so lebendige Vorstellung, daß es deshalb eigene, vor allem von Conrad Celtis ausgehende Bemühungen um die Vertonung von Oden gab,⁷¹ an denen zum Beispiel der Horaz-Kommentator und Musiktheoretiker Glarean beteiligt war, der seine Kompositionen auch in seinem Kommentar erwähnt.⁷² Indem die Kommentare, gestützt auf jene antike Tradition und bestärkt durch jene Stellen, an denen in den Gedichten selbst von der Lyra und vom Gesang die Rede ist,⁷³ die ursprüngliche Verbindung solcher Dichtung mit

68 Vgl. auch S. 6 (im Zusammenhang einer Erläuterung der Gliederung in Strophe, Antistrophe und Epodos): „Lyrica carmina ad lyram decantabantur, dum chorum ducerent & saltarent uictores“. 69 So – neben den in Anm. 65 genannten Belegen – z. B. die Horaz-Ausgaben Basel 1521, S. 396 – Glarean 1533, Bl. 3r (Epistola dedicatoria) – Xylander 1575, S. 2f. (... lyricum, hoc est chordis sociatum carmen). Wie lange diese Erklärung präsent bleibt, zeigen Beispiele wie diese: Rodelius 1683, S.  1 (Libri isti, Odarum dicuntur & Carminum, sive cantionum, quas Graeci ᾠdὰϛ vocant, propterea quod versus ex quibus constant, canentur plerumque ad lyram: unde & Lyrici sunt appellati) – Juvancy 1702, S. 1 (Ode: Vox haec est Graeca; significat cantilenam quandam, qualis plerumque ad lyram cani solebat. Unde lyrica poёsis appellatur) – vom Wandel des Lyrikverständnisses und damit verknüpfter Distanz gegen die noch immer tradierte alte Erklärung geprägt: Jani 1778, T.I, S. CIV: „ODE (hoc mihi videtur esse caput & fundamentum poёseos lyricae) proprie est carmen canendum ad lyram, seu instrumentum musicum, sive revera can[t]atur, sive imitatione exprimat cantum, dum poёta illud sic, tamquam canendum, anima concipit. Itaque lyrici carminis fons est status animi, quo ad canendum nos ferri sentimus“. 70 S. dazu die Titel zahlreicher Ausgaben im bibliographischen Teil des Anhangs zu dieser Abhandlung. 71 S. dazu insbes. Karl-Günther Hartmann, Die humanistische Odenkomposition in Deutschland. Vorgeschichte und Voraussetzungen, Erlangen 1976 – Manfred Hermann Schmid, Musica theorica, practica und poetica. Zu Horaz-Vertonungen des deutschen Humanismus, in: Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden, hrsg. v. Helmut Krasser u. Ernst A. Schmidt, Tübingen 1996, S. 52–67. 72 Glarean 1533, Bl.  3r (Epistola dedicatoria): Hinweis auf „modos nostros“ zu Horaz mit Ankündigung ihrer künftigen Publikation. 73 Vgl. z. B. Landino 1483, Bl. c5v zu Od.I,12, v.1f.: „Dixit autem lyra uel tibia: quoniam ab utraque recinerent Carmina …” – Badius Ascensius 1503, T.I, Bl. IIIIr zu Od.I,1, insbes. v. 31ff. –

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Gesang immer wieder hervorhoben, haben sie zu ihrem Teil den Gebrauch des Wortes lyricus verbreitet und gefördert und das Verständnis der Wörter poeta lyricus, carmen lyricum und ode und im Verein damit das Bild der Muster Pindar und Horaz in einer Weise geprägt, die nachhaltig fortgewirkt hat. Diese Prägung des Begriffs Lyrik durch das Merkmal ihrer engen Beziehung zur Musik, die sich dann überall auch in der humanistischen Poetik niederschlägt, ist einer der Gründe dafür, daß der Begriff lange Zeit auf sangbare oder als sangbar gedachte Dichtung beschränkt bleibt,⁷⁴ daß von so verstandener Lyrik in Übereinstimmung mit den Gattungsschemata antiker Gewährsleute, zu welchen auch Horaz selbst mit der ars poetica (v. 73ff.) gehört, so lange vor allem die Elegie ausgeschlossen bleibt und daß diese noch der Ästhetik Hegels oder Vischers ähnlich wie das Sonett Schwierigkeiten der Einordnung bereitet, daß andererseits etwa in der deutschen Barockpoetik die antiken Oden als Muster gleichgesetzt werden können mit der eigenen deutschen Liedtradition. Jene Prägung des Lyrikbegriffs bleibt auch noch wirksam, als im 18. Jahrhundert die Ode als Inbegriff gesteigerter Gefühlsaussprache im Mittelpunkt eines sich differenzierenden, Ode und Lied nach und nach unterscheidenden Lyrikverständnisses steht und dann hinter dem Lied zurücktreten muß. Bei Sulzer wird es denkbar, daß die Ode, die man anders ohnehin eigentlich gar nicht kannte, ausdrücklich „blos zum Lesen dienet“, während es ihm als Unterscheidungsmerkmal gilt, „daß das Lied allezeit müßte zum Singen ... eingerichtet seyn.“⁷⁵ Immer mehr erscheint nun das Lied, das man tatsächlich als gesungenes kannte, als das eigentlich sangbare lyrische Gedicht, das immer selbstverständlicher die Auffassung von Lyrik bestimmt. Noch darin aber, noch im wachsenden Anteil konkreter musikalischer Vorstellungen und Erwartungen am Bild der Lyrik und ihrer Beschreibung und an der Musikalisierung lyrischer Sprache insbesondere in der Romantik⁷⁶ wirken jene Ansichten vom Zusammenhang von Gedicht und Gesang nach,

Figulus 1546, S. 13 zu Od.I,1, v. 33 – Xylander 1575, S. 2f. zu Od.I,1 – Marcilius 1605, S. 33f., ausgehend von Od.I,32, v.2, ausführlich und mit Hinweisen auch auf Pindar und Berufung auf verschiedene antike Gewährsleute. 74 Zu den folgenden knappen Hinweisen ausführlicher die Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 75 Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3 (21793), S. 252. 76 Vgl. dazu u. a. Richard Erny, Entstehung und Bedeutung der romantischen Sprachmusikalität im Hinblick auf Tiecks Verhältnis zur Lyrik. Ein Beitrag zur Entstehungs- und Formgeschichte der romantischen Stimmungslyrik, Diss. Heidelberg 1957 Masch. – Ders., Lyrische Sprachmusikalität als ästhetisches Problem der Vorromantik, in: Jahrbuch d. Dt. Schillerges. 2, 1958, S.  114–144 – Carl Dahlhaus, Studien zur romantischen Musikästhetik, in: Archiv f. Musikwissensch. 42, 1985, S. 157–165 – Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i.Br. 1995.

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zu deren Ausarbeitung und Verbreitung die frühen Kommentare auf ihre Weise den Grund gelegt haben. Eigenart und Mannigfaltigkeit der Gegenstände, metrische Vielfalt, Sangbarkeit – das sind Bausteine einer Lyriktheorie, die die Pindar- und Horazkommentare lieferten, indem sie Hinweise, die ihnen in verschiedenen Bereichen antiker Überlieferung begegneten, aufgriffen, ausformten, eng mit den Mustern Pindar und Horaz verbanden und so tradierten. Anders steht es mit den Vorstellungen von der Kürze und von Abschweifungen als Merkmalen lyrischer Dichtung und von deren Stil, die dann zu den zentralen Elementen der Lyriktheorie gehören und deren spätere Aus- und Umdeutungen besonders aufschlußreiche Symptome für deren Wandlungen sind. Auch diese Vorstellungen begegnen noch vor den ersten humanistischen Poetiken in den frühen Kommentaren zu Pindar und Horaz, aber hierzu fanden die Kommentatoren, wie es scheint, in antiker Überlieferung, außer in den Texten der Muster selbst und allenfalls in den dazu überlieferten Scholien, nichts vor, hier entstand, was sie an weiterwirkenden Gesichtspunkten gewannen, ganz aus der Exegese der Muster. Von der Kürze im Zusammenhang mit lyrischen Gedichten ist, soweit ich sehen kann, zum ersten Mal bei Badius Ascensius (1503) die Rede. In seinem verbreiteten Horazkommentar,⁷⁷ der eher beiläufig auch bei einer einzelnen Ode (IV,10), einer der kürzesten des Horaz, einmal eigens anmerkt, sie sei eine „Breuis ... & lepida ode, sed bonis moribus quibus paruum prodest nimis longa“ (T.I, Bl. CVIIv) (eine kurze und zierliche Ode, aber von guten Sitten, welchen eine allzu lange wenig nützt), gibt er zur Erläuterung der Verse 83–85 der ars poetica mehrere Regeln für das decorum lyrici carminis, die rechte Ausführung des lyrischen Gedichts. Die dritte lautet: „accurandum est ne quam oportet prolixior sit. Et ne vltra centesimum versiculum progrediatur“ (T.II, Bl. IXr) (es ist darauf zu achten, daß es nicht ausgedehnter als nötig ist und nicht über den hundertsten Vers hinausgeht). Wie von etwas Selbstverständlichem spricht drei Jahrzehnte später Lonicerus an verschiedenen Stellen seines für die Pindar-Rezeption wie für die Lyriktheorie besonders wichtigen Kommentars von der lyrica brevitas, der lyrischen Kürze. Zur 2. Olympischen Ode (Str. 5, v. 83ff.)⁷⁸ vermerkt

77 Weitere Ausgaben, z.T. zusammen mit Kommentaren mancher anderen Autoren, u. a. Paris 1511 – Paris 1528 – Paris 1543 – Venedig 1567 (s. das Quellenverzeichnis im Anhang zu dieser Abhandlung). 78 Verszählung nach der Tusculum-Ausgabe: Pindar, Siegesgesänge und Fragmente. Griechisch und deutsch, hrsg. u. übers. v. Oskar Werner, München (1967); die Zählung entspricht – bis auf gelegentliche geringfügige Abweichungen – der in der Teubner-Ausgabe von Snell benutzten Hauptzählung (am linken Rand in größeren Ziffern), die auf Boeckhs Pindar-Ausgabe zurückgeht.

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er, den Text paraphrasierend und erläuternd: „Breuiter autem ornateque dicere, sapientum est. Quo & Lyricam breuitatem, & interim tamen eloquentiam suam & ornatum, haud immodeste generali gnome commendat“ (S. 39) (Kurz aber und geschmückt zu sprechen, ist Sache der Weisen. Damit empfiehlt er [Pindar] in einem allgemeinen Sinnspruch die lyrische Kürze und zugleich dennoch seine Beredtheit und seinen Redeschmuck auf eine nicht ungebührliche Weise). Die 4. Pythische Ode, die mit rund 300 Versen längste der Pindarischen Oden, kritisiert und rechtfertigt Lonicerus in einem mit der Feststellung: „Et quia hic hymnus omnium epiniciorum est prolixißimus, quum certa quadam breuitate Lyrica gaudeant, modum excedit: eo rursus nomine omnium praeclarißima ode censenda est, quod quae uel Orpheus uel Apollonius Rhodius in suis Argonauticis complexi sunt, hic in unum ueluti fascem congesserit“ (S. 207) (Und weil dieser Hymnus der längste von allen Siegesliedern ist, überschreitet er das Maß, da lyrische Gedichte eine gewisse festgesetzte Kürze schätzen; hinwiederum ist er deshalb für die vortrefflichste Ode zu halten, weil er das, was sei es Orpheus, sei es Apollonius Rhodius in ihren Argonautica dargestellt haben, gleichsam in einem einzigen Bündel zusammengefaßt hat). Die Verse 76–79 der 9. Pythischen Ode (Str. 4) erklärt Lonicerus mit der Bemerkung: „Breuitatem suam gnome excusat, occasionis, adeoque temporis rationem habendam esse, quae iamnunc non permittat ingens dicendi spatium. Breuitas enim Lyricis poёtis propria est. Sic se tamen breuem esse contendit, ut paucis multa comprehendat, quae non nisi eruditis, quos solos sapientes uocat, pateant“ (S. 281) (Seine Kürze entschuldigt er [Pindar] mit dem Sinnspruch, daß man auf die Gelegenheit und insbesondere auf die Zeit bedacht sein müsse, welche gerade jetzt eine besonders große Ausdehnung der Rede nicht zulasse. Kürze nämlich ist den lyrischen Dichtern eigen. Er strebt indes danach, in der Weise kurz zu sein, daß er mit wenigen Worten vieles darstellt, was nur den Kenntnisreichen, die er allein weise nennt, zugänglich ist). Und – um noch einen weiteren aufschlußreichen Beleg anzuführen – zum Vers 63 der 1. Isthmischen Ode, dem in Pindars Text die Feststellung vorausgeht, alle Erfolge des Siegers zu verkünden, verbiete der Hymnus, da sein Maß kurz sei (... bracὺ mέtron ἔcwn ὕmnoς), gibt der Kommentator als eine mögliche Bedeutung zu erwägen: „... quod iucundum & pulchrum sit in loco braculόgoς esse: decet enim lyricos hymnos braculόgίa, neque quicquam makrologίa“ (S. 413) (… daß es erfreulich und schön sei, hier kurz im Ausdruck zu sein: denn es ziert die lyrischen Gesänge eine knappe Ausdrucksweise und nicht irgendeine weitläufige Redeweise).⁷⁹

79 Weitere Belege bei Lonicerus: Bl. a6r (Pindari Encomion), S. 171f. (Pyth. 1, Str. 5), 245 (Pyth. 5, Antistr. 13), 327 (Nem. 3, Ep. 4), 329 (Nem. 4, Str. 2, bei Lonicerus Antistr. 1), 379 (Nem. 9,

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Wie es zu dieser Vorstellung von der brevitas lyrica kommt, die, ehe sie dann bei Minturno (1559), Scaliger (1561) und Viperano (1579) in eigenen Kapiteln über die Lyrica Eingang in die Poetik findet,⁸⁰ nicht einmal besonders häufig zu belegen ist, dafür aber so deutlich ausgeprägt gerade in den besonders wirkungsreichen Kommentaren von Badius Ascensius und Lonicerus⁸¹ begegnet, und was damit hier eigentlich gemeint ist, das ist so leicht gar nicht zu sagen. Eine Anregung zu einer derart verallgemeinernden Auslegung bestimmter Stellen bei Pindar dürften einzelne Bemerkungen in den seit 1515 im Druck zugänglichen und von Lonicerus schon auf dem Titelblatt als eine Quelle seiner Erläuterungen genannten Pindar-Scholien gegeben haben, die die eigenen Hinweise Pindars paraphrasierend hervorheben.⁸² Daß allerdings die Forderung einer brevitas des carmen lyricum von Badius Ascensius in der Erläuterung der Verse 83–85 der ars poetica noch vor dem Bekanntwerden Pindars und der Pindar-Scholien formuliert wird, spricht dafür, daß die entscheidende erste Anregung in entsprechenden Äußerungen des Horaz zu suchen ist. Sie stehen in den Versen 25f. und 335ff. der ars poetica sowie in Vers 9f. der 10. Satire im ersten Satirenbuch des

Str. 4), 445 (Isthm. 6, Str. 3), 449 (Isthm. 7, Ep. 1), 454 (Isthm. 8, Str. 2). Im Register wird die oben zitierte Stelle S. 281 eigens als Lemma beim Buchstaben L angeführt in der Formulierung: „Lyricis poёtis breuitas propria“. 80 Vgl. Minturno, De Poeta (1559), S. 394 – Scaliger, Poetices libri septem (1561), S. 169 – Viperano, De poetica (1579), S. 149, 151. Mit Formulierungen, die an diejenigen Viperanos und Scaligers anklingen, handeln in der Folgezeit von der brevitas z. B. Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 138 – Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S. 325 (mit Nachweis der Stelle bei Scaliger) – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 324 (mit Nachweis der Stelle bei Scaliger). 81 Zur Wirkungsgeschichte des Horaz-Kommentars von Badius Ascensius s. die in Anm.  77 angeführten späteren Auflagen. Zu Lonicerus nennt Hoffmann (Bibliographisches Lexicon der gesammten Literatur der Griechen, Bd. 3, S. 104) zwei weitere Ausgaben, die 1543 und 1560 in Zürich erschienen sind. Erwähnungen des Lonicerus finden sich noch 1556 in der 2. Auflage der Pindar-Ausgabe von Coeporinus (Bl. a8v innerhalb einer Inhaltsübersicht: „Hasce omnes aliquando interpretatus est D. Joannes Lonicerus, quibus & docta adiunxit Commentaria“) und in der „Aristologia Pindarica Graecolatina“ des Michael Neander, der (Bl. b3v f.) als Grundlage seiner Beschäftigung mit Pindar neben Erasmus und Melanchthon („praeceptor noster“) auch Lonicerus nennt. 82 So etwa zu Pyth. 9, 78ff.: Scholia vetera in Pindari Carmina, Vol. II, S. 233 (sch. 135); zu Isthm. 1, 60ff.: Vol. III, S.  210 (sch. 85b). – Hier und an allen weiteren Stellen werden die erwähnten oder zitierten Scholien mit der Abkürzung sch. und der von Drachmann benutzten Verszählung bezeichnet, die auf der Zählung von Heyne beruht und in der Teubner-Ausgabe von Snell am rechten Rand in kleineren Ziffern mitgeführt wird.

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Horaz.⁸³ Freilich zielt die letzte Stelle auf die Darstellungsweise der Satire, und die beiden Stellen in der ars poetica sind allgemeine stilistische Ratschläge und Warnungen, die der rechten Wirkung jedes literarischen Werks dienen sollen und als solche, einer breiteren Tradition vor allem der Rhetorik angehörend, etwa ebenso bei Quintilian, aber auch in den mittelalterlichen Dichtungslehren wie in den Horaz-Scholien belegt sind.⁸⁴ So sind die Stellen bei Horaz denn auch im allgemeinen in den Kommentaren, auch in den zahlreichen separaten Kommentaren zur ars poetica, verstanden worden, oft in bloßer Paraphrase des Horazischen Wortlauts.⁸⁵ Daß sie aber eben auch, zumal der Vers 25 der ars poetica in der 1. Person Singularis formuliert ist, anders gelesen werden konnten und Horaz selbst damit als Muster der Kürze verstanden werden konnte, zeigen Kommentatoren wie Franciscus Philippus Pedimontius, der zur ars poetica v. 335 feststellt, Horaz gebe mit dieser Schrift selbst ein Beispiel der hier gefor-

83  ars poet. 25.26: ... brevis esse laboro, obscurus fio ... ars poet. 335–337: quidquid praecipies, esto brevis, ut cito dicta percipiant animi dociles teneantque fideles: omne supervacuum pleno de pectore manat. Sat. I, 10,9.10: est brevitate opus, ut currat sententia neu se inpediat verbis lassas onerantibus auris … 84 Vgl. Quintilian, Inst. orat. IV, 2, 40ff. – zur Kürze in mittelalterlichen Dichtungslehren s. Faral, Les Arts Poétiques, S. 185 (Mathieu de Vendôme, Ars versificatoria), 218ff. (Geoffroi de Vinsauf, Poetria Nova), 277ff. (Ders., Documentum de modo et arte dictandi et versificandi), 347f. (Evrard l’Allemand, Laborintus), 380 (Jean de Garlande, Poetria) – Ps.Acro, Scholia in Horatium Vetustiora, Vol. II, S. 107 (zu Sat.I,10,v.9), 313 (zu ars poet. 25), 362 (zu ars poet. 335) – Porphyrio, Commentum in Horatium Flaccum, S. 163 (zu ars poet. 25), 280 (zu Sat.I,10,v.9) – s. auch Histor. Wörterb. d. Rhetorik, Bd. 2, Sp. 53–60: brevitas – Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München 31961, S. 479–485: Kürze als Stilideal. 85 Vgl. dazu u. a. Willichius 1539 (Commentaria in Artem Poeticam Horatii), S. 159 (zu v. 333ff.) – Gaurico, Super Arte poetica Horatii (1541), Bl. A4r (zu v. 25), D1r (zu v. 333ff.), D3v (zu v. 407, zwar lt. Marginale „De carmine lyrico“, dessen Aufgabe aber „ut hominibus uiam ad uirtutem significaremus“), E 2r – Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica (1550), S. 18 (zu v. 25f.) – Leiden 1551 (Poemata Omnia), S. 169 (zu v. 335) – Luisini, In Librum Q. Horatii Flacci De Arte Poetica (1554), Bl.  8rf. (zu v. 25, ausführlich, mit Berufung auf Cicero und die Rhetorik des Aristoteles).

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derten Kürze,⁸⁶ oder Nicolaus Colonius, der zu v. 25 – offenkundig nicht ohne gewisse Vorbehalte – anmerkt: „Brevis sine studio & attentione, non percipitur. Sic fere sunt Horatij carmina“ (Wer kurz ist, wird nicht ohne Neigung und Aufmerksamkeit angenommen. So sind meistens die Gedichte des Horaz).⁸⁷ Im Sinne eines derartigen Verständnisses der eigenen Äußerungen des Horaz zur brevitas sind von Badius Asensius und Lonicerus Horaz und Pindar offenkundig als Muster einer durch ihr Werk belegten brevitas verstanden worden, die damit zu einem der Merkmale des carmen lyricum werden kann. Dem Muster Horaz scheint dabei auch die genaue Grenze der brevitas abgelesen zu sein, die Badius Ascensius (T.II, Bl.  IXr) mit hundert Versen angibt: die längste Ode des Horaz (III,4) umfaßt 80, die längste Epode (5) 102 Verse. Mit solcher genauen Festlegung freilich scheint es sich zunächst um eine sehr äußerliche Angelegenheit, um eine Frage nur der schieren, in Verszahlen meßbaren Länge eines carmen lyricum zu handeln, und das scheint sich zu bestätigen, wenn auf der anderen Seite dann die ersten Verfasser von Poetiken, die die Forderung der brevitas lyrica aufnehmen, sich schwer damit tun, diese brevitas genauer festzulegen, die sich, zumal angesichts der unleugbaren Längenunterschiede zwischen Pindar und Horaz, als eine zwangsläufig relative Größe erweist. So gesteht Minturno (1559) auf die Frage „Quantum sit carmen Lyricum“ (Wie groß ein lyrisches Gedicht sei) ein: „Quam porrò longè cantus prouehatur, ut non hercule facile definierem, ita contenderim in hoc modum quendam adhibendum esse, ne praetergrediatur fines, quibus longitudo eius claudenda est, neque breuis adeo sit, qui aureis implere nequeat, aut euanescat, antequam subeat sensum audiendi“ (S. 394) (Wie lang ein Gesang fortgehen mag – zwar könnte ich das – beim Herkules – nicht leicht bestimmen, aber ich würde behaupten, es sei dabei ein gewisses Maß einzuhalten, damit er weder die Grenzen überschreite, in welche seine Länge einzuschließen ist, noch so kurz sei, daß er die Ohren nicht zu füllen vermag oder entweicht, bevor er den Sinn des Hörenden erreicht), um dann festzustellen, daß Horaz das Muster für die rechte Länge gleichstrophiger und Pindar für ungleichstrophige Oden abgebe.⁸⁸

86 Pedimontius 1546, S. 52: „Quorum omnium in hisce poeticis legibus conscribendis auctor ipse consulto brevissimus fuit; ut desinant hallucinari, qui nimiam breuitatem crimini dare conantur“. 87 Colonius 1587, S. 9. – Vgl. auch: Glarean 1533, Bl. 2 v (Epistola dedicatoria): am Ende einer längeren Preisung des Horaz: „Quis breuius ac uerius?“ – Bucholtz 1639, S. 3 (Widmungsvorrede): „... cum Autoris hujus inimitabilis brevitate mista profunditas ...“. 88 Wenn späterhin da und dort in Werken zur Poetik ausdrücklicher von Unterschieden des Umfangs der Oden Pindars und des Horaz, die auch mit solchen der Gegenstände verknüpft sind, die Rede ist, so scheinen die Autoren eher Horaz (sicherlich auch als dem vertrauteren

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Bei aller Knappheit der frühen Belege für eine darin offenkundig als selbstverständlich angesehene Vorstellung läßt sich doch jedenfalls schon bei Lonicerus herauslesen, was mit der brevitas lyrica eigentlich gemeint ist und inwiefern sie denn ein Merkmal des carmen lyricum sein soll, und Badius Ascensius dürfte dasselbe im Sinn haben, wenn er im Blick auf das decorum von ihr als dritter Regel nach der Forderung der Übereinstimmung von materiae und genera lyricorum carminum (Gegenständen und Arten der lyrischen Gedichte) und vor der Forderung nach Abgrenzung des carmen lyricum von der majestas des Epos und der entsprechenden Eigenart der anderen Gattungen spricht. Zum einen geht es um einen stilistischen Sinn der brevitas, der sich aber nicht im sparsamen Gebrauch von Wörtern und in knapper Fügung der Sätze erschöpft, sondern in Entsprechung zum äußeren Umfang eine gedrängte Darstellung auch an sich größerer Sachverhalte meint, zum anderen aber geht es in engem Zusammenhang damit auch um die Zuordnung zu entsprechenden Stoffen, denen knappere Ausführung angemessen ist und die ihrerseits das carmen lyricum auch von anderen Gattungen unterscheiden.⁸⁹ Das klingt bei Lonicerus vor allem dort an, wo an der 4. Pythischen Ode Pindars als der längsten und daher das Maß der brevitas lyrica überschreitenden doch gerühmt wird, daß sie einen an sich epischen Stoff wie in ein Bündel zusammengefaßt habe. In solchem Sinne hebt später Pigna in seiner „Poetica Horatiana“ (1561) die Lyrica mit ihren umgrenzten Versmaßen als minora poemata ab vom Epos mit seinen unbegrenzt fortlaufenden Hexametern,⁹⁰

und im geläufigen Latein eher nachahmbaren Muster) als dem noch immer weniger vertrauten, wenngleich weiterhin als gültiges Muster lyrischer Dichtung angesehenen Pindar zuzuneigen und mit ihren Bemerkungen Symptome allmählicher Veränderungen in der Einschätzung einer angemessenen brevitas lyrica zu liefern, wie sie späterhin zu beobachten sind: vgl. u. a. Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S. 325: „Brevitas autem illa non ita arcta est, velut in Epigrammate, (videmus enim apud Horatium longiusculas & apud Pindarum longißimas,) sed opponitur integris tractatibus. Quanquam Stesichorus Lyrico carmine Bella & Ducum historias descripsisse legitur“ – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), der (III, S. 72f.) eine historische Erklärung heranzieht: „At non item conveniunt carmini lyrico regum historiae bellique descriptiones. Quamquam olim & ista eo carmine retulerint. Ut Stesichorus fecit ... Pindarus longis illis odis satis ostendit, quam multa hoc genere olim complecti solent. Quod magis pareret, si totus exstaret. Nam libros XVII dicitur reliquisse. Sane, de varietate poёsios Pindaricae, etiam testis est Horatius. Verum ipse potius Horatius sequendus est nobis; qui non alia admisit, quam quae breviter constringere liceret“. 89 Daß dazu auch eine Abgrenzung gegen die besondere brevitas des Epigramms gehört, wird im allgemeinen offenkundig eher vorausgesetzt als ausgesprochen; vgl. aber die in Anm. 88 zitierte Stelle aus der Poetik von Bachmann/Helvicus. 90 Vgl. S. 32 (zu ars poet. v.73f.): „Res gestae operis longitudinem denotant, quae uersibus nunquam necessario certis terminis finientibus respondebit, quales sunt Hexametri, nam-

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erwartet Minturno (1559), daß, auch wenn einer wie Orpheus oder Homer (in den Hymnen) zum Lob der Götter eine lange Reihe ihrer Taten besinge, er dies doch nur in einer kurzen Darstellung tue,⁹¹ spricht Viperano (1579), Scaligers Formulierung verdeutlichend, davon, daß nur das, was in lyrische Verse gefaßt und in ein kurzes Gedicht aufgenommen werden könne, zum lyrischen Gegenstand zählen zu können scheine und daß es zwar durch keine Regel verboten sei, „res gestas multorum annorum“ (Geschehnisse aus vielen Jahren) darzustellen, dies aber möglichst kurz geschehen müsse.⁹² Es ist dann erst das Ergebnis viel späterer Wandlungen der Lyriktheorie, daß die Kürze des carmen lyricum, die zuerst im Sinne der decorum-Forderungen einer rhetorisch fundierten Poetik auf die von anderen Gattungen, vor allem vom Epos unterscheidende knappere Darstellungsweise und die zu ihr passenden Gegenstände und Themen zielt und insofern, dem sichtlichen Unterschied gegenüber Horaz zum Trotz, auch bei Pindar gegeben ist,⁹³ nach und nach in jenem bei Staiger noch nachklingenden Sinne gedeutet wird, der ähnlich schon bei Vischer lapidar ausgesprochen worden ist und die Oden Pindars längst nicht mehr und die des Horaz auch kaum noch meinen kann: „Die Natur des Gefühls fordert Kürze des Ganzen“ (S. 1334, § 887) oder etwas anders noch im 18. Jahrhundert als Eigenart vor allem der „eigentlichen“ Ode begriffen wird: „Da sie die Frucht des höchsten Feuers der Begeisterung ... ist: so kann sie keine beträchtliche Länge haben“ (Sulzer, Bd. 3, S. 539). Für die deutsche und zuvor schon für die französische Odentheorie des 18. Jahrhunderts ist aber das wohl wichtigste und für längere Zeit am häufigsten genannte Merkmal der beau desordre, die sogenannte lyrische Unordnung, die

que Elegi binis inambulant, Lyrici singulis strophis clauduntur“; S.  36 lyrica als „minora poemata“. 91 De Poeta, S.  387: „Nam etsi longam rerum gestarum seriem usu uenit ut explicet, quod fecit interdum, qui canit, ut Orpheus, ut Homerus; Deorum Laudes, breui tamen id expositione prosequitur“. 92 De Poetica (1579), S.  149: „In vniuersum quaecumque lyricis numeris colligari, & breui poёmate concludi possunt, videntur in lyricam materiam posse cadere“, S. 151: „At vero Narratio … nulla lege prohibetur ne res gestas multorum annorum complectatur: verum eo laudabilior fuerit. quo res breuius perstrinxerit …“. Sehr ähnlich später auch Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 74: „Contra etiam eadem oda amplecti varia permissum: ut res multorum annorum: sed sic ut brevi omnia percurramus“. 93 Bezeichnend ist dafür – um ein Beispiel zu nennen – die Selbstverständlichkeit, mit welcher – acht Jahrzehnte nach Lonicerus – Erasmus Schmid in seiner Pindar-Ausgabe den Begriff der brevitas lyrica benutzt, wenn er (T.1, S.  113) zur Erläuterung von Ol. 2,85 (Str. 5) die – ebenfalls schon von Lonicerus (s. die Zitate oben im Text) in solchem Sinne kommentierte – Stelle Pyth. 9, 76–79 heranzieht und dazu schreibt: „... ubi & eloquentiam, & strictam brevitatem Lyricam innuit“.

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vor allem durch Sprünge der Einbildungskraft, durch lyrische Abschweifungen zustande kommt, gleichwohl aber nicht ohne geheimen Plan ist⁹⁴ und die Ode als derart kunstreich gegliedertes Gebilde, das so auf Reichtum und Bewegung der Empfindungen zu verweisen vermag, geeignet sein läßt, für einige Zeit als gesteigerter, lebhaftester Ausdruck von Empfindungen zum Inbegriff lyrischen Sprechens zu werden, wie man es in der deutschen Literatur vor allem durch Klopstock verwirklicht sah. Die Odentheorie des 18.  Jahrhunderts, deren Kritik dann zu einem der Kernpunkte von Herders folgenreicher Auseinandersetzung mit der Lyriktheorie seiner Zeit wird,⁹⁵ lebt mit der in Boileaus Formel vom beau desordre zu einem zentralen Merkmal der Ode avancierten Vorstellung vom Erbe der im 17. und noch im 18.  Jahrhundert präsenten humanistischen Poetik,⁹⁶ die vielfach die digressiones als Merkmal und Schmuck lyrischer car-

94 Zur wirkungsreichen Formulierung dieses Merkmals durch Nicolas Boileau vgl. die entsprechende Passage in der Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band und die Belege für ihre Verbreitung im 18. Jahrhundert in der zugehörigen Anm. 38. 95 Vgl. dazu u. a. die in den Abhandlungen „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ und „Pindar – Horaz – Ossian“ (hier auch in Anm. 16) in diesem Band angeführten Belege: Herder, SW I, S. 437; II, S. 180; XXXII, S. 77. 96 Dieser Zusammenhang wird in vielen Texten zur Odentheorie im 18.  Jahrhundert, auch wenn er den Zeitgenossen sicherlich bewußt war, durch die dominierende Rolle der so geläufig gewordenen Formel vom beau desordre verdeckt, die keiner weiteren Explikation zu bedürfen scheint. Er tritt jedoch andeutungsweise dort zutage, wo zur Erläuterung der „schönen Unordnung“ von einer spezifischen Ordnung poetischer Einbildungskraft die Rede ist, so z. B. bei Georg Friedrich Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, Halle 1747 (Expl. StB München), S.  258: „Durchgehends muß eine schöne Unordnung herrschen, so wohl in einzeln Sätzen und Strophen, als auch in der gantzen Ode. Folglich muß alles vermieden werden, wodurch die Ordnung der Gedanken, und die Art ihrer Verknüpfung, gar zu leicht in die Augen fällt“, – in der anonymen Abhandlung „Von der Ode“ (Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 1763, Bd. 2, 1. St., S. 152–177; Expl. UB Erlangen), S. 162f.: Die Unordnung, hergeleitet vom „Begriffe des Enthusiasmus“, „ist größer, wenn mehrere kleine Bilder ... übergangen worden; wenn Dinge mit einander verbunden werden, die sich einander aufzuheben scheinen, und wenn die Verknüpfung derselben schöner ist“ oder bei Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783), S. 107: „... daher die lyrische Unordnung, die aber mehr scheinbar als wirklich ist, weil die Ordnung und Gedankenreihe der begeisterten Phantasie doch immer dabey wirksam ist und zum Grunde liegt“. Darüberhinaus gibt es aber auch eine Reihe von Texten, die in besonders aufschlußreicher Weise den Traditionszusammenhang der Formel vom beau desordre mit den digressiones der humanistischen Poetik präsent halten, so wenn Bodmer und Breitinger im „Mahler der Sitten“, Bd. 1, Zürich 1746 (ND Hildesheim, New York 1972) zur Erläuterung der „schönen Unordnung“ von der „Ordnung der Empfindungen“ sprechen, die der „poetische Enthusiasmus“ lehre, und fortfahren: „In dieser Schreibart hat Pindarus seine Oden geschrieben ... Die Abweichungen

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mina wie selbstverständlich vermerkt: „Digressiones autem sunt lyricorum propriae“ (Abschweifungen sind eine Eigenart der Lyrica) konstatiert 1561 Pigna (S. 36), während etwa Pontanus 1594 genauer darlegt: „... digressiones & plures, & liberiores, quoniam ad laudationes amplificationesque conferunt ... requirit & amat poesis lyrica“ (S. 139) (zahlreiche und recht freie Abschweifungen, weil sie zum Lob [als Hauptaufgabe solcher Gedichte] und zur Ausschmückung beitragen, fordert und liebt die lyrische Dichtung).⁹⁷ Vorgearbeitet haben der humanistischen Poetik auch beim Stichwort der digressiones zunächst die Horazkommentare, die dazu in den antiken Scholien so gut wie keine Anregung finden konnten.⁹⁸ Bereits im ersten dieser Kommen-

von der gemeinen Ordnung sind darinnen in grosser Anzahl, und geschehen plötzlich. Sie sind oft sehr lang“ (S. 56), – wenn Herder gegen Entartungen der „schönen Unordnung“ und der „Ausschweifung“ polemisiert: „Die meisten neuern Oden sind entweder völlig ohne Handlung und einförmig; oder man verbirgt die ungereimteste Ausschweifung mit dem Namen der Odenunordnung; ein Wort, das die größten Schwätzer am wenigsten verstehen“ (SW XXXII, S. 77; Fragmente einer Abhandlung über die Ode, ca. 1765/65), „... bei uns ist leider! selbst die schöne Unordnung des Horaz zum abgezirkelten Gesetz geworden ... diese Poetische Phantasie gehet, wenn sie sich einmal nicht rasende Ausschweifungen nüchtern vorsetzt, ... ihren himmlischen Sonnenweg“ (SW II, S.  180; Ueber die Neuere Deutsche Litteratur, 2. Sammlung, 1767/68), – wenn Moses Mendelssohn in seiner Rezension der Gedichte von Anna Louisa Karsch eingehend die der Ode eigene „Ordnung der begeisterten Einbildungskraft“ erörtert, in welcher „öfters auch Digreßionen und Nebenbetrachtungen erlaubt sind“ (Gesammelte Schriften, Bd. 5/1, hrsg. v. Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 586; zuerst in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, T. 17, 1764, S. 150) oder wenn Sulzer in seinem Artikel zur Ode an Beispielen von Horaz und Klopstock eine Vielfalt von Arten einer spezifisch poetischen Ordnung erläutert und dabei u. a. schreibt: „In andern Oden wechseln Ursach und Würkungen wechselweis ab. Der Dichter macht zwar öftere, aber kurze Ausschweifungen von seinem Gegenstand, kommt aber bald wieder auf ihn zurück“ (Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3, 21793, S. 541). 97 Verschiedenartige Bemerkungen zu digressiones, besonders bei Pindar und Horaz, u. a. auch bei Minturno, De Poeta (1559), S. 388 – Viperano, De Poetica (1579), S. 150 – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 333, 334, 336, 346 – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S.  75: „Imo varietas ... atque immutatio, non modo est concessa: sed magis commendat carmen lyricum. Fit autem saepe per digressionem“ – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, P. II (1661), S. 331. 98 Der Begriff parecbasis kommt bei Porphyrio (Commentum in Horatium) an zwei Stellen (S. 53 zu Od. II,1; S. 96 zu Od. III,4, v. 42.43), bei Ps.Acro an einer Stelle vor (Vol. I, S. 235, ebenfalls zu Od. III,4, v. 42.43, fast wörtlich mit Porphyrio übereinstimmend). An einigen Stellen weist in den Scholien von Porphyrio ein deinde auf die mehrgliedrige Struktur einer Ode hin (so S. 53 zu Od. II,1, zusammen mit dem Wort parecbasis; S. 110f. zu Od. III,12, verknüpft mit der Wendung „hic transit“ zu v. 6); S. 119 zu Od. III,19; S. 149 zu Od. IV,3; S. 151 zu Od.IV,8). Zu einer ähnlichen Funktion des Verbums „transire“ bei Porphyrio vgl. einige der im Index Verborum der Ausgabe von Holder angeführten Belegstellen. – Daß übrigens Landino die erst kurz zuvor

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tare, bei Landino, der schon in seinem Prooemium das „mirificum consilium atque artificium [huius poetae] in singulis disponendis atque ornandis“ (ungez. Bl.  2r) (die bewundernswerte Klugheit und Kunstfertigkeit [dieses Dichters] in der Anordnung und Ausschmückung des Einzelnen) betont, die er nach Kräften sichtbar machen wolle, finden sich Hinweise, die auf einzelne Teile von Oden und deren Abfolge mit rhetorischen Begriffen wie dem des exordiums und mit Zeitadverbien wie primum, deinde, nunc, postea aufmerksam machen, so beispielsweise zur 12. Ode des 1. Buches.⁹⁹ An die ersten Strophen als eine rhetorische artificiosissima insinuatio (einen äußerst kunstreichen Redeteil zur Gewinnung der Aufmerksamkeit der Hörer) anknüpfend, hebt der Kommentar (wie auch viele spätere)¹⁰⁰ das Verfahren einer indirekten Preisung des Augustus hervor: „Nam dum multos sibi uiros heroas deosque laudandos occurrere demonstrat. Octauianum caeteris pene praeponit“ (Bl. c6v) (Denn während er [Horaz] darlegt, wie ihm viele des Lobes würdige Männer, Heroen und Götter vor die Seele treten, gibt er dem Octavian vor allen gänzlich den Vorzug), und bei Vers 33 faßt er den Aufbau der folgenden Strophen in den Satz zusammen: „optimus ordo: ut de diis primum: deinde de heroibus: postremo de uiris egregiis meminerit“ (Bl. c8r) (eine sehr gute Anordnung: daß er der Götter zuerst, darauf der Heroen und zuletzt der herausragenden Männer gedenkt). Solche Bemerkungen, die man bei Landino da und dort finden und in der Folgezeit in zahlreichen anderen Horazkommentaren ebenfalls in geringerer oder größerer Zahl lesen konnte,¹⁰¹ waren geeignet, den Blick für die Bestandteile, für Bauform und Verfahrensweise bestimmter mehrteiliger Horazischer Oden zu schärfen. Aber es fehlte dabei zunächst das für die Poetik später so selbstverständliche Stichwort der digressiones. Es taucht erst mit der Rezeption Pindars auf.

im Druck allgemein zugänglich gewordenen Scholien von Ps.Acro und Porphyrio offenkundig schon zur Kenntnis genommen, wenn nicht schon vor dem ersten Druck aus Handschriften kennen gelernt hat, zeigt deren respektvolle Erwähnung als doctissimi viri im Prooemium seiner Horazausgabe (ungez. Bl. 2 r). 99 Siehe den Abdruck der Ode im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. 100 Vgl. z. B. Locher 1498, Bl. Xv (Mancinelli) – Badius Ascensius 1503, Bl. XIXv – Basel 1531, S. 25 – Figulus 1546, S. 93 – Leiden 1551, S. 18 – Antwerpen 1557, S. 22 – Fabricius 1571, Anhang S. 12 – Xylander 1575, S. 37 – Lambinus 1577, S. 35 – Cruquius 1578, S. 33. Eine Anregung für diese Deutungstradition dürfte in der Bemerkung zu Od. I,12, v. 1 bei Ps.Acro (S. 54) gelegen haben. 101 Vgl. als zwei frühe Beispiele: Locher 1498, Bl. IVv (zu Od. I,3), Bl. VIIr (zu Od. I,6), Bl. VIIv (zu Od. I,7), Bl. XXXIXv (zu Od. II,12), Bl. XLv (zu Od. II,13), Bl. LXXVv (zu Od. IV,1), Bl. LXXVIv (zu Od. IV,2) – Badius Ascensius 1503, Bl. IVv (zu Od. I,2), Bl. XIIIIr (zu Od. I,7), Bl. XXVIv (zu Od. I,16), Bl. XXXVr (zu Od. I,27), Bl. XLVv (Mancinelli, zu Od. II,1), Bl. LXVIIIv (Mancinelli, zu Od. III,3), Bl. CIIv (Mancinelli, zu Od. IV,6).

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Johannes Lonicerus, der erste Pindar-Kommentator, hatte schon im Vorwort seiner noch fast gänzlich unkommentierten lateinischen Übersetzung von 1528 von „nexus & cohaerentia“ (Verbindung und Zusammenhang) des Einzelnen gesprochen, welcher, „dum nobis obscurior apparet, fit, quo minus Pindaricum agnoscamus mentem“ (Bl. A 2r) (solange er dunkler erscheint, macht, daß wir umso weniger den Pindarischen Sinn erkennen). Im Kommentar der Neuausgabe seiner Übersetzung von 1535 stellt er dann das Vorkommen von digressiones an zahlreichen jener Stellen fest, an welchen Pindar den Preis der Wettkampfsieger, dem seine Enkomien dienen, mit ausgedehnten Erzählungen von Mythen und Darlegungen von Genealogien verknüpft, ein Verfahren, das seine Gedichte immer wieder für viele Leser schwer überschaubar gemacht hat, das Pindar immer wieder den Vorwurf der obscuritas¹⁰² eingetragen, ihn aber auch gerade deshalb interessant gemacht hat und das bis in das 20. Jahrhundert hinein es der Klassischen Philologie schwer gemacht hat, die Bauform von Pindars Gedichten zu verstehen und sie als Einheit zu begreifen.¹⁰³ Solche digressiones, die der Rhetorik als ein Mittel des Redners geläufig sind,¹⁰⁴ als eine Eigenart Pin-

102 Pindar-Herausgeber haben sich daher immer wieder genötigt gesehen, diesem Vorwurf mit unterschiedlichen Argumenten entgegenzutreten: vgl. u. a. die lateinische Übersetzung von Sudorius, der wiederholt feststellt: „Haec prima Pindari Oda nullam obscuritatem continet“ (Olympia, 1575, Bl. 33r), „Haec Oda in laudem Megalis Atheniensis scripta est, nec quidquam obscuritatis continet“ (Pythia, 1576, Bl. 47r) – E. Schmid 1616, Praefatio S. 4 (Dunkelheit Pindars erklärt aus jetzt beobachteten Textverderbnissen) – Costa 1808, S. 20: „Obscuritas ipsa factorum, quae cognitissima tunc Graecis erant, nobisque nunc omnino ignota sunt, non est in poeta, sed in nobis, qui historicis illorum temporum monumentis caremus ...“. 103 Für die Bemühungen um Antworten auf die Frage nach solcher Einheit war im 20. Jahrhundert auf lange Zeit maßgeblich die viel Zustimmung und produktive Nachfolge erfahrende, schließlich aber auch Widerspruch weckende und noch dadurch die neuere Forschung fördernde Untersuchung von Wolfgang Schadewaldt: Der Aufbau des Pindarischen Epinikion, Halle 1928 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswiss. Klasse, Jg. 5, H. 3, S. 259–343), deren Hervorhebung hier genügen muß. S. ferner den gründlichen, von Boeckh bis in die frühen 60er Jahre des 20. Jahrhunderts reichenden Forschungsbericht von David C. Young, Pindaric Criticism, in: Pindaros und Bakchylides, hrsg. v. William M. Calder III u. Jacob Stern, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung, Bd. 134), S. 1–95 (zuerst in: The Minnesota Review 4, 1964, S. 584–641) und zu Fragestellungen und Ergebnissen der jüngeren Pindar-Forschung die knappen Hinweise und die bibliographischen Angaben in: Der Neue Pauly, Bd. 9, 2000, Sp. 1033–1036 (Artikel Pindar) und in: Handbuch der griechischen Literatur der Antike, hrsg. v. Bernhard Zimmermann, Bd. 1, Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, S. 232f. und 243ff. (Andreas Bagordo, Pindar). 104 Als Beispiele aus der Antike und aus der Frühen Neuzeit vgl. Quintilian, Inst. orat. IV, 3,1–17, bes. 12ff.; IX, 1,28.35; 2,55. – Vossius, Commentariorum Rhetoricorum Libri Sex (1630), P. II, S. 338–342: De digressione.

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dars wahrzunehmen, dafür haben sicherlich die antiken Scholien zu Pindar, die seit 1515 im Druck zugänglich waren, Lonicerus die Augen geöffnet.¹⁰⁵ Mit dem griechischen Substantiv parέkbasiς und Formen des Verbums parekbaίnw weisen sie an mehr als zwei Dutzend Stellen auf derartige Erscheinungen hin.¹⁰⁶ Das sind zumeist nur neutrale Feststellungen des Vorkommens. Gelegentlich wird einmal eine parέkbasiς mit dem Hinweis verbunden, daß sie dem Lob des Besungenen diene,¹⁰⁷ mehrfach aber auch wird eine parέkbasiς kritisch als ἄkairoς (zur unrechten Zeit gebraucht) oder als ἄlόgoς (grundlos) und deshalb unangebracht angesehen: mέcri dὲ toύtwn ὁ Pίndaroς kalῶς tὸn ἐpίnikon grάφei· ἠstόchse dὲ tὰ metὰ taῦta ἀlόgῳ parekbάsei crhsάmenoς (Bis hierher schreibt Pindar das Siegeslied schön. Er irrte aber ab, indem er im Folgenden eine grundlose Abschweifung gebrauchte).¹⁰⁸ Weit über die Scholien hinaus aber, auf die er sich für mancherlei Auslegungsfragen ausdrücklich bezieht, macht Lonicerus an zahlreichen Stellen auf das Vorkommen derartiger digressiones aufmerksam, die in seinem Kommentar allenthalben als Eigenart Pindars – „suo more“ (nach seiner Weise) vermerkt der Kommentar verschiedentlich¹⁰⁹

105 Er nennt schon auf dem Titelblatt und in seiner Widmungsvorrede (s. das Zitat in Anm. 53) die Scholien als eine der Quellen seiner enarrationes. 106 Vgl. in der Ausgabe der „Scholia vetera in Pindari Carmina“: Vol. I, S. 254 (zu Ol. 8,53: sch. 70a), 255 (zu Ol. 8,53: sch. 71b), 383 (zu Ol. 13,93.94: sch. 133b); Vol. II, S. 38 (zu Pyth. 2,21: sch. 40a), 92 (zu Pyth. 4: sch. Inscr. a), 172 (zu Pyth. 5: sch. Inscr.), 210 (zu Pyth. 8,32: sch. 43a), 245 (zu Pyth. 10,29: sch. 46b), 249 (zu Pyth. 10,51: sch. 79b), 257 (zu Pyth. 11,17: sch. 23b), 259 (zu Pyth. 11,38: sch. 58a), 260 (zu Pyth. 11,30: sch. 58b.c); Vol. III, S. 20 (zu Nem. 1,33: sch. 49c), 48 (zu Nem. 3,23: sch. 38b), 49 (zu Nem. 3,26: sch. 45c), 58 (zu Nem. 3,65: sch. 114b), 73 (zu Nem. 4,34: sch. 53a), 74f. (zu Nem. 4,37: sch. 60b), 113 (zu Nem. 6,55: sch. 94a), 116 (zu Nem. 7,1: sch. 1a), 124 (zu Nem. 7,38: sch. 56a), 127 (zu Nem. 7,53: sch. 76), 143 (zu Nem. 8,19: sch. 32a), 170 (zu Nem. 10,19: sch. 35), 236 (zu Isthm. 4,72: sch. 92b). – Wie geläufig übrigens der Begriff parέkbasiϛ als Merkmal Pindars auch byzantinischen Gelehrten des Mittelalters war, belegt die Praefatio zum verlorenen Pindar-Kommentar des Eustathios (gedruckt freilich erst 1832; s. Hofmann, Bibliographisches Lexicon, Bd. 2, S. 117 und: Scholia Recentia in Pindari Epinicia, ed. Eugenius Abel, Vol. I, Budapest, Berlin 1891, S. 3f.), die geradezu von der parεkbatikὴ mέqodoϛ Pindars spricht (Eustathios, Prooimion zum Pindarkommentar, hrsg. v. A. Kambylis, 1991, S. 9; s. auch S. 7f., 16, 19f.). 107 So Scholia vetera, Vol. III, S.  124 (zu Nem. 7,38: sch. 56a): parεkbaίnei dὲ eἰϛ tὰ perὶ Neoptolέmou ... diὸ eἰs ἔpainon toῦ ὀnόmatoϛ tῇ ἡrwϊkῇ kέcrhtai parekbάsei. 108 Scholia vetera, Vol. II, S. 245 (zu Pyth. 10,29: sch. 46b) – ähnliche Stellen: S. 249 (zu Pyth. 10,51: sch. 79b; ähnlich, aber schwächer bei Lonicerus, S. 292), 257 (zu Pyth. 11,17: sch. 23b), 259 (zu Pyth. 11,38: sch. 58a) 109 Vgl. z. B. S. 23 (zu Ol. 2): „Digreßiones ad Semelem, Ino, Pelea, Achillem & reliquos suo loco inspergit suo more“ oder S. 191 (zu Pyth. 3): „More suo poёta digreditur, idque ante uoti completionem, ad Aesculapij & ortum & educationem“.

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– kenntlich werden. Lonicerus, der den kritischen Bemerkungen der Scholien, wenn überhaupt, dann nur in abgeschwächter Form folgt,¹¹⁰ geht zwar auch an vielen Stellen über die bloße Feststellung einer digressio oder ihres Endes nicht hinaus.¹¹¹ Doch mit Wendungen wie „Amplificatio per digreßionem“ (S. 11) (Ausschmückung durch Abschweifung), „eleganti & diuiti digreßione expediuit“ (S. 38) (in einer fein gebildeten und reichen Abschweifung erzählte er), „Porrò ut singulas odas peculiaribus fabulis aut historijs conspergit, sic hoc encomij, Herculis, Neptuni, Pyrrhae & Deucalionis fabulis exornat, katὰ parέkbasin, ut suo loco quaeque aperientur“ (S. 107) (Wie er ferner die einzelnen Oden mit besonderen Fabeln oder Geschichten bestreut, so ziert er dieses Stück eines Lobgedichts durch die Fabeln von Herkules, Neptun, Pyrrha und Deukalion, mittels der Abschweifung, wie alles an seinem Ort gezeigt werden wird), „docta & eleganti digreßione usus“ (S.  352) (eine gelehrte und passende Abschweifung benutzend)¹¹² läßt Lonicerus, der zudem vielfach auf einzelne Bauteile von Oden, auf Sentenzen und auf rhetorische Lobtopoi mitsamt ihrer gliedernden Funktion hinweist,¹¹³ spüren, daß er imstande ist, in den Digressionen Pindars Mittel poetischer Wirkung zu sehen, und mit seinem Kommentar zu deren Wahrnehmung anregen will. Nach ihm fehlen in kaum einem Pindarkommentar die entsprechenden Hinweise.¹¹⁴ Wie die Verfasser im einzelnen die Erscheinung

110 Vgl. als Beispiele dafür die in Anm. 108 genannten Stellen. 111 So z. B. S. 5 (zu Ol. 1), 21 (zu Ol. 1), 23 (zu Ol. 2), 31 (zu Ol. 2), 41 (zu Ol. 3) und an weiteren Stellen. 112 Entsprechende Wendungen u. a. auch S. 251 (amplificatio est, qua ... digreditur), 302 (In reliquis sectionibus amplificat digrediendo), 320 (Amplificat ... et ... digreditur), 331 (Temporis angustia a latiori digreßione se excludi testatur), 354 (Digreßio est ad laudem literarum, poetices tamen potißimum). 113 Vgl. z. B. S. 5 (postremo uoto claudit hanc Oden …), 19 (gnome tandem non uulgari concludit), 20 (Epiphonema est, quod praecedenti gnomae adhaeret … Generalis Chria est, qua sua cuiusque uirtus, ars, opera … commendatur), 29 (Elegans est hic anthitesis [sic] …), 33 (metaφorὰ est), 63 (Apostrophe est allegorica: tota enim tropica oratio est), 72 (Vtitur autem pulchra gradatione in his gnomis), 62 [recte 74] (Allegoria est, qua Lyrices & Musices suae praestantiam modeste laudat), 79 (Peroratio est, qua …), 80 (A comparatione orditur, eaque pulcherrima, ut semper in exordijs eximius est) und viele weitere Stellen. 114 Angesichts der Vielzahl von Beispielen, die mit ihren Unterschieden ein lohnendes Material für eine ins Detail gehende Geschichte der Pindar-Rezeption in der Neuzeit abgeben könnten, erübrigt sich die Anführung einzelner Belege. Die Hervorhebung der digressiones reicht u. a. bis zu der für die Pindar-Rezeption der Goethezeit wichtigen Ausgabe von Christian Gottlob Heyne (11773/74), der im Argumentum zu Ol. 1 (21799, Vol. II/1, S. 3) feststellt: „sequitur digressio de Pelope ... Redit poeta ad laudes victoris, et facit bona vota“ und damit noch ganz ähnlich formuliert wie Lonicerus (S. 5): „ad res de Tantalo & Pelope uulgatas digreditur: postremo uoto claudit hanc Oden …”.

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auch beurteilen mögen, kritisch, apologetisch oder bewundernd – das Bild Pindars ist auf Dauer durch die Fülle der Digressionen als Mittel abwechslungsreicher und spannungsvoller Gedichtgliederung geprägt, auf die Lonicerus als erster so eindringlich aufmerksam gemacht hatte. Anders steht es jedoch mit den Horazkommentaren. Viele von ihnen bleiben in den Spuren des ersten Kommentators Landino und bilden so eine feste, bis ins 18. Jahrhundert wirksame Tradition der Kommentierung Horazischer Odenbauformen aus, die sich mit Hinweisen auf die Abfolge der Teile begnügt.¹¹⁵ Erst einige Zeit nach dem Erscheinen des Pindarkommentars von Lonicerus nehmen einzelne Horazkommentare auch den Begriff der digressio auf.¹¹⁶ Am intensivsten geschieht dies 1571 bei Georg Fabricius, der 1555 bereits eine Horazausgabe mit einer Reihe älterer Kommentare besorgt hatte und in seinem eigenen Kommentar in mannigfacher Weise die Gliederung Horazischer Oden erörtert, dabei wiederholt und unter gelegentlicher ausdrücklicher Nennung Pindars den Begriff der digressio als eines Mittels Horazischer Kunst verwendet und einmal das Verfahren der digressio geradezu als mos lyricus, lyrische Gepflogenheit bezeichnet.¹¹⁷ Aber ihm sind, ehe es im 18.  Jahrhundert üblicher wurde, auch Horaz im Zeichen einer vom Enthusiasmus bestimmten Odentheorie zu sehen,¹¹⁸ nur wenige gefolgt. Gemäß der unterschiedlichen Rolle, die der Begriff der

115 Solche Hinweise, die mit Zeitadverbien wie primum, deinde, nunc, postea einzelne Teile von Oden hervorheben, findet man in großer Zahl bald nach Landino auch in den Ausgaben von Mancinelli (1492), Locher (1498) oder Badius Ascensius (1503), aber ebenso z. B. noch bei Lambinus (1577), Pulmann (1581), Juvancy (1702) oder Gottschling (1753). 116 Das gilt vor Georg Fabricius vor allem von Hermann Figulus (1546), der z. B. von der Ode I,12 einleitend schreibt: „Ad imitationem Pindari Lyricorum principis, Deorum, Regum, principum, & virtute insignium uirorum laudes, hac Ode celebrat“ (S. 80) und dann zu v. 49 bemerkt: „Post longam digressionem, redit ad summum Iouem, humani generis parentem & defensorem ...“ (S. 93). 117 S. 56 (zu Od. III,27): „... euagatur in Europae fabulam ... Argumentum coeptum more Lyrico relinquit …”. 118 Dazu aus dem 18. Jahrhundert u. a. Pellegrin 1715, S. 37 (im Zusammenhang mit Boileaus Formel vom beau desordre als effet de l’art) – Groschuf 1749, S. 55ff. (Digressionen bei Horaz nicht etwa ein Mangel, sondern – mit Anspielung auf Boileau – lebhafte, ungezwungene Unordnung) – Miller 1761, Bl. **3r (am Ende der Vita des Horaz, in Anlehnung an – s. Anm. 119 – diejenige bei Torrentius: digressiones oppido venustae) – Jani 1778/82, Bd. 1, S. 30 (gegen diejenigen, die beklagen, Horaz verlasse mit Digressionen seinen ursprünglichen Plan: „Sed sic fieri solet. Poёta lyricus dum enthusiasmo suo abripitur, dum exprimit sensus suos eorumque naturalem consequentiam (qui lyricae poeseos character est“) – Doering 1815/28, Bd. 1, S. 10 (digressio aus summo amore).

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digressio in den Kommentaren zu Pindar und Horaz¹¹⁹ – in Korrespondenz mit den tatsächlichen Unterschieden ihrer Dichtung – spielt, ist Pindar, der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Ronsard¹²⁰ auch die Dichtung selbst, zunächst in Frankreich, zu befruchten beginnt, auch für die Poetik, seit sie den Begriff als proprium der poesis lyrica aus den Kommentaren übernommen hat, das eigentliche Muster für dieses wichtige Element der Lyriktheorie, neben dem Horaz zuweilen gar nicht oder aber erst an zweiter Stelle genannt wird. Die Art und Weise, in welcher Pindar als der Dichter der Digressionen und damit als Muster dieser Eigenart lyrischer Dichtung in der Poetik des Humanismus gesehen wird, bleibt aber auch noch nach dem 16. Jahrhundert vom Fortgang der Auslegungsarbeit in den Kommentaren beeinflußt. Das gilt vor anderen von der Pindarausgabe des Erasmus Schmid (1616), die bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts, bis zur Ausgabe von Christian Gottlob Heyne (1773/74, textkritisch, mit lateinischer Übersetzung; mit Kommentar 1798/99),¹²¹ mit ihrem Text, aber auch mit ihrem Kommentar maßgeblich geblieben ist, sodaß mit ihr, mit ihrem Bild von Pindar und von der Ode sich noch Herder bei seinen vielfältigen Entwürfen zu einer Oden- und Lyriktheorie immer wieder kritisch auseinandergesetzt hat.¹²² Schmid hat wie kaum einer sonst die frühen Ansätze von Lonice-

119 Zu nennen sind u. a.: Xylander 1575, S.  137 – Parthenius 1584, Bl.  8v (mit Bemerkungen zum Gebrauch von digressiones bei Rednern und Poeten und Berufung auf Pindar für die längeren Digressionen der Poeten) – Torrentius 1608, Bl.  ***2v (am Ende einer Vita des Horaz: „Mira est in Odis & carminis & argumentorum varietas, summa copia & suauitas, sententiae graues, argutae, & artificiosissimae: digressiones oppido venustae ...), S. 263 („... ea occasione, vt solent poetae, ad Europae historiam digressus ...“) – Zurck 1696, S. 115, 217 (zu Pindar: „Digressionibus suis, saepe sine nexu abruptis, obscurus est, & in figuris ut magnificus, ita aliquando Dithyrambicus, & praeceps, eoque non imitabilis ... Horatius quod in eo vitiosum forte, vitavit“). 120 S. dazu das monumentale Werk von Isidore Silver: Ronsard and the Hellenic Renaissance in France, Bd. 2, Ronsard and the Grecian Lyre, T. I–III, Genf 1981–1987; darin zu Ronsard und Pindar insbes. die Kapitel XVI–XXX – ferner u. a. Thomas Schmitz, Pindar in der französischen Renaissance, Göttingen 1993. 121 Heyne hat in seiner Praefatio dem Editor Erasmus Schmid noch Anerkennung gezollt, indem er ihn am Ende einer Übersicht über frühere Pindar-Ausgaben einführt mit einer an Quintilians Lob Pindars anknüpfenden Wendung: „Tandem ad Schmidium peruentum est, editorum Pindari facile principem“, um dann freilich nach einer längeren Würdigung der editorischen Leistung kritisch zum Kommentar Schmids und seiner Orientierung an der Rhetorik Stellung zu nehmen (Heyne 1798/99, Vol. I, S. 45ff.; entsprechende Kritik schon in der Ausgabe von 1773/74, T. 2, S. 114). 122 S. dazu die Anm. 84 und 85 und die dazu gehörigen Partien der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. – Im Lauf des 20.  Jahrhunderts und insbesondere in den letzten Jahrzehnten läßt sich zunehmend eine Abkehr von der im 18. Jahrhundert – in engem

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rus fortgeführt und eingehende Analysen zu allen Oden Pindars geliefert, die sich vor allem des Begriffs der digressio und zahlreicher rhetorischer Gesichtspunkte bedienen. Es ist für sein Pindar-Bild bezeichnend, daß er seiner Ausgabe eine Abhandlung „De Dithyrambis“ (T.4, S. 247–255) beigegeben hat, die wie an vielen Stellen so auch dort auf Pindar verweist, wo sie vom enthusiasmus poeticus handelt, „qui non tam addiscitur, quàm naturali quodam & occulto influxu certis individuis datur“ (der nicht so sehr erworben, als durch einen gewissen natürlichen und verborgenen Einfluß bestimmten Individuen gegeben wird). „Neqve tamen arte planè hic enthusiasmus caret, sed ita gubernandus est, ut ars quidem insit, ita tamen abscondita, ut non nisi peculiari vi stocastikῇ prae-

Zusammenhang mit einer wachsenden Kritik an der Rhetorik – entstandenen negativen Einschätzung der Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid und ihres rhetorisch-dialektischen Analyse-Verfahrens beobachten. Vgl. dazu u. a. Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Pindaros, Berlin 1922, S. 5f. – Z. Lempicki, Pindare jugé par les gens de lettres du XVIIe et du XVIIIe siècle, S. 30, in: Bulletin International de l’Académie Polonaise des Sciences et des Lettres, Classe de Philologie, Anné 1929, Krakau 1930, S. 28–39 – Wolfgang Schadewaldt, Pindar [Vorlesung von 1963], S. 248, in: Schadewaldt, Die frühgriechische Lyrik (Tübinger Vorlesungen, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1989, S. 217–356 – C.M. Bowra, Pindar, Oxford 1964, S. 321 – John Edwin Sandys, A History of Classical Scholarship, Vol. I, New York 1964, S. 272 – Penelope Wilson, Pindar and his Reputation in Antiquity, S. 107, in: Proceedings of the Cambridge Philological society 206, 1980, S.  97–114 – Thomas Gelzer, Pindarverständnis und Pindarübersetzung im deutschen Sprachbereich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, S. 101ff., in: Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz, 1981, S. 81–115 – Glenn W. Most, The Measures of Praise. Structure and Function in Pindar’s Second Pythian and Seventh Nemean Odes, Göttingen 1985, S. 43f. – Stella P. Revard, Neo-Latin Commentaries on Pindar, S. 587, in: Acta Conventus Neo-Latini Bononiensis, Binghamton, New York 1985, S. 583–591 – Malcolm Heath, The Origin of Modern Pindaric Criticism, S. 89f., 97, in: Journal of Hellenic Studies 106, 1986, S. 85–98 – Andrew M. Miller, Inventa Componere: Rhetorical Process and Poetic Composition in Pindar’s Ninth Olympic Ode, passim, in: Transactions of the American Philological Association 123, 1993, S. 109–147 – David Halsted, Koexistenz, Kontinuität, Transformation. Zur lateinischen und deutschen pindarischen Ode (1616–1642), S. 624ff., in: Daphnis 23, 1994, S. 621–639 – P. Hummel, Philologica lyrica, 1997, S.  476ff. – Ralph Häfner, Synoptik und Stilentwicklung. Die Pindar-Editionen von Zwingli/Ceporin, Erasmus Schmid und Alessandro Adinori, in: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow, Tübingen 2001, S. 97–121 – John T. Hamilton, Soliciting Darkness. Pindar, Obscurity, and the Classical Tradition, Cambridge, Mass., London 2003, S.  130ff. – Martin Vöhler, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005, S.  5 u.ö. Unter den angeführten Arbeiten finden sich neben Stimmen, die vor allem die historische Bedeutung der Ausgabe von Erasmus Schmid – und z.T. auch die der kommentierten Übersetzung des Lonicerus – für die frühneuzeitliche Pindar-Rezeption würdigen, auch solche, die an ihr die frühe, verdienstvolle Bemühung um das Verständnis der Struktur von Pindars Dichtungen hervorheben und ihr zum Teil noch für die Pindar-Deutung der Gegenwart nicht ohne Gründe ein anregendes Interesse zusprechen.

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ditis appareat“ (S. 252) (Und dennoch entbehrt dieser Enthusiasmus durchaus nicht der Kunst, sondern er muß so gelenkt werden, daß Kunst zwar in ihm ist, doch derart verborgen, daß sie nur für die mit besonderem Scharfsinn Begabten in Erscheinung tritt). Das ist, anknüpfend an eine alte rhetorische Erwartung,¹²³ die Vorstellung, mit welcher später Boileau seine Formel vom beau desordre in der Ode erklärt. Unter dem Vorzeichen des Enthusiasmus, des furor poeticus, der, an sich ein altes Lehrstück der Poetik, für diese erst seit der Wende zum 18.  Jahrhundert, im Zusammenhang auch mit der Rezeption der Schrift des Ps.Longin vom Erhabenen, fruchtbar wird, kann dann im 18.  Jahrhundert die seit Lonicerus von den Kommentaren am Werk Pindars dargelegte Kunst der digressio zu einem wesentlichen Element der weiter sich entwickelnden Odentheorie werden. Mit der vom Bild des Musterautors Pindar bestimmten Entfaltung, die die Ausdeutung der Digressionen und ihrer Funktion nach und nach erfährt, sind eng verbunden schließlich auch die Stilvorstellungen der Lyriktheorie, für die im 18.  Jahrhundert die Ode als Inbegriff lyrischer Dichtung ganz geprägt ist durch den hohen Stil im Sinne der hier noch wirksamen rhetorischen Stillehre mit ihrer das decorum erfüllenden Zuordnung von Gegenständen, Gattungen, Stilebenen. „Was er sagt“, heißt es bei Sulzer vom Odendichter, „das sagt er in einem poetischen Ton, in lebhaftern Bildern, in ungewöhnlicherer Wendung, mit lebhafterer Empfindung, als ein andrer Dichter. Mit einem Wort, er entfernet sich in allen Stüken weiter von der gemeinen Art zu sprechen, als jeder andere Dichter“ (Bd.  3, S.  538). Diese entschiedene Festlegung hat weiter zurückreichende Voraussetzungen, die sich jedoch ursprünglich auf komplizierte Weise mit anderen Möglichkeiten für den Stil eines carmen lyricum verschlingen. Scaliger beispielsweise hatte davon gesprochen, daß diese Gedichtart der majestas des Epos, das auch dem Stil nach als höchste Gattung galt, am nächsten komme (S. 47), Vossius hatte den Stil des carmen lyricum näher erläutert als suavitas, die auch der majestas nicht entbehre, und sie – in offenkundiger Anknüpfung an eine ähnliche Stelle im „Dialogus de oratoribus“ des Tacitus¹²⁴ – von der gravitas des Epos, den affectus der Tragödie, der simplicitas der Bukolik und so fort abgegrenzt (III, S. 75f.). Ähnlich hatte auch schon Minturno zwei

123 Im Zusammenhang mit unterschiedlichen Redeteilen und Redesituationen stehende Belege für die Möglichkeit einer besonderen Wirkung der Kunst des Redners gerade durch deren dissimulatio u. a. bei Quintilian: inst. orat. II,17,6; IV,1,9; 1,60; 2,117; XII,9,5. 124 S. c.10: „... ego vero omnem eloquentiam omnesque eius partes sacras et venerabiles puto, nec solum coturnum vestrum aut heroici carminis sonum, sed lyricorum quoque iucunditatem et elegorum lascivias et iamborum amaritudinem [et] epigrammatum lusus et quamcumque aliam speciem eloquentia habet, anteponendam ceteris aliarum artium studiis credo“.

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Jahre vor dem Erscheinen von Scaligers Poetik die Lyrici von den Tragici und Comici unterschieden: „inter hos medium locum Lyrici tanquàm suaviores, sed eò Tragicis humiliores, quo ampliores Comicis obtineant“ (S.  105) (zwischen diesen beiden haben die lyrischen Dichter als die gleichsam lieblicheren, aber um so viel im Verhältnis zu den Tragikern einfacheren wie im Verhältnis zu den Komödienschreibern ansehnlicheren die Mitte inne) und an anderer Stelle (S. 381) die „suavitas orationis“ (Lieblichkeit der Rede) und die „elegantia verborum“ (Feinheit der Wörter) mit der „pulchra numerorum varietas“ (schönen Vielfalt der Metren) als Wirkungsmittel des carmen lyricum verknüpft. Solche Hinweise auf die suavitas scheinen, da diese in der rhetorischen Tradition in erster Linie ein – wenn auch nicht allzu häufig begegnendes – Merkmal des mittleren Stils ist,¹²⁵ zuweilen auf die Meinung hinzudeuten, lyrische Gedichte seien durch einen solchen mittleren Stil gekennzeichnet. Masen erklärt denn auch ausdrücklich (1661), daß die Lyrik „in mediocri plerumque scribendi charactere“ (S. 333) (meistens im mittleren Stil) sich bewege, und der erste HorazKommentator, Landino, ist der Ansicht, daß Horaz sich zumeist dieser Stilebene bediene.¹²⁶ So taucht dann der Begriff „suavitas“ auch in manchen anderen Kommentaren zur Kennzeichnung des Horaz und seiner Oden auf.¹²⁷ Wenn er allerdings zusammen mit dem eher auf den hohen Stil weisenden Wort „gravitas“ (Würde, Erhabenheit) auf Horaz,¹²⁸ wenn er gelegentlich aber auch, allein

125 Belege u. a. bei Cicero: Or. 21,69 (Zusammenhang von delectare, suavitas und modicum genus dicendi); 26,91–27,96 (im Rahmen einer ausführlichen Behandlung des mittleren Stils: „hoc in genere nervorum vel minimum, suavitatis autem est vel plurimum“). 126 „Quod si quis quo caractere figuraue dicendi in suo uolumine usus sit oratius: requiret absolute: ut puto: uereque respondebitur mediocre pleraque stilo conscripta esse. Saepe numero tamen rebus ita postulantibus modo grauiori spiritu insurgit: modo in humilem usque figuram delabitur“. (Bl. a 2r ; in der Wendung „grauiori spiritu insurgit“ dürfte die Wendung „insurgit aliquando“ aus der Charakteristik des Horaz bei Quintilian, Inst. orat. X,1,96 – s. die Wiedergabe der ganzen Stelle im Anhang zu dieser Abhandlung – nachklingen). 127 S. u. a. Basel 1521, Bl. a 2r (… cuius poesi quid lepidius? quid suavius? quid tersius, copiosiusque?) – Glarean 1533, Bl. 2 r (Hic uero est author, in quo summa suauitas …) – Figulus 1546, Bl. *4v – Stephanus 1588, S. 92 (zu Od. IV,2, v. 25f., im Vergleich mit Pindar: „se api comparat: tanquam innuens sua carmina humilia quidem esse, sed dulcia“) – Leiden 1597, S. 3f. (Widmungsvorrede von Christoph Plantin: „Et reuera non solum carminis numerorumque mira suauitas & varietas in illo est ...“) – Bond 1621, Bl. A 3r (Horatius sine controuersia, omnibus Poetis & Graecis & Latinis ... est merito anteponendus, in quo sic suauitas cum vtilitate contendit“). 128 So z. B. Fabricius 1571, Bl. B1r (Talis doctor est [Horatius] in carmine Lyrico, quod magna suauitate & dulci lepore condidit, nec minore grauitate ac sapientia pertractauit) – Lambinus 1577, Bl. a4rf. (sine controuersia ceteris omnibus poetis Graecis ac Latinis … Q. Horatius Flaccus merito est anteponendus: in quo … suauitas grauitati par est).

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oder in Verbindung etwa mit dem Wort „grandiloquentia“ (pathetische Beredsamkeit) auf Pindar¹²⁹ angewendet werden kann, dann ist er vielfach doch eher ein – auch mit der Wirkung der besonderen lyrischen Versformen zusammenhängendes – Merkmal der Abgrenzung gegen andere Gattungen als eine genaue Festlegung des Stils. In den Horazkommentaren herrschen denn auch lange Zeit ganz andere Aussagen zur Stilebene vor, die sich insbesondere an einige Stellen in den Oden anschließen, an denen Horaz es ablehnt, kriegerische Ereignisse und große Taten zu besingen, und sich auf die Themen der Liebe und des Weins zurückzieht (vor allem I,6 und II,12, aber häufig auch I,12).¹³⁰ Das wird hie und da nur als eine Frage der persönlichen Neigung oder Begabung des Dichters verstanden,¹³¹ dem es nicht liege, hohe Dinge zu gestalten, wiederholt auch nur – ähnlich wie die Kürze – als Merkmal, welches das carmen lyricum als Gattung, welche keine continua narratio (fortlaufende Erzählung), keine „historias, siue veras, siue poёticas“ (keine wahren oder erdachten Geschichten) biete und folglich keine res graves (hohen Gegenstände) behandle,¹³² vom Epos und seinen Stoffen unter-

129 Porphyrio, Commentum in Horatium, S. 140 (zu Od. IV,2, v. 25: „Cycnum autem eundem [Pindarum] appellat a suauitate carminum, quia et cycni canori esse dicuntur“; zu v. 27f.: „vt Pindarum propter sublimitatem et suauit[at]em carminis comparauit, ita se api“) – Neander 1556, Bl.  b1r („In Pindaro uate ut antiquissimo, ita quoque suauissimo, sunt … omnia plena uoluptatis, gratiae & doctrinae utilis …”) – Stephanus 1588, S.  92 (zu Od. IV,2, v. 25f.: „Pindarum alte volanti cycno propter grandiloquentiam & suauitatem, se api comparat …“) – Erasmus Schmid 1616, T. 1, Bl. 2 r (Prolegomena in Pindarum: „Puerum domo patria expositum Apes aluerunt, pro lacte mel subministrantes, ut scribit Aelian. l.12. c.45, quae res futuram carminum ejus dulcedinem haud obscure promisit“). 130 S. den Abdruck dieser Oden im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. 131 So u. a. bei Landino 1483, Bl. b6v (zu Od. I,6: „... Laudat & Varium poetam: quem affirmat elegantia dignitateque sui stili posse describere egregia facinora agrippae: quae ipse tenuitate sui stili non posse“); h1r (zu Od. II,12, v. 1); o2v (zu Od. IV,15) – Leiden 1551, S. 12f. (zu Od. I,6: „Negat se esse eo ingenio, ut Agrippae res gestas pro dignitate scribere poßit: sibi non conuenire tam sublime argumentum“) – Fabricius 1571, S. 7 (zu Od. I,6: „De ingenij sui facultate … excusat ingenii sui tenuitatem, & Varium aptiorem esse testatur scribendis historiis, quam se: ideoque iudicio abstinere ab eo scripti genere, cui impar sit facultate …“); S. 36 (zu Od. II,12) – Bersmann 1602, S. 13 (zu Od. I,6: „… se conviviis tantum & amoribus describendis aptum esse profitetur“); 62 (zu Od. II,12). Anregungen für solche Deutungen konnten die Kommentatoren wie auch in manchen anderen Fällen in den spätantiken Scholien finden: s. Ps.Acro, Vol. I, S. 38 (zu Od. I,6: „ingenium suum inpar metrorum ludo deditum laudes bellicas canere“) – Porphyrio, S. 140 (zu Od. III,2, v. 27f.: „Per quod significat parua quidem et humilia se scribere, sed subtilia ac dulcia“). 132 Cruquius 1578, S. 111 (zu Od. II,12); Torrentius 1608, S. 152 (zu Od. II,12, v. 9), 151 (einleitend zu Od. II,12). Vgl. auch u. a. Locher 1498, Bl. VIIr (zu Od. I,6) – Poemata 1511, S. 58 (zu Od. II,12) – Basel 1531, S. 165 (zu Od. IV,15) – Perotti 1531, Bl. 34r (zu Od. II,12) – Figulus 1546, S. 262

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scheide. Wie aber auch dies in einer rhetorisch fundierten Poetik immer schon zugleich auf eine entsprechende Stillage deutet, so sind sehr früh bereits, bei Mancinellus (erstmals 1492) oder bei Badius Ascensius (1503)¹³³ Ansätze zu einer Deutung zu finden, die jene Stellen bei Horaz als allgemeine Stilaussagen zur Lyrik auffaßt. Bei Glarean (1533) etwa begegnet sie dann in aller wünschenswerten Deutlichkeit bei der Kommentierung der Ode II,12: „Moecenati se excusat, quod res graues non attendet, sed circa ioca & nugas uersetur, propter lyrici stili humilitatem, qui non conuenit rebus fortiter bello gestis“ (S. 70) (Er entschuldigt sich bei Maecenas, daß er sich nicht auf gewichtige Dinge richte, sondern sich mit Scherzen und Tändeleien befasse wegen der Einfachheit des lyrischen Stils, welche zu tapferen Kriegstaten nicht passe). So findet man es in vielen Kommentaren des 16. und 17. Jahrhunderts immer wieder an den entsprechenden Stellen als eine, wie es scheint, ganz unangefochtene Feststellung tradiert.¹³⁴ Das hätte eigentlich in den Poetiken, die doch stets eingehender mit dem Muster Horaz argumentieren, von Beginn an zu entschiedener Festlegung des carmen lyricum auf den einfachen Stil führen können, denn die Kommentare spiegeln dies ja jedenfalls als eine zeitgenössische Auffassungsmöglichkeit. Aber sie wird auf

(zu Od. II,12) – Lambinus 1577, S. 112 (zu Od. II,12) – Stephanus 1588, S. 44 (zu Od. II,12: „Lyricorum versuum mollitiei res graues & tragicas non conuenire: soluta autem oratione res gestas Augusti Maecenatem ipsum melius praescripturum …”). Auch für diesen Aspekt finden sich Anregungen in den Scholien, so bei Ps.Acro, Vol. I, S. 172 (zu Od. II,12: „Ad Mecenatem scribit, docens non conuenire historiam poetae et graues res carmini lyrico“) – Porphyrio, S. 70 (zu Od. II,12: „testatur poeta non conuenire historias et graues res lyrico carmini“); S. 93 (zu Od. III,3, v. 71f.: „Sensus est: desine magnas res, quae heroico magis carmini conveniunt, extenuare humilitate lyrici carminis“). 133 Entsprechende Hinweise teils von Mancinelli, teils von Badius Ascensius in der beider Kommentare enthaltenden Horaz-Ausgabe von 1503: Bl.  XIIv (zu Od. I,6), XLVv (zu Od. II,1), XCIr (zu Od. III,25), XCVIIv (zu Od. IV,2), CXIr (zu Od. IV,15). 134 So u. a. Basel 1531, S. 73 (zu Od. II,12, übereinstimmend mit der oben zitierten Stelle aus Glareans Kommentar) – Köln 1537 (Ausgabe mit Kommentar aus vielen anderen Ausgaben), S. 95 (zu Od. II,12, übereinstimmend mit Glarean und der Ausgabe Basel 1531) – Figulus 1546, S. 51 (zu Od. I,6: „Ostendit Lyricum carmen humilius esse“), 54 (zu Od. I,6, v. 9: „nos humiles lyrici poetae non canimus res sublimes“), 261f. (zu Od. II,12, v. 1: „Ne cupias, ô Mecoenas, ut humili lyrici carminis stylo res bellicas, sublimem requirentes phrasim, describam“), 263 (zu v. 3f.), 520 (zu Od. IV,2, v. 31), 599f. (zu Od. IV,15), 600 (zu v. 3f.) – Leiden 1551, S. 56f. (zu Od. II,12, wie bei Glarean und anderen) – Chabotius 1594, S. 201 (zu Od. II,12), 394 (zu Od. IV,15) – Lubinus 1612, S. 16f. (zu Od. I,6) – Rappolt 1675, S. 167 (zu Od. II,12, v. 13) – Rodelius 1683, S. 15 (zu Od. I,6, v. 10). – Horaz hat an keiner Stelle die Wörter humilis oder humilitas als Stilbegriff für sich in Anspruch genommen, hingegen an zwei Stellen einen modus humilis (Od. III,25, v. 17) oder sermo humilis (a.p. v. 229) als im jeweiligen Zusammenhang unpassend abgewiesen.

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eigentümliche Weise vom Einfluß Pindars, des anderen Musters, überlagert und später zeitweilig fast gänzlich verdrängt. Quintilian hatte Pindar unter den neun kanonischen griechischen Lyrikern als den Princeps rühmend hervorgehoben und dabei mit lauter Merkmalen eines hohen Stils charakterisiert, Horaz ihn, woran Quintilian erinnert, wegen des gewaltigen Stroms seiner Beredsamkeit gerühmt und denjenigen, der ihn nachzuahmen versuchen wollte, mit Ikarus verglichen. Bestärkt durch solche Autoritäten und im Lichte ihrer immer wieder zitierten Äußerungen las man Pindar, nahm man den bisher nahezu unbekannten und schwierigen Dichter als Inbegriff hoher Dichtung auf. Schon sein erster Kommentator, Lonicerus, betont in seiner einleitenden Widmungsvorrede nachdrücklich die maiestas und sublimitas (Größe und Erhabenheit) der lyra Pindars, die nicht leicht irgend jemand erreichen könne (Bl.  α2v), und kommentiert in solchem Sinne manche einzelnen Stellen, am eindrücklichsten vielleicht das Bild vom Adler in der 2. Strophe der 5. Nemeischen Ode, die – zusammen mit der 4. Epodos der 3. Nemeischen Ode¹³⁵ – der späteren Odentheorie das Bild vom hohen Flug der Ode¹³⁶ geliefert hat: „Confert characterem suum & seseipsum aquilae, nedum terras, sed

135 Von Lonicerus (S. 326f.) als Bild für Pindars Dichtung und deren Rang so kommentiert: „Insignis comparatio certe, qua poёta sese aquilae, alitum regi, (quae quia altißimi sit uolatus & nubes transuolet, ut est apud Aristotelem, Iouis ales credita est) ignauos uero poёtastros locutuleijs graculis aequiparat. Etsi, inquit, serius aequo hunc tibi hymnum concinuerim, felicius tamen hoc ego longe feci, quam plerique alij graculi & inepti poёtae, qui indigna & plane humilia argumenta contexunt, nec quomodo heroёm uirtute clarum effere debeant, norunt“. 136 Als Beleg für die lange Wirkungsgeschichte des Bildes seien einige Beispiele aus dem 18. Jahrhundert angeführt: Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd. 2, Zürich 1740 (ND Stuttgart 1966), S.  420 (Die Ode steiget in den Himmel, damit sie ihre Bilder und ihre Gleichnisse von dem Donner, den Sternen und den Göttern selbst entlehne) – (Samuel Gotthold Lange), Die Lehre von der Ode, S. 103, in: Der Gesellige, T.4, 1749 (ND Hildesheim u. a. 1987), S. 97–112 (Das Feuer des Odendichters ist der geflügelte und schnelle Pegasus, mit welchem er ... sich auch oft hoch in die Luft und weit über die Blicke des gemeinen Pöbels erhebt ...) – Anonym, Von der Ode (1763), S. 158 (im Zusammenhang mit dem Enthusiasmus zitiert die unten nachgewiesene Stelle bei Uz von „der Ode kühnen Flügeln“) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3, 21793, S. 693 im Artikel über Pindar (Gar oft aber wendet er den Flug seiner Betrachtungen so schnell und springt so weit von der Bahn ab, daß wir ihm kaum folgen können) – Johann Peter Uz, Sämtliche poetische Werke, hrsg. v. August Sauer, Stuttgart 1890 (ND Darmstadt 1964), S. 43: Die lyrische Muse, 1746 (v. 1–4: Wohin, wohin reißt mich die strenge Wut?  / Seht, auf der Ode kühnen Flügeln  / Entweich ich, voller Glut,  / Der blödern Musen Blick und diesen stillen Hügeln), S. 85f., Tempe, v. 43ff. – Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe, Bd. I,1, Oden, Berlin, New York 2010, S. 99: Friedrich der Fünfte, 1750 (v. 41: Fang den lyrischen Flug ... an), 429: Der Gränzstein, Fassung 1798 (v.65: Frey ist der Flug der Ode ...), s. auch S. 12: Auf meine Freunde, 1747, v. 61.

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maria uolatu suo emetiente. Mea, inquit, poemata nedum terras, sed & maria permeant. Et quia aquila, ob altißimum uolatum suum diuina ales … creditur, ideo characteris hic sui sublimitatem adumbrat“ (S. 341)¹³⁷ (Er vergleicht seinen Stil und sich selbst einem Adler, der mit seinem Flug nicht nur Länder, sondern auch Meere durchmißt. Meine Gedichte, sagt er, durchwandern nicht nur Länder, sondern auch Meere. Und weil der Adler wegen seines so hohen Fluges als ein göttlicher Vogel gilt, deshalb deutet er hier die Erhabenheit seines Stils an). Auch in den folgenden Ausgaben trat den Lesern Pindar immer wieder als Verkörperung einer höchsten Möglichkeit lyrischen Gesangs entgegen,¹³⁸ als die ihn auch seine Digressionen auswiesen. Das scheint die zum einen Teil zunächst noch, sofern es immer auch um das andersartige Muster Horaz ging, unscharfen, schwankenden Stilaussagen der Poetiken und dann – im Verein mit einzelnen Hinweisen bei antiken oder byzantinischen Gewährsleuten wie Menander oder Eusthatius¹³⁹ – die allmählich zunehmende Vorstellung vom vorwiegend

137 Weitere Bemerkungen zum herausragenden Stil Pindars bei Lonicerus u. a. S. 9 (zu Ol. 1, Antistr. 1: „... in comparationibus & hyperbolis, mirificus Quintiliano uisus est Pindarus“), 29 (zu Ol. 2, Antistr. 2: „Elegans est hic antithesis“), 259 (zu Pyth. 6, Str. 1: „Dura ac dithyrambica metaphora“), 262 (zu Antistr. 2), 364 (zu Nem. 7, Antistr. 4), 426 (zu Isthm. 4, Str. 2), 439 (zu Isthm. 6), 441 (zu Isthm. 6, Ep. 1: „Epitheton est heroicum“), 453 (zu Isthm. 8). 138 Dazu u. a. Neander 1556, Bl. α5r (Widmungsvorrede: „... Pindarus, poeta Lyricus ut suauissimus & sapientissimus, ita quoque caeterorum lyricorum facile princeps optimus, seu spiritus magnificentiam, seu sententiarum grauitatem spectes …”) – Sudorius 1575, Bl. 3v f. (Widmungsvorrede; mit Berufung auf Quintilian) – Portus 1583, S. 26 (zu Ol. 6: „Exornatio a loco similitudinis, vt in amplis & magnificis aedificiis vestibula magnificentiora extruuntur, & columnis ac marmore ornantur“) – Aretius 1587, S. 2 (Leservorrede: Ankündigung eines Kommentars mit „perpetua ἀnalύsei argumentorum & digressionum, quibus hoc poёma, nequaquam humi repens, sed dithyrambico more assurgens refertum est“) – Erasmus Schmid 1616, T.  2, Bl.  )(3v (Brief Caspar Peucers, ursprünglich der lateinischen Version Melanchthons vorangestellt, anknüpfend an Horaz, Od. IV,2, v. 25ff.: „... quod verißimum esse, Lectores animadvertent, qvum videbunt Pindarum, sumpta occasione ex urbis aut familia alicuius origine, relicto humili argumento, velut evolantem in sublimen aetheream regionem laetißimo cantu, veteres historias celebrare“) – Marin 1617, Bl. a 5v – Benedictus 1620, Bl. a 2v – Vauvilliers 1772, S. 16 (mit Berufung auf Horaz) – Hezel 1805, S. 4 (zit. Quintilian), 329 (zum Anfang der Ol. 11: „… eine, im lyrischen Flug der Ideen des Dichters gegründete, Vernachlässigung der Construktion“). 139 Zu Menanders Hinweisen auf die Stilhöhe verschiedener Arten von Hymnen s. die Nachweise in Anm. 27. Eustathatios hat in seinem Kommentar zur Ilias (Erstdruck 1542) vom ὕψoϛ, der Erhabenheit der Ode gesprochen (Eustathius, Commentarii ad Homeri Iliadem pertinentes, ed. Marchinus van der Valk, Vol. I, Leiden 1971, S. 14). Diese Stelle referiert z. B. Torrentius 1608 am Beginn seines Kommentars zum 1. Buch der Satiren. Marolles 1652 hat am Beginn seiner „Remarques sur les Odes d’Horace“ dem Hinweis des Eusthatios auf „le sujet ... haut & sublime“ der Ode widersprochen mit dem Argument: „toutesfois Horace n’a pas laissé d’y mesler vn genre moins élevé, en quoy il a parfaitement reüssi“ (S. 341).

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hohen Charakter der Ode zu bedingen, bleibt aber auch nicht ohne Wirkung auf das Bild vom lyrischen Stil des Horaz, von dem schon Quintilian an der von den Kommentatoren immer wieder zitierten Stelle (X,1,96) gesagt hatte: „insurgit aliquando et ... est ... verbis felicissime audax“ (zuweilen erhebt er sich im Ton und ist ... in seinen Worten aufs glücklichste kühn). Schon Landino, sein erster neuzeitlicher Kommentator, nennt Horaz, noch ehe Pindar im Druck allgemein zugänglich war, gelegentlich „pene alter Pyndarus“ (Bl. c6v, zu Od. I,12, v.13)¹⁴⁰ (fast ein zweiter Pindar). Hinweise auf Züge des hohen Stils bei Horaz finden sich nach ihm dann allenthalben auch in anderen Kommentaren.¹⁴¹ In den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts kann sein erster deut-

140 Weitere Belege bei Landino für das Vorkommen eines hohen Stils bei Horaz u. a. Bl. a 2r (im Anschluß an Hinweise zum hohen Stil Pindars, über Horaz: „... mediocri pleraque stilo conscripta esse. Saepe numero tamen rebus ita postulantibus modo grauiori spiritu insurgit: modo in humilem usque figuram delabitur“), b7v (zu Od. I,6, v. 8ff.), e8v (zu Od. I,29), m1v (zu Od. III,25, v. 2). 141 Ausgewählte charakteristische Belege dafür, an denen zu beobachten ist, daß sie – nicht zum wenigsten auch im (nicht immer ausgesprochenen) Vergleich mit Pindar – mit zunehmender Eindringlichkeit formuliert werden und in wachsendem Maße auch die Gesamtcharakteristik des Horaz prägen: Badius Ascensius 1503, Bl. XIIv (zu Od. I,6: „... confitens: imbelli lyra non posse grandia & horrentia martis arma consequi. quod dum se posse negat mira artificio assequitur“) – Basel 1531, S. 25 (zu Od. I,12, mit Anklang an Ps.Acro: „Hac ode Pindarum imitatus est, in qua miro artificio insinuat se in laudes Augusti …“) – Figulus 1546, Bl. **8rf. (neben dem von Horaz zumeist gebrauchten einfachen Stil: „… Interdum, tamen etiam ad mediocre ... proxime accedit, altiusque nonnumquam egreditur“, mit Hinweis auf Quintilian) – Leiden 1551, S. 18 (wie Basel 1531) – Fabricius 1571, S. 4 (zu Od. I.3: „... Haec Oda singularis est, habet magna uerba, sonora epitheta, insignia exempla, sententias graues, aptam digressionem … Hic ille est spiritus heroicus, quem Fabius [Quintilian] in hoc poeta seruauit“) – Parthenius 1584, Bl. 30r (zu Od. I,12: „Quaeret aliquis, sub quod genus praesens Carmen reduci posset? profecto sub Dignitatem & Grauitatem …“) – Bersmann 1602, Bl. )(1v (Widmungsvorrede: „Quod enim ad carminum requiritur sonum & numeros, neruumque ac maiestatem, haec profecto nisi me admodum ratio fugit, & singula & vniuersa in Horatij lyricis non requiras inferiora ijs, qua in Epicis Maronis [Vergil] excellunt …“) – Marcilius 1605, S. 9 (zu Od. I,6: nach Hinweis auf den Verzicht des Horaz auf Preisung der res gestae des Agrippa wird doch v. 2 mit der Bemerkung kommentiert: „... tὸ ὕψoϛ nempe siue sublimitas stili, tanquam aquila, de qua Longinus“ (Indiz für den kommenden Einfluß der Ps.Longin-Rezeption auf das Bild auch des Horaz) – Torrentius 1608, S. 328 (Anfang des Kommentars zu Od. IV,15: „Praecedens Oda verbis ac materia ipsa paene ad heroici carminis maiestatem assurgit …”) – Minelli 1668, Bl.  *4rf. (leicht redigierte, aber auf 1667 datierte Wiedergabe der den Horaz über alle griechischen und römischen Dichter – außer Homer – erhebenden Vorrede, die sich 1577 in der Ausgabe von Lambinus findet; s. das Teilzitat in Anm. 128) – Faber 1671, S. 296 (Notulae Tranquili Fabri, zu Od. I,3: „... grandia sunt, phantasías nobiles habent, & censoriam quandam gravitatem“) – Martignac 1678, T. I, Bl. a9r (La vie d’Horace: „On voit briller dans ses Odes tant de figures hardies, & tant d’expressions heureuses, qu’on le prefere avec raison aux Alcées, aux Saphos,

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scher Übersetzer, der Theologe und Romanautor Andreas Heinrich Bucholtz, bekennen, daß ihn die „Horatiana majestas“ (die Erhabenheit des Horaz) Sorge um das künftige Urteil der Leser über sein Unterfangen empfinden lasse.¹⁴² Am aufschlußreichsten für die Veränderungen des Bildes von Horaz und seinem Stil, die sich in den Kommentaren und dann auch in den Schriften zur Poetik vollziehen, ist vielleicht das, was Scaliger im 6. Buch seiner Poetik, in welchem er neuzeitliche und antike Autoren einer kritischen Musterung unterzieht, von Horaz sagt: „Carminum ... libri ... sunt ... neque solo dicendi genere humili, quemadmodum scripsit Quintilianus, contenti: verum etiam sublimi maxime commendandi. quid enim altius aut praeclarius illis?“ (Die Gedichtbücher ... sind ... wie Quintilian geschrieben hat, nicht nur mit dem einfachen Stil zufrieden, sondern sind auch des hohen Stils wegen aufs höchste zu empfehlen. Denn was ist erhabener oder großartiger als diese [Gedichte]?). Hier folgt die Aufzählung einer längeren Reihe von Oden des Horaz, die für Scaliger Beispiele eines hohen Stils sind und die er teilweise in solchem Sinne näher charakterisiert, darunter die 4. und 5. des 3. Odenbuchs mit den Worten: „Quarta nec Pindaro cedit, ac ne quinta quidem“ (Die vierte gibt Pindar nichts nach, und auch die fünfte gewiß nicht). Er fährt dann fort: „Quae recensere coactus sum, vt virum maximum, atque etiam cum ipso Pindaro in hisce conferendum, à calumnia vindicarem. Nam & Pindaro accuratior est, et sententiis crebrior“ (Ich bin gezwungen gewesen, diese Oden zu mustern, um den so großen und auch mit Pindar selbst in dieser Hinsicht vergleichbaren Mann gegen Anschuldigungen zu schützen. Denn er ist sowohl sorgfältiger als auch an Sentenzen reicher als Pindar), um schließlich von den Oden IV,3 und III,9 des Horaz zu sagen: „Quarum similes malim à me compositas, quàm Pythionicarum multas Pindari, & Nemeonicarum“ (S. 338f.) (Ich wollte lieber, daß ich diesen ähnliche verfaßt hätte als viele der Pythischen und Nemeischen Oden Pindars). Pindar ist hier immer wieder der Maßstab, um dessen willen Scaliger, an Quintilian anknüpfend, aber zugleich über sein „insurgit aliquando“ (zuweilen erhebt er sich im Ton) entschieden hinausgehend, Horaz als einen ebenbürtigen, ja teilweise sogar besseren Dichter hohen Stils darzustellen bemüht ist.

aux Pindares, & aux autres Grecs dont le nom s’est rendu fameux par les Poёsies Lyriques“) – Desprez 1691, Bl. e3v (Vita: „De ingenii scriptorumque nihil est quod dicam, cum tot saecula non sine admiratione praedicaverint junctam ab eo in carminibus Anacreontis suavitatem cum Pindari virtute & sublimitate“). 142 Erstes Verdeutschtes … Odenbuch Des … Q. Horatius Flaccus (1639), S. 4 (Widmungsvorrede: „... in lyra sua profundissimas sententias suaserit ... Quae Horatiana majestas mihi … timorem injicit, ne Lector de proposito judicet meo aliter, quam ipse mihi sum conscius“).

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Angesichts der hier sich abzeichnenden Verschiebungen kann es kaum verwundern, daß 1633 Donatus in einer der späten lateinsprachigen Poetiken, nachdem er zunächst einen früher dafür kaum genannten Autor, Anakreon, als Beispiel der suavitas angeführt hat, bündig erklärt: „Magis tamen placuit Melicis grande, splendidum, magnificum, figuratum, grauibus, & compositis vocibus numerosum loquendi genus: ita vt tumor carminis aliquando deceat: exilitas, & ieiunitas orationis dedeceat semper“ (S.  331) (Mehr aber schätzen die lyrischen Gedichte eine erhabene, glänzende, großartige, geschmückte, an hohen und kunstreich zusammengesetzten Wörtern reiche Weise des Sprechens, so daß sogar zuweilen Aufschwellung das Gedicht ziert; Trockenheit und Nüchternheit der Rede verunziert immer), und daß er, nach einem AristotelesZitat über den Stil der Dithyrambendichter (Rhet. III,3), bekräftigend die so oft angeführten Äußerungen Quintilians über Pindar wie über Horaz zitiert. Über Scaliger und auch über Donatus geht am Ende des 17. Jahrhunderts Daniel Georg Morhof in seinem am Ausgang des Barock stehenden „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie“ noch hinaus, wenn er von der Ode feststellt, sie sei „der höhesten Redensart fähig. J.C. Scaliger saget / proxime ad Heroici Carminis majestatem accedit. Ja sie übersteiget selbst die Heldenart [das Epos] / dann es sind audaciores [kühnere] Metaphorae und andere Redensarten zu gelassen  / die man in Heroico genere nicht gebrauchen kan“ (S. 339). Es ist das Ergebnis einer längeren Deutungs- und Rezeptionsgeschichte, in welcher die von den Kommentatoren zuerst durchaus wahrgenommene Unterschiedlichkeit der Stilhaltungen unter dem wachsenden Einfluß des einen Musters, Pindars, immer mehr zurücktritt, sodaß in englischen, französischen, deutschen Ausgaben des 18. Jahrhunderts auch Horaz vielfach nur noch als Dichter hohen Stils angesehen wird,¹⁴³ – es ist erst das Ergebnis dieses Vorgangs, daß die Ode seit dem

143 Als Beispiele – an denen vielfach auch zu beobachten ist, wie die aus der humanistischen Überlieferung und ihrer Exegese der Musterautoren Pindar und Horaz hervorgegangene, aber über sie hinaus fortentwickelte Odentheorie des 18.  Jahrhunderts, deren Gewährsleute mitsamt der jetzt zur Wirkung gelangten Schrift des Ps.Longin dabei wiederholt ausdrücklich zitiert werden, nunmehr die Gesichtspunkte liefert für eine den zeitgenössischen Erwartungen entsprechende Charakterisierung eben jener beiden antiken Autoren – seien genannt: Pellegrin 1715, S. 8, 14 (mit Hinweis auf Ps.Longin), 18 – Tarteron 1723, T. I, Bl.  *3r (Sorge des Übersetzers, daß seine französische Prosaversion der élévation und majesté der Dichtung des Horaz nicht gerecht werden könne) – Sanadon 1728, S. XXIIf. (Horace n’est point inférieur à Pindare pour la force de l’enthousiasme & de la fureur poétique; il en est seulement diférent en ce que son feu est plus réglé) – Bailey 1729, Bl. 2 v (… the learned have for so many Ages, not without admiration, ascrib’d to his Verses, the Sweetneß of Anacreon, joined with the Force and Loftiness of Pindar) – Groschuf 1749, S. 67 (Das in den Oden des Horaz vorkommende Kühne, „… die erhabene Art der lyrischen Verse … vielmehr ein wohlgeführter Schwung, eine Pracht

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18.  Jahrhundert allen Unterschieden der Muster zum Trotz endgültig als erhabene Dichtungsart verstanden, als solche von der am gesteigerten Ausdruck der Empfindung interessierten Lyriktheorie, für die auch die Kürze und die Digressionen einen neu gesehenen Sinn erhalten, zunächst besonders geschätzt, dann aber zugunsten des – nach einem längeren Prozeß von der Ode endgültig unterschiedenen – einfacheren und damit vermeintlich unmittelbarer sprechenden Liedes abgewertet wird. Aber dessen Einfachheit ist, auch wenn ihre Voraussetzungen in den alten rhetorischen Zuordnungen von Stil und Gegenstand liegen und einzelne Stücke von Horaz immerhin als Lieder verstanden werden,¹⁴⁴ nicht mehr die suavitas oder die humilitas lyrici stili, die die frühen Kommentare an Horaz bemerkt hatten, sondern mit der Einfachheit des Liedes bestimmen nun,

und männliche Zierde derselben, als eine tadelhafte und sträfliche Verwegenheit zu nennen“) – Salmon 1752, S. IIff. (mit Berufung auf den „Discours sur la Poёsie en géneral, & sur l’Ode en particulier“ von Antoine Houdar de la Motte) – Jani 1778, Bd. 1, S. CIVff. („De Poesi lyrica, inprimis Horatiana“: Rekapitulation der zeitgenössischen Theorie der Ode als höchster Dichtungsart), S. 30 (Berufung auf die Behandlung der Ode I,3 als „un chef d’oeuvre dans le genre passioné“ in Jean François Marmontels Poetik, die französisch 1763, in deutscher Übersetzung 1766 erschienen ist; die betr. Stelle hier T. 2, S. 311), 31 (im Stellenkommentar zu Od. I,3, v. 1–8 Hinweis auf Klopstocks Ode an Bodmer) – Dorighello 1780, S. XLVI–LVIII (Praefatio De Lyrica Poesi; darin S. LIVf. Berufung auf Boileau und auf Alemberts „Reflexions sur l’Ode“) – Köppen 1791 (u. a. zu Od. I,3 Berufung auf J.J. Engels „Theorie der Dichtungsarten“, 11783). Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die lateinisch-französische Ausgabe von Dacier (1727), die in einer langen Einleitung u. a. auf Malherbe hinweist, der als erster französischer Dichter „ait bien connu le caractere & la majesté de l’Ode“ (S.  LI), Horaz zwar von Pindar unterscheidet, aber auch jenem „élevation“ zuspricht (S. LII), Boileau (S. XC) und Ps.Longin (S. CXXI) zitiert und im Kommentar an mancherlei Stellen den Enthusiasmus, das Erhabene, die grandes beautés oder die majesté in den Oden des Horaz nachdrücklich hervorhebt. 144 Vgl. z. B. Wilhelm Friedrich Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791 (Expl. UB Köln), S. 246 („Horaz und Klopstock gaben uns Gedichte unter den Namen der Oden. Sie sinds: aber sie enthalten doch manches Gedicht, das, mit vollem Recht, den Namen des Lieds verdiente“) – Karl Wilhelm Ramler, Kurzgefaßte Einleitung in die schönen Künste und Wissenschaften, Görlitz 1798 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 41f. („Unter den Römern ist Horaz der erste und der letzte wahrhaftig lyrische Dichter gewesen ... Weil er in allen lyrischen Arten [bei Ramler: heroische Ode, philosophische Ode, scherzhaftes Lied] gedichtet hat, so ist er bald erhaben und schwer, bald scherzhaft und leicht ...“) – Herder, SW XXIV, S. 199–222 (Adrastea, Bd. 5, 1803: Briefe über das Lesen des Horaz, an einen jungen Freund: Herder verwendet hier durchgehend den Begriff „Ode“; allein das – offenkundig als besonders anrührend empfundene – Gedicht auf den Tod des Quintilius – Od. I,24 – nennt er, S. 210, ein „Trauerlied“, „das wohl Seinesgleichen unter allen Nationen suchen dürfte“) – Ignaz Jeitteles, Aesthetisches Lexikon, Wien 1839 (ND Hildesheim, New York 1978), T. 2, S. 24 (im Artikel Lied: „Von den Römern sind Catull [der lange nicht als poeta lyricus galt] und Horaz auf uns gekommen“).

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bei Hegel oder Vischer, andere Muster einen gewandelten Lyrikbegriff: sie heißen vor allem Goethe und das Volkslied. Die Geschichte der neuzeitlichen Lyriktheorie ist ein vielschichtiger Vorgang der Entfaltung und Wandlung bestimmter früh entwickelter Grundvorstellungen, deren Anfänge sich – wie hier zu zeigen versucht worden ist – noch vor der humanistischen Poetik in den frühen Kommentaren zu Horaz und dann zu Pindar als an diesen Mustern gemachte Beobachtungen, als bei ihrer Erklärung sich aufdrängende Merkmale fassen lassen. Zwar steht zwangsläufig im Mittelpunkt humanistischer Ausgaben und ihrer Kommentare – wie ein Blick auf solche Ausgaben als ganze leicht lehren kann – zunächst das vielfach mühselige Geschäft der Gewinnung eines gesicherten Textes und der elementaren sprachlichen, sachlichen und metrischen Erläuterung. Aber an bestimmten Stellen, in Einleitungen, die dem durch ein humanistisch erneuertes Bildungswesen allmählich zunehmenden Kreis von Schülern und gelehrten Lesern die Autoren nahebringen wollen, im Kommentar zu einzelnen Texten, die dazu besonderen Anlaß bieten, ergibt sich von selbst schon früh auch poetologische Reflexion. Sie bleibt in diesen Quellen vorerst knapp, auf dieselben Stellen zumeist beschränkt, begegnet keineswegs als zusammenhängende Theorie, sondern in Einzelbemerkungen, die vielfach – oft bis in den Wortlaut hinein – voneinander abhängig sind.¹⁴⁵ Gerade solche Abhängigkeit und einprägende Wiederholung aber, worin sich spiegelt, was den humanistischen Editoren als Lesern und Kommentatoren wichtig ist und sich als communis opinio ausbildet, weisen auf das hin, was die frühen Ausgaben – neben Textkritik und eingehender sachlicher, sprachlicher und metrischer Erläuterung – vor allem durch die Ansätze poetologischer Reflexion leisten: sie machen Pindar und Horaz nicht nur verständlich und fördern deren Verbreitung, sondern sie schaffen das Fundament dafür, daß diese durch die antike Überlieferung beglaubigten Principes Lyricorum der beiden alten Sprachen für die Neuzeit bis ins späte 18. Jahrhundert, als längst eine davon angeregte reiche Dichtung in den Nationalsprachen entstanden war, die beherrschenden Muster lyrischer Dichtung und insbesondere ihrer Theorie sind, und sie formulieren – befördert zum Teil durch einzelne antike Anregungen, die aber doch erst in neuem Zusammenhang fruchtbar gemacht werden mußten – in aller Begrenzung anfänglicher Bemühung um Verständnis der Muster Aussagen zum carmen lyricum, die sich dann für Jahrhunderte als die bestimmenden Konstanten der Lyriktheorie in all ihrem Wandel erweisen.

145 Dies im einzelnen überall zu belegen, würde angesichts der Fülle der hier herangezogenen Quellen den Rahmen dessen, was in dieser Abhandlung zu leisten möglich war, sprengen.

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Zu breiter, zusammenhängender Darlegung solcher Theorie verknüpfen sich jene Aussagen erst in der humanistischen Poetik nach der Mitte des 16. Jahrhunderts. In deren Frühformen wie ihren Vorstufen und Parallelerscheinungen in Form spezieller Kommentare zur ars poetica des Horaz und nach und nach auch zum Teil breiterer, für Epos- und Tragödientheorie wichtiger Kommentare zur Poetik des Aristoteles bleiben die Bemerkungen zu den Lyrica noch begrenzt und wenig aussagekräftig, bestehen sie fast nur in Erwägungen, wieweit bei Aristoteles im 1. Kapitel neben Epos, Tragödie, Komödie und Dithyrambus mit dem Hinweis auf Flöten- und Kitharaspiel nicht doch auch die lyrica poesis gemeint sei,¹⁴⁶ oder in zumeist knappen Paraphrasen der Verse 83–85 bei Horaz.¹⁴⁷ Erst in den umfassend angelegten Werken einer eigenen systematischen Poetik des Humanismus – insbesondere bei Minturno (1559), dann bei Scaliger (1561) und zahlreichen weiteren Autoren nach ihnen – gewinnt auch die Lyrik, deren Bild nun, obgleich Horaz das häufiger zitierte und imitierte Muster bleibt, nachhaltig von der inzwischen geschehenen Pindar-Rezeption mitgeprägt wird, breiteren Raum, indem die Poetik die Stichworte, welche ihr die Kommentartradition liefert, aufgreift und aus diesen Mosaiksteinen – immer noch in engem Kontakt mit der sich fortentwickelnden philologischen Kommentierung und in Fortführung der von ihr begonnenen Exegese der Muster – eine eigentliche Theorie der Lyrik zusammenfügt und zunehmend weiter entfaltet und differenziert. In der Geschichte der Tradierung dieser Lyriktheorie, die dabei in Entsprechung zur gleichzeitigen Geschichte der Lyrik mancherlei Veränderungen und Erweiterungen erfährt und ihre einzelnen Momente in unterschiedlicher Weise ausdeutet und umbildet, zum Teil aber später auch aufgibt, treten jene Muster und die mit ihnen verknüpften Anfänge allmählich zurück, ja schwinden – in dem Maße, in welchem auch die immer mehr nur als hohe Dichtungsart verstandene Ode aus dem Zentrum der Lyriktheorie rückt und immer weniger als

146 Vgl. dazu u. a. Robortello, In librum Aristotelis de Arte Poetica Explicationes (1548), S. 7ff. – Maggi/Lombardi, In Aristotelis Librum de Poetica communes explanationes (1550), S. 33ff. – Vettori, Commentarii, in Primum librum Aristotelis de Arte Poetarum (1560), Bl. a4v, b1r, S. 3ff. – Riccoboni, Poetica Aristotelis (1587), Paraphrasis, S. 14, 95ff. 147 Vgl. hierzu z. B. Paris 1533, S. 47 (Kommentar Parrhasius) – Gaurico, Super Arte Poetica Horatii (1541; eine undatierte Fassung des Kommentars ohne den Text der Ars poetica schon ca. 1510), Bl. B2r; s. auch Bl. D3v (zu a.p. 402ff.) – Amerbach 1543, S. 27 – Pedimontius 1546, Bl. 14r – Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica (1550), S. 32f. – Luisini, In Librum Q. Horatii Flacci de Arte Poetica Commentarius (1554), Bl. 18r – Irenicus 1567, Bl. 12 v – Manuzio d.J., In Q. Horatii Flacci Venvsini Librum De Arte Poetica Commentarius (1576), S. 20f. – Kragius 1583, S. 15 – Colonius 1587, S. 20f. – Correa, In Librum de Arte Poetica Q. Horatii Flacci Explanationes (1587), S. 38 – Ceruti, Paraphrasis in Q. Horatii Flacci Librum de Arte Poetica (1588), S. 20.

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produktive lyrische Möglichkeit lebendig ist – aus dem Blickfeld, bis schließlich die daraus erst durch solche Veränderungen entstandenen Vorstellungen von Lyrik als zeitlos gültig erscheinen. Aber was ihnen vorausliegt, alle früheren Deutungen der in eigenartiger Weise sich durchhaltenden Konstanten sind nicht vorläufige, unzureichende oder gar falsche Auffassungen einer vermeintlich immer gleich bleibenden Sache, sondern sind je für sich gültige Beschreibungen ihres durch neue Beispiele und deren Sageweisen wie durch neues Lesen der schon vorhandenen Muster sich wandelnden Gegenstandes, der Lyrik, sind Niederschlag der Erfahrung von Lesern anderer Epochen. Wie solche sich wandelnden Vorstellungen von Lyrik herauswachsen aus den humanistischen Kommentaren und Poetiken, das beleuchtet auch die insgesamt eigenartige literarische Situation am Beginn der Neuzeit: daß sich literarisches Verstehen und literarische Produktion orientieren an der doch nur fragmentarisch überlieferten und dem Verständnis aus großem zeitlichen Abstand erst neu zu erschließenden Antike – ein Unterfangen, dem sich eine Vielzahl bis heute noch wirksamer oder jedenfalls durch die Literatur der Klassik und des 19.  Jahrhunderts bis heute nachwirkender literarischer Erwartungen verdankt. Dazu gehört auch die auf den Humanismus zurückgehende Lyriktheorie mit ihrem so nur für Phasen der neuzeitlichen Literatur gültigen Verständnis von Ode und Lied, mit ihrer Entwicklung über eine nur ihr eigentümliche Odentheorie zu einem umfassenden Lyrikbegriff, der so nicht an ihrem Beginn steht und der auch mit dem der Antike keineswegs identisch ist. Die Bloßlegung der Wurzeln dieser neuzeitlichen Lyriktheorie vermag in exemplarischer Weise die Geschichtlichkeit literarischer Begriffe vor Augen zu führen, deren Beachtung Grundbedingung einer hermeneutisch bewußten Literaturwissenschaft und eines zureichenden Umgangs mit der literarischen Überlieferung ist. Das Beispiel dieser Lyriktheorie, deren Entfaltung sich von den Anfängen in den Pindar- und Horazkommentaren her verfolgen und dadurch in ihrer Eigenart erhellen läßt, macht Möglichkeiten eines historisch angemessenen Verstehens sichtbar, kann aber gewiß auch dessen Grenzen nicht vergessen lassen, da wir bei allem Bemühen, die Quellen zum Sprechen zu bringen, Vergangenes nie vollständig zu rekonstruieren vermögen und aus unserem eigenen geschichtlichen Augenblick, aus unseren eigenen geschichtlich gewordenen Begriffen, auch wenn wir sie durch den Blick auf ihre Geschichte zu relativieren versuchen, nie vollständig heraustreten können.

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Anhang I. Quellen Pindar: Ausgaben – Kommentare – Übersetzungen (chronologisch geordnet) Venedig 1513 PINDAROU. Olύmpia. Pύqia. Nέmea. Isqmia ... PINDARI. Olympia. Pythia. Nemea. Isthmia. Callimachi hymni qui inueniuntur, Venedig: Aldus Manutius 1513 (Expl. StuUB Göttingen). Rom 1515 PINDAROU, OLUMPIA. PUQIA. NEMEA. ISQMIA. Metὰ ἐxhgήsewϛ palaiᾶϛ panὺ ὠφelίmou kaὶ scolίwn ὁmoίwn, Rom: Zacharias Calliergi 1515 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Lonicerus 1528 Pindari Poetae vetvstissimi, Lyricorumque omnium Principis, Olympica, Pythica, Nemea, Isthmia, à Joanne Lonicero latinitate donata, Basel 1528 (Expl. Martinus-Bibliothek Mainz). Lonicerus 1535 Pindari Poetae vetvstissimi, Lyricorum facile principis, Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia Per Joan. Lonicerum latinitate donata: adhibitis enarrationibus, e Graecis Scholijs, & doctissimis utriusque linguae autoribus desumptis, Basel 1535 (Expl. StuUB Göttingen). Coeporinus 1556 PINDAROU OLUMPIA, PUQIA, NEMEA, ISQMIA. ... Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia … Hae Victoriae, ad emendatum doctiß. Iacobi Coeporini exemplar collatae, nunc exeunt, Basel 1556 (11526) (Expl. StuUB Göttingen). Neander 1556 ARISTOLOGIA PINDARIKH … Aristologia Pindarica graecolatina. Hoc est, quicquid est in Pindaro … memorabile, notatu dignum, & rarum, nec alibi similiter obuium … studio Michaelis Neandri, Basel 1556 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Melanchthon 1558 Pindari Thebani Lyricorvm vetervm Principis, Olympia. Pythia. Nemea. Isthmia. Per Philippvm Melancthonem Latinitate donata, Basel 1558 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Sudorius 1575 Olympia Pindari Latino Carmine Reddita, per Nicolaum Sudorivm, Paris 1575 (Expl. StB München). Sudorius 1576 Pythia Pindari Latino Carmine Reddita, per Nicolaum Sudorivm, Paris 1576 (Expl. StB München).

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Portus 1583 Francisci Porti Cretensis, Commentarii in Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia, Genf 1583 (Expl. StB München). Aretius 1587 Commentarii absolutissimi in Pindari Olympia Pythia Nemea Isthmia. Authore Benedicto Aretio, Genf 1587 (Expl. StB München). Erasmus Schmid 1616 PINDAROU PERIODOS hoc est Pindari Lyricorum Principis ... emaculati … ’OLUMPIONIKAI. PUQIONIKAI. NEMEONIKAI. ’ISQMIONIKAI. Illustrati Versione nova fideli. Rationis metricae indicatione certa. Dispositione textus genuina. Commentario sufficiente … Opera Erasmi Schmidii, Wittenberg 1616 (Expl. UB Marburg). Marin 1617 Les Olimpioniques, Pythioniques, Nemeoniques, Isthmioniques, de Pindare … Translatées du Grec de Pindare … Par F. Marin, Paris 1617 (Expl. StuUB Göttingen). Benedictus 1620 PINDAROU PERIODOS ... Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia. Johannes Benedictus … ad metri rationem, variorvm exemplarivm fidem … totum authorem innumeris mendis repurgauit. Metaphrasi recognita, Latina paraphrasi addita, Saumur 1620 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Vauvilliers 1772 Essai sur Pindare, Contenant Une Traduction de quelques Odes de ce Poёte, avec une Analyse raisonnée & des Notes historiques, poétiques & grammaticales; Le tout précédé d’un Discours sur Pindare & sur la vraie manière de le traduire; Par M. Vauvilliers, Paris 1772 (Expl. StuUB Göttingen). Heyne 1773/74 Pindari Carmina cum Lectionis Varietate curavit Christian. Gottlob Heyne, Göttingen 1773 – Pindari Carmina ex Interpretatione Latina emendatiore. Curavit Christian. Gottlob Heyne, Göttingen 1774 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Schneider 1774 Versuch über Pindars Leben und Schriften. Von Johann Gottlob Schneider. Straßburg 1774 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Gedike 1777 Pindars Olympische Siegeshymnen. Verdeutscht von Friedrich Gedike, Berlin, Leipzig 1777 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Greene 1778 The Pythian, Nemean, and Isthmian Odes of Pindar, Translated into English Verse; with Critical and Explanatory Remarks, London 1778 (übers. v. Edward Burnaby Greene) (Expl. StuUB Göttingen).

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

Gedike 1779 Pindars Pythische Siegeshymnen. Mit erklärenden und kritischen Anmerkungen verdeutscht von Friedrich Gedike, Berlin, Leipzig 1779 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Heyne 1798/99 Pindari Carmina cum Lectionis Varietate et Adnotationibus itervm cvravit Chr. Gottl. Heyne, Vol. I–III, Göttingen 1798–1799 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Hezel 1805 Wilh. Friedr. Hezel’s Erläuterung auserlesener Oden Pindars, für Anfänger und ungeübte Lehrer, mit besonderer Rücksicht auf die Bildungsweise der Griechischen und Lateinischen Sprache, Riga 1805 (Expl. StuUB Göttingen). Costa 1808 TA TOU PINDAROU OLUMPIA, PUQIA, NEMEA, ISQMIA Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia Latinis translata carminibus et illustrata a Joanne Costa, T. I–III, Padua 1808 (Expl. StuUB Göttingen). Horaz: Ausgaben – Kommentare – Übersetzungen (chronologisch geordnet) Ps.Acro 1474 Acronis Commentatoris Egregii In Quinti Horatii Flacci Venusini Opera Expositio, Mailand 1474 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Landino 1483 Christophori Landini in Q. Horatii Flacci Libros omnes … Interpretationes, Venedig 1483 (1Florenz 1482) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Philomusus 1490 Horatii Flacci lyrici poetae opera, Venedig 1490 (mit den Kommentaren von Ps.Acro, Porphyrio, Landino; Herausgeber Jo. Franciscus Philomusus, i.e. Giovanni Francesco Superchi) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Mancinelli 1492 Horatius cum commentariis Ant. Mancinelli Acronis Porphyrionis: Christophori Landini, Venedig 1492 (Expl. StB München). Locher 1498 Horatij flacci Venusini Poete lirici opera cum quibusdam annotationibus Imaginibusque pulcherrimis aptisque ad Odarum concentus & sententias, Straßburg 1498 (Herausgeber Jakob Locher) (Expl. LB Stuttgart). Badius Ascensius 1503 T. I, Quinti Horatii Flacci Odae: Epodoe & seculare carmen cum duplici commentario [sc. Ascensii und Mancinelli] diligenter accuratione ascensiana coimpressa, 1503 – T. II, De arte Poetica Libellus, ipsius Ascensii opera, Paris 1503 – T. III, Sermones & Epistolae Quinti Flacci

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Horatii cum familiari & dilucida explanatione Iodoci Badii Ascensii ab eodem diligentius recognita, Paris 1503 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Paris 1511 Q. Horatii Flacci opera cum commentariis … Antonii Mancinelli: Et … Iodoci Badii Ascensii, Paris (Vorrede dat. 1511) (Expl. LB Stuttgart). Poemata 1511 Q. Horatij Flacci poemata, in quibus multa nuperrime correcta sunt, & institutiones suis locis positae, commentariorum quodammodo uice funguntur, 1511 (mit der Vorrede des Aldus Manutius zu der von ihm 1509 in Venedig gedruckten Ausgabe) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Basel 1521 Q. Horatii Flacci Poemata omnia Centimetrum Marij Seruij. Annotationes Aldi Manutii … Nicolai Peroti de metris Odarum Horatianarum libellus. Praecedit Epistola Nicolai Michael … ad studiosos, Basel 1521 (Expl. Stadtbibl. Mainz; Titelbl. defect, von neuerer Hand ergänzt). Basel 1527 Q. Horatij Flaccj Venvsini Poetae amoenissimi, exactissimique, atque inter Lyricos Latinos Principis opera, cum commentarijs Acronis grammatici haud quaquam uulgaris, nuper quam accuratissime castigati, Basel 1527 (Expl. Stadtbibl. Mainz) Paris 1528 Opera Q. Horatij Flacci Poetae amoenissimi cum quatuor commentarijs, Acronis. Porphyrionis. Anto.Mancinelli. Iodoci Badij Ascensij accurate repositis. Cumque annotationibus Matthei Bonfinis: & Aldi Manutij, Paris 1528 (Expl. StuUB Göttingen). Basel 1531 Q. Horatii Flacci, Avli Persii, Jvnii Jvvenalis, amoenissimorum, exactissimorumque inter Satyricos poetarum Opera: metrica carminum ratione, & Argumentis ubique, tum etiam Annotationibus in Horatij poёsin adiectis, Basel 1531 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Perotti 1531 Horatius. Nicolai Perotti libellus non infrugifer de metris Odarum Horatianarum, Paris 1531 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Glarean 1533 Q. Horatii Flacci Poemata Omnia Studio ac Diligentia Henr. Glareani P.L. recognita, eiusdemque Annotationibus illustrata … Adiecta sunt praeterea ubique argumenta, & Carminum rationes, Freiburg 1533 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Paris 1533 Q. Horatii Flacci Ars Poetica, cum trium doctissimorum commentariis, A. Jani Parrhasii, Acronis, Porphyrionis. Adiectae sunt ad calcem doctissimae Glareani annotationes, Paris 1533 (Expl. HAB Wolfenbüttel).

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Köln 1537 Q. Horatii Flacci Opera: Metrica carminum ratione, & Argumentis ubique Tum etiam doctißimorum uirorum D. Erasmi Roterodami, Angeli Politiani, M. Antonij Sabellici, Ludouici Coelij Rhod., Baptistae Pii, Petri Criniti, Aldi Manutij, Matthaei Bonfinis, & Iacobi Bononiensis Annotationibus in illius Poёmata adiectis, Köln 1537 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Willichius 1539 Commentaria in Artem Poeticam Horatii, authore Iodoco Willichio, Straßburg 1539 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Amerbach 1543 Viti Amerbachii in Artem Poёticam Horatij Commentaria, Straßburg 1543 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Paris 1543 Q. Horatii Flacci opera cum quatuor commentariis Acronis, Porphyrionis, Antonii Mancinelli, Iodoci Badii, Anno M.D.XLIII. repositis. Cumque adnotationibus Matthaei Bonfinis & Aldi Manutii à Philologo recognitis … Adiectae in calce libri evndem in Authorem Henrici Glareani, Poetae Laureati … annotationes, Paris 1543 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Figulus 1546 Q. Horatii Flacci Opera Lyrica, Brevibus, doctisque Annotationibus illustrata, Per Hermannum Figulum, Frankfurt 1546 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Pedimontius 1546 Francisci Philippi Pedimontii Ecphrasis In Horatii Flacci Artem Poeticam, Venedig 1546 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Leiden 1551 Quinti Horatii Flacci Venvsini Poetae Lyrici Poemata Omnia. Ad castigatißimi cuiusque exemplaris fidem quam accuratißime restituta, Scholijsque doctißimis illustrata, Leiden 1551 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Antwerpen 1557 Quinti Horatii Flacci Venvsini Lyricorum Latinorum facile Princeps Poёmata omnia. Exactior mvlto fide Scholijsque doctißimis, & nouis Annotationibus, varijsque lectionibus illustrata, Antwerpen 1557 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Venedig 1567 Q. Horatii Flacci Poetae Venvsini Omnia Poemata cum Ratione Carminum, & argumentis vbique insertis, interpretibus Acrone, Porphyrione, Jano Parrhasio, Antonio Mancinello, necnon Iodoco Badio Ascensio viris eruditissimis. Scoliisqve Angeli Politiani, M. Antonii Sabellici, Ludouici Coelij Rhodogini, Baptistae Pii, Petri Criniti, Aldi Manutij, Matthaei Bonfinis, & Iacobi Bononiensis nuper adiunctis. His nos praeterea annotationes Doctissimorum Antonij Thylesij Consentini, Francisci Robortelli Vtinensis, atque Henrici Glareani apprime vtiles addidimus. Nicolai Perotti Sipontini Libellvs De Metris Odarum, Auctoris Vita ex Petro Crinito Florentino. Quae omnia longe politius, ac diligentius, quam hactenus excusa in lucem prodeunt, Venedig 1567 (Expl. HAB Wolfenbüttel).

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Irenicus 1567 Francisci Irenici Ettelengiacensis In Artem Poeticam et Libros Epistolarum Horatij Annotationes doctissimae, Frankfurt a.M. 1567 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Georg Fabricius 1571 In Q. Horatium Flaccvm Georgii Fabricii Chemnicensis Argumenta & castigationes, Leipzig 1571 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Xylander 1575 Q. Horatii Flacci Poёmata: secvndvm optimas quasque editiones accuratissime castigata. Editio haec instructa est a Gvilielmo Xylandro, Heidelberg 1575 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Xylander 1576 Q. Horatii Flacci Ars Poetica. Illvstrata Commentarijs optimi & doctißimi viri D. Guilielmi Xylandri. Heidelberg 1576 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Lambinus 1577 Dionysii Lambini … In Q. Horativm Flaccvm ex Fide atqve Avctoritate complvrivm Librorum Manvscriptorum a se emendatum … Commentarii copiosissimi & ab auctore plus tertia parte post primam Editionem amplificati. Editio postrema, Frankfurt a.M. 1577 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Cruquius 1578 Q. Horativs Flaccvs, Ex antiqvissimis vndecim lib. M.S. et Schedis aliquot emendatus, & plurimis locis cum Commentariis antiquis expurgatus et editus, opera Iacobi Crvqvii … Eiusdem in eundem enarrationes, obseruationes, & variae lectiones, Antwerpen 1578 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Pulmann 1581 Qvintus Horativs Flaccvs. Theodori Pvlmanni Craneburgij Annotationes, ex uarijs autoribus collectae … Adiecta svnt praeterea Carminum genera, Georgij Fabricij Argumenta … in singula carmina, Basel 1581 (Widmungsbrief so dat.) (Expl. Stadtbibl. Mainz). Kragius 1583 Q. Horatii Flacci Ars Poetica ad P. Rami Dialecticam & Rhetoricam, resoluta: Studio Andreae Kragii, Basel 1583 (Widmungsvorrede so dat.) (Expl. StuUB Göttingen). Parthenius 1584 Bernardini Parthenii Spilimbergii In Q. Horatii Flacci Carmina atque Epodos Commentarii quibus Poetae artificium, & uia ad imitationem atque ad Poetice scribendum aperitur, Venedig 1584 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Colonius 1587 Q. Horatii Flacci Methodvs De Arte Poetica: Per Nicolavm Colonivm Exposita, Quomodo antehac ab alio nemine, Bergamo 1587 (Expl. HAB Wolfenbüttel).

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

Stephanus 1588 Qvinti Horatii Flacci poemata, Novis scholiis et Argumentis ab Henrico Stephano illustrata … Editio Secvnda, Quae praeter Scholiorum locupletationem, aliquot insuper Diatribas, & quasdam in Veri Porphyrionis commentarios emendatiores, nec non quasdam ad eos accessiones habet, Paris 1588 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Chabotius 1594 Petri Gvalterii Chabotii … Praelectionum in Q. Horatii Flacci Poemata Tomus Primus: Quo Libri IV. Carminum, et Liber I Epodon, Triplici artificio, Dialectico, Grammatico, & Rhetorico, plenissime & doctißime explicantur. Cum Catalogo Auctorum, quorum in his Commentariis usus fuit, Basel 1594 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Leiden 1597 Qvincti Horatii Flacci Opera omnia; cum novis Argumentis, Leiden 1597 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Bersmann 1602 Q. Horatii Flacci, Poemata, qvae extant, omnia argvmentis et Scholiis Virorvm Doctiß. Illustrata, cum indicatione diversarum lectionum … Studio et Opera Gregorii Bersmani, [Leipzig] 1602 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Marcilius 1605 Theodori Marcilii … ad Q. Horatii Flacci Opera omnia, Quotidianae & emendatae lectiones, Paris 1605 (Expl. StuUB Göttingen). Torrentius 1608 Q. Horativs Flaccvs, Cum erudito Laevini Torrentii Commentario, nunc primum in lucem edito. Item Petri Nanni Alcmariani in Artem Poёticam, Antwerpen 1608 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Lubinus 1612 Qvinctvs Horativs Flaccvs accuratissime emendatus, & explicatus Paraphrasi Nova Scholiastica Eilhardi Lvbini. Iam de integro edita, & multis in locis correcta, Frankfurt 1612 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Bond 1621 Qvinti Horatii Flacci Poemata, Scholiis siue Annotationibus, quae breuis Commentarii vice esse possunt, a Johanne Bond illustrata. Editio Tertia recognita … Nunc denuo in Germania in lucem edita, Hannover 1621 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Bucholtz 1639 Andreas Henrich Bucholtz Erstes Verdeutschtes / vnd mit kurtzen Nothen erklärtes Odenbuch / Des vortreflichen Römischen Poeten Q. Horatius Flaccus, Rinteln 1639 (Expl. HAB Wolfenbüttel). de Marolles 1652 Les Oevvres d’Horace Latin et Francois … De la Version de M. de Marolles Abbé de Villeboin, Paris 1652 (Expl. HAB Wolfenbüttel).

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Minelli 1668 Quinti Horatii Flacci Poemata: Cum Commentariis Joh. Minellii, Praemisso Aldi Manutii de Metris Horatianis Tractatu, Rotterdam 1668 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Faber 1671 Qvinti Horatii Flacci Opera ad Serenissimvm Delphinvm. Diligenter recensuit T. Faber, & Notulas ac Monita ad Odas addidit, Cum specimine novae interpretationis ad Lectorem, Saumur 1671 (Expl. StuUB Göttingen). Rappolt 1675 Qvintus Horatius Flaccus Cum Notis Marginalibus Johannis Minellii et D. Friderici Rappolti … Commentario I. In Satyras … II. In Epistolas … III. In Artem Poёticam … IV. In quinqve Carmina seorsim elucidata …, Leipzig 1675 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Martignac 1678 Horace de la Traduction de MR de Martignac, avec de Remarques. Tome I. Contenant les Odes et les Epodes. Tome II. Contenant les Satyres, les Epistres, et l’Art Poetique, Paris 1678 (Expl. StuUB Göttingen). Rodelius 1683 Petri Rodelii [Rodeille] e Societate Jesu, Horatius ad Serenissimum Galliarum Delphinum, Toulouse 1683 (Expl. StuUB Göttingen). Desprez 1691 Quinti Horatii Flacci Opera. Interpretatione et Notis illustravit Ludovicus Desprez ... Jussu Christianissimi Regis in usum Serenissimi Delphini, Paris 1691 (Expl. StuUB Göttingen). Zurck 1696 Q. Horatii Flacci Operum Pars Prima: Continens Odarum, seu Carminum Libros quinque. Quibus notas addidit Eduardus Zurck, Harlem 1696 (Widmungsvorrede so dat.) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Juvancy 1702 Q. Horatii Flacci Carmina expurgata et accuratis notis illustrata Authore Josepho Juvancy Societatis Jesu Sacerdote, Rom 1702 (Expl. Stadtbibl. Mainz) Pellegrin 1715 Les Oeuvres d’Horace Traduites en Vers François, eclaircies par des notes … Avec Un Discours sur ce celebre poёte, & un Abregé de sa Vie. Par Monsieur l’Abbé Pellegrin. Tome premier, Paris 1715 (Expl. StuUB Göttingen). Tarteron 1723 Traduction des Oeuvres d’Horace, Par le Pere Tarteron, de la Compagnie de Jesus. Nouvelle Edition … Tome premier, Paris 1723 (Expl. Stadtbibl. Mainz).

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Dacier 1727 Oeuvres d’Horace en Latin et en François, avec des Remarques Critiques et Historiques. Par Monsieur Dacier. Garde des Livres du Cabinet du Roi. Quatrième Edition, revûё, corrigée & augmentée considerablement par l’Auteur. Tome Premier (- Dixième), Amsterdam 1727 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Sanadon 1728 Les Poésies d’Horace, disposées suivant l’ordre chronologique, et traduites en François: avec des Remarques et des Dissertations Critiques. Par le R.P. Sanadon, de la Compagnie de Jesus. Tome Premier (- Second), Paris 1728 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Bailey 1729 Quintus Horatius Flaccus Compedibus metricorum numerorum solutus: … Odarum libri IV. Epodon Liber I. Scil. Ipsaemet Horatii voces ex metrico in prosaicum ordinem dispositae, ad faciliorem & expeditiorem expositionem facientes. In usum Tyronum. Opera & Studio N. Bailey, London 1729 (Expl. StuUB Göttingen). Groschuf 1749 Ungebundene Uebersetzungen der Gedichte des Q. Horatius Flaccus nebst den nöthigsten Anmerkungen und vorgängiger Lebensbeschreibung des Schriftstellers. I. (– II.) Theil, Kassel 1749 (Übersetzer Friedrich Groschuf) (Expl. StuUB Göttingen). Salmon 1752 Traduction des Oeuvres d’Horace en vers François; Avec des Extraits des Auteurs qui ont travaillé sur cette matiere, Et des Notes pour l’éclaircissement du Texte. Tome premier (–Cinquième), Paris 1752 (Übersetzer Abbé Salmon) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Gottschling 1753 Q. Horatii Flacci Poemata. Diese giebt mit Heinsii, Rappolti, Dacieri, Massoni, Tarteroni, Pierre Coste, auserlesenen, wie auch seinen eigenen philologischen und Historischen Anmerkungen, Seiner ihm anvertrauten Jugend zum Besten, Auf eine ganz neue, nützliche, und leichte Art, zum andermahl, und zwar vermehrter heraus M. Caspar Gottschling, Nürnberg 1753 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Miller 1761 Q. Horatii Flacci Opera Curante Joanne Petro Millero, Berlin 1761 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Schmidt 1776 Horaz lateinisch und deutsch mit Anmerkungen für junge Leute von Jakob Friedrich Schmidt. Erster Theil, enthaltend das erste Buch der Oden, Gotha 1776 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Jani 1778/82 Q. Horatii Flacci Opera recensvit varietate lectionis et perpetva adnotatione illustravit M. Christianvs David Jani, Tomus Primus (- Secundus), Leipzig 1778–1782 (Expl. HAB Wolfenbüttel).

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Dorighello 1780 Q. Horatius Flaccus Selectis fere omnium Interpretum, ac praecipue Dacieri, & Sanadonis notis, & argumentis illustratus. Opera et Industria Francisci Dorighello. Editio secunda Auctior, & accuratior. Tomus primus (- tertius), Padua 1780 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Köppen 1791 Encyclopädie der lateinischen Classiker Erste Abtheilung. Dichtersammlung Vierter Theil. Ausgewählte Oden und Lieder von Horaz Herausgegeben von Joh. Henr. Just Köppen, Braunschweig 1791 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Doering 1815/28 Q. Horatii Flacci Opera recensvit et Illustravit Frid. Gvil. Doering. Editio secunda avctior et emendatior Tomus Primus (– Secundus), Leipzig 1815–1828 (Vorwort der 1. Aufl. dat. 1803) (Expl. HAB Wolfenbüttel).

Scholien zu Pindar und Horaz in Neuausgaben Scholia Vetera in Pindari Carmina. Recensuit A.B. Drachmann. Vol. I–III, Leipzig 1903–1927 (ND Amsterdam 1964). Ps.Acro, Scholia in Horatium vetustiora. Recensuit Otto Keller, Vol. I–II, Leipzig 1902–1904 (ND Stuttgart 1967). Pomponius Porphyrio, Commentum in Horatium Flaccum. Recensuit Alfred Holder, Innsbruck 1894 (ND Hildesheim 1967).

Spätantike und mittelalterliche Quellen Grammatici Latini. Ex recensione Henrici Keilii, Vol. I–VIII, Leipzig 1857–1880 (ND Hildesheim, New York 1981). Accessus ad Auctores. Bernard d’Utrecht, Conrad d’Hirsau, Dialogus super Auctores. Édition critique entièrement revue et augmentée par R.B. Huygens, Leiden 1970. Edmond Faral, Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIIe Siècle. Recherches et Documents sur la Technique littéraire du Moyen Âge, Paris 1924 (ND Genf, Paris 1982).

Werke der humanistischen Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts – Nachdrucke humanistischer Kommentare des 16. Jahrhunderts zur Poetik des Aristoteles und zur Ars poetica des Horaz (alphabetisch nach Verfassern geordnet) Conrad Bachmann/Christoph Helvicus Poetica Praeceptis, Commentariis, Observationibus, Exemplis, ex veteribus et recentibus Poetis, studiose conscripta, per Academiae Gissenae nonnullos professores, Tertia Editio,

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

Denuo Recognita, Aucta & elimata, Gießen 1623 (Widmungsvorrede dat. 1617) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Federico Ceruti De re poetica libellus incerti auctoris – Paraphrasis in Q. Horatii Flacci Librum de Arte Poetica, Verona 1588 (ND München 1968). Tommaso Correa In Librum de Arte Poetica Q. Horatii Flacci Explanationes, Venedig 1587 (ND München 1969). Alexander Donatus S.J. Ars Poetica sive Institutionum Artis Poeticae Libri Tres, Köln 1633 (Expl. UB Münster). Pomponio Gaurico Super Arte Poetica Horatii, Rom 1541 (ND München 1969). Jacopo Grifoli Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica … Interpretatione explicatus, Florenz 1550 (ND München 1967). Francesco Luisini In Librum Q. Horatii Flacci de Arte Poetica Commentarius, Venedig 1554 (ND München 1969). Vincenzo Maggi (= Madii)/Bartolomeo Lombardi In Aristotelis Librum de Poetica Communes Explanationes, Venedig 1550 (ND München 1969). Aldo Manuzio d.J. In Q. Horatii Flacci Venusini Librum de Arte Poetica Commentarius, Venedig 1576 (ND München 1969). Jacob Masen S.J. Palaestra Eloquentiae ligatae Pars secunda, quae Poёsin Elegiacam, Heroicam, Lyricam … complectitur, Köln 1661 (Expl. UB Münster). Antonio Sebastiano Minturno De poeta, Venedig 1559 (ND München 1970). Antonio Sebstiano Minturno L’Arte Poetica, Venedig 1564 (ND München 1971). Giovanni Battista Pigna Poetica Horatiana, Venedig 1561 (ND München 1969). Jacob Pontanus S.J. Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594 (Expl. StB München).

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Antonio Riccoboni Poetica Aristotelis Latina conversa: eiusdem Riccoboni paraphrasis in poeticam Aristotelis, Padua 1587 (ND München 1970). Antonio Riccoboni Compendium Artis Poeticae Aristotelis, Padua 1591 (ND München 1970). Francesco Robortello In librum Aristotelis de Arte Poetica Explicationes, Florenz 1548 (ND München 1968). Julius Caesar Scaliger Poetices libri septem, Lyon 1561 (ND mit Einl. v. August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) (s. auch die in Anm. 10 genannte zweisprachige Ausgabe). Joachim Vadianus De Poetica et Carminis Ratione. Kritische Ausgabe v. Peter Schäffer, Bd. 1, München 1973 (1Wien 1518). Pietro Vettori Commentarii in primum librum Aristotelis de Arte Poetarum, Florenz 1560 (ND München 1967). Giovanni Antonio Viperano De Poetica libri tres, Antwerpen 1579 (ND München 1967). Gerardus Joannis Vossius De Artis Poeticae Natura, ac Constitutione, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln). Gerardus Joannis Vossius Poeticarum Institutionum libri tres, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln).

II. Texte Quintilian Institutionis oratoriae libri XII: X,1,61: 61 novem vero lyricorum longe Pindarus princeps spiritus magnificentia, sententiis, figuris, beatissima rerum verborumque copia et velut quodam eloquentiae flumine: propter quae Horatius eum merito credidit nemini imitabilem. 61 Unter den neun Lyrikern aber steht mit Abstand an erster Stelle Pindar durch die Großartigkeit seiner Begeisterung, die Sentenzen, Redefiguren, die überreiche Fülle seiner Gedanken und Worte und gleichsam durch einen Strom mitreißender Beredsamkeit; aus diesem Grunde hat ihn ja Horaz zu Recht für ganz unnachahmlich gehalten.

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X,1,96: at lyricorum idem Horatius fere solus legi dignus: nam et insurgit aliquando et plenus est iucunditatis et gratiae et varius figuris et verbis felicissime audax. Dagegen ist von den Lyrikern ebenfalls Horaz es wohl als einziger wert, gelesen zu werden; denn zuweilen erhebt er sich im Ton, ist auch voll von Munterkeit und Anmut, ferner abwechslungsreich in seinen Redefiguren und äußerst glücklich in der Kühnheit seines Wortgebrauches. (zit. nach: Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners, hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn, 2. Teil, Darmstadt 1975)

Horaz Oden: I,6 Scriberis Vario fortis et hostium Victor Maeonii carminis alite, Quam rem cumque ferox navibus aut equis Miles te duce gesserit. Nos, Agrippa, neque haec dicere nec gravem Pelidae stomachum cedere nescii Nec cursus duplicis per mare Ulixei Nec saevam Pelopis domum Conamur, tenues grandia, dum pudor Inbellisque lyrae Musa potens vetat Laudes egregii Caesaris et tuas Culpa deterere ingeni. Quis Martem tunica tectum adamantina Digne scripserit aut pulvere Troico Nigrum Merionen aut ope Palladis Tydiden superis parem? Nos convivia, nos proelia virginum Sectis in iuvenes unguibus acrium Cantamus, vacui sive quid urimur, Non praeter solitum leves.          | Mag ein Varius als Helden und Sieger dich In mäonischem Flug feiern, die Taten all, Die zu Schiff und zu Roß unser gewaltiges Heer vollbrachte, geführt von dir! Ich, Agrippa, kann dies, kann den verderblichen Zorn nicht singen des nie weichenden Peleussohns, Nicht des schlauen Ulyß’ irrende Meeresfahrt, Noch die Greuel in Pelops Haus,

Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus 

Für so Großes zu zart: Furcht und die Muse, die Mich nur friedliches Spiel lehrte, sie dulden nicht, Daß des großen August Ruhm und den deinen auch Je mein schwaches Talent entweiht. Wer preist würdigen Sangs Mars in des stählernen Kriegskleids prangendem Schmuck oder Meriones. Schwarz von troischem Staub, oder des Tydeus Sohn. Göttern gleich durch Athenes Huld? Ich, ich singe von Schmaus, Kämpfen der Mädchen nur, Die den Jünglingen mit Nägeln, mit stumpfen, dräun, Sei ich liebebefreit oder in Lieb entbrannt, Leichthin scherzend nach meiner Art. I,12 Quem virum aut heroa lyra vel acri Tibia sumis celebrare, Clio, Quem deum? Cuius recinet iocosa Nomen imago Aut in umbrosis Heliconis oris Aut super Pindo gelidove in Haemo? Unde vocalem temere insecutae Orphea silvae, Arte materna rapidos morantem Fluminum lapsus celeresque ventos, Blandum et auritas fidibus canoris Ducere quercus. Quid prius dicam solitis parentis Laudibus, qui res hominum ac deorum, Qui mare ac terras variisque mundum Temperat horis? Unde nil maius generatur ipso Nec viget quidquam simile aut secundum; Proximos illi tamen occupavit Pallas honores. Proeliis audax, neque te silebo, Liber, et saevis inimica virgo Beluis, nec te, metuende certa Phoebe sagitta. Dicam et Alciden puerosque Ledae, Hunc equis, illum superare pugnis Nobilem: quorum simul alba nautis Stella refulsit,

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Defluit saxis agitatus umor, Concidunt venti fugiuntque nubes, Et minax, quom sic voluere, ponto Unda recumbit. Romulum post hos prius an quietum Pompili regnum memorem an superbos Tarquini fasces, dubito, an Catonis Nobile letum. Regulum et Scauros animaeque magnae Prodigum Paulum superante Poeno Gratus insigni referam camena Fabriciumque. Hunc et incomptis Curium capillis Utilem bello tulit et Camillum Saeva paupertas et avitus apto Cum lare fundus. Crescit occulto velut arbor aevo Fama Marcelli; micat inter omnis Iulium sidus velut inter ignis Luna minores. Gentis humanae pater atque custos, Orte Saturno, tibi cura magni Caesaris fatis data: tu secundo Caesare regnes. Ille seu Parthos Latio imminentis Egerit iusto domitos triumpho Sive subiectos Orientis orae Seras et Indos, Te minor laetum reget aequos orbem; Tu gravi curru quaties Olympum, Tu parum castis inimica mittes Fulmina lucis.          | Welchen Mann, o Klio, und welchen Heros Wählst du dir zur Lyra, zur hellen Flöte, Welchen Gott? Wes Name ertönt in Echos Scherzendem Gleichklang, Sei’s am Saum von Helikons schatt’gen Höhen, Sei’s auf Pindus’ Haupt und dem kalten Hämus? Woher einstens Wälder in wildem Taumel Folgten dem Orpheus,

Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus 

Dessen Kunst – der Mutter Geschenk – den Strom im Jähen Lauf, im Fluge die Winde festhielt Und mit Saitenspiel die entzückten Eichen Zauberisch nachzog. Wie begänn’ ich anders als mit des Vaters Altem Lob, der Menschen- und Götterschicksal, Der so Land als Meer und das Weltall lenkt im Wechsel der Zeiten? Er, von dem nichts Größeres stammt, als Er ist, Neben dem kein Gleiches erblüht, kein Zweites; Doch zunächst nach ihm hat der Ehren höchste Pallas errungen. Nicht vergess’ ich, Liber, dich kühnen Kämpfer, Nicht dich, Jungfrau, grimmigen Wildes Feindin, Phöbus, dich auch nicht, mit dem furchtbar sicher Treffenden Pfeile! Herkules auch sing ich und Ledas Söhne, Ihn zu Roß und ihn in dem Kampf der Fäuste Siegberühmt: kaum glänzt ihr Gestirn dem Schiffer Schimmernden Strahles, Strömt herab vom Fels die gepeitschte Meerflut, Legt der Sturmwind sich und die Wolken fliehen, Und ins Meer, da sie es gewollt, entsinkt die Drohende Welle. Soll ich nun erst Romulus singen oder Numas Friedensreich? des Tarquinius stolzen Herrscherstab – ich schwanke noch – oder Catos Ruhmvolles Sterben? Regulus, die Scaurer und Paulus, ihn, der Bei dem Sieg des Puniers hin die große Seele gab, preist dankbar mein Lied und jenen Helden Fabricius. Ihn und dich, o Curius, schlichtgelockter, Und Camillus reifte zu Kriegeshelden Strenger Armut Druck und der Ahnen Feld mit Ärmlicher Hütte. Wie der Baum unmerklich im Lauf der Jahre Wächst Marcellus’ Ruhm; doch hervor aus allen Strahlt der Stern der Julier wie der Mond aus Kleineren Lichtern.

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Du, der Menschheit ewiger Hort und Vater, Sohn Saturns, dir hat das Geschick vertraut des Großen Cäsars Wohl; o, so herrsche du und Cäsar als Zweiter! Ob er Parther, Latiums grimmige Feinde, Dienstbar mit sich führt in verdientem Siegszug Oder fern im Lande des Sonnenaufgangs Serer und Inder: Unter dir – so lenk’ er mit Huld der Erde Frohen Kreis; du, donnernden Gangs, erschüttre Den Olymp und wirf in entweihte Haine Rächende Blitze! II,12 Nolis longa ferae bella Numantiae Nec durum Hannibalem nec Siculum mare Poeno purpureum sanguine mollibus Aptari citharae modis Nec saevos Lapithas et nimium mero Hylaeum domitosque Herculea manu Telluris iuvenes, unde periculum Fulgens contremuit domus Saturni veteris: tuque pedestribus Dices historiis proelia Caesaris, Maecenas, melius ductaque per vias Regum colla minacium. Me dulcis dominae Musa Licymniae Cantus, me voluit dicere lucidum Fulgentis oculos et bene mutuis Fidum pectus amoribus; Quam nec ferre pedem dedecuit choris Nec certare ioco nec dare bracchia Ludentem nitidis virginibus sacro Dianae celebris die. Num tu quae tenuit dives Achaemenes Aut pinguis Phrygiae Mygdonias opes Permutare velis crine Licymniae Plenas aut Arabum domos, Cum flagrantia detorquet ad oscula Cervicem aut facili saevitia negat Quae poscente magis gaudeat eripi, Interdum rapere occupet?          |

Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus 

Nicht Numantias Sturz, spät erst nach trutzgem Kampf, Nicht des Hannibal Grimm, noch auch Siziliens Meer, Rot vom punischen Blut, fordre vom Leierklang, Der nur zartere Weisen kennt; Nicht Lapithischen Sturm, nicht des Hyläus Rausch, Nicht die schlotternde Angst, die einst der Tellus Brut In die gleißende Burg Vater Saturns gejagt, Nicht, wie Herkules sie gestürzt. Auch die Schlachten Augusts und, unters Joch gebeugt, Dräunder Fürsten Gestalt, stolz durch die Stadt geführt, Schilderst du, mein Mäcen, besser im freien Schritt, Wie er deine Historien ziert. Meine Laute ertönt nur von Licymnia; Von dem Zauber des Blicks, ihres Gesanges Schmelz, Ihrem Herzen, Mäcen, das deiner Liebe Treu’ Treulich auch zu vergelten weiß. Ei, wie schwebte ihr Fuß reizend im Tanz dahin, Huld umflog ihren Scherz, Anmut umfloß sie ganz, Als sie zierlich den Arm schlang in der Mädchen Kreis, Jüngst am großen Dianafest. Sprich, und böte man dir Schätze des Perserreichs, Was mygdonische Flur phrygischen Segens trägt, Was Arabien birgt – gäbest du wohl dafür Eine Locke Licymnias, Wenn zum brennenden Kuß hold sie den Nacken neigt, Oder spröde zum Schein wieder den Kuß versagt, Lieber rauben ihn läßt, mehr, als der Räuber, froh Ja, noch lieber ihn selbst dir raubt? IV,2 Pindarum quisquis studet aemulari, Iulle, ceratis ope Daedalea Nititur pinnis vitreo daturus Nomina ponto. Monte decurrens velut amnis, imbres Quem super notas aluere ripas, Fervet immensusque ruit profundo Pindarus ore, Laurea donandus Apollinari, Seu per audacis nova dithyrambos Verba devolvit numerisque fertur Lege solutis;

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Seu deos regesque canit, deorum Sanguinem, per quos cecidere iusta Morte Centauri, cecidit tremendae Flamma Chimaerae, Sive quos Elea domum reducit Palma caelestis pugilemve equomve Dicit et centum potiore signis Munere donat; Flebili sponsae iuvenemve raptum Plorat et viris animumque moresque Aureos educit in astra nigroque Invidet Orco. Multa Dircaeum levat aura cycnum, Tendit, Antoni, quotiens in altos Nubium tractus: ego apis Matinae More modoque Grata carpentis thyma per laborem Plurimum circa nemus uvidique Tiburis ripas operosa parvos Carmina fingo. Concines maiore poeta plectro Caesarem, quandoque trahet ferocis Per sacrum clivum merita decorus Fronde Sygambros: Quo nihil maius meliusve terris Fata donavere bonique divi Nec dabunt, quamvis redeant in aurum Tempora priscum. Concines laetosque dies et urbis Publicum ludum super inpetrato Fortis Augusti reditu forumque Litibus orbum. Tum meae, siquid loquar audiendum, Vocis accedet bona pars et ‚o sol Pulcer, o laudande!‘ canam recepto Caesare felix. Teque, dum procedis ‚io triumphe‘, Non semel dicemus, ‚io triumphe‘ Civitas omnis dabimusque divis Tura benignis.

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Te decem tauri totidemque vaccae, Me tener solvet vitulus, relicta Matre qui largis iuvenescit herbis In mea vota, Fronte curvatos imitatus ignis Tertium lunae referentis ortum, Qua notam duxit, niveus videri, Cetera fulvos.          | Wer sich kühn vermißt mit dem Schwunge Pindars, Fliegt wie Ikarus und vertraut sich, Jullus, Flügeln, die von Wachs, einem grünen Meer den Namen zu geben. Wie ein Bergstrom stürzt, den der Regen schwellte Hoch zum Bord hinaus des gewohnten Bettes, Also braust und stürzt wie aus tiefem Borne Schrankenlos Pindar, Immer wert des Schmucks von Apollos Lorbeer: Ob in neuen Lauten des Dithyrambus Kühn er, aller Bande des Maßes ledig, Strömt seine Lieder; Ob er Götter singt oder Göttersprossen, Deren Arm gestürzt der Centauren Rotte In verdiente Nacht und erstickt Chimäras Sprühende Flammen; Ob er singt das Roß und den Faustkampfsieger, Der auf Elis’ Bahn sich errang die Palme, Und sie reicher lohnt durch den Sang, als hundert Statuen könnten; Ob er klagend weint um den toten Jüngling, Der der Braut geraubt, und sein güldnes Wesen, Geist und Tat, dem finsteren Orkus neidend, Hebt zu den Sternen. Dirkes Schwan beflügelt ein starker Aufwind, Wenn empor, Antonius, zu der Wolken Himmelszug er strebt, während ich, nach Art der Biene der Heimat, Die am Waldessaum, an den Wassern Tiburs, Süßen Quendelhonig voll Mühe sammelt, Ganz bescheiden nur und mit Müh ersinne Kleinere Lieder.

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

So glückt besser auch das Triumphlied Cäsars Deinem höhern Schwung, wenn, bekränzt mit Lorbeer Er auf heilgem Hang die verwegnen Völker Schleppt, die Sigambrer: Denn der Götter Huld, sie verlieh dem Erdball Größres, Schönres nicht, nicht für jetzt und nimmer, Stieg selbst noch einmal in die Welt herab das Goldene Alter. Singen wirst du auch von den Freudentagen, Von des Volkes Lust, des Gezänks Verstummen Auf dem Forum, da Held August zurückkehrt, Wie wir erflehten. Ja, dann laß auch ich meine Stimm’ ertönen, Singe, wenn’s gelingt, ein bescheidnes Lied und Rufe: „Schöner Tag, sei gegrüßt mir!“ – selig Ob seiner Rückkunft. Klingst du uns voran, o Triumph- und Heilruf, Fülln auch wir mit „Heil und Triumph“ die Lüfte. Wollen Weihrauch streun, das gesamte Volk, den Gütigen Göttern. Zehn der Stiere schuldest du, gleichviel Kühe: Mein Gelübde tilgt das bescheidne Kälbchen, Das die Mutter ließ und für mich auf fetten Matten heranwächst. Von der Stirne blinkt’s ihm wie Mondessichel, Der zum drittenmal schon am Himmel aufstieg, Rötlich rings der Leib, und allein die Zeichnung Strahlend wie Schneelicht.

Ars poetica: v. 83–85 Musa dedit fidibus divos puerosque deorum et pugilem victorem et equum certamine primum et iuvenum curas et libera vina referre.          | Reiche Musengabe ward den Saiten der Lyra: Götter besingt sie und Söhne der Himmlischen, dazu den siegenden Boxer und das führende Rennpferd im Wettkampf, das Sehnen des Jünglings und den sorgenlösenden Wein. (zit. nach: Horaz, Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, hrsg. v. Hans Färber u. Wilhelm Schöne, München 1967)

2 Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert Die Lehrbücher der Poetik im 17. Jahrhundert, sofern sie nicht lyrische Gedichte nur von ihren Anlässen her im Rahmen der Anweisungen zur Gelegenheitsdichtung erörtern, behandeln sangbare Gedichte unter den synonym verwendeten Begriffen Ode oder Lied.¹ Im 18.  Jahrhundert entwickelt sich, zunächst im Rahmen derselben Begriffsverwendung, eine genauere Theorie der Ode; sie gewinnt entscheidende Bedeutung für die Ausbildung eines bis dahin fehlenden und nicht benötigten umfassenden Begriffs von Lyrik als Hauptgattung neben Epik und Dramatik, sie führt zur Unterscheidung von Lied, Ode und Hymne als Hauptarten der Lyrik, zugleich mit solcher Differenzierung aber beginnt eine Veränderung der Einschätzung der Ode, ja Kritik an ihr sich zu entwickeln. Im 19.  Jahrhundert dann muß die Ode, nun endgültig (wie F.Th. Vischer formuliert) als „hoch erregter Gesang wesentlich erhabenen Inhalts in kunstreichen

1 Vgl. u. a. Sigmund von Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, Nürnberg 1679 (ND Hildesheim, New York 1973), S. 106f., 115f. – August Buchner, Anleitung Zur Deutschen Poeterey, Wittenberg 1665 (ND Tübingen 1966), S. 11f. – [Johann Hofmann] Der Taurende, Lehr-mässige Anweisung / Zu der Teutschen Verß- und Ticht-Kunst, Nürnberg 1702 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 80–82 – Balthasar Kindermann, Der Deutsche Poet, Wittenberg 1664 (Expl. StB München), S. 283 (Buch III, Kap. IV, § 3: „Das XI. sind die Lyrischen Gedichte / so man Oden oder Lieder nennet / und sonderlich zur Music gebraucht werden“) – Joh. Christoph Männling, Der Europaeische Helicon, Alten Stettin 1704 (Expl. UB Greifswald), S. 148 – Georg Neumark, Poetische Tafeln, Jena 1667 (ND Frankfurt a.M. 1971), S. 16f. und Anmerkungen von Martin Kempe, S.  217ff. (für „Ode“ hier z.T. der – mit späterem Gebrauch nicht zu verwechselnde – Begriff „lyrisches Gedicht“) – Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1704 (Expl. UB Münster), S. 99 („Von den Oden / oder Geistund Weltlichen Liedern“) – Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Breslau 1624 (in: Gesammelte Werke, hrsg. v. George Schulz-Behrend, Bd. II/1, Stuttgart 1978, S. 369f., 402) – Albrecht Christian Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Leipzig 1688 (ND Tübingen 2000), T.1, Bl. D7v („Tit. V. Von den gemeinen Oden oder Liedern“) – Justus Georg Schottel, Teutsche Vers- oder ReimKunst, Wolfenbüttel 1645 (Expl. StuUB Göttingen), S. 313 – Johann Peter Titz, Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, Danzig 1642 (Expl. UB Tübingen), Bl. N5v. Mit eigenwilliger Konsequenz verfährt Philipp von Zesen in der Weise, daß er auch Gedichte in sapphischen oder pindarischen Metren Lieder (Saffische, Pindarische Lieder) nennt (Sämtliche Werke, Bd. X/1: Hoch-deutscher Helikon, 1656, hrsg. v. Ulrich Maché, Berlin, New York 1977, S. 168ff.) und in seiner „Deutsch-lateinischen Leiter zum hochdeutschen Helikon“ (1656) im lateinischen Text stets das Wort „Ode“, im parallelen deutschen hingegen das Wort „Lied“ benutzt (Sämtliche Werke, Bd. XII, hrsg. v. Ulrich Maché, George Schulz-Behrend und Karl F. Otto Jr., Berlin, New York 1985, u. a. S. 42, 86f., 100f. 134f., 140f.).

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

Strophen und kühn abspringender Composition“² bestimmt, zurücktreten hinter dem Lied als Inbegriff dessen, was man nun unter Lyrik versteht; sie fristet seitdem ein noch achtungsvoll erwähntes Dasein in systematischen Beiträgen zur Literaturwissenschaft bis hin zu Wolfgang Kayser oder Herbert Seidler und einzelnen jüngeren Werken,³ ohne doch noch in der Geschichte der Lyrik viel zu bedeuten,⁴ und scheint schließlich sogar den Anspruch auf einen Platz in literaturwissenschaftlichen Lexika kaum noch behaupten zu können.⁵ Man hat – das gilt zumal von Karl Viёtors bis heute nicht ersetzter, aber schon lange nicht mehr genügender „Geschichte der deutschen Ode“⁶ – man hat wohl einzelne Momente dieses merkwürdigen Vorgangs wahrgenommen: man hat die (wie man es sah) unrichtige Gleichsetzung von Ode und Lied im 17. und frühen 18. Jahrhundert gerügt oder jedenfalls ohne Bemühung um näheres Verständnis eher beiläufig vermerkt;⁷ man hat die Belebung der Diskussion um die

2 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 3. Teil, 2. Abschnitt, 5. H., Die Dichtkunst, Stuttgart 1857, S. 1349. 3 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 41956 (11948), S. 338ff. – Herbert Seidler, Die Dichtung. Wesen – Form – Dasein, Stuttgart 2 1965 (11959), S. 426f. – vgl. auch u. a. Günther Müller, Die Grundformen der deutschen Lyrik (11941), S. 118ff., in: G. Müller, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1968, S. 105–145 – Helmut Prang, Formgeschichte der Dichtkunst, Stuttgart u. a. 21971 (11968), S. 197– 205 – Bernhard Asmuth, Aspekte der Lyrik. Mit einer Einführung in die Verslehre, Opladen 61981 (11972), S. 110–113 – Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, hrsg. v. Otto Knörrich, Stuttgart 1981, S. 272–280 – Otto Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, Stuttgart 1992, S. 157– 163 – Dieter Burdorf, Ode, Odenstrophe, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 735–739. 4 Das gilt schon im 19. Jahrhundert, in welchem vor allem Klassizisten und Epigonen wie Platen oder Geibel an der Ode festhalten (s. hingegen zu Mörike Anm. 110), und es setzt sich fort im 20. Jahrhundert, in welchem weder Virtuosen der Form wie Rudolf Alexander Schröder oder Weinheber der Ode jene Geltung haben zurückgewinnen können, die sie im 18. Jahrhundert besessen hat, noch Einzelgestalten wie Ludwig Greve, der in eindrucksvoller Weise bekannt hat, daß ihm nach den Jahren der Emigration und Verfolgung und dem Verlust des Vaters durch die Form der Ode „eine Sprache, sagen wir, der Sterblichkeit gelang, die vielleicht vor beiden bestehen kann, den Opfern wie den Lebenden“ (Warum schreibe ich anders? S. 74, in: Ludwig Greve, Sie lacht und andere Gedichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 65–74). 5 Keinen Artikel „Ode“ (wohl aber einen zum „Lied“) findet man z. B. in: Handlexikon zur Literaturwissenschaft, hrsg. v. Diether Krywalski, 2 Bde., Reinbek 1978 (11974) – Literaturwissenschaftliches Lexikon, hrsg. v. Horst Brunner u. Rainer Moritz, Berlin 1997. 6 München 1923 (ND Darmstadt 1961) 7 Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S.  59ff. (S.  60f. zu Opitz: „Ode ist immer nur eine andere, klassische Bezeichnung für das gesellige Lied ...“), S. 133 (nach Zitierung von Zedlers Oden-Artikel: „Das ist der Standpunkt von Gottscheds kritischer Dichtkunst, die ebenfalls Ode und Lied noch nicht genau unterschied“) – vgl. u. a. auch Karl Borinski, Die Poetik der

Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert 

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Ode im Lauf des 18. Jahrhunderts konstatiert und manche der damals üblichen Bestimmungen der Ode herausgehoben;⁸ man hat auch gelegentlich erwähnt,

Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland, Berlin 1886 (ND Hildesheim 1967), S. 47, 169, 344 – Günther Müller, Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart, München 1925 (ND Darmstadt 1959), S. 28 – Hermann August Korff, Geist der Goethezeit, T.1, Nachdr. d. 2. Aufl., Leipzig 1955 (11927), S. 173ff. – Klaus Gerth, Studien zu Gerstenbergs Poetik. Ein Beitrag zur Umschichtung der ästhetischen und poetischen Grundbegriffe im 18. Jahrhundert, Göttingen 1960, S. 178f., 189, 191 – Julius Wiegand, Werner Kohlschmidt, Ode, S.  710, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, 2 Bd.  2, Berlin 1965, S. 709–717 – Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, S. 40 – Gerhard Storz, Der Vers in der neueren deutschen Dichtung, Stuttgart 1970, S. 176f. – Friedrich Gaede, Humanismus – Barock – Aufklärung. Geschichte der deutschen Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Bern, München 1971, S. 154 – Silvia Weimar-Kluser, Die höfische Dichtung Georg Rudolf Weckherlins, Bern, Frankfurt a.M. 1971, S. 48f. – Otto Knörrich, Die Ode, S. 272f., in: Formen der Literatur, hrsg. v. O. Knörrich, 1981, S. 272–280 („Unsere Vorstellung von der Ode als einer einheitlichen Gattung ist hauptsächlich von Klopstock abgeleitet; die Odentheorie vor ihm erscheint unübersichtlich und widersprüchlich ... Die Definition der Gattung durch ihre Abgrenzung vom Lied erfolgt dann erst 1783 durch Johann Joachim Eschenburg“) – Siegfried Kross, Geschichte des deutschen Liedes, Darmstadt 1989, S. 57ff. – Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, 1992, S. XVII, 159 – Ulrich Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 191, in: Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns, hrsg. v. Anselm Gerhard, Tübingen 1999, S.  187–216 – Stefanie Stockhorst, Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten, Tübingen 2008, S.  60 (mit anschließendem breiten Referat der einschlägigen Aussagen in der Poetikliteratur des 17. Jahrhunderts, das deren Voraussetzungen und antik-humanistischen Quellen vernachlässigt und poetikgeschichtlich unergiebig bleibt). – Auf die Problematik vieler der übrigen in den Anmerkungen 7–10 angeführten Belege aus der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte kann hier im allgemeinen nicht näher eingegangen werden. 8 Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S.  133ff. – vgl. ferner u. a. Wiegand, Kohlschmidt, Ode, S.  711f. – Herbert Dieckmann, Zur Theorie der Lyrik im 18.  Jahrhundert in Frankreich, mit gelegentlicher Berücksichtigung der englischen Kritik, S.  83ff., in: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. v. Wolfgang Iser, München 1966, S. 73–112 – Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 105ff., 198f., 216f. – Paul Franz Reitze, Beiträge zur Auffassung der dichterischen Begeisterung in der Theorie der deutschen Aufklärung, Diss. Bonn 1969, S. 48ff., 86ff., 204f., 240ff. – Uwe K. Ketelsen, Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, Stuttgart 1974, S. 169, 173f. – Formen der Literatur, hrsg. v. O. Knörrich, 1981, S. 276f. – Ulrich Schödlbauer, Odenform und freier Vers, S. 193ff., in: Literaturwiss. Jahrb. NF 23, 1982, S. 191–206 – Wolfgang Brand, Das Ende der Ode. Zur Entwicklung der französischen Lyrik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Romanist. Jahrb. f. Literaturgesch. 8, 1984, S. 44–59 – Georg Guntermann, Von der Leistung einer poetischen Form – Wandlungen der Ode im 18.  Jahrhundert, in: Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels, Königstein 1984, S. 183–205 – Alfons Klein, „Die Lust, den Alten nachzustreben“. Produktive Rezeption der Antike in der Dichtung Friedrich

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

daß die Theorie der Ode für die Entwicklung von Herders Dichtungsauffassung besonders wichtig sei⁹ oder daß in der Theorie der Lyrik schließlich das Lied bedeutsamer werde als die Ode.¹⁰ Aber man hat eigentlich nie diesen Vorgang der allmählichen Begründung einer eigentümlichen Gedichtart, der zunehmenden Differenzierung ihrer Theorie und schließlich ihrer Abwertung als ein Ganzes gesehen und erörtert. Was dabei im einzelnen vor sich geht, wie das mit der Geschichte der Lyrik verknüpft ist, was das für die Eigenart und die Geschichte der Ode und anderer lyrischer Arten besagt, was daraus für ein angemessenes Verständnis der Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert zu gewinnen ist – das soll hier an einigen charakteristischen Beispielen und Problemen der Odentheorie im 18. Jahrhundert verfolgt werden.

von Hagdorns, St. Ingbert 1990, S. 80ff. – Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, 1992, S. XXIVff., 157ff. – Bernhard Asmuth, „Bewegung“ in der deutschen Poetik des 18. Jahrhunderts, S. 52, in: Rhetorik 19, 2000, S. 40–67. 9 Vgl. u. a. Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 136ff., 142f. (mit auffallend geringem Sinn für die intensive, produktive Auseinandersetzung Herders mit der zeitgenössischen Odentheorie) – Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 1, Barock und Frühaufklärung, 3Berlin 1964 (11937), S. 222, 234; Bd. 2, Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang, 2 Berlin 1970 (11956), S. 370ff. – Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 238ff. – Alexander A. Kropp, F.J.W. Schröders „Kritische Abhandlung über das Natürliche in der Dichtkunst“. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Poetik zwischen Aufklärung und Sturm und Drang, Diss. Köln 1976, S. 268ff. – Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 1, Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985, S.  197f., 220 – Michael Feldt, Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus zwischen 1600 und 1900, Heidelberg 1990, S. 138ff. – Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, 1992, S. XXIVf. – Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/II, Sturm und Drang: Genie-Religion, Tübingen 2002, S. 232ff. 10 Vgl. u. a. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 110f. – Gertrud Otto, Ode, Ekloge und Elegie im 18. Jahrhundert. Zur Theorie und Praxis französischer Lyrik nach Boileau, Diss. Konstanz 1971, S. 213f. – Andreas Huyssen, Sturm und Drang, S. 186, in: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1983, S. 177– 201 – Dorothea Ruprecht, Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860, Göttingen 1987, S.  138ff., 283ff. – Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, S. 76f. – Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart, Weimar 1995, S. 5 – Bernhard Asmuth, Von der Höhe der Rhetorik zur Mitte der Lyrik, S. 64f., in: Wahre lyrische Mitte? – „Zentrallyrik“? Ein Symposium zum Diskurs über Lyrik in Deutschland und in Skandinavien, hrsg. v. Walter Baumgartner, Frankfurt a.M. u. a. 1993, S. 51–85 – Rudolf Brandmeyer, Die Gedichte des jungen Goethe. Eine gattungsgeschichtliche Einführung, Göttingen 1998, S. 210ff. – Das Bild, das sich in der Gesamtheit der hier herangezogenen Beispiele bietet, ist freilich alles andere als einleuchtend, weil die Verfasser die Veränderungen im Verhältnis von Ode und Lied keineswegs übereinstimmend zur selben Zeit sich vollziehen sehen.

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In Johann Georg Sulzers „Allgemeiner Theorie der schönen Künste“ (11771– 1774)¹¹ oder Johann Joachim Eschenburgs „Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften“,¹² zwei repräsentativen Werken der Poetik und Ästhetik aus dem letzten Drittel des 18.  Jahrhunderts, findet man als „zwey Hauptgattungen lyrischer Gedichte“ unterschieden: „die eigentliche Ode und das Lied. Jene hat erhabnere Gegenstände, stärkre Empfindungen, höhern Schwung der Gedanken und des Ausdrucks: dieses wird gewöhnlich durch leichtere und sanftere Gefühle veranlaßt, und hat daher auch einen leichtern, gemässigtern Ton“ (Eschenburg, S.  106f.). Nähere Merkmale der deshalb als höchste Dichtungsart eingeschätzten Ode sind: ein hoher Grad dichterischer Begeisterung, Kürze, Mannigfaltigkeit der metrischen Elemente, der Empfindungen und Gedanken, des Plans, hoher ungleicher Flug, lyrischer Schwung, Abschweifungen, sogenannte lyrische Unordnung. Das Lied hingegen, zum Singen gedacht, erfordert Gleichförmigkeit und Einfachheit seiner metrischen Gestalt, des Tons, der Empfindung, das Einfachste ist hier „das beste, wenn es nur sehr genau in dem Ton der Empfindung gestimmt ist“ (Sulzer, Bd. 3, S. 254), jeder Vers soll einen Sinneinschnitt, jede Strophe eine eigene Periode ausmachen oder in zwei Perioden geteilt sein.¹³ Solche Bestimmungen entsprechen, wenn auch nach und nach modifiziert, dem, was man bis in die Gegenwart hin-

11 Zitiert nach dem Nachdruck (Hildesheim u. a. 1994) der 1792–1794 erschienenen Neuen vermehrten 2. Auflage. Sie entspricht – bis auf die hier und in der Neuen vermehrten Auflage von 1786–1787 hinzugekommenen bibliographischen Zusätze von Friedrich von Blankenburg – in den Artikeln, die für die vorliegende Abhandlung einschlägig sind, der 1. Auflage von 1771–1774 nahezu wörtlich. 12 Zitiert nach der 1. Auflage, Berlin, Stettin 1783 (Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz). Sie stimmt im Abschnitt über „Die lyrische Poesie“ – abgesehen von den jeweils vermehrten bibliographischen Angaben – mit den drei zu Lebzeiten des Verfassers folgenden Auflagen (21789, Expl. UB Mainz; 31805, Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz; 41817, Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz) nahezu wörtlich überein, auch wenn Eschenburg schon im Vorbericht zur dritten Auflage (S. IXf.) einzuräumen Anlaß sah, daß die „darin abgehandelten Gegenstände“ inzwischen „großentheils eine veränderte Ansicht, und vornehmlich durch die kritische Philosophie manche neue und schärfere Prüfungen und Bestimmungen erhalten“ und diese „die Ausarbeitung verschiedener neuer Lehrbücher veranlaßt“ hätten, die „zwar nicht völlig den Plan und den Umfang des meinigen hatten, denen ich aber gern den Vorzug zugestand, daß sie den herrschenden Grundsätzen und Zeitbedürfnissen angemessener waren“. Siebzehn Jahre nach Eschenburgs Tod erschien noch eine fünfte, nun „völlig umgearbeitete Ausgabe“ durch Moritz Pinder (auch sie noch in der Nicolaischen Buchhandlung, Berlin 1836; Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz). 13 Zu den Merkmalen von Ode und Lied vgl. im einzelnen Sulzer, Bd. 3, S. 252–258, 538–548 – Eschenburg, S. 107–115.

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ein¹⁴ unter einer Ode einerseits, einem liedhaften lyrischen Gedicht andererseits zu verstehen gewohnt ist, und sie sind geeignet, die Unterschiede zwischen markanten Erscheinungen lyrischer Dichtung aus der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts wie etwa Klopstocks Oden und der liedhaften Lyrik des jungen Goethe zu bezeichnen. Von da aus kann es gewiß verwunderlich erscheinen, daß noch in Gottscheds „Versuch einer Critischen Dichtkunst“ etwa (11730) im 1. Hauptstück des 2. Teils laut Überschrift „Von Oden, oder Liedern“¹⁵ ohne solche Unterscheidungen die Rede ist und daß Entsprechendes auch von der literarischen Theorie des 18. Jahrhunderts vor und neben, ja auch noch nach Gottsched¹⁶ und

14 Vgl. als symptomatisches Beispiel: Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 8Stuttgart 2001, S. 466f. (Lied), 569ff. (Ode). 15 So in der 4. Auflage, Leipzig 1751 (ND Darmstadt 1962), S. 419–435. Entsprechend auch in der etwas anders gegliederten 3. Auflage von 1742: Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Joachim Birke und Brigitte Birke, Bd. VI/2, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer besonderer Theil, Berlin, New York 1973, S. 3–57: Das I. Capitel. Von Oden oder Liedern. Man kann durch das ganze Kapitel hindurch beobachten, wie Gottsched beide Begriffe ständig wechselnd nebeneinander benutzt, auch dort, wo er Formzüge berührt, die Sulzer und Eschenburg nicht viel später teils der Ode, teils dem Lied als Unterscheidungsmerkmale zuordnen. – Vgl. auch Johann Christoph Gottsched, Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Leipzig 1760 (ND Hildesheim, New York 1970), Sp. 1019 (Artikel Lied): „Siehe Ode ...“; Sp. 1190 (Artikel Ode): „Ist der allgemeine Name aller Lieder ...“. 16 Vgl. dazu u. a. Anon., Anleitung zur Poesie, Breslau 1725 (Expl. Sammlung Jantz, Film Nr. 573), S. 108–113: Das XI. Capitel. Von geistlichen und weltlichen Oden (S. 108: „Oden sind Lieder oder eine Art von Poesien  / welche mit Music verbunden seyn  / oder doch können verbunden werden ...“) – Johann Andreas Fabricius, Philosophische Redekunst ... Nebst einem Entwurfe einer Teutschen Dicht- und Sprachkunst, Leipzig 1739 (Expl. UB Marburg), Bd.  2, S.  401 (als Beispiel darin rühmend erwähnt die von Gottsched als Senior herausgegebenen Oden der Leipziger Deutschen Gesellschaft, 1728) – Andreas Köhler, Deutliche und gründliche Einleitung zu der reinen deutschen Poesie, Halle 1734 (Expl. StuUB Göttingen), S. 110–126 – Johann George Neukirch, Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie, Halle 1724 (Expl. LB Wiesbaden), S. 863: „Oden oder bey uns Teutschen Lieder genennet, bestehen aus gewissen Gesetzgen ... welche so eingerichtet sind, daß sie füglich nach der Music können abgesungen werden“ – Johann Samuel Wahll, Gründliche Einleitung zu der rechten / reinen und galanten Teutschen Poesie, Chemnitz 1723 (Expl. StuUB Hamburg), S. 51: „Alle diese kurtzen Genera der Verse aber werden sonst mit einem Worte Oden, Lieder oder Arien genennet, weil sie gemeiniglich unter eine gewisse Melodie gebracht und gesungen werden“ – Franciscus Woken, Anleitung zur Teutschen Poesie, Leipzig 1715 (Expl. StuUB Hamburg), S. 51f., 60. – Ein spätes Beispiel für die zum Teil noch fortwirkende und nicht überall schon konsequent aufgegebene Gleichsetzung von Ode und Lied ist ein Tübinger Specimen „de poёsi Ebraeorum“ (1788) von Hölderlins Freund Christian Ludwig Neuffer, der sich darin vertraut zeigt mit den Schriften von Lowth, Blair (über Ossian) oder Herder (Vom Geist der Ebräischen Poesie) und mit zentralen Bestimmungen der Ode, aber ohne weiteres die Begriffe Ode, Lied, Gesang wechselweise für die Poesie der Hebräer benutzt (bes. S. 189f., in: Wilhelm G. Jacobs, Zwischen Revolution

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erst recht von der deutschsprachigen Poetik des 17. Jahrhunderts¹⁷ gilt. Um den Vorgang, der durch die langdauernde Identifizierung und die spätere Unterscheidung von Ode und Lied signalisiert wird, und seine Gründe begreiflich zu machen, wird zunächst ein Blick in die deutsche Poetik des 17. Jahrhunderts nützlich sein. Besonders eingehend handelt „Von den Oden“ ein Kapitel in Daniel Georg Morhofs „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie“ (11682),¹⁸ einem Werk, das die barocke Poetik und ihre Entwicklung zusammenfaßt, das von den folgenden Poetiken des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts mannigfach benutzt und zitiert wird (nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Ode) und das bis weit ins 18.  Jahrhundert hinein bekannt bleibt.¹⁹ Oden sind nach

und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. 175–197). 17 Vgl. die dazu schon in Anm. 1 angeführten Belege von Birken bis Zesen. 18 Zitiert nach der von Henning Boetius besorgten Neuausgabe (Bad Homburg v.d.H. u. a. 1969) der 2. Auflage von 1700. 19 Vgl. u. a. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, 1688, T.1, Bl. a 3rff. (nachdrücklicher Hinweis auf Morhofs Werk als Quelle zur Historie der Poesie), Bl. D4v (zur Pindarischen Ode), weitere Stellen im Register des Nachdrucks – Jakob Friedrich Reimann, Poesis Germanorum Canonica & Apocrypha Bekandte und Unbekandte Poesie der Teutschen, Leipzig 1703 (Expl. StuUB Göttingen), Bl.  *8rff. zahlreiche Hinweise in Fußnoten) – Männling, Der Europaeische Helicon, 1704, S.  30, 83f. – Omeis, Gründliche Anleitung, 1704, S.  14, 18, 34, 52f., 141, 215, 364 – J.G. Neukirch, Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie, 1724, S. 7, 18, 879f. (zur Pindarischen Ode) – Anon., Anleitung zur Poesie, 1725, S. 18 (Morhofs Werk als gute Anleitung zur Teutschen Poesie), 74, 76, 78, 81, 88f., 101, 166 – Köhler, Einleitung zu der reinen deutschen Poesie, 1734, S.  1f. 110 (Von gemeinen Oden), 213 – Carl Friedrich Brämer, Gründliche Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst, Danzig 1744 (Expl. UB Greifswald), S. 81 – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 41751, S. 83 (im Zusammenhang mit Gesängen, Liedern und Oden als ältester Gattung der Poesie; s. weitere Stellennachweise im Register) – Friedrich von Hagedorn, Sämmtliche Poetische Werke, T.3, Hamburg 1757 (ND Bern 1968), S.  VII – Johann Christoph Dommerich, Entwurf einer Deutschen Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen, Braunschweig 1758 (Expl. Stadtbibl. Braunschweig), S. 9 – Johann Nikolaus Götz, Die Gedichte Anakreons und der Sappho Oden, Karlsruhe 1760 (ND Stuttgart 1970), S. 63 – [Johann Gotthelf Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2, Königsberg, Leipzig 1772 (Expl. UB Freiburg), S.  214f. – Christian Heinrich Schmid, Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst, Leipzig 1781 (Expl. StuUB Göttingen), S. 16, 86 – Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, 21789, S. 71 – Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste (1792–1794), T.1, S. 638, 646, 677; T.2, S. 196, 507; T.3, S. 206, 302 (Artikel „Lyrisch“); T.4, S. 83 (Artikel „Reim“, bei Morhof gründlich und bündig behandelt), 768 – zu Erwähnungen Morhofs bei Herder s. Anm. 35 in der Abhandlung über die Entwicklung der Lyrikauffassung Herders in diesem Band sowie: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. XXV, Berlin 1885, S. 68 (Alte Volkslieder, T.II), 304 (Volkslieder,

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Morhof Carmina, die mit Musik verbunden sind, ursprünglich zum Gottesdienst und zum Lob der Helden dienten und bei den Deutschen Lieder genannt werden (S. 335). Mit Rücksicht auf die Musik sollen Versenden und Sinnenden oder doch Sinneinschnitte zusammenfallen (S.  338). Zum Stil und Gegenstand solcher Gedichte heißt es: „Ich wollte auch davor halten / daß man zwar außerlesene Wörter in den Liedern / die gesungen werden / aber keine gar hohe und Metaphorische Redensarten  / gebrauchen solle. Denn  / wenn die Wörter nicht verständlich sind / daß man zugleich mit dem Thon den vollkommenen Verstand der Wörter haben kann / so hat solches keine Krafft in Bewegung der Gemüther. Sonsten ist eine Ode / insonderheit wenn sie nicht gesungen wird / der höhesten Redensart fähig. J.C. Scaliger saget / proxime ad Heroici Carminis majestatem accedit. Ja sie übersteiget selbst die Heldenart / dann es sind audaciores Metaphorae und andere Redensarten zu gelassen / die man in Heroico genere nicht gebrauchen kann. Wenn die alte Prosodia der Music auch im Teutschen wäre / so könnte man Thöne und Wörter ohne grossem Nachdencken verstehen. Aber itzo muß die Deutligkeit des Carminis, der undeutlichen Music zu Hülffe kommen. Es können alle Sachen sich zu den Oden schicken / Geistliche / Sittliche / Liebreitzende / Kriegrische und dergleichen mehr / da denn zum Theil auch die Redensart sich nach der materie schicken muß“ (S. 338f.). Morhof erläutert dann weiter einzelne Arten von Oden und ihren Stil. Danach können z. B. in „Liebessachen ... nach dem die affectus sollen außgedrücket werden“, „Klagende oder verlangende Oden ... bißweilen abruptos sensus, tieffsinnige acumina haben“, in scherzenden Liedern aber muß „ein gleicher stylus“ sein (S. 342f.). „Die Metra können in den Oden vielfältig seyn“ (S. 345). „Der Trieb der Natur / oder / wie ihn die Poeten nennen / der ἐnθousiasmὸϛ, ist das vornehmbste in dieser Sache. Derselbige giebt den Erfindungen ein Leben, und wird in den Oden durch die Music erwecket / und gereitzet ... Dieser ἐnθousiasmὸϛ ist etwas / das von einer sonderlichen Glückseeligkeit der Natur kömpt / und durch die Kunst und Nachsinnen bißweilen nur gehindert wird. Es ist zu mercken  / daß insgemein die ersten Einfälle  / als welche aus diesem Triebe entstehen  / die besten sind ...“ (S. 345), „... man verderbet / an der Erfindung insonderheit / leicht etwas / wenn

T.I). – Es ist in den hier beispielhaft zusammengetragenen, unterschiedlichen Belegen für die Wirkungsgeschichte Morhofs gewiß nicht zu verkennen, daß die Erwähnungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach und nach kritischer werden und mehr den literarhistorischen als den gattungstheoretischen Passagen von Morhofs Poetik gelten. Gleichwohl ist es für die Bedeutung des Werks bezeichnend, daß es noch hundert Jahre nach seinem Erscheinen in einschlägigem Zusammenhang als erwähnenswert gilt.

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man zu viel drüber nachsinnet / und durch allzu grosse Kunst / die Natürligkeit einer Sache verdunckelt ...“ (S. 346). Hält man die Ausführungen Morhofs gegen die rund ein Jahrhundert jüngeren von Sulzer und Eschenburg, so muß auffallen, daß eine ganze Reihe von Bestimmungen wie die Ablehnung des Strophen- und Versenjambements, Vielfalt der Metren und Gegenstände, hohe Stillage, dichterische Begeisterung auch bei Morhof vorkommen, doch nicht so wie bei Sulzer und Eschenburg auf die beiden Arten, Ode und Lied, verteilt, obgleich es bei Morhof Ansätze zur Unterscheidung verschiedener Arten nach Gegenständen und Stil gibt. Auffällig ist andererseits aber auch, daß Morhof Begeisterung und Natur wichtiger findet als Kunst und Nachsinnen, obgleich doch sonst die barocke Poetik ihre Existenz der Meinung verdankt, daß der Dichter kunstreicher Anleitung zum Werk bedürfe. Solche scheinbaren Widersprüche und Unklarheiten erhellen sich, wenn man von Morhof aus noch einen weiteren Schritt zurücktut zur lateinischen humanistischen Poetik des 16. und noch des 17. Jahrhunderts, etwa zu den Werken von Julius Caesar Scaliger (1561),²⁰ den Morhof ausdrücklich zitiert,²¹ von Jacob Pontanus (1594),²² Alexander Donatus (1633),²³ Gerhard Johannes Vossius (1647)²⁴ oder Jacob Masen (1661)²⁵. Hier wird überall²⁶ in einem besonderen Abschnitt

20 Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561, hrsg. v. August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S.  47–49: lib.I, Historicus, c.44: Lyrica; S.  169: lib.III, Idea, c.124: Lyrica. Vgl. jetzt auch Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, hrsg. v. Luc Deitz u. Gregor Vogt-Spira, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 378–397 (unter der deutschen Kapitelüberschrift: Die lyrischen Gedichte); Bd. 3, 1995, S. 198–201 (deutsche Kapitelüberschrift: Die Lyrik). 21 Die von Morhof frei zitierte Stelle ist der erste Satz bei Scaliger, lib.I, c.44. 22 Jacob Pontanus S.J., Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594 (Expl. StB München), S. 133–143: lib.II, c.27–30: De lyrica Poesi. 23 Alexander Donatus S.J., Ars Poetica sive Institutionum Artis Poeticae Libri Tres, Köln 1633 (Expl. UB Münster), S. 323–346: lib.III, c.33–47 (über Dithyrambus und Ode als die zwei genera Lyrici poematis; mit vielfacher Berufung auf Scaliger). 24 Gerhard Johannes Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln), Liber III, S. 60–85: c.12–15 über das carmen lyricum. 25 Jakob Masen S.J., Palaestra Eloquentiae ligatae, P.II, Köln 1661 (Expl. UB Münster), S. 321– 481: Lyrica Poesis, Praeceptionibus & Exemplis illustrata (die Praeceptiones reichen bis zur S. 347). 26 Vgl. ferner u. a. auch: Joachim Vadianus, De Poetica et Carminis Ratione (1518). Kritische Ausgabe, hrsg. v. Peter Schäffer, Bd. 1, München 1973, S. 76–78 (knapp über das Lyricum als secunda species poematis) – Antonio Sebastiano Minturno, De Poeta, Venedig 1559 (ND München 1970), S. 378–400 (innerhalb des Liber V über das Lyricum carmen) – Giovanni Antonio Viperano, De Poetica Libri Tres, Antwerpen 1579 (ND München 1967), S. 147–155: Lib.III, c.9– 12: über das Melicum sive Lyricum – Moritz Landgraf von Hessen, Poetices methodice confor-

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die lyrische oder melische Poesie der Antike und ihrer frühneuzeitlichen Nachahmer behandelt, die nicht mit dem heutigen, erst seit dem 18.  Jahrhundert entstandenen weiteren Begriff der Lyrik identisch ist,²⁷ sondern den engeren Bereich der sangbaren strophischen Dichtung meint und für die die Humanisten auch die in der klassischen Antike ungebräuchliche Bezeichnung Ode verwenden. Lob der Götter und Helden ist ursprünglich ihr Gegenstand, dann alles, was in ein kurzes Gedicht gefaßt werden kann. Neben Sangbarkeit, Vielfalt der Gegenstände und Kürze sind varietas durch Abschweifungen, unterschiedliche Verlaufsformen und zusammengesetzte Metren, eine dem Epos vergleichbare maiestas oder ihr entsprechende suavitas, eine durch Tropen, Sentenzen und anderes gekennzeichnete Stilhöhe, libertas animi (Ungebundenheit des Geistes), ja Freiheit von Regeln und Gesetzen die wichtigsten Merkmale dieser Gattung. Bei Vossius heißt es unter anderem wörtlich: „Ordinem verò in vario argumento magis regit impetus poetae, quàm anxia artis cura. Itaque concessum etiam est subito ab uno ad aliud devolare argumentum“ (III, 75) (Die Ordnung aber in Hinsicht auf den verschiedenartigen Inhalt bestimmt der dichterische Impuls mehr als die ängstliche Sorge der Kunst. Daher ist es auch zugelassen, plötzlich von einem Gegenstand zu einem anderen zu eilen). Pindar und Horaz sind die maßgeblichen Vorbilder der Ode in der humanistischen Poetik. Stellen bei Horaz über die Vielfalt lyrischer Dichtung (ars poetica, v. 83–85), über die Mannigfaltigkeit und den hohen Schwung der Lyrik Pindars (carm. IV,2), Äußerungen Quintilians über den Rang Pindars und des Horaz (inst.orat. X,1) sind die wichtigsten antiken Belege,²⁸ auf die man sich immer wieder beruft.²⁹

matae libri duo, Kassel 1598 (Expl. LB Fulda), Bl. C6v–C7r: Lib.II, c.2: Lyricum Carmen (knappe Lehrsätze über Hymnus und Ode als Arten des Lyricum carmen) – Conrad Bachmann/Christoph Helvicus, Poetica Praeceptis, Commentariis, Observationibus, Exemplis, ex Veteribus et Recentibus Poetis, studiose conscripta, per Academiae Gissenae nonnullos Professores, Gießen 1623 (3. Auflage dieser im Schulbetrieb des 17. Jahrhunderts sehr verbreiteten Poetik, Vorrede dat. 1617; Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 324–327: Lib.II, c.6, Abschnitt: De Ode (mit wiederholter Berufung auf Scaliger). 27 Das verdeckt leider die an sich so verdienstvolle zweisprachige Scaliger-Ausgabe, indem sie an den einschlägigen Stellen (s. oben Anm. 20) wiederholt Scaligers Begriff Lyrica umstandslos als Lyrik übersetzt. 28 Zitiert im Anhang zur Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 29 Als Belege seien aus den in den Anmerkungen 20 und 22–26 genannten Werken die folgenden Stellen angeführt: Scaliger, Poetices libri septem, S. 169 – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, S. 137f., 139 – Donatus, Ars Poetica, S. 324, 327, 331 – Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, III, S.  66, 73, 81, 83f. – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, II, S. 326, 338 – Vadianus, De Poetica, Bd. 1, S. 76 – Minturno, De Poeta, S. 384f. – Viperano, De Poetica Libri Tres, S. 149 – Bachmann/Helvicus, Poetica. S. 327.

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In der Odentheorie der humanistischen Poetik liegt der Quellgrund der zuvor skizzierten Vorstellungen von Morhof wie von Sulzer oder Eschenburg und der damit verknüpften Fragen und Entwicklungen. Angesichts der fehlenden Behandlung lyrischer Arten in der sonst die neuzeitliche Poetik vor allem begründenden Poetik des Aristoteles gewinnt die humanistische Poetik eine Theorie der Ode aus philologischer Bemühung um die antiken Vorbilder. Die Merkmale der Ode, die dann über mehr als zwei Jahrhunderte hin tradiert werden, sind das Ergebnis einer Pindar- und Horaz-Exegese,³⁰ die geleitet wird von den Äußerungen Quintilians und des Horaz und angetrieben wird vom Willen, der imitatio der antiken Muster ein theoretisches Fundament auch in dieser Gattung zu geben und damit eine eigene mit der Antike wetteifernde Dichtung zu begründen. Daß dabei Verschiedenartiges, das zu Differenzierungen Anlaß geben könnte oder gar müßte, nebeneinander steht – das von Pindar abgeleitete Hohe und Schwungvolle etwa neben der von Horaz kommenden, auch weniger Hohes umfassenden Vielfalt der Odengegenstände – das muß kein Problem sein, so lange es um eine im Medium der lateinischen Sprache unmittelbar mögliche imitatio und angesichts der Schwierigkeit Pindars eigentlich doch nur um eine imitatio des wichtigsten Musters Horaz geht. Anders jedoch, wenn solche Bemühung sich im 17. Jahrhundert in deutscher Sprache vollziehen soll. Welche Schwierigkeiten das bringt, welche von den antiken und humanistischen Mustern und Anweisungen abweichenden Regelungen das doch erforderlich macht, spiegelt die Poetik Morhofs stellvertretend für die anderen deutschen Poetiken, die an diesem Punkt meist knapper bleiben als der gelehrte Kieler Professor. Symptomatisch sind vor allem zwei, zunächst vielleicht eher unscheinbar wirkende Momente bei Morhof: die Ablehnung des Vers- und Strophenenjambements und die Erörterungen über die Stillage verschiedener Odenarten. Die Ablehnung des Enjambements, auch in der übrigen deutschen Barockpoetik selbst bei knappster Behandlung der Oden oder Lieder genannten Gedichte fast stets ausdrücklich erwähnt,³¹ fehlt bei der Behandlung der Ode in der vorange-

30 Ihrem Ursprung und ihrer wirkungsmächtigen Entfaltung in den humanistischen Pindarund Horaz-Kommentaren gilt die Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 31 Vgl. dazu Buchner, Anleitung Zur Deutschen Poeterey, S. 165 – Johann-Henrich Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, Bremen 1660 (Expl. LB Hannover), S.  171ff. (... stehet einem jeden frey / di Oden nach Beliben zu sezzen / doch daß ein völliger Verß in den Oden auch einen völligen Verstand begreiffe ...) – [Johann Hofmann], Lehr-mässige Anweisung, S. 81 – Männling, Der Europaeische Helicon, S. 148 (... es muß aber eine vollkommene Meinung in jede Strophe gebracht werden) – Neumark, Poetische Tafeln, Anmerkungen von Kempe, S. 219 (Eine Strophe / das ist ein Satz eines Liedes / ist die Richtschnur des gantzen Getichtes / ... und soll allezeit eine richtige Meinung in sich schliessen / von welchem Zwang die Hero-

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henden humanistischen Poetik in lateinischer Sprache.³² Sie muß hier fehlen, weil die antiken Formen und Muster, zu deren imitatio in lateinischer Sprache

ischen Verse [sc. das Epos oder Heldengedicht] / wie bekant / entfreyet seyn) – Georg Philipp Harsdörffer, Poetischer Trichter, Nürnberg 1648–1653 (ND Darmstadt 1969), T.1, S. 119 – Omeis, Gründliche Anleitung, S. 89 – Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, T.1, Bl. C 2rf., D7v, Tit. V. Von den gemeinen Oden oder Liedern (Wenn ein Gesetzgen aus ist / so muß der sensus zugleich aus seyn / welches die Alten in ihren Liedern nicht allemahl beobachtet haben) – Titz, Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, Bl. N3v f. – Philipp von Zesen, Sämtliche Werke, Bd. IX, Deutscher Helicon (1641), hrsg. v. Ulrich Maché, Berlin, New York 1971, S. 59. 32 Nur hier und da finden sich Stimmen, die das Enjambement in antiker oder in aller lateinischen Dichtung – über seine gelegentliche Erwähnung als Merkmal des epischen Hexameters hinaus – eigens diskutieren und lange als zulässig rechtfertigen, und sie lassen zunehmend ahnen, daß sie sich im Zusammenhang mit einer allmählich sich im Wetteifer mit der antiken Überlieferung entfaltenden Dichtung in der Volkssprache dazu veranlaßt sehen: u. a. Scaliger (1561), S. 77 (l.II, c.33): unter Berufung auf Beispiele bei Ovid, Horaz und Catull Widerspruch gegen „multi“, die „curiose seruatum voluere: vt sententiae simul cum strophis absoluerentur“ – Pierre Ronsard im „Avertissement aux Oeuvres“ (1587) über die Gestaltung des Alexandriners in seiner „Henriade“: „J’ay esté d’opinion, en ma jeunesse, que les vers qui enjambent l’un sur l’autre, n’estoient pas bons en nostre poësie; toutefois j’ay cognu depuis le contraire par la lecture des bons autheurs Grecs et Romains“ (Oeuvres complètes II, Paris 1950, S. 1022) – Pontanus (1594), S. 76: Rechtfertigung des Enjambements als insigne ornamentum des epischen Hexameters (in Übereinstimmung mit Äußerungen wie diesen von Ronsard und Pontanus rechtfertigt Opitz im siebenten Kapitel seines „Buchs von der Deutschen Poeterey“ das Enjambement im deutschen Alexandriner; Ges. Werke, Bd. II/1, S. 395) – Erasmus Schmid in seiner Pindar-Ausgabe (1616; Expl. HAB Wolfenbüttel), T.I, S. 47: zum Enjambement bei Pindar (in den Prolegomena „De Carminibus Lyricis“, die für bestimmte Phänomene auch zeitgenössische deutsche Verse heranziehen) – Bachmann/Helvicus (1623), S. 233: unter Berufung auf Scaliger und mit Beispielen aus Virgil und Horaz Abwehr einer Ablehnung des Enjambements und seine Kennzeichnung als besonderer Liebreiz, unter anderem in den Lyrica. Anders hingegen der aus dem frühbarocken Kreis um Simon Dach stammende und später lange als Professor Poeseos ac Historiarum in Tübingen wirkende Christoph Kaldenbach, der in lateinischer Sprache eine Poetik für deutsche Verse schreibt (Poetice Germanica, Nürnberg 1674; Expl. StuUB Göttingen) und darin (S. 26) unter Berufung auf Opitz für Alexandriner und vers communs das Enjambement zuläßt, für Lyrica hingegen in Übereinstimmung mit der deutschsprachigen Barockpoetik ablehnt: „Secus fit in aliis Carminibus, praesertim Lyricis, quorum Strophae cum clausulis sententiam finiunt“. Um die Mitte des 18.  Jahrhunderts schließlich kann man – in dem Augenblick, in welchem vor allem mit Klopstocks Oden eine lyrische Dichtung beginnt, die die Möglichkeiten des Enjambements eindringlich zu nutzen weiß – in der Einleitung „Ungebundener Uebersetzungen der Gedichte des Q. Horatius Flaccus“ von Friedrich Groschuf (Kassel 1749; Expl. StuUB Göttingen) als ein besonders eigenartiges Beispiel für die lange Wirkung der Ausschließung des Enjambements aus deutschsprachiger Dichtung, die hier nun auch den lateinischen Musterautor antiker Odendichtung erfaßt, Bemerkungen lesen (Bl.  *6rf.), die zwar einräumen, daß die „Verrückung des Verstandes in die folgende Strophe“ nicht so sehr darum hart klinge, „weil unser Geschmack daran noch nicht gewöhnet ist“, son-

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die humanistische Poetik anleitet, zu solcher Regel keinen Anlaß geben. Wenn dagegen die barocke Poetik immer wieder die Ablehnung des Enjambements betont, so ist gerade diese Differenz ein Indiz dafür, daß sie die von der humanistischen Poetik behandelten lateinischen Oden mit der aus vorbarocker Überlieferung stammenden deutschen Lieddichtung im Sinne einer imitatio veterum ohne weiteres identifiziert. Strophische Gliederung und Beziehung zur Musik, die beiden Erscheinungen eigen sind, bieten dafür die Voraussetzung. Wie immer man sich aber die Wirkung antiker Metrik und einen Zusammenhang antiker lyrischer Poesie mit Musik vorstellen mochte,³³ die Eigenart der deutschen Liedstrophen und der zu ihnen üblichen Musik machte im Blick auf Sangbarkeit und auf Verständlichkeit des Gesungenen die Forderung notwendig, Verse und Strophen möglichst weitgehend als in sich geschlossene Einheiten zu behandeln. Die Identifizierung antiker Oden und deutscher Lieder wirkt auch bei der Unterscheidung verschiedener Odenarten und ihrer Stillagen, wie sie bei Morhof begegnen, mit. Ansätze dazu liegen zwar in der humanistischen Odentheorie, die von der Vielfalt der Gegenstände spricht und dementsprechend die Angemessenheit unterschiedlicher Stillagen andeutet.³⁴ Wenn Morhof aber die Stilhöhe unter anderem danach unterscheidet, ob ein oden- oder liedartiges Gedicht gesungen wird oder nicht, dann geht auch für die genauere Zuordnung von Odenarten und Stillagen ein entscheidender Impuls offenkundig von jener Identifizierung von antiker und humanistischer Ode und deutschem Lied aus, und zwar wiederum wegen der bei Vertonung und Gesang nötigen Rücksicht auf Verständlichkeit wie überhaupt wegen des daraus resultierenden herkömmlich einfacheren Stilcharakters deutschsprachiger Lieddichtung, der die Gattung im ganzen Jahrhundert des Barock von anderen deutlich abhebt und eine Dif-

dern „weil es eine ganz andere Beschaffenheit mit dergleichen lateinischen Versen hat“ als mit „unserer deutschen Dichterey“, es dann aber doch sogar „dem Horaz allemal zum Fehler und zu einer Dürftigkeit“ auslegen, „wenn er den Schluß seiner Gedanken über die Grenzen der Strophe ausdehnen muß“, und erklären: „Besser sind die Oden ausgearbeitet, in welchen der Vers mit dem Verstande zugleich sich endiget“. 33 Zu den Bemühungen um eine Vertonung antiker Odenformen in der Frühen Neuzeit und zu deren Schwierigkeiten vgl. Karl-Günther Hartmann, Die humanistische Odenkomposition in Deutschland. Vorgeschichte und Voraussetzungen, Erlangen 1976. 34 Vgl. u. a. Scaliger, Poetices libri septem, S. 338f. (l.VI, c.7) – Donatus, Ars Poetica. S. 331f. – Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, III, S. 75f. – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, II, S. 332ff. (insbes. S. 335: In compositione verborum sententiarumque videndum ut cum rebus consentiat oratio, quae in hac poesi omnis conditionis atque ordinis sunt, ut humiles, quae exponunt docentve … mediocres item quae in descriptionibus rerum cultioribus … occupantur, denique & sublimes, quae ad affectiones animorum impellendos valent).

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ferenzierung der lyrischen Arten dringlicher machen mußte, als das zuvor die durchaus wahrgenommene Vielfalt der Horazischen Muster tat. In Morhofs Ausführungen, die sich aus der Gleichsetzung deutscher Lieddichtung mit der zur aemulatio herausfordernden antiken Ode ergeben, liegen Voraussetzungen für die spätere Unterscheidung von Ode und Lied. Daß die systematische Grundlage dafür bei Morhof in der rhetorischen Lehre von den genera dicendi und vom aptum, der Angemessenheit von Gegenstand und Stil liegt – auf dieses bedenkenswerte Faktum wird noch zurückzukommen sein. Die bemerkbaren Unterschiede zwischen Morhof und der humanistischen Poetik weisen darauf hin, daß der von der literarhistorischen Forschung oft gerügte synonyme Gebrauch der Begriffe Ode und Lied nicht Ausdruck von Unverständnis oder terminologischer Unsicherheit ist, sondern Zeichen zwangsläufiger Identifizierung. Der die deutsche Literatur des 17.  Jahrhunderts kennzeichnende Versuch, antike Poetik und Dichtung und deren humanistische Erneuerung fruchtbar zu machen für eine Dichtung in der eigenen Sprache, muß im Bereich lyrischer Dichtung dazu führen, daß die überkommene deutsche liedhafte Dichtung als die Entsprechung zur antiken Odendichtung verstanden wird. Daß das nicht ohne gewisse Spannungen gehen kann, zeigen, wie bei Morhof besonders deutlich wird, einzelne Momente der barocken Theorie. Entscheidend für die weitere Entwicklung aber ist nicht die aus solchen Spannungen sich herleitende Frage, ob und wann denn eine konsequente Unterscheidung von Ode und Lied vorgenommen wird. Entscheidend ist vielmehr, daß für eine Theorie lyrischer Dichtung die in der humanistischen Odentheorie formulierten Vorstellungen übernommen werden. Damit unterliegt auch die strophische, mehr oder weniger eng in Zusammenhang mit der Musik stehende deutsche Dichtung Erwartungen, die aus der antiken Überlieferung abgeleitet worden sind. Nur unter diesem Vorzeichen, erst im Gefolge der daraus hervorgehenden Entwicklungen kommt es späterhin zu einer Unterscheidung von Ode und Lied. Die aus deutscher Liedüberlieferung und humanistischer Odentheorie gespeiste Theorie strophischer Dichtung mit ihrer durchaus konsequenten synonymen Verwendung der Begriffe Ode und Lied bleibt in dem Stand, wie ihn etwa schon Morhof repräsentiert, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein erhalten,³⁵

35 Vgl. u. a. Anon., Anleitung zur Poesie (1725), S. 108–113, XI. Kap. Von geistlichen und weltlichen Oden – J.A. Fabricius, Philosophische Redekunst ... Nebst einem Entwurfe einer Teutschen Dicht- und Sprachkunst, 1739, II, S. 401f., § 123–130 (im Rahmen eines knappen Abrisses der Poetik) – Köhler, Einleitung zu der reinen deutschen Poesie, 1734, S. 110–139: 7. Kap., § 1. Von gemeinen Oden (unter Berufung auf Morhof); § 2. Von Pindarischen Oden (in beiden Paragraphen knappe praecepta mit einer Reihe von exempla) – J.G. Neukirch, Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie, 1724, S. 863–882: Von Oden / Ringel-Oden und Pindarischen Oden

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weil – bei aller Kritik an manchen Erscheinungen des Barock – auch die allgemeinen humanistisch-rhetorischen Grundlagen der Poetik so lange erhalten bleiben. Zwar liefert Boileau in seinem „Art poétique“ von 1674 mit dem Vers vom „beau desordre“³⁶ – nach seiner eigenen späteren Erläuterung ein in der Regel der Nichtbeachtung von Regeln bestehendes Geheimnis der Kunst³⁷ – der deutschen Poetik ein seit dem frühen 18.  Jahrhundert nach und nach immer häufiger und selbstverständlicher wiederholtes Stichwort.³⁸ Zwar vermittelt die

(knappe praecepta mit einer Reihe von exempla; Berufung auf Scaliger und Morhof) – Woken, Anleitung zur Teutschen Poesie, 1715, S. 49–51: 11. Kap. Von Pindarischen Oden; S. 51–61: 12. Kap. Von Arien und Liedern (rudimentäre praecepta mit einer Reihe von exempla). – Kennzeichnend für die unangefochtene Geltung bestimmter Grundvorstellungen ist es etwa auch, wenn Friedrich Andreas Hallbauer in seiner „Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie“ (Jena 1725; ND Kronberg 1974) innerhalb eines knappen Abrisses „Von der teutschen Poesie“ (T.III, 6. Kap.) die Ode lediglich mit diesen drei Sätzen charakterisiert: „Eine Ode ist ein Lied, welches aus verschiedenen Strophen bestehet. Jede muß einen vollkommenen Verstand ausmachen. Geistliche Oden findet man in allen Gesangbüchern“ (S. 779) oder wenn im Gefolge der humanistischen Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts sogar noch in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts Schulwerke zur Poetik in lateinischer Sprache erscheinen, die einen knappen Extrakt einer langen Tradition bieten: F.X.A.S.J., Polymathia Poetica, Augsburg, Freiburg 1757 (Expl. Deutsches Institut, Universität Mainz), S. 122–126: Lyricum Carmen (unter Berufung auf Masen) – Anon., Artis Rhetoricae et Poeticae Institutiones, Breslau 1775 (Expl. Deutsches Institut, Universität Mainz), S. 335–337: De Poemate Lyrico. 36 Nicolas Boileau, L’Art Poétique, hrsg. v. August Buck, München 1970, S.  67 (Chant. II, v. 71–72): Son stile impetueux souvent marche au hazard. Chez elle un beau desordre est un effet de l’art. 37 Nicolas Boileau, Oeuvres complètes, Paris 1966 (Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 188), S. 227 (Discours sur l’Ode, 1693): „Ce precepte effectivement qui donne pour regle de ne point garder quelquefois de regles, est un mystere de l’Art, qu’il n’est pas aisé de faire entendre à un Homme sans aucun goust, qui croit que la Clelie et nos Opera sont des modeles du genre sublime …“. 38 Morhof, der (Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 21700, S. 355) Boileaus Satiren und seine Ps.Longin-Übersetzung erwähnt, dürfte auch seinen „Art poétique“ gekannt haben, zitiert ihn aber nicht im Kapitel „Von den Oden“ oder an anderer Stelle. Entsprechendes gilt fünfundzwanzig Jahre später für die anonyme „Anleitung zur Poesie“, worin neben anderen Gewährsleuten der Poetik auch der „Msr Boileau in Franckreich de arte poёtica“ (S.  18) genannt, jedoch nicht zitiert wird im Kapitel „Von geistlichen und weltlichen Oden“, wo nur Boileaus „Ode auf die Eroberung Namur“ (S. 110) als Beispiel einer Pindar nachahmenden Ode erwähnt wird. Drei Jahre früher allerdings – alle hier angeführten Belege können freilich nicht den Anspruch einer absoluten Chronologie der deutschen Boileau-Rezeption erheben – findet man in Bodmers und Breitingers „Discoursen der Mahlern“ (Zürich 1721–1723; ND Hildesheim 1969) eine Nachdichtung der Verse II, 1–72 des „Art Poétique“ (S. 33–35) mit der gegen noch verbreitete Dispositionsanweisungen nach Regeln der Logik gerichteten Schlußfolgerung: „Die künstlichste Ode ist diese / in welcher die Kunst verborgen ist / und in welcher der Poet / ohne

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französische Odentheorie des späten 17. und frühen 18.  Jahrhunderts, in den Schriften der Boileau, Houdar de la Motte, Jean-Baptiste Rousseau oder Remond de Saint-Mard,³⁹ der deutschen Poetik im Zeichen einer wachsenden Ps.LonginRezeption eine Hervorhebung der Beziehung der Ode zum Erhabenen. Aber das sind – entgegen verbreiteter Meinung ⁴⁰ – nicht wirklich neue Erwartungen,

sich an die Regeln einer methodischen Chria zu binden / keine Ordnung folget / als diejenige welche ihm seine poetische Hitze oder der Enthusiasmus an die Hand giebet ...“ (T.II, 1723, S. 39). Gottsched hat in seiner „Critischen Dichtkunst“ am Ende des Kapitels „Von Oden oder Liedern“ in der 1. und 2. Auflage (1730, 1737) „des Boileau Regeln von der Ode“ (Art Poétique, II,58–77 und 81) zitiert (Gottsched, Ausgewählte Werke, Bd. VI/3, Variantenverzeichnis, S. 82) und in der 3. und 4. Auflage (1742, 1751) nur den entscheidenden v.72 vom „beau desordre“ mit der Bemerkung „man pflegt zu sagen, daß eine schöne Unordnung in der Ode die Probe der höchsten Kunst sey. Boileau schreibt ...“ (4. Aufl., S. 435). Weitere Belege für die Rezeption von Boileaus Formel in den folgenden Jahrzehnten: Jakob Immanuel Pyra, Fortsetzung des Erweises, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe, Berlin 1744 (ND Hildesheim, New York 1974), S. 25 (wonach Gottsched die „schöne Unordnung“ der Ode nicht zureichend erklärt habe) – (Samuel Gotthold Lange), Die Lehre von der Ode (in: Der Gesellige, T.1–4, 1748– 1749; ND Hildesheim u. a. 1987: T.4, 155 St.), S. 102f. (mit eingehender Erläuterung der schönen Unordnung im Verein mit anderen traditionellen Momenten der Odentheorie) – Dommerich, Entwurf einer Deutschen Dichtkunst, 1758, S. 42 (zu Dommerich und seiner Poetik s. in diesem Band die Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“) – Anon., Von der Ode. Ein Versuch, in: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, Bd. 2, St. 1, Breslau 1763, S. 152–177 (Expl. UB Erlangen), S. 161–163: Die schöne Unordnung (neben Abschnitten wie „Der Enthusiasmus“, „Der odenmäßige Schwung“, „Die Kürze“, „Das Erhabene“, „Der Plan“). 39 Dazu neben seinem „Art poétique“ und dem „Discours sur l’Ode“ (s. oben Anm. 36 und 37) auch Boileaus 1674 erschienene Übersetzung der Schrift perὶ ὕψouϛ die entscheidenden Anteil an der Ps.Longin-Rezeption im späten 17. und im 18. Jahrhundert gehabt hat – vgl. ferner (z.T. an Boileau anknüpfend): Antoine Houdar de la Motte, Discours Sur la Poёsie en géneral, & sur l’Ode en particulier (11709) in: Oeuvres, Tome Premier, Premiere Partie, Paris 1754 (Expl. Martinus-Bibliothek, Mainz), S. 13–60 – Jean Baptiste Rousseau, Odes, Cantates, Épigrammes, Épîtres et Poésies diverses, T.1, Paris 1799 (Expl. LB Karlsruhe; 11723), S. 5 (Préface) – Toussain Remond de Saint-Mard, Réflexions sur la Poésie en général, sur l’èglogue, sur la fable, sur l’élégie, sur la satire, sur l’ode et sur les autres petits poèmes, La Hague 1734 (ND Genf 1970), S. 193–250: Sur l’Ode. 40 Ein besonders markantes Beispiel für eine von den historischen Voraussetzungen und dem sachlichen Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen der Odentheorie abgelöste und daher zu fragwürdigen Deutungen und Thesen neigende Erörterung des beau desordre sind die Ausführungen von Herbert Dieckmann (Zur Theorie der Lyrik im 18. Jahrhundert in Frankreich, S. 83ff., in: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. v. W. Iser, 1966, S. 73–112) und insbesondere der entsprechende Teil der ihnen geltenden Diskussion (S. 401ff.).

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sondern schon in der humanistischen Poetik vorhandene Vorstellungen,⁴¹ die in der französischen Poetik wirkungsvoll formuliert und vorgetragen werden, aber mit der Fortgeltung der humanistischen Poetik und ihrer Hauptwerke⁴² als Fundament einer deutschsprachigen Poetik auch für die deutsche Literatur bis ins 18. Jahrhundert hinein präsent geblieben sind. So ist eine nennenswerte Veränderung der Theorie bis hin etwa zu Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ kaum festzustellen, auch wenn man an der Dichtung selbst beispielsweise bis hin zu den von Gottsched 1728ff. publizierten „Oden und Cantaten“ der „Deutschen Gesellschaft in Leipzig“ beobachten könnte, in welchem zunehmenden Umfang sie in gereimten Strophen den überlieferten, aus antiken Mustern abgeleiteten Anforderungen der Theorie der Oden oder Lieder über die Lieddichtung des 17. Jahrhunderts hinaus nachzukommen trachtet. Fortschreitende Ps.Longin-Rezeption⁴³ und Schätzung der Psalmen als herausragender Muster der Ode, Baumgartens Ästhetik mit ihrer Frage nach der

41 S.  dazu das oben angeführte Scaliger-Zitat Morhofs (S.  338f.) zur maiestas der Ode (vgl. auch Anm.  21) und das Vossius-Zitat „magis regit impetus poetae, quam anxia artis cura“ (III,75) sowie die damit verwandte Stelle bei Morhof (S. 345); vgl. auch die einschlägigen Hinweise in der Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 42 Auch wenn die Barockpoetik, da es ihr um die Anwendung der tradierten praecepta auf eine deutschsprachige Dichtung und deren Erläuterung durch deutschsprachige exempla geht, viele grundlegende Vorstellungen oft nur andeutet oder gar nicht eigens erörtert, wird doch an mancherlei Hinweisen deutlich, wie sehr vor allem die Werke von Scaliger und G.J. Vossius, aber auch Schriften von Casaubonus, Heinsius und anderen als die maßgeblichen und den gelehrten Autoren und Lesern bekannten Quellen vorausgesetzt werden, die es nicht selten auch erlauben, die Anführung bestimmter praecepta von allgemeiner Gültigkeit durch die Nennung eines Gewährsmanns zu ersetzen: vgl. dazu neben Opitz, der Scaliger als eine seiner Quellen intensiv genutzt, aber offenkundig nur an zwei, allerdings markanten Stellen (Buch von der Deutschen Poeterey, in: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 343, 360) namentlich genannt hat, u. a. Buchner, Anleitung Zur Deutschen Poeterey, S.  13f. (Von dem ersten und andern – i.e. „Erfindung der Sachen“ und deren „Ordnung“, inventio und dispositio – haben wir nicht Ursach viel Worte zu machen / weil ... der Hochgelehrte Scaliger in seinem dritten Buch von der Poeterey hiervon statlich und satsam Bericht gethan hat  / dessen man sich gebrauchen kann“), 18, 32 – Harsdörffer, Poetischer Trichter, T.1, S. 1, 16, 106; T.2, S. 71, 72, 75, 80, 84, 93, 95, 99 – Neumark, Poetische Tafeln: Anmerkungen von Kempe, S. 217, 310 – Rotth, Vollständige Deutsche Poesie: s. die Nachweise insbes. zu Scaliger im Register in Band 2 des Nachdrucks – Titz, Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen: in den Marginalien eine Fülle von Nachweisen zu Scaliger als wichtigstem Gewährsmann. 43 Während frühe Hinweise auf Ps.Longin bei Morhof (Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, S. 319, 322, 355, 358), aber auch noch in der anonymen „Anweisung zur Poesie“, 1725 (S. 25) eher beiläufiger Art bleiben und auch Gottsched ihn, obgleich er ihn schon in der Vorrede zur 1. wie zur 2. Auflage der „Critischen Dichtkunst“ (1730, 1737; s. Ausgewählte Werke, Bd. VI/1, S. 13) zu den „größten Meistern und Kennern der Dichtkunst“ zählt, in den Kapiteln

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Eigenart des Dichtungsvermögens, die von ihr entscheidend geförderte Entwicklung einer psychologisch fundierten, auf die Analyse der Seelenvermögen gerichteten Produktions- und Wirkungsästhetik, die damit zusammenhängende Neubestimmung, Erweiterung, Veränderung grundlegender traditioneller Begriffe der humanistischen Poetik, die in solchem Rahmen sich entwickelnden und artikulierenden veränderten Dichtungserwartungen, wie sie etwa Bodmer und Breitinger wirkungsvoll vertreten – all das läßt von der Mitte des 18. Jahrhunderts an Bewegung in die Theorie der Ode kommen, macht sie zum Gegenstand besonderer Traktate und breiter Erörterungen in den Werken zur Poetik und Ästhetik, ja gibt ihr unter Umdeutung und Neuwertung tradierter Bestimmungsmerkmale paradigmatische Bedeutung. Georg Friedrich Meier, Schüler und Propagator Baumgartens, in dessen früher Schrift „Meditationes Philosophicae De Nonnullis ad Poema Pertinentibus“ (1735) man lesen konnte: „Sensiones fortiores sunt clariores, ergo magis poeticae, quam minus clarae, & imbecilles ... sensiones fortiores comitantur affectum vehementiorem ... Ergo excitare affectus vehementissimos maxime poeticum“⁴⁴ (Stärkere Empfindungen sind klarer, also poetischer als weniger klare und schwache. Stärkere Empfindungen begleiten einen stärkeren Affekt ... Also ist das Erregen heftigster Affekte in höchstem Grade poetisch) – Meier entwickelt 1747 in seiner „Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst“⁴⁵ einen Gegenentwurf zu Gottscheds Behandlung der Ode und macht darin das

„Von verblümten Redensarten“ (ND der 4. Aufl., S. 285) und „Von der poetischen Schreibart“ (S. 347, 366, 371) nur an einzelnen Stellen seiner Ausführungen zur Eigenart des poetischen Stils heranzieht, setzt fast zur selben Zeit vor allem bei Bodmer und Breitinger – beginnend mit einzelnen Stellen in den frühen Schriften und voll entfaltet dann in ihren Hauptschriften aus den 40er Jahren – eine breiter werdende und folgenreiche Diskussion über Ps.Longin auch im deutschen Sprachbereich ein, zu deren frühen Dokumenten z. B. auch die nur handschriftlich überlieferte Schrift „Über das Erhabene“ (ca. 1738/42) von Immanuel Jacob Pyra gehört (hrsg. v. Carsten Zelle, Frankfurt a.M. 1991). 44 Halle 1735 (Expl. UB Halle), S. 13, § XXVII; s. auch die zweisprachige Ausgabe, übers. v. Heinz Paetzold, Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek, Bd. 352), S. 26f. 45 Halle 1747 (Expl. StB München), § 185–191. – Einen Vorläufer hat Meier mit seiner Gottsched-Kritik in Carl Friedrich Brämer, der im historischen Teil seiner Abhandlung „Gründliche Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst“ (1744) den „Begrif der Poesie“ in Antike und Neuzeit kritisch mustert und im vorvorletzten § 71 (S. 94–99) Widersprüche in der Konzeption Gottscheds bloßlegt, um im vorletzten § 72 (S. 99–101) positiver, wenn auch nur knapp von Bodmer und Breitinger zu sprechen und im letzten § 73 (S. 101f.) zwar nur noch kurz, aber sichtlich interessiert auf Baumgartens „Dissertatio“ und ihren „ganz neuen Begrif von einem Gedicht“ hinzuweisen, „welcher unserer Aufmerksamkeit wehrt ist, weil er vom Herrn Baumgarten kommt“.

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Pathetische zum Zentralbegriff, ausgehend von dem auf Baumgarten zurückweisenden Satz „Das Pathetische ist die gröste poetische Schönheit“ und der daran anknüpfenden Folgerung: „Ich setze also den Unterscheidungs-Character einer Ode, was die Gedancken betrift, darin, daß sie durchgehends pathetisch seyn muß, ob gleich nicht in einerley Grade“ (S. 257). Fast in denselben Jahren hebt Samuel Gotthold Lange, zu dessen „Horatzischen Oden“ (1747) G.F. Meier eine Vorrede vom Wert der Reime beigesteuert hatte,⁴⁶ in der Vorrede seiner Horaz-Übersetzung (1752) die Beherrschung der Sprache der Leidenschaften und Gemütsbewegungen an Horaz hervor ⁴⁷ und preist in der Vorrede seiner Breitinger gewidmeten Psalmennachdichtung (1746) die durch Feuer und Schwung ausgezeichneten Psalmen als untadelhaftes, Pindar und Horaz weit hinter sich lassendes Muster der Ode.⁴⁸ Ähnlich äußert sich nur wenig später der Klopstock-

46 Samuel Gotthold Lange, Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime, Halle 1747 (ND Stuttgart 1971); Meiers für die Reim-Diskussion dieser Jahre wichtige Vorrede auf S. 3–21. 47 Des Quintus Horatius Flaccus Oden fünf Bücher und von der Dichtkunst ein Buch poetisch übersetzt von Samuel Gotthold Lange, Halle 1752 (ND z.T. im Anhang zu: Lange, Horatzische Oden), Bl. a4v f.: „Horatz ... beobachtete die Wortfügung der Lateiner, die doch so viele Freyheit besitzet, so wenig ... weil er wohl wußte, daß die Sprache der Leidenschaften und Gemüthsbewegungen (welche die Sprache der Dichtkunst überhaupt, und der Ode insbesondere ist,) sich von der Sprache der Unterredung durch etwas mehr, als durch das Sylbenmaaß unterscheide. Horatz war ein Dichter ... der Affect riß ihn hin, er redet lauter Empfindungen, und mahlet in einer beständigen Entzückung. Sein Feuer verstattete ihm keine erkältende Ordnung gemeiner Wortfügung ... Seine vorzügliche Stärke bestehet theils in dem Schwung seiner Gedanken, der etwas plötzliches und unvermuthetes eigen hat, theils in der kraftvollen Kürze, und selbst in der Versetzung der Wörter, die er in solcher odenmässigen Unordnung unter einander wirft, oder vielmehr kunstreich ordnet, als sie sich dem Gemüthe des Lesers darstellen sollen“. 48 S.G.L. Oden Davids oder poetische Uebersetzung der Psalmen, mit einer Vorrede Sr. Hochwürden, des Herrn Doctor [Sigmund Jakob] Baumgarten, T.1 Halle 1746 (Expl. UB Marburg), Bl. )(5v: „Hier finden wir ein untadelshaftes Muster der Ode. Pyndar und Horatz, die grossen Dichter, welche in der Ode geleistet haben, was man nur von menschlichen Kräften fodern kann, bleiben weit zurücke. Die Ursache ist leicht zu errathen ... warum sie unter die davidische Ode bleiben ... Es ist ... nicht zu verwundern, daß das Erhabene in diesen Gedichten das höchste sey. Nichts ist erhabener als GOtt und seine Handlungen ...“; Bl. )(6vf.: „es kan ein jeder leicht begreiffen, daß ein Gedichte nicht besser, als durch ein Gedichte übersetzet wird ... Insbesondere können Oden nicht besser als durch Oden übersetzet werden. Das Feuer, der Schwung, die Kürtze sind ihnen so eigen, daß sie in aller andern Art zu übersetzen etwas verliehren ... Ich habe daher meine Uebersetzung nach dem äusserlichen meiner Urkunde gerichtet“. – Es ist für die Entfaltung und die Wandlungen der Odentheorie um die Mitte des 18. Jahrhunderts höchst bezeichnend, wie S.G. Lange, der auch mit einer eigenen Abhandlung über „Die Lehre von der Ode“ (1749; s. oben Anm. 38) daran teilgenommen hat, mit großer Selbstverständlichkeit in seinen Vorreden verschiedene Bestimmungsmerkmale der Ode als literaturkritisches

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Freund Johann Andreas Cramer in Vorreden und Abhandlungen zu seiner seit 1755 veröffentlichten Psalmen-Nachdichtung.⁴⁹ 1759 erscheint in der von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn herausgegebenen „Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste“ die deutsche Übersetzung einer Abhandlung Edward Youngs „über die lyrische Dichtkunst“;⁵⁰ darin heißt es von der Ode, sie sei „an Empfindung, Schall, Ausdruck und Ausführung entfernter von der Prose“ als irgendeine andere Dichtungsart, sie solle hinreißen (S.  210), es sei ihr wahres Verdienst, „einige

Instrumentarium zur Wertung der Psalmen oder der weiterhin als mustergültig verstandenen Oden des Horaz benutzt. Vergleichbares läßt sich auch schon in Bodmers Vorrede zu der für die Situation der Lyrik um die Jahrhundertmitte so wichtigen Sammlung „Freundschaftliche Lieder“ (1745) von Lange und Pyra beobachten (hrsg. v. August Sauer, Heilbronn 1885; ND Nendeln 1968), worin (S. 6) das neuartige Vergnügen „an dem poetischen Taumel, an dem Scheine der Unordnung, an den unerhörten Ausdrücken, und den Bildern“ ausgespielt wird gegen die nicht mehr befriedigenden „abgepaßten Schritte der Oden ..., wo die Ordnung so methodisch, so mechanisch ist, als einer Chrie“, gegen die „abgenutzten moralischen Lehren, welche mit dem Hertzen in keiner Verbindung stehen, und mit der Ode kein Gantzes ausmachen“. 49 Johann Andreas Cramer, Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben. Erster – Vierter Theil, Leipzig 1755–1764 (Expl. StB München), darin insbes. T.I, S. 257–290: Von dem Wesen der biblischen Poesie; T.IV, S. 263–288: Von dem poetischen Charakter der Psalmen; S. 291–336: Von den Vorzügen der Schreibart in den Psalmen. Begeisterung, Feuer des Affekts, Pathos, scheinbare Unordnung sind Aspekte der sich in diesen Jahren entfaltenden Odentheorie, die von Cramer zur Charakterisierung der Psalmen als erhabener Poesie herangezogen werden, verbunden wie bei Lange mit der Abgrenzung der Psalmen gegen die antike lyrische Poesie (T.I, S. 236 gegen Pindar und Alkaios; T.IV, S. 335 gegen Pindar und Horaz). Wie sehr Cramer in den nach und nach erscheinenden Teilen seiner PsalmenNachdichtung teilhat am Gang der vor allem der Odentheorie geltenden ästhetischen Diskussion dieser Jahre zeigt sich auch an seiner offenkundigen Vertrautheit mit dem (freilich nur selten genannten) Ps.Longin, an seiner Beteiligung an der beginnenden Auseinandersetzung mit Batteux (s. T.I, S.  260; vgl. auch die entsprechende Passage in der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band) und an seiner aufmerksamen und achtungsvollen, aber auch kritischen Rezeption (s. T.IV, S. 264–288) der kurz vor dem 1. Teil von Cramers PsalmenNachdichtung erstmals in Oxford veröffentlichten und in Deutschland vor allem durch die wenige Jahre später erschienene Ausgabe von J.D. Michaelis wirksam gewordenen „De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones Academiae Oxonii habitae“ von Robert Lowth (s. die bibliographischen Nachweise und die Belege für Herders Lowth-Rezeption in Anm. 27 sowie 112 der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“) und seiner verdienstvollen, aber nicht zureichenden Deutung der Psalmen als Oden. 50 Bd. 2, Berlin 1759 (Expl. UB Freiburg), 1. Stück, S. 206–219. Der englische Text „A Discourse on Lyric Poetry“ (1728) in: Edward Young, The Complete Works. Poetry and Prose, ed. by James Nichols, Vol. I, London 1854 (ND Hildesheim 1968), S. 414–419 (im Anschluß an Youngs „Ode to the King“). Die deutsche Übersetzung gibt den englischen Text zuverlässig und zumeist wörtlich wieder.

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Gemüther ein wenig zu erschrecken“ (S. 211), „Feuer, Schwung und ausgesuchter Gedanke sind unvermeidlich nothwendig“, und „eine niedrige, kriechende und pöbelhafte Ode“ sei „der erbärmlichste Irrthum, den eine Feder begehen kann“ (S. 210). Wenige Jahre darauf, 1763, wird in den Breslauer „Vermischten Beyträgen zur Philosophie und den schönen Wissenschaften“ eine in der Folgezeit vielfach zitierte anonyme Abhandlung „Von der Ode“ publiziert.⁵¹ Unter Anknüpfung an Baumgartens Definition des Gedichts,⁵² hier wiedergegeben als „vollkommen sinnlich schöne Rede“ (S. 156), wird hier die Ode definiert als „ein kurzes vollkommen affektvolles Gedichte“ (S.  156), ihre Wirkung als Rührung (S.  155) und der Enthusiasmus als „die Quelle“ benannt, „woraus alle andere Bestimmungen der Ode hergeleitet werden können“ (S.  158), und auf solcher Grundlage werden dann in je eigenen Abschnitten die einzelnen traditionellen Merkmale der Ode eingehender erörtert und begründet. Dabei kann man u. a. auch die kennzeichnenden Sätze lesen: „Der höchste Grad des Erhabnen ist der größte Affekt. Eine Ode aber, wo der größte Affekt herrscht, ist die vollkommenste; also ist die erhabne Ode die vollkommenste“ (S. 168). Ein Jahr danach, 1764, werden in den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend“ Umrisse einer Theorie der Ode im Rahmen einer Moses Mendelssohn zuzuschreibenden Rezension⁵³ der Gedichte der Anna Louisa Karsch entwickelt: als wesentliches Merkmal der Ode im Unterschied zu anderen Gattungen wird „die Ordnung der begeisterten Einbildungskraft“ (S.  150)⁵⁴ genannt, es folgt daraus als Definition: „Eine

51 Bd. 2, St. 1, S. 152–177. – Zur Rezeption bei Herder s. Anm. 24 in der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band; vgl. ferner u. a. Christian Heinrich Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1, Leipzig 1767 (Expl. StuUB Göttingen), S. 300–308: 15. Kap. Von der Lyrischen Poesie, 1. Theorie (ausdrücklich an die Darlegungen in den Breslauer Beyträgen anknüpfend) – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S. 373 – Christian Heinrich Schmid, Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst, 1781, S. 342 (anders als in seinem Lehrbuch von 1767 urteilt der Verf. über die anonyme Oden-Abhandlung von 1763, die er hier dem Herausgeber der Breslauer Beyträge, Samuel Benjamin Klose, zuschreibt, jetzt kritisch, weil sie im „alten Schlendrian batteuxischer Regeln“ verbleibe) – Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, 21789, S. 145 – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.3, S. 551 (wie bei Eschenburg in einer knappen Auswahl von Literaturhinweisen). 52 „Oratio sensitiua perfecta est POEMA“ (Meditationes Philosophicae, S. 7, § IX). 53 Briefe, die neueste Litteratur betreffend, T.17, Berlin 1764 (Expl. LB Wiesbaden), S. 123–179, 272.–276. Brief, 23.2.–22.3.1764. Vgl. auch den Abdruck in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd.  5/1, hrsg. v. Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 574–601 sowie die Erläuterungen in Bd. 5/3b, 2004, S. 796–801. 54 Eingeleitet werden die entscheidenden Darlegungen der Rezension am Beginn des 275. Briefes durch kritische Sätze, in denen sich ein im Zuge der weiteren Entfaltung der Odentheorie wachsendes Ungenügen an der bis über die Jahrhundertmitte produktiv rezipierten

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einzige ganze Reihe höchst lebhafter Begriffe, wie sie nach dem Gesetze einer begeisterten Einbildungskraft auf einander folgen, ist eine Ode“ (S.  150), und dies ist der kritische Maßstab, mit dem in dieser Rezension die Gedichte der Karschin gemessen werden.⁵⁵ Es ist allen diesen Dokumenten⁵⁶ zur Odentheorie aus den 50er und 60er Jahren des 18. Jahrhunderts gemeinsam, daß sie die Ode als ein Zeugnis begeisterter

Formel Boileaus andeutet: „Es hat der Dichterin gefallen die erste Hälfte ihrer Gedichte Oden zu überschreiben. Vielleicht weil in denselben eine Unordnung herscht, und sie gehöret hat, daß man gemeiniglich der Ode die schöne Unordnung für ein Verdienst anrechnet. Allein die wahre Critik erkennet in der Ode eine höhere Ordnung, die zwar versteckt seyn, aber niemals vernachläßiget werden darf“ (S. 149). 55 In ihrem Briefwechsel mit Gleim, der mit den Briefen beider Partner eine aufschlußreiche Quelle für die Rolle von – unterschiedlich präzis gefaßten – Lehrstücken der zeitgenössischen Odentheorie bei Erklärung und Bewertung neuerer Gedichte ist, hat sich die Karschin am 3.8.1764 über die Rezension in den Literatur-Briefen geäußert und sich über die nach ihrem Verständnis ungerechte Kritik (S.  164–166, Beschluß des 275. Briefs) an ihrem Gedicht „Der Spaziergang auf dem Fürstenwall“ (s. Anna Louisa Karschin, Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, ND Stuttgart 1966, S.  214–216), die in der Feststellung gipfelt: „Mich dünkt ... daß die Dichterin von dem schönen Ideal einer Ode nicht den mindesten Begrif haben muß“, beklagt: „Endlich ... laß ich die Verurtheilung der brieffschreiber über die neueste Litteratur, Sie haben vielles angegriffen, was ich selbst Tadle und ich muß denken daß meine Lieder diesen Herrn woll nicht ganz schlecht vorkamen weill Sie sich die mühe gaben so viel darüber zu schreiben, Eins verdrießt mich, daß man sich über daß Lied den Spaziergang auff den fürstenwall auffhällt, Ich weiß so gut als der Kunstrichter daß man nichts weniger als die Eigenschafft der Ode darinen findet, indeßen ist mirs immer lieb gewesen weill Sein schluß so ganz die sprache meines Herzens redet, aber diese Leütte wißen nicht Eigentlich was Sie wollen ...“ („Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, hrsg. v. Regina Nörtemann, Bd. 1, Göttingen 1996, S. 222). 56 Als weitere Zeugnisse der Diskussion und ihrer Ausbreitung vgl. u. a. Johann Berhard Basedow, Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, Kopenhagen 1756 (Expl. StuUB Göttingen), S. 604ff. – Michael Georg Curtius, Aristoteles Dichtkunst, ins Deutsche übersetzet. Mit Anmerkungen, und besondern Abhandlungen versehen, Hannover 1753 (ND Hildesheim New York 1973), S. 371, 379 (Abhandlung von dem Wesen und dem wahren Begriffe der Dichtkunst) – Christian Adolph Klotz, Opuscula varii argumenti, Altenburg 1766 (Expl. MartinusBibliothek, Mainz), S. 114–173: VI. Libellus de felici audacia Horatii (11762): Charakterisierung des Horaz mit den Gesichtspunkten der zeitgenössischen Odentheorie unter häufiger Berufung auf Ps.Longin – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2, 1772, S. 372–377 (unter Berufung u. a. auf die Karschin-Rezension der Literatur-Briefe, auf die anonyme Abhandlung in den Breslauer „Vermischten Beyträgen“ und auf Herders Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“, 3. Sammlung, T.3) – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1, 1767, S. 300–308 (im Anschluß an die anonyme Abhandlung in den Breslauer „Vermischten Beyträgen“). Ein eigentümliches Beispiel einer zu ambivalenten Urteilen führenden Anwendung der im Fluß befindlichen zeitgenössischen

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dichterischer Einbildungskraft auffassen. Sie bringen damit keineswegs etwas völlig Neues in die Theorie der Ode. Sie knüpfen vielmehr an das schon in der humanistischen und barocken Poetik aus antiker Überlieferung gegenwärtige und da und dort auch mit Erscheinungen lyrischer Dichtung verknüpfte Stichwort vom ἐnqousiasmὸϛ, vom furor poeticus⁵⁷ an, das freilich, auch wenn man vielleicht eine Erscheinung wie die pindarischen Oden des Gryphius mit seiner Tradierung zusammenbringen kann, nur eines unter anderen herkömmlichen Merkmalen der Oden oder Lieder war. Das Entscheidende ist, daß dieses eine überlieferte Merkmal, mit dem der distanziert referierende Gottsched (Critische Dichtkunst, 41751, S. 429: „die so genannte Begeisterung, das berühmte Göttliche, so in den Oden stecken soll, weswegen Pindar so bewundert worden“)⁵⁸ noch kaum etwas zu beginnen wußte, – daß dieses Merkmal nun im Sinne der aufklärerischen Lehre von den unterschiedlichen Seelenvermögen konkreter bestimmt und zum zentralen Merkmal der Odentheorie gemacht wird, von dem aus alle anderen Kennzeichen und Vorschriften der Ode begriffen und genauer begründet werden. Einer immer mehr sich entwickelnden Dichtungsauffassung, die zunächst noch im Rahmen der überlieferten, rhetorisch begründeten Poetik und in Auseinandersetzung mit ihr, unter Abwertung der rhetorischen Zwecke des docere und delectare und Aufwertung des rhetorischen movere, zunehmend sich abhebt von der belehrenden Darlegung oder der unterhaltenden Umspie-

Odentheorie auf deren antiken Musterautor ist das Werk von F. Groschuf: Ungebundene Uebersetzungen der Gedichte des Q. Horatius Flaccus nebst den nöthigsten Anmerkungen und vorgängiger Lebensbeschreibung des Schriftstellers, 1749. 57 Vgl. dazu u. a. Jacopo Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica Iacobi Grifoli Lucinianensis interpretatione explicatus, Florenz 1550 (ND München 1967), S. 93 – Erasmus Schmid, (Praeses), De Dithyrambis. Quaestio in Promotione XXXII. Philosophiae Candidatorum d. 23. Martii Anno 1607, à M. Joachimo Jaschio proposita, S. 252f., in: PINDAROU PERIODOS hoc est PINDARI … OLUMPIONIKAI. PUQIONIKAI. NEMEONIKAI. ISQMIONIKAI. Opera ERASMI SCHMIDII, Wittenberg 1616 (Expl. HAB Wolfenbüttel), T.4, S.  247–255 – Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (1624), 8. Kap. (Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 409) – Donatus, Ars Poetica, 1633, S.  41–45 – Gerhard Johannes Vossius, De Artis Poeticae Natura ac Constitutione Liber, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln), S. 68–75 – Daniel Georg Morhof, De Enthusiasmo, Seu Furore Poetico Dissertatio, Lectionibus publ. In Claudiani de Raptu Proserpinae libros, mense Novembris 1661 praemissa, in: Morhof, Dissertationes academicae, Hamburg 1699 (Expl. LB Stuttgart), S.  71–82 – Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, 1679, S.  168ff. – Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 21700, S. 315, 345 (Kap. XV. Von den Oden; zitiert oben auf den ersten Seiten dieser Abhandlung). Mancherlei Belege ließen sich natürlich auch aus den Kommentaren in den Pindar- und Horaz-Ausgaben der Frühen Neuzeit anführen. 58 So auch in den vorangegangenen Auflagen; s. Gottsched, Ausgewählte Werke, Bd.  VI/2, S. 13 und das Variantenverzeichnis in Bd. VI/3, S. 81, das zu dieser Stelle keine Variante der ersten beiden Auflagen vermerkt.

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lung von Sachverhalten und stattdessen nach der das Herz rührenden Bekundung der die dichterische Einbildungskraft bewegenden Affekte verlangt⁵⁹ – einer solchen Dichtungsauffassung bietet sich die Ode mit dem schon in der bisherigen Poetik ihr zugehörigen Merkmal des Enthusiasmus als Paradigma an, an dem jene Dichtungsauffassung besonders eindringlich sich entwickeln und darstellen läßt. Das rückt die Ode und ihre Theorie für geraume Zeit in den Mittelpunkt poetologischer Erörterungen, das läßt die Ode, wie etwa Sulzer dann formuliert, als „höchste Dichtungsart“ (Bd. 3, S. 538) erscheinen, ja macht sie zum Inbegriff des Dichterischen. Dementsprechend blüht in diesen Jahrzehnten eine auf erhabene Gegenstände sich richtende, enthusiastisch bewegte Odendichtung in gereimten und zunehmend auch in ungereimten Strophen; ihre historisch herausragende Erscheinung – später freilich zu sehr nur als Vorläufer weiterer Entwicklungen, zu wenig als Ertrag humanistischer Dichtungstradition gesehen – ist die seit 1747, dem Jahr von Meiers Gottsched-Kritik entstehende, in voller Öffentlichkeit freilich erst 1771 gesammelt hervortretende Odendichtung⁶⁰ Klopstocks, nicht Anlaß erst, wie Viёtor meinte,⁶¹ für die neue Theorie der Ode, sondern Entsprechung zu ihr, Bestätigung für sie und ihre bedeutendste Frucht. Klopstocks Wirkung exemplifiziert die eigentümlich paradoxe Bedeutung, die die Odentheorie und eine ihr entsprechend veränderte Odendichtung im 18.  Jahrhundert haben: die aus allgemeineren poetologischen Wandlungen gespeiste Aktivierung eines tradierten Merkmals, des der Ode zugehörigen Enthusiasmus, läßt eine aus der humanistischen Antikerezeption herkommende Gattung zur produktiven Vermittlerin

59 Für diese Entwicklung sei nur als an ein besonders eindringliches Zeugnis erinnert an Klopstocks 1759 im „Nordischen Aufseher“ veröffentlichten Aufsatz „Gedanken über die Natur der Poesie“, worin es heißt: „Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unserer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andere wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt. Wenn man mir einwirft, daß dies eine Definition der höhern Poesie sei; so antworte ich, daß die angenehme Poesie vieles von diesem allen tun müsse, wenn sie nicht den Namen einer versifizierten Prosa verdienen will“ (Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S. 992). 60 Zu den 1771 gleichzeitig erschienenen drei Sammlungen (z.T. unautorisiert) und zu den vorausgegangenen Publikationen in Zeitschriften, Almanachen und Einzeldrucken vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abtlg. Addenda III: Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken, Bd. 1, Berlin, New York 1981, S. 65–74 und 81–232. 61 Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 133: „Klopstocks Dichtung stellte die poetische Theorie vor ganz neue Phänomene. Die alten Definitionen und Regeln wollten dazu nicht mehr passen“.

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einer Entwicklung werden, die schließlich von der Tradition humanistisch-rhetorischer Poetik ganz fortführt und bei einer jener Gattung fremden Unmittelbarkeit des subjektiven Gefühlsausdrucks endet, die mit dem Enthusiasmus der Ode in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht gemeint war. An dieser Entwicklung haben zwei Momente besonderen Anteil, die mit der zentralen Rolle des Enthusiasmus in der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts so sehr belebten Odentheorie aufs engste zusammenhängen und deren über die Gattung selbst hinausreichende Bedeutung besonders eindringlich bezeugen: diese Momente sind die Mitwirkung der Odentheorie an der nach und nach sich vollziehenden Herausbildung eines umfassenden, lange wirksam gebliebenen Lyrikbegriffs im 18. Jahrhundert und die allmähliche Unterscheidung von Ode und Lied. Wichtige Anregungen zur Ausbildung eines Lyrikbegriffs, der viele Arten von Gedichten umgreift, die Lyrik in einem sich jetzt entwickelnden triadischen Gattungsschema neben Epik und Dramatik treten läßt und damit die in humanistischer und barocker Poetik übliche isolierte Behandlung einzelner, nach Gegenstand, Anlaß oder Form unterschiedener Gedichtarten ablöst, liegen in dem 1746 erschienenen, bald von Gottsched, Johann Adolf Schlegel und Ramler übersetzten Werk „Les Beaux Arts réduits à un même Principe“ von Charles Batteux⁶² und in der kritischen Diskussion⁶³ seiner Thesen. Bei Batteux liest man in Schlegels Übersetzung: „Die lyrische Poesie ist ganz den Empfindungen geheiligt“.⁶⁴ Das ist freilich vorerst noch nicht ein alle möglichen Gedichtarten umfassender Begriff von Lyrik, sondern knüpft vielmehr, wie die näheren Ausführungen bei Batteux – unter anderem zu verschiedenen Odenarten – zeigen,

62 S.  die bibliographischen Angaben zum Werk von Batteux und zu den Übersetzungen Ramlers und Schlegels in Anm. 29 und 58 zur Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. – Gottsched hat keine vollständige Batteux-Übersetzung geliefert, sondern einen Extrakt: Auszug aus des Herrn Batteux ... Schönen Künsten, aus dem einzigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen erläutert von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1754 (Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz). Eine weitere Batteux-Übersetzung publizierte Philipp Ernst Bertram: Die schönen Künste auf einen Grundsatz gebracht, aus dem Französischen des Batteux, Gotha 1751 (vgl. Jöcher/Adelung, Bd. 1, 1784, Sp. 1783). 63 S. die Hinweise zur Batteux-Rezeption in Deutschland in den einschlägigen Passagen der eben genannten Abhandlung und in der zugehörigen Anm. 60. Zahlreiche Hinweise zur Auseinandersetzung der Musiktheorie des 18.  Jahrhunderts mit Batteux in der materialreichen Arbeit von Walter Serauky, Die musikalische Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850, Münster 1923 (s. dort das Register). 64 S. 205 in der 2. Auflage von 1759; S. 380 in der im Nachdruck vorliegenden 3. Auflage von 1770. Der französische Text lautet: „la Poёsie lyrique est toute consacré aux sentimens“ (ND der Ausgabe von 1773, S. 323).

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an den engeren Begriff lyrischer Dichtung aus der antiken Überlieferung, den man in der humanistischen und barocken Poetik in der Lehre von den Oden oder Liedern aufgegriffen hatte, an und bleibt insofern von dem weniger genau gefaßten älteren Begriff der Ode geprägt. Das für die weitere Diskussion Wichtige aber ist, daß die zwar noch keineswegs alle später hinzugerechneten Arten umfassende lyrische Dichtung von Batteux im Rahmen seines Versuchs einer systematischen Begründung von Dichtungsarten wie auch der übrigen Künste neben epische und dramatische Dichtung gestellt wird und daß sie, in Anknüpfung auch hier offenkundig an das zur Ode gehörende Merkmal des Enthusiasmus, als „den Empfindungen geheiligt“ verstanden wird, wobei Batteux freilich, so die lyrische Dichtung gleich den anderen Gattungen dem Prinzip der Nachahmung zuordnend, noch – in der Tradition älterer, rhetorisch fundierter Auffassungen – mit der Darstellung nachgeahmter Empfindungen als der Norm rechnet und wahre Empfindungen nur als die Ausnahme gelten läßt.⁶⁵ Dagegen aber wendet sich schon Johann Adolf Schlegel in den kritischen Anmerkun-

65 Wie gewunden Batteux – nicht zum wenigsten aus Ehrfurcht gegenüber den Psalmen, die dann auch in den gegen ihn vorgebrachten Einwänden eine bedeutende Rolle spielen – argumentieren muß, zeigen Sätze wie diese: „Sind die Empfindungen wahr und wirklich, wie sie es beym David waren ... So ist dieß ein Vortheil für den Poeten ... Alsdann schränkt sich die poetische Nachahmung, auf Gedanken, auf Ausdrücke, auf den Wohlklang ein ... Wenn die Empfindungen aber nicht wahr und wirklich sind, das heißt, wenn der Dichter sich nicht wirklich in derjenigen Verfassung befindet, welche diejenigen Empfindungen, deren er benöthigt ist, hervorbringt: So muß er solche Empfindungen in sich erwecken, welche den wahren ähnlich sind ...“ (2. Aufl., 1759, S. 208ff.; ND der 3. Aufl. von 1770, S. 383f.; entsprechend im französischen Text). – Angesichts der Beschränkung des Begriffs der lyrischen Poesie und der offenkundigen Schwierigkeit, diese dem Prinzip der Nachahmung unterzuordnen, kann freilich hier so wenig wie in älteren Werken der Poetik, wo sie von der lyrischen Poesie, den Lyrica sprechen, davon die Rede sein, daß, wenn nicht schon viel früher, dann doch endlich bei Batteux jene später so selbstverständlich gewordene Trias der Gattungen als vermeintlicher Naturformen der Dichtung erreicht wäre, die sich doch erst im späten 18. Jahrhundert voll entwickelt und durchsetzt und, was Anteil und Wesen der – erst nach und nach als über die Ode hinausreichende Gattung verstandenen – Lyrik darin betrifft, das paradoxe Ergebnis der von Batteux ausgelösten Diskussion um das Verhältnis der lyrischen Poesie zur Nachahmung darstellt. Das ist neben vielen anderen Forschungsbeiträgen insbesondere auch den – viel zu oft unbesehen rezipierten – poetikgeschichtlichen Untersuchungen von Irene Behrens (Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19.  Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen, Halle 1940) und von Klaus Scherpe (Gattungspoetik im 18.  Jahrhundert, 1968) kritisch vorzuhalten (vgl. demgegenüber die historisch differenzierende Arbeit von Stefan Trappen, Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre, Heidelberg 2001, insbes. S. 123ff. – s. auch SvenAage Jørgensen, Nachahmung der Natur. Verfall und Untergang eines ästhetischen Begriffs, in: Kopenhagener germanistische Studien 1, 1969, S. 198–212).

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gen und ergänzenden Abhandlungen zu seiner Batteux-Übersetzung,⁶⁶ und wo weiterhin von dem zunehmend eingebürgerten Begriff der lyrischen Dichtung oder des lyrischen Gedichts die Rede ist, da wird die keineswegs ewig gültige und allein mögliche, aber für den historischen Wandel der Dichtungsauffassung im 18. Jahrhundert so bezeichnende Erwartung, daß es um den Ausdruck

66 Wie sehr für Schlegel die Ode im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem von Batteux zum umfassenden Prinzip der Dichtung erklärten Begriff der Nachahmung steht, zeigt schon die an Gellert gerichtete Vorrede zur 2. Auflage seiner Übersetzung (1759), wo es u. a. heißt: „Bey der Uebersetzung kam mir seine Methode, die Natur der Ode zu erklären, nur unbeqvem und mühsam vor; bey der Durchsicht erkannte ich sie für falsch und der Ode nachtheilig. Indem er ihre Ehre gegen die Einwürfe, die aus seinem allzueingeschränkten Grundsatze natürlicher Weise herfließen, zu retten sucht, bringt er sie selbst eigenwillig ins Gedränge. Hier fällt zudem die Unzulänglichkeit seines Grundsatzes am sichtbarsten in die Augen. Denn, wer, wenn er auch geneigt sein sollte, das Lehrgedichte dem Systeme aufzuopfern; wer wird wohl die Ode, diese wesentlichste Gattung der Poesie, die ursprünglich unter allen die erste war, gleichfalls Preis geben wollen? Und dazu wird er gezwungen seyn, wenn er die Nachahmung der Natur für den einzigen Grundsatz erkennet“ (S. XII). Diesem kritischen Ansatz gemäß mehren sich gegenüber der 1. Auflage von 1751 die in Fußnoten vorgebrachten Einwände des Übersetzers zu einzelnen Behauptungen und Argumenten von Batteux und werden zum Ausgangspunkt einer in weiteren Fußnoten ausgetragenen Diskussion zwischen Autor und Übersetzer (s. die Nachweise in Anm.  62 der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band). Schlegels Kritik an Batteux, die einen Schwerpunkt in der Frage einer zutreffenden Bestimmung der Ode hat, gipfelt 1770 (innerhalb der jetzt erweiterten Abhandlung des Übersetzers „Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie“ im 2. Band) beispielsweise in Sätzen wie diesen: „Er verläugnet hier die gründliche Sprache der Kritik, die ihm sonst so eigen ist, um die spitzfindige Sprache der Disputierkunst zu reden, die, ob sie sich gleich in die Enge getrieben fühlet, dauernd die Vertheidigung einer fast verlornen Sache nicht aufgeben will. Er sieht sich genöthiget, zu läugnen, daß die Oden oft die Ausdrücke der wirklichen Empfindungen unsers Herzens sind, und machet sie zu einer Reihe nachgemachter Empfindungen. Da er es gleichwohl sich selbst nicht verbergen kann, daß viele vortreffliche Odendichter ihre eignen Empfindungen in ihren Gesängen ausgedrücket haben; so hält er dieß für einen zufälligen Vortheil, der den Poeten, so zu sagen, zu dem Nachahmer seiner selbst macht. Wie viel willkührliche Foderungen, die er alle nicht erweisen kann! Und wie viele Widersprüche und Fehlschlüsse, vor denen so viel angenommene Sätze ihn nicht verwahren können; ja darein sie selbst ihn verwickeln“ (S.  193f.). Anders als Schlegel denkt übrigens noch Gottsched in seinem Batteux-Auszug von 1754, der die Position von Batteux mit einem Hinweis auf Pindar verteidigt: „Pindar ist wohl sonder Streit der größte lyrische Dichter gewesen. Aber wer kann sichs wohl einbilden, daß er bey allen seinen Siegern ... so voll wahrer Bewunderung und Entzückung gewesen, als seine Oden zeigen? ... Was war es also? Nichts, als eine Nachahmung der Empfindungen, eines versammleten Volkes, welches um andrer Ursachen willen, an diesen Siegen Theil nahm. Er stellte sich entzücket, und redete, wie einer, der wirklich den Sieger bewundert hätte. Er ließ sich, was noch mehr ist, gut dafür bezahlen ... Wer sieht hier die Nachahmung nicht?“ (S. 155f.).

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wirklichen, wahren Gefühls gehe, rasch selbstverständlich als Wesensmerkmal gerade der lyrischen Dichtung.⁶⁷ So heißt es in einer für Johann Jakob Engel verfaßten Abhandlung Moses Mendelssohns „Von der lyrischen Poesie“ (1778)⁶⁸: „In keiner Dichtungsart kömmt die Natur der Kunst so nahe, als in der lyrischen. Denn wenn der Dichter wirklich in dem besungenen Gemüthszustande sich befindet, so ist er sich selbst Gegenstand, also causa objectiva und causa efficiens zugleich“ (S. 337). Und Engel seinerseits erklärt 1783 – entschiedener über die bei Mendelssohn noch anklingende Problemlage von Batteux hinausgehend – in seiner Schrift „Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus Deutschen Mustern entwickelt“⁶⁹ vom lyrischen Dichter u. a.: „... der Dichter [will] ... bloss seinem Herzen Luft machen ... sich bloss seiner Empfindungen, so wie sie sich nacheinander in seiner Seele entwickeln werden, entschütten ... der Dichter läuft aus, ohne ... zu wissen, oder sich auch nur vorzusetzen, wo er ankommen will ... Nunmehr wird es uns klar, was wir eigentlich dabei dachten, als wir dem lyrischen Dichter Empfindungen zum Stoff seiner Werke gaben. Jeder Dichter muss mit Empfindung, muss aus der Fülle des Herzens reden; kein

67 Wie sehr dieser Vorgang in umfassende Veränderungen der Künste und ihrer zeitgenössischen Interpretation eingebettet ist, zeigen sehr deutlich auch mancherlei Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten zur Theorie und Geschichte der Musik im 18. Jahrhundert, die den Weg vom Affekt zur Empfindung, von der Nachahmung zum Ausdruck erörtern und dabei immer wieder auch die Verbindungen zur literarischen Theorie der Zeit sichtbar werden lassen: vgl. u. a. Carl Dahlhaus, Musica Poetica und musikalische Poesie, in: Archiv f. Musikwiss. 23, 1966, S. 110–124 – Ders., Einleitung, S. 15f., 56ff., in: Die Musik des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Carl Dahlhaus, Laaber 1985 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 5) S. 1–68 – Ders., Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 28ff. – Hans Heinrich Eggebrecht, Das Ausdrucks-Prinzip im musikalischen Sturm und Drang, in: DVjs 29, 1955, S. 323–349 – Arno Forchert, Vom „Ausdruck der Empfindung“ in der Musik, in: Das musikalische Kunstwerk. Geschichte. Ästhetik. Theorie. Festschr. Carl Dahlhaus zum 60. Geburtstag, Laaber 1988, S. 39–50 – Stefan Hübsch, Vom Affekt zum Gefühl, S. 145ff., in: Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, hrsg. v. Stefan Hübsch und Dominic Kaegi, Heidelberg 1999, S. 137–150 – Ulrike Küster, Das Melodrama. Zum ästhetikgeschichtlichen Zusammenhang von Dichtung und Musik im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1994 – John Neubauer, The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in Eighteenth-Century Aesthetics, New Haven, London 1896. 68 Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 3/1, Schriften zur Philosophie und Ästhetik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 (ND der Ausg. Berlin 1932), S. 335–341; zur Datierung s. S. LXf. 69 Zitiert nach: Johann Jakob Engel, Schriften, Bd. 11, Berlin 1806 (ND Frankfurt a.M. 1971); darin S. 443–532: Achtes Hauptstück. Von dem lyrischen Gedicht. – Die daraus zitierten Sätze knüpfen an Ramlers Ode „Auf ein Geschütz“ an und begründen die Wahl dieses Beispiels mit dem weiter unten zitierten Hinweis (S. 444) auf den besonderen Rang der Ode unter den lyrischen Dichtungsarten.

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andrer Ton ist wahrhaft dichterisch; aber nicht jeder Dichter macht die Rührung der Seele zum Hauptwerk ... Hingegen bei dem lyrischen Dichter ist die Rührung Alles; er will nur sein volles Herz entschütten: und so ist sein Werk, wenigstens dem Ansehen nach, weiter nichts als Ausdruck des Zustandes, worein seine Seele durch gewisse Ereignisse, gewisse Ideen versetzt ist ...“ (S. 450–453). Das sind bereits Aussagen über lyrische Dichtung, wie sie dann im 19. Jahrhundert geläufig geworden und weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus – man denke nur an Staigers „Grundbegriffe der Poetik“ und ihre Wirkung – allen Entwicklungen der Moderne zum Trotz allzu selbstverständlich geblieben sind. Aber es ist nicht zu übersehen, daß der auf weitere Entwicklungen vorausweisende Begriff lyrischer Dichtung bei Engel und Mendelssohn in entscheidender Weise von der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts so gesteigerten Theorie der Ode und dem bei ihr ins Zentrum gerückten Merkmal des Enthusiasmus geprägt ist. So erscheinen bei Mendelssohn, der als Arten lyrischer Dichtung Ode, Lied und Elegie unterscheidet, Elemente der Odentheorie wie Abschweifungen, Kürze, Sprünge, plötzliche Übergänge, versteckte Ordnung als allgemeine Merkmale der lyrischen Dichtung.⁷⁰ Und Engel erklärt: „Man hat der lyrischen Dichtungsarten mehrere: Ode, Lied, Elegie. Den Odendichter hält man für den vornehmsten, für den am meisten lyrischen Dichter; eben in der Ode also wird das Wesen dieser Dichtungsart am sichtbarsten hervorstechen müssen“ (S. 444). Wenn die Ode als Dichtungsart der gesteigerten Empfindung Paradigma nicht nur einer neuen Dichtungsauffassung, sondern eigentliche Verwirklichung eines sich allmählich herausbildenden Begriffs lyrischer Dichtung wird, wenn dieser Begriff in Entsprechung zu den auch metrisch fundierten Unterschieden antiker Dichtungsarten auf länger noch beispielsweise die Elegie nur gelegentlich umfaßt,⁷¹ dann ist deutlich, daß gerade die auf Rezeption und Deutung der anti-

70 Von der lyrischen Poesie, S. 337: „Die Folge der Begriffe auf einander geschieht nach der Verbindung der Theilnehmung. Bei jedem Fortschritt eine kurze, oder längere, Abschweifung in gleichartige Nebenbegriffe ... Sobald die Haupttheilnehmung nicht mehr lebhaft genug ist in Worte sich zu ergießen; so schließt sich das lyrische Gedicht. Alle Nebenideen ... muß der lyrische Dichter verschweigen. – Daher die Sprünge, die plötzlichen Uebergänge, die versteckte Ordnung ...“. 71 Eine Reihe chronologisch geordneter Belege mag – ohne Anspruch auf erschöpfende Dokumentation – zeigen, wie lange die Elegie noch Gegenstand separater theoretischer Erörterung bleibt, ohne Zusammenhang mit der „lyrischen Dichtung“ oder in ausdrücklicher Abgrenzung gegen sie: Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 41751, S. 419–435: Von Oden, oder Liedern; S. 657–668: Von Elegien, das ist, Klagliedern und verliebten Gedichten – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1 (1767), S. 290–301: 14. Kap. Von der Elegie (ihre Theorie lange schwankend und zweifelhaft geblieben; ist „der poetische Ausdruck unsrer vermischten Empfindungen“); S. 302–393: 15. Kap. Von der lyrischen Poesie

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ken lyrischen Dichtung und ihrer Hauptmuster zurückgehenden Züge der seit dem Humanismus entwickelten Odentheorie die Anhaltspunkte für die Heraus-

(„poetischer Ausdruck einer reinen Hauptempfindung“) – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S. 378–380: § 13. Von der Elegie (Unterscheidung von Elegie und Ode wie bei Schmid) – Johann Justus Herwig, Grundriß der eleganten Litteratur, Würzburg 1774 (Expl. StB München), S. 410–417: 3. Von der lyrischen Poesie; S. 417: 6. Von der Elegie – Christian Friedrich Daniel Schubart, Kurzgefaßtes Lehrbuch der schönen Wissenschaften für Unstudierte, Leipzig 1777 (Expl. UB Köln), S. 54–64: Von der lyrischen Dichtkunst; S. 76–77: Von der Elegie (behandelt zwischen Satire und Roman) – Wilhelm Friedrich Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791 (Expl. UB Köln), S.  175–202: 6. Von der Elegie; S.  202–263: 7. Von der Lyrischen Poesie (S. 203: Wir machen drey Hauptklassen: Ode, Lied und Romanze) – Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste, 4Berlin, Stettin 1817, S. 165–172: VI. Die Elegie; S. 172–195: VII. Die lyrische Poesie (so schon seit der 1. Auflage von 1783; die getrennten Kapitel aber auch noch beibehalten in der von M. Pinder bearbeiteten 5. Auflage von 1836). Die anhaltende Nachwirkung der lange Zeit vorherrschenden Unterscheidung von Elegie und lyrischer Dichtung zeigt sich noch in Schellings Vorlesungen über „Philosophie der Kunst“ (1802/05 gehalten, 1859 aus dem Nachlaß gedruckt), in denen die Elegie zusammen mit Idylle, Lehrgedicht und Satire im Rahmen eines weitgefaßten Begriffs epischer Poesie behandelt wird (ND der Ausgabe von 1859: Darmstadt 1966, S.  302), oder bei Friedrich Schlegel, in dessen Schriften sich unterschiedliche Aussagen finden, die die allgemeinen Wandlungen der Lyriktheorie spiegeln: vgl. z. B. Kritische Ausgabe, Bd.  11, hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn 1958, S.  60f. (Geschichte der europäischen Literatur, 1803/04): Betonung der antiken Unterscheidung zwischen „den Jamben und der Elegie und den lyrischen Gedichten“); Bd. 17 (Fragmente zur Poesie und Literatur), 1991, S.  93 (XVI, 1807, I. Nr. 289): Elegie „ein mittleres zwischen dem lyrischen Gedicht und dem epischen“; S. 459 (XXIII, 1823, Nr. 1): „Die lyrische Gattung besteht aus drey Arten – Elegie, Lied und Chor“). – Gegenüber den zahlreichen Beispielen für die langwährende Unterscheidung von Elegie und lyrischer Dichtung bleiben die oben angeführten Stellen bei Mendelssohn (1778) und Engel (1783), die von Ode, Lied, Elegie als den Arten der (freilich von der Ode dominierten) lyrischen Dichtung sprechen, vorerst noch vereinzelte frühe Stimmen, denen sich erst nach und nach weitere hinzugesellen: vgl. z. B. Karl Heinrich Heydenreich, System der Aesthetik, Bd. 1, Leipzig 1790 (Expl. UB Marburg), der Ode, Lied, Elegie als Arten, die „vorzüglich auf die Leidenschaft, das Gefühl gerichtet“ sind, zusammenstellt (S. 298), in einem langen Exkurs (S. 317–352) aber sein Ungenügen an der bisherigen Theorie bekundet und diese für die Zuordnung der Elegie als besonders problematisch ansieht (S. 321ff.) – Karl Wilhelm Ramler, Kurzgefaßte Einleitung in die schönen Künste und Wissenschaften, Görlitz 1798 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S.  40–45: Lyrische Gedichte (S.  44: „Zu den lyrischen Gedichten gehören auch die Elegien“) – August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. v. Edgar Lohner, Bd. 5, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 1. Teil (1809), S. 40: „In der lyrischen Poesie finden nur Grade und Abstufungen statt, zwischen dem Liede, der Ode und der Elegie aber keine eigentliche Entgegensetzung“; s. auch A.W. Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 1, Vorlesungen über Ästhetik I, hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a. 1989, S.  69–83: Lyrische Dichtungsart (in: Vorlesungen über philosophische Kunstlehre, 1798–1799) – Aloys Schreiber, Lehrbuch der Aesthetik,

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bildung eines Lyrikbegriffs liefern, der sich dann von dieser Herkunft immer entschiedener emanzipiert. Das wird umso klarer, wenn man beachtet, daß es sich jetzt nicht mehr um eine nicht näher differenzierte Theorie der Oden oder Lieder wie im 17. und frühen 18. Jahrhundert handelt, sondern daß sich – im engsten Zusammenhang mit der Konzentrierung der Odentheorie auf das Bestimmungsmerkmal des Enthusiasmus und mit der korrespondierenden Begründung eines Begriffs von lyrischer Dichtung neben epischer und dramatischer – teils unter dem Namen noch der Odentheorie, teils unter dem der lyrischen Dichtung eine zunehmend entschiedene Sonderung von Ode (auch eigentliche Ode zunächst oft genannt) und Lied (dazu z.T. auch der Hymne als besonderer Art der Ode)⁷² vollzieht. Ansätze dazu liegen, wie weiter oben schon angedeutet, in den Hinweisen der humanistischen und barocken Poetik zu den verschiedenartigen stofflichen und stilistischen Möglichkeiten der Oden oder Lieder. Eine genauere Sonderung und Beschreibung aber brauchte man in der Theorie nicht und kannte man in der Praxis kaum, solange die überlieferte Lehre vom ἐnqousiasmὸϛ keine dominierende Rolle in der Theorie spielte und solange die versuchte Erneuerung und Fortführung der antiken Ode sich in gereimten Liedstrophen vollzog, die man lediglich durch Abwechslung verschiedenartiger Verse der Eigenart antiker Odenstrophen ähnlich zu machen versuchen konnte.⁷³ Je mehr aber seit Mitte

Heidelberg 1809 (Expl. LB Speyer), S. 222 (vier Arten der lyrischen Poesie: Hymnus, Ode, Lied, Elegie) – Johann August Eberhard, Handbuch der Aesthetik für gebildete Leser aus allen Ständen, 4. Teil, 2 Halle 1820 (11803–1805) (Expl. UB Marburg), S. 259–268: Arten des lyrischen Gedichts. Ode, Hymne. Psalm. Lied. Elegie. Romanze – Philipp Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2, Wien 1824 (Expl. Deutsches Institut, Universität Mainz), S. 7: Gliederung der „lyrischen Dichtkunst“ in „rein lyrische Poesie“ und „elegische Poesie“ – Joseph Hillebrand, Lehrbuch der Literar-Aesthetik, oder Theorie und Geschichte der schönen Literatur, Bd. 1, Mainz 1827 (Expl. UB Freiburg), S. 117–138: Lyrische Poesie (S. 123: drei Dichtungsarten der lyrischen Poesie: Lied, Ode, Elegie; S. 127 Kritik an einer „oft einseitig und nach zufälligen Merkmalen“ verfahrenden Wesensbestimmung der Elegie). Auch wenn in diesen Beispielen die Einordnung der Elegie in die lyrische Poesie längst vollzogen und geläufig geworden ist, klingt doch in manchen Bemerkungen noch deren ursprüngliche Schwierigkeit an, die sich auch noch in der Ästhetik Hegels und Vischers in der Einordnung der Elegie in die gewachsene Zahl lyrischer Arten spiegelt, welche der selbstverständlich gewordene Begriff der Lyrik nunmehr umfassen soll. 72 Kennzeichnend für diese – um wenigstens zwei Beispiele zu nennen – die ihr geltenden Paragraphen im Kapitel über „Die lyrische Poesie“ bei Eschenburg und der Artikel „Hymne“ bei Sulzer (Bd. 2, S.659ff.). 73 Vgl. u. a. Martin Rinckart, Summarischer Discurs vnd Durch-Gang / Von Teutschen Versen / Fuß-Tritten vnd vornehmsten Reim-Arten. Oder Teutsche Prosodia, Leipzig 1645 (Expl. StuUB Göttingen), S. 46f. (... so ist auch gar sehr wol erlaubet vnd zugelassen / daß man in einer eige-

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des 18.  Jahrhunderts der Enthusiasmus zum bestimmenden Merkmal der Ode wird, je mehr damit andere traditionelle Merkmale wie Sprünge und Digressionen, die lyrische Unordnung eine verstärkte, konkrete Bedeutung gewinnen und immer stärker in der poetischen Praxis geübt werden, je mehr höchste Gegenstände und gesteigerter Stil als notwendige Züge einer im Enthusiasmus begründeten lyrischen Dichtung gelten, desto mehr muß doch auch bewußt werden, daß es auch sehr andersartige Erscheinungen lyrischer Dichtung, daß es mindestens Grade der sie beherrschenden Empfindung gibt. Das wird verstärkt durch den fortgeschrittenen Stand der Rezeption der Antike, der im Bewußtsein des Abstands bisherige Formen ihrer imitatio nicht mehr ohne weiteres genügen läßt,⁷⁴ und durch die allmählich sich entwickelnde Fähigkeit zur Nachbildung der antiken Versformen und Odenstrophen. Noch 1723 zum Beispiel hatte Johann Samuel Wahll in seiner „Gründlichen Einleitung zu der rechten  / reinen und galanten Teutschen Poesie“⁷⁵ erklärt: „Die Genera der Lateiner nachzumachen

ner Erfindung / entweder nach dem Exempel der Griechischen / oder Lateinischen / oder der Vnserigen Beliebung / alte oder newe Reim-Arten nehme / mache vnd gebrauche / darinnen nicht nur zweyerley  / sondern wol alle viererley Arten: Jamben; Trochen; Anapaesten; vnd Dactylen zu befinden) – Kaldenbach, Poetice Germanica, 1674, S. 23f. (Cap. V. De Carmine & Strophis) – Männling, Der Europaeische Helicon, 1704, S. 148 (Die Zwanzigste Art. Von Oden) – Woken, Anleitung zur Teutschen Poesie, 1715, S. 51 (12. Kap. Von Arien und Liedern) – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 41751, S. 427 (Von Oden, oder Liedern). Bezeichnend für den mit der Nachbildung antiker Versmaße sich vollziehenden Wandel ist schließlich das kritische Urteil in Sulzers Artikel „Lyrische Versarten“ über die herkömmlichen Vers- und Strophenformen in deutscher lyrischer Dichtung: „Vor noch nicht langer Zeit hatten die deutschen lyrischen Dichter sehr eingeschränkte Begriffe von den lyrischen Versarten in ihrer Sprache. Fast alles war durch das ganze lyrische Gedicht entweder in Jamben, oder Trochäen gesetzt; und die größte Mannigfaltigkeit suchte man darin, daß der jambische, oder trochäische Vers bald länger, bald kürzer gemacht wurde. Um das Jahr 1742 fingen Pyra und Lange an, einige alte lateinische, oder vielmehr griechische Versarten in der deutschen Sprache zu versuchen: die Sache fand bald Beyfall ...“ (Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.3, 21793, S. 305; es folgt ein Hinweis auf Ramler und vor allem auf Klopstock). 74 Als dafür symptomatisch sei hier nur erinnert an die „Querelle des anciens et des modernes“ und ihr Fortwirken im 18. Jahrhundert; s. dazu die Hinweise in Anm. 94 zu der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. 75 S. 68; der Verfasser fährt u. a. fort: „Warum solte sich auch die galante teutsche Sprache von einer andern so fesseln lassen. Thut man also am besten, wenn man mit bißher angeführten Generibus zufrieden ist, oder nach deren Beschaffenheit neue erfindet“ (S.  69). – Auch wenn Morhof von der Möglichkeit antiker Metren in deutscher Sprache meint: „... will ich mich verpflichten  / daß ich die meisten davon im Teutschen so nachmachen will  / daß sie nicht unlieblich seyn sollen ... Wer es nur versuchen will  / und die Worte und Reime zu seinem Willen hat / dem wird es nicht fehlen / und wundert mich sehr / daß da man so viele Neuerungen gemacht / auch hierauff nicht mehr befliessen gewesen ist“ (Unterricht von der Teutschen

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gehet nicht wohl an“. 1746 wendet sich Samuel Gotthold Lange in der Vorrede seiner Psalmennachdichtung⁷⁶ gegen die in der älteren deutschen Odentheorie obligate Forderung nach Vermeidung des Enjambements,⁷⁷ bleibt aber noch mit Rücksicht auf das Publikum beim Reim. Im Jahr darauf erklärt Georg Friedrich Meier in der Vorrede zu Langes „Horatzischen Oden“,⁷⁸ daß wichtiger als der Reim die Bemühung um Bereicherung der deutschen Silbenmaße sei (S. 11) und

Sprache und Poesie, 21700, S. 303), ist die Skepsis gegen Möglichkeit und Sinn solcher Nachahmung nicht nur im 17. Jahrhundert verbreitet, sondern bleibt auch noch über Wahll hinaus im 18. Jahrhundert für längere Zeit wirksam: vgl. u. a. Schottel, Teutsche Vers- oder ReimKunst, 1645, S. 215 – Kaldenbach, Poetice Germanica, 1674, S. 26f. – Omeis, Gründliche Anleitung, 1704, S. 84 („Die Sapphische und Phalaecische Art ... etwan ausgenommen / so achte ich die übrige vor unnöthige Schul-Grillen“) – Köhler, Deutliche und gründliche Einleitung, 1734, S. 108 – Heinrich Braun, Anleitung zur deutschen Dicht- und Versekunst, München 1761 (Expl. StB München), S. 142–152: VIIII. Hauptstück. Von den aus dem Lateinischen und Griechischen entlehnten Versarten (zustimmend zwar zum Gebrauch des Hexameters, des Distichons und des Sapphicums, skeptisch jedoch S. 150f. gegen weitere: „Von den übrigen, die noch hin und wieder (wiewohl gar selten) in den Poeten vorkommen, könnte man sich vieleicht nur noch die alkaischen und die asclepiadischen Verse merken“) – zur weiteren Diskussion im 18. und 19. Jahrhundert: Die Lehre von der Nachahmung der antiken Versmaße im Deutschen. In Quellenschriften des 18. und 19.  Jahrhunderts. Mit kommentierter Bibliographie, hrsg. v. HansHeinrich Hellmuth u. Joachim Schröder, München 1976. 76 Oden Davids oder Poetische Uebersetzung der Psalmen, Bl. )( )(3r: „Ich weiß auch nicht, mit welchem Ansehen man vertheidigen wolle, daß der Verstand mit jeder Zeile voll seyn müsse, oder daß der Punct mit der dritten Zeile den Satz schliessen müsse. Bey mir wenigstens sind diese Regeln von keinem Gewichte, und die Gründe, mit denen sie unterstüzt werden, sind mir bis jetzo noch gantz unbekant“; Bl. )( )(2rf.: „Meine Uebersetzung ist in Reimen verfasset, oder vielmehr eingefasset. Ich habe sie diesesmahl nicht weglassen können, ich möchte in gewissen Verstande die Worte gebrauchen: ihr könnets jezt noch nicht dulden. Die wenigsten würden Geschmack an meiner Arbeit finden, wann sie sich mit einmal zu viel angewöhnen müßten. Ich werde zu frieden seyn, wann einige andere Neuerungen durchgehen“. 77 Zu dieser Forderung s. oben Anm. 31. – Zu Langes Kritik an dieser Forderung s. auch seine anonyme Abhandlung „Die Lehre von der Ode“, S. 108f. (Der Gesellige, 155. St., 1749). Weitere Belege für solche Kritik neben und nach Lange, z.T. ausdrücklich verknüpft mit zunehmender Unterscheidung von Ode und Lied oder mit einer Hervorhebung der Wirkung des Enjambements in antiken Oden, u. a. bei: G.F. Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst (1747), S.  243f., 262ff. – Klopstock, Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen (1755; Ausgewählte Werke, hrsg. v. K.A. Schleiden, S. 1046) – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie, T.1 (1767), S.  308 – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S. 374 – Gottfried August Bürger, Lehrbuch der Ästhetik, hrsg. v. Karl v. Reinhard, Berlin 1825 (Expl. UB Mainz), T.2, S. 251f. (aus Vorlesungen zwischen 1784 und 1794) – W.F. Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 246f. 78 S.G. Lange, Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime, Halle 1747, S. 3–21.

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daß der Reim in „Gedichten, wo der Schwung der Gedanken nicht kühn seyn darf, wo man nicht die höchsten poetischen Schönheiten anbringen darf, wo die angenehme Verwirrung und mannigfaltige Abwechselung der Gedanken nicht so groß seyn darf“, noch eher geduldet werden könne, „als in andern, die wie z.E. eine pindarische oder horatzische Ode beschaffen seyn müssen“ (S.  17f.).⁷⁹ Lange selbst gibt in diesem Band noch unvollkommene Nachbildungen antiker Oden, verzichtet nicht überall auf den Reim und erklärt sich auch noch 1752 in der Vorrede seiner Horaz-Nachdichtungen einschränkend über die Möglichkeit einer Nachbildung antiker Metren.⁸⁰ Doch gibt seit 1747 vor allem Klopstock in immer wachsendem Maße das unübersehbare Beispiel einer konsequent in antiken Metren und entsprechenden eigenen Erfindungen verwirklichten lyrischen Dichtung. Und so spricht schließlich, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, auch die Odentheorie immer selbstverständlicher von der Möglichkeit einer Verwendung antiker Strophenformen,⁸¹ die freilich erst

79 Die über viele Jahrzehnte sich erstreckende Diskussion über den Reim reicht – um wenigstens einige charakteristische Punkte zu markieren – von der Skepsis Morhofs, der reimlose Verse für „unnöthige Arbeit“ (S. 276) hält und die „metra und pedes“ der Griechen und Lateiner für schwieriger als deutsche Reime (S. 279), oder Hallbauers Hervorhebung der „sonderbaren Lieblichkeit“ und „Anmuth“ der Reime über die früh einsetzende mannigfache Polemik Bodmers und Breitingers gegen den Reim und seine angebliche besondere Anmut bis hin zu Sulzer, der den so lange umstrittenen Reim noch „als eine Deke, die man vor die Schwäche und Fehler des Verses zieht, als ein Hülfsmittel des Gedächtnisses, als ein körperliches Mittel, träge Ohren zu reizen, gelten lassen“ will, ihn aber zugleich „für überflüßig und gothisch“ erklärt: Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (21700), S. 273–276: 3.T., 7. Kap. Von den Reimen /ob sie nothwendig sind in der gemeinen Poesie; S. 277–285: 8. Kap. Vertheidigung der Reime – Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie (Jena 31736; Expl. UuLB Jena), S. 752 – Bodmer/Breitinger, Die Discourse der Mahlern, T.II (1722), S.  49ff.; T.IV (1723), S.  5f. – Johann Jakob Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd.  2, Zürich 1740 (ND Stuttgart 1966), S. 460 – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.4 (21794), S. 82. S. im übrigen auch die materialreiche, aber in ihrer poetikgeschichtlichen Perspektive begrenzte Arbeit von Claus Schuppenhauer, Der Kampf um den Reim in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bonn 1970. 80 Des Quintus Horatius Flaccus Oden fünf Bücher und von der Dichtkunst ein Buch poetisch übersetzt, Bl. a6v ff. 81 Vgl. z. B. Franz Seraph. Haase, Kurzgefaßter und ausführlicher Innbegriff der Kenntnisse und Lehrsätze zur Einsicht und Verfassung aller nothwendigern Gattungen der Gedichte, T.1, München 1778 (Expl. UB Köln), S.  61f. – Engel, Theorie der Dichtungsarten (11783), S.  496ff. (u. a. S. 499f.: „Ferner liebt der Odendichter die vollern, tönendern, prächtigern Sylbenmasse ... auch die aus mancherlei Füssen zusammengesetzten ... Der Liederdichter liebt dagegen die leichtern, fließendern, kürzern, bestimmtern Sylbenmasse, die aus lauter gleichförmigen Füssen, Jamben, Trochäen, Daktylen bestehen“) – Bürger, Lehrbuch der Ästhetik (Vorlesungen 1784/94), Bd.  2, S.  252f. (nahezu wörtlich nach Engel) – Eschenburg, Entwurf einer Theorie

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späterhin, im Lauf des 19. Jahrhunderts zur weithin maßgeblichen metrischen Form der Ode werden.⁸² Was durch den Prozeß der Aneignung antiker Versmaße und Strophenformen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Odendichtung möglich wird, das steht der antiken Odendichtung gewiß näher, ist gewiß eine angemessenere imitatio dieses Musters als die von der bisherigen Odentheorie gemeinten Gedichte in deutscher Sprache. Aber das ist doch erst im Gang eines längeren Rezeptionsprozesses möglich gewesen, und das Ergebnis, die Odendichtung zumal Klopstocks oder Hölderlins ist – nicht zum wenigsten deshalb, weil die ihr entsprechende Odentheorie von der ins Zentrum gerückten Vorstellung des dichterischen Enthusiasmus bestimmt ist – so sehr von der betonten Bindung an das Erhabene geprägt und damit von der Vielfalt antiker Odendichtung abgehoben, daß sie auch damit Anlaß zur Sonderung der lyrischen Arten gibt, die freilich auch erst hier möglich wie nötig wird und deren Ertrag für die Ode nicht etwa die endliche Wiedergewinnung eines vermeintlich genau faßbaren antiken Odenbegriffs, sondern die endgültige Ausbildung eines neuzeitlichen und gegen spätere Um- und Abwertung keineswegs gesicherten ist. Analog zu jener zunehmenden Verknüpfung der Ode mit dem Erhabenen und den antiken Metren setzt sich im Lauf der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die

und Literatur der schönen Wissenschaften (21789), S. 63 („Keine Sprache ist zur Nachahmung griechischer und römischer Sylbenmaaße so bequem, als unsre deutsche; und daher hat sie sich zugleich, bei dieser Nachahmung, der Fesseln des Reims mit dem glücklichsten Erfolg entledigt. Dieß ist besonders der Fall in größern epischen Gedichten ... in der höhern Ode, die durch das lyrische Sylbenmaaß der Alten einen freiern Schwung, einen edlern Gang und Ausdruck erhält; und im versifizirten Schauspiel“) – Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 207 („Die Deutschen bedienten sich ehemalen nur der Jambischen und Trogäischen Versarten zur Ode; Klopstock und Ramler aber, haben, mit viel Glück, die Horazischen Odensylbenmaase nachgeahmt“) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.3 (21793), S. 539f. – A. Schreiber, Lehrbuch der Aesthetik (1809), S. 240 („Die rhythmischen Formen für die Ode entlehnt der Dichter von den Alten, oder er bedient sich des Reims“). 82 Vgl. z. B. J.A. Eberhard, Handbuch der Aesthetik, T.4 (21820), S. 260ff. – Ph. Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2 (1824), S. 74, 76 („Die verschiedenen Arten der Versmaße, in welchen Oden geschrieben werden können, sind so zahlreich ... daß, sie nur einiger Maßen erschöpfend anzugeben, nicht möglich ist. Die vorzüglichsten, deren sich die deutschen Dichter bisher bedienten, sind den alten griechischen und römischen nachgebildet“) – Ignaz Jeitteles, Aesthetisches Lexikon, Wien 1839 (ND Hildesheim, New York 1978), T.2, S. 141 – F.Th. Vischer, Aesthetik, 3.T. (1857), S. 1349 („kunstreiche Strophen“ als eines der Merkmale der Ode) – rückblickend auf eine schon vergangene Blütezeit der Ode in antiken Metren: Tony Kellen, Die Dichtkunst, Essen 1911, S. 366: „Meist wurden antike Strophen beibehalten, doch gibt es auch vorzügliche gereimte Oden. In neuester Zeit ist dieser Zweig der lyrischen Poesie fast ganz vernachässigt worden“ (s. auch S. 364).

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Unterscheidung von Ode und Lied durch,⁸³ deren Ergebnis in den 80er Jahren in einer eingangs schon einmal zitierten repräsentativen Formulierung Eschenburgs lautet: „Vornehmlich aber lassen sich zwei Hauptgattungen lyrischer Gedichte absondern, die sich durch Inhalt und Vortrag merklich unterscheiden; nämlich, die eigentliche Ode, und das Lied. Jene hat erhabnere Gegenstände, stärkre Empfindungen, höhern Schwung der Gedanken und des Ausdrucks; dieses wird gewöhnlich durch leichtere und sanftere Gefühle veranlasst, und hat daher auch einen leichtern gemäßigtern Ton“ (S. 146). Ausschlaggebend für die Unterscheidung ist entsprechend dem zuvor schon in anderer Hinsicht Beobachteten das verschiedene Maß der Empfindung, dem sich die Gegenstände und der Ausdruck zuordnen. Systematische Grundlage ist dabei noch die Tradition der Rhetorik und der von ihr geprägten humanistischen Poetik mit ihrem Verfahren der Gattungsbestimmung durch inventio, dispositio und elocutio, mit ihrer Lehre von den genera dicendi und der durch das aptum geregelten Zuordnung von Gegenstand und Stil. Die führende Stellung hat dabei, wie sich schon in anderem Zusammenhang zeigte, die auf das Erhabene gerichtete Ode,⁸⁴ und

83 Als ausgewählte Belege seien genannt: Johann Peter Uz, Sämtliche Poetische Werke, hrsg. v. August Sauer, Stuttgart 1890 (ND Darmstadt 1964), S. 5 (Vorrede des ersten Herausgebers [i.e. Gleim] der lyrischen Gedichte 1749: „höhere Ode“; Lieder, „welche sänftere Empfindungen nachahmen“) – Friedrich von Hagedorn, Sämmtliche Poetische Werke, 3.T. (1757), S. XVff. – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie, T.1 (1767), S.  301ff. („Aus jenen Graden des Affects entstehen die mancherley Gattungen der lyrischen Poesie“) – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S.  374ff. (nach Chr. H. Schmid) – J.J. Herwig, Grundriß der eleganten Litteratur (1774), S. 411ff. (nach Chr. H. Schmid) – Haase, Kurtzgefaßter und ausführlicher Innbegriff (1778), u. a. S.  58 („Die Ode ist der geistvolle melodische Ausdruck einer heftig gereizten Empfindung“), S.  60 („Das Lied erheischet eben keine Hohheit oder Stärke der Gedanken: hingegen muß es einen sanften, feinen, gefälligen, anmuthigen, und gesellschaftlichen Charakter besitzen“) – Engel, Theorie der Dichtungsarten (11783), S. 444, 497ff. – Bürger, Lehrbuch der Ästhetik (Vorlesungen 1784/94), Bd. 2, S. 251ff. (weitgehend nach Engel) – Heydenreich, System der Aesthetik, Bd. 1 (1790), S. 298ff., 317ff. – Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 202ff. – Ramler, Kurzgefaßte Einleitung in die schönen Künste und Wissenschaften (1798), S. 40ff. (ausdrückliche Unterscheidung auch nach der Höhe des Stils). Als Belege aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen sich z.T. schon über die selbstverständlich gewordene Unterscheidung von Ode und Lied hinaus eine Ausweitung des Begriffs der lyrischen Poesie abzeichnet, der zunehmend weitere Arten einzubeziehen hat: J.A. Eberhard, Handbuch der Aesthetik, T.4 (1820), S. 259ff. – Ph. Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2 (1824), S. 73ff. – Hillebrand, Lehrbuch der Literar-Aesthetik, Bd.  1 (1827), S.  123 – Jeitteles, Aesthetisches Lexikon (1839), T.2, S. 22ff. (Lied), S. 32ff. (Lyrische Poesie), S. 139ff. (Ode). 84 S. auch dazu die in der vorigen Anmerkung genannten Belege, in denen die vorerst noch führende Rolle der Ode nicht nur an den unterscheidenden Bestimmungen von Ode und Lied sichtbar wird, sondern zumeist auch schon an der Reihenfolge ihre Behandlung.

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was Eschenburg in späteren Paragraphen zum Lied und seinen Inhalten sagt, zeigt, daß es hier noch stärker geselligen Charakter und noch sehr viel weniger Anteil am Begriff von Lyrik als Ausdruck der Empfindung des Dichters hat: „... die Gegenstände, welche sie veranlassen, sind minder erhaben, und von minder ausgebreitetem Einfluß. Sanfte und erfreuende Religionsempfindung, Freude über den Anblick der Natur, das Gefühl der Zärtlichkeit und der Freundschaft, der frohe Genuß des geselligen Lebens, Scherz und Fröhlichkeit, durch diesen Genuß erweckt und belebt, machen den gewöhnlichsten Inhalt des Liedes aus“ (S. 155). Es ist aber die auch hier zu beobachtende eigentümliche Paradoxie, daß das später als ganz unrhetorisch geltende Lied gerade mit den Eigenschaften, mit denen es in einer rhetorisch bestimmten Systematik der Gedichtarten der Ode untergeordnet ist, nach und nach im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert die Ode aus ihrer Rolle als Inbegriff lyrischer Dichtung verdrängen kann.⁸⁵

85 Als Beispiele für die nach und nach sich vollziehenden Veränderungen in der Charakterisierung und Bewertung des Liedes und im Verhältnis von Ode und Lied seien angeführt: Heydenreich, System der Aesthetik (1790), Bd. 1, S. 343ff. – Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 245–248: (Charakterisierung des Liedes in fortwährender Abgrenzung gegen die Ode; u. a.: „... weder tiefe Gedanken, noch Worte wichtigen Innhalts, noch kühne Wendungen, noch andere Oden-Schönheiten, hat das Lied nöthig. – Uebrigens muß der Ausdruck des Lieds einfach, ungekünstelt, und, soviel möglich, durch das ganze Lied, sich gleich seyn. Alles muß, in kurzen Sätzen ausgedrückt werden, mit natürlicher und leichter Zusammenordnung der Worte. Die Schilderungen müssen kurz und höchst natürlich seyn. Nichts darf auf Nachdenken und folglich von der Empfindung ableiten; daher auch der eigentliche und figürliche Ausdruck, mit allen Bildern, geläufig und natürlich seyn muß“ (S.  248) – F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 3, S. 113 (Rez. Goethes Werke 1806, in: Heidelbergische Jahrbücher, 1808): „das lyrische Gedicht, das Lied, ist die freieste Äußerung der Poesie“; Bd. 19, S. 268 (Gedanken, 1808/09): „Lied das Höchste der reinen Poesie“ – A. Schreiber, Lehrbuch der Aesthetik (1809), S. 242: „Das Lied ist reiner Ausdruck der Freude, die sich von selbst in Gesang auflößt“ – Ph. Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2 (1824), S. 93: „... die vorzüglichsten Eigenschaften des Liedes: a) Einfachheit der Darstellung ... [Goethe als Beispiel] ... b) Die melodische Weise des Ausdrucks. Hierin liegt das eigentliche Wesen des Liedes und seine Vollkommenheit; man möchte sagen, die Seele desselben“, S. 150f.: „Göthe ist einer der vorzüglichsten lyrischen Dichter aller Zeiten ... So vorzüglich aber auch alles ist, was er im Gebiete der Ode geleistet, so sind es doch seine Lieder vor Allem, die ihm den ersten Rang unter Deutschlands Dichtern auch in dieser Gattung anweisen“ – Hillebrand, Lehrbuch der Literar-Aesthetik, Bd. 1 (1827), S. 123: drei Dichtungsarten: „Man kann dieselben nach ihrem jedesmaligen Grundcharakter näher bezeichnen als Lied, Ode und Elegie“ (die allgemeine Kennzeichnung der lyrischen Poesie, die S. 117 als die „Poesie des Gemüths“ verstanden wird, ist freilich, auch wenn das Lied hier eine deutliche Aufwertung in der Hierarchie der lyrischen Arten erfährt, noch immer von traditionellen Elementen der Odentheorie wie „lyrisch-poetische Begeisterung“, „lyrische Unordnung“, „lyrischer Schwung“ durchzogen, die nur ganz allmählich ihre einst beherrschende Bedeutung verlieren und zunehmend zurücktreten).

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Für diesen eigenartigen Vorgang sind die Äußerungen Herders zur Lyrik und darin zur Ode besonders aufschlußreich. Von Herder, der oft allzu einfach als der große Anreger und Vertreter einer liedhaften, gefühlsunmittelbaren Lyrikauffassung gilt, gibt es eine Reihe von Schriften und Entwürfen, die über mehrere Jahrzehnte hin die allgemeine Entwicklung der Oden- und Lyriktheorie begleiten und in ihren nicht immer leicht durchschaubaren Begriffen und ambivalenten Urteilen deren Probleme und Antriebe spiegeln.⁸⁶ Herder hat sich in den frühen 60er Jahren in zahlreichen Exzerpten und Entwürfen zu einer eigenen Abhandlung mit der damaligen Diskussion der Ode auseinandergesetzt.⁸⁷ In den Fragmenten „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ hat er 1767 Ramler, Klopstock, Uz, Lange als Nachahmer der Horazischen Ode gewürdigt (SW I, S. 450–469), dabei zustimmend grundlegende Passagen aus Mendelssohns Rezension der Gedichte der Karschin in den „Litteraturbriefen“ von 1764 zitiert (S. 463–465) und unter Anspielung auf die eigenen Pläne eine philosophisch begründete vollständige Theorie der Ode gefordert, für die er als kritisch zu sichtendes Material französische und deutsche theoretische Schriften vor allem des 18. Jahrhunderts nennt. Noch 1795 im 2. Teil der „Terpsichore“ bekundet Herder hohe Schätzung der Ode (SW XXVII, S. 182ff.), der Dichtung des Horaz, zu der er Scaliger zitiert (S. 196f.), der Leistung Klopstocks und der Bedeutung der von ihm durchgesetzten Eindeutschung antiker Metren (S.  172f.). Überall ist für Herder die Ode als das „erstgeborne Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst, und der Keim ihres Lebens“ (SW XXXII, S.  62) eine zentrale Erscheinung lyrischer Dichtung, und es wird, trotz mancher mit der herkömmlichen Identifizierung von Ode und Lied zusammenhängender Unklarheit, doch deutlich, daß unter dem Wort Ode bei Herder zumeist besonders das gemeint ist, was man in diesen Jahrzehnten zunächst als eigentliche Ode zu benennen und dann ausdrücklich vom Lied zu unterscheiden beginnt.⁸⁸ Aber schon in dem frühen Fragment einer Abhandlung über die Ode steht neben deren Schätzung Kritik an unreflektierter Horaz-Nachahmung (SW XXXII, S. 65f.), an kalten Oden, mechanisch befolgten Regeln der Ode (S. 73), am alten Stichwort der Odenunordnung, unter dem man die „ungereimteste Aus-

86 Ausführlicher hierzu die Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung“ in diesem Band. – Die Zitate aus Herders Schriften nach: Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913 (ND Hildesheim, Zürich, New York 1994) = SW. 87 Vgl. SW XXXII, S. 61–85 (Fragmente einer Abhandlung über die Ode) sowie die Hinweise in Anm. 22–29 zur eben genannten Abhandlung. 88 Vgl. dazu die letzten Absätze der erwähnten Herder-Abhandlung in diesem Band und die zugehörigen Anm. 129–131 und 134.

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schweifung“ verberge (S. 77). Im „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“ (1773 gedruckt) verschärft sich, obgleich die hohe Schätzung Klopstocks bezeichnenderweise bestehen bleibt (SW V, S.  204), die Kritik Herders an aller Künstlichkeit von Regeln für lyrische Dichtung, an der „gekünstelten Horazischen Manier“ deutscher Dichter und den „neuern sogenannten Philosophischen und Pindarischen Oden der Engländer“ (S. 203), sieht Herder im Kontrast zu den „Kunstsprüngen der Ode“ Sprünge und Würfe als Ausdruck wahrer, unmittelbarer Empfindung in den von der antik-humanistischen Tradition unberührten Liedern alter, ferner, wilder Völker (u. a. S. 196f.), fordert er, die „Lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas zu einfältigen, an einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben zu gewöhnen, kurz uns von so manchem drückenden Schmuck zu befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden“ (S. 203), verlangt Herder, „daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebesgesange das Herz und kein Regelncodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil statt unser, sprechen dörfe“ (S. 204f.), und erhofft: „Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch Menschlichen Herzens – mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur“ (S. 206). Bei Herder tritt das Lied nicht etwa schon an die Stelle der Ode als Inbegriff lyrischer Dichtung, ja es wird nur teilweise erst von ihr unterschieden. Die Ode steht sogar weithin im Vordergrund von Herders Äußerungen zu lyrischer Dichtung. Aber im Rahmen solcher Schätzung der Ode beginnt Kritik an ihr oder jedenfalls an bestimmten Mustern, an der Verbindlichkeit ihrer Vorschriften und am Sinn einzelner Merkmale. Je mehr Ausdruck der Empfindung, dessen sich der frühe Herder freilich erst in seinen Entwürfen hat vergewissern müssen,⁸⁹ als selbstverständliche Leistung von Lyrik gilt, desto mehr kann sich Zweifel regen, ob denn dies, um dessentwillen sie zunächst gerade im 18. Jahrhundert so wichtig geworden war, die Ode zu leisten vermöchte, von deren Plan noch 1764 Mendelssohn in der Karschin-Rezension bekannt hatte, daß er „kein Werck der Begeisterung, sondern des Nachdenkens und der überlegenden Vernunft“ sei (S. 151), und von deren Unordnung man dementsprechend immer wieder gesagt hatte, daß sie zuletzt doch nur eine scheinbare sei.⁹⁰ Zwar konnte Herder in dem,

89 S. auch dazu die einschlägigen Abschnitte in der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“. 90 Zu dieser Aussage, die an Boileaus Feststellung (L’Art poétique II,72), der von ihm geforderte beau desordre sei „un effet de l’art“, anknüpft, vgl. u. a. Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, Der Mahler der Sitten, Bd. 1, Zürich 1746 (ND Hildesheim, New York 1972), S.  55 (im Anschluß an eine Teilübersetzung des Boileau): „... er will allein anbefehlen, daß man die Ordnung darinnen durch die Kunst, so wohl als die Kunst selbst verberge“ – (Lange), Die Lehre von der Ode (1749), S. 102f.: „... Zusammensetzung der Gedanken, bey welcher die Ordnung, und wie der Dichter von einem auf das andere komt, nicht vor die Augen gelegt

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was Klopstock aus der Ode gemacht hatte, eine Erfüllung seiner eigenen Erwartungen von der Lyrik als Ausdruck der Empfindung sehen.⁹¹ Doch je mehr solcher Ausdruck der Empfindung natürlich und unmittelbar sein soll, desto mehr muß die Ode mit ihren herkömmlichen Merkmalen, mit ihrer Bindung an überpersönliche erhabene Gegenstände und mit ihrer zunehmenden Prägung durch die genau gemessenen, strengen antiken Metren als eigentlich doch zu künstliche und hohe Form erscheinen. Die Ode bleibt bei Herder so sehr Ausgangspunkt, daß er, wenn er von den „Würfen und Sprüngen“ in den Liedern alter Völker spricht, einen zentralen Begriff der Odentheorie zur Bezeichnung des von ihm gesuchten Andersartigen überträgt und in der Einleitung zum 2. Teil seiner Sammlung „Volkslieder“ (1779) nur gelegentlich durch den Begriff „Weise“ als eines Wesensmerkmals des Liedes ergänzt.⁹² Aber wenn Herder in beginnendem Unbehagen an dem zuweilen als zu künstlich empfundenen Formanspruch der Ode fordert, die „Lyrischen Gesänge ... zu einfältigen ..., von so manchem drückenden Schmuck zu befreien“ (SW V, S. 203), dann bereitet sich in solchen Äußerungen jedenfalls eine Abwendung von der Ode vor, die mit ihrer Art des in der Lehre vom Enthusiasmus begründeten Empfindungsausdrucks eben gerade – im Sinne einer rhetorisch begründeten Poetik – dem hohen Stil zugeordnet ist und ihre Kraft aus dem ihm zugehörigen und zeitweilig in den Mittelpunkt des Dichtungsverständnisses gerückten Redezweck des movere bezieht, der seinerseits auch mit dem Zurücktreten einer Wirkungs- und dem Hervortreten einer Ausdrucksabsicht an Bedeutung als Element der Dichtungslehre verliert. Zugleich kann sich das Lied um seiner rhetorisch verstandenen Einfachheit willen, die es zunächst der Ode untergeordnet sein ließ, den sich verändernden Erwartungen von Lyrik, wie sie sich bei Herder anbahnen, zunehmend als Gefäß anbieten. Wie das gerade auf dem Hintergrund einer von der zunächst immer noch bestimmenden Ode ausgehenden Bemühung um Abgrenzung und Defini-

wird“, „eine scheinbare Unordnung“ – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (41751), S. 435 (unter Berufung auf Boileau) – Anon., Von der Ode (1763), S. 161ff. 91 Vgl. die schon oben erwähnten Stellen: SW XXVII, S. 172 (Terpsichore, T.2, 1795) im Zusammenhang mit Klopstocks Verdienst um die Eindeutschung der antiken Odenmaße: „Damit hat er nicht nur Griechen und Römer uns näher gebracht ... sondern, was ungleich mehr sagt, Er hat uns in diesen Gedanken- und Empfindungsweisen der Alten für unsre eigensten und reinsten Empfindungen gleichsam eine neue Sprache geschaffen, und damit dem innigsten Gemüth eine Bildung, der Seele eine Selbsterkenntniß, dem Herzen einen Ausdruck, der Sprache eine Zartheit, Fülle und Wohlklang verliehen, von der man vor ihm nicht träumte“ und die Preisung des namentlich nicht einmal genannten Klopstock und seiner kurz zuvor (1771) erschienenen Oden-Sammlung am Ende des Ossian-Briefwechsels (SW V, S. 204). 92 SW XXV, S. 332; s. auch die Anm. 129 zur Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band.

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tion des Liedes möglich wird, zeigt etwa auch ein Brief Moses Mendelssohns an Johann Jakob Engel vom 2.10.1782, worin es heißt: „Ich glaube, das Lied unterscheide sich durch einen eigenthümlichen Charakter von der Ode. Ich glaube, das Lied sei ein Ausbruch der Freude, wenn das Gemüth zur Fröhlichkeit, ohne Bewußtseyn einer bestimmten Veranlassung, zum Singen bestimmt ist; dahingegen bei der Ode diese Veranlassung bestimmt seyn, und sogar aus dem Gange der Ideen sich ergeben muß“.⁹³ Damit das Lied seine bei Herder sich erst allmählich abzeichnende Rolle an Stelle der Ode in der Lyrikauffassung gewinnen kann, muß es freilich auch sich selbst wandeln, muß seine noch bei Eschenburg sichtbare vorwiegend gesellige Funktion zurücktreten, muß es privater werden und sich auch dadurch von der Ode unterscheiden und aus dem rhetorischen System der Gedichtarten lösen, muß seine in der Ablehnung des Enjambements immer festgehaltene Sangbarkeit einen verinnerlichten Sinn erhalten, muß sein Merkmal stilistischer Einfachheit erst als Möglichkeit unmittelbaren Empfindungsausdrucks aktiviert, muß seine Sprache erst entsprechend verwandelt werden. Als exemplarisch für diesen Prozeß, der seine Voraussetzung in der Odentheorie und der aus ihr heraus entwickelten neuen Vorstellung und Erwartung vom Lied hat, kann die Entwicklung der Lyrik des jungen Goethe von den noch vom Rokoko geprägten Anfängen an gelten. Mit ihrem Ertrag ist sie dann nicht ohne Grund Hauptmuster der Lyrik in der Theorie des 19. Jahrhunderts. Das abschließende Ergebnis der hier angedeuteten Veränderungen der Lyriktheorie liegt in besonders prägnanten Formulierungen in Hegels vor allem seit 1820 vorgetragenen, 1835–1837 postum erschienenen „Vorlesungen über die Ästhetik“⁹⁴ und, noch endgültiger, im letzten Band der „Aesthetik“ Friedrich Theodor Vischers (1857)⁹⁵ vor. In Hegels Systematik der lyrischen Arten erscheint nach Hymne und Ode als dritte Stufe, wo die „ganze unendliche Mannigfaltigkeit der lyrischen Stimmung und Reflexion“ sich auseinander breitet, das Lied, „in welchem deshalb auch die Besonderheit der Nationalität und dichterischen Eigentümlichkeit am vollständigsten zum Vorschein kommt“ (S. 1025). Während Hegel vielen Erscheinungen hymnischer Dichtung eine kalt und abstrakt wir-

93 Johann Jakob Engel, Briefwechsel aus den Jahren 1765–1802, hrsg. und kommentiert v. Alexander Košenina, Würzburg 1992, S. 85; auch in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Briefwechsel III, bearb. v. Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 81. 94 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1955 (Neuausgabe der 1842 erschienenen 2. Auflage von H.G. Hothos Edition), S. 1022–1029 (II. Die lyrische Poesie: 2,c, Die Arten der eigentlichen Lyrik). 95 3. Teil, 2. Abschnitt, 5.H. Die Dichtkunst, S. 1342–1374 (Die lyrische Dichtung: 2. Die Arten der lyrischen Dichtung).

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kende künstlichere Hitze vorwirft (S. 1024), während er an den Oden des Horaz vieles „sehr kühl und nüchtern und von einer nachahmenden Künstlichkeit“ findet und von Klopstocks Begeisterung meint, sie bleibe „nicht jedesmal echt, sondern wird häufig zu etwas Gemachtem“ (S.  1025), heißt es hingegen vom Lied:⁹⁶ „Da braucht’s nicht viel Inhalt, innere Größe und Hoheit; im Gegenteil, Würde, Adel, Gedankenschwere würden der Lust, sich unmittelbar zu äußern, nur hinderlich werden. Großartige Reflexionen, tiefe Gedanken, erhabene Empfindungen nötigen das Subjekt, aus seiner unmittelbaren Individualität und deren Interesse und Seelenstimmung schlechthin herauszutreten. Diese Unmittelbarkeit der Freude und des Schmerzes, das Partikuläre in ungehemmter Innigkeit soll aber gerade im Liede seinen Ausdruck finden. In seinen Liedern ist sich jedes Volk daher auch am meisten heimisch und behaglich“ (S. 1025f.).⁹⁷ In der etwas anders angeordneten Systematik der lyrischen Arten bei Vischer steht das Lied, in anderer Weise, aber im selben Sinne wie bei Hegel herausgehoben, als Lyrik des reinen Aufgehens des Gegenstandes im Subjekt zwischen der Lyrik des Aufschwungs zum Gegenstand, zu der Hymne, Dithyrambus und Ode gehören, und der Lyrik der beginnenden und wachsenden Ablösung aus dem Gegenstand oder der Betrachtung, wozu Formen wie Elegie, Sonett, Epi-

96 Für die Umprägung einer immer noch wirksamen Tradition, die sich in Hegels Systematik vollzieht, ist es bezeichnend, daß die hier zitierte Bestimmung des Liedes und weitere, die ihr folgen („geht ... nicht etwa in begeisterndem Fluge von einem Gegenstande zum andern fort ... bleibt ... ohne Ungleichheit des Fluges und Affekts, ohne Kühnheit der Wendungen und Übergänge ...“), wiederholt abgrenzend Bezug nehmen auf lange tradierte Merkmale der Ode. 97 Dieselbe Reihenfolge der lyrischen Arten und eine vergleichbare Hervorhebung des Liedes finden sich in den knapper als Hothos Edition referierenden Nachschriften der Hegelschen Ästhetik-Vorlesungen, die in den letzten beiden Jahrzehnten ediert worden sind: Vorlesung über Ästhetik, Berlin 1820/21. Eine Nachschrift, hrsg. v. Helmut Schneider, Frankfurt a.M. u. a. 1995 (Nachschrift von Wilhelm von Ascheberg u. Willem Sax van Terborg), S. 317: „Das eigentlich deutsche lyrische Gedicht ist das Lied“ – Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Darmstadt 2003 (Nachschrift von Heinrich Gustav Hotho von 1823), S. 298: „Das Lied ist denn vornehmlich ein modernes lyrisches Gedichte. Die Goethischen Lieder sind das Wirkensvollste, weil sie ganz ihm und seinem Volk angehören“ – Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon u. Karsten Berr, Frankfurt a.M. 2004 (Nachschrift von P. von der Pfordten), S. 243: „Das dritte ist das Lied, das die ganze lyrische Mannigfaltigkeit in sich faßt; dies ist die eigentliche Bestimmung des Lyrischen für uns“ – Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826. Mitschrift Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert u. Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2004, S.  220: „Das dritte ist das Lied, das die ganze lyrische Mannigfaltigkeit umfaßt“.

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gramm rechnen (S. 1342ff.).⁹⁸ Auch hier fallen, zugleich mit der eingangs zitierten zusammenfassenden Definition der Ode, kritische Bemerkungen über die Verbindung von Glut und unleugbarem Frost in der Ode (S. 1349, mit Berufung auf Hegel), über die Sprünge, die sie „künstlich methodisirt“ habe (S. 1351). Vom Lied hingegen heißt es bei Vischer: „Alle Grundzüge des Lyrischen ... gelten vorzüglich von dieser Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit ist seine Natur“ und „Es bedarf keines Beweises mehr, daß in diesem Gebiete die lyrische Poesie allein ganz sie selbst ist und daß auf ihm der Dichter seinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr Dichter sei, er oder Göthe“ (S. 1351f.).⁹⁹ Hegel und Vischer zeigen in eindringlicher Weise, welche tiefgreifende Umwertung und Umkehrung sich spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in der Theorie der Lyrik und der Systematik ihrer Arten vollzogen und endgültig durchgesetzt hat und wie sehr in einem nun umfassend definierten Begriff von Lyrik das Lied anstelle der Ode als Inbegriff der ganzen Gattung dominiert.¹⁰⁰ Alles, was vorher die herausgehobene Stellung der Ode und ihre

98  Als Repetent am Tübingen Stift hat Vischer 1835 in einer Ästhetik-Vorlesung, wie aus einer Nachschrift Eduard Zellers hervorgeht, noch eine andere Einteilung vorgetragen: a) „Lyrik der ausströmenden Empfindung“ mit Hymne, Dithyrambus, Ode und Lied, b) „Lyrik der sich betrachtenden Empfindung“ mit Elegie, Sonett, Epigramm, Epistel, Satire, Romanze und Ballade (Berlin, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlaß Eduard Zeller, 15). 99 Symptomatisch für die Selbstverständlichkeit der zentralen Rolle, die das Lied für das Lyrikverständnis des 19.  Jahrhunderts gewonnen hat, ist es, daß ähnlich dezidierte Äußerungen wie bei Vischer schon vor ihm u. a. bei Autoren wie Heine oder Herwegh zu finden sind: Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 10, Hamburg 1993, S. 328 (Notizen über Freiligrath, vermutlich 1842): „Alles kann er machen, nur kein Lied – Ein Lied ist das Criterium der Ursprünglichkeit“ – Georg Herwegh, Werke, hrsg. v. Hermann Tardel, Berlin u. a. 1909, T.2, S. 211 (Die Poesie in Österreich, 1840): „... das Lied ist der Prüfstein für einen Lyriker“. 100 Wie umfassend dieser Vorgang war und wie sehr er über die Lyriktheorie hinaus das an Traditionen anknüpfende und geschichtlich sich wandelnde zeitgenössische Verständnis der Eigenart und Leistung von Formen der Kunst insgesamt betraf, lehrt ein Blick in Wörterbücher des 18. und 19. Jahrhunderts zur Musik, deren Theorie freilich, beschäftigt mit der Frage nach der Komponierbarkeit poetischer Texte, schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Distanz gegenüber der Ode neigte. Das „Musicalische Lexicon“ von Johann Gottfried Walther (Leipzig 1732; ND Kassel, Basel 1953) besitzt keinen Artikel „Lied“ und referiert unter dem Stichwort „Oda“ die herkömmliche Gleichsetzung von Ode und Lied: „Oda ... war bey den Alten ein Lied, so das Lob der Götter, Helden ... in sich hielt ... In heutiger Poesie ists ein Gedicht, welches mit etlichen Absätzen, die alle ein gleiches Zeilen- und Reimen-Maß halten, durchge-

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Bedeutung für die Theorie und Entwicklung der Lyrik begründete, wird nun zum eher zweifelnd registrierten, Distanz begründenden Merkmal. Alles, was gegenüber der Ode als der höchsten Dichtungsart das Lied als untergeordnet erscheinen ließ, macht nun seinen besonderen Rang aus und bestimmt durch und durch den Begriff der Lyrik. Und zugleich mit solcher Umkehrung der Hierarchie verfallen auch zuvor noch etwa bei Herder hochangesehene Muster lyrischer Dichtung wie Horaz oder Klopstock skeptischer Kritik.¹⁰¹ Zwar weist ein

führet wird: ein Lied. Sie werden gemeiniglich zu Lob-Gesängen gebraucht, und wollen mit hohen Worten und scharfsinnigen Gedancken ausgearbeitet seyn“ (S. 448), ohne auf die Frage nach deren Vertonung einzugehen. Dasselbe gilt von dem zum Teil an Walther anknüpfenden „Kurtzgefaßten Musicalischen Lexicon“ (11737; ND Leipzig 1975, S. 264). Mehr als ein halbes Jahrhundert später hingegen kennt das „Musikalische Lexikon“ von Heinrich Christoph Koch (Frankfurt 1802; ND Hildesheim 1964) keinen eigenen Artikel zur Ode mehr, sondern notiert nur (Sp. 1085): „Ode, s. Lied“, welches an seiner Stelle eingehend vor allem in musikalischer Hinsicht behandelt wird als „lyrisches Gedicht von mehreren Strophen, welches zum Gesange bestimmt“ ist und erfordert, „daß der Ausdruck der in dem Texte enthaltenen Empfindung durch einfache, aber desto treffendere Mittel erlangt werden muß“ (Sp. 901f., wo nur innerhalb eines Zitats neben anderen literarischen Formen auch die Ode erwähnt wird). Ähnlich steht es im „Kurzgefaßten Handwörterbuch der Musik“ (Leipzig 1807; ND Hildesheim, New York 1981) desselben Autors, der auch hier vom Stichwort „Ode“ nur auf den Artikel „Lied“ verweist, bei welchem er als besondere Leistung dieser Form feststellt: „Das Lied ist unter allen Kunstprodukten der mit der Musik vereinigten Poesie das einzige, wodurch jeder Mensch selbst durch Gesang seine angenehmen Empfindungen aussprechen, oder sich im Drange unangenehmer Empfindungen Erleichterung verschaffen kann. Schon hieraus springt es ins Auge, welch ein wichtiges Kunstwerk das Lied sey“ (S. 213). Die von Gustav Schilling redigierte „Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften“ schließlich kennt zwar einen (wenn auch nur sehr kurzen und fast nur der Antike gewidmeten) Artikel „Ode“ (Bd. 5, Stuttgart 1837, S. 202f.), behandelt aber viel eingehender das Lied (Bd. 4, Neue Ausgabe, Stuttgart 1840, S. 383–387), von welchem u. a. gesagt wird: „Ein ächtes, ein gelungenes Lied halten wir ... für ein großes Kunstwerk, und es waren von jeher auch nur große Geister, hehre Genie’s, die wahre Lieder schufen ... keine Nation ist so sehr für das rein Gemüthliche gestimmt, das im Liede sich ausspricht, als eben die deutsche“ (S. 384f.). – Zum Wandel des Verhältnisses von Ode und Lied in Musik und Musiktheorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. auch die Hinweise bei: Laurenz Lütteken, Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998, S. 313–331 – Heinrich W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit 1770–1814, Regensburg 1965, S. 20ff. 101 Symptomatisch für die schon vor Hegel sich vorbereitende Kritik an Horaz, dem einst allen Gebildeten vertrauten und für lange Zeit wichtigsten Musterautor lyrischer Poesie, sind Bemerkungen in den kurz nach 1800 gehaltenen Vorlesungen der Brüder Schlegel: August Wilhelm Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 1, Vorlesungen über Ästhetik I, S. 676ff. (Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, 2. Teil, 1802–1803): „Horaz. Stifter der künstlich nachgeahmten, von Musik nicht mehr begleiteten Lyrik. Wird gewöhnlich noch viel zu sehr für Original gehalten ... Zweifel an Horazens künstlerischer Infallibilität ... Conventionelle Kunst-

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Moment wie die Kürze, die noch bei Staiger – ohne Kenntnis der Vorgeschichte – als vermeintlich immerwährende Eigenschaft des lyrischen Gedichts hervorgehoben wird,¹⁰² auf die Herkunft der bei Hegel und Vischer formulierten und dann so lange nachwirkenden, am Lied orientierten Lyriktheorie aus der Geschichte der Odentheorie zurück:¹⁰³ Scaliger hatte im Blick auf Horaz formuliert (und Opitz war ihm darin gefolgt):¹⁰⁴ „Mihi ita videtur. Quaecunque in breue Poema cadere possunt, ea lyricis numeris colligere ius esse“.¹⁰⁵ Eschenburg beispielsweise begründete im 18.  Jahrhundert solche Kürze als Merkmal der vom Lied unterschiedenen Ode mit dem Satz: „Die Natur des leidenschaftlichen Zustandes und die bald vorübergehende Währung desselben macht die Kürze, sowohl der Gedanken als des Ausdrucks, der Ode, und überhaupt der lyrischen Poesie, nothwendig“.¹⁰⁶ Auch bei Engel gibt es ähnliche Bemerkungen im Rahmen einer von der Ode bestimmten Erläuterung lyrischer Dichtung,¹⁰⁷

sprache der Lyrik, von Horaz auf die späteren fortgepflanzt ... Lyrik im Treibhause. – Ausgearbeitete aber kalte Eleganz der Horazischen Oden ... Begeisterung ... bloß lyrisches Costum“ – Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 11, S. 71 (Geschichte der europäischen Literatur, 1803–1804): „Ein Beweis, daß es für uns ganz unmöglich ist, die griechischen Lyriker nachzuahmen, gibt uns am auffallendsten Horaz ... Genau genommen ist er auch kaum ein Dichter zu nennen, am wenigsten in seinen Oden“. 102 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 31956 (11946), u. a. S. 23f. („Alle echt lyrische Dichtung dürfte nur von beschränktem Umfang sein“), S. 71 („Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung aufmerksam“), S. 81 („Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt“). 103 Zum Ursprung des Merkmals der Kürze vgl. die entsprechende Passage in der Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 104 Buch von der Deutschen Poeterey (in: Gesammelte Werke, Bd. II/1), S. 369. – Weitere Beispiele aus dem 16. und 17. Jahrhundert u. a. bei Moritz von Hessen, Poetices Methodice Conformatae libri duo (1598), Bl.  C 7r: „Caeterum Lyricum carmen requirit cum animi libertate frequentiam sententiarum, & in ijs elegantem brevitatem“ – Bachmann/Helvicus, Poetica (31623), S.  324f.: „Ode est carmen breve Lyricum“ (mit folgender Berufung auf Scaliger und Abgrenzung gegen die Kürze des Epigramms) – Ph. von Zesen, Hoch-deutscher Helikon (1656; Sämtliche Werke, Bd. X/1), S. 170: „Die besten lieder seind / welche kurtz und an zahl der sätze ungerade / gemacht werden ...“. 105 Poetices libri septem (1561), S. 169 (lib. III, c.122). 106 Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (11783), S. 108. 107 Theorie der Dichtungsarten (1783), S. 478f.: „Die Ideen müssen immer über den Dichter, nie der Dichter über die Ideen herrschen; sobald er zur Besonnenheit erwacht, hat sein Gesang ein Ende“; S. 489: „Das Feuer des Tons ... kann ... eine neue Veranlassung zum Schluss der Ode werden. Der Dichter schliesst nehmlich, wenn die Empfindung bei ihm so hoch schwillt, dass er nichts mehr sagen kann“ – S.  auch Mendelssohn, Von der lyrischen Poesie (Gesammelte Schriften, Bd.  3/1), S.  337: „Sobald die Haupttheilnehmung nicht mehr lebhaft genug ist in Worte sich zu ergießen; so schließt sich das lyrische Gedicht“.

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während dieses Merkmal dann bei Hegel¹⁰⁸ etwa oder Vischer¹⁰⁹ in eine vom Lied beherrschte Lyrikauffassung übergeht und von da her auch noch bei Staiger als Wesensmerkmal einer ganz und gar vom Lied her verstandenen Lyrik mit Selbstverständlichkeit tradiert wird. Aber trotz solchem Symptom, das noch einmal die Herkunft einer schließlich ganz am Lied orientierten Lyrikauffassung aus der Entfaltung der Odentheorie bezeugt, wird spätestens bei Hegel und Vischer das Ende jener Entfaltung der Odentheorie, die hier abschließend formuliert ist und sich bis heute nicht mehr gewandelt hat, sichtbar und damit zugleich das Ende der produktiven Bedeutung der Form als solcher für die Lyrikgeschichte.¹¹⁰ Und im Rückblick von hier aus mag bewußt werden, wie sehr schon um 1800 Hölderlin, wenn er dem Beispiel des fast ein halbes Jahrhundert älteren, nun aber schon am Ende seines Lebens und Werks stehenden Klopstock folgend, die Ode in eindrucksvoller Weise zu einer der grundlegenden Formen seiner Lyrik macht, eigentlich bereits unzeitgemäß ist. Der hier skizzierte Gang durch die Geschichte der Odentheorie und ihrer Stellung innerhalb der Lyriktheorie macht den Aufstieg der Ode im engeren Sinn im 18. Jahrhundert und den Übergang der Orientierung der Lyrikauffassung von der Ode zum Lied sichtbar als Ausdruck der tiefgreifenden Wandlung der Lyrik und Lyrikauffassung im Zeichen der Ablösung der Dichtung von der rhetorisch begründeten humanistischen Dichtungstradition. Die Ode, mit ihrer Theorie aus dieser Tradition kommend, treibt, indem bestimmte ihrer Merkmale sich mit anderen, neuen Momenten verbinden, diese Ablösung auf ihre Weise voran, tritt in der Ausformung, die sie damit erhält, für begrenzte Zeit in den Mittelpunkt

108 Ästhetik, S.  1018: „Im Lyrischen ... ist es die Empfindung und Reflexion, welche ... die vorhandene Welt in sich hineinzieht, dieselbe in diesem innern Elemente durchlebt und erst, nachdem sie zu etwas selber Innerlichem geworden ist, in Worte faßt und ausspricht. Im Gegensatz zu epischer Ausbreitung hat daher die Lyrik die Zusammengezogenheit zu ihrem Prinzipe und muß vornehmlich durch die innere Tiefe des Ausdrucks, nicht aber durch die Weitläufigkeit der Schilderung oder Explikation überhaupt wirken wollen“. 109 Aesthetik, T.3, S. 1325: „Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt“; S. 1334: „Die Natur des Gefühls fordert Kürze des Ganzen“; S. 1338: „Daß die lyrische Dichtung auf Kürze angewiesen ist, geht aus der Natur des Gefühls hervor“. 110 Einen wachen Sinn dafür bewies Mörike, der seit seiner Schulzeit in Ludwigsburg, Stuttgart und vor allem am Niederen Seminar in Urach in seinem Dichtungsverständnis noch vielfältig geprägt war von der langen Überlieferung einer an der Antike orientierten humanistischen Poetik und in seine „Classische Blumenlese“ (1840) auch eine Reihe von Oden des Horaz, versehen mit einer verständnisvollen Einleitung, aufgenommen hat, die Form der Ode aber in der eigenen Dichtung nur noch scherzhaft-parodistisch oder satirisch verwendet hat.

Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert 

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der Lyriktheorie, um dann, voll in einem bestimmten Sinne ausgebildet, unaufhaltsam zurückzutreten und anderen Orientierungen Platz zu machen. Was sie wichtig gemacht hat, läßt sie dann gerade als fragwürdig erscheinen. Der Blick hinter das 18.  Jahrhundert zurück, in die humanistische und barocke Poetik, zeigt, daß die im 18. Jahrhundert zu solcher Bedeutung gelangte Ode und ihre Theorie nicht eine plötzlich erst vorhandene neue Sache, nicht das Ergebnis einer plötzlich entstandenen Einsicht in das vermeintlich immergültige Wesen einer Gattung sind, sondern Ertrag und Teil eines langen, mit der humanistischen Philologie und Poetik beginnenden Rezeptionsprozesses, in welchem es ständige Tradierung bestimmter Vorstellungen und Merkmale wie deren Erweiterung und Wandlung, Aus- und Umdeutung gibt. Erst in solchem dauernden geschichtlichen Prozeß konstituiert sich die Gattung oder vielmehr konstituieren sich je verschiedene Erscheinungsformen der Gattung und vollzieht sich deren Wandlung. Auch die mit dem Zurücktreten der Ode hervortretende Auffassung von Lyrik als unmittelbarem Gefühlsausdruck und eine entsprechende liedhafte subjektivere Lyrik sind nicht Freilegung vermeintlich allein wahrer Lyrik, sondern sind nur möglich als Stufe in jenem Prozeß, in welchem sich nicht nur die Auffassungen von Literatur oder deren Form, sondern deren Wesen selbst wandelt. Solche Wandlungen schlagen sich in der Poetik nieder. Poetikgeschichte, in diesem Sinne als Rekonstruktion der zeitgenössischen Auffassungen auf der Grundlage einer unvoreingenommenen kombinierenden Interpretation der Gesamtheit der Quellen betrieben, kann den hermeneutischen Weg zu wahrhaft historischem Verstehen der Literatur weisen. Von den einzelnen Stufen der Odentheorie und der ihr korrespondierenden Lyrikauffassung her könnten sich die einzelnen Phasen der neueren Lyrikgeschichte in ihrer Eigenart und geschichtlichen Leistung – und zwar auch solche, die uns fremd geworden sind – aufschlußreich interpretieren lassen.

3 Pindar – Horaz – Ossian Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung* Von der starken Wirkung, die von Herder auf die damals junge Generation von Literaten ausgegangen ist, geben manche Stimmen von Zeitgenossen ein lebendiges unmittelbares Zeugnis, Goethe etwa, der im 10. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ im späten Rückblick auf die Straßburger Begegnung mit Herder im Herbst und Winter 1770/71 bekennt: „Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren Überlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie gaben das Zeugnis, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen gebildeten Männer. Ich verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto freigebiger war er im Geben“,¹ oder Gottfried August Bürger, der am 18. Juni 1773 nach der Lektüre des Herderschen Aufsatzes „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“ an Heinrich Christian Boie schreibt: „Der [Ton], den Herder auferweckt hat, der schon lang auch in meiner Seele auftönte, hat nun dieselbe ganz erfüllt, und – ich muß entweder durchaus nichts von mir selbst wissen, oder ich bin in meinem Elemente. O Boie, Boie, welche Wonne! als ich fand, daß ein Mann wie Herder, eben das von der Lyric des Volks und mithin der Natur deütlicher und bestimmter lehrte, was ich dunkel davon schon längst gedacht und empfunden hatte. Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einiger Maßen entsprechen“.²

* Herders Werke und Briefe, sein Nachlaß und sein Buchbesitz werden mit den folgenden Abkürzungen zitiert: SW = J.G. Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913 (ND Hildesheim, Zürich, New York 1994) Br = J.G. Herder, Briefe. Gesamtausgabe, bearb. v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold, Bd. 1ff., Weimar 1977ff. HN = Herders Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (s. dazu Anm. 23) Bibl. Herderiana = Bibliotheca Herderiana, Weimar 1804 (ND Köln 1980) (Verkaufskatalog der von Herder hinterlassenen Bibliothek) 1 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 9, 9München 1981, S. 408f. 2 Briefe von und an Gottfried August Bürger, hrsg. v. Adolf Strodtmann, Bd.  1, Berlin 1874, S. 122. S. auch Bürgers Brief an Herder vom 24.1.1778 (Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, hrsg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried von Herder, Bd. 3, Leipzig 1862, ND Hildesheim, New York 1981, S. 288f.).

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

Kein Zweifel also, daß Herder eine zentrale Figur,³ nachhaltiger Beförderer und bedeutendes Symptom tiefgreifender Wandlungen von Lyrik und Lyriktheorie im 18. und frühen 19. Jahrhundert ist, an deren Ende Vorstellungen stehen, wie sie, bis hin zu Emil Staiger nachwirkend, formuliert sind im letzten Band der „Aesthetik“ Friedrich Theodor Vischers (1857)⁴: „Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unaussprechliches zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls“ (S.  1325). „die lyrische Poesie hat nicht sowohl bestimmten Körper, als bestimmten Duft“ (S.  1333). „Die wahre lyrische Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, so daß dieses ihn ausspricht, indem es frei und einfach sich und seinen augenblicklichen Stimmungszustand ausspricht, begreift die große Masse des Liederartigen ... Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit ist seine Natur“ (S. 1351). „Schiller hat kein einziges reines Lied und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr Dichter sei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen wollen, daß es frischweg, leicht, im Entstehen schon wie gesungen, einfach, naiv hervorfließe, kann man an Göthe’s Liedern wie an einer reinen Norm ersehen“ (S. 1352). Solche Sätze Vischers, die das liedartige ausdruckshafte Gedicht kanonisieren, auch wenn seine „Aesthetik“ daneben noch von Formen wie Hymne oder Ode handelt, sind Ergebnis eines grundlegenden – nicht selten freilich als vermeintliche Wiederentdeckung wahrer Lyrik nur angesehenen und damit mißverstandenen – Prozesses der Veränderung einer Lyrik, die im Barock exemplarische Darstellung von Affekten mit den wirkungsreichen Mitteln der Rhetorik war und in großartigen Beispielen sich entfaltet hatte und die im Lauf des 18.  Jahrhunderts in zunehmenden Maße unmittelbarer Ausdruck der Empfindung sein soll und dafür schließlich im Lied ihre bevorzugte Form findet. Zu den Begleiterscheinungen, die das Ausmaß der da vollzogenen Transformation der Lyrik sichtbar machen, gehört es, daß damit die vorausgegangene Lyrik des Barock, bald aber auch Klopstock sogar, einst selbst Träger jener Veränderung, für lange dem Verständnis entrückt und daß antike Dich-

3 Als solche hat ihn z. B. Paul Böckmann eindringlich charakterisiert im umfangreichen Herder-Abschnitt (S. 598–628) des sechsten, der „Entwicklung der literarischen Ausdruckshaltung durch Klopstock und den Sturm und Drang“ gewidmeten Kapitels seiner „Formgeschichte der deutschen Dichtung“ (Bd. 1, 1Hamburg 1949, S. 553–694). 4 Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 3.T., 2. Abschn., 5. Heft, Die Dichtkunst, Stuttgart 1857.

Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung 

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ter wie Pindar und – früher noch – Horaz⁵ ihre Bedeutung als Muster lyrischer Dichtung verlieren. Wie sehr Herder, dem Vischer, ihn ganz für seine Lyrikauffassung beanspruchend, nachrühmt, er habe „wie Wenige, das Organ gehabt“, den „Duft“ lyrischer Poesie „zu finden und zu unterscheiden“ (S. 1333), an jenem Prozeß der Veränderung der Lyrik und ihrer Theorie teilhat, das wird beispielhaft deutlich, wenn zwar der junge Herder ganz früh – darauf ist noch zurückzukommen – sich noch die Frage stellt, ob die Ode „ein Ausfluß“ der Empfindung sei oder „dieselbe blos ... durch Nachahmung“ male,⁶ dann aber später wie selbstverständlich vielfältig vom „Abdruck der innern Empfindung“,⁷ von „Abdrücken der Seele“⁸ spricht oder feststellt: „Daß die Poesie die Empfindungen ausdrückt, mit den Empfindungen nicht spielen dürfe, sagt schon ihr Name“.⁹ Eigenartig

5 In Vischers „Aesthetik“ werden beide nur noch beiläufig erwähnt. In der Hotho’schen Fassung von Hegels „Ästhetik“ (hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1955, S.  1025) wird Pindars Oden noch „siegende innere Herrlichkeit“ zugesprochen und Horaz noch einer ausdrücklichen Kritik gewürdigt: „Horaz dagegen ist besonders da, wo er sich am meisten erheben will, sehr kühl und nüchtern und von einer nachahmenden Künstlichkeit, welche die mehr nur verständige Feinheit der Komposition vergebens zu verdecken sucht“. Vgl. auch die knapperen Bemerkungen zu Pindar und Horaz in den Nachschriften der Hegel’schen Ästhetik-Vorlesungen von 1820/21 (Nachschrift von Ascheberg und van Terborg, hrsg. v. Helmut Schneider, Frankfurt a.M. u. a. 1995, S. 316) und von 1826 (Nachschrift von F.C.H.V. von Kehler, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert u. Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2004, S.  218f. – Nachschrift von P. von der Pfordten, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon u. Karsten Berr, Frankfurt a.M. 2005, S. 241ff.). 6 Zitate aus einem Entwurf zur Oden-Abhandlung von ca. 1764 im Herder-Nachlaß (HN XXV, 170b). Dem früheren Leiter der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Bibliotheksdirektor Dr. Tilo Brandis, bin ich zu Dank verpflichtet für die in seiner Amtszeit erteilte Genehmigung, den Nachlaß zu benutzen und daraus zu zitieren. In den Zitaten aus den Handschriften werden um der Lesbarkeit willen die zahlreichen Abkürzungen, soweit sie eindeutig genug und nicht geläufigster usus sind, im allgemeinen stillschweigend aufgelöst. – Bei der Einarbeitung in die Entzifferung der frühen Handschriften hat mich einst Hans Dietrich Irmscher †, dem ich meinen Dank nun nicht mehr wiederholen kann, durch die Überlassung seiner damals schon vorliegenden Transkriptionen der Entwürfe zur Odentheorie unterstützt. Es ist zu hoffen, daß diese Texte möglichst vollständig in der angekündigten kritischen Ausgabe der „Studien und Entwürfe“ Herders (hrsg. v. Marion Heinz, Hans Dietrich Irmscher † u. Heinrich Clairmont) abgedruckt werden. 7 SW V, 163 (Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian, 1773). 8 SW XX, 328 (Rez.: Klopstocks Werke. Oden, 1798). 9 SW XXII, 151 (Kalligone, T.2, 1800). Vgl. ferner z. B. SW XII, 232 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783): „Also werden seine [Davids] Lieder auch Ausdrücke der innersten, der individuelsten Herzenssprache“; XXVII, 171 (Terpsichore, 2.T., 1795): „die lyrische Poesie ist ‚der vollendete Ausdruck einer Empfindung, oder Anschauung im höchsten Wohlklange der Sprache‘“.

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

könnte es dann freilich anmuten, daß Herder, wo immer er von lyrischer Dichtung handelt, weit häufiger von der Ode als vom Lied spricht; daß er sich über die Dichtung Bürgers, der sich doch als sein Gefolgsmann verstand, mehr ablehnend als zustimmend geäußert hat,¹⁰ aber in den Materialien zur Volkslieder-Sammlung „unsern klassischen Opitz“ gegen den Vorwurf mangelnder „lyrischer Talente“ in Schutz nimmt und in seinem „Liedchen“ „Ach Liebste / laß vns eilen“¹¹ „in Vers, Gang, Sylbenmaas und in dem Unnennbaren was umherschwimmt, eine Eile, fast recht schaudernd süß und zärtlich“ findet (SW XXV, 111) und noch 1795 in der „Terpsichore“ Klopstock mit den schönen Worten rühmt: „Er hat uns in diesen Gedanken- und Empfindungsweisen der Alten für unsre eigensten und reinsten Empfindungen gleichsam eine neue Sprache geschaffen, und damit dem innigsten Gemüth eine Bildung, der Seele eine Selbsterkenntniß, dem Herzen einen Ausdruck, der Sprache eine Zartheit, Fülle und Wohlklang verliehen, von der man vor ihm nicht träumte“ (SW XXVII, 172);¹² daß Herder, der doch als Entdecker des Volksliedes gilt, sich in den Jahrzehnten nach dem Ossian-Aufsatz und der Volksliedersammlung, trotz der Absicht einer Neuauflage, sehr viel sporadischer mit diesen befaßt als – immer erneut und höchst verständnisvoll – mit Pindar und vor allem Horaz, aber auch mit dem großen, am Vorbild des Horaz geschulten neulateinischen Lyriker Jakob Balde. Wäre all das nur zu erklären teils aus letztem Befangensein des jungen Herder in überholten Anschauungen, teils aus zuneh-

10 Vgl. u. a. Br III, 58 (an Th. und Chr.G. Heyne, Ende November 1773, über Bürgers „Lenore“, die Karoline Herder in einer Nachschrift dementsprechend „das garstige Ding“ nennt); IV, 106 (an Ildefons Kennedy, 27.12.1779, über Bürger und andere, „die mich von Herzen mit ihrem EiaPopeia! ärgern“); V, 247 (an F.L.W. Meyer, Anfang November 1787, über eine „abscheuliche“ Ode Bürgers). Mittelbar gegen Bürger gerichtet scheinen manche anderen Stellen, so SW XXIII, 337 (Adrastea, Bd. 2, 4. St., 1801, Zitat ohne Nennung des Autornamens), 572 (Adrastea, Bd. 3, 2. St., 1802), XXIV, 253f. (Adrastea, Bd. 5, 2. St., 1803) und XXV, 308 (Volkslieder, T.1, 1778). Auf Bürger gerichtete Erwartungen hingegen spricht Herder in dem Aufsatz „Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst“ (1777) aus (SW IX, 531). Ambivalent ist Herders Urteil in einer erst aus seinem Nachlaß veröffentlichten Rezension der 1798 erschienenen Schrift von L.Chr. Althof über Bürger (SW XX, 377–379). 11 Martin Opitz, Gesammelte Werke, hrsg. v. George Schulz-Behrend, Bd. 2/II, Stuttgart 1979, S. 666f. 12 Hegel dagegen kritisiert nur wenige Jahrzehnte später im Anschluß an die oben in Anm. 5 zitierte Abwertung des Horaz: „Auch Klopstocks Begeisterung bleibt nicht jedesmal echt, sondern wird häufig zu etwas Gemachtem ...“ (Ästhetik, S. 1025). Vgl. in den verschiedenen Vorlesungsnachschriften die Bemerkung, es herrsche in Klopstocks Oden „viel Schönheit, aber auch sehr viel Leerheit“ (Nachschrift Ascheberg/Terborg, 1820/21, hrsg. v. H. Schneider, S. 316) oder die Wendung von der „aufgespreizten Würde“ Klopstocks (Nachschrift v. Kehler, 1826, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert u. B. Collenberg-Plotnikov, S. 218 – Nachschrift von der Pfordten, 1826, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert u. a., S. 241).

Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung 

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mendem literarischen Konservativismus des alternden Herder? Oder gibt es nicht vielmehr Anlaß, dem historischen Zusammenhang verstärkt nachzufragen, in welchem Herder steht und seine Vorstellungen von der Lyrik entwickelt hat?¹³ „Zuerst muß ich Ihnen also ... sagen“ – so heißt es in Herders „Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“, von dem neben seiner Volksliedsammlung wohl die stärkste Wirkung auf Lyrik und Lyriktheorie ausgegangen ist – „Zuerst muß ich Ihnen also ... sagen, daß Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks ... Alle alte Lieder sind meine Zeugen! ... je älter, je Volksmässiger, je lebendiger; desto kühner, desto werfender“ (SW V, 186f.). Diese Wendung von den Sprüngen und Würfen, die den ganzen Ossian-Briefwechsel durchzieht, gilt vielfach als ureigenste Prägung Herders¹⁴

13 Dieser historische Zusammenhang und die Quellen, in welchen er faßbar wird, kommen weitgehend zu kurz in den wenigen spezielleren Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten zur Lyriktheorie bei Herder: s. vor allem Dieter Lohmeier, Herder und Klopstock. Herders Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit und dem Werk Klopstocks, Bad Homburg v.d.Höhe u. a. 1968, S. 143–160 – Heinz Peyer, Herders Theorie der Lyrik, Diss. Zürich 1955 – Gerhard Sauder, Herders Gedanken über lyrische Sprache und Dichtkunst, in: Herder Jahrbuch 6, 2002, S. 97–114 – Gerhard Sauder, Lyrikmuster: Das „Silberne Buch“ und Herders Theorie des Gedichts, in: Herder Jahrbuch 7, 2004, S. 113–121 – Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, S. 234–274. 14 Seit dem 19.  Jahrhundert begegnet in der Forschung immer wieder die zum Klischee erstarrte Vorstellung, daß die von Herder gewiß eindringlich und wirkungsvoll gebrauchte Formel von den „Sprüngen und Würfen“ von ihm allein erst erfunden oder jedenfalls als ein stets gegebenes Wesensmerkmal des Volkslieds oder jeglicher als besonders ursprünglich geltender Dichtung erstmals wahrgenommen worden sei: vgl. unter vielen anderen z. B. Rudolf Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Bd. 1, Berlin 1880, S. 444 – Hans Günther, Johann Gottfried Herders Stellung zur Musik, Diss. Leipzig 1903, S. 68 – Erwin Kirchner, Volkslied und Volkspoesie in der Sturm- und Drangzeit, S.  30f. („... dem Gebiet beschreibender Poetik gehört die Herdersche Prägung ‚Sprung und Wurf‘ an ...“), in: Zeitschr. f. Deutsche Wortforschung 4, 1903, S. 1–57 – Eugen Kühnemann, Herder, 2 München 1912, S.  175 – Elisabeth Blochmann, Die deutsche Volksdichtungsbewegung in Sturm und Drang und Romantik, S. 428 („‚Sprung und Wurf‘ ..., die er als dieser Volkspoesie charakteristisch erkannte“), in: DVjs 1, 1923, S. 419–452 – Alexander Gillies, Herder und Ossian, Berlin 1933, S. 43 – Clemens Lugowski, Der junge Herder und das Volkslied, S. 225, in: Sturm und Drang, hrsg. v. Manfred Wacker, Darmstadt 1985, S. 215–233 (zuerst in: Zeitschr. f. Deutsche Bildung 14, 1938, S. 265–277) – Ernst Klusen, Volkslied. Fund und Erfindung, Köln 1969, S. 133 – Hermann Strobach, Herders Volksliedbegriff, S. 28 („... verdichtet zu der Formel von den ‚Sprüngen und Würfen‘“), in: Jahrb. f. Volkskunde u. Kulturgeschichte 21, 1978, S.  9–55 – Howard Gaskill, ‚Ossian‘ Macpherson: towards a rehabilitation, S.  138, in: Comparative criticism 8, 1986, S. 113–146 – Gerhard Kaiser, Zu Johann Gottfried Herders „Edward“, S. 60 („... die von Herder als Charakteristikum der volksläufigen Lyrik herausgestellten Würfe und Sprünge ...“), in: Gedichte und Interpretationen. Deutsche Balladen, hrsg. v. Gunter E. Grimm, Stuttgart

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

zur Kennzeichnung des Lebendigen, Natürlichen, Ursprünglichen, das er in europäischen Volksliedern wie in den Gesängen unzivilisierter Völkerschaften sieht. Aber die Ossian-Schrift selbst enthält einen Hinweis auf einen ganz anderen Bereich, aus dem jene Wendung stammt, wenn Herder eine grönländische Totenklage einführt mit den Worten: „da es gewöhnlich ist, Sprünge und Würfe solcher Stücke für Tollheiten der Morgenländischen Hitze, für Enthusiasmus des Prophetengeistes, oder für schöne Kunstsprünge der Ode auszugeben, und man aus diesen eine so herrliche Webertheorie vom Plan und den Sprüngen der Ode recht regelmäßig ausgesponnen hat: so möge hier ein kalter Grönländer fast unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeist und Odentheorie, aus dem vollen Bilde seiner Phantasie reden“ (SW V,197). Die von Herder so oft gebrauchte Wendung stammt aus der Odentheorie des 18. Jahrhunderts und verweist damit auf einen für die Lyrikdiskussion und überhaupt für die Poetik der Zeit zentralen Bereich, in welchem sich auch Herders Vorstellungen von der Lyrik entwickeln, aus welchem sie sich herleiten. Die im 18. Jahrhundert geläufige Theorie der Ode ist seit dem Humanismus ausgebildet und durch das Barock, unter Identifizierung deutscher Liedformen mit antiken Strophenformen, weitergegeben worden. Sie ist von der humanistischen Poetik in Auseinandersetzung mit Pindar und Horaz als den höchsten Mustern antiker Lyrik entwickelt worden. Zu den Merkmalen der Ode gehören danach hohe Gegenstände, starke Empfindungen, hoher Schwung der Gedanken und des Ausdrucks, starke dichterische Begeisterung, Kürze, Mannigfaltigkeit der metrischen Elemente, der Empfindungen und Gedanken, des Plans, hoher, ungleicher Flug, Abschweifungen, plötzliche,

1988, S. 59–68 – Wolfgang Martin, Mit Schärfe und Zartheit. Zu einer Poetik der Sprache bei Hölderlin mit Rücksicht auf Herder, Bonn 1990, S. 18. Erst in den letzten Jahrzehnten begegnen hie und da einzelne Hinweise auch auf die Tradition, die hinter Herders Rede von den Sprüngen und Würfen steht, oder auf unmittelbare Vorläufer seiner Verwendung dieser Begriffe: s. u. a. Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 2, 2 Berlin 1970 (11956), S. 181 – Hans Dietrich Irmscher, Probleme der Herder-Forschung, S. 310, in: DVjs 37, 1963, S. 266–317 – H.D. Irmscher, Johann Gottfried Herder, Stuttgart 2001, S. 159 (im Ossian-Aufsatz „weist Herder zudem darauf hin, daß diese Texte jene Merkmale des ‚hohen Stils‘ aufweisen, die sonst nur der Ode zugeschrieben werden: ‚Sprünge‘ und ‚Würfe‘“) – Wolf Gerhard Schmidt, ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘. James Macphersons ‚Ossian‘ und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, Bd. 1, Berlin, New York 2003, S. 373f.; Bd. 2, Berlin, New York 2003, S.  674f. („Die hier [im Ossian-Briefwechsel] bereits entwickelten Theoreme des Sturm und Drang speisen sich großenteils aus Topoi des primitivistischen Ossiandiskurses“, wofür als Belege u. a. Turgot und Blair angeführt werden; „Die von den Zeitgenossen wahrgenommenen ‚Herderianismen‘ – wie die Metapher ‚Sprünge und kühne Würfe‘ – sind somit weniger ‚selbst geprägt‘ als intertextuell vermittelt und nur bedingt Ausdruck einer neuen Perzeption der Ossianischen Gedichte“).

Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung 

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kühne Umschwünge, sogenannte lyrische Unordnung. Im 18. Jahrhundert rückt die Ode, rückt ihre Theorie – im Zusammenhang mit dem Einfluß der Ästhetik Baumgartens, der aufklärerischen Erkenntniskritik und Psychologie, der Ps.Longin-Rezeption und unter Aktivierung des der Ode zugehörigen Moments des Enthusiasmus – in den Mittelpunkt der poetologischen Diskussion, der die Ode ein Muster für die Verknüpfung der Poetik mit der aufklärerischen Lehre von den Seelenvermögen, für die Wirksamkeit der Einbildungskraft und für die Rolle der Empfindungen in der Dichtung ist und darum vielfach nun als die höchste Dichtungsart vor Epos und Tragödie gilt. Dabei sind – weil es in der Antike keine umfassende Theorie der Lyrik gibt und ein weiter Gattungsbegriff sich erst aus der Entfaltung der Odentheorie im 18. Jahrhundert ergibt – die Worte Lyrisch, Lyrik lange nahezu gleichbedeutend mit Ode, ist Lyriktheorie weitgehend eins mit Odentheorie, und wo es nach und nach gemäß dem Grad der darin wirksamen Empfindungen zu einer Differenzierung zwischen „eigentlicher Ode“ und Lied kommt, behält jene lange den höheren Rang als wichtigste Art lyrischer Dichtung. Erst als letztes Ergebnis der hier nur angedeuteten Geschichte der Odentheorie¹⁵ verdrängt das Lied die Ode aus diesem Rang. Hegels Ästhetik und noch mehr diejenige Vischers liefern die Belege dafür. Auch wenn Herder sich gelegentlich spöttisch-abweisend gegen eine allzu eng aufgefaßte Odentheorie, gegen allzu regelgerechte Oden ausläßt,¹⁶ sehen doch noch die Instruktionen des Weimarer Generalsuperintendenten für das dortige Gymnasium 1788 die Darlegung der Odentheorie an Beispielen lateinischer Dichtung vor,¹⁷ durchdringt die Odentheorie – bis in den Ossian-Aufsatz

15 Des näheren dazu die Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 16 Vgl. außer der oben angeführten Stelle SW V, 197 u. a. I,437 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767): es sei „ganz und gar nicht die Hauptvollkommenheit einer Ode, so und so, nach diesen oder jenen Mustern, mit der und jener Kunst angelegt zu seyn, daß sie die schöne Einheit und die schöne Unordnung, die schöne Kürze und die schöne Methode habe, und was dergleichen schöne Regeln mehr sind, die nichts gelten, wenn man, um sie zu beobachten, schöne, künstliche und frostige Oden macht“; III,342f. (Kritische Wälder, 1769, 2. Wäldchen): gegen die Schrift „de felici audacia Horatii“ von Chr. A. Klotz: „Sie ist nach dem Fachregister des lieben Batteux gezimmert, wie man bei einer Ode Sprung, Abreißung, Umschweifung, Anfang und Ende, u.s.w. bemerken und sich abstecken müsse, eben als wenn Horaz je nach solchen Absteckungen, wie über ein Schulthema, gearbeitet hätte ... Ich weiß, daß ich hier gegen die Mode schreibe; denn seit einiger Zeit zirkeln wir Deutschen kein Gedicht so gern ab, als eine Ode ...“, und S. 350f.; X,14 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 1.T., 1780). 17 SW XXX, 446f.: „Zugleich geben die abwechselnden Gattungen der gewählten Stücke [in der für den Unterricht benutzten „Chrestom. poet. lat.“ des Gymnasialdirektors Heinze] ... dem

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 Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen

und die Vorreden zu den Volkslieder-Sammlungen – allenthalben die Äußerungen Herders zur Lyrik und macht seine Terminologie, die Bedeutung des Wortes „lyrisch“ darin, seine schwankende und nicht immer klare Verwendung des Begriffs „Lied“ verständlich, das nur gelegentlich von der Ode ausdrücklich unterschieden wird,¹⁸ liefert die Odentheorie das kritische Instrumentarium, dessen sich in frühen wie in späteren Jahren die zahlreichen Schriften und Bemerkungen Herders über lyrische Dichter wie Pindar, Horaz, Balde, Gleim, Ramler, die Karschin, Klopstock bedienen.¹⁹ Vor allem aber steht an Herders Anfängen eine intensive und für seine weiteren theoretischen und kritischen Schriften grundlegende Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Odentheorie. Welchen Umfang und welche Bedeutung diese Auseinandersetzung hat, das läßt – über Andeutungen in Rudolf Hayms Monographie²⁰ und über die wenigen im 32. Band von Suphans Ausgabe publizierten Stücke²¹ sowie die Mitteilung einzelner bisher ungedruckter Texte durch Ulrich Gaier²² hinaus – erst

Lehrer Gelegenheit, seinen Schülern die Theorie der Ode, des Catullischen und Martialischen Epigramms, der poetischen Beschreibung u.f. an diesen Beispielen ... zu entwickeln“. 18 Vgl. z. B. SW III,330 (Kritische Wälder, 1769, Zweites Wäldchen): „Ich beklage, daß Hr. Kl[otz] uns mit seiner gelehrten Erläuterung [zu Horaz, od. I,1] ganz aus dem Tone, der im Ganzen der Ode herrscht, wegerläutert: uns mit seinen furchtbaren Citationen den ganzen Sinn des Liedes, die ganze schöne Stimmung der Seele, in der Horaz sang, wegcommentirt“; X,82 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 1.T., 1780); XII,58f. (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783). Ansätze einer Unterscheidung hingegen, wie sie sich auch bei anderen Autoren entwickelt, z. B. SW XII,20 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T.): „Welcher Art nun der Effekt ist, der im Liede herrschet; darnach wird sich auch sein Gang, seine Harmonie fügen: ein staunender Hymnus und eine feurige Ode, ein sanftes Lied der Freude, oder eine Elegie der Betrübniß, werden nicht gleich moduliren“ oder XXXII,71 (Fragmente einer Abhandlung über die Ode, ca. 1765). Vgl. ferner auch unten Anm. 129–131 und 134. 19 Vgl. knappere oder ausführlichere, zum Teil die Kriterien der zeitgenössischen Odentheorie auch skeptisch reflektierende Bemerkungen zu diesen Autoren u. a. SW I,325f. (Pindar), 336 (Gleim), 351f. (Karschin), 451ff. (Ramler); III,153 (Pindar), 330ff. (Horaz), 348ff. (Pindar), 350f. (Horaz), 361 (Horaz); IV,245f. (Horaz), 261ff. (Ramler); V,350ff. (Klopstock); XX,273ff. (Karschin), 327ff. (Klopstock); XXVII passim (Balde). – HN XXV, 185 (Analyse einiger Oden des Horaz; ca. 1765); XXVIII,2,105rf. (Bemerkungen u. a. zu Pindar und Horaz; Rigaer Zeit); XXVIII,10,r v-sv (Bemerkungen zu einzelnen Oden Ramlers; ca. 1767). 20 Haym, Herder, Bd. 1, S. 115ff. 21 SW XXXII, 61ff.: Fragmente einer Abhandlung über die Ode – 85ff.: Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst. 22 Herder, Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 1, Frühe Schriften 1764– 1772, hrsg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1985, S.  57–99: Von der Ode (Dispositionen, Entwürfe, Fragmente), darin aus dem Nachlaß Nr. 1–3 und 5 (dazu entsprechende Nachweise im Kommentar S. 929, 931, 933, 942, 966; zu dem Text Nr.1 und den Bemerkungen dazu auf S. 928f. und 931 vgl. aber unten Anm. 51.

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der Nachlaß Herders richtig erkennen, der mit seinen unzähligen Exzerpten und Entwürfen als das Fundament und Arsenal von Herders Bildungsgeschichte und schriftstellerischen Laufbahn jetzt durch den großen Katalog von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler²³ vorbildlich erschlossen ist. Neben Exzerpten zur Odentheorie und zu verwandten Fragen aus den Breslauer „Vermischten Beyträgen zur Philosophie und den schönen Wissenschaften“,²⁴ aus Schriften von Friedrich Josef Wilhelm Schröder,²⁵ Marmontel,²⁶ Robert Lowth,²⁷

23 Der handschriftliche Nachlaß Johann Gottfried Herders. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bearbeitet von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler, Wiesbaden 1979 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Kataloge der Handschriftenabteilung, Reihe 2, Bd. 1). 24 Bd. 2, 1. Stück, 1763, S. 152–177: Anon., Von der Ode. Ein Versuch. Notizen und Exzerpte Herders dazu: HN XXV, 181,1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765); XXVI, 14,3–4 („V.d.Ode aus d. Breslauer Beiträgen“; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVIII, 2,106r („Brokken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit). Nachweis des Werks in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 5631/32. – Auszüge aus der für die Oden-Diskussion der Zeit so wichtigen Karschin-Rezension von Moses Mendelssohn in den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend“ (T.17, 1764, S.  123–179, 272.–276. Brief) enthält der Nachlaß offenkundig nicht. Daß Herder jedoch auch sie – wie nicht anders zu erwarten – zur Kenntnis genommen hat, belegen eine Fußnote im Abschnitt „Sappho und Karschin“ der 2. Sammlung der „Fragmente“ (1767; SW I,351) und das lange, nur leicht gekürzte Zitat aus dem 275. Brief (S. 149–153) im Abschnitt „Von der Horazischen Ode“ in der 3. Sammlung der „Fragmente“ (SW I, 463–465). Nachweis des Werks in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 5560–5570. 25 HN XXV, 249, 5r–7v („Schröder v. d. lyr. Poesie“; Königsberger Zeit), aus: Friedrich Joseph Wilhelm Schröder, Lyrische, Elegische und Epische Poesien, nebst einer kritischen Abhandlung einiger Anmerkungen über das Natürliche in der Dichtkunst und die Natur des Menschen, Halle 1759, S. 32–111: Dritte Anmerkung. Von der lyrischen Poesie und der Empfindung; oder vom Tone, vom accordmäßigen Schwung und vom Tackte. 26 Jean François Marmontel, Poétique françoise, Paris 1763; darin S. 408–453: De l’Ode; dt. Des Herrn Marmontels Dichtkunst, Bremen 1766; darin T.2, S.  297–347: Vierzehntes Kapitel. Von der Ode. Notizen und Exzerpte Herders hierzu: HN XXV, 181,1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765); XXVI, 4,49r („Auszug aus Marmontel“; Rigaer Zeit); XXVI, 14,1–3 („Marmontel von der Ode“; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVIII, 2,106r („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit). 27 Robert Lowth, De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones Academiae Oxonii habitae, ed. J.D. Michaelis, Göttingen 1758/62, 21769/70 (Oxforder Erstausgabe 1753). Notizen und Exzerpte Herders hierzu: HN II,49 („Von der Ode aus Lowths Buch II“; ca. 1765); XXV, 170a (Entwurf zur Odenabhandlung, mit Hinweis auf eine Psalm-Analyse von Michaelis in seiner Lowth-Ausgabe; ca. 1764); XXV, 179, 4r, 4v („Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“; ca. 1764); XXV, 180, 2 r (Entwurf zu einer Abhandlung über den Ursprung der Poesie als Lied; ca. 1764/65); XXVI, 4, 5v („Dichtkunst“, s. dazu unten Anm. 36ff.; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVII, 18 („Lowth de sacra poesi Hebraeorum“, Auszüge; ca. 1770); XXVIII, 2, 106r („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit), 127v–128v (Auszüge und Bemerkungen zu Lowth; Rigaer

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J. Brown,²⁸ Batteux²⁹ und dessen deutschen Bearbeitungen durch Ramler und Johann Adolf Schlegel finden sich hier zahlreiche bibliographische Notizen, Stichwörter, Schemata, Entwürfe, fragmentarische Ausarbeitungen des etwa zwanzigjährigen Herder zu geplanten, eng miteinander verknüpften Abhandlungen über die Ode, über den „Ursprung des Liedes“, über die „Geschichte des Liedes“ und wie die entworfenen Titel sonst noch lauten. Die Abhandlungen sind als solche nie zu Ende geführt worden, doch haben in den Vorarbeiten dazu viele der Bemerkungen zur Ode und ihrer Theorie in den schon bald erscheinenden frühen literaturkritischen Schriften wie in manchen späteren Werken ihren Wurzelgrund. Die Papiere des Nachlasses zeigen, wie der junge Herder durch intensive Lektüre neuester Schriften in die Literatur der Zeit hineinwächst und mit seinen eigenen Fragen von ihr seinen Ausgang nimmt. Für das Verständnis dieser Fragen und der aus ihnen entwickelten Erwartungen werden allerdings der Nachlaß und die frühen Schriften erst dann in vollem Umfang fruchtbar, wenn man die Probleme der Ode und damit der Lyrik, die zweifellos einen Schwerpunkt bilden, im größeren Umkreis der Bildungsgeschichte des jungen

Zeit), 153r–154r (Bemerkungen zu Lowth; Rigaer Zeit). Nachweis der Göttinger Ausgabe von 1758/62 in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 2791 (Jahreszahl 1768 offenkundig Druckfehler für 1758). 28 John Brown, A Dissertation on Rise, Union, and Power, the Progressions, Separations and Corruptions of Poetry and Music, London 1763; Betrachtungen über die Poesie und Musik, nach ihrem Ursprunge, ihrer Vereinigung, Gewalt, Wachsthum, Trennung und Verderbniß, übers. v. Johann Joachim Eschenburg, Leipzig 1769. Notizen und Exzerpte Herders hierzu: HN XV, 414 („Brown Betr. Über Poesie und Musik“; Bückeburger oder Weimarer Zeit); XXV, 181, 1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765). 29 Charles Batteux, Les Beaux Arts réduits à un même Principe, Paris 1746; Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, übers. v. Johann Adolf Schlegel, Leipzig 1751; Cours de belles-lettres, distribué par exercices, Paris 1747/48; Nouv. Éd.: Cours de BellesLettres ou Principes de la littérature, Paris 1753/55; Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux ... von C.W. Ramler, Leipzig 1756/58. Notizen und Exzerpte Herders hierzu (wobei nur z.T. erkennbar ist, auf welche der verschiedenen französischen und deutschen Ausgaben sich diese jeweils beziehen): HN XXV, 169, 5v („Ramlers Batteux“, Auszüge; ca. 1765); XXV, 180, 2 v (Entwurf zu einer Abhandlung über den Ursprung der Poesie als Lied; ca. 1764/65); XXV, 181, 1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765); XXVI, 5, 67 („Poetisches Fach“, Bemerkungen zu verschiedenen Autoren und Werken; Königsberger Zeit); XXVI, 14, 1 („Marmontel von der Ode“; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVIII, 2, 105r („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit); XXVIII, 2, 147v (Auszug aus den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend“, T.5, zu Schlegels Batteux-Übersetzung; Rigaer Zeit); XXIX, 1, v r („Aus Schmids Literatur der Poesie Leipzig 1775“; Bückeburger Zeit?); s. ferner auch unten Anm. 46 und 50. Nachweis einer Göttinger Ausgabe „Principes de la Litterature par Batteux“ (1764) in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 6029/33.

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Herder sieht. Es ist leicht, in Schriften aus allen Lebensphasen Belege zuhauf dafür beizubringen, wie Herder sich – nicht selten mit beträchtlichem Witz oder Sarkasmus – über späthumanistische Schulgelehrsamkeit und selbstgenügsame Philologie, über absolut gesetzte Regeln der Poetik und über pedantische rhetorisch-logische Exercitien des Sprechens, Denkens und Schreibens³⁰ mokiert. Doch können sie, sieht man genauer hin, nicht verbergen, daß Herder, einer der verständnisvollsten Kenner und Liebhaber griechischer und römischer Dichtung im 18. Jahrhundert, auch noch tief vertraut war mit der philologisch-literarischen Überlieferung des europäischen Humanismus und der ihr zugehörigen Poetik und Rhetorik – ähnlich und mindestens ebenso sehr davon geprägt wie Klopstock und wie er wohl als einer der letzten deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts.³¹ Die Begriffsgruppen ars und ingenium, praecepta, exempla und exercitatio, res und verba, das Rangverhältnis von Dichter und Redner, die Frage nach dem Gebrauch der Mythologie in geistlichen Gedichten, die Lehre von den drei Stilarten, den genera dicendi, der sermo humilis in geistlicher Literatur, die officia oratoris docere, delectare, movere oder das prodesse und delectare des

30 Vgl. z. B. SW I,326 („koste aus den Dichtern, und aus dem Dichterischen Plato etwas von dem heiligen Trank der Corybanten; statt dich bey elenden Commentatoren aufzuhalten, die einander ausgeschrieben“); 384f. („In der Schuloratorie und Schullogik bestand bei vielen Schulen ein Theil der Weisheit darinn, wie man einige Rhetorische und Logische Kunstgriffe, Werkzeuge und Spielwerke Lateinisch benennen sollte ... Dies bringt jene dürre unfruchtbare Barbarei in die Methode, die ein Lexicon von Namen zu lernen aufgibt, und die Seele vom Denken zurückhält“); 406 („Gewinnt der Ausdruck, weil eine Sprache an sich schöner ist? so denken blos die Schulmeister, die aus den Alten Phrases aufjagen, Lexicon und Grammatik plündern, und sich ein buntes Kleid zusammen sticken, mit vieler Mühe es verbrämen, um lächerliche Arlekins zu seyn“); II, 361f. („Da die Sprachen der Alten todt sind: so verfällt man durch bloße Nachahmung derselben nur gar zu leicht selbst in Tod: man betrachtet ihre Poesie und Rednerkunst nur gar zu gern als bloße modos linguarum: ihre Wißenschaften und Geschichte als eine Gedächtnißsache: und ihre ganze Denkart wird Philologie“); III,351 („Der zweite Abweg, Horaz zu lesen, ist, wenn sie Hauptgeschmack wird, die Parallelenmacherei. Hr. Kl.[otz] darf nur ein großes Bild, einen gefallenden Gedanken in einem Dichter finden: so steht ihm bald ein andrer, und noch ein andrer, und endlich so viele andre zu Diensten, daß der vorige Gedanke glatt weg ist ... Schade um die Schönheit, die ich erst aus hundert Vergleichungen schön finden soll ... wer blos durch Vergleichungen, durch Parallelen Empfindung bekommt, dem schadets nicht, wenn er keine habe“); s. ferner u. a. SW I,7, 74, 373, 403, 502ff.; II,55, 141, 245; III, 325f., 354ff.; IV, 388f.; V, 182f., 303ff., 332, 638; VIII, 406f.; IX, 429, 529; XI, 293; XIV, 102f.; XXV, 88, 538f. 31 Ein eindrucksvolles Zeugnis der Gelehrsamkeit und der umfassenden humanistischen Interessen Herders ist der Verkaufskatalog der von ihm hinterlassenen Bibliothek, insbesondere mit ihrer „Sectio I. Libri Theologici“ (Bibl. Herderiana Nr. 1–1591), „Sectio II. Libri Philologici: Graeci, Latini, Orientales“ (Nr. 1592–2892 [recte: 2902] und der „Sectio III. Libri Philosophici (Nr. 2903–4760).

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Horaz, Arten der Kasualdichtung, Übersetzen als Übung der eigenen Sprache – das alles³² sind – verbreitet übrigens natürlich auch noch sonst allenthalben in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und weit darüber hinaus³³ – Momente humanistischer und barocker Poetik und der ihr eng verbundenen Rhetorik, die Herder vertraut sind und nicht nur in den Nachlaßteilen der Frühzeit, sondern

32 Vgl. u. a. zu: ars/ingenium: SW XVIII, 81 („Die Gabe der Muse ist eine angeborne Himmelsgabe“, doch auch „dem feurigsten Kopf ... ist Lehre nötig“) – praecepta/exempla/exercitatio: SW IX, 305 („Wie aber Theorie allein nicht alles thut, so kömmts am meisten auf Beispiele solcher an, die in den höhern Wissenschaften mit wahrem Sinne der Menschheit und in den schönen mit Sinn und Vorgeschmack der höhern geschrieben und gehandelt haben“); XV, 538; HN XVI, 246, 11v („jede Gelegenheit ... ergreift er [Balde], seinen Freunden bei ihren Werken Fleiß und Feile als unumgängliche Mittel zu Vollendung derselben anzurathen“) – res/verba: SW I, 394ff. (Fragmente, 3. Sammlung, 6. In der Dichtkunst ist Gedanke und Ausdruck wie Seele und Leib, und nie zu trennen), 414ff. (10. Wie klebt in der Weltweisheit der Gedanke am Ausdruck, sinnlich, Technisch und Grammatisch?) – Dichter/Redner: HN XXVI, 4, 52 r („Nicht das Sylbenmaas und der Reim machen allein ein Gedicht aus; sondern lebhafte Gedanken, die das Feuer und den Schwung des Redners weit übertreffen“); XXVI, 5, 36r (nach Gellert: „in der Beredsamkeit Wahrh. u. Gründe – in der Poesie Wahrscheinl. u. Wunderb.“) – Mythologie in geistlicher Dichtung: SW III, 226–258 (Zweites Wäldchen, 5–8) – genera dicendi: SW XXII, 228 („Lange vor ihm [Longin] hatten die Rhetoriker die mancherlei Gattungen des Vortrags nach Höhe und Tiefe eingetheilt ... Der Natur der Sache nach blieben die drei Haupt-Abtheilungen, des Hohen, Mittleren, Niedern die gemeinsten Abzeichen; ihre Grenzen flossen in einander“) – sermo humilis: SW I, 502–513 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung: III,6. Sollen wir Ciceronen auf den Kanzeln haben?); XI, 74 („Im Felde der Theologie, im einfältigen Zuspruche der Homilie, des Gebets, des Kirchengesanges hasse ich diese glänzenden Lappen auf den Tod“) – docere/delectare/movere, prodesse/delectare: HN XXV, 249, 6r (Stichwortauszüge aus F.J.W. Schröder: „Nutzen der Poesie: 1) vergnügen ... rühren ... 2) lehren); XXVIII, 2, 154r (Bemerkungen zu Lowth: Zuordnung der einzelnen officia zu einzelnen Gattungen) – Arten der Kasualdichtung: HN XXV, 164 (De melicis s. lyricis: Aufstellung von Gedichtarten, z.T. nach der Chrestomathie des Proklos; u. a. encomium, epinicium, hymenaeus, threnus, epicedium); XXVIII, 16, 38v („Melische Poesie vielfach nach Anwendungen“, Aufstellung mit entsprechenden Gedichtarten, auch unter Berufung auf Proklos) – Übersetzen als Übung der eigenen Sprache: SW XXX, 446f. (aus den Instruktionen für das Weimarer Gymnasium, u. a. zur classis secunda: „Die explicirten Stücke [aus Cicero] werden sämmtlich übersetzt und als Aufsätze im Deutschen nach den Regeln der reinen und guten Schreibart corrigiret ... Wenn den Knaben insonderheit zu reinen und schönen Übersetzungen dieser Stücke [aus der lateinischen Poesie] Muth gemacht wird: so bekommen sie beinah alle Formen des poetischen Vortrags in die Seele“). Vgl. ferner etwa auch HN XXV, 249, 2 r–4v („Plan zur Poetik“, ein an viele Traditionselemente anknüpfendes Entwurfsschema) oder SW V, 377–400 (Rezension von T.I von Sulzers „Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“, 1774). 33 Es genügt, dafür an Autoren wie Batteux, Baumgarten, Bodmer, Breitinger, Gottsched oder Sulzer zu erinnern, die der junge Herder aufmerksam wahrgenommen und vielfach exzerpiert hat.

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immer wieder auch in den Schriften späterer Jahre begegnen. Selbst wo Herder solche Momente kritisch aufgreift,³⁴ wird sichtbar, daß er sich von der humanistischen Tradition nicht einfach abwendet, sie bloß ablehnt und fortschiebt, sondern daß er sich mit ihr noch auseinandersetzt, daß er, noch von ihr mitgeprägt, aus ihr heraus fragt, aus ihr heraus, sie umwandelnd, seine eigenen Vorstellungen entwickelt und damit dann freilich auch am Ende zu ihrer Auflösung und Ablösung beiträgt, ohne daß er sich selbst aber schon ganz von ihr löst. Das alles gilt auch und in besonderem Maße für die Odentheorie, von deren humanistischen und barocken Gewährsleuten Herder verschiedene gekannt, besessen, zitiert hat, so die Poetiken von Scaliger, von Pontanus und Masen, von Morhof, Omeis, Schottel oder von Vossius, bei dem die Vorstellung von den kühnen Sprüngen der Ode formuliert ist mit den Worten: „concessum etiam est subito ab uno ad aliud devolare argumentum“.³⁵ Ein besonders aufschlußreiches Dokument für Herders Verwurzelung in jener humanistischen Tradition und seinen Ausgang von ihr und für den vorerst nur tastenden Beginn des über sie hinausführenden eigenen Weges, zugleich insbesondere ein frühester Beleg für seine Bekanntschaft mit der überlieferten Odentheorie ist eine 55 Seiten umfassende Niederschrift mit dem Titel „Dichtkunst“,³⁶ enthalten in einem „Studienbuch“ Herders, dessen Inhalt zumeist aus der Königsberger und Rigaer Zeit stammt, an einzelnen Stellen aber bis in die Bückeburger Zeit reicht.³⁷ Die „Dichtkunst“ überschriebene Aufzeich-

34 Vgl. u. a. SW I, 286ff. (gegen blinde Orientierung an den Griechen als exempla) – 394f. (Vorbehalte gegen isolierte praecepta, exempla, verba) – 429ff. (gegen vermeintliche Unentbehrlichkeit der Mythologie für die Dichtung; bes. S.433) – II, 106 (Vorbehalte gegen das Übersetzen zur Ausbildung der eigenen Sprache) – s. auch viele der in Anm. 30 angeführten Belegstellen zur Kritik an erstarrter Gelehrsamkeit. 35 Gerardus Joannes Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln); Lib. III, S.  75 (Cap. XIV, De ratione tractandi argumentum lyricum). – Zu Besitz und Kenntnis dieser Werke bei Herder s. Bibl. Herderiana, Nr. 2385 (Scaliger, Poetices libri 7, 1617), 5152 (Morhof, Teutsche Sprachlehre, 1702 [i.e. Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie]), 5165 (Omeis, Reim- und Dichtkunst, 1712), 5166 (Schottel, Teutsche Vers- und Reimkunst, 1656). Vgl. ferner z. B. SW XXVII, 196 den (deutsch) zitierten Beleg für die Hochschätzung bestimmter Oden des Horaz durch Scaliger (Poetices libri, 1561, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 339 A/B 1; ähnliche Berufung Herders auf diese Stelle auch HN XVI, 245, 8r, Über die lyrische Poesie); Nennung von Vossius und Scaliger (HN XXV, 181, 1r), von Morhof, Scaliger, Pontanus, Masen (4r/v) in Autorenlisten zur Geschichte des Liedes; Bestellung von Vossius bei der Weimarischen Fürstlichen Bibliothek (Br VII, 166, Frühjahr 1795). 36 HN XXVI, 4, 5r–32 r. – Der Band enthält außerdem u. a. Auszüge aus Homes und Marmontels Schriften und aus Shakespeares Hamlet sowie Entwürfe und Dispositionen zur Ästhetik, zu einer Geschichte der schönen Wissenschaften und zur Geschichte der Dichtkunst. 37 Der handschriftliche Nachlaß J.G. Herders. Katalog, S. 226.

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nung, im Katalog von Irmscher und Adler als „Grundriß einer Poetik“ aus der Zeit in Königsberg oder Riga gekennzeichnet, läßt sich auf eine bisher übersehene und bei Herder selbst wohl auch sonst nirgends erwähnte Quelle zurückführen: den „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen abgefasset von M. Johan Christoph Dommerich Rektor der Herzogl. großen Schule zu Wolfenbüttel“, erschienen in Braunschweig 1758,³⁸ also erst wenige

38 Expl. Stadtbibliothek Braunschweig. Zu Dommerich (1723–1767), der in Halle (u. a. bei G.F. Meier) studiert und dort am Waisenhaus und am Paedagogium unterrichtet hatte, ehe er – nach Zwischenstationen an anderen Orten – 1749 Rektor in Wolfenbüttel und zuletzt 1759 Professor für Logik und Metaphysik in Helmstedt wurde, und zu seinen theologischen, philosophischen und literaturtheoretischen Schriften vgl. u. a. Jöcher-Adelung 2, Sp. 734–736 – ADB 5, 326f. – Kosch 33, Sp. 443; zu seiner Tätigkeit in Wolfenbüttel: Mechthild Raabe, Wolfenbütteler Schulalltag und Schülerlektüre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 7–9, 12, in: Lesekulturen im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödeker, Hamburg 1992 (Aufklärung 6, H.1), S. 5–26 – Glaubenslehre, Bildung, Qualifikation. 450 Jahre Große Schule in Wolfenbüttel, Berlin 1993 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, 69), u. a. S. 73, 97, 135f., 139f., 174, 341f. Mit seinem Lehrbuch „Vernünftige theoretische Anweisung zur wahren Beredsamkeit“ von 1746 (vgl. dazu Hermann Stauffer, Erfindung und Kritik. Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen, Frankfurt a.M. u. a. 1997, S. 31f.), das Johann Georg Sulzer (Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 4.T., Leipzig 21794; ND Hildesheim, Zürich, New York 1994) noch am Ende des Jahrhunderts in seiner ausführlichen Bibliographie zum Stichwort „Redekunst; Rhetorik“ erwähnt (S.  65), steht Dommerich zunächst stark im Banne Gottscheds, der zwar Dommerichs Schrift in seinem „Versuch einer deutschen RednerBibliothek“ (in: Akademische Redekunst zum Gebrauch der Vorlesungen auf hohen Schulen, 1759, S. 19; Expl. Sammlung Jantz, Film Nr. 222) anführt (s. auch: Catalogus Bibliothecae quam Jo.Ch. Gottschedius ... reliquit, Leipzig 1767, ND München 1977, S. 93), den Verfasser an anderer Stelle aber, teils namentlich, teils ohne Namensnennung, als Nachahmer, ja Plagiator seiner eigenen Anleitung zur Rhetorik angeprangert hat (s. Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. v. P.M. Mitchell, Bd.  7/1, Berlin, New York 1975, S.  7 und die Erläuterungen in Bd.  7/4, 1981, S. 7f.). Mit seiner früh für den „Messias“ eintretenden Schrift „De Christeidos Klopstockianae praecipua venere praelusio“ (1752; dt. Von den vornehmsten Schönheiten in der Meßiade des Hrn. Klopstocks, in: Altes und Neues von Schulsachen, T.3, Halle 1773), an deren Kenntnis Klopstock sich in einem Brief an Giseke (4.10.1752; Klopstock, Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe, hrsg. v. Horst Gronemeyer u. a., Briefe 1751–1752, hrsg. v. Rainer Schmidt, Berlin, New York 1985, S. 216) interessiert zeigte, hat Dommerich dann Verdacht und polemische Gegnerschaft der Kreise um Gottsched auf sich gezogen (s. Gustav Waniek, Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, Leipzig 1897, S. 577f., 588, 591 – zu Dommerichs Schrift: Paul Großer, Der Junge Klopstock im Urteil seiner Zeit, Diss. Breslau 1937, S.  101f.). Seinem „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst“, der u. a. von Johann Gotthelf Lindner, in der ersten Rigaer Zeit Herders noch Rektor der Domschule, in seinem Lehrbuch „Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst“ (T.II, Königsberg, Leipzig 1772, S. 214; Expl. UB Freiburg) unter den Anleitungen zur Dichtkunst erwähnt wird (s. auch Christian Heinrich Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1, Leipzig 1767, S. 100f.; Expl. StuUB Göttin-

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Jahre alt, als Herder sich damit beschäftigte. Herders Niederschrift erweist sich als eine stichwortartige, im ganzen getreue, hie und da inhaltlich ergänzende,³⁹ am Ende fragmentarische⁴⁰ Wiedergabe von Dommerichs knappem, seinerseits nur an die 70 Seiten umfassenden Leitfaden. Es muß offen bleiben, ob Herders Ausarbeitung seiner Unterrichtstätigkeit in Königsberg oder in Riga dienen sollte.⁴¹

gen; Ders., Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst, Leipzig 1781, S. 86; Expl. StuUB Göttingen – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.1, Leipzig 2 1792, ND Hildesheim, Zürich, New York 1994, s.v. Dichtkunst, Poetik, S.  681), hat Dommerich, dem insofern Schmid und Sulzer zu Unrecht eine unmittelbare Abhängigkeit von Gottsched zuschreiben, eine „Beurtheilung der Vorübungen der Dichtkunst des Herrn Professor Gottscheds zum Gebrauche der Schulen“ (1757; Expl. HAB Wolfenbüttel) vorausgehen lassen, worin er – mit zustimmendem Hinweis auf G.F. Meiers Kritik an Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ und unter Widerspruch gegen auch ihm selbst geltende satirisch-polemische Schriften aus dem Gottsched-Kreis und gegen den seiner „Anweisung zur wahren Beredsamkeit“ geltenden Nachahmungsvorwurf Gottscheds – an dessen Schul-Poetik vielfältige, z.T. freilich auch pedantisch-kleinliche Kritik übt. Gottsched seinerseits hat in der zweiten Auflage seiner „Vorübungen“ (Leipzig 1760; Expl. Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 627), ohne den Namen Dommerichs zu nennen, auf die Einwände „eines gewissen Rectors von einer grossen Schule aus einer kleinen Stadt“ mit wiederholten polemischen Seitenhieben gegen „meinen Zoilus“ reagiert. 39 So ergänzt Herder, gestützt offenkundig auf seine vielfältigen Kollektaneen wie auf seine durch unermüdliche Lektüre wachsenden literarischen Kenntnisse, die historischen Partien der ganz auf die „Deutsche Dichtkunst“ gerichteten Schrift Dommerichs durch umfangreiche, charakterisierende Listen von Autoren der Antike und anderer europäischer Literaturen der Neuzeit, charakterisiert und erweitert ebenso die Nennung deutscher Autoren, besonders des 18. Jahrhunderts, die Behandlung der Epochen der deutschen Literatur, die Hinweise zu deren Geschichte und zu entsprechenden Gewährsleuten wie auch die Liste von „Anweisungen zur Poesie“, in die er antike und humanistische Autoren einbezieht, aber auch den bei Dommerich noch nirgends genannten Batteux, und stützt sich gelegentlich auch auf andere Gewährsleute. Die von Dommerich in den §§ 48ff. behandelten „wesentlichen Schönheiten eines Gedichts“ erläutert Herder durch eine mehrseitige eigene „Anwendung dieser Schönheiten auf den 2ten Gesang des Cissides u. Paches, v. He. [Ewald v.] Kleist“. Darüberhinaus illustriert Herders Niederschrift zahlreiche Details der Vers- und Stillehre (zumal der ganzen Fülle der rhetorischen Figuren), die bei Dommerich nur knapp aufgezählt werden, durch antike wie neuzeitliche (zumeist deutsche) Autoren und Zitate, insbesondere von Horaz, Vergil, Hagedorn, Ewald von Kleist und Klopstock. 40 Herders Aufzeichnung bricht auf Bl. 32 v bei der Behandlung der Fabel ab. Bei Dommerich folgen danach weitere Gattungen und ein letztes Kapitel „Von der Verfertigung der Gedichte“ (S. 57–66). 41 Gegen die Möglichkeit, daß es sich um eine Kollegnachschrift handeln könnte, mit welcher R. Haym bei einer knappen Erwähnung dieser Handschrift – ohne Kenntnis der tatsächlichen Quelle – zu rechnen scheint (Herder, Bd. 1, S. 115: „Wie ein Auszug aus einem Lindnerschen

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Dommerichs Werk überliefert die in Humanismus und Barock entwickelten Lehren, unter Einschluß der rhetorischen Stillehre und der rhetorischen Figuren, in einer für die Poetik der Aufklärung kennzeichnenden Fassung. Gottsched ist noch nicht gänzlich abgetan,⁴² die Schweizer gelten mehr, und mit besonderem Nachdruck werden Schriften G.F. Meiers, dessen Schüler Dommerich in Halle gewesen ist, und die „Meditationes de nonnulis ad Poema pertinentibus“ (1735) und die „Aesthetica“ (1750) des dann auch für Herder so wichtigen Alexander Gottlieb Baumgarten genannt,⁴³ aus denen Dommerich seine Definition eines

oder Bockschen Collegienheft nimmt sich sodann eine, mehrere Bogen füllende Poetik aus ...“), spricht vor allem die übersichtliche und präzise, wenn auch vielfach stichwortartige Form der Darlegungen. Angesichts des offenkundigen Mangels an schulgeschichtlichen Dokumenten über Herders Tätigkeit am Collegium Fridericianum in Königsberg (1762–1764) und an der Domschule in Riga (1764–1769), deren Behandlung in der älteren wie neueren Literatur zu Herder und zu den beiden Schulen nur erkennen läßt, daß er dort neben anderem auch Poesie bzw. deutschen Stil unterrichtet habe, ist eine Zuordnung seiner Dommerich-Bearbeitung zu der einen oder anderen Schule schwierig. Für die Königsberger Zeit könnte aber sprechen, daß dort, wo Herder Literaturhinweise einfügt, die jüngsten Erscheinungsjahre nicht weiter als bis 1761/62 reichen. Nicht gänzlich auszuschließen ist freilich auch, daß Herder auf Dommerichs Werk erst durch Lindner, der die Schrift (s. Anm.  38) einige Jahre später auch in seinem „Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst“ unter den Anleitungen zur Poesie erwähnt hat, hingewiesen worden ist und sich unmittelbar vor oder nach dem Antritt seines Rigaer Schulamts auf der Grundlage von Dommerichs Text, der vielleicht sogar an der Rigaer Domschule als Lehrbuch Verwendung fand, einen eigenen, durch Früchte seiner vielfältigen Lektüre bereicherten Unterrichtsleitfaden angelegt hat, auch wenn er gleichzeitig schon an einer eigenen Abhandlung zur Ode arbeitete, wie seine Briefe an Hamann aus dem Jahre 1765 belegen (s. Br I, 36, 37, 45). 42 Zu Dommerichs Verhältnis zu Gottsched s. schon oben Anm. 38. In der Vorrede zum „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst“ verweist er (Bl. A 3v f.) kritisch auf Gottscheds „Vorübungen der deutschen Dichtkunst“ und auf seine kurz zuvor erschienene Kritik von Gottscheds Vorübungen der lateinischen Dichtkunst. Vgl. aber auch Anm. 43. 43 In § 18 (S. 10f.) hebt Dommerich als die „vornehmsten“ der Schriften, „darin die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften vorgetragen werden“, „Herrn A.G. Baumgartens Dissertatio de nonnullis ad poema pertinentibus ... imgl. seine Aesthetica“ hervor sowie „Herrn G.Fr. Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften“ und „dessen kleinere Schriften“. Für die „eigentlichen Anweisungen zur deutschen Dichtkunst“ führt er zwei „weitläufige und ausfürliche Systemata“ an: „Hrn. Prof. Gottscheds critische Dichtkunst, doch nicht ohne dabei Herrn Prof. Meiers Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst ... zu gebrauchen; besonders Herrn. Canon. Breitingers critische Dichtkunst“. Als Beispiele für „besondere Abhandlungen aus der deutschen Dichtkunst“ erwähnt er vor allem „Breitingers Abhandlung von Gleichnissen, Herr Bodmer von Poetischen Gemälden und dem Wunderbaren in der Poesie“. In der Vorrede (Bl. A4v) weist Dommerich ausdrücklich darauf hin, daß er seinen „Entwurf den Schriften anderer geschikten Männer gröstenteils zu danken habe“, die man im § 18 und im voraufgehenden § 17 („Schriftsteller von der Geschichte der deutschen Poesie“) finde.

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Gedichts als „eine sinnliche Rede, die so wol in den Gedanken als in dem Ausdruk derselben die mehresten Schönheiten besizt“ (S. 1), herleitet, ohne freilich davon für die Behandlung der einzelnen Lehrstücke spürbaren Gebrauch zu machen. In Herders Niederschrift wird das Urteil über Gottsched verschärft,⁴⁴ die Definition des Gedichts abgewandelt zu der näher an Baumgarten heranführenden Formulierung „eine Rede, die die höchstmögliche sinnliche Schönheit besitzt“ (Bl. 5r),⁴⁵ mit Nachdruck der später von Herder immer wieder vehement abgelehnte Batteux empfohlen, dessen Bearbeitung durch Ramler „jedem schönen Geist unentbehrlich“ sei.⁴⁶ Im metrischen Teil werden über Dommerich hinaus auch antike Odenmaße behandelt und zum Teil mit einzelnen Versen Klopstocks belegt,⁴⁷ in dem gegenüber Dommerich erweiterten historischen Teil wird wie bei diesem Klopstock freilich nur erst als Dichter des „Messias“ gepriesen⁴⁸ und als der „gröste Odendichter nach dem wahren alten Geschmack“ der bei Dommerich nicht genannte Uz hervorgehoben,⁴⁹ der später bei Herder nur noch im Schatten Klopstocks begegnen wird.

44 Im Abschnitt über die „Wiederherstellung der deutschen Poesie“ im 18. Jahrhundert heißt es (Bl. 8r) über ihn: „Gottsched warf sich zu Deutschlands Lehrer auf, drang beinahe übertrieben auf die Regeln ... Weil dies nun allmählich auf eine Mattigkeit u. wäßerige Poesie führte: so konnte dieser Abweg nicht lange geduldet werden. Einige Schweizer machten Gottsched, das Recht einen Aristarchus vorzustellen, streitig ...“ und im Abschnitt über „Anweisungen zur Poesie“: „Gottscheds Kr.[itische] D.[ichtkunst] ist wegen der Erkl. nicht u. Anweisung, sondern einiger Litteratur brauchbar. Breiting[ers] D.[ichtkunst] ist beßer“ (Bl. 10 v). Im Sinne solcher eingeschränkten Geltung wird Gottscheds „Critische Dichtkunst“ einigemal (Bl. 7v, 12 r, 24r) als Quelle für Einzelfragen herangezogen (nach der 4. Ausgabe von 1751, die sich ebenso wie die erste von 1730 in Herders Besitz befunden hat: Bibl. Herderiana, Nr. 5167 und 5168). 45 Baumgarten, dessen „Dissertatio“ und „Aesthetica“ wie bei Dommerich unter den „Anweisungen zur Poesie“ (und zwar „a zu den schönen Wissenschaften überhaupt“) genannt werden (Bl. 10 v), wird von Herder wiederholt auch bei Einzelfragen herangezogen (u. a. Bl. 16r, 26v). 46 Bl. 10v in der Übersicht über „Anweisungen zur Poesie“. Weitere Berufungen auf Batteux: Bl. 5r, 5v (s. auch unten Anm. 50). Da Dommerich sich ganz auf deutsche Dichtung und dafür auf deutsche Gewährsleute konzentriert, bleibt die Frage nach seiner Kenntnis des Batteux offen. 47 Bl. 13v f.; vgl. bei Dommerich, S. 20 den sehr allgemein gehaltenen § 47. 48 Bei Dommerich, der an späterer Stelle mit Klopstock ausnahmsweise auch einmal ein Muster (S. 57, für den Hexameter im Epos) nennt, heißt es von ihm im Katalog zeitgenössischer Autoren lediglich: „Keiner aber hat so vielen Beifall erhalten, als der Herr Klopstock, durch Verfertigung seiner Meßiade“ (§ 16). Bei Herder hingegen lautet die entsprechende Passage: „Klopstock der Deutschen Homer oder Virgil, gab die 1sten Gesänge des Meßias 1751.52. zu Halle heraus. Ein Genie ohne gleichen“ (Bl. 8v). 49 Bl.  8v; vgl. dagegen Dommerich, dessen Autorenkatalog (S.  9) insgesamt viel begrenzter ausgefallen ist.

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Herders Niederschrift stellt im Gattungsteil⁵⁰ wie Dommerich die Ode an die Spitze,⁵¹ und im Anschluß an dessen knappen Paragraphen 93 wie an die ganze Tradition der Odentheorie⁵² nennt sie – bei Dommerich nur zum Teil erwähnte – herkömmliche Bestandteile wie Begeisterung, kühnen Beginn, Sprung – der wohl früheste Beleg des Wortes bei Herder – als Merkmal einer freien Gedankenfolge, schöne Unordnung, Digressionen (Ausschweifungen), Kürze, Erhabenheit, hohen Stil. Sie geht aber auch in bezeichnender Weise über Dommerich hinaus, so wenn sie dessen Definition der Ode als Gedicht, „so aus Strophen“ bestehe „und darin durchgehends ein besonderes Feuer herschet“, zwar referiert, aber als ungenau, da „es Oden ohne Strophen u. besonder Feuer geben kan“, durch die ihr als besser geltende ersetzt: „ein Gedicht, das eine gewiße Empfindung ausdrückt und zum Singen gemacht ist“; wenn die von Dommerich (§ 94) übernommenen Einteilungsmöglichkeiten eingeleitet werden durch die Sätze: „Da eine jede gute Ode ihren eigentümlichen Carakter hat: so ist eine ganz genaue Eintheilung derselben nicht füglich möglich. Indeßen ist folgende bequem ...“; wenn die erste dieser Einteilungen, die sich bei Dommerich nach der „Art zu denken“ richtet und „heroische, oder mitlere, oder niedere Oden“ unterscheidet, und die dritte „in Absicht auf die Stärke der Leidenschaften“ von Herder, mit Unterordnung der Stillagen unter die Affektgrade, zusammengefaßt werden zu einer einzigen, die sich nach „ihrer Begeisterung und Stärke“

50 Er steht hier (Bl. 29r) wie bei Dommerich (S. 41) unter der Überschrift „Von den verschiednen Arten der Gedichte“ und wird übereinstimmend mit der Feststellung eröffnet, die Einteilung der Gedichte könne auf vielerlei Weise geschehen. Herder expliziert das, indem er zunächst den „Entwurf des Batteux“ mit der Einteilung in epische, dramatische, lyrische und didaktische Poesie skizziert, um ihm dann den „Entwurf des Dommerichs“ – die einzige Stelle, an der Herder seine Quelle nennt, und der Schlüssel zu deren Aufdeckung – nach dessen § 92 (S. 41f.) folgen zu lassen. 51 Bl. 29 v f.; Dommerich S. 42f., § 93 und 94 (weitgehend und zumeist wörtlich abhängig von Georg Friedrich Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, Halle 1747, Expl. StB München, S. 256–259, § 185 und 186). – Den Abschnitt über die Ode hat Gaier, da ihm, dem Katalog von Irmscher und Adler gemäß, Herders Aufzeichnung ohne Kenntnis ihrer Quelle als ein selbständiger „Grundriß der Poetik“ gilt, den „Herder sich nach dem Studium der einschlägigen Hauptwerke ... angelegt“ habe (Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 928), als Nr. 1 (S. 59–61) seiner Zusammenstellung von Texten „Von der Ode“ (s. oben Anm. 22) mitgeteilt und (S. 931f.) mit einer recht beliebigen Auswahl aus zeitgenössischen und älteren Gewährsleuten (Ramler/Batteux, Boileau, Scaliger u. a.) und nicht ohne einzelne Irrtümer kommentiert. 52 Festzustellen, welche Quellen im einzelnen an Herders Zusätzen und Umformulierungen von Dommerichs Text, soweit diese nicht nur eine communis opinio wiedergeben, Anteil haben, wäre eine lohnende, die umfassende Rezeption der literarischen Überlieferung und der zeitgenössischen Diskussionen durch den lesehungrigen jungen Autor erhellende Aufgabe, für deren Erfüllung hier jedoch der Ort nicht ist.

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im Sinne einer gerade erst sich anbahnenden deutlicheren Differenzierung gliedert in „Dithyrambische Oden“, die „den höchsten Grad der Begeisterung“ erreichen, „Oden von der mittlern Art, kat’ ἐxochn Oden“ und „Oden , die in der Odenschreibart die niedrigsten sind, einen ruhigen Affekt ausdrücken ...: Lieder“; wenn überhaupt die einzelnen Bestimmungen der Ode stärker als bei Dommerich von der Begeisterung, vom Affekt abgeleitet und die Begeisterung selbst, der seit alters der Ode insbesondere zugeordnete Enthusiasmus mit den – bei der Beschreibung seiner Entstehung freilich noch an ältere Vorstellungen anknüpfenden – Worten erläutert wird: „da der Dichter durch die Vorstellung seine Einbildungskraft so erhizt hat als hätte er die Sache vor sich und wäre wirklich im Affekt“. Was solche Abweichungen von Dommerich bedeuten und inwiefern Herders Niederschrift zur „Dichtkunst“ für die Entwicklung seiner Lyrikauffassung aufschlußreich ist, das wird sichtbar, wenn man ihr eine Reihe von Sätzen aus den – nach ihrem Inhalt zu urteilen – wohl frühesten, um 1764⁵³ niedergeschriebenen eigenen Überlegungen Herders zur Ode gegenüberstellt: „Daß der Inhalt der wahren Ode merklich reine Empfindungen sind ... ist ein Grundsatz auf den wir uns zwar stützen; aber dabei noch vieles auszumachen bleibt. Ist sie ein Ausfluß dieser Empfindung, oder malet sie dieselbe blos ... durch Nachahmung? ... Empfindungen drückt sie aus? ... Daß Worte Gedanken ausdrücken, weis ich wohl, aber Empfindungen? Nein! eigentlich zu reden auch nicht eine einzige ... eine ausgedrückte Empfindung ist ein Wiederspruch ... Empfindungen und Worte sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm ... Das Zeitalter der Natur, da man nicht dachte, sondern empfand, nicht redete, sondern handelte, war arm an Worten, aber reich an Handlungen durch Minen, Accente und Thaten ... Laßt einen NaturMenschen im Taumel seiner Affekt Begeisterung diese ganze Folge der Naturzeichen ausdrücken; seine Ode wird eine Abstuffung von wenigen Worten enthalten ... So bald die Ode ein Gedicht wird, so drückt sie auch Empfindungen der Kunst aus: denn aus der Empfindung der Natur wird doch wohl nie eine Ode fließen. Man nehme den frömmsten Psalm; die weinendste Elegie des Hallers; diese Empfindungen können nicht erborgt seyn, aber der Gang der Empfindung gewiß, ihr Kleid; es ist hier kein Wiederspruch sich selbst Empfindungen nachahmen. Laßt Klopstocken bei dem Leichnam seiner Meta weinen; mit Empfindung ... laßt die Empfindung verrauchen: so ist der Gang der Natur, daß Einbildungskraft ihre Stelle einnimmt; füllt diese mit Poetischen Bildern, so wird eine Ode werden, die nicht empfindet, sondern Empfindung malet ... Aber wie? – Wenn du willt, daß ich weinen [soll] ... das bestätigt meine Meinung, daß sie nie Empfindung ausdrückt. Ich weine, – aber blos eine Poetische Träne; und die wird auch blos der andre weinen. Seine Phantasie verwirrt sich, weil er meine verworren sieht ... Ich dichte also die Ode vor dies Poetische Gefühl; wohl so werde ich mich ihm auch bequemen und meine Empfindung aus diesem Gesichtspunkt schildern, wo er die Aehnlichkeit am besten einsehen kann; folglich schildre ich auch

53 So im Katalog des Herder-Nachlasses, S. 203.

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der Form nach nicht mehr wahre Empfindungen, sondern ein perspektiv von ihnen, in dem sie der andre siehet. Beide sind von einander so verschieden, daß der künstliche Odendichter schon nie seine Empfindung malen will, sondern sich völlig außer sich, an die Stelle des Lesers sezt ... Wäre eine Ode der Natur Empfindung möglich so würde sie so dunkel, eintönig, verworren, hart, seyn, daß sie alten kalten Leuten lächerlich wäre; aber jetzt da er schreibt (um gelesen zu werden) so ordnet er alle Bilder der Empfindung nach dem Gesichtspunkt und der Ordnung des Lesenden; je mehr er diese trift, desto künstlicher ist die Ode; verbirgt er seine Kunst; so sage ich: sie ist Natur: Er hat die Gegenstände geschildert, wie ich sie würde empfunden haben, so daß ich mich künstlich hintergehe mit der Wahrheit. Ist Zwang zu sehen; so ist er ein Künstler im bösen Verstande; Die Ode ist also ein künstlicher Ausdruck einer künstlichen Empfindung durch die Sprache; – die Empfindung drückt sich also eigentlich durch Zeichen aus; und uneigentlich durch Worte ... der Ausdruck durch künstliche Worte sezt eine künstliche Empfindung der Einbildungskraft voraus. Einen Ausdruck durch die Sprache; könnte ich vielleicht Rede nennen; der Ausdruck der Einbildungskraft ist am größten Grad sinnlich folglich könnte ich unter allen Gedichten die Ode ... die vollkommenste sinnliche Rede nennen“.⁵⁴

Schon in Herders Aufzeichnungen zur „Dichtkunst“ nach Dommerich deutet sich über diesen hinaus an, was die Ode für Herder wie für die Zeitgenossen so wichtig werden läßt. Wo sich das Interesse der Poetik – dieser Prozeß ist schon vor Herders Beginn seit Jahrzehnten im Gang – im Zusammenhang mit den Fragen und Thesen aufklärerischer Psychologie und ihrer differenzierten Lehre von den Seelenvermögen auf das noch in der Barockpoetik immer nur als selbstverständlich vorausgesetzte Dichtungsvermögen, seine Verfahrensweisen wie auf die zuvor als Ziel von prosaischer wie poetischer Rede in Rhetorik und Poetik ebenfalls vorausgesetzten Affekte richtet, ihr Wesen und Funktionieren genauer zu bestimmen sucht, wo in engem Zusammenhang damit – auch unter dem Einfluß der wachsenden Rezeption der Schrift des Ps.Longin vom Erhabenen – das movere zunehmend auf Kosten des docere und delectare für viele zum eigentlichen Zweck der Dichtung wird, da richtet sich der Blick zwangsläufig vor anderem auf die Ode, weil ihr schon seit langem ein besonderes Maß an poetischem Enthusiasmus als Merkmal zugehört, weil sie als Dichtung hoher Gegenstände und hohen Stils in besonderem Grade mit den Affekten oder, wie man nun zunehmend sagt, den Empfindungen verbunden ist und sich dadurch mehr noch als andere Dichtungsarten den neuen Erwartungen und Überlegungen als Modell anbietet. Dabei aber mußte es sich zunehmend auch fragen, welcher Art denn die Empfindungen, von denen die Ode spricht, seien, ob sie, um

54 HN XXV, 170b (da dieser Text Niederschlag ständig in Gang befindlicher und unter manchen Wiederholungen nach immer neuen Formulierungen suchender Gedanken ist, wird im voranstehenden Zitat nicht zwischen gestrichenen und ersetzenden Partien unterschieden).

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glaubhaft zu sein und die beabsichtigte Wirkung zu erreichen, nicht unbedingt wahr, wirklich sein müßten. Der rhetorisch fundierten Poetik von Humanismus und Barock, der das im 18. Jahrhundert dann immer wieder – so auch bei Herder – angeführte Wort des Horaz „si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“ (ars poetica v.102f.; wenn du mich weinen machen willst, mußt du zuerst selbst Schmerz empfinden) durchaus geläufig ist,⁵⁵ stellt sich jene Frage so nicht. Ihr und dem zeitgenössischen Publikum – wie wir annehmen müssen – genügt es, ja es ist ihre Erwartung, daß Affekte in exemplarischer Weise mit den wohlkalkulierten Mitteln der Rhetorik, für die etwa die Redefiguren nicht bloße Schmuckmittel, sondern Werkzeuge der Affekterregung und Affektvermittlung sind, eindringlich und damit wirkungsvoll vorgeführt werden, gleichgültig, ob der Verfasser solche Affekte selbst schon erfahren hat, von ihnen beim Verfertigen seines Textes mitbestimmt ist oder sie sich nur vorgestellt hat. Solche Poetik kann daher auch jene Fülle von Kasualdichtung begründen, die, auch wenn sie mit späteren Begriffen betrachtet bloße Pflichtübung der Verfasser scheint, ihre Wirkung tut, und auch das Verfertigen von Gedichten im Namen eines anderen ist für solche Poetik nicht fragwürdig. Anders im 18.  Jahrhundert, in welchem zunehmend die Erwartung, vor allem die lyrische Poesie könne doch wohl nur aus wirklichen Empfindungen ihre Wahrheit und Wirkung gewinnen, sich verbreitet und zum Problem der Poetik wird. In Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ klingt es an in Bemerkungen zu Trauergedichten von Canitz und Besser auf den Tod ihrer eigenen Frauen, die er unter die Nachahmungen rechnet, „ob sie gleich ihren eignen Schmerz, und nicht einen fremden vorstellen wollen: denn so viel ist gewiß, daß ein Dichter zum wenigsten dann, wann er die Verse macht, die volle Stärke der Leidenschaft nicht empfinden kann“.⁵⁶ Eingehender stellt sich dem Problem Batteux, der – in Johann Adolf Schlegels Bearbeitung⁵⁷ seiner Schrift „Les Beaux Arts réduits

55 S.  z. B. das Klopstock-Zitat unten bei Anm.  63 sowie unten S. 317ff. weitere einschlägige Hinweise und den Aufsatz von Jürgen Stenzel: „Si vis me flere ...“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts, in: DVjs 48, 1974, S. 650–671. 56 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4Leipzig 1751 (ND Darmstadt 1962), S. 145. Vgl. zur zeitgenössischen Diskussion von Epicedien auf die eigene Ehefrau der Autoren die Skizze „‚Ich öffne meines Herzens Wunden‘“ in diesem Band. 57 Von den verschiedenen Batteux-Übersetzungen und -Bearbeitungen wird diese hier herangezogen, da sie in der deutschen Diskussion (s. Anm. 60) die größte Rolle gespielt hat. Zur Bekanntschaft Herders mit Schlegels wie Ramlers Batteux s. die Hinweise in Anm. 29 und 46 sowie SW I, 338; IV, 150; V, 282 (wonach er bei zunehmender Kritik an Batteux die Version Ramlers noch eher gelten lassen mochte als diejenige Schlegels).

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à un même Principe“ – als möglichen Einwand gegen sein alle Künste umfassendes Prinzip der Nachahmung formuliert: „Man gehe auf den Ursprung der Dichtkunst zurück. Ist die Poesie nicht ein Gesang, welchen Freude, Verwunderung, Dankbarkeit einflößen? Ist sie nicht ein lebhafter Ausdruck des Herzens, ein schneller Ausbruch seiner Empfindungen, wobey die Natur alles, und die Kunst nichts thut? Ich sehe keine Schilderey, kein Gemälde darin neu. In ihr ist alles nichts als Feuer, Gefühl, Trunkenheit. Solchergestalt sind folgende zweene Sätze gewiß; erstlich, daß lyrische Poesien wirkliche Gedichte sind, zweytens, daß diese Poesien keine Spur einer Nachahmung an sich haben. Dieß ist der Einwurf in seiner ganzen Stärke“.⁵⁸ Batteux gibt die Möglichkeit, daß es in lyrischen Gedichten um wirkliche Empfindungen gehen könne, zu, ja er sieht sie vor allem in den poetischen Texten der Bibel, denen solche Wahrheit abzusprechen unmöglich wäre, aber auch sie subsummiert er doch dem Prinzip der Nachahmung, weil für ihn erst durch die bewußte Umsetzung in Sprache Gedichte als Werke der Kunst – und auf sie richtet sich seine Erwartung – denkbar sind: „Die Natur mag das Feuer entzünden; wenigstens muß die Kunst ihm die Nahrung geben, und es im Brande erhalten ... Warum finden wir überdieß in den heiligen Gesängen für uns so viel Schönheit? Rührt es nicht daher, daß wir die Empfindungen darinnen so vollkommen ausgedrückt finden, wie wir sie, nach unserm Bedünken, gehabt haben würden, wenn wir in eben den Umständen uns befunden hätten, in denen die Propheten sich befanden? Wenn diese Empfindungen bloß wahr, und nicht auch wahrscheinlich wären, so würden wir ihnen Ehrerbietung schuldig seyn; aber sie würden keinen Eindruck des Vergnügens in uns machen. Solchergestalt muß man, wenn man den Menschen gefallen will, selbst alsdann, wenn man nicht nachahmt, sich doch anstellen, als ob man nachahmte, und auf diese Weise der Wahrheit die Züge der Wahrscheinlichkeit geben ...“ (T.I, S. 200ff.; 1770: T.I, S. 374ff.). „Sind die Empfindungen wahr und wirklich, wie sie es beym David waren, als er seine geistlichen Gesänge verfertigte: So ist dieß ein Vortheil für den Poeten ... Alsdann schränket sich die poetische Nachahmung auf Gedanken, auf Ausdrücke, auf den Wohlklang ein, die der Beschaffenheit der darinnen enthaltnen Sachen gemäß seyn müssen. Wenn die Empfindungen aber nicht wahr und wirklich sind, das heißt, wenn der

58 Zitiert (da der frühe Herder diese oder die 1. Auflage von 1751 gekannt haben dürfte) nach: Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1759 (Expl. StBPK Berlin), T.I, S.  193. Den Stellennachweisen wird der leichteren Zugänglichkeit wegen jeweils auch die Seitenzahl in dem Nachdruck (Hildesheim, New York 1976) der 3., verbesserten und vermehrten Auflage (Leipzig 1770) hinzugesetzt (das obige Zitat hier T.I, S. 359ff.).

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Dichter sich nicht wirklich in derjenigen Verfassung befindet, welche diejenigen Empfindungen, deren er benöthigt ist, hervorbringt: So muß er solche Empfindungen in sich erwecken, welche den wahren ähnlich sind ... Hat er gerade den ersten Grad der Hitze erreicht, der gegenwärtig erfodert wird: Wohlan, so singe er! Er ist begeistert ...“ (T.I, S. 208ff.; 1770: T.I, S. 383ff.).⁵⁹ Jüngeren Zeitgenossen genügt diese zwiespältige Haltung nicht mehr, und so entzündet sich gerade daran die Diskussion um Batteux in Deutschland.⁶⁰ Schon 1755, kurz nach dem Erscheinen von Schlegels Batteux-Übersetzung (1751) und Gottscheds Auszug aus Batteux (1754) wendet der mit Klopstock befreundete Johann Andreas Cramer in einer der Abhandlungen zu seiner Psalmennachdichtung gegen Batteux ein: „... wie viel Witz muß er nicht verschwenden, an der Ode nicht eben diese Ungerechtigkeit zu begehen [sie nämlich wie das Lehrgedicht aus dem Gebiet der Dichtkunst zu verweisen]. Er sieht sich gezwungen, sie als eine Reihe nachgemachter Empfindungen zu beschreiben, und gleichwohl kann er nicht läugnen, daß die Oden oft die Ausdrücke der wirklichen Empfindungen unsers Herzens sind. Aber ehe er das eigentliche Wesen der Dichtkunst in der Begeisterung suchen sollte, eher macht er lieber den Dichter, wenn er in seinen Gesängen seine eignen wahren Empfindungen ausdrückt, zum Nachahmer seiner selbst. So sehr muß er sich widersprechen, ob er sich gleich auf eine sinn-

59 Daß Batteux übrigens seinerseits in einer längeren, mit der humanistischen Rezeption der Aristotelischen Mimesis zusammenhängenden Diskussionstradition steht, die hier allerdings nicht näher erörtert werden kann, sei wenigstens mit zwei charakteristischen Zitaten angedeutet: „... videtur quibusdam nullam esse lyricam poёsin, quoniam in ea nulla est humanarum actionum imitatio: contra aliis videtur satis illam imitari, dum hominum mores & affectus exprimit; & quamuis interdum vera pronuntiet, tamen in singularibus personis, non secus atque Epopoeiam, & Tragoediam, actiones effingere vniversales“ (Giovanni Antonio Viperano, De Poetica Libri Tres, Antwerpen 1579, ND München 1967, S. 149f.) – „Nunc solum dicam, quod si poesis citra figmenta foret nulla; DAVID, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poetarum numero debeant excludi“ (Gerardus Joannes Vossius, De Artis Poeticae Natura ac Constitutione liber, Amsterdam 1647, Expl. UB Köln, S. 20). 60 Zur Batteux-Rezeption in Deutschland und zur Rolle von J.A. Schlegels Batteux-Übersetzung vgl. u. a. die Arbeiten von Christoph Siegrist (Batteux-Rezeption und Nachahmungslehre in Deutschland, in: Geistesgeschichtliche Perspektiven. Festgabe für Rudolf Fahrner, Bonn 1969, S.  171–190), Joyce S.  Rutledge (Johann Adolf Schlegel, Bern, Frankfurt a.M. 1974) und Irmela von der Lühe (Natur und Nachahmung. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland, Bonn 1979), die im einzelnen allerdings stärkerer poetikgeschichtlicher Fundierung und Differenzierung bedurft hätten. – Beispiel der fortschreitenden Kritik an der zunächst die literarische Diskussion in Deutschland befruchtenden Konzeption des Batteux und ausgiebiger Beleg für die Abkehr von seiner ursprünglichen Nähe zu Batteux ist die Rezension der 3. Auflage von J.A. Schlegels Batteux-Ausgabe (1770), die Herder 1772 in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ publiziert hat (SW V, 278–290).

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reiche Weise widerspricht“.⁶¹ Johann Adolf Schlegel führt in den Anmerkungen und Abhandlungen zu den verschiedenen Auflagen seiner Batteux-Übersetzung eine vielfältige polemische Auseinandersetzung mit dem Autor, in der gerade auch diese Frage eine wesentliche Rolle spielt.⁶² Klopstock meint 1759 in seinen „Gedanken über die Natur der Poesie“ lapidar: „Batteux hat nach Aristoteles das Wesen der Poesie mit den scheinbarsten Gründen in der Nachahmung gesetzt. Aber wer tut, was Horaz sagt: ‚Wenn du willst, daß ich weinen soll; so mußt du selbst betrübt gewesen sein!‘ ahmt der bloß nach? Nur alsdann hat er bloß nachgeahmt, wenn ich nicht weinen werde. Er ist an der Stelle desjenigen gewesen, der gelitten hat. Er hat selbst gelitten. Wenn mein Freund beinahe eben das empfindet, was ich empfinde, weil ich meine Geliebte verloren habe; und diesen Anteil an meiner Traurigkeit andern erzählt: ahmt er nach? Von dem Poeten hier weiter nichts als Nachahmung fodern, heißt ihn in einen Akteur verwandeln, der sich vergebens als einen Akteur anstellt. Und vollends der, der seinen eignen Schmerz beschreibt! der ahmt also sich selbst nach?“.⁶³ Das lyrische Gedicht als Nachahmung oder Ausdruck der Empfindung – wobei der Begriff „Ausdruck“ selbst, wie die zitierten Passagen aus Batteux ebenso wie die von Herder zeigen, zunächst noch ambivalent bleibt und seinerseits erst allmählich nur noch unmittelbare Bekundung statt Abbildung,

61 Johann Andreas Cramer, Poetische Uebersetzung der Psalmen, T.1, Leipzig 1755 (Expl. StB München), S. 260. 62 Umfangreiche kritische Anmerkungen zu Batteux enthält schon die 2. Auflage (1759) von Schlegels Übersetzung. Auf einige von ihnen hat Batteux zuerst in der 1764 in Göttingen, Leiden und Paris erschienenen Ausgabe seines Werks (s. Jean-Rémy Mantion, Introduction, S. 64, in: Ch. Batteux, Les Beaux-Arts réduits à un même principe. Édition critique, Paris 1989) mit polemischen Gegenbemerkungen reagiert, die in die Pariser Ausgabe von 1773 übernommen worden sind (s. deren Nachdruck, Genf 1969, S. 62–65, 155f., 169f., 172, 233f., 294f., 317f., 319f. und die kritische Edition von Mantion). Alle diese Einwände des Autors gegen seinen kritischen Übersetzer hat dieser dann in der 3. Auflage (1770) seinerseits unter beträchtlicher Erweiterung seiner ursprünglichen Anmerkungen zum Gegenstand fortgesetzter Polemik gemacht. Dieses Fußnotendiskussion konzentriert sich auf Stellen, an denen es um die Rolle der Nachahmung für die Bestimmung der verschiedenen Künste, für die Gattungsgliederung der Poesie und insbesondere für die lyrische Dichtung geht, die bei Schlegel auch über die von Batteux aufgegriffenen Einwände hinaus einen Schwerpunkt seiner gerade hier den Text um ein Mehrfaches an Umfang übertreffenden kritischen Fußnoten bildet. 63 Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S.  993 (Erstdruck im „Nordischen Aufseher“, 1759). Zu Klopstocks vorausgegangener eingehender Beschäftigung mit Batteux vgl. die Belege in seinem Arbeitstagebuch von 1755/56: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Addenda, Bd. 2, hrsg. v. Klaus Hurlebusch, Berlin, New York 1977, S. 34f., 46, 90, 102.

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Darstellung meint⁶⁴ –, Nachahmung oder Ausdruck der Empfindungen – das ist der eigentliche Drehpunkt der Veränderungen der Lyrik und Lyriktheorie im 18.  Jahrhundert.⁶⁵ Mit diesem Problem müht sich auch der angeführte längere Text Herders zur Ode ab, mit dem Versuch seiner Klärung tritt Herder in die Lyrikdiskussion seiner Zeit ein. Die auf Dommerich beruhende Niederschrift Herders hatte noch ganz im Sinne von Batteux formuliert: „da der Dichter durch die Vorstellung seine Einbildungskraft so erhizt hat als hätte er die Sache vor sich und wäre wirklich im Affekt“. Jetzt, in den beginnenden eigenen Überlegungen verläßt er diese Position zwar noch nicht gänzlich, aber er versucht, genauer zu verstehen, wie sich denn wahre Empfindung, die ihm anders als Batteux offenkundig nicht mehr nur als Sonderfall zu gelten beginnt, mit dem immer noch als Nachahmung verstandenen Verfahren des Gedichts verbinden könne. Herders Antwort lautet hier: die Empfindung ist wahr, aber ihr Ausdruck im Gedicht, das noch nicht allein als Bekundung des hervorbringenden Subjekts, sondern in langer Tradition mindestens ebenso sehr im Blick auf den Leser oder Hörer gesehen wird, ist nur möglich als ein Werk der Kunst: das Gedicht ist „ein perspektiv“ wahrer Empfindungen, „in dem sie der andere siehet“, der Dichter „hat die Gegenstände geschildert, wie ich [der Leser] sie würde empfunden haben, so daß ich mich künstlich hintergehe mit der Wahrheit. Ist Zwang zu sehen; so ist er ein Künstler im bösen Verstande“. Das bleibt noch in der Nähe des Batteux, aber geht doch einen entscheidenden Schritt über ihn hinaus: die Wahrheit der Empfindung ist hier Bedingung der Möglichkeit des Gedichts, wenn dieses auch noch nicht allein aus ihr abgeleitet wird. Im einzelnen bleibt dabei freilich vieles unentschieden, tastend, widersprüchlich, in dieser wie in den anderen frühen Aufzeichnungen, die die Ode von ihren überlieferten Merkmalen her zu verstehen, diese auch fortzuentwickeln suchen, die an bestimmten Stellen auch zur Kritik an ihr ansetzen, aber doch an ihr als dem Modell einer den Empfindungen

64 Zur Geschichte des Begriffs „Ausdruck“ und seiner Wandlungen im 18. Jahrhundert vgl. u. a. die Artikel von G. Tonelli und B. Fichtner in: Histor. Wörterb. d. Philosophie, Bd. 1, 1971, Sp. 653–661 und von H.U. Gumbrecht (Abs. I u. II; ohne Erwähnung Herders) in: Ästhet. Grundbegriffe, Bd. 1, 2000, S. 418–423, sowie ferner den Exkurs VI „Zum Begriff des Ausdrucks“ bei Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, S. 474–476 und die großangelegte, wenngleich nicht immer strikt genug historisch verfahrende Monographie von Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990. 65 An mancherlei, meist allerdings knappen und wenig differenzierten Hinweisen zu diesem grundlegenden Vorgang, die im einzelnen hier anzuführen sich erübrigt, fehlt es in der Herder-Literatur wie in anderen Arbeiten zum 18.  Jahrhundert nicht, wohl aber zumeist an entschiedenen Ansätzen, dies als einen Vorgang fortwährender Transformation zu begreifen und zu beschreiben.

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geweihten Dichtung festhalten. Manches wirkt in die ersten publizierten Schriften hinein, wo sich denn in der 3. Sammlung der Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ (1767) noch einmal eine freilich entschiedener gewordene, aber deutlich an die frühere Aufzeichnung anknüpfende Formulierung von Herders vorläufiger Antwort auf die Frage nach wahrer Empfindung und Nachahmung findet: „Hieraus, glaube ich, geht man der Frage entgegen, die unter einigen neuen Kunstrichtern, bald verneint, bald bejahet ist: ob die Ode wahre Empfindung, oder Nachahmung sey! Spielt man nicht mit der ganzen Frage; so muß man theilen, und fragen: ist die Ode ein würklicher Ausbruch von Leidenschaft und Empfindung? Unmöglich; wenn ich eine Ode nach der gewöhnlichen Bedeutung verstehe, so ist sie schon immer künstliche Sprache. Kann die Ode ein Poetischer Ausdruck einer wahren Empfindung seyn? Ja, und billig sollte sie es durchaus seyn. Kann der Poetische Ausdruck einer wahren Empfindung Nachahmung heißen? Meinetwegen! nur den Poetischen Ausdruck betrifft das Nachahmende allein; die Empfindung bleibt die wahre, nur sie ist schon so gelindert, daß die Einbildungskraft gleichsam ihren natürlichen Ausdruck in einen Ausdruck der Kunst überträgt“ (SW I, 478f.). Nicht ohne Gründe scheinen die vielen Entwürfe Herders zur Ode und zu einer Geschichte der Dichtkunst aus ihrem Ursprung als Lied nicht zu einem Ende gekommen zu sein, so wichtig sie für sein weiteres Denken gewesen sind. Sie zeigen, wie schwierig es begreiflicherweise sein mußte, die sich allmählich vollziehende Veränderung des Lyrikverständnisses bewußt zu machen und zu formulieren. Wenn die ersten Versuche Herders, über Batteux hinauszugehen, noch so in der Schwebe bleiben, so hat das freilich seinen besonderen Grund darin, daß er in der oben zitierten frühen Niederschrift ein Moment der Batteux’schen Begründung für den Nachahmungscharakter der lyrischen Poesie, das Angewiesensein auch der als Ausnahme verstandenen wahren Empfindung auf „Gedanken, auf Ausdrücke, auf den Wohlklang“ (T.I, S. 209; 1770: T.I, S. 384), radikaler als Batteux sieht: „Daß Worte Gedanken ausdrücken, weis ich wohl, aber Empfindungen? Nein! eigentlich zu reden auch nicht eine einzige ... eine ausgedrückte Empfindung ist ein Wiederspruch ... Empfindungen und Worte sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm ...“. Herder kann sich eine unmittelbare Bekundung von Empfindung, auch dabei übrigens noch ein bei Batteux nicht ganz fehlendes Moment aufgreifend, das bei ihm selbst dann mächtig weiterwirken wird, – er kann sich solche unmittelbare Bekundung von Empfindung allenfalls in einem frühen, fast sprachlosen Zustand der Natur vorstellen, durch „Minen, Accente und Thaten“ geschehend, nicht aber in der Sprache als dem Mittel vernünftigen Denkens, die die Empfindungen immer nur mittelbar, eben doch nur nachahmend ausdrücken zu können scheint, mag auch das, was sie so ausdrückt, wahre, wirklich erfahrene Empfindung sein. Erst indem Herder in

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seinen frühen Schriften, zumal im ersten Teil der Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ (1767) und in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772), in Anknüpfung an mancherlei ältere wie zeitgenössische Vorstellungen die Sprache selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens macht,⁶⁶ wird es ihm möglich, Sprache als Ausdruck zu denken. Indem er die Frage nach dem Ursprung der Dichtung ausweitet zu der nach dem Ursprung der Sprache, die er in ihrem ersten Auftreten geradezu „als eine Sammlung von Elementen der Poesie“ (SV V, 56) versteht, treten für ihn die unmittelbar sinnlichen Möglichkeiten der Sprache als Mittel des Ausdrucks hervor: „Da die Sprache aus der Wildheit zur Politischen Ruhe trat, war sie merklich von der Prosaischen unterschieden; die stärksten Machtwörter, die reichste Fruchtbarkeit, kühne Inversionen, einfache Partikeln, der klingendste Rhythmus, die stärkste Declamation – alles belebte sie, um ihr einen sinnlichen Nachdruck zu geben, um sie zur Poetischen zu erheben“,⁶⁷ heißt es nun in der ersten Sammlung der Fragmente, wo Herder kurz darauf in Polemik gegen eine zu sehr nur auf die Verstandesleistung der Sprache gerichtete Auffassung Sulzers erneut feststellt: „... in einer sinnlichen Sprache müssen uneigentliche Wörter, Synonymen, Inversionen, Idiotismen seyn“ (SW I, 160f.). Zwar gilt all dies nach Herders Auffassung vor allem für frühe, ursprüngliche Zeiten, trifft spätere der Verdacht des Verfalls in die bloße Prosa der Gedanken – ein Spannungsverhältnis, das, auch als Gegensatz von Natur und Kultur formuliert, immer wieder auch im späteren Werk Herders begegnet und immer wieder auch Mißtrauen gegen die Ode als eine künstliche und daher vielleicht doch nur nachahmende poetische Form wachwerden läßt, aber auch gegen die Möglichkeit späterer, kälterer Zeiten, empfindungsreiche Oden überhaupt hervorzubringen.⁶⁸ Doch in dem Maße, in welchem Herder

66 Vgl. dazu u. a. Ulrich Gaier, Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, StuttgartBad Cannstatt 1988 – Hans Dietrich Irmscher, Nachwort, in: Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1966, S. 137–175. 67 SW I, 157 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur. 1. Sammlung von Fragmenten. S.  auch den aus dem Nachlaß veröffentlichten Entwurf zur Bearbeitung der 1. Sammlung für die 2. Ausgabe in: Herder, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Schriften zur Literatur 1, hrsg. v. Regine Otto, Berlin, Weimar 1985, S. 561–568. 68 HN XXV, 170a (Entwurf zur Odenabhandlung, ca. 1764): „... was bleibt nach dem jetzigen Zustand uns vor Oden übrig. Daß bei uns die Empfindung erstorben, sehen wir am Goldnen Alter ... Ist die Ode im Anfang blos wahre wirkliche Empfindung gewesen wie ward sie nachher nachgeahmte Empfindung ...“ – SW XXXII, 73 (Fragmente einer Abhandlung über die Ode, 1764/65): „Übernähme man’s, die ältesten wahrhaftig lyrischen Stücke ... zu zergliedern: so würde sich nicht blos die Wahrheit ihrer Empfindung im Ganzen, sondern auch in ihren feinen Gängen zeigen, und sich der kalte Zwang der Neuern entdecken, die sich in einen fremden Affekt der Alten setzen ... wir zirkeln uns kalte Plane nach Regeln ab, um künstlich trunken

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sich, wie zahlreiche eindringliche Wendungen der frühen Schriften bezeugen, solcher sinnlichen Qualitäten der Sprache vergewissert, in dem Maße auch, in welchem er in engem Zusammenhang damit – wiederum vor allem im Blick auf die Ursprünge und unter Rezeption einer Reihe wichtiger zeitgenössischer Beiträge⁶⁹ – dem Zusammenhang von Dichtung und Musik, Poesie und Gesang nachgeht, wird es möglich, solche Momente auch mit der Ode als der sangbaren Dichtungsart gesteigerter Empfindungen und ihren Spielarten zu verknüpfen und auch in Gedichten späterer Zeiten verwirklicht zu sehen. In Auseinandersetzung mit dem sich als Pindarnachfolger verstehenden Johann Gottlieb Willamov und im Blick auf Klopstock und die Karschin heißt es in der Überarbeitung der 2. Fragmentensammlung „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ von 1767/68: „so werde die Nachahmungslose, feurige Begeisterung des Dithyramben Vorbild: denn bei uns ist leider! selbst die schöne Unordnung des Horaz zum abgezirkten

in ihnen zu kindern. Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten, und wißenschaftliche Reimer beschließen die Zahl.“ – Br I,76 (an J.G. Scheffner, März 1767): „Ihre lyrische Methode scheint aber blos künstliche Oden gebären zu wollen: ich bin also nicht vor sie“ – SW IX, 529ff. (Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, 1777): „Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte und eckle Rezensenten, ... machen Romanzen, Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlet ... Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden gehört ... Hier war zwar einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und Handlung, ein Nothdrang ans Herz ... Ihr neuen Romanzer, Kirchenlieder- und Odenversler, könnet ihr das? ... Für Euch sollen wir alle im Lehnstuhl ruhig schlummern, mit der Puppe spielen, oder das Versebildlein als Kabinetstück auffangen, daß es im klassischen vergoldtem Rahm da zierlich müssig hange.“ 69 Intensiv, wenngleich nicht unkritisch, hat Herder vor allem diese Schriften rezipiert, die er z.T. auch noch in späteren Jahren erwähnt: John Aikin, Essays on Song Writing, London 1771: SW V, 470–474 (Rezension, 1772); XXV, 578, 600 (Aikin als Quelle von Nachdichtungen englischer „Volkslieder“; s. auch HN XIII, 76, 218f., 229; XX, 135); Br II, 212 (an Hamann, 1.–25.8.1772); Bibl. Herderiana, Nr. 6690 (Ausgabe Warrington 1774) – John Brown, A Dissertation on the Rise, Union, and Power, the Progressions, Separations and Corruptions of Poetry and Music, London 1763; Betrachtungen über die Poesie und Musik, nach ihrem Ursprunge, ihrer Vereinigung, Gewalt, Wachsthum, Trennung und Verderbniß, übers. v. J.J. Eschenburg, Leipzig 1769: SW V, 59 (Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772); 398 (Rezension: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 1774); VIII, 337 (Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker, 1778); X, 77f. (Briefe, das Studium der Theologie betreffend, T.I, 1780); XII, 177 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, T.II, 1783); XXXII, 129 (Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 1765/66); s. auch Anm. 28 – Gottfried Krause, Von der Musikalischen Poesie, Berlin 1752: Br I, 64f. (an J.G. Scheffner, 23.9./4.10.1766); Bibl. Herderiana, Nr. 5518 – Daniel Webb, Observations on the Correspondence between Poetry and Music, London 1769; Betrachtungen über die Verwandtschaft der Poesie und Musik, übers. v. J.J. Eschenburg, Leipzig 1771: SW V, 309–311 (Rezension, 1772); XXII, 95 (Kalligone, T.I, 1800); Br II, 64 (an Nicolai, Ende August 1771); HN XXXIV, 2, Meine Bücher. Den 21.Jun.776, S. 20, Nr. 397.

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Gesetz geworden. Die Einbildungskraft, von einem würdigen reichen Gegenstande aufgefodert, von Musik und Sprache geleitet: diese Poetische Phantasie gehet, wenn sie sich einmal nicht rasende Ausschweifungen nüchtern vorsetzt ... ihren himmlischen Sonnenweg, voll Glanz und Licht und Feuer ... Zwar wird sie alsdenn nicht Horazische Oden, deren Gang ein bittrer Censor so schulmeisterhaft abgezirkelt hat; sie wird nichts, als – Gemälde der Einbildungskraft liefern, die eben dieser Schulverbeßerer so geringe hält; was hat sie aber mit ihnen geliefert? Lebende Abdrücke einer ungemein Menschlichen Seele: warme Abgüße der Empfindung in ihren besten Stunden; und als solche wie weit stehen sie bei dem Kenner von Poetischem Gefühl vor allen regelmäßigen Nachahmungen voran? ... Von selbst wird also auch die Sprache Dithyrambisiren, und mit edelm Ungestüm Zaum und Zügel bisweilen abwerfen: sie wird flechten und formen, kämpfen und siegen: aus dem ungedachten und unempfundenen Chaos, auch ungesagte Worte sagen, ungegebne Gesetze geben, und in neue Wege lenken. Aber alles nicht, um Dithyrambisch zu seyn, wie es unser Dithyrambensänger und meistens also ohne Grund, und Ort und Zweck und Kraft gethan hat; sondern weil sie es so seyn muste: wie Klopstock und Karschin zeugen, von welcher sich auch manche getadelte Zusammensetzungen retten ließen. Sylbenmaasse endlich: ungebunden und stark: so viel sie den Affekt stüzzen, so viel sie Musik ausdrücken: so viel sie den Tanz hören laßen können. Dies Können aber welche steile und unabsehbare Höhe, wenn ich nicht nach Regeln und Mustern ein Baugerüst aufschlagen will ... Eine lyrische Monologue voll Affekt und Handlung, und Musik, und malendem Tanze – die höchste Stuffe des Ausdrucks! Wohlan! sie heiße Dithyrambe!“ (SW II, 180f.). Sofern Herder in der Sprache selbst und auch in ihrer metrischen Formung Ausdrucksmöglichkeiten findet, die auch die Ode nicht als ein nur engen Regeln folgendes Erzeugnis, sondern als ein aus dem Gang, aus der Bewegung der Empfindung abgeleitetes lebendiges Gebilde vorstellen lassen, gewinnt die Rede vom Ausdruck der Empfindungen, vom Abdruck der Seele oder von der Sprache des Herzens⁷⁰ – auch wenn noch in späteren Schriften eigentümlich schillernde, auf ein ursprünglich rhetorisches Verständnis noch zurückweisende Formulierungen begegnen können⁷¹ – eine von der zuerst nur zögernden Umformulierung

70 Vgl. z. B. auch SW I, 436 (Eine Ode, die würklich Empfindungen singt und in mir erregen will, muß sich in das Labyrinth der Mythologie gar nicht, oder nur selten verlieren); 467 (Alle seine [Klopstocks] Oden sind meistens Selbstgespräche des Herzens); V, 350 (da ... die ganze Fülle des Herzens und der Seele alle Stücke des Verf. [Klopstocks] durchgeht ... welch ein Geschenk hat unsre Sprache, unsre Dichtkunst ... an dieser einzigen Sammlung Oden). 71 Vgl. z. B. SW XII, 6 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783): „Von außen strömen Bilder in die Seele: die Empfindung prägt ihr Siegel drauf, und sucht sie auszudrucken durch Geber-

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der Batteux’schen Position immer weiter fortführende Sicherheit und Geläufigkeit, kann auch gerade die Ode – sei es im engeren, sei es im weiteren, aber eben doch auch von der gesteigerten, begeisterten Empfindung bestimmten Sinne – das Modell bleiben, von dem dann die geschichtlichen Wirkungen von Herders Lyrikauffassung ausgehen. Damit es zu solcher Wirkung kommt, bedarf es freilich nicht nur der allmählichen, aber folgenreichen Umprägung der Vorstellung von einer Nachahmung von Empfindungen zu der vom Ausdruck wahrer Empfindungen als dem, was mit den alten Bestimmungen der Ode gemeint sei, sondern auch der Umprägung eines anderen grundlegenden Moments humanistischer Poetiktradition und seiner Anwendung auf die Ode. Zu den praecepta, den Regeln – in ihrem Bereich vollzieht sich Herders Auseinandersetzung mit der Odentheorie – gehören im humanistischen Verständnis von Poetik, das seine Wurzeln in der Antike hat, die exempla, die Muster hinzu. An ihnen hat sich die Poetik ausgebildet, an ihnen wird sie dargelegt, sie dienen auf dem Wege der imitatio der Einübung und der Entfaltung eigener poetischer Produktion des Adepten solcher Poetik. Muster der Ode sind seit dem frühen Humanismus Pindar und Horaz, an ihrer Kommentierung und Exegese hat sich die neuzeitliche Odentheorie entwickelt.⁷² In Herders früher Niederschrift zur „Dichtkunst“ wird in dem über Dommerich hinaus erweiterten historischen Teil Pindar „Der Gröste hitzigste Lyricus u. (nach Horaz) unnachahmlich“ (HN XXVI, 4, Bl. 5v), wird Horaz „der einzige Lyricus in Rom und ein wahres Muster“ (Bl. 6r) genannt. In den schon in den Zusammenhang der eigenen Überlegungen zur Ode und zur Geschichte der Dichtung oder des Liedes gehörenden frühen Papieren des Nachlasses heißt es von Pindar ganz ähnlich: „Seine Oden sind die feurigsten, von der ausgelaßensten Einbildung, erhaben“ und von Horaz: „Der gröste Odendichter der Römer ... Mit dem Pindar will er sich zwar nicht meßen, aber doch ist er unnachahmlich“,⁷³ und in einer schematischen Übersicht von

den, Töne und Zeichen“; XXII, 146 (Kalligone, 2.T., 1800): „... was in mir vorgeht, drucke ich durch Töne und Gebehrden aus“; 154f.: „Dem darstellend-erzählenden Dichter folge ich willig, wohin er mich führet; ich sehe, höre, glaube, was er mich sehen, hören, glauben macht; vermag er dies nicht, ist er kein Dichter. Ein Gleiches ist mit dem Ausdruck seiner Empfindungen; vermöge der dem Ausdruck selbst einwohnenden Macht fühle ich mit ihm“. 72 Hierzu in diesem Band die Abhandlung „Principes Lyricorum“. 73 HN XXVI, 4, 55r u. 58r (Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst; Rigaer Zeit). – Nicht verwunderlich ist, daß in den zitierten Äußerungen Herders die Urteile Quintilians über Pindar (inst. orat. X,1,61) und Horaz (X,1,96) anklingen, die entscheidende Orientierungspunkte der gesamten neuzeitlichen Pindar- und Horazrezeption gewesen sind.

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Gattungen wird bei der Ode Pindar als der „Vater der heroischen Ode“, Horaz als der „Vater der lehrreichen“ angeführt.⁷⁴ Herder knüpft damit auch in der Orientierung an Mustern auf die selbstverständlichste Weise an die Überlieferung der humanistischen Poetik an. Und diese Beziehung zu Pindar und Horaz als den wichtigsten Mustern antiker Lyrik bleibt für ihn und seine Beschäftigung mit der Lyrik und ihrer Theorie lebenslang bestehen, wobei Horaz gemäß der von der Schwierigkeit Pindars bestimmten neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte das Übergewicht hat.⁷⁵ Im Nachlaß liegen aus den frühen Jahren verschiedene Aufzeichnungen zu Pindar und Horaz, Analysen einzelner Oden mit den Mitteln der Odentheorie, Ansätze zu Abhandlungen, Notizen und Exzerpte,⁷⁶ die vielfach mit den Plänen zu Abhandlungen über die Ode und die Geschichte der Dichtkunst zusammenhängen. Wiederholt hat Herder Ausgaben oder Übersetzungen der beiden Dichter und Kommentare zu ihnen rezensiert,⁷⁷ beiden Dichtern gelten intensive Bemühungen um angemessene Nachdichtungen,⁷⁸ mit Pindar hat Herder sich u. a. im Blick auf Willamovs Dithyrambendichterei wiederholt beschäftigt,⁷⁹ und noch im postumen letzten Teil der „Adrastea“ gilt Pindar ein Aufsatz „Pindar, ein Bote der Götter, Ausleger alter Geschichten“ (SW XXIV, 335–338). Horaz hat Herder eingehend – und unter

74 HN XXVI, 4, 61v (Geschichte der Dichtkunst; Königsberger Zeit). 75 Das spiegelt sich auch in der Vielzahl älterer und neuerer Horaz-Ausgaben und -Übersetzungen, die Herder besessen hat: Bibl. Herderiana, Nr. 1983, 2012, 2041, 2223, 2234, 2267, 2268, 2269, 2270, 2271, 2272; Appendix, Folio Nr. 19; zu Horaz Nr. 2065. Zu Pindar-Ausgaben in Herders Besitz s. Anm. 84. – Zur Rezeption Pindars in der Neuzeit vgl. insbesondere die Monographie von Martin Vöhler, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005 (darin S. 159–179 zu Herder). 76 Vgl. u. a. HN I,30 („Über Pindar“); XV, 158 (Notizen über Pindar); XXIII, 118, 31r („Aus Klotzens Vindiciae“), 32bv–32 ur (Übersetzungsversuche zu Pindar und Bemerkungen über ihn; Untersuchungen und Exkurse über Pindars Oden); XXV, 57, 4v („Plan zu einer Ästhetik“); 164 („De melicis sive lyricis“); 170a (Entwurf zur Odenabhandlung); 185 („Horatius Carmen saec.“, Interpretationen von 10 Oden des Horaz); 249, 5rff. („Schröder von der lyrischen Poesie“, Exzerpte); XXVI, 14, 1 („Marmontel von der Ode“); 14, 3–4 („Von der Ode aus den Breslauer Beiträgen“); XXVIII, 2, 105rf. („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“); XXVIII, 12, 57rf. (Aufzeichnungen über Pindars Ol. 6–8). 77 Vgl. SW V, 303–309 (J.C. Briegleb, Vorlesungen über den Horaz, 1770); 427 (Anon., Versuch einer prosaischen Übersetzung der griechischen Lieder des Pindar, 1771); XXXIII, 206–215 (Pindari carmina cum lectionis varietate curavit Christian.Gottlob Heyne, 1773). 78 SW XXVI, 188–210 (Pindars Siegsgesänge); 213–283 (I. Oden von Horaz; II. Sermonen von Horaz). 79 SW I, 68–72 (Rez.: [Willamov], Dithyramben, 1764), 307–330 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 2. Sammlung, IV. Von der Griechischen Litteratur in Deutschland. B. 2: Pindar und der Dithyrambensänger); IV, 251–260 (Rez.: [Willamov], Dithyramben, 21766).

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Verwendung der Kriterien der Odentheorie – gegen Schriften des Altphilologen Christian Adolf Klotz verteidigt,⁸⁰ Horaz dient Herder immer wieder zum Vergleich und als Maßstab bei der Beschäftigung mit zeitgenössischen Autoren wie Ramler oder Klopstock oder mit dem Neulateiner Balde;⁸¹ Horaz, den der junge Herder „meinen Liebling“ (HN XXV, 170a) nennt und der alte Herder noch „jenes feine Echo der Griechen“ (SW XVII, 65), „diesen schönen Dichter“ (SW XVIII, 10), den „vielleicht ... schätzbarsten Dieb aller Zeiten“, der „die Griechen so schön bestahl“ (SW XXIII, 245), und den er mit „unbeschreiblicher Freude“ (SW XVII, 65) liest – Horaz widmet Herder noch in seinem Todesjahr in der „Adrastea“ „Briefe über das Lesen des Horaz“ (SW XXIV, 199–222). Dazu treten viele weitere Stellen, an denen Pindar und Horaz in anderem Zusammenhang genannt werden und sich immer wieder als die überlieferten mächtigen Muster lyrischer Dichtung erweisen.⁸² Und um solche Bedeutung geht es auch dort, wo Herder bei aller Beziehung zur humanistischen Tradition von bestimmten Zügen des überlieferten Bildes dieser Dichter kritisch abrückt, wenn er etwa wiederholt die Form der sogenannten pindarischen Ode, die, vom Barock rhetorisch-dialektisch als spannungsreiches Gebilde aufgefaßt, bei Gryphius großartige Gedichte ermöglicht hatte, ablehnt, weil er solches Formverständnis nach rhetorischen und logischen Gesichtspunkten offenkundig nicht mehr zu teilen vermag,⁸³ wenn er, auch hier den rhetorischen Blick auf einen Text, bei aller noch vorhandenen eigenen rhetorischen Schulung, nicht mehr teilend, immer wieder gegen die bedeutende, durch ihre rhetorischen Analysen für das Barock bezeichnende und noch im 18. Jahrhundert lange maßgebliche Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid aus dem Jahre 1616⁸⁴ polemisiert, weil man aus ihrer lateinischen Ver-

80 SW III, 320–364 (Kritische Wälder, 1769: 2. Wäldchen über einige Klotzische Schriften, III. Ueber einige Horazische Rettungen und Erläuterungen); IV, 243–251 (Rez.: Christ. Adolph. Klotzii opuscula varii argumenti, 1766). 81 Vgl. HN XXVIII, 10, r v–sv (zu Ramler); SW I, 450ff. (zu Ramler); 467f. (zu Klopstock); XXVII, 4, 8, 212f., 220ff. (zu Balde). 82 Vgl. dazu die Nachweise im Register SW XXXIII, 99 und 130f. 83 So SW I, 450 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767: III,1 Von der Horazischen Ode); XVIII, 104 (Briefe zu Beförderung der Humanität, 8. Sammlung, 1796, Nr. 98); HN XXIII, 118,32e (Untersuchungen und Exkurse über Pindars Oden, ca. 1766: „... man ... beurteile ihn nicht nach unsern Regeln d. Pind. Ode ...“). 84 PINDAROU PERIODOS hoc est Pindari Lyricorum Principis ...’OLUMPIONIKAI. PUQIONIKAI. NEMEONIKAI. ’ISQMIONIKAI. Illustrati Versione nova fideli. Rationis metricae indicatione certa. Dispositione textus genuina. Commentario sufficiente … Opera Erasmi Schmidii, Wittenberg 1616 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Herder hat – neben anderen Pindar-Ausgaben – auch die von Schmid besessen: vgl. sein eigenhändiges Verzeichnis „Meine Bücher. Den 21.Jun.776“ (HN XXXIV, 2), S. 8, Quart Nr. 119 (danach unter Nr. 120/121 die für das spätere

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sion Pindar nicht verstehen könne (HN I, 30) und weil Schmid, wie eine frühe Notiz im Nachlaß besagt, Pindar „in seinen Tabellen zerräderte“ (HN XXIII, 118, Bl.  32e),⁸⁵ wenn er in der sehr kritischen Rezension eines Horazbuches⁸⁶ über Horaz-Ausgaben spottet, „wo auch jede Ode in sechserlei Sinn, grammatisch, poetisch, rhetorisch, moralisch und wie weiß ich mehr? durchgenommen“ (SW V, 303) werde, oder wenn er sich kritisch über die Behandlung der – zuerst von Quintilian hervorgehobenen – audacia, der Kühnheit des Odendichters Horaz durch Klotz ausläßt.⁸⁷ Pindar und Horaz als Muster der Ode und damit der Lyrik – das ist eine Konstante in Herders ganzem Werk, die sich nicht deutlich genug vor Augen halten kann, wer nach Herders Vorstellungen von lyrischer Dichtung, nach ihren Voraussetzungen und nicht nur nach ihren Wirkungen fragt. Aber daneben stehen Bemerkungen wie diese (1767 in der Rezension der „Opuscula“ von Klotz): „... vor allen Dingen würde ich im Quintilian das Wort aliquando: Horatius insurgit aliquando [Horaz erhebt sich bisweilen], nicht überhüpfen ... Ich würde dem alten bescheidnen Kunstrichter zufolge, die Poesie des Horaz nicht für die Schranken aller Lyrischen Kühnheit ansehen, und es aus unsrer Denkart und Stuffe der Cultur wahrscheinlich zu machen suchen, daß er, zum Trost der Odendichter, nicht alles Glück der Odenschwünge erschöpft habe. Ich würde mir mehr Mühe drum geben, wie bescheiden er die Kühnheit der Griechen nur von Ferne nachgeahmt; wie viel Vorrechte er als der erste kühne Lyrische Sänger in Rom, hatte; und nun kommt das große Feld, wie weit sind ihm die Neuern an Kühnheit ihrer Nachbildungen nahe gekommen? wie weit verbietet es die Zeit, ihm vorzufliegen, oder ihn zu erreichen? Betrachtungen, wo überall die Parallele zwischen Urbild und Kopie statt Beispiel und Erläuterung sein müßte“ (SW IV, 247) oder in der Bearbeitung der 2. Sammlung der Fragmente „Ueber die neuere deutsche Litteratur“ (1767/68): „... wenn eine Dichtungsart Zwang erleidet, und Zwang auflegt: so ist es die Lyrische vielleicht. Zum Unglück sind

18. Jahrhundert maßgebliche, bahnbrechende Pindar-Ausgabe von Christian Gottlob Heyne) und Bibl. Herderiana, Nr. 1623 (hier weitere ältere und neuere Pindar-Ausgaben unter Nr. 1661/2, 1785–1789, 1803, 1888; zu Pindar Nr. 1638 und 1663). – Zur Bedeutung der Ausgabe von Schmid für die Pindar-Rezeption s. in diesem Band die Abhandlung „Principes Lyricorum“ (dort insbes. S. 41f.). 85 Vgl. auch SW I, 308, 325; II, 161 („… daß man ihm [Pindar], wie unser werthe Landsmann Erasmus Schmid durch Uebersetzung und Commentar, einen spanischen Mantel umwirft ...“); III, 348; XXXIII, 206 (hier – in den einleitenden Sätzen einer Rezension der 1773 erschienenen Heyne’schen Ausgabe – ein etwas milderes Urteil). 86 SW V, 303–309: Rezension der „Vorlesungen über den Horaz. Von J.C. Briegleb, Altenburg 1770“, erschienen in F. Nicolais „Allgemeiner Deutscher Bibliothek“, 1772. 87 S. in den in Anm. 80 genannten Schriften: SW III, 342ff. und IV, 243ff.

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hier die Gesetze von zu wenigen Mustern und meistens von dem einzigen Horaz abgezogen: in ihr sind die größern Originale andrer Nationen ... und selbst der Griechen, weniger bekannt, wenigstens nicht so häufig, als Vorbilder genutzt: in ihr hat man also auch vielleicht die wenigsten Originalgattungen. ‚Horaz hat,‘ (wie dies selbst der größte Dichter der Deutschen schreibt, und der künstlichste Dichter der Deutschen⁸⁸ beweiset) ‚Horaz hat den Hauptton der Ode, durch die seinigen, bis auf jede seiner feinsten Wendungen bestimmt. Er hat alle Schönheiten erschöpft, deren die Ode fähig ist. Man kann den Werth einer Ode nicht beßer ausmachen, als wenn man frägt: würde Horaz diese Materie so ausgeführet haben? Das Wesentliche, was die lyrische Poesie fodert, dem sich selbst ein Originalgenie unterwerfen muß, dies Wesentliche hat Horaz, durch sein Muster festgesetzt!‘ O welcher Horazische Despotismus! Ihr Genies der lyrischen Poesie! laßet uns dies Sklavische Land verlaßen, wo uns Hauptton, Mythologie, Wendung, und was weiß ich mehr für Bürden aufgelegt werden. Nach beßern Nationen, nach dem Ursprunge der Dichtkunst wollen wir wallfahrten ... „ (SW II, 179). Und wie hier wird der an dieser Stelle mit Namen nicht genannte Klopstock⁸⁹ – bei aller Verehrung, die Herder für ihn als Oden- und Messias-Dichter empfand – auch sonst mehrfach – mit oder ohne Nennung des Namens – für die Kanonisierung von Horaz als eines alleinigen Musters der Ode getadelt.⁹⁰ Kritische Äußerungen Herders wie diese, verknüpft mit Kritik an einer Odentheorie, die als zu eng empfunden wird, nicht nur, weil der Ausdruck der

88 Der frühe Herder wußte Ramlers, des hier gemeinten „künstlichsten Dichters der Deutschen“, Leistung als eines „vollkommenen Musters“ einer an Horaz geschulten deutschen Ode (SW I, 463; „Von der Horazischen Ode“, in der 3. Sammlung der „Fragmente“, 1767) sehr wohl zu schätzen (s. auch SW IV, 261–271: Rezension von Ramlers „Oden“, 1767, in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, 1768) und hat das auch später nicht verleugnet (s. z. B. SW XVIII, 172; Briefe zu Beförderung der Humanität, 8. Sammlung, Nr. 104, 1796). Aber im Zuge der eigenen intellektuellen Entwicklung und des allgemeinen Geschmackswandels kommt es bei ihm dann doch auch zu harscher Kritik, die bei Ramler „schöne Regelgerippe mit Mythologie behangen“ sieht (Br I, 315; an A.P. von Hesse, 13.3.1771) oder im Vergleich mit Horaz „Ramler u. alle seine Nachahmer ... steife Böcke“ (Br VI, 70; an W.Chr.G. Herder, 28.10.1788) nennen kann, weil sie immer stärker am starren, einseitigen Festhalten an Horaz als dem verabsolutierten antiken Musterautor der Ode Anstoß nimmt. 89 Die mit einiger Freiheit zitierte Passage stammt aus Klopstocks Aufsatz „Gedanken über die Natur der Poesie“, der 1759 im „Nordischen Aufseher“ erschienen ist (Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. K.A. Schleiden, S. 995). Dieselbe Passage zitiert und positiver bewertet SW I, 468 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767). 90 Vgl. z. B. SW I, 461 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767: Von der Horazischen Ode); V, 354 (Rez. Von Klopstocks „Oden“, 1771, in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, 1773); XX, 274 (Rez. der Gedichte der Karschin, 1797).

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Empfindung sich selbst seine Regeln schaffen müsse, sondern auch, weil sie aus zu wenigen oder eigentlich nur einem Muster abgeleitet sei, – solche Äußerungen zeigen, daß Pindar und Horaz, so hoch ihre Geltung bei Herder auch ist, als Muster der Ode dennoch nicht unangefochten sind, nicht weil Muster als solche von Herder abgelehnt würden, sondern weil sich mit ihnen für Herder die Frage stellt, in welchem Sinne sie denn Muster sein und als solche nachgeahmt werden können. Damit aber steht Herder im Zusammenhang einer seit Jahrhunderten geführten Erörterung. So grundlegend die imitatio von antiken Mustern für die Ausbildung einer neuzeitlichen Literatur durch den Humanismus gewesen ist, so sehr gehört von früh an die Frage nach der richtigen Art, dem richtigen Maß solcher imitatio, die Diskussion von imitatio und aemulatio zu diesem Vorgang hinzu.⁹¹ Einer der frühen markanten Beiträge ist der gegen Auswüchse der Cicero-Nachahmung gerichtete „Ciceronianus“ des Erasmus, den Herder besessen hat.⁹² Einen Beleg aus dem 17. Jahrhundert führt Herder an, wenn er in der „Terpsichore“ (1795) aus Baldes „Dissertatio de studio poёtico“ ausführliche Passagen über die Alten als exempla und über die auf sie gerichtete angemessene aemulatio übersetzt und in dem Satz zusammenfaßt: „Wir sollen Muster nachahmen, daß wir selbst Muster werden“ (SW XXVII, 217).⁹³ Eine ins

91 Vgl. hierzu jetzt die materialreichen Artikel im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ von Barbara Bauer (Bd. 1, 1992, Sp. 141–187: Aemulatio) und Nicola Kaminski (Bd. 4, 1998, Sp. 235– 285: Imitatio). – Zu Herder finden sich neben mancherlei knappen Hinweisen, die das Spannungsverhältnis von imitatio und aemulatio kaum mehr als nur konstatieren, in der jüngeren Forschung auch Arbeiten, die die bis in die Antike zurückreichenden historischen Voraussetzungen des Problems – wenn auch in Grenzen – einzubeziehen suchen, so u. a. Hans Asbeck, Das Problem der literarischen Abhängigkeit und der Begriff des Epigonalen, Diss. Bonn 1978 – Gunter E. Grimm, „Der Kranz des Patrioten“. Nachahmungspraxis und Originalitätsideal bei Herder, in: Lenz-Jahrbuch 4, 1994, S. 101–112 – Manfred Jobst, Herders Konzeption einer kritischen Literaturgeschichte in den „Fragmenten“, Diss. Gießen 1973 – Andreas F. Kelletat, Herder und die Weltliteratur. Zur Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u. a. 1984. 92 Vgl. Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Werner Welzig, Bd. 7, hrsg. v. Theresia Payer, Darmstadt 1972, S. 1–355: Dialogus cui titulus Ciceronianus sive De optimo dicendi genere (11528). Herder hat die Schrift in einer Ausgabe von 1529 besessen (Bibl. Herderiana, Nr. 2470). 93 Dieser Satz findet sich – jedenfalls in der mir zugänglichen Ausgabe von Baldes Schrift (München 1658; Sammlung Faber du Faur, Nr. 293) – nicht, entspricht aber den aus Baldes Schrift mit einiger Freiheit übersetzten Partien, in deren Kontext Herder ihn stellt. Bei Balde heißt es u. a.: „Nimirum Philosopho, veritatem amanti, novitas interdicitur: â Poëta, figmentis delectante, exposcitur, fidibus, & fidiculis ... Neque simplex novitas poscitur, sed illecebrosa; neque haec tantùm, sed scita dictione, facilique imitandi felicitate, fragrantia Veterum vina redolens, contrarijs quodammodo se intendentibus. Antiquitatis venerandae ratio semper

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18.  Jahrhundert hinüberwirkende aktuelle Form gewinnt diese Diskussion im literarischen Frankreich des späten 17.  Jahrhunderts durch die „Querelle des anciens et des modernes“, ausgelöst 1687 durch Perraults Lobgedicht auf Ludwig XIV. und fortgesetzt unter anderem in Perraults „Parallèle des Anciens et des Modernes“ (1688–1697) – jene bis hin zu Schiller und Friedrich Schlegel ausstrahlende Auseinandersetzung,⁹⁴ in welcher, bei aller Skurrilität mancher Einzelheiten, nachdrücklich die Frage gestellt war, in welcher Weise denn im wachsenden Abstand von der wirkungsmächtigen Antikerezeption des Humanismus die so lange mehr oder weniger selbstverständliche Vorbildlichkeit der

habenda est … Atqui, objicere potes; ad imitandum provocamur. Recte, non nisi lectione Vett. in nostros usus conversa“ (Bl. A8rf. und A9v). – Wenn übrigens Herder Baldes Überlegungen in einem Satz zusammenfaßt, der unüberhörbar an Winckelmanns berühmtes Postulat „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“ in den „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst“ (1755) anklingt, die Herder in der 2. Ausgabe von 1756 besessen (Bibl. Herderiana, Nr. 3065) und in seinen Schriften über Winckelmann mehrfach besonders hervorgehoben hat (so SW VIII, 450f.: Denkmahl Johann Winckelmanns, unter Abwandlung jenes Postulats; XV, 38, 41, 44: Winckelmann, Leßing, Sulzer), so wird daran greifbar, wie sehr auch Winckelmann in einer langen Diskussionstradition steht und von Herder in ihrer Perspektive rezipiert wird. 94 Zur Querelle insgesamt, zu ihrer Vorgeschichte und zu ihrer Rezeption in Deutschland vgl. u. a.: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts, hrsg. und eingeleitet v. Werner Krauss u. Hans Kortum, Berlin 1966 – Gyula Alpár, Streit der Alten und Modernen in der deutschen Literatur bis um 1750, Pécs 1939 – Hans Robert Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der „Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, ND München 1964, S. 8–64 – Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 11–66: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität (zuerst 1965); S.  67–106: Schlegels und Schillers Replik auf die „Querelle des Anciens et des Modernes“ (zuerst 1967) – Peter K. Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981 – T.R. Kuhnle/J. Klein, Querelle, in: Histor. Wörterb. d. Rhetorik, Bd. 7, 2005, Sp. 503–532 – Thomas Pago, Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1989 – Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München 1980 – zu Herder insbes.: Karl Menges, Herder und die ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, in: Kontroversen, alte und neue, hrsg. v. Albrecht Schöne, Bd. 8, Tübingen 1986, S. 154–160 – Karl Menges, Herder and the ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, in: Eighteenth Century German Authors and their Aesthetic Theories, ed. by Richard Critchfield, Wulf Koepke, Drawer 1988, S. 147–183 – Thomas Pago, „Aus der Welt hinaus gerückt“. Aspekte der Querelle des Anciens et des Modernes bei Herder, in: „Das Schöne soll sein“. Aisthesis in der deutschen Literatur. Fs. f. Wolfgang F. Bender, Bielefeld 2001, S. 149–160.

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Antike in einer ihrer geschichtlichen Andersartigkeit zunehmend sich bewußt werdenden Gegenwart noch gelten könne. Herder hat, wie Notizen im Nachlaß zeigen,⁹⁵ die Querelle, wohl vor allem durch Perrault, ganz früh zur Kenntnis genommen, und er erwähnt sie und den Namen Perrault auch später noch mehrfach.⁹⁶ Das geschieht zwar stets in ironisch-abschätzigem Sinne, weil für Herder die antiken Autoren selbst und vor allem Homer in dem Streit gar nicht richtig gesehen worden waren: „nie hätten die Perraults in Frankreich und Deutschland über das Lächerliche Göttliche und Häßliche in Homer so feine Bemerkungen, Programm’s und Briefe geschrieben, wenn sie sich mit dem Dichter in eine Zeit, Nation, und Stellung hätten setzen können. Erklärt würden sie ihn haben, statt ihn zu tadeln.“⁹⁷ Gleichwohl gehört die Kenntnis der Querelle offenkundig für den jungen Herder zum Grundbestand seiner literarischen Orientierung, und er nimmt die von ihr so nachhaltig verfolgte Fragestellung und die Methode ihrer Erörterung, die ihrerseits schon im Dichtervergleich humanistischer Poetiken, etwa bei Scaliger, ein Vorbild hatte, in seinem ersten größeren gedruckten Werk deutlich auf. Die Fragmente „Ueber die neuere deutsche Litteratur“ (1767) sind nicht nur in großen Teilen ein Kommentar zu den „Briefen die neueste Literatur betreffend“ von Lessing, Mendelssohn und Nicolai, sondern sie sind zugleich und vor allen Dingen – und ihre Auswahl aus den Literaturbriefen entsprechend treffend – „Parallèles des anciens et des modernes“: die Abschnitte „Vergleichung unsrer Orientalischen Dichtkunst mit ihren Originalen“, „Von der griechischen Litteratur in Deutschland: B. Wie weit haben wir sie nachgebildet“ und „Von einigen Nachbildungen der Römer“ sind wesentliche Teile der 2. und 3. Sammlung, wie denn schon eine frühe Aufzeichnung „Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“ die ausdrückliche Absicht einer „Parallele zwischen den Alten und Neuen“ (HN XXV, 179, Bl. 1v) enthält.⁹⁸ Von hier aus ist das Verhältnis der Alten und Neuen, ist die Frage

95 Vgl. HN XXV, 181, 1r (Disposition „Geschichte des Liedes“, ca. 1765) und 181, 4r (Bücherliste zur Poetik, ca. 1765): Nennung Perraults in Listen einschlägiger Autoren; XXVI, 4, 55r („Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst“, Rigaer Zeit): knappe kritische Rekapitulation der Fronten der Querelle unter Nennung von Perrault, Fontenelle, de la Motte und Madame Dacier. 96 Vgl. das hier folgende Zitat (SW II, 161) sowie SW XVIII, 5 (Briefe zu Beförderung der Humanität, 7. Sammlung, 1796, Nr. 81), 135 (8. Sammlung, 1796, Nr. 107); XXIII, 72f. (Adrastea, Bd. 1, 1801, 1. St.); XXX, 516f. (Hodegetische Abendvorträge an die Primaner Emil Herder und Gotthilf Heinrich Schubert, 1799). 97 SW II, 161 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur: Stücke der umgearbeiteten 2. Sammlung, 1767/68). 98 Vgl. auch SW XVIII, 446–462 (Homer und Ossian, 1795); XXXII, 140–144 (Parallele zwischen den Griechischen und Französischen Tragödienschreibern: Vorbericht und Anmerkun-

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nach der Mustergültigkeit der Antike und nach den Möglichkeiten und den Grenzen ihrer imitatio ein Grundthema, das sich durch das ganze Werk Herders zieht. Wohl kaum ein anderer deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts hat es so intensiv und so unermüdlich reflektiert, wohl keinen anderen hat es so sehr umgetrieben wie ihn. Dauernde, aus langer humanistischer Tradition gespeiste Überzeugung von der Bedeutung der Antike, ja stärkstes Fasziniertsein von ihr, zumal in ihrer im deutschen 18. Jahrhundert immer mehr in den Vordergrund rückenden griechischen Erscheinung, und Verlangen nach einer Möglichkeit der Selbstbehauptung, nach begründeter Selbständigkeit ihr gegenüber stehen hart nebeneinander, ja liegen miteinander in beständigem Streit. Gegenüber den Diskussionen der Querelle freilich, die Herder bis in die späten Jahre noch als Anstoß gegenwärtig bleiben, radikalisiert und differenziert sich für den Leser Montesquieus und Rousseaus, Youngs und Winckelmanns, Lowth’ und anderer Werke zum Alten Testament, zahlreicher historischer und geographischer Werke und Reiseberichte die Frage auf mehrfache Weise. Die Ansätze historischen und kulturkritischen Denkens seiner Zeit aufnehmend, richtet Herder seinen Blick auf die Vielfalt der Völker, ihrer Geschichte und ihrer Räume und wird sich der Aufgabe, aber auch der Schwierigkeit eines Verstehens geschichtlicher Erscheinungen als aus je besonderen Bedingungen erwachsender bewußt. Schon in den frühen Aufzeichnungen hält er bestimmten Hypothesen über den Ursprung der Dichtung vor, „daß sie sich nicht in das älteste Zeitalter zurücksezzen können“,⁹⁹ notiert er an anderer Stelle, der Auf- und Abstieg der Dichtung habe sich überall „nach dem Clima, dem Temperament, der Religion, ihren äußerlichen Umständen, u. ihrer Sprache gerichtet“.¹⁰⁰ Dem entsprechend muß auch die Möglichkeit der Nachahmung zum Problem, muß sie schwieriger werden, muß eine einfache Nachahmung sich verbieten. Dazu heißt es in der 3. Sammlung der Fragmente: „es bleibt also nicht schlechterdings ein Ruhm: dieser Dichter singt wie Horaz, jener Redner spricht wie Cicero ... aber das ist ein großer, ein seltener, ein beneidenswerther Ruhm, wenn es heißen kann: so hätte Horaz, Cicero, Lucrez, Livius geschrieben, wenn sie über diesen Vorfall, auf dieser Stuffe der Cultur, zu der Zeit, zu diesen Zwecken, für die Denkart dieses Volks, in dieser Sprache geschrieben hätten. Das letzte heißt: einen Alten nachbilden, und ihm nacheifern; das erste ihn kopieren, und ihm nachahmen.

gen zu einer 1766 angekündigten, aber unvollendeten Übersetzung des anonymen Werks „Parallèle des Tragiques Grecs et Français“, 1760). 99 HN XXV, 180, 1v (aus dem Entwurf zu einer Abhandlung über den Ursprung der Poesie als Lied; ca. 1764/65). 100 HN XXVI, 4, 52 r (Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst; aus der Rigaer Zeit).

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Das erste [eigentlich: Letzte] ist leider! sehr selten, weil man dabei das beiderseitige Genie zweier Sprachen, Denkarten und Zeiten kennen, vergleichen, und so brauchen muß, daß keinem Zwang geschieht. Diese Kunst ist bildend für das Genie; weil sie es aber auch sehr oft unterdrückt; weil die, so die Alten in ihrem Glanze kennen, oft auch von ihnen geblendet werden; so hat Young in seiner Schrift von Originalwerken Recht, daß meistens das Lesen der Alten schädlich wird; er hat Recht, ohne doch daß das Lesen der Alten auch nur im geringsten Stücke deswegen abzuschaffen wäre“ (SW I, 383). Auch indem Herder, über die Sprache reflektierend, sich von der rhetorischen Unterscheidung von res et verba, Sachen und Wörtern abwendet, sie nicht mehr akzeptieren kann, wird ihm nicht nur – das richtet sich gegen die neulateinische Dichtung – ein Dichten in fremden Sprachen fragwürdig, sondern scheint ihm allein ein aus dem Geist der eigenen Sprache entwickeltes Dichten lebendig und wirkungsfähig: „wenn in der Poesie der Gedanke und Ausdruck so vest an einander kleben: so muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiste Ansehen und Gewalt über die Worte, die größeste Känntniß derselben, oder wenigstens eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit noch nicht Gesezzlosigkeit werde: und ohne Zweifel ist dies die Muttersprache ... Ein Originalschriftsteller im hohen Sinne der Alten ist ... beständig ein Nationalautor. Ein Mann, dessen Seele, von Gedanken schwanger, zu gebären ringet, denket nie darauf, wie ein Aesthetischer Regelnschmid einst an ihm sizzen wird, um Beispiele des Ausdrucks zu seinen Schulgesezzen auszuklauben: und es wird ihm also unmöglich, den Ausdruck abgesondert vom Gedanken zu behandeln, zu ordnen, zu wählen ... man siehet, daß wenn dieser Schriftsteller nicht ganz mißrathen will: so muß er in seiner Muttersprache schreiben ...“.¹⁰¹ So ergibt sich als Forderung: „Je beßer die Alten erkannt, um so weniger geplündert: desto glücklicher nachgebildet, desto eher erreicht. Und das endlich ist kopirendes Original, wo keine Kopie sichtbar ist, wo man sich an einem Griechischen Nationalautor zum Schriftsteller seiner Nation und Sprache schaffet: wer dies ist, der schreibt für seine Litteratur!“¹⁰² Muster und ihre Nachahmung als ein wichtiges Element literarischer Produktion werden mit solchen Überlegungen Herders nicht ausgeschlossen, aber sie werden im Bewußtsein historischer Unterschiede und Wandlungen in ihrer Absolutheit eingeschränkt und auf die Eignung hin, zur Hervorbringung von Originalwerken zu helfen, betrachtet. Für die Muster der Lyrik bedeutet dies, daß Pindar,

101 SW I, 400, 402f. (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767). 102 SW II, 162 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Stücke der umgearbeiteten zweiten Sammlung, 1767/68, 1. Abt., Nr. 11).

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daß Horaz, wie Herder schon sehr früh formuliert, je als „Sänger seiner Zeit“¹⁰³ betrachtet werden müsse, was nicht geleistet zu haben, er vielen Philologen und Schulmännern seiner Zeit in seinen Rezensionen und polemischen Schriften zum Vorwurf macht. Als Dichter ihrer Zeit müssen die überlieferten Muster lyrischer Dichtung erst darauf befragt werden, in welchem Sinne sie denn in einer anderen Zeit Muster sein können, und es sollen die Regeln der Gattung nicht fraglos aus ihnen abgeleitet werden. Gerade weil Muster und ihre rechte Nachahmung keineswegs grundsätzlich von Herder negiert werden, erfahren aber die literarischen Muster der Antike auch noch in einem anderen Sinne eine folgenreiche Einschränkung ihrer seit dem frühen Humanismus geläufigen Geltung. Geschichtliches und kulturkritisches Denken lenkt die Aufmerksamkeit auf andere geschichtliche Erscheinungen neben denen der griechischen und römischen Antike und weckt ein besonderes Interesse für die frühesten Anfänge, für das Entstehen, für entlegene Beispiele menschlicher Kultur, in denen Herder die ursprünglichsten, vollsten, lebendigsten Formen und Möglichkeiten von Sprache und Dichtung als elementaren Erscheinungen menschlichen Wesens zu finden hofft. Poesie, Gesang ist – immer wieder begegnet die an eine Prägung Hamanns anknüpfende Wendung in den frühen Entwürfen und in gedruckten Schriften Herders, auch noch aus späteren Jahren –, Poesie ist die Muttersprache, die erste Sprache des menschlichen Geschlechts,¹⁰⁴ und deshalb kann Herder in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772) feststellen: „Fast in allen kleinen Nationen aller Welttheile, so wenig gebildet sie auch seyn mögen, sind Lieder von ihren Vätern, Gesänge von den Thaten ihrer Vorfahren der Schatz ihrer Sprache,

103 So zu Pindar SW III, 446 (Kritische Wälder, 1769: 3. Wäldchen, II); ähnlich schon zu Horaz in einem der frühen Entwürfe zu einer Odenabhandlung (HN XXV, 170a; ca. 1764): „er ward ein Odendichter seiner Zeit“. Vgl. SW I, 410f. (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767: 8. Was gewinnt der neuere Lateinische Dichter, und was wagt er für sich?); II, 160f. (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Stücke der umgearbeiteten zweiten Sammlung, 1767/68, 1. Abt., Nr. 11); V, 354f. (Rez.: Klopstock, Oden, 1773); XII, 21 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783). 104 Vgl. u. a. HN, XXV, 179, 1r (Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt; ca. 1764); der Anfangssatz dieser Aufzeichnung lautet: „Poesie ist die Muttersprache des Menschlichen Geschlechts, u. die Muttersprache der Dichter ist das Lied“); SW V, 57 (Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772; hier formuliert: „Die Tradition des Alterthums sagt, die erste Sprache des Menschlichen Geschlechts sei Gesang gewesen“); XI, 168 (Briefe das Studium der Theologie betreffend, 5.T., postum 1808); XVI, 18 (Zerstreute Blätter, 4. Sammlung, 1792; mit Berufung auf die betr. Stelle in Hamanns „Kreuzzügen des Philologen“, ohne Nennung des Verfassernamens; XXII, 145 (Kalligone, 2.T., 1800, 2. Poesie und Beredsamkeit; mit ähnlicher Anspielung auf die Stelle in Hamanns Schrift).

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und Geschichte, und Dichtkunst ... Die Griechen sangen von ihren Argonauten, von Herkules und Bacchus, von Helden und Trojabezwingern: und die Celten von den Vätern ihrer Stämme ... Unter Peruanern und Nordamerikanern, auf den Caraibischen und Marianischen Inseln herrscht noch dieser Ursprung der Stammessprache in den Liedern ihrer Stämme und Väter ...“ (SW V, 122f.). Als ein „Proteus unter den Völkern“ erscheint Herder die Dichtung, überall vorhanden, aber die „Gestalt nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, sogar nach dem Accent der Völker“¹⁰⁵ wandelnd. Deshalb können, soweit Muster für Herder sinnvoll und auch notwendig sind, dazu nicht nur allein die Werke der griechischen und römischen Antike dienen, sondern ist es nötig, auch nach anderen Mustern in anderen Literaturen Ausschau zu halten und sie in ihrer jeweiligen Besonderheit zu erfassen, um so eine genetisch begründete Vorstellung von den Möglichkeiten der Dichtungsarten zu gewinnen. Deshalb sind die frühen Entwürfe zu einer Odenabhandlung von vornherein nicht nur auf das Problem gerichtet, die der Odentheorie zugehörige Begeisterung als Ausdruck wahrer Empfindung denken zu können, sondern – darum auch zugleich eng verzahnt mit Entwürfen zu einer Geschichte der Dichtkunst oder des Liedes – fast alle zugleich auch Ansätze zu einer über die antiken Muster hinausgehenden geschichtlichen Darstellung, bemüht, die Ode als den „Proteus unter den Nationen“, die „nach der Empfindung, dem Gegenstande und der Sprache, ihren Geist und Inhalt und Mine und Gang“ stets verändert habe (SW XXXII, 63), in solcher geschichtlichen Vielfalt zu begreifen und damit auch einer Klärung der Odenregeln näher zu kommen. Auf die eigenen Pläne anspielend, spricht Herder in der 3. Sammlung der anonym erschienenen Fragmente (1767) die Erwartung aus: „Ich habe eine Geschichte des Lyrischen Gesanges angekündigt gelesen; vielleicht wird der Verf. den Charakter desselben unter Ebräern, Arabern, Griechen und Römern bestimmen, und aus der Denkart, Zeit, und den äußerlichen Hülfsmitteln, der Sprache und Musik erklären: vielleicht wird er das Genie jedes großen Originals unter den Lyrischen Dichtern entwickeln, ihre Hauptwerke Aesthetisch nach Plan und Composition, nach den Schönheiten des Details, dem Licht und Schatten, den Wendungen und Bildern und Versifikation und Sprache zergliedern: vielleicht wird er die Nachbildungen aus den Alten gegen ihr

105 So formuliert 1796 in der 8. Sammlung der „Briefe zu Beförderung der Humanität“ (SW XVIII, 134). Das Bild vom Proteus gebraucht Herder aber auch schon in den frühen Fragmenten zu einer Odenabhandlung, verknüpft mit ganz ähnlichen Gesichtspunkten (SW XXXII, 63; s. das nächste Zitat im folgenden Text). Vgl. auch eine entsprechende Formulierung zur Sprache in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, 1772 (SW V, 127): „die Sprache wird ein Proteus auf der runden Oberfläche der Erde“.

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Original und ihre Nebengemälde halten, und den großen Zweck ausführen: ein Odengenie in die Magische Werkstatt des Apolls, und in den Geist seiner Muster einzuführen; ja vielleicht wird er endlich aus diesen verschiednen Gattungen Hauptbegriffe des Schönen in dieser Dichtungsart herausziehen, sie zu Regeln erhöhen, diese Regeln in unsere Seele zurückführen [d. h. auf unsere Seele z.], und also einen Philosophischen Begriff der Ode festsezzen, aus welchem man auf ein weites Feld der Aesthetik sichere und kühne Blicke wird thun können“ (SW I, 465f.). Einer der Bereiche, die neben der klassischen Antike andere Muster lyrischer Poesie liefern können, ist hier schon genannt: die hebräische und im weiteren Sinne morgenländische Poesie, insbesondere natürlich die Texte des Alten Testaments und vor allen anderen die immer schon als Gesänge verstandenen und deshalb so oft nachgedichteten Psalmen. Diese Poesie steht vielfach in den frühen Entwürfen schon selbstverständlich neben den Griechen und Römern,¹⁰⁶ ja kann sogar noch geradezu normativen Charakter haben wie diese: „Nehme ich einen Begrif der Ode an, wie er ohngefähr aus den Werken der Alten, einem Pindar, Horaz und aus den göttlichen Mustern der Hebräischen Poesie bestimmt würde: so haben die Franzosen wenige, oder gar keine Oden ...“ (SW II, 228).¹⁰⁷ Mit solchem literarischen Verständnis der biblischen Texte, dem die Auffassung des Hebräischen als der dritten klassischen Sprache des Altertums in der theologisch-humanistischen Bildungstradition¹⁰⁸ und die Berufung auf

106 Vgl. u. a. HN XXVI, 4, 59ff. (Geschichte der Dichtkunst; Königsberger Zeit), wo in verschiedenen Schemata zur Geschichte einzelner Gattungen die „Ebräer“ den Griechen und Römern vorausgehen, besonders ausgeprägt bei der Ode (Bl. 61v): „1.Ebr: David: Charact.d.Ebr. 2.Griechen 1.) Pindar ... 3.Römer. 1 Horaz ...“ (für die Neuzeit folgen: „4.Engl. ... 5.Franz: ... 6.Deutsche: (Uz) Ramler uns.Hor: Cramer [unser] Dav: Gleim [unser] Anakr.)“ – XXVI, 4, 5r–32 v (die auf Dommerichs „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst“ beruhende Aufzeichnung zur „Dichtkunst“; s. oben Anm.  36ff.), wo in dem gegenüber Dommerich erweiterten historischen Teil (s. oben Anm. 39) den umfangreichen Listen griechischer und römischer Autoren (Bl. 5v–6v), denen eine noch umfangreichere Liste deutscher Autoren (Bl. 6v–8v) und knappere zu französischen, italienischen und englischen Autoren folgen, ein (unter Berufung auf den Gewährsmann Lowth freilich knapp gehaltener) Hinweis auf die morgenländische Dichtung vorangestellt ist: „Bei den Hebräern: Biblische Proben, u. von den übrigen Morgenländern ist gleiches wegen des Gleichen Temperaments zu vermuthen: Lowth de sacra poesi“ (Bl. 5v). 107 Aus den „Zurückgelegten älteren Stücken (1766)“ zur 3. Sammlung der Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“. 108 Als beispielhafte Belege seien drei enzyklopädische Werke vom frühen 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts angeführt, die dort, wo sie von den Sprachen und von der Poesie handeln, stets als erste in kennzeichnender Abfolge die hebräische, griechische und lateinische behandeln: Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia, 1630 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1989–1990), Bd. 1, S. 136–229 (Lexicon) und S. 528–570 (Poetica Hebraica, Poetica Graeca, Poetica Latina);

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biblische exempla zur Rechtfertigung der Poesie in der barocken Poetik¹⁰⁹ vorgearbeitet hatten, steht Herder in einer breiteren zeitgenössischen Strömung,¹¹⁰

s. auch Bd. 4, S. 2017–2020 über die Aetates linguae Hebraicae, Graecae und Latinae – Daniel Georg Morhof, Polyhistor Literarius, Philosophicus et Practicus, 41747 (ND Aalen 1970), Bd. 1, Lib. IV, Cap. III und Vff. – Johann Andreas Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit, Bd.  1, 1752 (ND Hildesheim, New York 1978), S.  85–137, § XVIII–XX: Von der Hebräischen Sprache; Von der Griechischen Sprache; Von der lateinischen Sprache; S. 137ff., § XXIff. Von der Teutschen Sprache; Von andern Morgenländischen Sprachen; Von andern Abendländischen und Nordischen Sprachen. – Daß insbesondere von den angehenden Theologen eingehende Kenntnisse der drei Sprachen zum Verständnis der biblischen Texte wie zur Lektüre der theologischen Überlieferung seit den frühen Kirchenvätern gefordert wurden, ist, wie zu erwähnen kaum nötig ist, selbstverständlicher Bestandteil der Anleitungen zum Studium der Theologie; vgl. u. a.: Johann Hülsemann, Methodus Studii Theologici, S. 268–270, in: Hülsemann, Methodus Concionandi, auctior edita, Wittenberg 1648 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 263–328 – Leonhard Hutter, Consilium ... De Studio Theologico recte inchoando feliciterque continuando, S. 398, 414, in: Hülsemann, Methodus Concionandi, S. 397–417 – Joh. Forster, Consilium … de Studio Theologico rite instituendo & absolvendo, S.  419f., 429ff., in: Hülsemann, Methodus Concionandi, S. 418–435 – Nikolaus Rebhan, Concionator Quomodo comparatus esse, quaque ratione conciones suas instituere debeat, Jena 1625 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 65ff. 109 Vgl. z. B. Johann Rist, Sabbahtische Seelenlust, 1651 (Expl. Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 76), Vorrede, S. 5 – Sigmund von Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, 1679 (ND Hildesheim, New York 1973), Bl.  )(8rff. – Daniel Georg Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 1700 (ND Homburg v.d.H. u. a. 1969), S. 342 (11682) – Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, 1704 (Expl. UB Münster), S. 2ff. Ein bemerkenswertes Beispiel für die vielschichtigen Traditionswurzeln der Diskussionen des 18. Jahrhunderts findet sich bei Gerardus Joannes Vossius, De artis poeticae natura ac constitutione liber (1647), wo in einer z.T. schon oben in Anm. 59 zitierten Stelle mit David als der besonders häufig genannten Beispielfigur zur biblischen Begründung von Dichtung das noch bei Batteux und seinen Kritikern virulente Problem des Geltungsanspruchs der imitatio als des grundlegenden Merkmals aller Dichtung verknüpft wird: „Nunc solum dicam, quod si poësis citra figmenta foret nulla; David, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poëtarum numero debeant excludi. Quippe, qui Dei laudes, veramque historiam, habeant pro argumento. Mihi vero psalmi, quos Apostolus etiam cani a nobis jubet, nobilissimum poëtae opus videntur“ (S. 20). 110 Vgl. dazu u. a. Dieter Gutzen, Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert, Diss. Bonn 1972 – Dieter Gutzen, Ästhetik und Kritik bei Johann Gottfried Herder, in: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, hrsg. v. Henning Graf Reventlow, Walter Sparn, John Woodbridge, Wiesbaden 1988, S. 263–285 – Grit Schorch, Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder, in: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, hrsg. v. Christoph Schulte, Hildesheim u. a. 2003, S. 67–92 – zu entsprechenden Erscheinungen in der englischen und französischen Literatur des 18. Jahrhunderts:

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für die das Oden-Kapitel des Batteux oder Cramers Psalmendichtung mit den sie begleitenden Abhandlungen Beispiele sind, die aber vor allem mit den „De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones“ des englischen Theologen Robert Lowth (zuerst 1753)¹¹¹ verbunden ist, der darin unter anderem die Psalmen nach Anleitung der zeitgenössischen Odentheorie analysiert hatte. Ihn hat Herder, der später eine eigene Schrift „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (1782/83) veröffentlicht hat, früh und intensiv, wenn auch nicht unkritisch, rezipiert.¹¹² Daß sie, weil in einem heißen Land und früheren Kulturzustand entstanden, reicher an lebendiger, ursprünglicher Einbildungskraft und Empfindung seien,¹¹³ macht

Rolf P. Lessenich, Dichtungsgeschmack und althebräische Bibelpoesie im 18. Jahrhundert. Zur Geschichte der englischen Literaturkritik, Köln, Graz 1967 – Maria Lücker, Die französischen Psalmenübersetzungen des XVIII. Jahrhunderts als Ausdruck der geistigen Strömungen der Zeit, Bonn, Köln 1933. 111 Zu den frühen zeitgenössischen Ausgaben des lateinischen Originaltextes und zur Göttinger Ausgabe in Herders Besitz s. Anm. 27. Die englische Übersetzung von G. Gregory (Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews, London 1787) liegt in einem ND (Hildesheim 1969) vor. – Zur Lowth-Rezeption vgl. Rudolf Smend, Epochen der Bibelkritik, München 1991, S. 43–62: Lowth in Deutschland. 112 Das belegen insbesondere die in Anm.  27 angeführten frühen Notizen und Exzerpte in Herders Nachlaß. Dementsprechend ist das Werk von Lowth auch in den publizierten frühen Schriften Herders wie noch in späten allenthalben insbesondere als Gewährsmann für die poetischen Qualitäten der hebräischen Sprache und bestimmter Bücher des Alten Testaments präsent: z. B. SW I, 89 (Rez. von Chr.G. Hases Auslegung des Hohenliedes, 1765), 205 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 1. Sammlung, 1766, Nr. 14, zum Hexameter); V, 350 (Rez. der 1771 erschienenen Sammlung von Klopstocks Oden, 1773, mit Andeutung einer Kritik an der Anwendung der Odentheorie auf die Psalmen bei Lowth, auf die sich Herders Exzerpte z.T. gerichtet hatten), 399 (Rez. von Sulzers „Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“, 1774). Vgl. u. a. auch VIII, 361; X, 15, 28; XII, 209, 211 (ohne Nennung seines Namens kritisch zu der von Lowth praktizierten Anwendung der Odentheorie auf die Psalmen); XXIV, 355 und weitere Nachweise im Register SW XXXIII, 113. 113 Vgl. u. a. HN XXV, 249, 2 r–4v (Plan zur Poetik; Königsberger Zeit): 3v – XXVI, 4, 52 r–58v (Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst; Rigaer Zeit): „Die Dichtkunst u. alle schöne Wißensch. haben ihren Ursprung in allen Ländern zu den Zeiten der wilden Einfalt gehabt ... die Dichtkunst nahm immer mehr ab, je beßer die Prose wurde. Daher sind die Griechen nicht den Ebräern: die Römer nicht den Griechen; u. den Römern keine von den neuern Nationen beigekommen: u. unter einem jeden von diesen Völkern hat sich die Geburt, Erziehung, Blüthe, Fall, Tod u. Wiederauflebung der Dichtkunst, nach dem Clima, dem Temperament, der Religion, ihren äußerlichen Umständen, u. ihrer Sprache gerichtet“ (52 r), „Die Ebräer redeten in geflügelten Sprüchen zu denen sie, wie die Bibel sagt, den Mund aufthaten wie eine Posaune. Daher ist ihre Poesie, die wir noch in der Bibel finden, voll großer Bilder ... Nicht blos die Juden, sondern alle Morgenländer, haben Flügel der Einbildungskraft ... Der Reichthum der Morgenländischen Sprachen kommt ihrer Dichtkunst sehr zu statten“ (53r), „Die Griechen waren sanfter, u. haben die Dichtkunst bis zum höchsten Gipfel gebracht“ (54r), „Die Römer sind späte

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die poetischen Texte der Bibel, macht alle morgenländische Dichtung als Erweiterung der griechischen und römischen Muster willkommen. Und doch können sie, weil auch sie doch schon eine relativ späte Kulturstufe repräsentieren und weil sie einer fremden Sprachwelt entstammen wie die griechischen und römischen Muster, den Erwartungen noch nicht vollkommen genügen,¹¹⁴ die sich für Herder aus der Auseinandersetzung mit dem Problem literarischer Muster und literarischer Nachahmung in Verknüpfung mit geschichtlichem Bewußtsein, Kulturkritik und Sprachphilosophie ergeben. Neben ihnen bedarf es, um einer eigenen nationalen Literatur durch die volle Vielfalt poetischer Muster zur Selbständigkeit durch rechte Nachahmung zu verhelfen, auch solcher Muster, die von möglichst ursprünglicher Art und also von möglichst ursprünglicher Empfindungskraft sind und dem eigenen oder doch einem näheren Sprachbereich entstammen. Während die Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ die Diskussion von Mustern und imitatio noch ganz an den drei Bereichen der morgenländischen, griechischen und römischen Poesie durchführen, während noch einer der frühen Entwürfe zur „Geschichte der Dichtkunst“ in

Nachahmer der Griechen, die sie aber nie erreichten“ (57r) – XXVI, 4, 59ff. (Geschichte der Dichtkunst; Königsberger Zeit): im Anfangsteil eines Schemas zum Ursprung der Dichtkunst: „1. Bei den Ebr. ... hizzig. Karakt.“ (60r) – XXVIII,2 (Disposition zu einer „Geschichte des Liedes“; Königsberger oder Rigaer Zeit): „Von der hebr. Ode“ u. a.: „Ursachen: 1. Ihrer Denkart: bildervoll 2. Ihrer Gemüthsart: Nationalenthus.“ (49r) – SW I, 270: „Die gesittete Freiheit, in der wir leben, läßt Künste und Wissenschaften blühen; die etwas rauhere, die mit Gährungen des Staats und mit Unterdrückungen kämpft, läßt, wie bei den Römern und Griechen, die Beredsamkeit ihre Wunder thun; aber wilde Einfalt ist das Feld der Dichter. In dieser haben die Hebräer sehr lange gelebt“ (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 2. Sammlung, 1767). 114 Das spiegelt sich in den in Anm.  106 und 113 erwähnten Schemata zur Geschichte der Dichtkunst dort, wo die hebräische bzw. allgemein die morgenländische Poesie zwar als ursprünglichere noch vor der griechischen und römischen genannt wird, aber mit diesen doch auch in einen Prozeß von Entfaltung, Blüte und Verfall einbezogen und damit als von ihrer ursprünglichen, auch für spätere Zeiten Erneuerung verheißenden Wirkung zunehmend entfernt gesehen wird. Ein späterer Reflex der sich wandelnden Einschätzung der hebräischen biblischen Poesie sind etwa die Bemerkungen über deren Niedergang in der Preisschrift „Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten“ von 1778 (SW VIII, 362ff.) und demgegenüber das spätere Kapitel „Würkung der Dichtkunst bei den Nordischen Völkern“ (S. 388ff.) oder die skeptisch gewordene Einschätzung der Psalmen in der Schrift „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (2.T., 1783), wo es nun von den herkömmlich als Muster geltenden Psalmen heißen kann: „Nun ists unläugbar, daß David den lyrischen Gesang der Ebräer sehr verfeinert und verschönt hat ... Indessen ist es auch unverkennbar, daß damit die rohe Stärke, der lebendige Tanz und Wohllaut der alten Poesie kaum erreicht ward ... So hat alles in der Welt seinen Gang und jede menschliche Einrichtung ihre verschiedne Seiten. Was die Poesie an gottesdienstlicher, politischer, lyrischer Cultur gewann, verlor sie vielleicht an natürlicher Stärke“ (SW XII, 206f.).

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einem Schema von Ursprung, Wachstum, Gipfel, Fall und Tod der Poesie fast jede dieser Stufen nur mit jenen drei Erscheinungen alter Literatur ausfüllt und allenfalls für eine vierte gelegentlich eine leere Stelle läßt (HN XXVI, 4, Bl. 60r; Königsberger Zeit),¹¹⁵ begegnen in anderen Papieren hie und da Hinweise auf altnordische Dichtung, auf „Skaldrer“ und auf „angränzende Völker“,¹¹⁶ aber nur sehr beiläufig zunächst taucht die Erscheinung auf,¹¹⁷ die dann als Inbegriff neuer, andersartiger Muster jene leere Stelle aufs wirkungsvollste auszufüllen bestimmt ist: Ossian. Herder hat dieses – so viele nach Ursprünglichkeit verlangende Leser des 18.  Jahrhunderts täuschende – Werk einer späten nachahmenden Phantasie, das für ihn trotz allen späteren Debatten immer ein echtes Werk alter Zeiten geblieben ist¹¹⁸ und das er vor allem als eine Sammlung von Liedern verstan-

115 So etwa zur 2. Stufe: „Wachstum 1) Bei den Ebräern ... 2) " " Griechen ... 3) " " Römern ... 4) – – – –. " und zur 3. Stufe nur: „Gipfel 1) Ebr: z.Zt.Davids 2) Griechen: ... homerische Periode 3) Römer: – August“ Bezeichnend übrigens ist, wie am Ende des Schemas für die 6. Stufe, die Palingenesie der Dichtung seit dem 15. Jahrhundert, nach Italien, Frankreich, England zuletzt Deutschland mit kritischen Feststellungen charakterisiert wird, hinter denen ein Verlangen nach Veränderung und Erneuerung schon zu ahnen ist: „Wetteifer – 17.Saec. Spaltung gleich anfangs – unglückl. Anfang – übel gereinigt durch Gottsched – Neue Parthey – Deutsche bleiben Copien“. (Zu anderen Schemata in dieser handschriftlichen Aufzeichnung, die solche leere Stelle noch nicht aufweisen, s. oben Anm. 106). 116 HN XXVIII, 2, 49 v (Disposition zu einer „Geschichte des Liedes“; Königsberger oder Rigaer Zeit): Die Hinweise auf „Skaldrer“ und „angränzende Völker: Rußen: Letten: Liven: Polen: Holländer“ folgen auf Schemata „Von der hebr. Ode“ und „Von der Morgenl. Ode überhaupt“. Vgl. auch Bl. 48v, wo der Formel „Die Poesie ist die Muttersprache. etc. die Muttersprache d. Poesie, das Lied etc.“ die Aufzählung folgt: „Hebräer, Griechen, Celten, Druiden“. – S.  z. B. auch SW II, 179, 188; III, 26f. 117 So HN XXV, 179 (Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt; ca. 1764): „Unter den barbarischen Nationen lobt schon Tacitus die Nordischen Skaldrer, die durch ihre Gesänge Barden der vergangnen Zeiten hießen ... für uns eben so wohl Dokumente der Geschichte als Muster der Lieder. Das Zeugniß eines Dalins, die Proben der Skaldrergesänge in Mallets Geschichte Dänemarks: vorzüglich aber Fingal u. die übrigen Lieder durch Macphersons Fleiß gesammlet: sind reiche u. volle Beweise“ (3v). 118 Auch wenn sich Herder gelegentlich gehalten sieht, die Frage der Echtheit und die ihr geltenden Diskussionen nicht gänzlich zu übersehen, geht er doch allenfalls so weit, offen zu

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den hat,¹¹⁹ erst allmählich genauer kennen gelernt.¹²⁰ Der endgültige Durchbruch seines emphatischen Interesses daran vollzog sich offenkundig durch die Ossian-Lektüre während seiner Schiffsreise von Riga nach Frankreich 1769 und während eines nächtlichen Schiffbruchs auf der Reise nach Eutin 1770. Herder hat davon in seinem Ossian-Aufsatz berichtet: „Wißen Sie, warum ich ein solch Gefühl theils für Lieder der Wilden, theils für Oßian insonderheit habe? Oßian zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in Bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als blos amusante, abgebrochene Lecture, kaum lesen können. Sie wißen das Abentheuer meiner Schiffahrt; aber wie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf Einmal aus Geschäften, Tumult

lassen, ob „Ossian ganz alt oder nur aus alten Gesängen zusammengesetzt und geschaffen“ sei (SW VIII, 391; Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker, 1778), hält aber doch an seiner Überzeugung fest: „Mac-Pherson hat seinen Ossian nicht erfunden“ (SW XVI, 88; Zerstreute Blätter, 4. Sammlung, 1792); vgl. u. a. auch SW IX, 542 (Fragment über die beste Leitung eines jungen Genies zu den Schätzen der Dichtkunst; 2. Hälfte der 70er Jahre); XVIII, 450f. (Homer und Ossian, 1795; mit einer ausführlichen Fußnote zum philologisch unbefriedigenden Stand der Echtheitsdiskussion). – Beiläufig erwähnt sei hier, daß Herders Überzeugung von einer jedenfalls weitgehend ursprünglichen Überlieferung als dem Fundament von Macphersons Ossian eine späte Ehrenrettung durch die neuere Forschung erfährt, die in Macpherson nicht mehr einfach einen die Zeitgenossen erfolgreich täuschenden Fälscher, sondern den – freilich eigenwilligen – Bearbeiter einer im Kern echten Dichtungstradition sieht: vgl. dazu u. a. Howard Gaskill, ‚Ossian‘ Macpherson: towards a rehabilitation, in: Comparative criticism 8, 1986, S. 113–146 – Ossian Revisited, ed. by Howard Gaskill, Edinburgh 1991 – Astrid Grewe, Ossian und seine europäische Wirkung, S. 174, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 15, Europäische Romantik II, Wiesbaden 1982, S. 171–188 – Wolf Gerhard Schmidt, ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘. James Macphersons ‚Ossian‘ und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, Bd. 1, S. 3f., 14ff. – Derick S. Thomson, The Gaelic Sources of Macpherson’s ‚Ossian‘, Edinburgh, London 1951 – Josef Weisweiler, Hintergrund und Herkunft der Ossianischen Dichtung, in: Literaturwiss. Jahrb., NF 4, 1963, S. 21–42. 119 So z. B. 1773 im „Briefwechsel über Oßian“ (SW V, 160) wie mit ähnlicher Emphase noch spät in der „Adrastea“ (SW XXIV, 302; 5. Bd., 10. Stück, 1803: V. Vom Funde der Gesänge Oßians). Vgl. auch Br I, 277 (an J.H. Merck, 28.10.1770); 294 (an K. Flachsland, Ende Dezember 1770); II, 216 (an R.E. Raspe, 25.8.1772); ferner u. a. SW V, 182, 204; VIII, 391f.; XVIII, 447, 464. 120 Vgl. dazu bes. Alexander Gillies, Herder und Ossian, Berlin 1933, S.  11ff. sowie W.G. Schmidt, ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘, Bd.  2, S.  644ff. – Es ist bezeichnend, wie Ossian in den Schriften der zweiten Hälfte der 60er Jahre – auch da, wo er schon neben oder im Vergleich mit Erscheinungen wie den Psalmen oder Homer, aber auch Milton und Klopstock genannt wird – für Herder zunächst doch nur ein – wenngleich zunehmend wichtiger – Beispielautor neben anderen ist: s. u. a. SW I, 75, 432f., 437; II, 119, 157, 161; III, 29, 154. Umfassender und schon eindringlicher dann die Rezension des ersten Bandes der OssianÜbersetzung von Denis (SW IV, 320–325; 1769).

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und Rangespoßen der Bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über Einem Brette, auf ofnem allweiten Meere ... mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben Endlosen Elementen umgeben ... nun die Lieder und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen ... jetzt von fern die Küsten vorbei, da Fingals Thaten geschahen, und Ossians Lieder Wehmuth sangen, unter eben dem Wehen der Luft, in der Welt, der Stille – glauben Sie, da laßen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors ... Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Fluth mehr bewegte, mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hofte ...“ (SW V, 168f.). Hier offenbar erst ist Herder ganz aufgegangen, daß er in Ossian, verstanden als ein Werk urtümlicher Frühzeit und als aus einer der nordischen und damit auch der eigenen Welt nahen Überlieferung stammend,¹²¹ ein Beispiel vor sich hatte, das die in ihrer herkömmlichen Ausschließlichkeit als zu eng empfundenen Muster der griechischen und römischen und selbst der morgenländischen Poesie auf entscheidende Weise zu erweitern vermochte. Ossian, verstanden als Inbegriff ursprünglicher und ganz nationaler, d. h. ganz aus den besonderen Gegebenheiten eines Landes und Volkes erwachsener Dichtung, scheint plötzlich zum bis dahin unklaren Zielpunkt aller vorangegangenen Betrachtungen Herders über exempla und imitatio zu werden, der als solcher auch die Aufmerksamkeit auf entsprechende Erscheinungen im heimischen wie in anderen, den klassischen Mustern fernen Bereichen, auf englische und deutsche Volkslieder – die nähere Begegnung mit Percys „Reliques of ancient English Poetry“ geschieht in derselben Zeit (1771)¹²² – und auf die Lieder ferner und wilder Völker lenkt. Das Ergebnis des Zusammentreffens von Herders jahrelanger Auseinandersetzung mit dem Problem der Muster und ihrer Nachahmung mit seinem Ergriffensein von der Lektüre Ossians ist jener rhapsodische Aufsatz „Auszug aus einem

121 Vgl. Gillies, Herder und Ossian, S. 38ff. – Zum Zusammenhang, in welchem Herder dabei mit der zeitgenössischen Zuwendung zum fernen, unbekannten, ursprünglichen, Erneuerung verheißenden Norden steht, vgl. u. a. Klaus Bohnen, Die ‚fremde Heimat‘ der Deutschen. Der ‚Mythos vom Norden‘ in deutscher Kulturtradition, in: Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Bd. 11, München 1991, S. 356–365 – Karl Heinz Bohrer, Der Mythos vom Norden. Studien zur romantischen Geschichtsprophetie, Diss. Heidelberg 1961 (Masch.). 122 Vgl. Br II,31 (an R.E. Raspe, 31.5.1771); 63 (an J.H. Merck, Ende August 1771); 80 (an J.H. Merck, Anfang Oktober 1771).

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Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“, 1771 niedergeschrieben und 1773 gedruckt. Den Zusammenhang der intensiven Zuwendung zu Ossian und zugleich zu den Liedern des Volkes mit jener seit Herders allerersten literarischen Anfängen geführten Auseinandersetzung bezeugt wohl am deutlichsten die Vorrede zum 4. Buch der ersten, 1774 z.T. schon gedruckten, aber dann zurückgezogenen Volksliedersammlung: „Man hat von einem kleinen Erdstriche, den wir erleuchtet nennen, Proben, Muster, Meisterstücke, Regeln des Geschmacks fast in allen Arten der Litteratur, Dichtkunst und Menschenbildung erhalten, denen man mit Ausschließung alles andern folgt! Sehr gut! denn diese Erdstriche waren würklich von feiner Bildung und sehr glücklicher Lage! Aber auch nicht sehr gut! wenn man dumm folgt! Autorität für Regel, Hülle für Kern und fremdeste Uebereinkommniß für Erste Nothdurft der Nachfolge hält. Nicht sehr gut! wenn man über lauter liebe leidige Kunst und Nachahmung die ganze Natur vergißt, aus der doch auch nur jene Kunst, jenes Vorbild kam! ... Die Griechen ... waren selbst nichts anders, als Halbwilde, da sie den Samen ihrer schönsten Blüthen und Gewächse zogen. Wer Homer mit gesunden Augen gelesen, wird weit weniger Kunst in ihm antreffen, als alle seine Rhapsoden, Kommentatore und Verdollmetscher in ihn gelegt: edle, blühende Natur – wie Ossian noch neulich im großen Vorbilde ... laut gepredigt ... So tiefe Ehrfurcht also die würklich unvergleichbare Griechen verdienen mögen: auf Einmal werde ich selbst dieses Ehrfurchthabens unwerth, wenn ich sie nicht mehr mit gesunden Augen ansehe! für Menschen, die sie waren! sondern für an die Wand gemahlte Regeln, idealische Fratzenvorbilder der Welt und Nachwelt ... Was ist hiefür und hiewider nun gut? Mich dünkt, nichts als Vorbilder andrer Völker! freier Völker, die von Griechen und Römern nichts wusten! Wilder! Konnten die auch erfinden, wie die Griechen: und Empfindungen ausdrücken, wie die Griechen: und mahlen und singen, wie die Griechen (nur freilich nicht griechische Mythologie und Griechisch!) warum nicht wir?“ (SW XXV, 84f.).¹²³ Neue Muster zu geben und zu rechter Nachahmung hinzuführen, das ist die Absicht des Ossian-Aufsatzes und der Volksliedersammlungen mit ihren Vorreden und kommentierenden Hinweisen, nicht aber, die alten Muster damit zu verdrängen und aufzugeben. Zwar kann sich in einer Wendung gegen „gekünstelte Horazische Manier“ (SW V, 203), in der Erwartung, „daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebesgesange das Herz und kein Regelncodex, kein Horaz, Pindar

123 Diese Stelle setzt sich bezeichnenderweise fort in sarkastischer Abweisung einer sklavischen, „ohne Natur in den Affekt der Liebe“ sich schraubenden Nachahmung etwa der Sappho (S. 85).

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oder Orbil,¹²⁴ statt unser, sprechen dörfe“ (SW V, 204f.), die Abkehr von falscher Nachahmung absoluter Muster mit den Namen von Horaz und Pindar als den alten Mustern der Ode verknüpfen und dem die Hoffnung auf eine andere Wirkung der neuen Muster gegenübergestellt werden: „Oßian, die Lieder der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichte könnten uns auf beßern Weg bringen, wenn wir aber auch hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen wolten. Zum Unglück aber fangen wir hiervon an, und bleiben hiebei stehen, und da wird wieder Nichts“ (SW V, 203). Aber die Hoffnung enthält auch zugleich die Warnung vor einer wiederum nur äußerlichen Nachahmung solcher Muster.¹²⁵ Und so wenig Herder verschweigt, daß manche seiner neuen Muster, so sehr er sie als kunstlose Natur schätzt, doch allzu roh sein und eines bessernden Eingriffs der Kunst bedürfen mögen,¹²⁶ so wenig will er doch „regelmäßigere Gedichte oder die künstlichere nachahmende Poesie gebildeter Völker ... verdrängen“ (SW XXV, 308), und so selbstverständlich gehören für ihn die antiken Dichter weiterhin zum erweiterten Bestand von Beispielen lyrischer Dichtung: Pindar, von dem auch die Vorrede zum zweiten Teil der „Volkslieder“ von 1778/79 eigens handelt (SW XXV, 317), und Horaz stehen denn auch – ganz abgesehen von Herders sonstiger späterer Beschäftigung mit ihnen – als Beispiele in einem Schema zu einer Sammlung oder Geschichte der „Stimmen der Völker“ (SW XXV, S. XI). Was Herder in Ossian, in Volksliedern und Gesängen zivilisationsferner Völker sucht, das sind Beispiele für den – wie es mehrfach in den kom-

124 L. Orbilius Pupillus, römischer Grammatiker, Lehrer des jungen Horaz. 125 Demgemäß hat Herder, der Gleim, Klopstock und vor allem Gerstenberg als Vertreter der in den 60er und 70er Jahren beliebten Bardendichtung gelten ließ (s. u. a. SW V, 337; Br I, 86, 94 bzw. IX, 63f.), wiederholt in Rezensionen (SW V, 330ff., 334ff., 337) und Briefen an Erscheinungen falscher Nachahmung in der Bardendichtung, an „neueren schreienden Barden“ (Br II, 88) und deren „erborgtem Ceremonienkram“ (Br II, 99) Kritik geübt. 126 Vgl. z. B. im „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“: „In mehr als einer Provinz sind mir Volkslieder, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Naivetät und Stärke der Sprache vielen derselben [der schottischen Romanzen] gewiß nicht nachgeben würden; nur wer ist der sie sammle? ... sich um Lieder des Volks bekümmre? ... um Lieder, die oft nicht skandirt, und oft schlecht gereimt sind ...“ (SW V, 189); „da ich weiß, daß Sie überall mit mir mehr Natur, als Kunst suchen: so trage ich kein Bedenken, Ihnen z.E. aus einer Sammlung schlechter Handwerkslieder, ein sehnendtrauriges Liebeslied hinzusetzen, das, wenn es ein Gleim, Ramler oder Gerstenberg nur etwas einlenkte, wie viele der Neuern überträfe“ (191) oder in den Volksliedersammlungen: „Zum Volkssänger gehört nicht, daß er aus dem Pöbel seyn muß, oder für den Pöbel singt; so wenig es die edelste Dichtkunst beschimpft, daß sie im Munde des Volks tönet. Volk heißt nicht, der Pöbel auf den Gassen, der singt und dichtet niemals, sondern schreyt und verstümmelt“ (SW XXV, 323, Volkslieder, 2.T., 1779; s. auch die Belege S. 107, 328, 545).

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mentierenden Bemerkungen der „Volkslieder“ von 1778/79 heißt – „Ausdruck einer wahren Empfindung“¹²⁷ – Beispiele dafür, daß solcher Ausdruck wahrer Empfindung auch hier und nicht nur in den alten Mustern der Ode zu finden sei und seine Lebendigkeit durch den „Abdruck des Äussern, des Sinnlichen, in Form, Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Gesange Stromweise in die Seele fliesset“ (SW V, 163), erhalte. Hierin trifft – und das markiert die Stellung des Ossian-Aufsatzes in der Entwicklung von Herders Lyrikanschauung – seine Auseinandersetzung mit der Frage der exempla und ihrer imitatio zusammen mit der Umformung der Odentheorie, die er von der Batteux’schen Nachahmungslehre aus mit den frühen Entwürfen und Aufzeichnungen begonnen hatte. Auch die überlieferte Theorie der Ode gibt er so wenig wie deren klassische Muster preis. Gewiß gibt es im Ossian-Aufsatz wie in den Beigaben der Volksliedersammlungen polemische Bemerkungen gegen „lahme Kunstrichter“ (SW V, 186), gegen „Regeln ... deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet“ (SW V, 182), wird der junge Lappländer gepriesen, der „schönere Liebesgesänge, als der süßlichste Sapphopedant in der künstlich verschrobensten Odenchrie nach all ihren Gesetzen“ mache (SW XXV, 88), findet Herder in den „sogenannten Pöbelvorurtheilen, im Wahn, der Mythologie, der Tradition, der Sprache, den Gebräuchen, den Merkwürdigkeiten des Lebens aller Wilden ... mehr Poesie und Poetische Fundgrube, als in allen Poetiken und Oratorien [i.e. Redeanweisungen] aller Zeiten“ (SW XXV, 88). Doch ist die im Ossian-Aufsatz und auch in den Volksliedersammlungen so häufige Wendung von den „Würfen und Sprüngen“ nicht nur ein Anzeichen dafür, daß Herders Vorstellungen von der Lyrik ihren Ausgang von der Odentheorie des 18. Jahrhunderts genommen haben, sondern, statt die das Lyrikverständnis der Zeit beherrschende Theorie aufzuheben, geht es mit Wendungen wie der, daß „die Gedichte der alten, und wilden Völker so sehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung entstehen, und doch so viel Würfe, so viel Sprünge haben“ (SW V, 185), „daß Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks“ (SW V, 186), „was kühn geworfener, abgebrochner und doch natürlicher,

127 So SW XXV, 300 (zu T.I, Buch 1, Nr. 13, Wiegenlied einer unglücklichen Mutter: „... ist, wie die schönsten lyrischen Stücke aller Zeitalter und Sprachen, Ausdruck einer wahren Empfindung“) oder 303 (zu Buch 2, Nr. 10, O Weh, O Weh: „Ein alter Gesang und wie voll Ausdrucks wahrhafter Empfindung“); vgl. auch z. B. eine Bemerkung wie diese (306, zu Buch 3, Nr. 18, Die Todtenglocke): „Es war dem Uebersetzer mehr um den rührenden Ton dieses Trauer- und Todtenliedes zu thun, als um seinen Inhalt“.

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gemeiner, Volksmässiger seyn kann“ (SW V, 189)¹²⁸ – geht es mit solchen Wendungen Herder darum, die neuen Muster gerade im Horizont der Odentheorie zu rechtfertigen, zu zeigen, wie sehr sie den Erwartungen solcher Theorie entsprechen, ja diese bestätigen, sofern sie, was in ihr für Herder mit der Begeisterung gemeint ist, den lebendigen Ausdruck der Empfindung als Merkmal, als eine natürliche Wirkung der poetischen Einbildungskraft selbst unter allen Völkern erweisen, die keiner engen Regeln bedarf, wohl aber einem nachdenkenden Begreifen zugänglich ist. Weil auch sie die Würfe und Sprünge der begeisterten poetischen Einbildungskraft zeigen, wie die klassischen Muster, kann Herder von den neuen Mustern als Beispielen einer ursprünglichen, weniger kunstreichen Poesie als „Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter diese Dichtart [die Romanze] haben könnte“, erwarten, daß sie „unsere Lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas ... einfältigen, an einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben … gewöhnen, kurz uns von so manchem drückenden Schmuck … befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden“ (SW V, 203), oder an anderer Stelle des Ossian-Aufsatzes: „Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch Menschlichen Herzens – mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur!“ (SW V, 206). Gewiß arbeiten solche Erwartungen und ihre Formulierung der Rolle vor, die späterhin das – verglichen mit der eigentlichen Ode – einfachere Lied für eine unmittelbare Gefühls- und Erlebnislyrik spielen wird, gewiß schließt schon die überlieferte Odentheorie das später von der Ode im engeren Sinn unterschiedene Lied mit ein. Aber wo Herder – und er steht damit nicht allein – vom Lied spricht, meint er vielfach nur einzelne Erscheinungen des wirklich gesungenen Liedes, das Kirchenlied etwa oder andere Formen gemeinschaftlichen Gesanges,¹²⁹

128 Vgl. im Ossian-Briefwechsel u. a. auch SW V, 196 (Und so führen Sie mich wieder auf meine abgebrochne Materie: „woher anscheinend einfältige Völker sich an dergleichen kühne Sprünge und Wendungen haben gewöhnen können?“ ... Das ist die Frage, und die Antwort drauf sehr kurz: weil das in der That die Art der Einbildung ist, und sie auf keinem engern Wege je fortgehen kann) sowie S. 197 und 198. 129 Besonders kennzeichnend dafür ist eine Bemerkung in der Rezension einer Sammlung christlicher Lieder Lavaters vom Jahre 1776: „Das wahre Lied ist für alle, und muß für alle seyn: sonst ists kein wahres Gebet, kein Gespräch mit Gott, kein Lied“ (SW IX, 468). Vgl. u. a. auch SW I, 335f.; II, 183ff.; V, 160, 164, 187, 189, 470ff.; VIII, 346, 348; IX, 531; X, 77, 230f., 233; XI, 398; XXXI, 207ff., 717ff. Die hier beispielhaft herausgehobenen Stellen gelten bezeichnenderweise neben neueren geistlichen oder zeitgeschichtlichen Liedern den Liedern früher Zeiten oder ferner Völker, die als gemeinschaftlich gesungen aufgefaßt werden und als solche Gegenstand seiner Bemühung um Sammlung sogenannter Lieder des Volkes sind. Dabei kann Herder dann gelegentlich sogar ausdrücklich den aus der Odentheorie stammenden und an so vielen anderen Stellen von ihm auch mit den als Volkslieder bezeichneten Gesängen verbundenen

Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung 

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oder gebraucht er das Wort zumeist als Synonym für Ode,¹³⁰ und in den wenigen Fällen,¹³¹ in denen er eine Aufgliederung lyrischer Formen in Hymne etwa, Ode oder Lied andeutet oder solche Aufgliederung hinter der Verwendung des Begriffes „Lied“ zu stehen scheint, versteht er unter diesem eigentlich nur gesellige, vor allem anakreontische Gedichte, wie es ähnlich etwa auch der von Herder geschätzte Eschenburg¹³² in seinem „Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften“ (zuerst 1783)¹³³ tut, dessen Lyrikbegriff sich noch

Begriff der „Sprünge“ in Frage stellen: „Der Kirchengesang geht langsam und feierlich daher; was sollen ihm Sprünge“ (SW XI, 67; Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 4.T., 46. Brief). – Es ist auch das tatsächlich gesungene Lied, dem am Ende der Vorrede zum 2. Teil der „Volkslieder“ von 1779 eine längere Passage gilt, in welcher Herder einmal ausdrücklich seine Auffassung vom „Wesen des Liedes“ zu kennzeichnen sucht: „Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte ...“ (SW XXV, 332). Die Vorrede klingt dann zuletzt zwar in eine Abgrenzung des zuvor explizierten Begriffs „Weise“ gegen den des „Wurfs“ aus, doch ist dies eher eine ironische Abwehr eines befürchteten schlagwortartigen Mißbrauchs beider Begriffe denn eine Verabschiedung des letzteren: „jedem Jüngerlein [sei] freigestellt, jetzt viel von Weise eines Liedes zu gacken, wie es bisher von Wurf gethan hat“ (S. 334). 130 S.  z. B. SW III, 332 (Kritische Wälder, 2. Wäldchen): „... nun wird der Ode ihr Geist, die lebendige Grazie der Anschaulichkeit genommen: der Ton eines Liedes verfehlt, und Sinn und Leben, und Affekt und Alles verfehlt“ (zu Klotz, Vindiciae Horatii); V, 203 (Briefwechsel über Oßian): „... verfehlt also den ganzen Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter diese Dichtart haben könnte, nämlich unsre Lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas zu einfältigen“; XI, 360 (Vom Geist der Ebräischen Poesie): Ps. 8 als „pindarisches Loblied“; vgl. auch das Zitat SW III, 330 in Anm. 18 und einige der anderen dort genannten Belege sowie ferner etwa SW III, 266; V, 198; XI, 73. Ein besonders aufschlußreicher Beleg für den noch schwankenden Gebrauch der Begriffe „Ode“ und „Lied“ ist übrigens das Zitat SW V, 203 durch das Hinzutreten des Begriffs „Gesang“, der nicht selten bei Herder neben einem jener anderen Begriffe, aber auch unabhängig von ihnen begegnet und teils als Oberbegriff aller denkbaren Spielarten lyrischer Dichtung, teils als Bezeichnung für besonders affektbewegte und auch zu höherem Stil neigende, ja geradezu hymnische Dichtung fungiert. 131 So SW I, 106f. (in der Rez. einer Sammlung „Neue Lieder zum Singen entworfen“): „ja es sind Anakreontische Lieder“; Hagedorn, Uz, Lessing, Gleim, Weiße, Gerstenberg, mit den entsprechenden Zügen ihrer Dichtung charakterisiert, als „unsre alten Liederdichter“ hervorgehoben; II, 181ff. (einzelne Merkmale eines genaueren Liedbegriffs benannt in Hinsicht auf „Gleims Lieder nach Anakreon“); XII,20 (zit. oben in Anm. 18). 132 S.  im Register SW XXXIII, 89 die Nachweise von Erwähnungen und Rezensionen, die dem Autor, Herausgeber und Übersetzer Eschenburg gelten und wiederholt seinen „feinen Geschmack“ (SW XVI, 245) oder etwa seine Verdienste um zahlreiche Autoren (SW XX, 358) hervorheben. 133 Eine „Neue, umgearbeitete Ausgabe“ erschien 1789 (drei weitere dann noch im 19. Jahrhundert: 1805, 1817 und 1836). – Herder, in seinem Amt als Generalsuperintendent in Weimar für

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deutlich von Hegel oder gar Vischer unterscheidet. Für Herder bleibt wie bei Eschenburg die Ode, die sein Ausgangspunkt war,¹³⁴ auch später als die lyrische Form der gesteigerten Empfindung bestimmend, bleibt Lyriktheorie Theorie der Ode, tritt Ossian nicht an die Stelle von Pindar und Horaz, sondern an ihre Seite,

das Schulwesen des Herzogtums zuständig, hat das Werk (bei gleichzeitiger Abschaffung des Batteux) als Lehrbuch eingeführt (s. SW XXX, 452). An den Autor schrieb er dazu am 21.4.1788: „Ihr Lehrbuch über die schönen Wissenschaften habe ich seit 2 Jahren in unserm Gymnasium eingeführt, u. ich denke mehrere Ihrer Bücher den Lehrern so wohl als den Schülern in die Hände zu bringen. Wenn ich ins Bad gehe, will ich ein durchschoßenes Exemplar mitnehmen, u. aufschreiben, was mir beifällt. Mich dünkt, ich schrieb Ihnen schon neulich, daß ich in den zerstreuten Blättern allmälich die Theorie mehrerer Dichtungsarten fortzusetzen hoffe ... Ihr Beifall, lieber Eschenburg, freut mich ungemein: Sie sind, ohne Heuchelei gesagt, Einer der Wenigen, für die ich am liebsten schreibe. Der Leute unsres Geschmacks giebt es jetzt gar so viel nicht in Deutschland: denn wir gehören auch schon zu den Alten“ (Br V, 282). 134 Bezeichnend sind dafür auch diejenigen frühen Entwürfe, die Überschriften wie „Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“ (HN XXV, 179), „Das Lied ist die Erstgeburt der Dichtkunst“ (HN XXV, 180), „Geschichte des Liedes“ (HN XXV, 181) tragen. Hier meint das Wort Lied nicht etwa eine neben der Ode selbständige und womöglich gar als dominant verstandene Art lyrischer Dichtung, sondern wird als ein Inbegriff sangbarer Dichtung eingesetzt, um Herders Vorstellung vom Ursprung aller Dichtung im noch fast unartikulierten Gesang als urtümlichster Äußerung des Menschen zu entfalten. Wo diese Entwürfe dann Schemata zur geschichtlichen Entfaltung der Ursprungsvorstellung skizzieren, können neben dem Lied im engeren Sinne auch Ode und Hymne stehen, bezogen auf tradierte kanonische Musterautoren: „V.d.Liede der Griechen ... 1.Hymnen; Homers, Callimach. 2.Heldenoden; Pindars; Chöre [i.e. der Tragödie]: 3.Mädchenlied: Anakreons …“ (HN XXV, 181, 2 r). Vor allem aber tritt in den viel breiter ausgearbeiteten, wenngleich ebenfalls nie abgeschlossenen, Entwürfen (abgedruckt SW XXXII, 61–85 als „Fragmente einer Anhandlung über die Ode“, z.T. nur in Auszügen) „Von der Ode“ (HN XXV, 170), „Fragment über die Ode“ (HN XXV, 171) und „Fragmente einer Abhandlung über die Ode“ (HN XXV, 172), die auch auf den Zeitraum 1764/65 datiert werden, aber offenkundig erst unmittelbar nach den knapper gebliebenen Entwürfen einer Geschichte des „Liedes“ entstanden sein und diese geradezu abgelöst haben dürften, der hergebrachte umfassende Begriff der Ode wieder an die Stelle des Liedes als eines zeitweilig erprobten Inbegriffs ursprünglicher gesungener Dichtung (s. auch die Bemerkungen aus der frühen Rigaer Zeit in Briefen an Hamann vom Januar, Februar und Juli 1765 – Br. I, 36, 37 und 45 –, die nur noch von „meiner Abhandlung von der Ode“ sprechen). Daher kann es von der Ode nun z. B. heißen: „Das erstgebohrne Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst u. der Keim ihres Lebens ist die Ode“ (HN XXV, 172, 1r; s. SW XXXII, 62), wo Herder zuvor sehr ähnlich „Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“ geschrieben hatte: „Poesie ist die Muttersprache des Menschlichen Geschlechts, u. die Muttersprache der Dichter ist das Lied ... Das Lied ist die Erstgeburt der Dichtkunst“ (HN XXV, 179, 1r u. 2 r). Es dürfte auch eine Folge dieser fast gleichzeitig bei den Begriffen „Lied“ und „Ode“ ansetzenden Bemühungen um eine Bestimmung lyrischer Dichtung sein, daß sich dann in Herders Volksliedersammlungen eine auf die Ursprünglichkeit lyrischer Artikulation zielende Verwendung des Wortes „Lied“ verknüpft mit dem Gebrauch markanter Kriterien der bisherigen Odentheorie.

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bleibt Klopstock – in einen begeisterten Hinweis auf seine soeben erschienene Odensammlung klingt der Ossian-Briefwechsel aus – die eigentliche zeitgenössische Erfüllung seiner Erwartungen, und Herder kann, ohne daß man einen Bruch in der Entwicklung seiner Lyrikanschauung darin zu sehen hätte, in späteren Jahren sich immer wieder noch mit Hingabe Pindar und Horaz zuwenden und alle lyrische Dichtung mit den Kriterien der Odentheorie begreifen.¹³⁵ Der Ossian-Briefwechsel und die Volkslieder-Sammlungen sind als begeisterte Propagierung neuer Muster eines lebendigen Ausdrucks der Empfindung Gipfelpunkte der schon vom ganz jungen Herder begonnenen, viele zeitgenössische Anregungen aufgreifenden Auseinandersetzung mit der Lyrik, seiner Frage nach den Möglichkeiten der Ode, dem Sinn ihrer Theorie und seiner Suche nach einer über zu enge imitatio hinausführenden Vielfalt von Mustern. Er hat einen schon vor seinem eigenen literarischen Beginn längst in Gang befindlichen Prozeß in jahrelanger Reflexion bis zu einem Punkt geführt, an dem Jüngere, der junge Goethe zumal und die ihm folgten, ihre eigenen, wirkungsmächtig entfalteten Anregungen daraus entnehmen und dem Proteus Lyrik neue Gestalten geben konnten, welche manche älteren dann bald vergessen werden oder in das Dämmerlicht des Vergangenseins entrücken ließen. Aber Herder hat an diesen Punkt nur geführt, nur führen können, indem er, am äußersten Ende einer langen humanistischen Literaturtradition stehend, die ihr zugehörige Theorie der Ode nicht aufgehoben, sondern verwandelt hat. Die Tradition, von der er ausging, und die Momente, die er umformte, genauer zu beachten, das kann erst ganz auch die Unruhe des Fragens, die Ausdauer des Umschmelzens, die Offenheit für Neues ins Licht rücken und verständlich machen, die schon in den frühen Exzerpten und Entwürfen des Nachlasses am Werk sind und aus denen Herders geschichtliche Wirkung erwächst.

135 Belege dafür s. oben in Anm. 19.

4 Poetik und Enzyklopädie Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel I. Am 12. August 1741 schreibt Friedrich von Hagedorn, beschäftigt offenkundig mit der Vorbereitung seiner Sammlung Neuer Oden und Lieder (1742ff.), an seinen Freund Matthäus Arnold Wilckens: „Ich untersuche itzo, welchen Unterschied die Lehrer der Dichtkunst zwischen den Oden der Neuern und den eigentlichen Liedern, Chansons bestimmen. Ich begreiffe, daß in dem ursprünglichen Begriffe eine jede Ode ein Lied sey, daß aber in den nachherigen Zeiten die Lieder, die blosserdings des Singens und der Fröhlichkeit halber, abgefasset worden, als Balladen, Mey-Lieder ... u. die Villanelle p sich des erhabnern Nahmens der Oden verlustig gemacht haben. Ich würde auch eher anacreontische Lieder setzen, als pindarische, wenn ich ja einer von diesen beyden Arten Oden die Benennung eines Liedes beyzulegen hätte. Aber die eigentliche notam characteristicam der Oden und der Lieder getraue ich mir nicht anzugeben, und dazu bedarf ich die autoritaet anderer. Sende mir den Discours sur l’ode des de la Motte und den Richelet sur Malherbe. Hättestu das Dictionnaire de Trevoux oder das della Crusca, so wäre es mir sehr lieb, aus beyden die definition zu haben ... weil mir daran gelegen ist, diesen Unterschied zu wissen ...“.¹ Einige Jahrzehnte zuvor stand in der Schrift Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst von Magnus Daniel Omeis am Beginn des Kapitels Von den Satyren oder Straf-Gedichten – nach einem Hinweis auf den Ursprung dieser Gedichte, der sich an Sigmund von Birkens Teutsche Rede-bind und DichtKunst (1679) anschloß – die Bemerkung: „De Satyris (sive Faunis) kan man lesen Lexicon Hofmanni P.I & II ad voc. Satyri, und die allda citirte Scriptores; auch Rappoltum in Comment. ad Horat. p. 1287 ...“.² Und noch vor Omeis hatte sich Albrecht Christian Rotth im Kapitel Von den Satyren auf dieselben Gewährsleute berufen.³

1 Original: StuUB Hamburg (Sup. Ep. 113,74). Eine Kopie samt Transkription verdanke ich der Freundlichkeit von Prof. Dr. Horst Gronemeyer, Direktor der Bibliothek, der eine Ausgabe der Briefe Hagedorns vorbereitet, den ersten Hinweis auf diesen Brief einem Zitat bei: Uwe K. Ketelsen, Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, Stuttgart 1974, S. 173. 2 Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und DichtKunst, Nürnberg: Michahelles/Adolph 1704 [UB Münster], S. 223. 3 Albrecht Christian Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Bd.  3, Leipzig: Lanckisch 1688 [StuUB Göttingen], S. 61: „... schreibt von der Etymologie des Wortes [Satura] Hofmannus in Lexic. universali part. 2 ... Es sind aber die Satyri/ wie gedachter Rappolt in seinem Commen-

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Auch wenn die angeführten Stellen zwangsläufig nur Zufallsfunde sind, scheinen sie doch von symptomatischer Bedeutung zu sein. Kein heutiger Kritiker, kein Literarhistoriker wird von einer neueren Auflage des Brockhaus Belehrung über eine literarische Gattung erwarten, und man wird andere darauf wohl höchstens zu flüchtiger erster Information verweisen. Doch der Rokokodichter, der neben einem der wichtigsten Beiträge zur französischen Odentheorie im 18.  Jahrhundert⁴ und einer Schrift über Malherbe,⁵ Hauptmuster der französischen Ode noch im 18. Jahrhundert, auch zwei Nachschlagewerke⁶ zu Rate ziehen will für Überlegungen, die dann ihren Niederschlag gefunden haben in der Vorrede seiner Gedichtsammlung⁷ und diese Vorrede zu einem charakteristischen Dokument der Lyrikdiskussion um die Mitte des 18. Jahrhunderts machen,

tario p.m.1287 anzeucht/ nicht einerley ...“ (gewisse Differenzen zeigen, daß Omeis bei seinen Nachweisen von Rotth angeregt worden sein mag, dessen Gewährsleute aber auch selbständig benutzt haben muß). 4 Antoine Houdar de la Motte, Discours sur la poésie en general, et sur l’ode en particulier (1707). 5 Für sie ließ sich allerdings bisher kein bibliographischer Nachweis finden. Vielleicht bezieht sich Hagedorn in irrtümlicher Verkürzung auf den Schluß des Artikels „Ode“ bei Pierre Richelet, Dictionnaire François, Genf: Widerhold 1679/80 (Neudr. Genf 1970), Bd.  2, S.  83: „Voiez Nicolas Richelet, Commentaires sur Ronsard, & les odes de Malherbe“. Der hier angeführte Kommentar (Pierre de Ronsard, Les Œuvres, Bd.  2, Les Odes, commentees par N. Richelet, u. a. Paris: Tibout/Baraigne 1630 [HAB Wolfenbüttel] zu Ronsard, dem eigentlichen Begründer der französischen Ode, erwähnt in der Vorrede die Vielfalt der für die Ode bezeichnenden Gegenstände (S. 3) und erörtert in den Erläuterungen zum Widmungsgedicht an Heinrich II. Unterschiede zwischen antiker Ode und neuzeitlicher chanson (S. 15), wie sie ähnlich dann in französischen Nachschlagewerken des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts gekennzeichnet werden (vgl. unten u. a. Anm. 60, 65 und 66). 6 Dictionnaire de Trevoux, Paris: Delaune u. a. 1743 [UB Mainz]; Text der ersten Auflage 1704 mit der hier benutzten weitgehend identisch, an einzelnen Stellen allerdings knapper, zudem ohne Artikel über Autoren wie Anakreon, Catull, Horaz, Pindar (zu dem, was für Hagedorns Zwecke im Dictionnaire de Trevoux zu finden war, vgl. u. a. unten Anm. 47, 60 und 66). – Vocabolario degli Academici della Crusca, Venedig: Alberti 11612 (Neudr. Florenz 1976), mit sehr knappen Erläuterungen einschlägiger Begriffe (ode/ᾠdή nur im Index lateinischer bzw. griechischer Wörter unter Verweisung auf das Stichwort „Canzone“); auch in der 4. Auflage z. B. (Florenz: Manni 1729–1738 [StB Berlin]), an welche Hagedorn gedacht haben könnte, bleiben die Erläuterungen, bei etwas vermehrtem Stichwortbestand (darunter auch „Oda“), ähnlich karg. 7 Leicht zugänglich im Nachdruck (Bern 1968) der posthumen Gesamtausgabe: Friedrich von Hagedorn, Sämmtliche Poetische Werke, Hamburg: Bohn 1757, Tl. 3, S.  III–XXII: Vorbericht (ergänzt durch die am Ende auf S. 133–190 angefügten Abhandlungen von den Liedern der alten Griechen von de la Nauze in der Übersetzung von J. A. Ebert). In der Sammlung Neuer Oden und Lieder ist Hagedorns Vorbericht in Tl. 1 enthalten (Hamburg: Bohn 31752 [StB Berlin], Bl. a2r–b4v).

Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel 

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– der Präses des Pegnesischen Blumenordens und der Hallesche Konrektor, die zur Ergänzung ihrer Bemerkungen über Ursprung und Namen einer Gattung außer auf einen Horaz-Kommentar⁸ des späteren 17. Jahrhunderts auch auf ein Lexicon verweisen, das seit 1677 in mehreren Auflagen verbreitet gewesen ist,⁹ – sie deuten darauf hin, daß zumindest bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Enzyklopädien und verwandte Werke für die Literatur, für die an ihr Interessierten und tätig Teilnehmenden als Vermittler von Kenntnissen und Regeln von Belang sein konnten und neben den speziellen Werken zur Poetik eine die literarischen Vorstellungen und Erwartungen mitprägende Bedeutung und Wirkung gehabt haben. Verwunderlich erscheinen kann das kaum angesichts des umfassenden wissenschaftstheoretischen Anspruchs vieler Werke frühneuzeitlicher Enzyklopädik, der auch dort noch wirksam ist, wo die Darstellung des anwachsenden Wissens zwar nicht mehr systematisch geordnet, sondern zunehmend dem Alphabet anvertraut wird, aber doch noch in bewußter Beziehung auf ein zugrunde gelegtes Wissenschaftssystem steht und vielfach entsprechend umfangreiche Artikel hervorbringt.¹⁰ So dürfte es sich lohnen, um der Geschichte literarischer Theorie und ihrer Rezeption wie um der Eigenart und der Funktionsgeschichte frühneuzeitlicher Enzyklopädik willen dem Verhältnis von Poetik und Enzyklopädie nachzugehen¹¹ und zu fragen, was Enzyklopädien der frühen Neuzeit von der jeweiligen zeitgenössischen Poetik überliefern, in welchem zeitlichen Verhältnis zu deren Entwicklung sie dabei stehen, was sie an maßgeblichen Quellen,

8 Friedrich Rappolt, Commentarius in Q. Horatii Flacci Satyras & Epistolas omnes, Artem item Poëticam, quinqve Carmina peculiaria, & libros duos priores Carminum, Leipzig: Grosse 1675 [HAB Wolfenbüttel]. 9 Johann Jacob Hofmann, Lexicon universale, Basel: Widerhold 1677; Continuatio, Basel: Widerhold 1683 [StB Berlin]. Zusammenfassung dieser insgesamt vier Bände in einem Gesamtalphabet in der Ausgabe Leiden: Hackius u. a. 1698 [Bischöfl. Priesterseminar Mainz] (hier im allgemeinen nach dieser Ausgabe zitiert). – Hinweise auf spätere Ausgaben unten in Anm. 33. 10 So in Zedlers Universal Lexicon, in der Encyclopédie d’Alemberts und Diderots, aber auch noch in den frühen Auflagen des Brockhaus und in anderen Conversations-Lexica der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 11 Es gibt einzelne, aber – wenn ich recht sehe – nicht sehr zahlreiche Arbeiten, welche Enzyklopädien als Quelle für Fragen der Rezeption von Literatur und der Poetik beachten, so Margaret Gilman, The Idea of Poetry in France. From Houdar de la Motte to Baudelaire, Cambridge, Mass. 1958; Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740, Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1970; Erwin Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963; Hans Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen 1987.

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was sie an Abhängigkeiten untereinander, was an Konstanten und an Wandlungen literarischer Theorie erkennen lassen. Welchen Anteil mögen sie an der Verbreitung literarischer Normen gehabt haben, und wieweit spiegeln sie deren Veränderungen? Wieweit können sie die Geläufigkeit bestimmter literarischer Vorstellungen bezeugen, die späteren Zeiten fremd geworden sind? Wieweit können sie wahrnehmen lassen, welche Bestimmungen, sofern sie selbst in knapp zugeschnittenen enzyklopädischen Werken nicht fehlen, für das Literaturverständnis früherer Epochen von besonderem Gewicht, von fundamentaler Selbstverständlichkeit gewesen sind, und damit auf ihre Weise das Bemühen unterstützen, die Poetik der frühen Neuzeit als Beschreibung der jeweiligen literarischen Realität und der sie bestimmenden Erwartungen ernst zu nehmen und fruchtbar zu machen? Wieweit also können Enzyklopädien – ob sie nun geradezu Positionen der je zeitgenössischen Poetik produktiv diskutieren und eigenständig zu begründen suchen oder mehr das als selbstverständlich Tradierte zusammenfassen und belegen – neben den speziellen Werken der Poetik seit dem Humanismus und in deren Ergänzung Wegweiser zur Beobachtung und Analyse historisch unterschiedlicher Erwartungen von der Literatur und ihrer geschichtlichen Wandlungen sein und damit auch ihrerseits der Nutzung poetischer Normen anderer Epochen für einen angemessen verstehenden Umgang mit deren Texten dienen? Als ein Beispiel für die Erörterung solcher Fragen, die hier keineswegs abschließend werden beantwortet werden können, bietet sich die Lyriktheorie, die lange Zeit vor allem Odentheorie ist, deshalb an, weil sie vom Humanismus bis ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert hinein eine höchst eigenartige und für Wandlungen der Literatur sehr charakteristische Entfaltung und Veränderung erfährt. Hagedorn mit seinem Wunsch, die unterscheidende „notam characteristicam der Oden und der Lieder“ zu bestimmen, steht als ein früher Zeuge am Beginn eines besonders markanten Abschnitts dieser Geschichte. Sie ist hier zunächst kurz zu rekapitulieren,¹² damit vor diesem Hintergrund von ihrem Niederschlag in der enzyklopädischen Literatur des näheren die Rede sein kann. Die humanistische, aus vielerlei antiken Quellen gespeiste Poetik und in ihrem Gefolge auch die barocke Poetik erörtern unter der Bezeichnung Lyrica

12 Im einzelnen handeln davon die in diesem Band vorausgehenden drei Untersuchungen „Principes Lyricorum. Pindar- und Horaz-Kommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie“, „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ und „Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung“, deren Ergebnisse hier vorausgesetzt und deren Quellen und Literaturhinweise daher nicht im einzelnen als Beleg angeführt werden.

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oder auch Melica, die dann zunehmend Oden genannt werden, strophische, gesungene oder doch als sangbar gedachte Gedichte. Pindar und Horaz gelten in gleichem Maße als Hauptmuster solcher Gedichte und üben als solche nachhaltigen, durch ihre Unterschiedlichkeit freilich komplizierten Einfluß auf die Einzelheiten der Theorie aus. Nachantike Formen wie Sonett oder Madrigal werden erst spät in die Theorie der Lyrica einbezogen, antike Gedichtarten wie Epigramm und Elegie, die durch ihre andersartige, nichtstrophische metrische Gestalt charakterisiert sind, bleiben vom Begriff der Lyrica naturgemäß sehr lange und sehr entschieden ausgeschlossen. Die Wörter lyrica/carmen lyricum und lyricus/poeta lyricus bezeichnen Oden – allenfalls unter Einschluß von Hymnen und Dithyramben – und deren Verfasser und sind damit in ihrer Bedeutung weit entfernt von jenem umfassenden Lyrikbegriff, wie er sich erst spät und nur in engstem Zusammenhang mit Veränderungen der Dichtung selbst und mit der Wandlung des Gattungssystems zu der um 1800 erst sich endgültig ausformenden und wirkungsmächtig werdenden Trias von Epik, Dramatik und Lyrik herausbildet. Hauptmerkmale der in der humanistischen Poetik an den antiken Mustern entwickelten Odentheorie sind neben der strophischen Gliederung und der Sangbarkeit, die auch in der Herleitung des Namens Lyrica von der Lyra und in den Erläuterungen des Namens Ode immer wieder betont wird, vor allem die Mannigfaltigkeit der Gegenstände (nach v. 83–85 der ars poetica des Horaz, wobei das hier am Anfang stehende Lob der Götter und Heroen oft besonderes Gewicht erhält), metrische Vielgestaltigkeit, Kürze, hoher, von maiestas oder suavitas gekennzeichneter Stil, libertas animi und durch erlaubte Abschweifungen geprägte Bauform, ja Freiheit von Regeln und Gesetzen und damit eine betonte Nähe zum ἐnθousiasmόϛ oder furor poeticus – Merkmale, die die Ode zur Darstellung von Affekten besonders geeignet sein lassen. Die deutschsprachige Barockpoetik übernimmt die Odentheorie des Humanismus, indem sie, um imitatio der antiken Muster in der eigenen Sprache bemüht, mit der antiken Ode das deutschsprachige Lied aufgrund seiner strophischen Form und seiner Sangbarkeit identifiziert. Als ein neues, durch die gereimte Versform nahegelegtes Merkmal fügt sie der Theorie mit Rücksicht auf die Verständlichkeit gesungener Lieder die Forderung nach Vermeidung des Vers- und insbesondere des Strophenenjambements hinzu. Die lange Zeit ziemlich unverändert tradierte Odentheorie erfährt im Lauf des 18. Jahrhunderts in wachsendem Maße tiefgreifende Veränderungen. Zu den daran beteiligten, sie hervorrufenden oder beeinflussenden Momenten gehören unter anderem die Diskussion des Nachahmungsbegriffs, die mit den nicht Handlungen, sondern nur Empfindungen darstellenden lyrischen Gedichten ihre – schließlich doch produktiven – Schwierigkeiten hat, – die aufklärerische Bestimmung der unterschiedlichen Seelenvermögen und ihre Einwirkungen auf

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das Dichtungsverständnis, – der wachsende Einfluß der Ps. Longin-Rezeption, durch welche die Vorstellung vom dichterischen ἐnθousiasmόϛ stärker als zuvor zur Geltung kommt, – die zunehmende Reflexion der Unterschiede zwischen Antike und Neuzeit und der Mustergültigkeit der Antike, – die allmählich entwickelte Fähigkeit zur Nachbildung der antiken Versfüße und Strophenformen. All das bewirkt einerseits eine außerordentliche Belebung der Diskussion der Ode, die als eine Dichtungsart gesteigerter Empfindungsaussprache für einige Zeit in den Mittelpunkt poetologischer Erörterungen rückt, auf der anderen Seite dann aber auch eine wachsende Differenzierung von Ode (samt Hymne und Dithyrambus) und Lied, die an bestimmte, bis dahin latent gebliebene Differenzen in der Theorie und zwischen deren Mustern Pindar und Horaz anknüpft. Die Ode wird entschiedener noch als bisher zu einer lyrischen Dichtart erhabenen Charakters und immer enger gebunden an den Gebrauch der antiken Strophenformen, das Lied, immer mehr als schlichte, in eigentlichem Sinne sangbare, schon durch seine Sprache musikalische Form verstanden, entwickelt sich geradezu zum Gegenpol der Ode. In dem Maße, in welchem sich diese Sonderung vollzieht, wird lyrische Dichtung von der Erwartung einer Empfindungsaussprache bestimmt, die immer stärker unmittelbar, individuell, erlebnishaft sein soll und nur dadurch als wahr gilt. Der sich so verändernde und damit in die Entwicklung der Gattungstrias einfügende Lyrikbegriff öffnet sich nun auch für Formen wie die Elegie, gewinnt damit eine zuvor undenkbare Ausdehnung und läßt dabei an der Stelle der Ode, von der einst die zunächst als Odentheorie entwickelte neuzeitliche Lyriktheorie ausgegangen war, das jetzt von ihr unterschiedene Lied zum eigentlichen Inbegriff von Lyrik werden – ein Vorgang, der nicht ohne tiefgreifende Veränderungen der Lyrik selbst im 18.  Jahrhundert möglich gewesen ist, welche sich ihrerseits in den Veränderungen ihrer Theorie aufschlußreich spiegeln.

II. „lyrici ... pugiles ĩ certaminibus uictores laudibus exornãt, aut bacchũ, aut quod uis tale illorum numen celebrant … Lyricorum praecipuum est uario uti carminum genere ipsaq´ue ad lyram canere …” ist am Beginn des 16. Jahrhunderts im posthumen De expetendis, et fugiendis rebus opus¹³ des Georgius Valla zu lesen. Abgehandelt werden die carmina lyricorum als Teil der communis species im Rahmen einer knappen Darstellung der „poeticæ artis species tres“: „actiua siue

13 Georgius Valla, De expetendis, et fugiendis rebus opus, Venedig: Manutius 1501 [Stadtb. Mainz], Bd. II, Lib. XXXVIII, De Poetica Volumen unicum, Bl. EE8v.

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imitatiua ... enarratiua siue enuntiatiua ... counis, uel mixta“ (Bl. EE8r). Diese wenigen, an einer Stelle auf v. 84f. der Horazischen ars poetica anspielenden Feststellungen zu den Gegenständen und zum Zweck der Lyrica, zu ihrer Herleitung vom Gesang ad lyram und zur Verwendung vielfältiger metrischer Formen, die strophisch gegliedert zu denken sind, mitsamt der Zuweisung zur communis species innerhalb der vor allem vom spätantiken Grammatiker Diomedes¹⁴ sich herleitenden Zuordnung aller möglichen, unterschiedlichen Gedichtarten zu den von Valla angeführten drei species, deren Unterscheidung an der Redeform orientiert ist – das ist ein Grundbestand, wie er sich in vergleichbarer Weise auch schon in den enzyklopädischen Werken des Mittelalters findet, wo diese im Rahmen der Grammatik als eines Teils des Triviums von der Poesie handeln, ihrerseits dabei in der Tradition der spätantiken Grammatik¹⁵ stehend. „Lyrici poetæ dicuntur, à potu lyrin,¹⁶ idest à varietate carminũ, vnde & lyra dicitur ...“ formuliert z. B. Vinzenz von Beauvais in seinem Speculum doctrinale.¹⁷ Das liest man früher schon bei Hrabanus Maurus,¹⁸ und lange vor Vinzenz und Hrabanus findet sich bereits bei Isidor¹⁹ dieselbe Formulierung, die auf eine sinngemäß entsprechende Stelle bei dem Grammatiker Marius Victorinus zurückweist.²⁰ Mit der auch bei Isidor stehenden längeren Passage über die poetae, in welcher der Satz über die lyrici, die varietas carminum und die lyra begegnet, verknüpft Hrabanus in seinem Kapitel De poetis eine Wiedergabe der Diomedischen Einteilung der „poematis genera“ in der um biblische Muster erweiterten Fassung, die

14 Diomedes, Artis Grammaticae lib. III: De poematibus (Grammatici latini, ed. Henricus Keil, Bd. 1, Leipzig 1857, S. 482f.). 15 Hugo von St. Victor begnügt sich in seinen Eruditionis didascalicae libri septem (Lib. II, cap. XXX, De grammaticae divisione) sogar mit der knappen Erwähnung nur einzelner Gegenstände der Grammatik und verweist zur näheren Ausführung auf die Grammatiker Donatus, Diomedes und Priscian (Migne, PL, Bd. 176, Sp. 763). 16 Recte: apo tou lyrein (vgl. die in Anm. 18 angeführte Stelle bei Hrabanus Maurus). 17 Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Bd. II, Sp. 288 (Lib. III, cap. CX, De poetis). 18 Hrabanus Maurus, De universo, Lib. XV, cap. II, De poetis (Migne, PL, Bd.  111, Sp. 419): „Lyrici poetae apo tou lyrein, id est, a varietate carminum: unde et lyra dicta“. 19 Isidor von Sevilla, Etymologiarum liber VIII, cap. VII, De poetis (Migne, PL, Bd. 82, Sp. 308). 20 Marius Victorinus, Artis Grammaticae lib. I: De Metris (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 6, Leipzig 1874, S.  50): „melicum autem sive lyricum, quod ad modulationem lyrae citharaeve componitur … carmen autem lyricum, quamvis metro subsistat, potest tamen videri extra legem metri esse, quia libero scribentis arbitrio per rhythmos exigitur“. – Zur antiken Tradition der etymologischen Erklärung der lyrica vgl. im übrigen Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936, S. 13.

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vorher bei Beda belegt ist,²¹ während er in seiner Excerptio de arte grammatica Prisciani die ursprüngliche Fassung von Diomedes selbst übernimmt,²² die die lyrica eigens erwähnt und dem genus commune zuordnet. Ähnlich wie in den mittelalterlichen Enzyklopädien oder dann bei Valla – und wie auch dort gelegentlich ergänzt durch Nennung von Horaz, später auch Pindar als Muster²³ – sehen die Hinweise zu den lyrica auch noch im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert aus. In dem über mehr als hundert Jahre hin in zahlreichen Auflagen verbreiteten Thesaurus Eruditionis Scholasticae, sive Ratio Docendi ac Discendi (1571) des Basilius Faber beispielsweise lauten die Erläuterungen einschlägiger Lemmata: „Carmen, oratio ligata, numeris suis & mensura certa constans ... Gesang“ – „Hymnus ... cantio laudans, Lobgesang“ (mit einem Pindar-Zitat) – „Lyricus, vt Poëta lyricus, qui carmina sua ad lyram recitabat. Inter eos Poëtas excellere se iactat, Horat. Ode. I ... [zit. Od. I, 1, v. 35f.] Lyrici apud Græcos nouem fuere, inter quos excelluit Pindarus“ – „Melicum vt Poëma melicum, hoc est Musicum …” – „Oda, ae, vel Ode, es ᾠdή, cantio, carmen“.²⁴ Ob die

21 Beda Venerabilis, De arte metrica, Abschnitt: Quod tria sint genera poematos (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 7, Leipzig 1880, S. 259f.). 22 Im Abschnitt De vi ac varia potestate metrorum: „Coeni vel communis poematos species sunt duae. Quarum prior heroica, ut est Iliadis et Aeneidos; altera est eliaca [vgl. hierzu die Lesarten bei Keil zu der unten genannten Stelle bei Diomedes], quae et lyrica dicitur, ut est Archilochus et Horatius“ (Migne, PL, Bd. 111, Sp. 670). Vgl. Diomedes (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 1, S. 483): „koinoῡ vel communis poematos species prima est heroica, ut est Iliados et Aeneidos; secunda est lyrica, ut est Archilochi et Horatii“ (eine entsprechende Stelle steht – soweit ich sehe – bei Priscian, auf den sich Hrabans Titel bezieht, offenkundig nicht). 23 Vgl. das auf Diomedes beruhende Zitat aus Hrabanus Maurus in Anm.  22; Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Bd. IV, Speculum historiale, S. 195 über den Rang des Horaz „inter satyricos, & lyricos poetas latinos“ (S. 99f. biographische Nachrichten über Pindar noch ohne solche Wertung); Valla, De expetendis, et fugiendis rebus opus (wie Anm.  13), Bd.  II, Bl. FF1r: „Fuerũt sane apud græcos lyrici decem ... At liricorum oĩum facile prĩceps Pĩdarus“. – Vgl. auch die Artikel über Pindar bzw. Pindar und Horaz in den Werken von Hermann Torrentinus, Elucidarius Poeticus (11498), Ausgabe München: Leysser 1630 [Stadtb. Mainz], S. 291 und Estienne, Dictionarium (11553), Ausgabe Paris: Macaeus 1578 [HAB Wolfenbüttel], Bl. Bb8r, Pp3v, die keine Sachartikel zur Lyrik enthalten, sowie die entsprechenden Stellen in den in Anm. 24 genannten weiteren Werken. 24 Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, Leipzig: E. Vögelin 1587 [UB Mainz], S.  141f., 394, 471, 492, 561. Die knappen Erläuterungen Fabers bleiben auch in den späteren Ausgaben weitgehend unverändert, hie und da durch einzelne Zusätze erweitert, so in den Auflagen der auf August Buchner zurückgehenden Bearbeitung, wo es s.v. carmen ergänzend heißt: „... Caeterùm aliquando latius, quandoque strictius sumitur, & vel Epicum; vel Lyricum carmen significat … Horatius quoque libros suos, non odarum; sed carminum nomine inscripsit … Carmina: videlicet Lyrica“ (Leipzig/Frankfurt: Fritzsch 1680 [UB Mainz], Bd. 1, Sp. 451). – Vgl. auch u. a. Raphael Volateranus, Commentariorum Vrbanorum libri, Rom: Besicken 1506

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enzyklopädischen Werke dabei auf den altüberlieferten Grundbestand deshalb sich beschränken, weil sie die Entfaltung der sich längst erweiternden und stärker differenzierenden Theorie in den speziellen Werken zur Poetik noch nicht als verbindlich rezipiert haben, oder vielleicht doch eher darum, weil sie oft mehr auf die Vermittlung des Systems des Wissens oder auch nur des nötigsten Extrakts als auf seine Einzelheiten gerichtet sind,²⁵ wird offen bleiben müssen. Die Konstanz aber der auf die Sangbarkeit und metrische Vielfalt, daneben auch auf bestimmte Gegenstände gegründeten und auf Horaz und dann auch Pindar als Muster sich berufenden Bestimmungen²⁶ der Lyrica über Jahrhunderte hin macht deutlich, wie sehr dieser Kernbestand, verankert im System der Artes und seiner Tradierung durch die spätantiken lateinischen Grammatiken, das Fundament aller weiteren Vorstellungen ist,²⁷ wie sehr auch allerdings dieser Kernbestand vom Humanismus, von den humanistischen Pindar- und Horaz-

[Stadtb. Mainz], Bl. CCCCLXVIrf.; Ringelbergh, Lucubrationes (11529), Basel: Westhemerus 1541 [Stadtb. Mainz], S. 162; Gesner, Bibliotheca Vniversalis, Zürich: Froschauer 1545 [HAB Wolfenbüttel], Bl.  563r, 575v; Zwinger, Theatrum vitae humanae, Basel: Oporinus/Frobenius 1565 [Stadtb. Mainz], S.  63, 64, 78; Lang, Florilegium (11598), Straßburg: Lazarus Zetzners Erben 1645 [UB Mainz], Sp. 2372; Goclenius, Lexicon Philosophicum, 1613, Neudr. 1964, S. 182 und Garzoni, Piazza univerale (1585, dt. 11619), Frankfurt/M.: Jennisius 1626 (Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 372), S. 728. 25 Dafür könnte sprechen, daß vergleichbare Werke auch noch im späteren 17. und im frühen 18.  Jahrhundert sich auf jenen Kernbestand beschränken: vgl. u. a. Pexenfelder, Apparatus Eruditionis (11670), Sulzbach: Endter 31687 (Sammlung Jantz, Film Nr. 403), S. 287f.; Nehring, Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon (11684), Gotha: Mevius 81725 [StB Berlin], S. 569, 814; Wagenseil, Pera librorum juvenilium, Altdorf: Hofmann/Meyer 1695 (Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 488), S.  718; Hederich, Reales Schul-Lexicon, Leipzig: Gleditsch 1717 [Stadtb. Mainz], Sp. 1530, 1787, 1878, 2033 (im Detail begrenzt trotz Berufung der Vorrede u. a. auf Scaliger und Vossius als Quellen der Poetik); Fahsius, Atrium Eruditionis, Goslar: König 1718/19 [HAB Wolfenbüttel], S. 651ff. 26 Weniger konstant ist nur die alte Zuordnung der lyrica zur communis species der Poemata, weil die Diomedische Dreigliederung nach der Redeform, die mit der um 1800 ausgebildeten, einen umfassenden Lyrikbegriff einschließenden Gattungstrias keineswegs identisch ist, insgesamt in der Poetik der Frühen Neuzeit nicht gleichmäßig tradiert wird, auch wenn sie an der Vorgeschichte und Ausbildung der Gattungstrias – auf eine allerdings komplizierte und bisher nicht ausreichend aufgehellte Weise – Anteil hat. 27 Das macht auch begreiflich, daß das Verständnis des Wortes „lyricus/lyrisch“ so lange vor allem geprägt bleibt durch die Vorstellung von Sangbarkeit und strophischer Gliederung und daß dieses Wort damit einen engeren, aber auch präziseren (und von anderen Gedichtarten prägnant abgrenzenden) Sinn hat, als spätere Zeiten ihm gegeben haben, und es wird auch durch diese Bekräftigung der frühneuzeitlichen Bedeutung des Wortes verständlich, daß Ode und Lied bis weit ins 18. Jahrhundert nicht nur der Sache nach als Hauptform des lyrischen Gedichts identifiziert, sondern auch sprachlich völlig gleichgesetzt werden, wie es Nachschla-

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kommentaren zunächst, mit ihnen zusammen sodann seit der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts von der humanistischen Poetik zu einer ausgearbeiteten und lange wirksamen Lyriktheorie erweitert worden ist. Das wird innerhalb der Enzyklopädik im frühen 17. Jahrhundert besonders gut greifbar bei Johann Heinrich Alsted, der auch bei Behandlung der Poetik seinen Rang als umsichtig-systematischer Universalgelehrter erweist. Im Liber decimus, exhibens poeticam seiner Encyclopædia von 1630 führt Alsted in der Sectio I, cap. XII. De poëmate über das Carmen lyricum (so die Bezeichnung in den Marginalien) unter der Überschrift VII. De carmine melico sunt hi canones aus: 1. Hoc poëma gaudet vocum sonorumq ´ue concentu. Dicitur lyricum; quia olim ad lyræ cantum applicabatur, vel etiam ad chelyn. Aliâs appellatur ode, melos, eἶdoϛ & idyllion, quod est diminutivum ab eἶdoϛ, quòd hæc poëmata essent quasi rerum species quædam. 2. Ex monocolis gaudet maximè iambico, trochaico, & choriambico: ex polycolis omnia admittit, præter elegiacum. 3.Lyricum carmen requirit verba selecta, & iucundam numerorum varietatem, & cum animi libertate frequentiam sententiarũ, & elegantem brevitatem. 4. Ejus materia est multiplex: videl. amores, laudes, jurgia, insectationes, hilaritates, convivia, objurgationes, vota, desideria, exhortationes, querelæ, res gestæ, invitationes, dehortationes, & similia multa. 5. Summa ipsius genera sunt quatuor. Primò est ode didascalica: quò pertinent descriptiones rerum; adhortationes,dehortationes, & res similes. Deinde est epinicion, ode quæ victori canitur. Tertiò est hymnus, qui Deo dicitur. Quartò est pæan, quo ethnici gratulabantur diis pro victoriâ in præliis.²⁸

Dem belesenen Gelehrten ist es hier gelungen, in knapper Fassung der Einzelheiten und straff geordneter Form der Darlegung die im Lauf des 16. Jahrhunderts entwickelte Theorie der Lyrica oder Odae zusammenfassend – und nicht ohne Andeutung gelehrten erklärenden Details – wiederzugeben. Kaum eine der wesentlichen Bestimmungen, die nicht ausdrücklich genannt, keine eigentlich, die nicht wenigstens indirekt berührt würde.²⁹ Dabei lassen viele der Formulierungen die Hauptquelle für den Abschnitt über die carmina lyrica erkennen: es ist Julius Caesar Scaligers groß angelegtes Werk Poetices libri septem, auf das

gewerke des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zeigen, die auf die Erläuterung lateinischer und deutscher Terminologie zugleich bedacht sind (vgl. die Belege in Anm. 64). 28 Alsted, Encyclopædia, Bd. 1, S. 525. 29 Letzteres gilt für die Digressionen und die auch anderswo ohnehin erst nach und nach ausdrücklicher als Merkmal der poesis lyrica genannte besondere Beziehung der Ode zum furor poeticus, auf welche die Hinweise auf den Stil, die numerorum varietas und die animi libertas mittelbar doch mit hindeuten.

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offenkundig die Mehrzahl der von Alsted angeführten Bestimmungen unmittelbar zurückgeht.³⁰ Alsted steht damit, wie ein Blick in andere enzyklopädische Werke des 17. Jahrhunderts zeigt, keineswegs allein. Antonio Zara war ihm in seiner Anatomia Ingeniorum et Scientiarum³¹ vorausgegangen, wenn auch mit knapperen Ausführungen, deren Aufzählung von Gegenständen des carmen lyricum dem Katalog bei Scaliger folgt. Aus dem ersten Kapitel Scaligers über die Lyrica (Lib. I, S. 47f.) zitiert Laurentius Beyerlinck in seinem Magnum Theatrum vitae humanae³² – beginnend mit der auch anderswo oft angeführten Feststellung „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas“ – mit einigen Umstellungen und Auslassungen lange Passagen, an deren Ende Scaliger als Quelle eigens genannt wird. Im Lexicon universale³³ von Johann Jacob Hofmann wird in den Artikeln „Lyra“ sowie „Melos“ und in einem eigenen Artikel „Ode“ dieselbe Formulierung Scaligers als Hauptbestimmung neben Momenten wie der im Namen dieser Gedichte angezeigten Sangbarkeit, der Vielfalt der Gegenstände und der Gliederung der pindarischen Ode angeführt. Überall nehmen im 17.  Jahr-

30 Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, Lyon: Vincentius 1561, Faksimile-Neudruck, hrsg. v. August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964; vgl. Insbesondere S.  47–49 (Lib. I, cap. XLIIII, Lyrica) und S. 169 (Lib. III, cap. CXXIIII, Lyrica). Scaliger, der in Alsteds Enzyklopädie z. B. auch für den Abschnitt De poëmate dramatico eine der Quellen ist, wird in Alsteds zehn Jahre früher erschienener erster Enzyklopädie (Alsted, Cursus Philosophici Encyclopædia, Herborn: Corvinus 1620 [HAB Wolfenbüttel], Bd. 3: Septem artes liberales) im entsprechenden Abschnitt (Lib. XXVI, Poetica, p. I, cap. VIII, De inventione poëmaticâ, IV. Carmen lyricum), der eine weniger vollständige Vorform des Textes von 1630 ist, an einer Stelle (Sp. 725) ausdrücklich als Gewährsmann angeführt. 31 Zara, Anatomia Ingeniorum, Venedig: Typographia Ambrosii Dei & Fratrum 1615 [HAB Wolfenbüttel], S. 195. Auch hier steht der Abschnitt über die Tragödie ebenfalls in Beziehung zu Scaliger. 32 Beyerlinck, Magnum Theatrum, Köln: Hieratus 1631 [Stadtb. Mainz], Bd. 6, S. 473f., innerhalb des Abschnitts Melopoei in Genere. Lyrici, Melici im Kapitel Poeta (S. 462–500). Im ersten Teil des Kapitels empfiehlt Beyerlinck unter den „Poeticæ Magistri, Præceptores, Doctores“ Scaliger eindringlich mit den Worten: „Jul. Cæsar Scaliger Poëticã artẽ libris septẽ elegantissimè & eruditissimè complexus, præcepta optimorum scriptorum exemplis sic illustrauit, vt nihil in hoc genere perfectius vel à veteribus vel à recentioribus elaboratum videatur. Cuius scripta ab omnibus Poëticæ studiosis diligenter legenda censeo, nostro præsertim seculo“ (S. 465). – In Zwingers Theatrum vitae humanae, das eine vielfach wörtlich benutzte Quelle Beyerlincks ist, fehlen die Berufungen auf Scaliger noch. 33 Hofmann, Lexicon universale (11677–83), 1698, Bd. 2, S. 898; Bd. 3, S. 123 und S. 416; die einschlägigen Artikel des Lexicon universale auch noch in den anonymen späteren Bearbeitungen: [Johann Jacob Hofmann], Lexicon universale, Köln: Moretus 1720 [Stadtb. Mainz] und Leiden: Moretus 1726 [Stadtb. Mainz]. – Im Artikel über Scaliger (Bd. 4, S. 85) heißt es von diesem: „... Scripsit Poëticam, opus admirandum“ (so auch schon 1677, Bd. 2, S. 318).

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hundert die enzyklopädischen Werke seit Zara und Alsted entscheidende neuere Momente der Lyriktheorie auf, die zu einem Teil von der erst im Lauf des 16.  Jahrhunderts sich entwickelnden Pindar-Rezeption geprägt sind: die Betonung des hohen Stils vor allem, die deutlichere Benennung der mannigfachen Gegenstände und deren Gliederung in Anlehnung an Horaz, die Kürze oder eine genauere Bestimmung der metrischen Vielfalt. Die noch immer vorwiegend lateinisch geschriebenen Werke, welche die Inhalte der gelehrten Bildung der Zeit zusammenfassen, führen damit zugleich vor Augen, welche Vorstellungen von den Lyrica und Oden auch für die sich in diesem Zeitraum entwickelnde deutschsprachige Barockpoetik und für die Verfasser deutscher Gedichte verpflichtend sein mußten. Wenn das in so auffälliger Weise im Zeichen Scaligers geschieht,³⁴ wenn dabei bestimmte Formulierungen Scaligers bemerkenswert lange präsent bleiben, dann bekräftigen die Enzyklopädien die ungewöhnliche Wirkung, die unter allen humanistischen Poetiken diejenige Scaligers³⁵ – und

34 Die Wendung Scaligers von der „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas“ führt Daniel Georg Morhof, der sie auch im Oden-Kapitel in seinem Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (hrsg. v. Henning Boetius, Bad Homburg v.d.H. u. a. 1969, S. 339) zitiert, in seinem Polyhistor (Bd. 1, S. 1067) bei Behandlung der antiken und neueren lateinischen Odendichter an. – Weitere Beispiele für die Berufung auf Scaliger bei der Behandlung von Spielarten der lyrica u. a. Hofmann, Lexicon universale, 1698, Bd. 2, S. 86f. s.v. Dithyrambus; Bd. 2, S. 559f. s.v. Hymnus; Lloyd, Dictionarium historicum, geographicum, poeticum (11670, Bearbeitung des 1553 zuerst erschienenen Dictionarium von Estienne, vgl. Anm. 23), Genf: de Tournes 1693 [Bischöfl. Priesterseminar Mainz], S. 412 s.v. Dithyrambus, mit gleichzeitiger Anführung einer einschlägigen Abhandlung in der bis ins 18. Jahrhundert maßgeblichen und einflußreichen Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid (1616); Moreri, Grand Dictionaire (11674), Amsterdam/ Den Haag: Aux Dépens de la Compagnie 1702 [UB Mainz], Bd. II, S. 362 s.v. Dithyrambe; Buddeus, Allgemeines Historisches Lexicon (11709), Leipzig: Fritsch 21722 [Stadtb. Mainz], Bd. 2, S. 57 s.v. Dithyrambus. Hinweise auf Scaliger in Artikeln zu einzelnen Gedichtarten reichen im übrigen noch tief ins 18. Jahrhundert hinein, so u. a. bei Zedler, Universal Lexicon, Bd. 25, 1740 [UB Mainz], Sp. 447 s.v. Ode; Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 4, Amsterdam: Rey 1777 [UB Mainz], S. 92 s.v. Ode; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 2, Sp. 1615 s.v. Élégie. 35 Demgemäß wird in den Enzyklopädien bis weit ins 18. Jahrhundert hinein (vgl. auch die in Anm. 33 genannten späteren Bearbeitungen von Hofmanns Lexicon universale) Scaliger auch in den Artikeln zu Stichworten wie Poesie, Poetik und dergleichen immer wieder als einer der Hauptgewährsleute genannt: vgl. u. a. Richelet, Dictionnaire François, Bd. 2, S. 180 s.v. Poësie, S. 181 s.v. Poëtique; ebenso noch: Pierre Richelet, Nouveau Dictionaire François, Genf: de Tournes u. a. 1710 [Stadtb. Mainz], Bd. 2, S. 183; Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd.  3, Bl.  Q3r s.v. Poëtique; Jablonski, Allgemeines Lexicon, Leipzig: Fritsch 1721 [HAB Wolfenbüttel], S. 559 s.v. Poesie (z.T. nach Hofmann, Lexicon universale, Bd. 3, S. 807f.); ebenso noch in der von Johann Joachim Schwabe bearbeiteten Ausgabe Königsberg/Leipzig: Zeissen/ Hartung 1767 (Sammlung Jantz, Film Nr. 285), S.  1076 s.v. Poesie (der Artikel hier erweitert, z.T. in Übereinstimmung mit demjenigen in Gottsched, Handlexicon, Neudr. 1970, Sp. 1315;

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später neben ihr auch die ähnlich gelehrte und ergiebige des Gerhard Johannes Vossius³⁶ – gehabt, die prägende Kraft, die gerade durch sie die humanistische Dichtungslehre gewonnen hat, an deren Tradierung gelehrte Enzyklopädien bis ins 18. Jahrhundert hinein beträchtlichen Anteil haben. Unter ihnen ist das Lexicon universale Hofmanns dadurch besonders aufschlußreich, daß es Scaligers Formel von der „proxima heroicae maiestati lyrica nobilitas“ gleich an mehreren Stellen anführt. Es bezeugt damit nicht nur eindrücklich das Gewicht gerade dieser Vorstellung vom erhabenen Charakter der Lyrica und die besondere Rolle gerade Scaligers für deren Verbreitung, sondern ist auch Indiz einer terminologischen und sachlichen Veränderung, die sich im Zuge einer Wandlung der Enzyklopädie wie der Entwicklung der Lyriktheorie nach und nach vollzieht. Wer bis dahin im Rahmen systematisch angelegter enzyklopädischer Werke – und so sind sie, von den alphabetischen Lexika historischer, biblischer, mythologischer, geographischer Namen abgesehen,³⁷

hier ist in der Vorrede, Bl. *5r, Jablonski seinerseits als einer der Vorläufer genannt); Walch, Philosophisches Lexicon, Neudr. 1968, Bd. 2, Sp. 456, 458 s.v. Poesie (bis auf wenige, als solche gekennzeichnete Zusätze identisch mit dem Text der ersten beiden Auflagen von 1726 [StB Berlin] und 1733 [StB Berlin]; Zedler, Universal Lexicon, Bd. 28, 1741 [UB Mainz], Sp. 978, 980 s.v. Poesie (in erheblichem Umfang nach Walch). Hederichs Reales Schul-Lexicon führt in der Vorrede (Bl.)(2 v) Scaliger unter seinen Quellen für das Gebiet der Poetik an. Auch noch in den vielfach mit gründlicher Gelehrsamkeit gearbeiteten Konversationslexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Scaliger – nunmehr schon zunehmend aus historischer Perspektive – neben anderen Autoren des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts im Artikel „Poetik“ erwähnt: vgl. u. a. Conversations-Lexicon, Bd. 5, 1819 [UB Mainz], S. 664; Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 7, 61824 [UB Mainz], S. 649; ebda., Bd. 8, 71830 [UB Mainz], S. 632; ebda., Bd. 8, 81835 [UB Mainz], S. 641; Rheinisches Conversations-Lexicon, Köln: Bruère, Bd. 9, 41843 [UB Mainz], S. 941. Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bricht diese späte, letzte Phase einer langen gelehrten Tradition und damit der Wirkungsgeschichte Scaligers ab. 36 Auf Gerhard Johannes Vossius, Poeticarum Institutionum Libri tres (Amsterdam: Elzevier 1647 [UB Köln]) beruft sich u. a. noch d’Alemberts und Diderots Encyclopédie in den Artikeln über Dithyrambus und Elegie (Bd. 4, 1754 [UB Mainz], S. 1066, hier zugleich Erwähnung der oben in Anm. 34 genannten Pindar-Ausgabe von E. Schmid; Bd. 5, 1755 [UB Mainz], S. 484), ebenso der Artikel „Lyricum Carmen“ im illegitimen Bd. 18 von Zedlers Universal Lexicon (Hof: Schultze 1738 [Stadtb. Mainz], Sp. 2569). In den Artikeln über Poesie und Poetik figuriert neben Scaliger fast stets auch Vossius als einer der maßgeblichen Autoren (vgl. dazu alle zu Scaliger zusammengestellten Belege in Anm. 35 mit Ausnahme von Walch und Zedler; s. auch die Berufung auf die Schrift De artis poeticae natura ac constitutione, 1647, des Vossius bei Hofmann, Lexicon universale, Bd. 3, S. 807f. s.v. Poesis), bis auch für ihn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Tradition abbricht. 37 Vgl. z. B. die weitgehend auf Personalartikel beschränkten und deshalb alphabetisch angelegten Werke von Torrentinus (vgl. oben Anm. 23); Gesner, Bibliotheca Vniversalis; Estienne, Dictionarium; Lloyd, Dictionarium oder Moreri, Grand Dictionaire. Alphabetisch angelegt sind

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bis zum späteren 17. Jahrhundert fast alle gestaltet – die betreffenden Gedichte behandelte, tat dies – in Übereinstimmung mit der humanistischen Poetik³⁸ – gemäß der vom Instrument Lyra abgeleiteten Sangbarkeit als altüberliefertem Hauptmerkmal dieser Gedichte im allgemeinen unter dem Namen der lyrica, der lyrica poesis, des carmen lyricum und gelegentlich auch unter dem entsprechenden eines carmen melicum, wobei dann auch der erst im Humanismus dafür üblich werdende Begriff Ode, als Synonym oder auch als Unterart, ergänzend genannt und erläutert wird. So geschieht es beispielsweise bei Alsted in Entsprechung zu Scaliger.³⁹ Hofmann hingegen, der als einer der ersten in einem mehrbändigen Werk einen ausgedehnten Wissensstoff in zahllose, alphabetisch geordnete Einzelartikel zerlegt darbieten will,⁴⁰ sieht sich beim Stand der

begreiflicherweise auch Werke wie das Vocabolario ... della Crusca (1612; vgl. oben Anm. 6), das vorwiegend sprachliche Auskunft geben will, oder Goclenius, Lexicon Philosophicum, das einen speziellen Bestand fachlicher Termini zusammenstellt. 38 In der lateinischen Poetik bleiben bis hin zu Vossius (1647) und Masen (1654ff.) lyrica und daneben auch melica die maßgeblichen Bezeichnungen. Vereinzelt stehen mit der Kapitelüberschrift „De Ode“ Konrad Bachmann und Christoph Helwig da (Poetica, Gießen: Hampelius 31623 [HAB Wolfenbüttel], S. 324), deren Werk Alsted, Encyclopædia, Bd. 1, S. 109, neben einigen anderen Anleitungen zur Poesie nennt. 39 Scaliger, Poetices libri septem, Lib. I, cap. 44, S.  47: „… ita hæc Ode, & mέloϛ, & molpή ... Odas quoque à canendo titulum suorum librorum fecit Horatius, Grammatici Pindaricas inscripsere cantiones, mέlh. alii verò maluerunt eἴdh. vnde diminutiuum Idyllion ...“. Zu Alsted s. die oben im Text zitierte Stelle. Vgl. u. a. auch Beyerlinck, Magnum Theatrum, Bd. 6, S. 473, wo innerhalb des umfangreichen Scaliger-Zitats auch die oben angeführten Sätze enthalten sind; Zara, Anatomia Ingeniorum, S. 195, wo auf den auf Scaliger beruhenden Katalog der Gegenstände der lyrica der Satz folgt: „Odæ etiam à cantu nomen traxêre“ und dann auch Hymni, Dithyrambi usw. genannt werden; Pexenfelder, Apparatus Eruditionis, 31687, S. 288, wo es im Kap. 53 Poëtica seu Schola Humanitatis heißt: „Ab instrumentis indigitantur: Lyricum à lyra, quæ Hymnis & Odis ... adhiberi consuevit“. 40 Beyerlinck beispielsweise, Hofmann um einige Jahrzehnte vorausgehend, ordnet in seinem vielbändigen Magnum Theatrum den Stoff zwar alphabetisch, doch in umfangreichen, als Teile eines umfassenden Systems gedachten Artikeln. So wird etwa unter dem Stichwort „Poeta“ auf fast vierzig Seiten die gesamte Behandlung der Poetik zusammengefaßt. Ein frühes, aber zu seiner Zeit wohl vereinzeltes Beispiel kleinteiliger alphabetischer Ordnung eines weit ausgreifenden Wissensbestandes ist – rund ein Jahrhundert vor Hofmann – Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587 (Vorrede datiert 1571), der sich, bewährt offenkundig als ein nützliches Hilfsmittel für Lehrer und Schüler, u. a. in der Bearbeitung durch August Buchner bis mindestens ins späte 17. Jahrhundert im Gebrauch erhalten hat (vgl. die Ausgaben 1680 und Leipzig: Gleditsch 1692 [UB Mainz]). Das einbändige Werk enthält von Beginn an u. a. zahlreiche Artikel zu den für das carmen lyricum einschlägigen Begriffen und Musterautoren. An Einläßlichkeit und gelehrter Ergiebigkeit aber kann es sich mit Hofmanns Lexicon universale nicht messen.

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Theorie veranlaßt, jedem der einschlägigen Begriffe – und dazu weiteren Arten der Lyrica wie Hymnus, Dithyrambus und dergleichen, die wie auch bestimmte Arten der Kasualdichtung z.T. eine eigene, weiter zurückreichende Tradition der Behandlung im enzyklopädischen Schrifttum haben, hier aber nicht eigens im einzelnen verfolgt werden können – eigene Artikel zu geben⁴¹ und darin Scaligers Wendung von der „proxima heroicae maiestati nobilitas“ als ein nun offenkundig besonders zentrales Merkmal dieser Gedichte erneut anzuführen. Die Zuordnung des Begriffs „ode“ zu den beiden anderen Begriffen, „lyrica poesis“ und „melos“, bleibt zwar wie überhaupt das Verhältnis aller drei zueinander unscharf und schwankend,⁴² und mit den nicht durchaus systematisch auf sie verteilten Einzelheiten stellen diese Artikel erst zusammen eine Summe der von Hofmanns Lexikon vermittelten zeitgenössischen Vorstellungen von der lyrica poesis dar. Aber indem das Werk dem Begriff „ode“ einen eigenen Artikel zuteilt⁴³ und darin unter anderem das Wort als „titulus librorum Horatii“ bezeichnet und dann vor allem das triadische Schema der pindarischen Ode – in Anknüpfung an eine ältere Tradition seiner metrischen Erklärung und genetischen Herleitung – erläutert, gibt es das wachsende Eigengewicht des Terminus und seine besondere Offenheit für eine Poesie hohen Stils zu erkennen. Das mehr oder weniger gleichberechtigte Nebeneinander der Begriffe „lyricum/carmen lyricum“ und „ode“ im Stichwortbestand der Enzyklopädien läßt sich noch für längere Zeit nach Hofmann in manchen Werken beobachten, in

41 Die Artikel „Lyra“ (als Musikinstrument; mit den Ausführungen zu lyrica poesis), „Melos“ und „Ode“ finden sich erstmals in der 1683 erschienenen Continuatio (Bd. 1, S. 1062; Bd. 2, S. 56 und 277) zur Erstausgabe von 1677, in der auch manche anderen Stichworte aus dem Bereich der Poetik noch fehlen. 42 Vgl. Bd. 2, S. 898 s.v. Lyra: „Hinc Lyrica poësis, cui proxima Heroicae Majestati nobilitas: Ode, & mέloϛ & molpὴ dicta. Neque enim ea sine cantu atque Lyra pronuntiabant, unde & Lyricorum appellatio orta, quorum genera multa“; Bd. 3, S. 123 s.v. Melos: „Cùm autem lyricorum genera multa sint, Melos sive Ode kat’ ἐxocὴn dicitur, quibus curas amatorias decantant … Alia genera in laudibus Heroum, locorum laudationibus … Vide plura hanc in rem apud Scaligerum … ubi nobilissima Carmina Hymnos & Pæanes esse dicens, secundô loco collocat Mela & Odas & Scolia, quæ in virorum fortium laudibus versabuntur; tertio loco Epica ponit, &c.“; S. 416 s.v. Ode: „Ode: Graecè ’Wdὴ , titulus librorum Horatii, cui à canendo nomen. Scaliger Poëtices l. I. C. 44. Proxima heroicae majestati Lyrica nobilitas …“. 43 Dies ist – neben dem knappen Artikel bei Richelet (1679/80) – eines der frühesten Beispiele eines gesonderten Artikels zum Stichwort „Ode“, das dann nach und nach für längere Zeit zur Hauptstelle der Lyriktheorie im Zuge ihrer weiteren Entwicklung wird. Den Artikeln bei Hofmann und Richelet geht – von der ganz knappen Worterläuterung bei Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587 (s. oben im Text bei Anm. 24), abgesehen – zumindest der Artikel bei Micraelius, Lexicon Philosophicum (Neudr. 1966, S. 919) voraus, der seinerseits eine Kurzfassung von Alsteds canon 1 und 5 bietet.

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welchen die Ode zwar als eigenes Stichwort auftaucht, aber doch nur als Synonym oder Unterart des carmen lyricum behandelt⁴⁴ und nicht stärker hervorgehoben wird, während wesentliche Bestimmungen wie etwa die Mischung von Versarten oder Hinweise zum Stil nur beim anderen Stichwort⁴⁵ oder bei beiden zugleich geboten werden.⁴⁶ Daneben aber mehren sich seit dem späteren 17.  Jahrhundert diejenigen enzyklopädischen Werke, die unter dem Stichwort „lyricum/lyrisch/lyrique“ zwar weiterhin den althergebrachten, etymologisch fundierten Hinweis auf die Sangbarkeit solcher Dichtung geben, auch zum Teil noch an dieser Stelle das ebenfalls althergebrachte Merkmal der metrischen Vielfalt nennen, vielfach aber selbst dieses, vor allem aber wesentliche andere Bestimmungen nur beim Stichwort „Ode“, auf das von jenem anderen her als auf die Haupterscheinungsform des carmen lyricum zum Teil nun ausdrücklich verwiesen wird, abhandeln und dabei jetzt stets vor anderem die bevorzugte Verwendung der Ode für panegyrische Dichtung oder insbesondere ihre enge Beziehung zum hohen Stil hervorkehren. Das gilt schon für die knapperen Erläuterungen bei Pierre Richelet (1679/80), der für „les anciens“ zwar die Vielfalt der Gegenstände nach der ars poetica des Horaz anführt, aber zugleich feststellt: „parmis nous, l’ode embrasse rarement le vin & l’amour. Elle n’est le plus-souvent qu’un panegirique“ (Bd.  2, S.  83), wie Jahrzehnte später für die großen Enzyklopädien von Zedler und d’Alembert/Diderot.⁴⁷

44 Vgl. Hederich, Reales Schul-Lexicon, Sp. 1787: „Lyricum Carmen, ist ein Gedicht, wie es vor Zeiten in die Leyer mit abgesungen wurde, meist aus vermischten kurtzen Versen bestunde, und sonst auch Carmen melicum, item mit einem Worte, ob wohl mit einigem Unterscheide, Oda, Melos und Eἶdoϛ genannt wird“; Sp. 2033: „Oda ist in der Poësie ein Gedicht, so aus Lyrischen Versen bestehet, und ehemahls in ein Instrument, als Leyer ... u.d.g. pflegete gesungen zu werden. Wie es denn auch den Nahmen von ἀeίdw, cano, hat, als von welchem erstlich ’Aoidὴ, und aus diesem per contractionem ᾠdὴ, gemacht wird, welches Lateinisch mithin eigentlich ein Carmen, Teutsch aber ein Lied heisset“. 45 Vgl. das erste Zitat aus Hederich in Anm. 44. 46 So z. B. bei Chambers, Cyclopaedia (11728), London: Mitwinter u. a. 1741ff. [HAB Wolfenbüttel], der in manchen anderen Formulierungen Vorgängern wie Furetière oder dem Dictionnaire de Trevoux verpflichtet ist: Bd. 2, Bl. 5Eee2 v s.v. Lyric: „The characteristic of lyric poetry, which distinguishes it from all others, is sweetness … in the lyric, the poet applies himself wholly to sooth the minds of men, by the sweetness and variety of the verse, and the delicacy of the words, and thoughts; the agreeableness of the numbers, and the description of things most pleasing in their own nature“; Bl.  7L1v s.v. Ode: „The distinguishing character of the ode is sweetness: The poet is to sooth the minds of his readers by the variety of the verse, and the delicacy of the words, the beauty of numbers, and the description of things most delightful in themselves“. 47 Vgl. auch u. a. Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd.  2, Bl.  Eee3r (Lyrique), Bl. Hhhh3v (Ode); Le Dictionnaire de l’Académie Françoise, Paris: Coignard 1694 [HAB Wolfen-

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Zedlers Universal Lexicon beschränkt sich unter dem Stichwort „Lyricum carmen“ (Bd. 18, 1738, Sp. 1547) auf die knappe Erklärung, die zwei Jahrzehnte zuvor Hederichs Reales Schul-Lexicon enthalten hatte,⁴⁸ während es zwei Jahre später in Bd.  25 (Sp. 446–454) einen umfangreichen Artikel „Ode“ bietet, der zunächst an die ursprüngliche, von den „hohen Worten und scharffsinnigen gedancken“ in der Ode geprägte Definition bei Jablonski⁴⁹ anknüpft, dann – unter Berufung auf Scaliger, J. A. Fabricius, Dacier, Rapin und andere – einen historischen Überblick über die Odendichtung der verschiedenen Völker von den Psalmen bis ins frühe 18. Jahrhundert gibt und schließlich aus der 2. Ausgabe von Gottscheds Critischer Dichtkunst (1737) – mit dem ausdrücklichen Bemerken, dieser habe „noch zur Zeit die beste Nachricht von der Beschaffenheit der Oden der Welt mitgetheilet ... und also besonders in der Theorie seine Meriten“ (Sp. 449) – einen großen Teil des Kapitels Von Oden, oder Liedern wiedergibt (Sp. 449–454), endend mit Sätzen Gottscheds, die noch einmal den eigentümlichen Charakter der Ode als einer Dichtung hohen Stils betonen.⁵⁰ Der Artikel

büttel], Bd. 1, S. 672 (Lyrique); Bd. 2, S. 139 (Ode): „Sorte de poëme lyrique divisé par strophes ou stances de mesme mesure, & dont ordinairement le stile doit estre noble & eslevé“; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 434 (Lyrique), Sp. 1337f. (Ode): „… L’Ode demande beaucoup de noblesse & de grandeur“; Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1721 (ohne ein Stichwort „lyricum“ oder dergleichen), S. 510 (Ode): „... Sie werden gemeiniglich zu lobgesängen gebraucht, und wollen mit hohen worten und scharffsinningen gedancken ausgearbeitet seyn“ (mit anschließender Verweisung auf Furetière); in der Auflage von 1767 ist der Artikel (S. 979) ausführlicher (z.T. – jedoch nicht beim folgenden Zitat – in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Gottscheds Handlexicon, vgl. Anm. 35; so auch bei dem nun bei Jablonski vorhandenen Artikel „Lyrisches Gedicht“) und entspricht der inzwischen geschehenen weiteren Entfaltung der Odentheorie mit Sätzen wie: „Es gehöret aber zu deren Verfertigung eine eigene Begeisterung, die den von seiner Materie ganz eingenommenen Dichter dahin reißt, ihn auf eine unerwartete und zuweilen ganz fremde und besondere Art anfangen läßt, und auf Gedancken führet, deren Entstehung und Verbindung man nicht gleich auf den ersten Anblick einsieht, ihm auch solche Ausdrückungen und Redensarten eingiebt, welche Feuer, Kühnheit, ja Verwegenheit entdecken“. 48 Vgl. das Zitat in Anm. 44. 49 Zum Teil zitiert oben in Anm. 47. 50 Zedler, Universal Lexicon, Bd.  25, Sp. 454: „Aus allen den angeführten Oden aber wird man wahrnehmen, daß darinnen durchgehends eine grössere Lebhafftigkeit und Munterkeit als in andern Gedichten herrschet. Dieses unterscheidet denn die Ode von der gemeinen Schreibart. Sie machet nicht viel Umschweiffe mit Verbindungs-Wörtern oder andern weitläufftigen Formuln. Sie fängt jede Strophe so zu reden mit einem Sprunge an. Sie wagt neue Ausdrückungen und Redensarten; sie versetzt in ihrer Hitze zuweilen die Ordnung der Wörter: Kurtz, alles schmeckt nach einer Begeisterung der Musen“. – Zur ganzen von Zedler zitierten Passage vgl. Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Joachim u. Brigitte Birke, Bd. VI/2, Versuch einer Critischen Dichtkunst: Anderer, besonderer Theil, Berlin/New York 1973, S. 4–19 (Text der 3. Ausgabe von 1742) und die Lesarten der 2. Ausgabe in Bd. VI/3, S. 79–82. Wieweit das

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„Lyrique“ im 9. Band (1765) von d’Alemberts und Diderots Encyclopédie, der in einzelnen Formulierungen an Furetière bzw. Chambers anknüpft, ist etwas umfangreicher als der bei Zedler und betont als Merkmal vor allem: „dans le lyrique, le poëte doit principalement s’appliquer à étonner l’esprit par le sublime des choses ou par celui des sentimens, ou à le flatter par la douceur & la variété des images, par l’harmonie des vers, par des descriptions & d’autres figures fleuries, ou vives & véhémentes ...“ (S. 780). Ungleich eingehender aber handelt von seinem Gegenstand auch in der Encyclopédie der Artikel „Ode“ (Bd. 11, 1765, S. 344–347), der zuerst im Anschluß an das Dictionnaire de Trevoux die Bedeutung des Begriffs in der Antike und in der französischen Dichtung der Neuzeit erläutert⁵¹ und dann – unter Berufung auf Boileau und Batteux und im Anschluß an sie – ausführlich vor allem „l’enthousiasme, le sublime lyrique, la hardiesse des débuts, les écarts, les digressions, enfin le desordre poétique“ als Merkmale der Ode einzeln erörtert und diese Darlegung wesentlicher Teile der zeitgenössischen Odentheorie mit historischen und kritischen Hinweisen ergänzt. Das Nebeneinander der Begriffe „lyricus/lyrique/lyrisch“ und „Ode“ wie die Verschiebungen im Verhältnis zwischen ihnen, das wachsende Eigengewicht des Begriffs „Ode“ in den Enzyklopädien und seine zunehmend ins Detail gehende Behandlung belegen gleichermaßen, mit welcher Selbstverständlichkeit bis tief ins 18. Jahrhundert hinein der Begriff „lyrisch“ Bezeichnung allein für sangbare strophische Dichtung bleibt, wie man sie in der Ode verkörpert sieht. Wenn dabei aber die Ode nun nicht mehr bloß beiläufig angeführtes Synonym ist, sondern – durch an Umfang wachsende Artikel hervorgehoben – so sehr zum Inbegriff lyrischer Dichtung wird, daß viele Einzelbestimmungen von deren Theorie nur unter dem Stichwort „Ode“ behandelt werden, vielfach vom Artikel „lyricus/lyrique/lyrisch“ ausdrücklich auf jenen verwiesen wird und dieser für einige Zeit eher von untergeordneter Bedeutung ist, bevor der Begriff seit dem späteren 18.  Jahrhundert dann in einem sich wandelnden Gattungssystem eine erweiterte und damit veränderte Bedeutung erhält (die er nicht zuletzt erst durch die vorausgegangene Verselbständigung des Begriffs „Ode“ erhalten kann), so hängt dies freilich auch aufs engste damit zusammen, daß

umfangreiche Gottsched-Exzerpt zur Ode ein Indiz für die wohl noch immer ungeklärte Frage einer unmittelbaren Beteiligung Gottscheds an Zedlers Lexikon ist (vgl. Kossmann, Deutsche Unviersallexika, Sp. 1570; Quedenbaum, Zedler, S. 59f.), muß dahingestellt bleiben. 51 d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd.  11, S.  344: „Dans la poésie greque & latine, l’ode est une piece de vers qui se chantoit, & dont la lyre accompagnoit la voix. Le mot ode signifie chant, chanson, hymne, cantique. Dans la poésie françoise, l’ode est un poëme lyrique, composé d’un nombre égal de rimes plates ou croisées, & qui se distingue par strophes qui doivent être égales entr’elles …“

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der Begriff der Ode seinerseits jetzt – wie aus der Poetikliteratur und dann auch aus entsprechenden Spezialschriften näher zu belegen wäre – weiter entfaltet und genauer bestimmt wird und sein vermehrtes eigenständiges Gepräge insbesondere durch die bevorzugte oder auch fast ausschließliche Bestimmung als Dichtung hohen Stils gewinnt. Vorbereitet war dies – wie die immer wieder begegnende Berufung auf Scaliger in den Enzyklopädien vor Augen führt – durch die humanistische und barocke Poetik und durch die von ihr zunehmend aufgenommenen Ergebnisse der im frühen 16.  Jahrhundert einsetzenden Pindar-Rezeption. Verstärkt wird die auf diesem Fundament sich vollziehende weitere Entfaltung des Begriffs der Ode als hoher Dichtung seit dem späten 17. Jahrhundert durch Impulse, die vor allem von der allmählich einsetzenden Ps.Longin-Rezeption und der damit verbundenen Erweiterung der Vorstellungen vom Erhabenen und vom dichterischen Enthusiasmus ausgehen. Kennzeichnendes Indiz dieses Vorgangs ist es, daß man – in Artikeln zur Ode, aber auch zu damit verwandten Stichwörtern – nun immer wieder den Vers „Chez elle un beau desordre est un effet de l’art“ auch in den Enzyklopädien zitiert findet,⁵² in welchem die Behandlung der Ode im Art poétique (1674) Boileaus, des französischen Ps.Longin-Übersetzers, gipfelt.⁵³ Boileau, der in den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts in wachsendem Grade neben Scaliger und immer mehr an seiner Stelle als maßgebliche Autorität in Fragen der Poetik hervortritt,⁵⁴ hat mit jenem Vers – das ist einer verbreiteten

52 Vgl. u. a. Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 1338 s.v. Ode (zit. zusammen mit den Versen 58–60, 62, 68, 71); Bd. 5, Sp. 231 s.v. Pindare (dieser Artikel noch nicht in der Erstausgabe von 1704); ferner ohne wörtliches Zitat Bd. 4, Sp. 434 s.v. Lyrique, im Blick auf Pindar; Chambers, Cyclopaedia, Bd.  2, Bl.  8Y2 r s.v. Pindaric (in englischer Prosaversion); d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd. 4, S. 1067 s.v. Dithyrambique; Bd. 11, S. 344 s.v. Ode (im Anschluß an das Dictionnaire de Trevoux, mit der dem Zitat folgenden Feststellung: „C’est M. Boileau qui parle, & qui dans ses beaux vers si dignes de la sublime matiere qu’il traite, donne sur cette espece de poésie des préceptes excellens ...“); Bd. 12, S. 639 s.v. Pindarique; Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 4, S. 88, 90 s.v. Ode (im Rahmen eines aus Marmontel übernommenen Teils des Artikels, vgl. dazu unten bei Anm.  56). Ohne ausdrückliche Erwähnung Boileaus oder seines Verses begegnet die entsprechende Vorstellung vom Bau der Ode u. a. bei Jablonski (vgl. das Zitat aus der Auflage von 1767 in Anm. 47) oder bei Zedler (vgl. das Zitat in Anm. 50, das auf Gottsched zurückgeht, der seinerseits kurz nach der von Zedler benutzten Stelle seiner Critischen Dichtkunst ebenfalls jenen Vers Boileaus zitiert). Das auf Boileaus Vers verweisende deutsche Stichwort „lyrische Unordnung“, das auch z. B. die Aesthetik F. Th. Vischers (Bd. 3/II, Stuttgart 1857, S. 1335) noch kennt, wird – mit einiger Reserve – u. a. noch erwähnt in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Bd. 8, 81835, S. 31; Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 9, 41843, S. 318. 53 II,72 (vgl. Nicolas Boileau, L’Art Poétique, hrsg. v. August Buck, München 1970, S. 67). 54 Vgl. dazu u. a. auch Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 3, Bl. Q3r s.v. Poëtique; Walch, Philosophisches Lexicon, Bd. 2, Sp. 458 s.v. Poesie; Chambers, Cyclopaedia, Bd. 1,

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Meinung entgegenzuhalten – nicht etwas ganz Neues formuliert. Die seit den ersten humanistischen Kommentaren beobachteten Digressionen Pindars sind bereits im 16. und 17.  Jahrhundert ein zentrales Moment der Pindar-Rezeption und der von ihr beeinflußten Poetik und führen z. B. schon bei Vossius zu entsprechenden Wendungen. Aber Boileau hat mit seinem Vers die Vorstellungen von der erhabenen, durch den poetischen Enthusiasmus getragenen und darum in ihrem Bau eigenwilligen Ode für das 18. Jahrhundert besonders wirkungsvoll formuliert. Mit der bis in die Konversationslexika des frühen 19. Jahrhunderts anhaltenden direkten oder indirekten Berufung gerade auf ihn bestätigt das enzyklopädische Schrifttum aufs eindringlichste die Rolle, die Boileau insbesondere mit dem Vers vom beau desordre der Ode für die weitere Ausprägung von deren Theorie im 18. Jahrhundert gespielt hat. Ergänzt wird dieses Bild, das die Enzyklopädien von der Entwicklung dieser Theorie bieten, dadurch, daß d’Alemberts und Diderots Encyclopédie und deren Supplément für die einschlägigen Artikel neben und über Boileau hinaus zwei andere Werke, die für die weitere Entwicklung der Poetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders einflußreich gewesen sind, ausgiebig heranziehen. Der Artikel „Ode“ der Encyclopédie (Bd. 11, 1765) enthält umfangreiche Auszüge aus dem Cours de Belles-Lettres, ou Principes de la Litterature von Charles Batteux,⁵⁵ worin – eingehender als in seiner Schrift Les Beaux Arts réduits à un même Principe (1746) – unter intensiver Benutzung der Begriffe des „enthousiasme“ und des „sublime“ die bis dahin herausgebildeten Bestimmungen der Ode erörtert werden, um auch im einzelnen für die „Poësie lirique“ als „celle qui exprime le sentiment“ (S. 8) nachzuweisen, daß sie „est soumise au principe de l’imitation“ (S. 1). Auch die Artikel „Poésie lyrique“ (Bd. 12, 1765, S. 839) und „Poete lyrique“ (S. 845ff.) der Encyclopédie bestehen zum größten Teil in Auszügen aus demselben Teil des Werks von Batteux, der zwar mit seiner Fassung des Begriffs der Naturnachahmung sehr rasch vehementen Widerspruch gefunden hat, um die Mitte des 18. Jahrhunderts aber von erheblichem produktiven Einfluß auf die Entwicklung des Dichtungsverständnisses insgesamt und auf die Diskussion der Oden- und Lyriktheorie insbesondere gewesen ist. Das Supplément à l’Encyclopédie (Bd. 4, 1777) ergänzt (S. 94–100) den Artikel „Ode“ des

Bl. 3Ii1r s.v. Elegy; Zedler, Universal Lexicon, Bd. 28, Sp. 980 s.v. Poesie (in erheblichen Teilen identisch mit dem entsprechenden Artikel bei Walch); d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd. 5, S. 484 s.v. Elégie; Bd. 12, S. 848 s.v. Poétique. 55 Charles Batteux, Cours de Belles-Lettres, ou Principes de la Litterature (11747–1748), Nouvelle Edition, Bd. 3, Frankfurt: Bassompierre/Berghen 1755 [StB Berlin], S. 1–83: Troisième Section. Sur la Poësie lirique.

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Hauptwerks – nach einer fast vollständigen Wiedergabe (S. 88–94) des einschlägigen Kapitels der 1763 erschienenen Poetik Marmontels,⁵⁶ worin das Bild der Ode ebenfalls stark vom Enthusiasmus bestimmt ist – durch den Artikel über die Ode in J. G. Sulzers erst kurz zuvor (1771–1774) erschienener Allgemeiner Theorie der schönen Künste,⁵⁷ der bezeugt, wie die im 18. Jahrhundert immer entschiedener vom Enthusiasmus und vom Erhabenen bestimmte Ode für einige Zeit nicht nur Inbegriff lyrischer Dichtung ist, sondern einer immer stärker als Ausdruck wahrer Empfindung verstandenen Dichtung überhaupt, und am Ende bis zur deutschen Odendichtung der Zeit, zu Pyra, Lange, Uz, Ramler und Klopstock führt.⁵⁸ In dem Maße, in welchem die Enzyklopädien nach und nach den erhabenen Charakter der Ode immer stärker hervorheben, lassen sie zugleich erkennen, daß diese Entfaltung der Odentheorie den Ansatzpunkt für einen Prozeß der Differenzierung in der Lyriktheorie insgesamt bietet, welcher für deren weitere Geschichte im 18. und frühen 19.  Jahrhundert ausschlaggebend geworden ist. Das bezeugt sich in zunehmend verbreiteten Bemerkungen über gewisse Unterschiede in der Bedeutung der Begriffe „lyrisch/lyrique/lyricus“ und „Ode“ in Antike und Neuzeit und vor allem im Aufkommen des neuen Stichworts „Lied/ chanson/song“. Beide Momente sind übrigens offenkundig auch verknüpft mit der wachsenden Selbständigkeit einer aus der Übertragung humanistischer Impulse hervorgegangenen Dichtung in den einzelnen Nationalsprachen und mit der sich mehrenden Zahl enzyklopädischer Werke in den Nationalsprachen anstelle der lateinisch verfaßten – ein Vorgang, auf welchen hier nur beiläufig hingewiesen werden kann, ohne daß seine Geschichte und seine Konsequenzen an dieser Stelle im einzelnen verfolgt werden könnten. Anfänglich wird in den frühneuzeitlichen Enzyklopädien, die ebenso wie die speziellen Werke zur Poetik zunächst nur die antiken Muster vor Augen haben, die geläufige etymologische Herleitung des Wortes „lyricus“ von der Lyra und die damit verbundene Vorstellung vom Singen der als „lyrica/lyrica

56 Vgl. Jean François Marmontel, Poetique Françoise, Bd.  2, Paris: Lesclapart 1763 [HAB Wolfenbüttel], S. 408–453, Chapitre XVI: De l’Ode. 57 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd.  3, S.  538–550 im Nachdruck (Hildesheim/New York 1967) der Ausgabe Leipzig 1792, die dem Erstdruck getreu entspricht. 58 Vgl. ferner im Supplément den ebenfalls auf Sulzer beruhenden Artikel „Poëme“ (Bd.  4, 1777, S. 422–426), worin z.T. Aspekte der Lyriktheorie behandelt werden. – Auch in der Deutschen Encyclopädie (1778ff. [Stadtb. Mainz]), von der nur die Bde. 1–23 (A-K) erschienen sind und in der daher Artikel wie „lyrisch“ oder „Ode“ leider fehlen, lassen die vorhandenen Artikel zu Aspekten der Poetik eine enge Anlehnung an Sulzer erkennen.

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carmina“ bezeichneten Gedichte ohne irgendeine Erwägung historischer Differenzen geboten. Allenfalls begegnet dabei einmal wie bei Alsted ein leicht einschränkendes „olim“.⁵⁹ Seit dem späten 17. Jahrhundert aber fallen dabei in wachsender Zahl abgrenzende Bemerkungen auf, sei es, daß der antiken Ode als der vielfältige Gegenstände umfassenden die neuzeitliche, insbesondere nationalsprachliche als die vorwiegend oder ausschließlich erhabene entgegengesetzt, sei es, daß jene als Bezeichnung für alle Arten von Gesängen von der neuzeitlichen als einer nicht mehr wirklich gesungenen unterschieden wird.⁶⁰ Das Supplément zur Encyclopédie d’Alemberts und Diderots, die ähnlich formuliert hatte wie die Vorgänger,⁶¹ verschärft derartige Hinweise an verschiedenen Stellen: Le poëme lyrique chez les Grecs, étoit non-seulement chanté, mais composé aux accords de la lyre: c’est là d’abord ce qui le distingue de tout ce qu’on appelle poésie lyrique chez les Latins & parmi nous … A cet égard le poëme lyrique, ou l’ode, chez les Latins & chez les nations modernes, n’a été qu’une frivole imitation du poëme lyrique des Grecs: on a dit, je chante, & on n’a point chanté; on a parlé des accords de sa lyre, & on n’avoit point

59 Vgl. dazu den Anfang des weiter oben gebotenen längeren Zitats aus Alsted, Encyclopædia, Bd. 1, S. 525. 60 Vgl. u. a. Richelet, Dictionnaire François, Bd. 2, S. 83 s.v. Ode (zitiert oben im Text kurz vor Anm. 47); Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 2, Bl. Hhhh3v: „Chez les Anciens l’Ode ne signifioit autre chose que chant. Ils les faisoient à l’honneur de leurs Dieux, comme les Odes de Pindare; quelquefois sur d’autres sujets, comme celles d’Anacreon. Horace a excellé à faire des Odes sur diverses matieres. Les Odes Françoises sont faites pour loüer les Heros, & non pas pour mettre en chant …”; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 1337: „Dans la Poësie Grecque & Latine, l’Ode est une pièce de vers propre à être chantée, & faite pour cela … Dans la Poësie Françoise l’Ode est un Poëme lyrique, mêlé de grands & de petits vers, composés d’un nombre égal de rimes plates, ou croisées, & qui se distingue par stances, ou strophes … L’Ode demande beaucoup de noblesse & de grandeur … Chez les Anciens l’Ode ne signifioit autre chose que chant …“ (der erste der zitierten Sätze noch nicht in der Erstausgabe von 1704); Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1767, S.  819 s.v. Lyrisches Gedicht; S.  979 s.v. Ode (so noch nicht in der Erstausgabe von 1721); Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. 7L1v s.v. Ode (ähnlich wie im Dictionnaire de Trevoux); Zedler, Universal Lexicon, Bd. 18, Sp. 1547 s.v. Lyricum carmen (ähnlich wie Jablonski, unmittelbar abhängig offenkundig von der in Anm. 44 zitierten Stelle bei Hederich); Bd. 25, Sp. 446 s.v. Ode: „ ... war bey den Griechen und Römern der allgemeine Name aller Lieder, und begreifft vielerley Gattungen unter sich ... In heutiger Poesie ists ein Gedicht, welches mit etlichen Absätzen, die alle ein gleiches Zeilen- und Reimenmaaß haben, durchgeführet wird: Ein Lied“; Gottsched, Handlexicon, Sp. 1040 s.v. Lyrisches Gedicht; Sp. 1190 s.v. Ode (an beiden Stellen ähnlich wie Jablonski). 61 d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd.  9, S.  780 s.v. Lyrique; Bd.  11, S.  344 s.v. Ode (z.T. zitiert oben in Anm. 51); diese Stellen übereinstimmend teils mit Furetière, teils mit dem Dictionnaire de Trevoux bzw. Chambers.

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de lyre. Aucun poëte, depuis Horace inclusivement, ne paroît avoir modelé ses odes sur un chant.⁶²

Noch weiter zugespitzt findet man die Unterscheidung von antiker und neuzeitlicher Ode schließlich in enzyklopädischen Nachschlagewerken des frühen 19. Jahrhunderts: Ode ... hieß bei den Griechen jeder Gesang, d. h. jedes lyrische Gedicht, Lied, welches sich zum Singen eignete ... Die Alten unterscheiden sich in ihren Oden von den gleichnamigen Gedichten der Neuern zunächst dadurch, daß sie den Ausdruck Ode im weiteren Sinne gebrauchten ... Die Neuern haben das Wort Ode erst mit der Nachahmung der Alten aufgenommen. Daher versteht man häufig unter Ode jedes Gedicht, ja überhaupt jedes noch so poesielose Machwerk, in dem eines der bekannten Versmaße der Alten nachgeahmt ist. Da aber ein so fremdes Gewand nur mit Mühe angenommen wird, so wirkt dieses auf die Poesie selbst zurück, und nur da, wo der Gedanke mächtig, kühn, vermag er die schwere Form zu bewältigen, daß in dieser Bewältigung sogar Schönheit heraustreten kann, wie in den Oden von Klopstock. Die Ode hat daher mit Recht bei den Neuern überhaupt die Bedeutung hochfliegender lyrischer Poesie angenommen ...⁶³

Wenn sich hier wie schon im Supplément ein verschärftes Bewußtsein dafür, daß die Ode erst im Lauf der Neuzeit immer mehr und immer ausschließlicher einen erhabenen Charakter angenommen hat, mit Zügen kritischer Distanz gegenüber dieser Ausformung einer von den antiken Mustern hergeleiteten Dichtart paart, so korrespondiert dies jenem anderen Vorgang der Veränderung in der Lyriktheorie des 18. Jahrhunderts, der sich im Stichwortbestand der Enzyklopädien und ihren entsprechenden Ausführungen markant niederschlägt, und seinem Ergebnis: der allmählichen Herausbildung einer Unterscheidung des Liedes als eigener Art von der Ode in einem nun enger gefaßten Sinn und einer daran anschließenden Verschiebung in der Bewertung beider Dichtarten. Für manche

62 Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 3, S. 820 s.v. Lyrique; z.T. ähnlich Bd. 4, S. 433 s.v. Poésie. Vgl. auch Bd. 4, S. 88 s.v. Ode: „L’ode françoise n’est plus qu’un poëme de fantaisie, sans autre intention que de traiter en vers plus élevés, plus animés, plus vifs en couleur, plus véhémens & plus rapides, un sujet qu’on choisit soi-même, ou qui quelquefois est donné. On sent combien doit être rare un véritable enthousiasme dans la situation tranquille d’un poëte qui, de propos délibéré, se dit à lui même, faisons une ode, imitons le délire, & ayons l’air d’un homme inspiré …” 63 Neuestes Conversationslexikon für alle Stände, Leipzig: Leich/Wiegand, Bd. 5, 31836 [UB Mainz], S. 483. Ähnlich die frühen Brockhaus-Ausgaben oder auch Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Section III, Bd. 1, 1830 [UB Mainz], S. 310–335 s.v. Ode, mit eingehenden kritischen Erwägungen zur Anwendbarkeit des neuzeitlichen Begriffs der Ode auf antike Dichtungen.

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enzyklopädischen Werke des späteren 17. und noch des frühen 18. Jahrhunderts ist das Wort „Lied“ bloß die Übersetzung des Wortes „Ode“, und es wird darum nur bei diesem Stichwort erwähnt: „Ode ist in der Poësie ein Gedicht, ... welches Lateinisch ... eigentlich ein Carmen, Teutsch aber ein Lied heisset“.⁶⁴ Solche Belege können von der sprachlichen Seite bekräftigen und damit zusätzlich verständlich machen, daß eine an der Erklärung der antiken Muster und ihrer Übertragung in eine nationalsprachliche Dichtung orientierte Poetik in heimischen Liedformen zunächst sehr unbefangen die Entsprechung zur antiken Ode sieht und, die Wörter nur als Synonyme betrachtend, noch bis hin etwa zu Gottscheds Critischer Dichtkunst beide zusammen unter der Überschrift Von Oden, oder Liedern behandeln kann, obgleich bestimmte Differenzierungen bereits im Gange sind. Daß diese sich freilich schon länger anbahnen, ist auf dem Felde der Enzyklopädie an denjenigen Werken abzulesen, die seit dem späten 17. Jahrhundert „Lied/chanson/song“ neben der nicht lange zuvor zum gesonderten Stichwort gewordenen Ode – und neben ihr meist in engerem Sinne zugeordneten Begriffen wie Dithyrambus und Hymne – zum selbständigen Stichwort machen. Man begegnet ihm früh bei Furetière,⁶⁵ dann im Dictionnaire de Trevoux, bei Jablonski oder Chambers.⁶⁶ Das sind zunächst nur knappe Hinweise, und sie nehmen

64 Hederich, Reales Schul-Lexicon, Sp. 2033. Vgl. auch Nehring, Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon, 81725, S. 814: „Oda, Ode, Odes, & Ital. Ode, ein Lied“; entsprechend schon in der frühen Ausgabe Nehring, Manuale Juridico-Politicum, Frankfurt/Leipzig: Boëtius 1690 [HAB Wolfenbüttel], S. 625 und noch Frankfurt/Leipzig: Brönner 111772 [Stadtb. Mainz], S. 368; Wagenseil, Pera librorum juvenilium, S. 718; Spanutius, Lexicon, Leipzig: Förster 1720 [HAB Wolfenbüttel], S. 341. 65 Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 1, Bl. Xx1r: „Chanson … Petite piece de vers qu’on met en air pour chanter, & qui se chante par le peuple“. 66 Dictionnaire de Trevoux, Bd. 1, Sp. 1948: „Chanson … Petite pièce de vers aisés, simples & naturels, qu’on met en air pour les chanter … La chanson ressemble assez au Madrigal: elle a ordinairement pour objet l’amour, ou le vin … ses vers doivent être aisés, coulans, naturels, & avoir une certaine harmonie … qui marie agréablement la Poësie avec la Musique …“ (der kürzere Artikel in der Erstausgabe von 1704 enthält von den zitierten Sätzen nur den ersten); Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1721, S. 402: „Lied, Canticum, Hymnus, ode: Cantique, Ode, Chanson. Ein geticht, in welchem ein lob, oder ruhm, oder unterweisung mit sinnreichen und zierlichen redarten enthalten. Es wird mehrentheils mit kurtzen gemessenen reimzeilen abgefasset ... welches so dann nach einer dazu gesetzten Weise gesungen werden kan ...“; Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. 11Bb1r: „Song, in poetry, a little composition, consisting of simple, easy, natural verses, set to a tune, in order to be sung ... The song bears a deal of resemblance to the madrigal; and more to the ode, which is nothing but a song according to the ancient rules … Its object is usually either wine or love … the verses are to be easy, natu-

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durchaus noch nicht durchwegs eine konsequente Abgrenzung vor.⁶⁷ Zedlers Universal Lexicon hat sogar zwar auch ein eigenes Stichwort „Lied“ (Bd. 17, Sp. 1010), schreibt dazu aber nur: „siehe Music und Poesie“ und verwendet das Wort im Artikel „Ode“ noch als bloßes Synonym für diese,⁶⁸ und Gottscheds Handlexicon widmet dem Stichwort „Lied“ zwar einige Zeilen (Sp. 1019), verweist aber von dort auf den umfangreicheren Artikel „Ode“ (Sp. 1190f.), jedoch nicht umgekehrt. Gleichwohl lassen die Belege, indem sie Merkmale wie „aisé“, „simple“, „naturel“ betonen, zur Mehrzahl erkennen, wie sich nach und nach, in Anknüpfung an die noch gültige rhetorische Stillehre und die Verschiedenartigkeit der bei Horaz genannten Gegenstände und mit Blick vor allem auf Anakreon als ein neben Pindar und Horaz wirksames Muster, eine Auffassung vom Lied als eigenständiger Art einfacheren Stils neben der zunehmend als erhaben verstandenen Ode entwickelt. Welche Konsequenzen sich schließlich daraus noch ergeben können, deutet sich im Artikel „Chanson“ in d’Alemberts und Diderots Encyclopédie an, der zu Beginn die Formulierungen der Vorgänger vom einfachen Charakter des sangbaren Liedes anklingen läßt, dann aber dazu neigt, den Begriff „chanson“ – statt des zuvor dominierenden Begriffs „Ode“ – zur umfassenden Bezeichnung aller poésie lyrique“ zu machen.⁶⁹ Eine fortgeschrittene Phase sich vollziehender Umwertungen dokumentieren Enzyklopädien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Noch die 6. und 7. Auflage der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie des Verlages Brockhaus stellen zwar im Artikel „Lied“ nach einer Kennzeichnung zunächst der metrischen Form fest: „Innerlich dürfte der Charakter des Liedes insofern verschieden sein, als das Lied einen engern Kreis hat, in welchem es sich bewegt, und den es nicht überschreiten darf. Dieser Kreis ... bleibt nur bei dem Einen stehen, bei dem Ergusse des Gefühls. Die Ode hingegen schweift in das Erhabene aus, und berührt in ihrem Fluge das Geistige und das Irdische, das Hohe und das Tiefe“, klagen aber einleitend: „Die Benennung Lied ist bisher so unbestimmt gebraucht worden, daß es schwer wird, den eigentlichen Charakter desselben genügend zu bezeichnen, und es von den ihm verwandten Gedichten, der Ode und dem Hymnus, zu unter-

ral, flowing, and to contain a certain harmony … which unites poetry and music agreeably together“. 67 Vgl. dazu die Differenzen in den an sich weithin übereinstimmenden Zitaten aus dem Dictionnaire de Trevoux und Chambers in Anm. 66 und die Synonymenreihe im Zitat aus Jablonski in derselben Anmerkung. 68 S. das Zitat in Anm. 60. 69 d’Alembert/Didertot, Encyclopédie, Bd. 3, 1753, S. 139; vgl. auch Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 2, 1776, S. 319f.

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scheiden“.⁷⁰ Schon die 8. Auflage hingegen⁷¹ führt mit gewachsener Sicherheit aus: Lied, eine lyrische Dichtart, ist der einfache dichterische Ausdruck eines in sich abgeschlossenen sanften Gefühls ... Wenn das Wesen der Lyrik überhaupt musikalisch ist, so tritt dies vorzugsweise bei dem Liede hervor, das, als einfachster und unmittelbarster Ausdruck des Gefühls, sich, seiner Natur nach, in musikalischen Rhythmen und Abschnitten bewegt und seine Melodie mit sich auf die Welt bringt ... Aus dem Gesagten ergibt sich, daß jede Entfernung von dem Naturgemäßen die Wesenheit des Liedes zerstört; keine Gattung fodert mehr den Charakter der Volksthümlichkeit, und keine ist durch den eingebildeten Vorzug classischer Muster mehr beeinträchtigt worden als diese ... Der heutige Sprachgebrauch unterscheidet das Lied von der Ode, und in der That bewegt sich das erstere, als der Ausdruck einer gemäßigtern Empfindung, in einem engern Kreise, der jene Mannichfaltigkeit der Darstellung ausschließt, mit der die Ode in ihrem Fluge das Irdische wie das Geistige, das Tiefste wie das Höchste berührt.

Das letzte Ergebnis eines Umwertungsprozesses, für dessen Einzelheiten Werke wie die Ästhetik Hegels oder Vischers ergiebige Quellen sind, und die Selbstverständlichkeit seines Ergebnisses, mit dem das Lied, verstanden als natürlichste und unmittelbarste Form, an der Stelle der Ode zum Inbegriff von lyrischer Dichtung geworden ist, spricht am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem einschlägigen Artikel in Meyers Konversations-Lexikon: Lied, die Hauptart der lyrischen Dichtungsgattung. Es ist im allgemeinen als diejenige Art der Dichtung zu charakterisieren, bei welcher in unmittelbarster und darum einfachster Weise das eine Persönlichkeit erfüllende Gefühl, die Stimmung ... zum sprachlichen Ausdruck gelangt, daher keine Art der Poesie ein so inniges Verhältnis zur Musik hat als das L. ... Das eigentliche L. ist jederzeit einfach, ungekünstelt in Sprache und Form, seinem Inhalt nach von dem abstrakt Gedanklichen, Reflexionsmäßigen möglichst weit entfernt ... bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrh. gelang es nur wenigen Kunstdichtern, den echten Liederton zu treffen ... Die vollendetsten Schöpfungen im Bereich des Kunstliedes sind Goethes Lieder, die an Innigkeit, melodischer Klangfülle, herzbewegender Einfachheit und formeller Vollendung nicht nur in der deutschen, sondern in der Litteratur aller Völker ihresgleichen suchen.⁷²

70 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 5, 61824, S. 741f.; sehr ähnlich Bd. 6, 71830, S. 590f. 71 Ebda., Bd. 5, 81834, S. 642f. 72 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 11, 51896 [Privatbesitz], S. 336. Der Beleg ist nicht als Hinweis auf eine absolute Datierung gemeint; ähnliche Formulierungen mögen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon vorher in Auflagen des Meyer oder des Brockhaus finden, die mir nicht zur Verfügung stehen. Im ersten, von Karl Rosenkranz stammenden Teil des Artikels „Ode“ in Ersch/Grubers Allgemeiner Encyclopädie der Wissenschaften und Künste

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Wie tiefgreifend die im 18. Jahrhundert in Gang gekommene und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts abgeschlossene Veränderung der Lyriktheorie ist – die in umfassende Wandlungen des Dichtungsbegriffs eingebettet ist und sich übrigens am erweiterten, zuletzt auch die Elegie einschließenden Lyrikbegriff und der zunehmenden Selbstverständlichkeit seiner Einfügung in die von der idealistischen Ästhetik nachhaltig sanktionierte, an die Stelle eines älteren, vielfältigeren und lockeren Systems von Dichtungsarten getretene Gattungstrias innerhalb der Enzyklopädien verfolgen ließe⁷³ –, das machen die Enzyklopädien auf drastische Weise schließlich auch sichtbar an Verfall und Ablösung der antiken Muster lyrischer Dichtung. Über Jahrhunderte hin gelten Pindar und Horaz unangefochten als principes lyricorum, als die maßgeblichen Muster lyrischer Dichtung. So sagen es schon die Titel der Ausgaben ihrer Gedichte, so sehen es die Werke der Poetik, so prägen es auch die Enzyklopädien ein.⁷⁴ Neben Pindar und Horaz kommt selbst Anakreon, wie Pindar einer der neun kanonischen griechischen Lyriker, als Muster in der Theorie kaum auf,⁷⁵ auch wenn seine jahrhundertelange produktive Wirkung so wie dann auch sein Anteil an einer allmählichen Unterscheidung lyrischer Arten nicht zu verkennen ist. Catull aber, dessen Werk nur wenige Oden enthält, kommt darum für die frühe Neuzeit als lyrischer Dichter lange nicht in Betracht.⁷⁶ Er ist auch für die Enzyklopädien nur unter den Epigrammatikern „in hoc genere princeps“⁷⁷ und neben Tibull und Properz einer der „Princes de l’Elégie“.⁷⁸

(III,1, S. 319) heißt es übrigens schon 1830, das Lied sei „als der innigste Ausdruck des dichterischen Gemüthes im reinsten Sinne lyrisch, fühlend, subjectiv“. 73 Zu vergleichen wären dazu Artikel zu Stichworten wie „Elegie“ und „Poem“, „Poesie“, „Poet“, „Poetik“, nach und nach auch „Dichter“, „Dichtkunst“, „Dichtungsarten“. 74 Vgl. u. a. die in Anm.  23 und 24 angeführten Stellen. Die Belege dafür sind bis ins späte 18. Jahrhundert in den entsprechenden Personalartikeln und den Artikeln zu Stichworten wie „Ode“, „lyricum carmen“ und so fort so zahlreich und selbstverständlich, daß sich weitere Einzelnachweise erübrigen. 75 Bezeichnend noch im Artikel „Anacréontique“, der auch Anakreon selbst behandelt, in d’Alemberts und Diderots Encyclopédie der Satz: „Le tendre, le naïf, le gracieux, sont les caracteres du genre anacréontique qui n’a mérité le nom de lyrique dans l’antiquité, que parce qu’on le chantoit en s’accompagnant de la lyre: car il differe entierement & par le choix des sujets & par les nuances du style, de la hauteur & de la majesté de Pindare“ (Bd. 1, 1751, S. 396). 76 Allenfalls werden bei den Angaben über ihn die libri tres seiner poemata genannt, „quorum primus lyrica ... continet“ (Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587, S. 148). Ähnlich z. B. bei Gesner, Bibliotheca Vniversalis, Bl. 159 v; ganz vereinzelt steht, soweit ich sehe, seine Bemerkung: „A Fabio Quintiliano & Diomede inter Iambicos reponitur, ab alijs inter Lyricos“ (Bl. 160r). 77 Beyerlinck, Magnum Theatrum, Bd. 6, S. 473. 78 Dictionnaire de Trevoux, Bd. 2, Sp. 1615 s.v. Élégie.

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Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert jedoch bieten die Enzyklopädien Indizien für sich anbahnende Umwertungen. In der Deutschen Encyklopädie kann Catull beiläufig einmal als Vertreter „der lyrischen Dichtkunst ... bey den Römern“⁷⁹ neben Horaz figurieren. In Enzyklopädien des frühen 19.  Jahrhunderts wird da und dort mehr oder weniger verhaltene Kritik an den alten Mustern laut. Von Pindar kann es, bei fortwährendem Ansehen, doch heißen: „Nicht alles indeß, was wir noch von diesem großen Dichter haben, ist gleich vortrefflich und anziehend. Manche machen ihm den Vorwurf, daß seine Metaphern bisweilen zu gesucht, zu frostig seien, und finden den Gang seiner Gedanken zuweilen allzu regellos und ausschweifend ... Genug, daß nach dem Urtheile der größten Männer die pindarischen Gesänge zu dem Schönsten und Herrlichsten gehören, was uns aus dem Alterthume übrig geblieben ist“.⁸⁰ Von Horaz meint dasselbe Werk zwar: „Will man den Horaz als Lyriker würdigen, so vergesse man nicht, daß er unter den Römern der erste war, welcher die römische Sprache für die lyrische Poesie ausbildete“, stellt jedoch auch fest: „Zugegeben aber, daß man Horaz, dem Lyriker, Originalität nicht zugestehen könne, so wird sie doch Niemand Horaz, dem Satyriker, absprechen“, und es moniert an anderer Stelle: „Schon Horaz verfällt oft in den Reflexionston, und seine Bilder sind nicht selten nur kalte Erzeugnisse einer gereizten Phantasie“.⁸¹ Mit Urteilen von noch weitergehender Entschiedenheit aber bekräftigt wiederum im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Meyers Konversations-Lexikon die Umwertung der Muster, die sich im Zusammenhang der Veränderungen des Lyrikverständnisses vollzogen hat. Pindar zwar gilt dank seinem althergebrachten hohen Ruhm doch weiter als „der größte lyrische Dichter der Griechen“, dem allerdings nachdrücklich ein wohl „kunstvoller, freilich oft durch Nebengedanken und Einflechtung passender Mythen verdunkelter Plan“ nachgesagt wird.⁸² Insbesondere gegen die Oden des Horaz aber richten sich schwerwiegende Vorbehalte: „Allerdings reicht seine poetische Begabung keineswegs an seine großen Vorbilder heran; Gefühl und Phantasie werden bei ihm durchaus vom Verstand überwogen, und die Vorzüge seiner lyrischen Dichtungen ... bestehen nicht in der Wärme der Empfindung, noch in der Tiefe der Gedanken, sondern in der Klarheit der Anlage, der Feinheit u. Gewandtheit des Ausdrucks, der Bestimmtheit, Reinheit und Schönheit der

79 Deutsche Encyklopädie, Bd. 7, 1783 [Stadtb. Mainz], S. 206 s.v. Dichter. 80 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 7, 61824, S. 571. 81 Ebda., Bd. 4, 61824, S. 839 s.v. Horaz; Bd. 7, 61824, S. 28 s.v. Ode. 82 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 13, 51896, S. 938f. – Zur Berufung auf dieses Werk vgl. die Bemerkung in Anm. 72.

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Sprache und der Strenge des Versbaues“.⁸³ An seiner Stelle ist nun ein anderer, welcher der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie noch in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts erst als „einer der besten römischen Dichter“ oder „ein berühmter römischer Dichter“ galt,⁸⁴ endgültig zum eigentlichen Muster lyrischer Dichtung der Antike aufgestiegen: Catull – „der größte röm. Lyriker“.⁸⁵

III. Was enzyklopädische Werke in ihren Darlegungen zur Lyrik und ihrer Theorie, die hier durch einige Jahrhunderte hindurch im Überblick nachgezeichnet worden sind, zu bieten vermögen, ist gewiß keine vollständige Lehre von der Lyrik und ebenso keine erschöpfende Geschichte dieser Theorie. Vieles, was zur jeweiligen Theorie der Lyrik gehört, findet sich in den zahlreichen speziellen Werken der Poetik eingehender, genauer, vielschichtiger, wohl auch widersprüchlicher dargelegt, viele kleine Schritte allmählicher Umdeutung und Veränderung, in welchen sich solche Geschichte vollzieht, sind nur in jenen Werken wahrnehmbar. Manches Einzelne, was zum Kernbestand der entsprechenden Abschnitte in Werken der Poetik zählt – die Kürze lyrischer Gedichte etwa oder die Forderung nach Vermeidung des Enjambements, lange Zeit unabdingbares Merkmal lyrischer Gedichte für die deutschsprachige Poetik –, spielt in den Enzyklopädien nur eine begrenzte Rolle, sei es, weil sie, die länger als die Poetik an der lateinischen Sprache festhalten, damit auch lange auf die antiken Muster mehr als auf die Entwicklung der nationalsprachlichen Dichtung gerichtet sind und deshalb beispielsweise auch später als die Poetik die zunächst so fraglose Identifizierung heimischer Liedformen mit der antiken Ode in ihrer Terminologie sichtbar werden lassen, sei es, weil sei gemäß ihrer Funktion eher Zusammenfassung gelehrten Wissens als praktische Anweisung sein wollen, sei es natürlich auch, weil überhaupt die Einläßlichkeit der Sachdarlegung in Enzyklopädien zwangsläufig in hohem Grade abhängig ist vom jeweiligen Typus, vom je besonderen Zuschnitt und Zweck. Die Enzyklopädien formulieren – auch wenn manche gelehrt-ausführliche, wie die eingangs zitierten Zeugnisse zeigen, geeignet ist, den Zeitgenossen mehr als nur oberflächliche Information zu vermitteln – gewiß auch nicht immer den allerneuesten Stand der Meinungen und Diskussionen, weil sich ihnen Bestandsaufnahme und nicht Fortentwicklung von Wissen

83 Ebda., Bd. 8, 51895, S. 1014f. 84 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd.  2, 61824, S.  409; Bd.  2, 71830, S.  517; Bd.  2, 81833, S. 499. 85 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 3, 51894, S. 927.

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und Ansichten als Aufgabe stellt. Mit Verzögerungen in der Rezeption aktueller Vorstellungen ist dabei – so sehr in bestimmten Fällen die Benutzung neuester Schriften zum Gegenstand offenkundig ist – auch deshalb vielfach zu rechnen, weil die Größe der Aufgabe, vielfältiges Wissen in teilweise vielbändigen Werken zusammenzufassen, einen anderen Zeitablauf bedingen muß als die Abfassung einer einzelnen Poetik und zudem begreiflicherweise die vielfach zu beobachtende Anlehnung an Vorgänger oder das Ausschreiben von anerkannten Quellen besonders nahelegt.⁸⁶ Gleichwohl stellen die einschlägigen Passagen in enzyklopädischen Werken nicht lediglich einen beschränkten Auszug dessen dar, was in der jeweiligen zeitgenössischen Poetik besser zu lesen wäre. Die Aufgabe, Zusammenfassung und Überblick zu geben, und der Zwang zur Auswahl des Details und zu mehr oder weniger knapper Definition und Beschreibung können vielmehr ebenso wie die Verschiebungen im Stichwortbestand, im Umfang der Artikel und in ihrem sachlichen Verhältnis zueinander manches schärfer als im ausführlichen Kontext der Poetik hervortreten lassen, können über Jahrhunderte tradierte Konstanten besonders auffällig machen, die lange Geltung bestimmter Autoritäten besonders eindringlich vor Augen führen, können aber auch die gleichwohl sich vollziehenden Veränderungen, ihre Hauptphasen, ihr Ausmaß und ihre Ergebnisse besonders nachdrücklich markieren. Sangbarkeit, strophische Gliederung, auch Vielfalt der Versformen etwa erweisen sich, weil sie eigentlich überall genannt und an die Spitze der Darlegungen gestellt werden, gerade im Spiegel der Enzyklopädien als ein jahrhundertelang gültiges Hauptbestimmungsmerkmal lyrischer Dichtung, das den gegenüber einem jüngeren, bis heute wirksamen Verständnis des „Lyrischen“ sehr andersartigen, auf strophische Gedichte begrenzten, damit aber auch sehr konkreten Sinn des Wortes „lyricus/lyrisch“ ebenso begreiflich macht wie die eng damit zusammenhängende, lang anhaltende Gleichsetzung antiker Oden und nationalsprachlicher Liedformen. Auch die allmähliche Modifikation und schließliche Auflösung dieser Gleichsetzung wie das wachsende Bewußtsein von Unterschieden zwischen antiker und sich weiterentwickelnder neuzeitlicher lyrischer Dichtung und die zunehmende Ausprägung eines erhabenen Charakters der Ode, auf die vielfach durch die so oft wiederholte Formel Boileaus vom beau desordre hingedeutet wird und die eng mit dem in der Poetik wirksam werdenden Begriff des Enthusiasmus verknüpft ist, lassen sich als Indiz und Triebkraft einer sich vollziehenden

86 Dafür geben viele der Anmerkungen zu diesem Beitrag eine hinreichende Zahl von Belegen, ohne doch die Abhängigkeiten zwischen den hier ausgewerteten Enzyklopädien und deren sonstige Quellen erschöpfend aufdecken zu können.

Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel 

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Differenzierung lyrischer Arten an der Abfolge der Enzyklopädien anschaulich ablesen. Sie bekräftigt aber auch in einprägsamer Weise die jahrhundertelange Geltung und nachhaltige Wirkung von Pindar und Horaz als Mustern lyrischer Dichtung wie deren spätere Abwertung und dann ihre Ablösung durch den früher neben ihnen nie genannten, ja für eine ältere Auffassung von lyrischer Dichtung neben ihnen gar nicht denkbaren Catull. Die spätantiken Grammatiker und die neuzeitlichen Theoretiker Scaliger, auch Vossius, dann Boileau, Batteux und schließlich Sulzer, deren Gewicht auch in der Poetikliteratur nicht zu verkennen ist, erweisen sich in den Enzyklopädien mit besonderer Deutlichkeit als Hauptquellen und Hauptautoritäten einer Lyriktheorie, deren Phasen sich auch an der Abfolge dieser offenkundig ungemein wirksamen Gewährsleute, ihrer Ablösung oder Ergänzung nachzeichnen lassen. Weil ihre Absicht und Aufgabe sein muß, dasjenige zu bieten, was zu ihrer Zeit als wesentlich und gültig angesehen wird, können die Enzyklopädien als Quellen gelten, die die systematischen Werke der Poetik zu ergänzen vermögen. Was Enzyklopädien aufnehmen und was in ihnen allenthalben zu finden ist, wird man, gerade weil sie auswählen müssen, als Spiegelung verbreiteter Anschauungen ihrer Zeit verstehen dürfen, als Zeugnisse literarischer Vorstellungen und Erwartungen, die nicht allein beliebige Meinung einzelner Theoretiker, sondern Allgemeingut sind und in ihrer Geltung durch die Aufnahme in Enzyklopädien befestigt und auch durch sie nachhaltig verbreitet werden. In solchem Sinne können die Enzyklopädien der frühen Neuzeit die methodische Bedeutung der Poetikliteratur als eines Schlüssels zum andersartigen Literaturverständnis früherer Epochen, zu Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur in vergangenen Jahrhunderten und zu den Wandlungen der Literatur im Lauf ihrer Geschichte bestätigen und in deren Ergänzung auch selbst als solcher Schlüssel dienen. Auch im Felde literarischer Theorie tut darum ein auf Verstehen des Vergangenen in seiner fremden Eigenart gerichtetes historisches Interesse gut daran, sich der frühneuzeitlichen Enzyklopädien als einer ergiebigen und perspektivenreichen Quelle anzunehmen und dabei auf solche Beschäftigung mit einer Vielzahl von gelehrten Büchern als Motto umzumünzen, was Morhof einst zur Rechtfertigung einer wahren Polymathia und ihrer enzyklopädischen Darstellung gesagt hat: „Est scilicet quædam scientiarum cognatio & conciliatio, unde & ἐgkuklopaideίan vocant Græci, ut in una perfectus dici nequeat, qui ceteras non attigerit“.⁸⁷

87  Morhof, Polyhistor, Bd. 1, S. 2 (Lib. I, cap. 1, § 3).

Teil II: Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

1 Das barocke Epicedium Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert „Mit einem ästhetischen Schauder nur“ – so beginnt im Jahre 1909 ein Aufsatz über Deutsche Gelegenheitsdichtung bis zu Goethe – „vermag man die Gesamtausgabe eines Durchschnittsdichters der deutschen Renaissance aufzuschlagen, wenn man sie zu einem anderen Zweck als dem von vornherein entsagungsvollen wissenschaftlicher Kleinarbeit in die Hand nehmen sollte. Nur selten fällt eine persönliche Formung in die Augen, klingt ein Herzenston auf in diesen Unendlichkeiten von Reimereien, die durch die unbedeutendsten und zufälligsten ‚Ereignisse‘ veranlaßt sind“.¹ Knapp zwei Jahrzehnte später heißt es im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte im Artikel Gelegenheitsgedichte zwar einerseits: „In der Gelegenheitsdichtung darf man mit Recht den charakteristischsten Ausdruck der Lyrik des 17. Jhs. sehen“; zugleich aber fährt der Artikel fort: „Ihr Überhandnehmen ist nur denkbar in einer Zeit seelischer und geistiger Armut. Es ist begründet im Geist jenes Jhs., der zwar aufstrebte, sich aber noch nicht zu schöpferischer Befreiung des inneren Menschen hindurchgerungen hatte und deshalb noch tote Formeln und Inhalte in das lyrische Gewand preßte. Nur darum nahm auch niemand Anstoß an dem ewigen Einerlei dieser Stoffe, an ihrer Phrasenhaftigkeit und Hohlheit, an der gröblichst darin zutage tretenden gesellschaftlichen Lüge. Noch war Lyrik nur eine äußere Form, eine gelehrte Übung für kurzweilige Stunden, nicht Sprache der Seele. Die Geburtsstunde der lyrischen Persönlichkeit mußte folgerichtig die Todesstunde der Gelegenheitsdichtung werden. Christian Günther beendet mit der Epoche der Barockdichtung auch die der Gelegenheitslyrik.“² Und noch 1958 meint der mildernde Bearbeiter dieses Artikels in der zweiten Auflage des Reallexikons doch: „Die Feier der bürgerl.[ichen] und höfischen Familienfestlichkeiten in poet.[ischer] Sprache erschien als eine nicht unwichtige Aufgabe für den Dichter, der dem Gesetz einer festen Lebens- und Standesordnung unterstand. Daher auch die schablonenhafte Ausführung dieser G.[elegenheitsdichtung], welche überall nur das gegebene Muster auszufüllen sucht und für persönliche Auffassungen keinen Raum läßt“ und: „[Günthers] Lyrik erwächst in jedem Fall aus

1 Carl Enders, Deutsche Gelegenheitsdichtung bis zu Goethe, in : German.-Roman. Monatsschr. 1 (1909), S. 292–307, S. 292. 2 A. Gramsch, Gelegenheitsgedichte, in : Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin 1925–1926, S. 426–428, S. 428.

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persönlichem Empfinden und Schicksal. Während die G.[elegenheitsdichtung] im alten Sinne allmählich zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt, weist Günthers lyrische Art auf Goethe voraus.“³ Andernorts zwar mag man neuerdings noch etwas vorsichtiger im Urteil über die Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts geworden sein.⁴ Gleichwohl deuten die angeführten Zitate, die sich leicht vermehren ließen,⁵ darauf hin, daß hier in der Erforschung der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts bis heute eine schwache Stelle liegt, die zwar nicht ganz ohne begreifliche Ursachen, aber dennoch befremdlich ist. Denn die Erforschung der deutschen Barockliteratur insgesamt hat im vergangenen Halbjahrhundert, nicht ohne engen Zusammenhang mit der Geistes- und Literaturgeschichte dieser Jahrzehnte, bemerkenswerte Fortschritte gemacht, sie hat zu mancherlei Umwertungen geführt und noch neuerdings wieder kräftige Belebung erfahren. Man hat immer mehr Einsichten in die besonderen Voraussetzungen und Bedingungen dieser Literatur gewonnen. Man hat erkannt, daß ihr nicht mit den seit dem 18.  Jahrhundert entwickelten literarischen Erwartungen und Kriterien beizukommen ist. Man begreift immer mehr, wie sehr die aus der Antike überkommenen Lehren der Rhetorik Grundlagen dieser Literatur sind, man sieht, welche große Rolle überhaupt in dieser Literatur die Bindung an Traditionen, an überlieferte Formen und Gehalte spielt, und man versucht, diese Rolle positiv zu verstehen. Man lernt, daß diese Literatur, nachdem erst einmal ihr Eigenrecht anerkannt worden ist,

3 Rudolf Haller, Gelegenheitsdichtung, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, 2 Berlin 1958, S. 547–549, S. 548. 4 Vgl. z. B. Richard Newald, Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit, 2 München 1957 (H. de Boor/R. Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 9 – andeutungsweise auch schon bei Erich Trunz (Rez.), Simon Dach, Gedichte, 3. u. 4. Bd., hrsg. v. W. Ziesemer, in : Dt. Literaturztg. 6o (1939), Sp. 154–160. 5 Vgl. z. B. Max von Waldberg, Die Deutsche Renaissance-Lyrik, Berlin 1888, S. 5f. – Walther Ziesemer, Simon Dach, in: Altpreußische Forschungen 1 (1924), Heft 1, S. 23–56, S. 50f. – Walther Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928 (Dt. Vierteljahrsschr. f. Literaturwissensch. u. Geistesgesch., Buchreihe, Bd.  14), S.  193 – Herbert Hertel, Die Danziger Gelegenheitsdichtung der Barockzeit, in: Danziger Barockdichtung, hrsg. v. H. Kindermann, Leipzig 1939 (Dt. Literatur, Reihe Barock, Ergänzungsbd.), S. 165–230, S. 165 – Maria Krause, Studien zur deutschen und lateinischen Gelegenheitsdichtung von Martin Opitz, Diss. (Mschr.) Breslau 1942, u. a. S. 4ff. – Christiane Rukkensteiner, Simon Dachs Freundschafts- und Gelegenheitsdichtung, Diss. (Mschr.) Innsbruck 1957, u. a. S. 27, 70, 104, 174 – Franz Dostal, Studien zur weltlichen Lyrik Simon Dachs, Diss. (Mschr.) Wien 1958, u. a. S. 7, 10, 278. Entsprechende fragwürdige Urteile zur neulateinischen Gelegenheitsdichtung bei Georg Ellinger, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jh., Berlin/Leipzig 1929ff., u. a. Bd. 1, S. 329f.; Bd. 2, S. 12ff., 32ff., 370ff.; Bd. 3/I, S. 39f., 193, 318f.

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zureichend doch nur im größeren Zusammenhang der europäischen Literaturentwicklung seit der Renaissance zu erfassen ist und daß dafür auch die bis ins 17. Jahrhundert hinein blühende neulateinische Literatur besonders wichtig ist, die man früher allzu leicht als artfremd und künstlich zu mißachten geneigt sein mochte. Man ist auf einzelne Erscheinungen und ihre literarische Auswirkung besonders aufmerksam geworden, auf den Einfluß der allegorischen Schriftauslegung, auf die Emblematik, auf die Schriften der Kirchenväter, die dem 17. Jahrhundert noch als kirchliches Erbe wie als Teil einer noch nicht auf einen engen klassischen Kanon reduzierten antiken Überlieferung gegenwärtig waren. Man versucht schließlich auch, in die lange als bloße Schulfuchsereien verachteten Lehrbücher der Poetik einzudringen und sie als Schlüssel zum Verständnis der barocken Literatur zu nutzen.⁶ Bei aller Bewegung aber und Ausweitung ist doch eine gewisse Einseitigkeit der Barockforschung nicht zu verkennen, und zwar für die Lyrik noch mehr als für den Roman und die dramatischen Formen des 17. Jahrhunderts. Immer wieder ist man – und wohl um so mehr, je mehr man begreift, daß man es mit nicht unmittelbar interpretierbaren und mit in vielen Einzelheiten besonders stark traditionsbedingten Werken zu tun hat – immer wieder ist man geneigt gewesen, sich vor allem mit Fragen des Sprachstils und der Bildlichkeit zu befassen, mit Erscheinungen also, an denen die Andersartigkeit der barocken Literatur am auffälligsten ist und ihre Eigenart, auch gegenüber ihren Voraussetzungen und Vorbildern, noch am leichtesten faßlich zu sein scheint. Die förderlichen Arbeiten zu diesen Fragen sind immer wieder zahlreicher als jene, die unter Berücksichtigung der Traditionsbindungen Gehalte, Gattungsgesetze, Strukturphänomene und damit auch einzelne Werke angemessen verstehen lehren. Von jenen drei Bereichen, in denen nach dem Verständnis des 17.  Jahrhunderts die Dichtkunst der Redekunst verschwistert ist, von den Bereichen der inventio, dispositio und elocutio oder, wie es im Buch von der Deutschen Poeterey des Opitz heißt, der Erfindung der Dinge, der Einteilung der Dinge, der Zubereitung und Zier der Wörter,⁷ – von diesen drei Bereichen bevorzugte die Forschung damit in auffälliger Weise den dritten, den der elocutio, der Zubereitung und Zier der Wörter, von dem freilich sogar Ernst Robert Curtius meinte, daß er „dem modernen Verständnis am nächsten“ stehe.⁸

6 Zu diesen zusammenfassenden Hinweisen ist vor allem zu erinnern an die neueren oder älteren Arbeiten von Alewyn, Barner, Böckmann, Conrady, Dyck, L. Fischer, Fricke, E. Geisenhof, Jöns, W. Kayser, Pyritz, Schings, Schöne, Trunz, Wentzlaff-Eggebert, Windfuhr. 7 Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, 5Halle 1949 (Neudrucke dt. Literaturwerke des XVI. u. XVII. Jh.s, Nr. 1), S. 17 (Kap. V.). 8 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 3Bern/München 1961, S. 80. Vgl. auch Karl Otto Conrady, Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik

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Solcher, hier nur knapp angedeuteter Stand der Dinge aber bringt es mit sich, daß man gegenüber der Literatur ds 17. Jahrhunderts ständig noch in der Gefahr ist, es sich in paradoxer Weise zu einfach zu machen, indem man sich einerseits, in Untersuchungen, Anthologien, Neudrucken, vielfach nur an noch unmittelbar verständliche, als eindrucksvoll oder als noch lebendig geltende Texte hält, andererseits aber, beispielsweise unter dem Aspekt der Bildlichkeit oder der generellen Bestimmung barocken Stils, oft ohne genauere Differenzierung alles gleichermaßen interessant, weil eben barock, findet. Sollte man dort, wo man Wertung, Unterscheidung, Auswahl trifft, für die man sich nicht selten immerhin auch auf die eigenen Urteile des 17. Jahrhunderts berufen könnte, nicht doch noch stärker erst aus den Voraussetzungen jener Epoche selbst die Kriterien entwickeln, die solche Wertung ermöglichen und auch jene Urteile der Zeitgenossen bestimmt haben? Ist es dazu aber nicht nötig, ständig noch schärfer das Problem wahrzunehmen, wie überhaupt innerhalb einer so außerordentlich traditionsbezogenen Literatur ein einzelnes Werk, wenn man seine Traditionsbindung ganz ernstnimmt und seine traditionellen Bestandteile und Züge genau genug erfaßt, zugleich doch als ein einzelnes und individuelles unterschieden, verstanden und ausgelegt werden kann? Sollte dazu nicht jegliche für das 17. Jahrhundert wichtige Tradition selbst als Medium des Vergleichens und sollte dabei nicht insbesondere die Poetikliteratur der Zeit, die freilich selbst vielfach erst der Interpretation bedarf, gerade mit ihren zu oft vernachlässigten Aussagen zu den Bereichen der inventio und dispositio dienlich sein können? Diese Fragen stellen sich mit eigener Dringlichkeit im Blick auf die sogenannte Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts, für die – aus Gründen, die mit den bisherigen Hinweisen und Überlegungen angedeutet sind – die Belebung der Barockforschung bislang am wenigsten erbracht hat, an der sich die Einsicht in die Eigengesetzlichkeit der Literatur jener Zeit aber doch besonders

des 17. Jh.s, Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur dt. Literatur, Bd. 4), S. 49 : „Imitatio im Bereich der auf die Poesie bezogenen Rhetorik knüpft sich in besonderem Maße an die Lehre vom Ausdruck (elocutio), da es ja gerade dieser Teil des Rhetoriksystems ist, der für die Dichtung Bedeutung hat.“ Bezeichnend für die Neigung der Forschung zum Bereich der elocutio ist auch noch der Umfang, den gerade seine Erörterung in den neueren, auf den Zusammenhang von Poetik und Rhetorik gerichteten Arbeiten einnimmt: Renate Hildebrandt-Günther, Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jh., Marburg/Lahn 1966 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 13); Ludwig Fischer, Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, Tübingen 1968 (Studien zur dt. Literatur, Bd. 10); in geringerem Grade bei Joachim Dyck, Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition, Bad Homburg v.d.H. 1966 (Ars poetica, Bd. 1), wo auch der Topik ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

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zu bewähren hätte.⁹ Wohl gibt man, wie die einleitenden Zitate gezeigt haben, immer selbstverständlicher zu, daß die Gelegenheitsdichtung eine der besonders charakteristischen Erscheinungen des 17.  Jahrhunderts sei. Aber allzu schnell begnügt man sich vielfach auch mit dem Hinweis auf die gesellschaftliche Bedingtheit der Gelegenheitsdichtung und ist dann im übrigen rasch mit Bemerkungen über Formelkram und unpersönliche Art bei der Hand, allenfalls summarisch Gedichte der namhaftesten Autoren von solchem Verdikt ausnehmend. Aber darf man so leicht nehmen, was jene Epoche so wichtig genommen hat? Wie hat jene Zeit selbst diese Dichtungen verstanden? Wo sind, abgesehen davon, daß minderwertige Lyrik auch in jeder anderen Epoche in beliebiger Menge zu finden ist, – wo sind gerade hier die unterscheidenden Kriterien? Welche Aufschlüsse die ernstgenommenen Traditionsbindungen auch und gerade für die Gelegenheitsdichtung des 17.  Jahrhunderts geben können und welche Kriterien auch für individuelle Unterscheidungen und Wertungen damit zu gewinnen sind, das sollen die folgenden Hinweise an einem Beispiel jener Gelegenheitsdichtung, an einem Typus des deutschsprachigen Begräbnisgedichts zeigen, das in Gedichtsammlungen wie in Drucken von Leichenpredigten außerordentlich verbreitet ist. Diese Hinweise können freilich nicht mehr als ein Versuch sein. Von Johann Henrich Hadewig, dem Verfasser einer in zwei Auflagen erschienenen, vor allem von Opitz abhängigen Poetik mittleren Wertes, gibt es ein 1658 entstandenes Begräbnislied auf den „hochEdelgebornen  / Gestrengen und Vesten Herrn  / Herrn Philip Sigißmund von dem Busche  / zur Ippenburg und

9 Einige Ansätze jetzt bei Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 68ff., 78 – Leonard Forster, The icy fire. Five studies in European Petrarchism, Cambridge 1969, S. 84–121 – für den Bereich der niederländischen Dichtung des 17. Jh.s: S.F. Witstein, Funeraire poëzie in de nederlandse renaissance. Enkele funeraire gedichten van Heinsius, Hooft, Huygens en Vondel bezien tegen de achtergrond van de theorie betreffende het genre, Assen 1969 (Neerlandica Traiectina, Bd. 17) (vgl. hierzu aber die kritischen Hinweise unten in Anm. 20). An allen diesen Stellen sind die Ansätze zum Verständnis von Gelegenheitsgedichten des 17. Jh.s bezeichnenderweise verknüpft mit der Beachtung von Anweisungen zur inventio und dispositio in Rhetorik und Poetik. Entsprechendes auch für die übrige Lyrik der Zeit bei Dyck, Ticht-Kunst, S.  50, und besonders bei Erwin Rotermund, Affekt und Artistik. Studien zur Leidenschaftsdarstellung und zum Argumentationsverfahren bei Hofmann von Hofmannswaldau, München 1972 (Beihefte zu Poetica, Heft 7), u. a. S. 44ff., 95f. Die oben in Anm. 5 genannten Spezialarbeiten von Dostal, Krause und Ruckensteiner hingegen bleiben noch ganz unzulänglich, weil sie die Rhetorik und Poetik als Grundlagen der Dichtung des 17. Jh.s nicht ernstnehmen oder gar nicht beachten und nicht zuletzt deshalb für die traditionellen Züge der Gelegenheitsdichtung kein angemessenes Verständnis finden können.

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Harlinghausen erbgesessen / und Hochfürstl. Oßnabrückischen wol verordneten Landraht“.¹⁰ Es dient uns hier als ein beliebiges Durchschnittsbeispiel, das seiner Überschaubarkeit und seiner vom Verfasser intendierten exemplarischen Bedeutung wegen gewählt worden ist. Seine beiden ersten Strophen lauten: „Edler Busch / du edle Seele! immer schade nach der Welt! daß dir schon des Grabes höle so früzeitig wird beställt / daß du schon wirst hingeraft aus der edlen Ritterschaft. Edler Herr / nach dem geblüte und von grauen Ahnen her / Edel auch nach dem Gemüte am Verstand’ und aller Ehr’ / eine kluge Wissenschaft wird mit dir hinweg geraft!“

Die folgenden Strophen berichten von der Trauer des Landesherrn, der Stände, des Volkes, der Jungen und Alten, Reichen und Armen. Die 10. Strophe spricht vom Dichter: „Mögt’ ich / wi ich willig wollte / meine Feder würd’ allein / das mir bässer flissen sollte / dir zur Lust geschärffet sein / mein Beginnen / mein Gemüt sünge gern ein Freuden Lid.“

Die nächsten beiden Strophen setzen demgegenüber die Klage fort. Die 13. hingegen erklärt: „Doch was nüzzet grosses Klagen / was nicht mehr zu ändern steht / sol man mit Gedult ertragen; wenn hernächst di Welt vergeht / sind wir wieder frisch und stark und verlassen unser Sark.“

Und in ähnlichem, tröstenden und mahnenden Sinn handeln die letzten drei Strophen von der Ruhe des Leibes im Grab und der künftigen Auferstehung, vom Aufenthalt der Seele im Himmel, vom Dauern des Toten im Gedächtnis der Lebenden.

10 Johann Henrich Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, Bremen 1660, S. 352–357.

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Was diese sechzehn Strophen in nicht allzu kunstvollem und flüssigem Stil aneinanderreihen, Bestürzung über den plötzlichen Tod, Verherrlichung des Toten, Bericht über die allgemeine Trauer, in die der Dichter sich einschließt, tröstende und mahnende Einwände gegen die Klage – das könnte einem ganz unbefangenen Leser einfach als das erscheinen, was jedem Verseschmied bei einem Trauerfall von selbst in die Feder fließen mag. Daran würde sich vielleicht auch noch nicht viel ändern, wenn man in Hadewigs 1660 erschienener Poetik Wolgegründete teutsche Versekunst, in der das Gedicht als Beispiel steht, unmittelbar vorher liest: „Es sind aber di totden Lider trauerGetichte / darinnen des abgestorbenen Lebens-Lauf kan bescriben / seine Tugend gerümet und sein absterben mitleidentlich beklaget werden  / und sonst di nichtige Flüchtigkeit dises Lebens eingefüret / und dagegen di himmlische Herlichkeit den betrübten zum Trost vorgestellet werden“ (S. 351f.). Was es mit diesem Hinweis aber, der durch das teilweise zitierte Lied exemplifiziert wird, eigentlich auf sich hat, das wird deutlicher, wenn man in einige andere Poetiken des 17. Jahrhunderts hineinschaut. In der Teutschen Rede-bind und Dicht-kunst von Sigmund von Birken (Nürnberg 1679) heißt es: „In den LeichGedichten oder Epicediis, ist hauptsächlich dreyerlei zu beobachten / des Verstorbenen Lob / die Klage / und der Trost für die Hinterbliebenen“ (S.  226). Johann Christoph Männling lehrt in seinem Europaeischen Helicon (Alten Stettin 1704): „Ein Leichen-Carmen begreifft den Verlust des Todten und sein Lob  / als auch den Trost an die Hinterbliebenen“ (S.  89). Und im selben Jahr stellt Magnus Daniel Omeis in einer Gründlichen Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst (Nürnberg 1704) im Kapitel Von unterschiedlicher im gemeinen Leben öffters fürkommender Gedichten Erfindung und Ausarbeitung fest: „Die Erfindungen zu den Leich-Gedichten werden genommen (1) von dem Lob der verstorbenen Person ... Hierauf folget (2) die Klage und Erweckung zur Traurigkeit ... (3) Folget der Trost ...“ (S. 173f.). Überall also wird in der deutschen Poetikliteratur der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts für das Begräbnisgedicht ein und dasselbe dreiteilige Schema gefordert, das aus Lob, Klage und Trost besteht. Es liegt auch dem angeführten Lied Hadewigs auf den Herrn von dem Busche zugrunde, und es findet sich wiederholt ebenso in Balthasar Kindermanns Schrift Der Deutsche Poët (Wittenberg 1664) oder in Christoph Kaldenbachs Poetice germanica (Nürnberg 1674), die beide keine theoretische Anleitung zur Verfertigung von Begräbnisliedern geben, sondern eine praktische durch Analyse von Begräbnisgedichten von Zeitgenossen.¹¹

11 Kindermann (S. 457–515) erörtert Gedichte von Opitz, Rist, Tscherning, David Schirmer, Fleming, Sieber; Kaldenbach, der in jüngeren Jahren dem Königsberger Dichterkreis angehörte, behandelt (S. 52–92) Gedichte von Georg Mylius, Tscherning, Michael Behm, H. Albert und vor

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Sollte es sich dabei aber nun nur um eine im 17. Jahrhundert herausgebildete, von den gesellschaftlichen Zuständen und den Sitten der Zeit bedingte Konvention handeln?¹² Die Vermutung liegt selbstverständlich nahe, daß dem nicht so sei, und sie bestätigt sich, sobald man sich auch nur im nächstgelegenen Traditionsbereich, der neulateinischen Poetik und Dichtung umsieht und zunächst zu derjenigen lateinischen Humanistenpoetik greift, die für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts lange Zeit besonders hohe Geltung besessen hat, Julius Caesar Scaligers Poetices libri septem, zuerst erschienen 1561. In dieser „Summa der Dichtungslehren der Renaissance“,¹³ auf die sich zum Beispiel Johann Peter Titz in seiner Poetik Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen (Danzig 1642) für alle Arten von Gelegenheits- und anderen Gedichten unter völligem Verzicht auf eigene Anweisungen als Hauptquelle beruft (Bl. O1vff.), – in dieser Summa findet man im 122. Kapitel des 3. Buchs (S. 168) unter der Bezeichnung Epitaphium oder Epicedium ein zwar etwas andersartiges, nämlich fünfteiliges Schema, in dem jedoch unschwer jene drei in den deutschsprachigen Poetiken genannten Teile, Lob, Klage, Trost als die Hauptsache auszumachen sind. Nach Scaliger soll ein Begräbnisgedicht bestehen aus: laudes (Lob des Toten und seines Sterbens), iacturae demonstratio (Darstellung des eingetretenen Verlusts), luctus (Trauerklage), consolatio (Tröstung), exhortatio (Ermahnung der Lebenden). Zur Erläuterung bezieht sich Scaliger dabei auf eigene lateinische Werke. Daß iacturae demonstratio und exhortatio nur zusätz-

allem zahlreiche Stücke von Simon Dach. – Vgl. zum dreiteiligen Schema des Begräbnisgedichts auch Daniel Richter, Thesaurus oratorius novus, Nürnberg 1660, S. 137, die bei Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. u. 18. Jh.s, Stuttgart 1966 (Germanist. Abhandlungen, 15), S. 119–122 zitierte Stelle aus J.F. Reimmanns „Poësis Germanorum canonica & apocrypha“ (1703) und noch Johann Samuel Wahll, Gründliche Einleitung zu der rechten / reinen und galanten Teutschen Poesie, Chemnitz 1723 , S. 76–78. 12 Der Ansicht, daß die Regeln der Gelegenheitsdichtung sich im wesentlichen im 17. Jh. selbst herausbilden, scheint R. Haller in seinem Artikel „Gelegenheitsdichtung“ in der 2. Aufl. des „Reallexikons der dt. Literaturgesch.“ zu sein, der zwar in § 2 Scaligers Poetik und humanistische Vorbilder erwähnt, das aber nicht näher ausführt, mögliche Einflüsse antiker Überlieferung nicht in Erwägung zieht und daher im einzelnen u. a. meint: „In den Hochzeitsgedichten bildet sich bei einzelnen Lyrikern (Simon Dach u. a.) geradezu ein festes Schema der stofflichen Gliederung heraus ... die Leichencarmina [entlehnen] ihre Gedanken vorwiegend aus dem christlich-religiösen Bereich der Psalmendichtung und der Predigten“ (S. 548). Ein richtigerer, wenngleich ganz knapper Hinweis auf die bestehenden Traditionsvoraussetzungen hingegen bei Hans Dieter Schäfer, „Sagt nicht frühvollendet“. Zur Geschichte des Totengedichts, in: Almanach für Literatur und Theologie 4 (1970), S. 119–138, S. 120f. 13 August Buck in der Einleitung (S. XX) zu: Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 (Faks.-Neudr. d. Ausg. Lyon 1561).

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lich unterschiedene Untergliederungen sind, die sich dem zweiten und dritten Hauptteil des Schemas, luctus und consolatio, zuordnen,¹⁴ das bestätigt unter anderem die 1647 zuerst erschienene Poetik des Gerhard Johannes Vossius, die beim Epitaphium ebenfalls von jenen drei Teilen spricht und zugleich auf die aus dem frühen 17. Jahrhundert stammende Rhetorik desselben Verfassers verweist, wo diese Teile als Teile der oratio funebris, der Leichenrede, und des Epicediums genannt werden mit den griechischen Bezeichnungen ἔpainoϛ, θrῆnoϛ und paramu qίa und den lateinischen Entsprechungen laus, lamentatio und consolatio.¹⁵ Wie hier bei Vossius und Scaliger so findet man auch sonst in der humanistischen neulateinischen Poetik¹⁶ und Dichtung – in Deutschland offenbar vor allem seit den 1531 erschienenen Illustrium ac Clarorum aliquot Virorum Memoriae scripta Epicedia des Helius Eobanus Hessus¹⁷ – das in laudes (laudatio), luctus (lamentatio), consolatio, Lob, Klage, Trost gegliederte Begräbnisgedicht, von dem auch die deutschsprachigen Poetiken des 17.  Jahrhunderts sprechen. Daß sie das genauer erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts tun, erklärt sich wie bei anderen Gattungen daraus, daß zunächst nur das schon vorliegende neulateinische Vorbild nachgeahmt wird, das in der neulateinischen Poetik bereits ausreichend erläutert wird.¹⁸ Dieses dreiteilige Begräbnisgedicht tritt vorwiegend unter der auch in deutschsprachigen Poetiken noch auftauchenden Bezeichnung Epicedium auf, während das von Scaliger, Vossius und anderen daneben verwendete Wort Epitaphium zumeist ein kürzeres, epigrammatisches

14 Sie können deshalb hier bei den folgenden allgemeinen Erörterungen zum Epicedium im allgemeinen beiseite bleiben, erweisen sich aber doch zur detaillierten Analyse einzelner Texte öfters als nützlich. 15 Gerardus Joannes Vossius, Poeticarum Institutionum, libri tres, Amsterdam 1647, Teil 3, S.  115f. – Ders., Commentariorum Rhetoricorum, sive Oratoriarum Institutionum, Libri Sex, 4Leiden 1643, Teil 1, S. 412. 16 Vgl. dazu insbesondere auch Alexander Donatus, Ars Poetica sive Institutionum Artis Poeticae Libri Tres, Köln 1633, S. 299–303 (mit Berufung auf Scaliger) – Jacobus Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594, S. 212–250. 17 Vgl. dazu Ellinger, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jh., Bd. 2, S. 12. 18 So spricht Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, S. 22 (Kap. V), nur im Zusammenhang mit den „Sylven oder wäldern“, für die er Statius als Beispiel nennt, summarisch von Gelegenheitsgedichten. Titz, Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, BI. O2v, sagt ausdrücklich zur Gelegenheitsdichtung: „vnd scheinet auch / daß wir diesfalls im Deutschen keiner absonderlichen vnterweisung gar groß von nöthen haben / weil wir bey denen / so von der Kunst der Poeterey in Latein geschrieben / (vnter welchen der grosse Scaliger billich / wo nicht allein / doch zum ersten genennet wird /) sattsame Handleitung vnd Nachricht finden können.“ Andere frühe Poetiken befassen sich, nicht zuletzt wohl aus ähnlichen Gründen, überhaupt weitgehend nur mit Fragen der Prosodie und der elocutio.

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Grabgedicht mit weniger ausgebildeter Theorie meint, zu dem vielfach, da es inschriftartig das Lob des Toten bewahren will, keine consolatio gehört und das hier wie andere , weniger genau bestimmte Formen der Grabdichtung außerhalb des Kreises der weiteren Betrachtung bleiben wird.¹⁹ Wenn die neulateinische Literatur so der deutschen mit dem Epicedium vorangeht, dann ist allerdings ohne weiteres anzunehmen, daß sie dabei nicht die primäre Quelle, sondern nur die Mittlerin viel älterer, nämlich antiker Überlieferung ist. Daß dies der Fall ist, daß dabei aber nicht nur poetische Vorbilder im Spiel sind, sondern etwas kompliziertere Verhältnisse vorliegen, darauf deutet die schon erwähnte Rhetorik des Vossius hin, auf die Vossius in seiner Poetik an entsprechender Stelle den Leser zu genauerer Unterrichtung verweist. Bei Behandlung der oratio funebris im 3. Buch beruft sich Vossius für die Dreiteilung der oratio funebris und zugleich des Epicediums auf die unter dem Namen des Dionysios von Halikarnaß fragmentarisch überlieferte Rhetorik. Als Beispiele führt er neben Reden von verschiedenen griechischen und römischen Autoren auch solche von Kirchenvätern an, und neben Prosareden nennt er Grabgedichte, vor allem Epicedien von Statius. Damit sind die verschiedenen, untereinander freilich auch wieder in Beziehung stehenden antiken Quellen der humanistischen und barocken Epicediendichtung und ihrer Theorie angedeutet.²⁰ Sie sind hier

19 Die Terminologie für Grabreden und -dichtungen und die Unterschiede des Wortgebrauchs seit der Antike bedürften ebenso wie die sonstigen Erscheinungsformen der Grabdichtung im 17. Jh. einer weitausgreifenden, genaueren Untersuchung (keine oder noch nicht hinreichende Ansätze dazu bieten die schon oben bzw. in Anm. 20 genannten Arbeiten von Conrady, Witstein, Schäfer und Springer sowie der zwangsläufig kurze Absatz, den Ferdinand van lngen in seiner Untersuchung über „Vanitas und Memento Mori in der deutschen Barocklyrik“, Groningen 1966, S. 115–119, dem Begräbnisgedicht widmet). In Anbetracht der für eine umfassendere Untersuchung nötigen Vorarbeiten und der erforderlichen Materialfülle beschränkt sich der vorliegende Versuch bewußt darauf, den einen, besonders klar sich abhebenden Typus etwas näher zu erörtern, der, trotz vorhandenen Abweichungen im Wortgebrauch, am besten unter dem Namen Epicedium zu fassen ist. 20 Daß sie das wichtigste Vorbild, Statius, ganz und die rhetorischen Quellen der Theorie fast ganz ignoriert, ist der entscheidende, jeden wirklichen Ertrag verhindernde Mangel der Untersuchung von Elisabeth Springer, Studien zur humanistischen Epicediendichtung, Diss. (Mschr.) Wien 1955. Die Verf. verkennt die Gesetze der Gattung und ihre Topik, sie übersieht vor allem, daß die consolatio ein integrierender Bestandteil des Epicediums ist, und sie kann daher die Texte, die auch nur teilweise wirklich Epicedien, sonst vielfach eher Epitaphien sind, nur als Quellen für die Suche nach Charakterbildern der behandelten Toten ansehen. Damit läßt sich kein angemessener Zugang gewinnen, und es muß ständig zu überraschenden Fehlurteilen und mäkelnden Mißverständnissen kommen (vgl. u. a. S. 99, 245, 261, 348, 371, 373, 375). K.O. Conrady beurteilt in seinen knappen, aber sachhaltigen Hinweisen zur Epicediendichtung des 16. und 17. Jh.s (Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jh.s,

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kurz zu rekapitulieren.²¹ Unter anderen Formen der Grab- und Totendichtung, die die Antike gekannt hat, die aber teilweise in sehr fragmentarischen Quellen

S. 285–288) die Arbeit von E. Springer noch zu milde, weil er selbst nur Vollmers Hinweise (vgl. unten Anm. 24) auf das Bauschema der Epicedien des Statius, nicht aber Scaliger und andere Humanistenpoetiken beachtet. – Sehr viel mehr auf die antiken Vorbilder und die antike und humanistische Theorie bezogen und dadurch sehr viel sachnäher und ertragreicher als die Arbeit von E. Springer ist die schon oben in Anm. 9 angeführte Arbeit von S.F. Witstein (Funeraire poëzie in de nederlandse renaissance), die vor allem die rhetorischen Grundlagen dieser Dichtung ernstnimmt und von da aus umfangreiche Analysen von Texten unternimmt. Allerdings stützt sie sich für die Theorie des Epicediums fast nur auf Scaliger und vor allem Pontanus und vernachlässigt insbesondere Vossius. Daher nimmt sie die verbindliche Bedeutung von Ps. Dionysios von Halikarnaß und Menander nicht ernst genug, hält die Teile des Epicediums für beliebig vertauschbar, unterscheidet verschiedenartige Typen von Begräbnisgedichten nicht ausreichend voneinander und rückt alles zu sehr unter den dabei in fragwürdiger Weise isolierten und verabsolutierten Aspekt des decorum. So liegt der eigentliche Ertrag der Arbeit mehr im Nachweis der einzelnen Argumenta und Topoi als in der zureichenden Erläuterung der Bauformen. 21 Vgl. dazu folgende Arbeiten, auf die nicht bei jeder Einzelheit eigens verwiesen werden wird: Johannes Bauer, Die Trostreden des Gregorios von Nyssa in ihrem Verhältnis zur antiken Rhetorik, Diss. Marburg/Lahn 1892 – Édouard Boyer, Les consolations chez les Grecs et les Romains, Thèse Montauban 1887 – Vincenz Buchheit, Untersuchungen zur Theorie des Genos Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles, München 1960 – Karl Buresch, Consolationum a Graecis Romanisque scriptarum historia critica, in: Leipziger Studien zur Class. Philol. 9 (1886/87), S. 1–170 – Theodore C. Burgess, Epideictic Literature, Diss. Chicago 1902 – José Esteve-Forriol, Die Trauer- und Trostgedichte in der römischen Literatur untersucht nach ihrer Topik und ihrem Motivschatz, Diss. München 1962 – Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936 – Charles Favez, La consolation latine chrétienne, Paris 1937 – Edouard Galletier, Étude sur la poésie funéraire romaine d’après les inscriptions, Paris 1922 – A. Gercke, De consolationibus, in: Tirocinium Philologum Sodalium Regii Seminarii Bonnensis, Berlin 1883, S.  28–70 – Ewald Griessmair, Das Motiv der Mors immatura in den griechischen metrischen Grabinschriften, Innsbruck 1966 (Commentationes Aenipontanae, XVII) – Hereswitha Hengstl, Totenklage und Nachruf in der mittellateinischen Literatur seit dem Ausgang der Antike, Diss. München 1936 – Gerhard Herrlinger, Totenklage um Tiere in der antiken Dichtung. Mit einem Anhang byzantinischer, mittellateinischer und neuhochdeutscher Tierepikedien, Stuttgart 1930 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissensch., Heft 8) – Horst-Theodor Johann, Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften über den Tod, München 1968 (Studia et Testimonia Antiqua, V) – Rudolf Kassel, Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, München 1958 (Zetemata, Heft 18) – George Kennedy, The art of persuasion in Greece, Princeton 1963 – Richmond Lattimore, Themes in Greek and Latin Epitaphs, Urbana 1942 (Illinois Studies in Language and Literature, Vol. 28, Nr. 1–2) – Bruno Lier, Topica carminum sepulcralium latinorum, in: Philologus 62 (1903), S. 445–477, 563–603; 63 (1904), S. 54–65 – Constant Martha, Études morales sur l’antiquité, Paris 1883, S. 1–59: L’éloge funèbre chez les Romains; S. 135–189: Les consolations dans l’antiquité – Clifford Herschel Moore, The Epi-

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nur noch undeutlich zu fassen sind,²² entwickelt sich in der römischen Dichtung wohl im unmittelbaren Anschluß an hellenistische Vorbilder und vielleicht in gewissem Zusammenhang mit der altrömischen Totenrede als ausgeprägteste Form neben dem Grabepigramm das Epicedium als ein längeres, mehrgliedriges Trauergedicht.²³ Für dieses fast stets in elegischem Maß oder in Hexametern verfaßte Gedicht hat die neuere altphilologische Forschung aus den Texten

cedia of Statius, in: Anniversary papers by Collegues and Pupils of George Lyman Kittredge, Boston 1913, S. 127–137 – Peter von Moos, Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, 4 Bde., München 1971–1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 3/I-IV) – Alfredo Pais, Degli epicedii latini, in: Rivista di filologia 18 (1890), S. 142–150 – Eugen Reiner, Die rituelle Totenklage der Griechen, Stuttgart/Berlin 1938 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissensch., Heft 30) – Ludwig Ruland, Die Geschichte der kirchlichen Leichenfeier, Regensburg 1901 – Otto Schantz, De incerti poetae consolatione ad Liviam deque carminum consolatoriorum apud Graecos et Romanos historia, Diss. Marburg/Lahn 1889 – Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, Hildesheim 1963 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1885) – Friedrich Vollmer, Laudationum funebrium Romanorum historia et reliquiarum editio, in: Jahrbücher f. class. Philol., Suppl.bd. 18 (1892), S. 445–528 ° – Carmina sepulcralia latina, collegit Johannes Cholodniak, Petersburg 1897 – ÉIoge funèbre d’une matrone romaine (Éloge dit de Turia). Texte établi, traduit et commenté par Marcel Durry, Paris 1950 – Griechische Grabgedichte. Griechisch und deutsch von Werner Peek, Berlin 1960 (Schriften u. Quellen der alten Welt, Bd. 7) – ferner die einschlägigen Artikel in: Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft; Der kleine Pauly, Lexikon der Antike; The Oxford Classical Dictionary; Lexikon der alten Welt – außerdem neuestens die noch ungedruckte Untersuchung von Joachim Soffel, Die Regeln Menanders für die Leichenrede in ihrer Tradition dargestellt, hrsg., übersetzt u. komment., Diss. Mainz 1974. 22 Vgl. dazu bes. die in Anm. 21 genannten Arbeiten von Esteve-Forriol (S. 1ff., 112ff.), Färber (S. 38f., 65f.), Galletier (S. 191ff.), Reiner und die Artikel über Epikedeion/Epicedium, Nenia, θrῆnoϛ/Dirge in den dort ebenfalls genannten Handbüchern. 23 Wortgebrauch und Wortbedeutung innerhalb der antiken Literatur und der klassischen Philologie sind nicht völlig eindeutig. Während H. Färber das ἐpikήdeion in Abgrenzung gegen den θrῆnoϛ (als selbständige Gattung) nur nach griechischen Quellen und ohne nähere Angaben über die Bauform behandelt und G. Herrlinger sich unter dem Stichwort Tierepikedien vorwiegend mit Epigrammen beschäftigt, unterscheidet der Artikel von O. Crusius bei Pauly-Wissowa zwei Haupttypen von Epicedien, einen „volkstümlich-lyrischen und epigrammatischen“, „nachzuweisen vor allem in Grabinschriften und in den halbparodischen“ Tierepikedien – dieser Typus später weithin bezeichnet als Epitaphium, das wiederum zu unterscheiden ist vom ἐpitάφioϛ lόgoϛ, der in verschiedenen Spielarten auftretenden antiken Leichenrede – und „eine besonders bei den Römern aus den Consolationes und Epitaphioi ... entwickelte rhetorische Spielart“, und versteht J. Esteve-Forriol unter Epicedien nur Stücke der zweiten Art. Das scheint auch sonst der vorherrschende Sprachgebrauch zu sein und entspricht dem überwiegenden Verständnis von Wort und Sache in Humanismus und Barock. In diesem begrenzteren Sinne wird der Begriff daher hier gebraucht (vgl. auch schon oben S. 223f. mit Anm. 19).

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selbst teilweise ein fünf- oder sechsteiliges Aufbauschema (etwa: Begründung des tröstenden Zuspruchs, laudatio des Toten, Beschreibung der Krankheit und des Todes, Beschreibung der Bestattung, Aufnahme des Toten in der Unterwelt, Trostgründe²⁴) erschlossen, das aber dem fast immer als dreiteilig verstandenen Bau des humanistischen neulateinischen Epicediums bis auf gewisse, durch den Unterschied der Zeiten bedingte Differenzen,²⁵ sichtlich entspricht. Früheste vollständig erhaltene Beispiele stammen von Horaz (carm. 1, 24), Ovid (amores 2, 6 u. 3, 9), Properz (eleg. 3, 18 und 4, 11), spätere Beispiele sind vor allem die ausdrücklich unter dem Titel epicedium oder consolatio überlieferten Begräbnisgedichte in den Silvae des Statius und die anonymen Gedichte Elegiae in Maecenatem und Consolatio ad Liviam. In diesen späteren Beispielen verstärkt sich, im Zusammenhang mit einer wachsenden Beziehung zur Rhetorik und der von ihr gepflegten und vor allem von der Stoa bestimmten Prosaconsolatio,²⁶ das Gewicht des letzten, der Tröstung dienenden Teils des Epicediums. Vor allem die Epicedien des Statius offenbar sind dann bevorzugte Vorbilder der Neulateiner.²⁷

24 So Friedrich Vollmer in seiner Ausgabe der „Silvae“ des Statius (Leipzig 1898), S. 317 (worauf O. Crusius im Artikel „Epikedeion“ bei Pauly-Wissowa und Moore, The Epicedia of Statius, S.  129, verweisen). Fünf Teile unterscheidet Esteve-Forriol, a.a.O., S.  113 (Einleitung mit Billigung der Trauer oder Aufforderung dazu; laudatio des Toten; lamentatio oder comploratio des Dichters; descriptio der Krankheit und des Todes, der Bestattung oder des Grabmals; consolatio) . Von drei Teilen (laudatio, comploratio, consolatio) sprechen im Blick auf Statius E. Galletier, a.a.O., S. 202, und O. Schantz, a.a.O., S. 61 (unter Hinweis auf Menander). 25 Sie ergeben sich u. a. für die Beschreibung der Bestattung und für die Aufnahme des Toten im Jenseits. 26 Im einzelnen ist das Verhältnis und die Frage einer wechselseitigen Beeinflussung von Dichtung, Rhetorik und Philosophie im Bereich der Todes- und Trostliteratur in der altphilologischen Forschung umstritten; vgl. dazu u. a. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 114ff., Kassel, a.a.O., S. 43ff. 27 Vgl. an entsprechender Stelle die Erwähnung des Statius in der Rhetorik des Vossius (Teil 1, S. 412), bei Donatus, Ars Poetica, S. 302 (zugleich Nennung Ovids), auch bei Antonio Sebastiano Minturno, De Poeta (1559), Nachdr. München 1970 (Poetiken des Cinquecento, Bd. 5), S. 405; dazu dann auch im Bereich der deutschsprachigen Epicediendichtung die bezeichnende Nennung des Statius bei Christoph Kaldenbach, Deutsche Grab-Getichte, Elbing 1648, Teil 2, Buch 3, S. 88, am Ende eines Gedichts auf den Tod der eigenen Mutter. Auf andere lateinische Vorbilder wie Ovid, Properz, die Elegiae in Maecenatem und die Consolatio ad Liviam beruft sich Eobanus Hessus (Illustrium ac Clarorum aliquot Virorum Memoriae scripta Epicedia, Nürnberg 1531, Bl. C 3rf.) am Beginn seines Epicediums auf Johannes Reuchlin. Zur besonderen Bedeutung, die Statius überhaupt für die humanistische und barocke Gelegenheitsdichtung gehabt hat, vgl. die entsprechenden Erwähnungen in der Poetik des Vossius (Teil 3, S. 117ff.), bei Donatus, Ars Poetica, S. 283, 285f., 287, 292; Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, S. 22; Omeis, Gründliche Anleitung, S. 151, 164, 168.

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Für die neulateinische Epicediendichtung wird die antike Überlieferung aber noch in anderer Weise wichtig, wie der erwähnte Hinweis auf die Rhetorik des Ps. Dionysios von Halikarnaß bei Vossius zeigt. Die schon in der Antike selbst vorhandene Nähe zwischen Dichtkunst und Rhetorik, die dann zur entscheidenden Grundlage der humanistischen und barocken Dichtung bis ins 18. Jahrhundert hinein wird, ermöglicht es, daß die Neulateiner in der antiken Rhetorik die Begriffe finden, mit denen sie und vielleicht schon ebenso die antiken Theoretiker die römischen Epicedien verstehen und ihre eigene Epicediendichtung begründen. In Frage kommen dafür nicht die vor allem an der Gerichtsrede orientierten rhetorischen Schriften von Cicero und Quintilian, sondern eben jene fragmentarische Rhetorik des Ps. Dionysios von Halikarnaß und dazu die Schrift Perὶ ἐpideiktikῶn des dem 3. Jahrhundert n. Chr. angehörenden Rhetors Menander. Diese Schriften handeln eingehend von den Reden des gέnoϛ ἐpideiktikὸn oder genus demonstrativum, der dritten, neben dem genus iudiciale und dem genus deliberativum, der Gerichts- und Beratungsrede stehenden, Lob- und Tadelreden umfassenden antiken Redegattung, die in der späteren Rhetorik besondere Bedeutung gewonnen hatte. Hier wird auch der ἐpitάφioϛ lόgoϛ, die oratio funebris, Leichenrede erörtert.²⁸ Ps. Dionysios wie Menander nennen als die drei Bestandteile von Leichenreden ἔpainoϛ, q rῆnoϛ und paramu qίa,²⁹ das sind laudatio, lamentatio, consolatio, Lob, Klage, Trost,

28 Zur Entwicklung der griechischen und römischen Leichenrede und zu ihren Spielarten sowie zu deren Verhältnis zur rhetorischen Theorie der Gattung und zu den Einzelheiten dieser Theorie ist, da darauf hier nicht näher eingegangen werden kann, auf die in Anm. 21 genannte einschlägige Literatur zu verweisen. 29 Vgl. Menander, perὶ ἐpideiktikῶn, S.  418–422, in: Rhetores Graeci, hrsg. v. L. Spengel, Bd. 3, Leipzig 1856 (Nachdr. Frankfurt a. M. 1966), S. 368–446 – Dionysius Halicarnaseus, Ars rhetorica, hrsg. v. H. Usener, Leipzig 1895, S.  54 (Nach Johann Albert Fabricius, Bibliotheca Graeca, Bd. 4, 1795, S. 396f. bzw. Bd. 6, 1798, S. 105, waren diese Schriften im griechischen Text seit 1508 gedruckt zugänglich in der Ausgabe griechischer Rhetoren von Aldus Manutius und dann im 16. u. 17. Jh. durch verschiedene weitere griechische und lateinische Ausgaben. Die Schrift von Menander wird, zusammen mit der des Ps. Dionysios, ausdrücklich zitiert z. B. in der Rhetorik des Vossius, Teil 1, S. 50f., im Kapitel „De Ratione laudandi, vel gentium Deos, vel verum Deum Israelis“, das zu einer Reihe von Kapiteln über das genus demonstrativum gehört). Ps. Dionysios, auf den sich für die Leichenrede nicht nur Vossius, sondern z. B. auch noch Christian Weise (Politischer Redner, Leipzig 1691, S. 560) als Gewährsmann beruft, nennt jene drei Teile der Leichenrede allerdings nicht in dem ausführlichen Kapitel über die mέqodoϛ ἐpitaφίwn (ed. Usener, S. 25–31, wo er, S. 29, Klage und Trauer über die Toten ablehnt), sondern an der oben genannten Stelle in dem Traktat perὶ ἐschmatismέnwn (De oratione figurata). Den Nachweis dieser mit Menander übereinstimmenden Stelle, die in der Forschung vielfach übersehen worden ist (vgl. z. B. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 116f., Kassel, a.a.O., S. 41), verdanke ich einer freundlichen Auskunft des Altphilologen Andreas Spira, Mainz. Die angesichts der

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jene drei Teile also, die dann die humanistische und barocke Poetik bis ins 18. Jahrhundert hinein für das Epicedium, das seinerseits beiläufig schon von Ps. Dionysios als poetische Entsprechung zur Grabrede erwähnt wird, fordert und die übrigens zugleich ebenfalls bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auch für Trauerreden, vor allem für die Leichabdankung, als verbindlich gelten.³⁰ Neben dem Dreierschema bleiben aber in der humanistischen und barocken Epicediendichtung und ihrer Theorie auch manche Einzelanweisungen des Ps. Dionysios und des Menander lebendig wie die, daß Klage und Trost nur in Reden auf erst jüngst Verstorbene Platz haben dürfen³¹ oder daß in öffentlichen Reden der Trost knapper zu halten sei als in privaten.³²

fragmentarischen Überlieferung und der Unklarheiten über Autor und Datierung der Ps. Dionysischen Rhetorik schwierige Frage, wie sich die beiden Stellen bei Ps. Dionysios zueinander verhalten, scheint mir über die bisherigen Hinweise der altphilologischen Forschung hinaus weiterer Klärung zu bedürfen; sie muß daher hier offenbleiben. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang, daß auch Ps. Dionysios die drei Teile Lob, Klage, Trost kennt und daß er in diesem Sinne von der humanistischen und barocken Rhetorik und Poetik rezipiert worden ist. – Die von J. Bauer, a.a.O., S. 17f., und von L. Ruland, a.a.O., S. 153f., vertretene Meinung, daß Menander den qrῆnoϛ, von dem er sagt, daß er auch überall im Lobteil mit einzumischen sei, gar nicht zugleich als selbständigen Teil der Leichenrede aufgefaßt habe, ist durch neuere Arbeiten (s. u. a. Burgess, Kennedy, besonders aber Soffel) als erledigt anzusehen. – Vgl. den Nachtrag beim Drucknachweis zu dieser Abhandlung am Ende des Bandes. 30 Vgl. dazu außer Vossius und Chr. Weise (s. Anm. 29) u. a.: D. Richter, Thesaurus oratorius novus, 1660, S. 136 – Balthasar Kindermann, Teutscher Wolredner ... gebessert / und ... gemehret von dem Spaten [Kaspar Stieler], Wittenberg 1680, S. 641, 665, 689 – August Bohse-Talander, Getreuer Wegweiser zur Teutschen Rede-Kunst und Briefverfassung, Leipzig 1692, S. 446 – Christian Friedrich Hunold-Menantes, Einleitung Zur Teutschen Oratorie Und Brief-Verfassung, Halle/Leipzig 1715, S. 386 – Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, Jena 31736, S. 729 – Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, Hildesheim/New York 1973 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1736), S. 456 – Johann Andreas Fabricius, Vernünftige Grundregeln Zum Parentiren, Jena 21739, Bl. a7v f. – Johann Andreas Fabricius, Philosophische Redekunst, Leipzig 1739, S. 187. Dem besonderen Charakter der Leichabdankung entsprechend wird an den angeführten Stellen zumeist als 4. Teil ein abschließender Dank an die am Begräbnis Teilnehmenden genannt. 31 Menander, S. 418. Vgl. dazu z. B. Scaliger, Poetices libri septem, S. 168; ein entsprechendes poetisches Beispiel unten im Exkurs. 32 Dionysius Halicarnaseus, S. 25f., 29. Vgl. dazu z. B. das unterschiedliche Gewicht der verschiedenen Teile in den nach dem Stand der Toten abgestuften Anweisungen bei Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, S. 212ff., oder die Epicedien des Eobanus Hessus, die fast alle bekannten Persönlichkeiten gelten und daher knappere Trostteile enthalten als viele privater gehaltene deutschsprachige Epicedien des 17. Jh.s. Überhaupt liegt hier wohl einer der Unterschiede zwischen der neulateinischen und der barocken deutschen Epicediendichtung (vgl. dazu auch unten S. 240f.). Unterschiede im Verhältnis von Lob- und Trostteil je nach der

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In den Lehren der antiken Rhetorik über die zum genus demonstrativum gehörende oratio funebris also wie in der römischen Epicediendichtung, vor allem in ihrer voll ausgebildeten Form bei Statius, hat der noch von der deutschen Baraockdichtung allenthalben festgehaltene dreiteilige Aufbau des Epicediums seinen Ursprung. Doch nicht nur darin, nicht nur im Bereich der dispositio also, liegt die Bedeutung dieser der deutschen Barockdichtung durch die neulateinische Dichtung und Poetik vermittelten antiken Quellen. Vielmehr stammen aus ihnen und der zugehörigen Prosaliteratur auch die inventiones, die Erfindungen, d. h. die einzelnen Gesichtspunkte, Argumente, Motive der neulateinischen und deutschen Epicediendichtung. Besonders reichhaltig begegnen in jenen Quellen einerseits die Topoi des Enkomions, der laudatio, die für den ersten Teil des Epicediums maßgeblich sind, und andererseits die anzuwendenden Trostargumente, die innerhalb der Rhetorik teils bei der Behandlung der oratio funebris selbst, teils im Zusammenhang mit der dann auch noch bei Vossius und selbst in der Poetik des Scaliger gesondert erörterten Gattung der Consolatio³³ angeführt werden. Dabei finden die antiken, vorwiegend stoischen Trostgründe eine Ergänzung durch spezifisch christliche, wie sie in den zur Tradition der Prosaconsolatio gehörenden Schriften von Kirchenvätern entwickelt werden,³⁴ die dann auch Vossius nennt. Wohl alles, was in dem früher angeführten Lied Hadewigs steht, Bestürzung über den Todesfall, Lob des Toten nach seiner Herkunft, seinen Anlagen, seinen Taten, Nennung der Mittrauernden, das die Trauer und Klage bekräftigende Ungenügen der Dichtung, der mit einem „doch“ betont einsetzende Widerspruch gegen die Klage, die einzelnen Trostgründe – all das läßt sich bis ins einzelne auf antike und frühchristliche Quellen und Vorbilder zurückführen.³⁵ Und dasselbe gilt eigentlich für alle Epicedien der neulateinischen und der barocken deutschen Dichtung. So erweist sich die im 17. und noch im frühen 18.  Jahrhundert so verbreitete deutsche Epicediendichtung ebenso wie das unmittelbare neulateinische

Person und Stellung des Toten lassen sich aber z. B. auch innerhalb der Begräbnisdichtung Simon Dachs feststellen. 33 Vgl. Menander, S. 413–414, perὶ paramuqhtikoῦ – G.J. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 394–401, De Consolatione – J.C. Scaliger, Poetices libri septem, S. 168–169, Consolatio. 34 Vgl. hierzu bes. die Untersuchung von Ch. Favez, La consolation latine chrétienne. 35 Neben den entsprechenden Stellen bei Menander und Ps. Dionysios vgl. dazu bes. die reichen Hinweise und Zusammenstellungen in den in Anm. 21 genannten Arbeiten von EsteveForriol, Favez, Johann, Kassel, Lattimore, Lier, v. Moos, Soffel. Entsprechende breitere Ausführungen innerhalb der humanistischen und barocken Poetik und Rhetorik vor allem bei Birken, Donatus, J.A. Fabricius, Hallbauer, Kindermann, Omeis, Pontanus, Weise.

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Vorbild als in einem außerordentlich hohen Grade nach inventio und dispositio, nach Motiven und Bauschema von der antiken Überlieferung abhängig und damit als eine der am stärksten traditionsgebundenen Gattungen der Zeit. Dieser Befund, der, einmal ausdrücklich herausgearbeitet, schließlich gar nicht einmal so überraschend erscheinen mag, gibt gleichwohl zu einigen ersten Folgerungen Anlaß. Ganz offenkundig genügt es angesichts dieses Befundes nicht, die Epicediendichtung nur aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Barockzeit, aus den Wirkungen einer strengen Standesordnung herzuleiten, mögen solche Gegebenheiten auch den Boden für die Ausbreitung dieser Dichtung bereiten und ihre Ausformung im einzelnen mitbestimmen. Solche Herleitung wäre um so weniger ausreichend, als sich, wie das in den Poetiken erläuterte Schema zeigt, Absicht und Aufgabe des Epicediums nicht, wie man wohl leicht meint, in der öffentlichen Rühmung des Toten erschöpfen, sondern auch ebenso auf Klage und Trost erstrecken. Wenn sich vielmehr die Epicediendichtung so sehr ausbreitet, daß sie eine allmählich ganz alltägliche, überall geübte Erscheinung ist, daß sie in immer größer werdenden Gruppen in den Gedichtsammlungen der meisten Autoren auftritt und, zusammen mit anderen Formen von Leichengedichten, allenthalben in Einzeldrucken oder im Anhang zu den für die Zeit so bezeichnenden Drucken von Leichenpredigten,³⁶ wie man sie heute noch in umfangreichen Sammlungen wie der Stolbergschen³⁷ oder der der Universitätsbibliothek in Göttingen kennenlernen kann, auftaucht – dann ist das auch nur ein Teil des großen, seit der Renaissance unternommenen Versuchs, aus der Erneuerung und Wiederaneignung der Antike das eigene literarische Leben sehr kunstbewußt neu zu gestalten.³⁸ Diesen Versuch unternimmt die deutsche

36 Hinweise zu der im ganzen bisher nicht geschriebenen Geschichte der Leichenpredigten, Leichabdankungen und ihrer Drucke im 16.–18. Jh. bei Manfred Bunzel, Die geschichtliche Entwicklung des evangelischen Begräbniswesens in Schlesien während des 16., 17. und 18. Jh.s, Diss. (Mschr.) Breslau 1920 – Maria Fürstenwald, Andreas Gryphius, Dissertationes funebres. Studien zur Didaktik der Leichabdankungen, Bonn 1967 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissensch., Bd. 46), S. 7ff. – Hugo Grün, Die Leichenrede im Rahmen der kirchlichen Beerdigung im 16. Jh., in: Theolog. Studien u. Kritiken 96/97 (1925), S. 289–312 – Rudolf Mohr, Protestantische Theologie und Frömmigkeit im Angesicht des Todes während des Barockzeitalters hauptsächlich auf Grund hessischer Leichenpredigten, Diss. Marburg/ Lahn 1964, S. 14ff. – Wolfgang Reich, Die deutschen gedruckten Leichenpredigten des 17. Jh.s als musikalische Quelle, Diss. (Mschr.) Leipzig 1962, S. 1ff. – Eberhard Winkler, Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener, München 1967 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, Reihe 10, Bd. 34). 37 Jetzt im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Zweigarchiv Schloß Kalkum. 38 Da es das neulateinische Epicedium schon vor dem 17. Jh. gibt und eine zunehmende Verbreitung der Leichenpredigt (s. Anm. 36) schon seit dem 16. Jh. zu beobachten ist, andererseits

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Barockdichtung, später als die anderen nationalsprachlichen Literaturen und von ihrem Vorbild mit angespornt, vor allem im Gefolge der neulateinischen Dichtung und Poetik und im Sinne der von ihr beispielgebend vollzogenen Verbindung von Poesie und Rhetorik. Das Kühne dieses zu Beginn des 17. Jahrhunderts freilich schon für Europa nicht mehr neuen Versuchs und das für die deutsche Literatur dieses Augenblicks Neuartige spiegelt sich in der Begeisterung, mit der die literarisch Interessierten im frühen 17. Jahrhundert ihn überall aufnehmen, und klingt das ganze Jahrhundert hindurch nach in dem Gefühl der erreichten Erneuerung, das die Autoren erfüllt. In diesem Sinne geschieht auch die Übernahme des Epicediums, das, bei Weckherlin praktisch noch nicht vorhanden, bei einem frühen Barockdichter wie Plavius sich auch erst schüchtern anmeldend,³⁹ dann ganz parallel zur Entfaltung der gesamten barocken Literatur in Deutschland sich immer mehr verbreitet. Ehe man diese Gattung verachtet, weil zu viele Unbegabte sie auch aufgegriffen haben, sollte man sich das Eindrucksvolle des Vorgangs klarmachen: die Gesetze für Bau und Inhalt einer antiken literarischen Gattung werden nach anderthalb Jahrtausenden im Begräbnisgedicht und parallel dazu in der die Leichenpredigt ergänzenden Leichabdankung, der Danksagung an die Trauergäste, so wieder erneuert, daß sie für mehr als ein Jahrhundert die Art, in der das Begräbnis eines deutschen Bürgers begangen wird, mitprägen. Hier geschieht eine bemerkenswert praktische, lebendige, den Alltag formende Aneignung der Antike. Sie wird offenbar dadurch gefördert, daß die consolatio, die Tröstung, die eben ein gleich wichtiger Teil des Epicediums neben laudatio und lamentatio ist, einen gut christlichen Sinn gewinnen kann und dementsprechend auch im Gefolge der antiken Prosaconsolatio schon von den Kirchenvätern gepflegt worden ist, von denen

aber auch ganz andere Arten von Gelegenheitsdichtungen (insbesondere Hochzeitsgedichte) im 17. Jh. ebenso stark gepflegt werden, ist die auffällige Verbreitung des Epicediums sicherlich viel weniger durch die sonst feststellbare Bedeutung der Erfahrung des Todes für das Barock (vgl. André Chastel, Le Baroque et Ia Mort, in: Retorica e Barocco, Rom 1955, S. 33–46 – Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung, S. 189ff. – Friedrich-Wilhelm WentzlaffEggebert, Das Problem des Todes in der deutschen Lyrik des 17. Jh.s, Leipzig 1931) als durch die Aneignung antiker literarischer Möglichkeiten und die Funktion bedingt, die ihnen bei ihrer Übertragung in das Medium der deutschen Sprache für die Gestaltung bestimmter Lebensereignisse gegeben wird. Auch die Blüte von Leichenpredigt und Leichabdankung hängt offenkundig eng mit der seit dem 16. Jh. zunehmenden Rolle der aus der Antike überlieferten Rhetorik zusammen. 39 Vgl. die verschiedenartigen Trauergedichte bei Georg Rudolf Weckherlin, Gedichte, hrsg. v. Hermann Fischer, Darmstadt 1968 (Nachdr. d. Ausg. Tübingen 1894 bis 1895), Bd. 1, S. 229, 247, 426f., 437; Bd. 2, S. 271ff., 296, 297ff., 301, 304, 305, und bei Johannes Plavius, Trauer- und Treugedichte (1630), S. 104–122, in: Danziger Barockdichtung (s. oben Anm. 5), S. 43–164.

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Vossius in seiner Rhetorik im Abschnitt über die Consolatio sagt, daß sie diesen Gegenstand weit kräftiger behandelt hätten als die heidnischen Autoren.⁴⁰ Mit der Epicediendichtung zusammen aber ist die ganze Gelegenheitsdichtung des deutschen Barock wie schon der Neulateiner nicht ein zufälliges Produkt ihrer Zeit, nicht eine skurrile Randerscheinung, die allenfalls ihrer Verbreitung wegen als charakteristisch gelten mag, sondern sie ist ein ebenso zentrales wie nahezu zwangsläufiges Ergebnis der literarischen Bewegung des Humanismus und des Barock; sie ist, wie das Beispiel des Epicediums lehrt, eine durch die entschiedene Begründung der Dichtkunst in der Rhetorik bedingte Verwirklichung antiker Kunstlehren. Unter den drei genera orationum der antiken Rhetorik, dem genus iudiciale, dem genus deliberativum, dem genus ἐpideiktikὸn oder demonstrativum, ist letzteres, das genus der Prunk-, der Lob- und Tadelrede, dasjenige, in welchem vorzugsweise sich auch die Dichtung ansiedeln läßt und aus dem sie ihre inventiones und ihre dispositio abzuleiten hat.⁴¹ In den von der humanistischen und danach von der barocken Poetik übernommenen Lehren vom genus ἐpideiktikὸn und zumal in seiner späten Ausformung bei Ps. Dionysios und Menander fand man mit den Anweisungen zu Lob-, Hochzeits-, Geburtstags-, Geleit-, Trauer- und vielen anderen Reden auch die Anleitung für inventio und dispositio all jener Gelegenheitsgedichte, die eine Haupterscheinungsform humanistischer und dann auch barocker Dichtung sind. Der Versuch, Dichtung aus der Rhetorik heraus zu begründen – und dieses Zusammenhanges ist man sich auch im 17. Jahrhundert noch ständig bewußt gewesen⁴² –, bedeutet Entfaltung des genus ἐpideiktikὸn. Das aber führt zwangsläufig zur

40 G.J. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S.  396: „Sed gentiles mitto. Longè enim fortiùs hoc argumentum tractant Christiani doctores.” 41 Zur Nähe, die schon in der Antike zwischen dem genus demonstrativum der Rhetorik und der Dichtung entsteht, vgl. u. a. Burgess, a.a.O., S. 166ff., und Kennedy, a.a.O., S. 153. Zu entsprechenden Beziehungen auch im Mittelalter vgl. Hennig Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle 1928, S. 34ff. – Curtius, a.a.O., S. 163ff. – Annette Georgi, Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters in der Nachfolge des genus demonstrativum, Berlin 1969 (Philol. Studien u. Quellen, Heft 48). 42 Zur Verknüpfung der Poetik mit der Rhetorik insgesamt vgl. bes. die näheren Hinweise bei Dyck, Ticht-Kunst, S. 25ff., und L. Fischer, Gebundene Rede, S. 22ff. Zur Beziehung im Bereich des genus demonstrativum vgl. als ausdrückliche Belege u. a. Conrad Dieterich, Institutiones Oratoriae, Jena 1630, S. 52f., wo zum genus demonstrativum neben verschiedenen Reden auch eine Reihe von poetischen Gattungen gerechnet wird – D. Richter, Thesaurus oratorius novus, 1660, S. 136f., und Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, 1643, Teil 1, S. 23, 412, wo die Zugehörigkeit der Leichenrede zum genus demonstrativum betont und zugleich mit dieser das Epicedium behandelt wird.

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Gelegenheitsdichtung,⁴³ die hier ihre entscheidende Grundlage hat und damit auch ein Teil der großen Auseinandersetzung mit der antiken Überlieferung ist, die mit der Renaissance in Gang gekommen ist und im 18.  Jahrhundert dann auf andere Weise fortgesetzt wird. Daraus gewinnt die Gelegenheitsdichtung des Humanismus und des Barock ihre zentrale Rolle, nur von da her, nicht von modernen ästhetischen Erwartungen aus, ist sie angemessen zu verstehen. Und was an ihr so leicht als „schablonenhafte Ausführung“,⁴⁴ als unpersönlicher Formelkram mißverstanden wird, das ist die für die einzelnen Spielarten des genus ἐpideiktikὸn maßgebliche Topik,⁴⁵ die eine nach den Regeln der Rhetorik gearbeitete Dichtung, um kunstgerecht zu sein, gebrauchen muß, die man freilich sehr kunstvoll und sehr kunstlos verwenden kann. Der Gewinn, der für das Verständnis des barocken Epicediums aus seiner Konfrontierung mit den humanistischen und antiken Vorbildern und Voraussetzungen zu ziehen ist, reicht aber noch über die Einsicht in den in inventio und dispositio besonders traditionsgebundenen Charakter des Begräbnisgedichts und die Bedingungen, die es selbst wie die übrige Gelegenheitsdichtung entstehen lassen und rechtfertigen, hinaus. Wiederum ist es der für Humanismus und Barock bezeichnende enge Zusammenhang von Dichtkunst und Rhetorik, der dabei wichtig wird. Wenn Scaliger bei Erläuterung der einzelnen Teile des Epicediums unter anderem erklärt, daß das Epicedium zuweilen mit einem sanften und dem Gefühl der Trauernden angemessenen Proömion beginnen könne, wenn er fordert: „Iactura demonstratur suaui primùm, mox incitatiore narratione. in qua immoratio & amplificatio auget amissae rei desideriū. à qua parte statim luctus“ (S. 168) (Der Verlust wird zuerst durch eine gelinde, dann durch eine erregtere Erzählung gezeigt. Dabei vermehrt das Verweilen und Ausmalen die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Darauf folgt sofort die Bekundung der Trauer), wenn Scaliger dann feststellt: „Post haec est Cōsolatio aggredienda“ (Danach ist die Tröstung zu beginnen), – dann drängt sich der Eindruck auf, daß ihm dabei nicht eine mehr oder weniger zufällige Reihenfolge, sondern ein ganz bestimmter sinnvoller Zusammenhang der einzelnen Teile des Epicediums vor-

43 Dementsprechend groß ist der Raum, den sie in vielen Poetiken einnimmt, so bei Donatus, Pontanus, Scaliger, Birken, Hadewig, Kaldenbach, Kindermann, Männling, Omeis. 44 Vgl. Haller, Gelegenheitsdichtung, S. 548. 45 Bei Pontanus (Poeticarum Institutionum libri tres, S. 212ff.) etwa, der hier für die Trauerdichtung eine besonders genaue, nach Stand und sonstigen Umständen gegliederte Anweisung gibt, läßt sich sehr gut beobachten, wie es dabei eben nicht darum geht, in persönlicher Darstellungsweise individuelle Züge zu zeigen, sondern z. B. je nach Stand typische Tugenden, für die sich ganz bestimmte antike und biblische Exempla als Vergleichsfiguren anbieten, hervorzuheben, um gerade so des Toten angemessen zu gedenken.

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schwebt. Was sich hier andeutet, wird klarer in der fast anderthalb Jahrhunderte später, 1704 erschienenen Gründlichen Anleitung zur Teutschen accuraten Reimund Dicht-Kunst von Magnus Daniel Omeis, der, wie schon früher erwähnt, noch selbstverständlich das dreiteilige Schema des Epicediums vorträgt. Omeis führt dabei den zweiten Teil mit den bezeichnenden Worten ein „Hierauf folget (2) die Klage und Erweckung zur Traurigkeit“ (S. 173) und sagt im Zusammenhang mit den einzelnen Gesichtspunkten zur Ausführung dieses Teils: „Es kan auch der affect vermehret werden / wann man siehet auf die Zeit und Art des Todes ...“ (S.  174). Das Begräbnisgedicht hat also nicht nur die Klage, die ihrerseits, wie Birken in seiner Poetik eigens betont, aus den Tugenden und Sitten des Verstorbenen folgt,⁴⁶ zu bekunden, sondern es hat geradezu die Trauer wach- oder wieder wachzurufen,⁴⁷ die dann im letzten Teil durch den Trost gestillt werden soll. Die Quelle solcher Vorstellungen liegt wiederum in der spätantiken Rhetorik. Menander, der eindeutiger als Ps. Dionysios für die Grabrede einen Klageteil als unentbehrlich fordert, erklärt, daß der Redner dabei die Zuhörer bis zu Tränen zu rühren habe, um alsdann dem qrῆnoϛ die paramuqίa, den Trost folgen zu lassen.⁴⁸ Die Trauerrede wie das Epicedium haben es also mit der Erregung und Beschwichtigung von Affekten zu tun. Das wird möglich, weil die Rhetorik, die auch Voraussetzung des Epicediums ist, insgesamt seit je eng auf die Lehre von den Affekten bezogen, ja zu nicht unerheblichem Teil eine Anleitung zur Erre-

46 S. v. Birken, Rede-bind und Dicht-Kunst, S. 226: „Die löbliche Tugenden und Sitten des Verstorbenen  / ziehen notwendig eine Klage nach sich: weil man soviel treffliches an und mit ihm verlohren.“ Vgl. auch B. Kindermann, Der Deutsche Poët, S. 473f.: „Wir reitzen auch bey vornehmer gelehrter Leute Absterben Erstlich an / den Gott der Musen / daß Er den Todt des Verstorbenen bejammern helffe / (a) ingleichen / die ihm und seinen Töchtern geheiligte Brunnen / (b) so auch das gantze (c) Deutschland zur Zeit wol selbst / nicht minder die Stadt (d) in der Er gelebet / und dan auch (e) die Tugenden ... Darnach reden wir uns zu / und besänfftigen unser Gemühte / mit einem oder dem anderen Troste ...“ (das wird dann mit einer pindarischen Ode auf Harsdörffers Tod exemplifiziert). 47 Vgl. dazu im einzelnen z. B. die Art, wie in Trauergedichten – das steht in Zusammenhang mit der antiken Topik des Epicediums und der Consolatio (vgl. u. a. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 126ff., und v. Moos, a.a.O., Testimonienband, S. 49ff.) – die Trauernden zum Weinen und Klagen nachdrücklich aufgefordert oder ihre Traueraffekte und deren Äußerungen eindringlich beschrieben werden, so etwa bei Simon Dach, Gedichte, hrsg. v. Walther Ziesemer, Halle 1936–1938, Bd. 4, S. 258f., 326f., oder Johann Christian Günther, Sämtliche Werke. Hist.-krit. Gesamtausg., hrsg. v. Wilhelm Krämer, Darmstadt 1964 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1930ff.), Bd. 5, S. 100f., 125f. 48 Menander, S. 421, Z. 10ff.: „... oἶkton kinῶn, eἰϛ dάkrua sugcέwn toὺϛ ἀkoύontaϛ. metὰ toῦto tὸ keφάlaion qήseiϛ keφάlaion ἔteron tὸ paramuqhtikὸn ...“; vgl. auch 413, Z. 21ff.

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gung oder zur Beschwichtigung der verschiedensten Affekte ist, die die Antike unterschieden hat und die man noch bis ins 17. Jahrhundert in engem Anschluß an die antiken Quellen erörtert.⁴⁹ Besonders stark auf die Affekte bezogen ist u. a. auch die mit Trauerrede und Epicedium in enger Beziehung stehende Gattung der Consolatio.⁵⁰ Vom Lob des Toten ausgehend den Affekt der Trauer zu erregen und dann im Trostteil abzufangen, das offenbar ist die Aufgabe des Epicediums, wie sie auch schon ein Autor wie Statius verstanden haben mag. Das Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung scheint das Formgesetz zu sein, das die einzelnen Teile des Epicediums zusammenhält und ihre Abfolge bestimmt.⁵¹ Es bestätigt sich in einem immer wiederkehrenden stilistischen Charakteristikum: in zahlreichen antiken, neulateinischen wie deutschen Beispielen setzt der Trostteil ein mit einer adversativen Partikel wie at, tamen, sed, doch, dennoch, aber.⁵² Das auch dadurch betonte große Gewicht, das der der Klage entgegengesetzte Trostteil besitzt, bestätigt, daß das Epicedium zu eng verstanden wird, wenn es vor allem als dem Zweck der Verherrlichung des Toten dienend angesehen und wenn daraus geradezu seine Beliebtheit abgeleitet

49 Vgl. dazu z. B. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S.  193–285 – Kindermann, Teutscher Wolredner, S. 38ff. – Chr. Weise, Politischer Redner, S. 888–925. Ein bedeutender Ansatz zur Auswertung von Affektenlehre und Rhetorik für das Verständnis barocker Lyrik liegt jetzt vor in E. Rotermunds Hofmannswaldau-Buch (vgl. oben Anm. 9). 50 Vgl. dazu bes. die in Anm. 21 genannten Untersuchungen von Johann und Kassel. 51 Esteve-Forriol hat, wenn er wiederholt von einer gedanklichen Spannung von Trauer und Trost (a.a.O., u. a. S. 46, 72, 111, 121) spricht, das Gesetz berührt, aber nicht genau genug bezeichnet und nicht hinreichend für das Verständnis der Texte genutzt. Kassel, a.a.O., S. 43 („Wie verträgt sich aber mit dem bewußten Erregen und Steigern des Jammers die ... vorgesehene Tröstung der Leidtragenden? ... in der Tat liegt bei Menander die Bruchstelle klar zutage ... Die Durchführung des rhetorischen Schematismus läßt ihn, unbekümmert um die Möglichkeit einer sinnvollen und natürlichen Verbindung, starr abgegrenzte Teile mit jeweils zugehöriger Topik aneinandersetzen“), verkennt das Gesetz, ebenso S.F. Witstein (s. oben Anm. 20), die zwar die drei Teile des Epicediums beachtet, aber ihre Reihenfolge für beliebig hält. 52 Vgl. z. B. Ovid, am. 3, 9 – Properz, eleg. 3, 18 – Statius, silv. 5, 3 (weitere antike Belege bei Esteve-Forriol, a.a.O., S. 124f.) – Eobanus Hessus, Epicedia, BI. D1v – Plavius, Trauer- und Treugedichte, S. 113, 115 – Martin Opitz, Deutsche Poëmata, Danzig 1641, S. 134 (Herrn David Rhenisches ... Grabelied) – Kaldenbach, Deutsche Grab-Getichte, Teil 1, Buch 1, S. 67, 119; Teil 2, Buch 3, S. 23, 30, 60 – Justus Georg Schottel, Fruchtbringender Lustgarte, hsrg. v. Marianne Burkhard, München 1967, S. 157 – Daniel Georg Morhof, Deutsche Gedichte (gedruckt als Anhang zu: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, Lübeck/Frankfurt 1700), S. 185 – J.Chr. Günther, Sämtl. Werke, Bd. 3, S. 179; Bd. 4, S. 11, 24; Bd. 5, S. 111; Bd. 6, S. 220 – ferner das oben zitierte Beispiel von Hadewig sowie die unten zitierten Texte von Dach, bei dem es zahlreiche weitere Belege gibt, und von Gryphius, bei dem übrigens auch in der Schlußszene des „Papinianus“ zweimal (v. 502, 531) ein entsprechendes, eine consolatio einleitendes „doch“ vorkommt.

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wird.⁵³ Vielmehr dürfte zur Rezeption der Gattung im Humanismus und besonders im Barock die über den Zweck der bloßen Verherrlichung hinausführende scharfe Entgegensetzung von Klage und Trost erheblich beigetragen haben, die sich, wie viele Beispiele lehren, vortrefflich auf den für jene Zeit sehr lebendigen christlichen Antagonismus von Zeitlichem und Ewigem beziehen läßt, so daß der Trostteil der am vergänglichen Irdischen haftenden Trauer die einzig rechte, auf das Ewige gerichtete Betrachtungsweise eindrücklich entgegenhält und das Formgesetz des Epicediums damit auf neu belebte Weise erfüllt wird. In dem das Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung fordernden Formgesetz des Epicediums ist einmal etwas von verborgenen Strukturprinzipien einer dem heutigen Leser nur schwer zu erschließenden Literatur zu ahnen, ja etwas vom ästhetischen Empfinden einer vergangenen Zeit, des 16. und 17. Jahrhunderts und vielleicht gar der ausgehenden Antike. Es geht wohl, obgleich dem historischen Verstehen hier gewiß enge Grenzen gezogen sind, die Vermutung nicht zu weit, daß die ästhetische Befriedigung der zeitgenössischen Leser oder Hörer eines Epicediums auf der von ihnen wahrscheinlich sehr viel stärker empfundenen Spannung von Affekterregung und Affektstillung beruht haben muß und daß im Grade dieser Spannung für sie ein Kriterium der Wertung bestanden haben mag. Jedenfalls aber macht das aus verstreuten Hinweisen erschlossene Formgesetz des Epicediums – und damit wird die aus dem Zusammenhang mit dem genus ἐpideiktikὸn gewonnene Rechtfertigung der ganzen Gelegenheitsdichtung ergänzt – bewußt, wie sehr auch noch im 17. Jahrhundert Lyrik nicht nur noch nicht darauf aus ist, eigenes Gefühlserleben des Dichters unmittelbar auszudrücken, sondern wie sehr sie solche Möglichkeit noch gar nicht sieht. Wo Lyrik noch so gar nicht monologisch ist, wo sie vielmehr, im Zusammenhang mit ihrer Bindung an die Rhetorik, mit einem Leser oder Hörer rechnet, auf den sie wirken will, da ist selbst solche Gelegenheitsdichtung grundsätzlich möglich und gerechtfertigt, die, wie es mannigfach geschieht, im Auftrag anderer entsteht.⁵⁴ Man könnte so geradezu vom Epicedium und der übrigen, zumeist

53 Solche Auffassungen begegnen etwa in den Arbeiten von Hertel, Chr. Ruckensteiner und E. Springer (vgl. oben Anm. 5 bzw. 20), andeutungsweise auch bei Conrady, Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jh.s, S. 286. 54 Dem könnte höchstens der alte Grundsatz der Rhetorik entgegenstehen, daß der Redner das selbst empfinden müsse, was er im Hörer hervorrufen will (vgl. dazu Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, S. 275f. – s. auch Horaz, de arte poetica, v. 102–103 – für das 17. Jh. z. B. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 285: „in ciendis affectibus caput [est], ut orator priùs eo affectu commoveatur, ad quem alium vult adducere“). Das würde aber im 17. Jh. nur bedeuten, ob der Verfasser eines Gelegenheitsgedichts hinreichend imstande gewesen ist, durch entsprechende Vorstellungen den geforderten Affekt in sich her-

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in falschen Alternativen allzu leicht mißachteten Gelegenheitsdichtung aus den Unterschied zwischen der im 18. Jahrhundert entstehenden, bis heute vielfach allein als lyrisch geltenden Lyrik und dem, was im Barock und zuvor Lyrik ist, entwickeln als den Unterschied zwischen einer auf Ausdruck von individuellem Gefühl bedachten und einer auf Weckung von allgemein gültigen Affekten durch beschreibende Nachahmung von Affekten zielenden Dichtung.⁵⁵ Was bis hierher an Einsicht in die Eigenart des barocken Epicediums aus seinem Zusammenhang mit dem humanistischen Vorbild und dessen antiken Ursprüngen gewonnen ist, das gibt freilich nur die Übereinstimmung mit einer langen Tradition, die enge Bindung an sie, die lange Zeit unveränderte Gültigkeit der aus der Antike sich herleitenden Gesetze einer ganz und gar traditionellen Gattung zu erkennen. Dazu wäre dann höchstens noch festzustellen, daß, wenn nicht die lückenhaftere Überlieferung der antiken Literatur täuscht, das Epicedium in Humanismus und Barock sehr viel verbreiteter, damit alltäglicher und nachahmender wird, während demgegenüber den antiken Beispielen, die eine sich erst mit ihnen vollziehende Entwicklung bis zu dem für spätere dann maßgeblich gewordenen Typus bei Statius erkennen lassen, eher das Signum des Ursprünglichen zukäme – mit den Augen des 16. und 17. Jahrhunderts betrachtet kein Kriterium höheren Wertes. Über solche Differenz hinaus drängt sich aber angesichts des bisher erhobenen Befundes doch die Frage auf, ob denn sonst keinerlei historische und individuelle Unterschiede innerhalb der offenkundig so stark traditionsgebundenen Gattung des Epicediums festzustellen seien. Solche Unterschiede lassen sich in der Tat beobachten, und sie lassen sich mit Hilfe eben jener Aspekte beschreiben, an denen auch die Traditionsgebundenheit der Gattung in Erscheinung tritt.

vorzubringen. Im 18. Jh. entzündet sich dann allerdings u. a. gerade an diesem Grundsatz die Frage nach Wahrheit oder bloßer Nachahmung der Gefühle und damit die Abwendung von der rhetorisch begründeten Lyrik (vgl. z. B. Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgew. Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S. 993, Gedanken über die Natur der Poesie; S. 1009, Von der heiligen Poesie; S. 1035, Von der Darstellung). 55 Damit ließe sich die vorsichtig auf den Begriff einer nicht-lyrischen Lyrik sich zurückziehende Verteidigung der vor dem 18. Jh. entstandenen Lyrik durch Conrady (Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jh.s) gegen Staigers Einengung sehr viel positiver führen. Auch die Hinweise, die Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Bd. 1, Hamburg 1949, in den Kapiteln über das 17. u. 18. Jh. zur Entwicklung der Lyrik gibt, ließen sich von hier aus und überhaupt von einer entschiedener über die elocutio hinaus auf die Bereiche der inventio und dispositio ausgedehnten Beachtung der Rhetorik aus noch genauer fassen und ergänzen.

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Das Epicedium, so hat sich gezeigt, ist, wie andere in der Rhetorik begründete Gattungen auch, als Gattung durch zwei Aspekte bestimmt: durch die ihm zugehörige dispositio und inventio, durch sein Bauschema also, seine Teile und deren Abfolge, die sich als durch das Formgesetz des Gegenspiels von Affekterregung und Affektstillung bestimmt erweisen, und durch den jenen Teilen zugeordneten Bestand an Topoi. Aus ihnen aber, zumal aus den Trostgründen, kann eine sehr verschiedenartige Auswahl getroffen werden, sie können sehr verschiedenartig ausgestaltet und miteinander verknüpft werden; jenes Bauschema läßt sich mit ihnen sehr unterschiedlich verwirklichen, seine Teile lassen sich in ein sehr verschiedenartiges Verhältnis zueinander bringen und können unterschiedliches Gewicht im Ganzen gewinnen, jene Spannung von Affekterregung und Affektstillung läßt sich verschieden stark ausprägen und unterschiedlich auslegen. Solche Möglichkeiten der Differenzierung können sich verstärkt dort auswirken, wo die Erneuerung der antiken Gattung in einer durch das Christentum veränderten Umwelt geschieht und damit teilhaben muß an der auch sonst die europäische literarische Entwicklung immer wieder befruchtenden Auseinandersetzung zwischen antiker und christlicher Überlieferung. Die Zahl der möglichen Trostgründe etwa wird erweitert, die Art ihrer Anwendung verändert durch die christliche Überlieferung, die schon in der Spätantike zur Erneuerung und Verwandlung der Prosaconsolatio durch die Kirchenväter führt.⁵⁶ Andererseits fallen mit veränderten Begräbnissitten die Beschreibung der Bestattungsfeierlichkeiten und dazu gehörige Verheißungen der künftigen Pflege des Grabmals, die im römischen Epicedium breiteren Raum einnehmen, fort oder werden höchstens in rudimentären Floskeln mitgeschleppt.⁵⁷ Auch das Publikum, auf das das Epicedium mit seiner Spannung von Affekterregung und Affektstillung bezogen ist, ist für das neulateinische Epicedium ein anderes als für das antike und für das barocke Epicedium ein anderes als für das neulateinische und muß mit solchen Unterschieden die Anwendung der Möglichkeiten von inventio und dispositio beeinflussen. So werden im Bereich von inventio und dispositio, so sehr darin gerade stets die überlieferten festen Gesetze des Epicediums erfüllt werden, doch durch die unterschiedliche Art dieser Erfüllung historische und individuelle Unterschiede

56 Vgl. die schon mehrfach angeführte Untersuchung von Ch. Favez. 57 Vgl. z. B. Dach, Gedichte, Bd. 4 , S. 278 – Opitz, Deutsche Poëmata, S. 132 – Paul Fleming, Deutsche Gedichte, hrsg. v. J.M. Lappenberg, Darmstadt 1965 (Nachdr. d. Ausg. Stuttgart 1865), Bd. 1, S. 250, 252 (zu den antiken Belegen vgl. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 144ff., 153).

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in der Handhabung der Gattung möglich und feststellbar, und sie lassen sich angemessen beschreiben, wenn man die Texte eben von den beiden von der zeitgenössischen Poetik an die Hand gegebenen Aspekten der inventio und dispositio aus betrachtet, in denen die starke Traditionsbindung der Gattung beruht. In der Erfüllung der traditionellen Forderungen von inventio und dispositio, durch die nach der Auffassung der zeitgenössischen Poetik die einzelne Gattung konstituiert wird, lassen sich so gattungsspezifische Kriterien finden, die es erlauben, über die Fragen des Sprachstils und vor allem der Bildlichkeit hinaus, die zu dem die einzelnen Gattungen stärker übergreifenden Bereich der elocutio gehören, die individuelle Art und Leistung neulateinischer und barocker Dichter zu beurteilen und damit auch die schon von Zeitgenossen gefällten Urteile in sachgerechter Weise zu überprüfen. Vom antiken Epicedium ist schon das neulateinische,⁵⁸ so sehr es zwangsläufig jenem im Medium derselben Sprache nahesteht, unterschieden unter anderem in Hinsicht auf Publikum und Anlaß. Da das Publikum des neulateinischen Epicediums weder so privat ist wie die Empfänger antiker Epicedien, noch, bei aller Öffentlichkeit, so unmittelbar angesprochen wird wie meistens das aus den Angehörigen und Mitbürgern bestehende Publikum des späteren deutschen Epicediums, sondern sich in dem begrenzteren, aber weit verstreuten Kreis der vielfach untereinander in literarischer Verbindung stehenden Humanisten findet, und da das neulateinische Epicedium vor allem durch den Tod von Männern, die in diesem Kreis oder in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, und durch die Absicht ihrer Würdigung vor Mit- und Nachwelt veranlaßt wird,⁵⁹ herrscht hier der Typus vor, der von der öffentlichen Grabrede herkommt, wie sie unter anderem Ps. Dionysios von der privaten unterscheidet,⁶⁰ und bei dem die laudatio sehr breiten, die consolatio hingegen sehr viel knapperen Raum ein-

58 Einen guten Überblick über neulateinische Epicedien und sonstige Trauergedichte geben die Sammlungen „Delitiae Poetarum Germanorum Huius Superiorisque Aevi illustrium« (6 Bde., Frankfurt 1612) und „Triumphus Poeticus Mortis, Hoc est, Selectißima Carmina In Obitum (1.) Omnium Ferme Imperatorum, (2.) Quam plurimorum Regum Sacrorum ... (3.) nec non Electorum, Ducum & Principum ... (4.) ut & Comitum ... (5.) Et denique Baronum ... Ex Optimis Totius Europae Poetis conquisita ... studio Matthaei Turnemainni“ (Frankfurt 1624). 59 Bezeichnend dafür die Sammlung „Triumphus Poeticus Mortis“ (s. Anm. 58), die Trauergedichte allein auf hohe Standespersonen enthält, oder die Epicediensammlung von Eobanus Hessus, die u. a. Gedichte auf Friedrich von Sachsen, Albrecht Dürer, Mutianus Rufus, Ulrich von Hutten, Johannes Reuchlin, Willibald Pirkheimer umfaßt. 60 Dionysius Halicarnaseus, S. 25f.; dazu Kassel, a.a.O., S. 40f.

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nimmt.⁶¹ Es hängt damit auch zusammen, daß im neulateinischen Epicedium wie die antike Mythologie so auch die ursprünglich antiken Trostgründe⁶² – darunter besonders oft der Gedanke des Fortlebens durch dauernden Ruhm – stark hervortreten und gegenüber den eigentlich christlichen überwiegen; die barocke deutsche Epicediendichtung hingegen, in jedermanns Sprache, nicht in der einer stilisierten Bildungswelt geschrieben, weiß sich selbstverständlich gehalten, in einer christlichen Umwelt kräftig christlichen Trost zu spenden. Freilich läßt sich zugleich beim neulateinischen Epicedium ebenso wie auch sonst bei der neulateinischen Literatur beobachten, daß sie zwar einerseits dank dem ihr möglichen unmittelbaren Anschluß an die Antike mindestens der frühen barocken Dichtung an stilistischer und geistiger Kraft und Eleganz überlegen ist, daß sie andererseits aber, da sie in jenem gleichbleibenden Medium der lateinischen Sprache keinem Zwang zu produktiver Auseinandersetzung und Entfaltung ausgesetzt ist, sehr viel stärker beim Nachsprechen der Muster verharrt und viel weniger zu individueller Differenzierung kommt. Demgegenüber wirken sich die in der Gattung selbst beschlossenen Möglichkeiten der Differenzierung in der deutschen Barockdichtung, zumal hier die Frage nach dem angemessenen Versmaß gegenüber den antiken Distichen und Hexametern hinzukommt, sehr viel stärker aus. Das soll etwas eingehender an drei Beispielen und zuletzt an einem Ausblick auf das Ende der Gattung in der deutschen Literatur gezeigt werden. Die drei Beispiele, die zugleich die Auswirkung verschiedener Vers- und Strophenformen auf das Epicedium zeigen, stammen von Autoren, deren Anfänge gleichermaßen in der Frühzeit der deutschen Barockdichtung liegen, die aber gleichwohl die Möglichkeiten des Epicediums sehr verschieden sich angeeignet und ihm in ihrem Werk recht unterschiedlich viel Raum gegeben haben.

61 Das ist gewiß der Grund für die u. a. wiederholt bei E. Springer, a.a.O., S. 36, 261, 325, 525 (vgl. auch oben Anm. 53) anzutreffende irrige Meinung, daß Ruhm allein der eigentliche Sinn des Epicediums sei. – Es wäre übrigens im Blick auf die gesamte neulateinische Trauerdichtung zu fragen, wieweit sich in ihr nicht aus einer humanistischen Betonung des Ruhmgedankens im Vergleich mit der deutschen Barockdichtung eine anscheinend vorhandene stärkere Pflege des inschriftartigen Epitaphiums und eine gewisse Bevorzugung vor dem Epicedium begreifen läßt. 62 Deren Vorwalten hat mit Erstaunen schon E. Springer, a.a.O., S. 77, bemerkt, ohne es sich jedoch erklären zu können.

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Das erste Beispiel ist ein Lied von Simon Dach: „Trost-Schrifft. 1

HOchEdler Herr, wie haben Doch Ewres glückes Gaben So bald sich umbgewandt! Wahrt Ihr der Liebsten wegen, Die jetzund schon erlegen, Für selig nicht erkant?

2

Was Ihm wünscht ein Gemüte, Ein Adelich Geblüte, Vnd die mehr edle zier Der hochbegabten Tugend, Zucht, Schönheit, Pracht der Jugend, Das alles war bey Ihr.

3

Wer weis gnug zu erheben Die Gottesfurcht, jhr Leben? Wer des Verstandes Licht, Das Glück in gutten Tagen Vnd bösen gleich zu tragen, Das Männern offt gebricht?

4

Wie aber auserlesen Sie immer Euch gewesen, So ist Sie doch davon, Sie must’ Euch nur erkalten, Die jederman gehalten Für Ewrer Tugend Lohn.

5

Es pflegen Glückes-Sachen Was anders nie zu machen, Wir legen Bräut’ vns zu, Vnd wollen Kinder ziehen, Bald heist der Todt vns fliehen, Vnd raubt vns alle Rhue.

6

Thut weh, Herr, ewrem Hertzen, Recht, daß jhr so auff Schmertzen Vnd klagen Euch befleist, Der ist von Bley und Steinen, Der ewer Leid vnd Weinen In dem fall Vnrecht heist.

Das barocke Epicedium 

7

Kann ich doch Liesken sehen Bey Ihrem Tode flehen, Betrübet Domnaw stehn, Ja man kann Püsch vnd Awen Im Trawer-Kleide schawen, Die Heerden ängstig gehn.

8

Last aber Euch das grämen Nicht allen Trost benehmen, Kein Kummer, kein beschwer, Den jemand möcht’ erzwingen, Taug Ewer Lieb zu bringen In dieses Elend her.

9

Was Erd ist wird begraben, Die Seele steht erhaben Hoch vber Welt vnd Todt, Hört von den edlen Ahnen Zur Frewde sich anmahnen, Vnd weis von keiner Noht.

10

Ihr sencket Ihre Glieder Gantz Adelich ja nieder, Was kann nach Ewer Pein Wol mehr Ihr wiederfahren? Es wird nach wenig Jahren Vmb vns nicht besser seyn.“⁶³

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Dieses Lied ist ein nach den Regeln gebautes typisches Epicedium, wie es deren zahllose im Werk Dachs gibt, das fast zur Hälfte aus Begräbnisliedern besteht. Die erste Strophe ist ein Proömion, das den Trauernden anredet und einleitend den erlittenen Verlust bezeichnet, Strophe 2 und 3 bieten in knapper, allgemeingehaltener Form eine laudatio der Toten, Strophe 4 und 5 leiten, die laudatio zunächst noch aufnehmend, als eine Art von iacturae demonstratio zum Klageteil über, wobei die zweite dieser Strophen das in der ersten vom konkreten Anlaß Gesagte als Exempel allgemeiner Bedingungen und Erfahrungen des menschlichen Daseins ausdeutet. Die nächsten beiden Strophen stellen den eigentlichen Klageteil dar, bestehend zunächst aus der Billigung der Trauer des Witwers und der Begründung solcher Billigung durch Kennzeichnung jeglicher Mißbilligung der Trauer als unmenschlich und, in der zweiten der beiden Stro-

63 Dach, Gedichte, Bd. 3, S. 99–100; in den Anmerkungen wird (S. 473) der Titel vollständiger zitiert: Trost-Schrifft an Hn. Johann Albrecht von Lesgewangs, den Herrn Witwer.

244 

 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

phen, aus der Benennung von mittrauernden Zeugen in der Natur. Danach setzt, in gattungstypischer Weise in der ersten Zeile durch ein „aber“ eingeleitet, der Trostteil ein, der die letzten drei Strophen umfaßt. Auch er ist deutlich in sich gegliedert. Strophe 8 argumentiert mit der Vergeblichkeit der Trauer, die die Tote nicht zum Leben zu erwecken vermag. Strophe 9 setzt dem Los des verweslichen Körpers das der unvergänglichen Seele entgegen und, in chiastischer Stellung angeschlossen, der himmlischen Freude die von der Toten verlassene irdische Not. Strophe 10 endlich, an die vorige anknüpfend, konfrontiert das Glück der Toten mit der Trauer der Hinterbliebenen als dem letzten Leid, das der Toten angetan wird, und diese letzte Strophe endet damit, daß sie, in gewisser Entsprechung zur fünften Strophe, den einzelnen Todesfall auf die allgemeine Sterblichkeit bezieht und diese als abschließendes letztes Trostargument verwendet. Der Überblick über die im Epicedium erforderlichen Teile, die alle in Dachs Lied vorhanden sind, führt zugleich bereits darauf hin, wie diese Teile im einzelnen gänzlich mit durchaus typischen, aus alter Überlieferung stammenden Lobgründen, Klagemotiven und Trostargumenten gefüllt werden, die in ihrer genauen Bedeutung und ihrem Zusammenhang dem heutigen Leser zuweilen erst aus der Kenntnis der Tradition begreifbar werden, da der Dichter, der jene Tradition selbstverständlich voraussetzen kann, sie gelegentlich in sehr knapper Form bietet. So steckt in der letzten Strophe von Dachs Lied zunächst ganz verkürzt das, was in römischen Epicedien viel breiteren Raum einnimmt: die Schilderung der Bestattung, mit der dem Toten alle erforderliche Ehre angetan worden ist. Sie dient dann in v. 3 und 4 als Voraussetzung für das nächste Argument zur Abmahnung von der Trauer, das, bei Dach etwas verwirrend umschrieben, in der Tradition dahin lautet, daß die Klage der Hinterbliebenen dem Toten, der selig ist, nur Schmerz bereiten wird. Bei Statius beispielsweise heißt es in der Consolatio ad Flavium Ursum (silv. 2, 6, v. 96): „quid caram crucias tam saevis luctibus umbram“ (Was peinigst du den lieben Schatten mit so wilder Trauer?). Schließlich folgt bei Dach als letztes Argument der Hinweis auf die allgemeine Sterblichkeit, der bei Statius im Epicedium auf Glaucias (silv. 2, 1, v. 218–219) lautet: „ibimus omnes, ibimus“ (alle gehen wir dahin, alle), bei Properz (3, 18, v. 22): „Est mala, sed cunctis ista terenda via est“ (schlimm ist der Weg, und doch muß ihn ein jeder begehn)⁶⁴ oder in der anonymen Consolatio ad Liviam (v. 357–360):

64 Übersetzung nach: Properz, Elegien, hrsg. u. übers. v. Wilhelm Willige, 2 München 1960, S. 185.

Das barocke Epicedium 

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„Fata manent omnis, omnis expectat auarus Portitor et turbae uix satis una ratis. Tendimus huc omnes, metam properamus ad unam, Omnia sub leges mors uocat atra suas.”⁶⁵

(Das Geschick eines jeden ist bestimmt, der auf jeden begierige Fährmann wartet, und kaum ist eine Fähre genug für solche Menge. Wir gehen alle dahin, wir eilen alle zu einem Ziel, alles ruft der schreckliche Tod unter seine Gesetze.) Wie diese eine, so sind auch alle anderen Strophen in Dachs Lied erfüllt von der überlieferten Topik der Laudatio, der Consolatio, des Epicediums, lassen sich darauf zurückführen; zu allen Einzelheiten lassen sich die Parallelen aus der antiken und ebenso aus der humanistischen Literatur beibringen.⁶⁶ Obgleich Dachs Lied so das Formgesetz des Epicediums bis in alle Einzelheiten hinein sehr getreu erfüllt, ist es von einem Beispiel wie dem früher zitierten Lied Hadewigs, dem es in der der Liedform angemessenen Einfachheit des Stils verwandt ist, doch deutlich unterschieden. Es gewinnt dadurch ausgeprägtere literarische Qualität, daß es die Gesetze des Epicediums auf überlegtere, wirksamere, die Einzelheiten enger zusammenschließende Weise erfüllt und damit eine durchgehende thematische Linie ausbildet. Hadewig reiht lediglich die einzelnen erforderlichen Teile und Topoi locker aneinander. Bei Dach hingegen stellt sich ein engerer Zusammenhang am auffälligsten dadurch her, daß Strophe 5 und 10 gleichermaßen den einzelnen Todesfall als Exempel der allgemeinen Sterblichkeit erläutern und dies in sehr persönlicher Weise tun, indem sie aus der Anrede an den trauernden Witwer heraustreten, von einem „wir“ her sprechen und so die allgemeine Erfahrung auf die Gesamtheit der Mittrauernden beziehen. Die Korrespondenz, die damit zwischen zwei Strophen des Liedes besteht, besitzt ihre Bedeutung für das Ganze dadurch, daß diese beiden Strophen an besonderer Stelle des Gedichts stehen: sie schließen die erste und die zweite Hälfte des Liedes ab. Sie stehen aber zugleich auch im Blick auf das Bauschema des Epicediums und auf dessen Teile nicht an beliebigen Stellen.

65 Poetae Latini Minores, hrsg. v. Aemilius Baehrens, Bd. 1, Leipzig 1879, S. 117. 66 So enthalten z. B. die Strophen 2 u. 3 übliche Topoi des Enkomions, wie sie in den Schriften zur Rhetorik bei Behandlung des genus demonstrativum angeführt werden: Herkunft, Tugenden, Schönheit, jugendliches Alter, Sitten (vgl. dazu Belege aus der römischen Dichtung bei Esteve-Forriol, a.a.O., S. 131ff.). Vgl. ferner u. a. zu Str. 4 (die Vortrefflichkeit der Toten konnte ihren Tod nicht hindern): Esteve-Forriol, S. 137 – Str. 5 (Allgemeinheit des Todes): Esteve-Forriol, S. 150 – Str. 6 (Billigung der Trauer, Grausamkeit einer Verwerfung der Trauer): EsteveForriol, S. 127f. – Str. 7 (trauernde Ortschaften, mittrauernde Zeugen in der Natur): Esteve-Forriol, S. 147, 160 – Str. 8 (Trauer kann die Tote nicht zurückbringen): Esteve-Forriol, S. 150 – Str. 9 (die Tote im Jenseits, von Verwandten begrüßt, frei von aller Not): Esteve-Forriol, S. 147f., 152.

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Strophe 5 steht am Ende der an die laudatio anschließenden, sie zunächst noch teilweise aufnehmenden und zum eigentlichen Klageteil überleitenden iacturae demonstratio; diese Strophe setzt, indem die laudatio und die aus ihr spürbare Größe des Verlusts so ausdrücklich in die Erkenntnis der Beispielhaftigkeit des Falles hinübergeleitet wird, das Vorzeichen, unter dem die folgende Klage sich entfaltet. In Strophe 10 steht der Hinweis auf die allgemeine Vergänglichkeit am Ende der consolatio, er steigert und schließt damit die Reihe der durch drei Strophen hindurchgeführten Trostargumente. Zweimal, in der Mitte und am Ende des Lieds, an Stellen, die vom Ganzen des Gedichts her wie von seinen Teilen aus betrachtet besonders hervorstechen, mündet der Lauf der Strophen in die aus der Haltung der persönlichen Teilnahme heraus gesprochene Feststellung der Allgemeingültigkeit dessen, was das Gedicht veranlaßt, und der exemplarischen Bedeutung des Einzelfalls. Zweimal wird die Affekterregung, die das Gedicht zunächst mit der laudatio, dann mit der lamentatio hervorruft, so aufgefangen. Diese das Gedicht in zwei Hälften teilende Gliederung überlagert jene, die sich aus den üblichen Teilen des Epicediums ergibt. Diese Teile bestehen hier aus nicht allzu großen, wirksam gegeneinander abgestuften Strophengruppen. Nach der als Proömion fungierenden ersten Strophe folgen zwei Strophen laudatio, vier Strophen lamentatio unter Einschluß der iacturae demonstratio und drei Strophen consolatio. Danach steht umfangmäßig die lamentatio im Mittelpunkt, während die consolatio knapper zwar als die lamentatio, aber breiter als die laudatio ist. Da sich andererseits innerhalb der lamentatio ein erster Teil, eine iacturae demonstratio (in Strophe 4 und 5), die auch noch Züge der laudatio fortführt, abhebt und um so mehr abhebt, als an ihrem Ende jener das Lied zugleich in zwei Hälften teilende Einschnitt durch die verallgemeinernde Strophe 5 liegt, läßt sich die Gliederung durch die Teile des Epicediums auch so verstehen, daß nach der einleitenden Strophe drei Gruppen von je zwei Strophen mit laudatio, iacturae demonstratio und lamentatio folgen und damit ein besonderes Schwergewicht bei der abschließenden consolatio mit ihren drei Strophen liegt. So wird das Verhältnis der Teile des Epicediums zueinander, wird ihre Abgrenzung gegeneinander von der gleichzeitigen Teilung des Liedes in zwei Hälften aus mehrdeutig. Die Klage wird, noch ehe sie in Strophe 6 richtig einsetzt, schon besänftigt durch die vorangehende Verallgemeinerung des betrauerten Falls, und auch der an sich durch das gattungstypische „aber“ am Beginn von Strophe 8 markierte Einschnitt, der Umschwung von lamentatio zu consolatio ist dadurch schon vorweg gemildert. Indem das dem Epicedium eigene Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung so überlagert und gedämpft wird von der zweimaligen, eine andere Gliederung markierenden Hinführung zur Mäßigung in der Erfahrung der Allgemeingültigkeit des Todes, wird die Haltung einfacher Ergebung, die hier nicht einmal ausdrücklich christlich begründet, aber aus

Das barocke Epicedium 

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christlicher Überlieferung gewonnen ist, zum bestimmenden Merkmal dieses Epicediums, das daraus seinen Zusammenhalt gewinnt. Dieses Lied, das das Formgesetz des Epicediums auf selbstständige Weise erfüllt, indem es dieses Formgesetz variiert und seine Spannung damit dämpft, ist für Dach in dem besonderen Sinne bezeichnend, daß es eine mittlere Ebene seiner Möglichkeiten vertritt. Es gibt, wenngleich seltener, Stücke, die noch schärfer ausgeprägt sind, so das früheste Epicedium Dachs,⁶⁷ das an Krankheit und Tod des Gestorbenen die Vergeblichkeit alles menschlichen Tuns, das im Tod endet, darstellt und dann die Grundspannung des Epicediums in großangelegter Gegenbewegung so auslegt, daß alles unter dem verwandelnden Blickpunkt der Ewigkeit gänzlich anders erscheint. Aber es gibt daneben auch sehr viel einfachere, durchschnittlichere Stücke bei Dach, in denen sich nur schwer etwas anderes als eine zwar korrekte, aber doch nur recht mechanische Erfüllung der Gesetze des Epicediums feststellen läßt. Eine der Ursachen dafür ist die von Dach bevorzugte Liedform. In ihr kann sich, da Dach im Sinne der zeitgenössischen Poetik jede der im Umfang begrenzten Strophen als eine abgeschlossene Einheit behandelt und jedes Strophenenjambement streng vermeidet,⁶⁸ nicht leicht ein übergreifender Zusammenhang der Strophen und damit eine bestimmende thematische Linie entwickeln, zumal wenn die Verse, wie es überwiegend der Fall ist, ähnlich kurz sind wie in dem vorher analysierten Beispiel und damit kurzatmiger als die Distichen oder Hexameter der römischen und neulateinischen Epicedien oder die ihnen am nächsten stehenden Alexandriner anderer deutscher Epicedien, eine Versform, die sich bei Dach nur selten findet. Der Seltenheit des sonst für die barocke Dichtung so charakteristischen Alexandriners aber bei Dach entspricht die Zurückhaltung des Autors in der Anwendung rhetorischer Stilmittel, die gerade einer so sehr auf den Zusammenhang von Dichtkunst und Rhetorik und deren Wirkung auf die Affekte gegründeten Gattung wie dem Epi-

67 Dach, Gedichte, Bd. 3, S. 3–5: Auff Herrn Hans-Ernst Adersbachen kläglichen vnd früezeittigen zwar jedoch seeligen Abschied. 68 Zu dieser für die Liedform sich ohnehin aufdrängenden, aber von der Barockpoetik, nicht zuletzt im Gedanken an eine mögliche Komposition der Texte, immer wieder besonders nachdrücklich erhobenen Forderung vgl. u. a. Augustus Buchner, Anleitung zur deutschen Poeterey / Poet, hrsg. v. Marian Szyrocki, Tübingen 1966 (Nachdr. d. Ausg. Wittenberg 1665. Dt. Neudrucke, Reihe Barock, Bd. 5), S. 165. – Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, S. 171f. – Georg Philipp Harsdörffer, Poetischer Trichter, Darmstadt 1969 (Nachdr. d. Ausg. Nürnberg 1648ff. ), Teil 1, S. 119 – Männling, Der Europaeische Helicon, S. 148 – Albrecht Christian Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Leipzig 1688, Teil 1, Bl. C 2rf., D7v – Titz, Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, Bl. N3v – Philipp von Zesen, Sämtl. Werke, Bd. 9, Deutscher Helicon (1641), hrsg. v. Ulrich Maché, Berlin/New York 1971 (Ausgaben dt. Literatur des XV. bis XVIII. Jh.s), S. 59.

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cedium wohl anstehen. Beides, das Vorherrschen der Liedform wie das Zurücktreten rhetorischer Stilmittel zeigt, daß Dach, so sehr er sich rühmte, in seiner Heimat die neuen, besonders von Opitz eingeleiteten literarischen Bestrebungen eingeführt zu haben, doch viel weniger vom humanistischen neulateinischen Vorbild geprägt ist als andere Dichter der Zeit und viel stärker in einer anderen Tradition, nämlich in der des geistlichen Liedes des 16. Jahrhunderts, wurzelt. Von dieser Grundlage aus versucht er die Eindeutschung des Epicediums. Man kann eine fast rührende Bemühung feststellen, die Gesetze der Gattung genau zu befolgen, und so findet man bei Dach die ganze Vielfalt ihrer möglichen Spielarten, abgestimmt je auf die Besonderheiten des einzelnen Falles.⁶⁹ Das spiegelt sich in den Titeln, die zumeist von dem Teil des Epicediums – Lob, Klage, Trost –, der gemäß jenen Besonderheiten das Hauptgewicht hat, abgeleitet sind.⁷⁰ Das macht begreiflich, daß Kaldenbach in seiner Poetik vor allem bei Dach seine Beispiele finden konnte. Doch Dachs Epicediendichtung zeigt bei aller Vielfalt zugleich, welche Grenzen die Liedform, die auch bei einem sonst oft andersartigen Autor wie Fleming das Epicedium stilistisch in die Nähe Dachs rücken läßt, der Aneignung der Gattung setzt, die denn auch im Lauf des 17.  Jahrhunderts sehr viel mehr in stärker rhetorisch gearteten Formen wie der pindarischen Ode und dem Alexandrinergedicht sich entfaltet. Dachs eigentliche Bedeutung aber, die ihm die Schätzung seiner Zeitgenossen, darunter Andreas Gryphius,⁷¹ eintrug, liegt, soweit es um den Bereich der Begräbnisdichtung geht, um jener

69 Zu den aus der rhetorischen Lehre vom aptum sich ergebenden und dementsprechend z.T. auch schon bei Menander und Ps. Dionysios ausdrücklich genannten Abstufungen im Gebrauch der einzelnen Topoi und im Gewicht der einzelnen Teile der Leichenrede und des Epicediums nach Alter, Geschlecht, Verwandtschaftsverhältnis, Stand vgl. im 16., 17. u. 18. Jh. u. a. Birken, Rede-bind und Dicht-Kunst, S. 229 – Donatus, Ars Poetica, S. 302 – J.A. Fabricius, Vernünftige Grundregeln Zum Parentiren, Bl. a8v (mit besonders deutlicher Abstufung im Gewicht der einzelnen Teile: „Bei Kindern komt es mehr auf den trost, bei alten mehr auf das lob, bei Ieuten in ihren besten jahren, mehr auf die bedaurung an“) – Kindermann, Teutscher Wolredner, S. 688f. – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, S. 214ff. – Scaliger, Poetices libri septem, S. 168 – Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 412. 70 Titel wie Trost-Schrift, Trost-Liedchen, Trost-Reime, Trost-Gedicht, Trost-Spruch stehen vor allem über Gedichten auf Kinder und junge Menschen, daneben auch über solchen auf Frauen, Titel wie Klag-Schrift, Klag-Gedicht, Trauer-Reime, Bittere Klage und Einfältiges Denkmal, Letztes Ehren-Gedächtnis, Christliches Denkmal, Christliches Gedächtnis, Letzte Ehre dienen als Überschriften vor allem für Gedichte auf Männer verschiedenen Alters und Standes, daneben auch für solche auf Frauen angesehener Bürger (vgl. dazu unter den in Anm. 69 angeführten Belegen besonders das Zitat aus J.A. Fabricius). 71 Vgl. die Zitate aus Gedichten des „berühmten Poeten“ bei Gryphius, Dissertationes funebres, Leipzig 1667, S. 269, 298, 353, 664, 690.

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Grenzen der Liedform willen viel mehr in jenen Gedichten, die nicht als Epicedien gestaltet sind, sondern, ohne engere Bindung an den einzelnen Todesfall, von Tod und Ewigkeit als geistliche Lieder sprechen, welche eine Tradition der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts fast unverändert fortsetzen. Von Paul Fleming stammt das nächste Beispiel: „Auf des Edlen und Hochgelahrten Herrn Philipp Krusens, der Rechten Licent. und der Zeit Fürstl. Holstein. Abgesandten nach Moskow und Persien u.s.w. geliebten Hausfrauen Ableben.

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Wenn, Edler, unser Geist auch mit dem Leibe stürbe, und, wenn er sich verschleißt, die Seele mit verdürbe, so wär’ es zweimal recht, daß ihr und wer euch ehrt, als den auch billich kränkt was Leid euch wiederfährt, von dieser bösen Post euch zweimal mehr betrübtet. Sie, ach! sie ist vorbei, die ihr so innig liebtet, das treue fromme Weib! Sie, ach! sie ist vorbei! Was ist es, das man hat, das mehr zu klagen sei? Sie, euer halb Ihr, liegt. Wer hier nicht wolte weinen, des Adern müsten sein aus harten Kieselsteinen, sein Herze von Demant. So groß ist keine Not, als wenn das Ehband reißt durch einen frühen Tod. Gott weiß, wie laß ich bin, daß ich die Feder netzen und ihr ein Grabe-Lied und Denkschrift auf soll setzen, der ich gesonnen war ein Lied zu stimmen an, da ihres Herren Preis ihr würde kund getan. Sie war wie schon bedacht, auf was vor Art und Weisen sie wollte heben an, wenn er das lange Reisen, das Reisen, das die Ehr’ auf ihren Flügeln trägt und aller Welt sagt an, würd’ haben abgelegt mit Ruhm, als wie geschicht, wie sie ihn wolt’ empfangen, umarmen, Ehre tun. Diß war ihr bloß Verlangen. Ihr Sinn war stets auf ihn, wenn itzt der Morgen kaum, wenn itzt die Nacht brach an. Ihr Wachen, Schlaf und Traum war er, der liebe Man. Penelope vor Zeiten war eben so gesinnt, gieng wenig zu den Leuten, war zweimal fünf Jahr’ arm, wie Leden Tochter auch, des Atreus Sohnes Weib. Die Liebe hält den Brauch, teilt Herz und Sinn mit dem, an den sie ist verbunden, will nie alleine sein. Nun aber ist verschwunden ihr Hoffen und sie auch. Was lieb war und nun kränkt, das hat das letzte Recht in eine Gruft versenkt. Wer weiß nicht, wie sie war geschickt zu allem Handel im Lassen und im Tun, im Leben ohne Wandel,

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

vor ihrem Himmel rein und redlich vor der Welt, in allem Glücke gleich? Wer sich also verhält, der fällt nicht, wenn er fällt. Wie Veilgen unter Nelken, Pol unter Rosen reucht, auch wenn sie schon verwelken, wie süßer Benzoe und feister Weirauch drein 40 mit Mastix untermischt, indem sie glühend sein, die schöne Luft von sich in nah’ und weit verhauchen, so ist ihr edles Lob. Ihr Preis kan nicht verrauchen, ihr Ruhm, der stirbet nicht. Was aus der Tugend kömmt, das überlebt den Tod, bleibt, wenn ein Ende nimmt 45 was ist und noch nicht ist. Lucretie verbliche, ihr keusch Lob ist noch frisch, fragt nichts nach ihrem Stiche, den nur der Leib gefühlt. Polyxene lebt tot. Mausolus treues Weib ist noch gesund und rot: hat Karien ihr Grab, so hat die Welt die Treue, 50 die vielmal größer ist. Wer wol lebt, lebt aufs Neue, auch wenn er längst verwest. Preis ist der Seelen Teil, dem, wie dem Ganzen auch, mit keiner List und Pfeil’, ihr Parcen, könnet zu. Ein Iedes greift nach Seinen. Der große Himmel nimt sein Stücke von dem Keinen. 55 Was von der Erden ist, das heißt und bleibt doch sie, wird wieder, was es war. Was gilt mir Spat und Früh’? Ich muß doch einmal fort, Machaon kan uns fristen, nicht freien vor dem Tod’. Als wenn wir einst nicht müsten, wolln wir schon itzund nicht. Und ist uns diß noch frei, 60 daß wir itzt sind wolauf, so fürchten wir dabei: wer weiß, wie lang’ es steht? Das Auge dieser Erden schläft nun bei Gades ein, vergönnt den müden Pferden des Atlas kühles Bad; die ungestalte Nacht hüllt in ihr schwarzes Tuch, was noch auf Erden wacht. 65 Wie vielmal können wir indessen schlafen gehen, eh’ Titan wieder komt? Zehn Todesarten stehen und zehnmal zehne noch. Die Bogen sind gespannt, der Pfeil zielt auf uns zu aus der gewissen Hand, die fehlen nicht gelernt. Es ist bloß deine Gnade, 70 Jehova, Elohim, daß stündlich uns kein Schade, kein Unfall reißet hin. Kein Blick, der geht vorbei, kein Atem wird geholt, der Tod der hat uns frei; nicht aber mehr als Gott: wenn der gebeut zu würgen, da mag sich Keiner los von seinem Tode bürgen. 75 Kein Gold, kein Fußfall hilft. Man muß nur stille stehn, zu Vielen mitte hin ins schwarze Beinhaus gehn. Kein Mensch, sei wer er sei, der kan ihm das verheißen, daß er auf seinen Tod sich so viel woll’ entreißen. Mein Leben, meinen Tod hat der in seiner Hand, 80 der selbst das Leben ist, bei dem kein Tod bekant. Gott stirbt nicht, wie ein Mensch. Weil sie denn ihm beliebte,

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So tät’ er, was sie wolt’, hingegen uns betrübte; wo das betrüben soll, daß ein Gefangner frei, ein Toter lebend wird. Mein! sag’ mir, was es sei, 85 diß Leben, wie mans nennt! Ein Rauch ists, der verschwindet, ein Nebel, der nicht steht, ein Strick, der Seelen bindet, ein Kerker der Vernunft, ein Zuchthaus voller Not, ein Süßes auf den Schein, ein halb belebter Tod. Wie mahlen wir uns denn den Tod so scheußlich abe, 90 sind Unmuts und betrübt, wenn man uns sagt vom Grabe, das man zwar hassen wol, doch nicht vermeiden kan! Der Tod ist nicht so arg, als wir ihn sehen an. Tod ist das Leben selbst: er führt uns zu dem Leben, schleußt unsern Himmel auf, nimt, was uns ward gegeben, 95 giebt, was uns recht kömt zu. Der Tausch ist wol vergnügt: wenn man für Menschen Gott, für Tod das Leben kriegt, was ist hier eingebüßt? Gott tut wie Gärtner pflegen, pfropft, reutet aus, versetzt. Es heißt doch alles Segen, hat er uns schon betrübt. Es ist ihr wol geschehn: 100 sie sieht, was kein Mensch kan mit irdnen Augen sehn, geht über dem Gestirn’ in reinem Gold’ und Seiden, darein die Engel sich und Auserwählten kleiden, schaut den dreieinen Gott, nimmt ganz den Himmel ein, und wundert sich, daß wir so weit ab von ihr sein. 105 Gönnt ihr, was ihr euch wündscht, nehmt den betrübten Tittel Des Witwers willig an! Gott selbst steht hier im Mittel. Er tut es, was geschicht, nimmt, das er geben kan, giebt, daß es heiße doch: der Herr hat wol getan. Wir hoffen, was sie hat, und schicken uns beineben, 110 sind täglich tot mit ihr, auf daß wir mit ihr leben in langer Seligkeit. Wol dem, der so verdirbt! Wer eh’ stirbt, als er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt.“⁷²

In Flemings Werk, das in der posthumen Gesamtausgabe innerhalb der einzelnen, an den Formen orientierten Teile vor allem nach verschiedenen Gattungen der Gelegenheitspoesie geordnet ist, hat die Begräbnisdichtung einen festen, aber im Vergleich mit Dach doch begrenzteren Platz. Das mag bereits als Hinweis darauf gelten, daß Fleming sich auch freier gegenüber der Gattung des Epicediums verhält als Dach, der ebenso getreu wie mit begrenztem Erfolg um die Eindeutschung der Gattung bemüht ist. Das zitierte umfangreiche Alexandrinergedicht von Fleming, gerichtet auf den Tod der Gemahlin des Philipp Kruse, des Leiters jener Gesandtschaft nach Rußland und Persien, an der auch Fleming

72 Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 53–56 (Poet. Wälder II, 14, datiert 1634).

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teilgenommen hat, – dieses Gedicht ist freilich in allen seinen Einzelheiten ganz ebenso an die Tradition gebunden, es lebt ganz ebenso aus ihr wie die zahllosen Epicedien Dachs. Auch hier läßt sich zum Beispiel die Fülle der Argumente im umfangreichen, mehr als die Hälfte des Gedichts ausmachenden Trostteil Stück für Stück auf die antiken und christlichen Quellen zurückführen.⁷³ Auch alle Teile des Epicediums sind offenkundig vorhanden, wenngleich, was gewiß auch mit dem hier benutzten Vers, dem Alexandriner, zusammenhängt, weniger deutlich voneinander getrennt als beispielsweise bei Dach. Die laudatio findet man, gelegentlich zugleich schon als Trostargument ausgeformt,⁷⁴ ungefähr in den Versen 17–54. Lamentatio bieten die ersten Verse des Gedichts, dabei unter anderem auch die traditionelle, in Dachs früher analysiertem Lied in Strophe 6 stehende Billigung der Trauer nicht auslassend, die nur ein steinernes Herz nicht teilen würde. Von Vers 55 jedenfalls bis zum Ende reicht die consolatio. Aber dennoch ist in diesem Gedicht nicht nur, was sofort auffallen mag, die Darlegung der Trostgründe, durch ihre Breite wie durch die Art ihrer Verknüpfung, anders als bei Dach. Sondern wenn man, wie eben geschehen, nach den einzelnen Teilen des Epicediums fragt und ihr Vorhandensein feststellen kann, dann zeigt sich zugleich auch, daß eine bemerkenswerte und nicht folgenlose Vertauschung dieser Teile hier statthat. Die lamentatio geht der laudatio voraus. Damit entfällt zwangsläufig der sonst oft so deutliche und vielfach durch adversative Partikeln betonte Einschnitt vor dem Beginn der consolatio, die hier fast unvermerkt aus der laudatio hervorgeht und sich im Anschluß an sie sehr breit entfaltet. Diese Vertauschung der Teile hebt zwar das Formgesetz des Epicediums nicht völllig auf. Denn auch hier ist die consolatio als Gegenbewegung bezogen auf den Trauer auslösenden Todesfall, ist auch auf die Affektstillung gerichtet. Aber jenes Formgesetz wird hier doch spürbar abgewandelt. Indem die Klage am Beginn steht und noch vor der consolatio von der laudatio abgelöst wird, wird schon hier der Affekt der Trauer aufgefangen, und es wird so der vernünftigen, gelassenen Darlegung aller möglichen Trostgründe Raum geschaffen. Diese Darlegung gibt dem Gedicht das eigentliche Gepräge, und zwar nicht nur durch ihre Breite, sondern auch durch ihre Art. In der Haltung des Überredens, die ständig auf den am Ende auch noch einmal (in v. 105–106) ausdrück-

73 Vgl. u. a.: ständige Bedrohung durch den Tod, allgemeine Sterblichkeit (Fleming, v. 55ff.): Esteve-Forriol, S. 150f.; Kassel, S. 73ff.; v. Moos, Testimonienband, S. 113ff. – Tod von Gott bestimmt (v. 73ff.): v. Moos, Testimonienband, S. 137ff. – Tod als Befreiung, Leben als Kerker, Rauch, Nebel, Schein usw. (v. 82ff.): Esteve-Forriol, S. 152; Kassel, S. 82; v. Moos, Testimonienband, S. 151ff. – Tod als Weg in ein besseres Leben, die Tote in der Herrlichkeit des Jenseits (v. 95ff.): Esteve-Forriol, S. 149; Favez, S. 163ff. – Vorherbetrachtung des Todes (v. 109ff.): Kassel, S. 66ff., 87. 74 So in v. 36f., 42ff., 50ff.

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lich angesprochenen trauernden Witwer als Gegenüber bezogen ist, werden hier, vom Fluß der Alexandriner getragen, Zug um Zug die verschiedenartigen Trostargumente aneinandergereiht, um so den Grundgedanken in zahlreichen Variationen wirksam darzulegen: daß angesichts des irdischen Elends und der ständigen Todesbedrohtheit des Menschen der Tod ins wahre Leben führe und, so vorweg betrachtet, schon im Leben seinen Schrecken verlieren könne. Das zielt darauf, Gelassenheit durch Einsicht in das Unvermeidliche zu wecken. Der einzelne Todesfall ist damit nicht so sehr Anlaß von Trauer und Klage, die es zu besänftigen gilt, als vielmehr Gelegenheit, um zur praemeditatio mortis hinzuleiten, die zur Bändigung und Überwindung der durch die Erfahrung des Todes geweckten Affekte führen kann. In christlicher Ausprägung wird hier das Streben nach Apathia, nach Freiheit von den Affekten, wirksam, das die im 16. und 17. Jahrhundert so eindringlich erneuerte Stoa kennzeichnet. Mit seinem abweichenden Bauschema und der ihm entsprechenden Breite und Eigenart des Trostteils ist dieses Gedicht Flemings eine Randerscheinung im Bereich des Epicediums, die an der Grenze zu einer dem Epicedium verwandten, aber in ihrem Bauschema nicht ganz so genau bestimmten Gattung, der Consolatio nämlich, steht. Scaliger behandelt diese Gattung, die sich nicht nur auf Todesfälle, sondern auch auf anderes Unglück bezieht, im nächsten Kapitel nach dem Epicedium. An seinen Ausführungen⁷⁵ zeigt sich, wie auch die Con-

75 Zur Theorie der Consolatio im 16. u. 17. Jh. – für die Consolatio als poetische wie als prosaische Gattung gelten offenkundig dieselben Grundsätze – vgl. u. a. auch Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 394–401, wo (S. 394) vom „cum doloris affectu depugnare“ gesprochen wird und wo (S. 395) für die Consolatio zu einem Todesfall – teilweise in bezeichnender Nähe zum Trostteil in Flemings Gedicht – u. a. geraten wird: „Primùm testabimur dolorem nostrum: quae res benevolentiam gignit, fidemque conciliat: imò & per se dolorem levat ... Hinc dicemus, moderandum esse dolorem, sive is oriatur inde, quia aliquis mortem esse malam putet, sive quia malè esse mortuo credat, sive quia existimet, sibi nunc malè futurum. Nam in morte nihil esse mali, imò finem esse malorum, & transitum ad vitam meliorem. Ac proinde non perire aliquem, sed praeire ad loca laetiora. Imò vitam, quam degimus, mortem potiùs esse: ac tum demum nos vivere, cùm desinimus vivere. Nec mortuum ipsum lugeri oportere, quandoquidem cursum ille suum in stadio cucurrit, & jam brabeῖon exspectet: suam etiam personam in hoc orbis theatro optimè sustinuit, ac abunde sibi gloriae paravit. Eoque instar eorum, qui in scena partes suas peregere, vestē suam exuere debuisse, ac domum commeare; idque eo lubentiùs, quia non vilia, ut illi, sed coelestia habitacula peteret. Nec esse, quòd quis majorem honoris, vel plurium commodorum spem obtendat. Multos enim diutius vivendo ex felicibus reddi miseros; dum vel suorum, vel patriae etiam calamitates, intueri coràm coguntur, vel in caecitatem, egestatem, aliáve incidunt mala. Defunctum ab his periculis liberum apud beatos beatam degere vitam, atque ex sereno puroque videre jam, imò ridere, turbida haec nostra: turpe fore, si hanc ei sortem invideamus: stultum, si ob eam doleamus: nec enim tam mortui conditionem esse lugendam, quàm nostram ...” – D. Richter,

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solatio, die eingangs erläutert wird als eine „oratio reducens moerentis animum ad tranquillitatem“ (S. 168), als eine Rede, welche das Gemüt des Betrübten zur Ruhe zurückführt, es mit den Affekten zu tun hat. Durch verschiedenartige Gründe und nicht zuletzt durch Exempla, denen besondere überredende Kraft zugetraut wird, soll sie Affekte wie Trauer und Furcht überwinden und zu diesem Zweck andere Affekte wie die Hoffnung wecken. Um aber wirken zu können, ist es gut, wenn die Consolatio – auch dies ist wiederum ein aus antiken Quellen stammender Gedanke⁷⁶ – mit der Bekundung der Mittrauer einsetzt, die den Trauernden für den Zuspruch empfänglicher macht. Daher kann in der Consolatio als Einleitung eine lamentatio stehen. Eine laudatio hingegen ist offenkundig nicht vorgesehen.⁷⁷ So gibt es in der Consolatio nicht jene Spannung von Affekterregung und Affektstillung, die das besondere Formgesetz des Epicediums ausmacht. Sondern das Formgesetz der Consolatio ist es, auf den vorausgesetzten Affekt, dessen Begreiflichkeit allenfalls, um der Tröstung den Boden zu bereiten, in der einleitenden Bekundung der Mittrauer zugegeben wird, in breit angelegter, ununterbrochener Argumentationskette bis zu seiner völligen Überwindung einzuwirken. Von solcher Art ist der breite Konsolationsteil in Flemings Gedicht. Daran aber, daß es zugleich eine ausgeführte laudatio enthält, erweist sich, daß es dennoch nicht als Consolatio zu verstehen, sondern zu begreifen ist als eine von der Gattung der Consolatio beeinflußte Abwandlung des regelrechten Epicediums. Dadurch aber ist dieses Gedicht bezeichnend für die Rolle des Epicediums innerhalb von Flemings Begräbnisdichtung, für das Verhältnis Flemings zu den verschiedenen Formen solcher Dichtung. Bei Fleming gibt es, in Alexandrinern wie in Liedform, einerseits Stücke, die strenger als das hier behandelte die Gesetze des Epicediums befolgen, andererseits aber auch solche, die reine Consolationes mit einem einleitenden Klageteil ohne jede laudatio sind⁷⁸ und teilweise auch, den Anweisungen Scaligers entsprechend, mehr als im Epicedium sonst meist üblich Exempla verwenden.⁷⁹ Einzelne unter ihnen enthalten aber doch zugleich gewisse Züge des Epicediums, einen durch

Thesaurus oratorius novus, S. 128. – Zur Consolatio in Antike und Mittelalter vgl. die schon früher genannten Arbeiten von Favez, Johann, Kassel und v. Moos. 76 Vgl. Kassel, a.a.O., S. 51f.; s. auch die in Anm. 75 zitierte Stelle bei Vossius. 77 Vgl. auch die in Anm.  75 genannten und z.T. zitierten Stellen bei Vossius und D. Richter und die bei Johann, a.a.O., S. 135f., 139, 147, 153 gegebenen Aufbauschemata einiger antiker Trostschriften. 78 Vgl. Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 39, 40f. (diese beiden Stücke sogar ohne Klageteil), 50f., 255ff., 257ff., 262f., 263ff., 272ff., 274f., 276ff., 278f., 279ff., 282ff. 79 Vgl. Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 264, 276f., 279, 281; zur Rolle der Exempla in der antiken Consolatio s. Kassel, a.a.O., S. 70f.

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adversative Partikeln markierten stärkeren Einschnitt zwischen einem – teilweise breiter ausgeführten – Klageteil und der eigentlichen consolatio etwa und damit doch eine gewisse Spannung von Affekterregung und Affektstillung oder in der Schlußstrophe die aus der antiken Topik des Epicediums stammende Verheißung der Schmückung des Grabes durch Blumen.⁸⁰ Das Nebeneinander von Epicedium und Consolatio und der gelegentliche Austausch zwischen ihnen geben der Begräbnisdichtung Flemings das eigene Gepräge, das sie zum Beispiel von der durch das Nebeneinander von Epicedium und geistlichem Lied gekennzeichneten Begräbnisdichtung Dachs unterscheidet. Jenes besondere Gepräge von Flemings Begräbnisdichtung aber steht auf erhellende Weise im Zusammenhang mit einem anderen charakteristischen Zug in Flemings Dichtung. Die Consolatio, die anders als das Epicedium die lamentatio nur zum Zweck der Vorbereitung auf den Trost, nicht in einer Spannung zu ihm kennt und von vornherein auf die Heilung vom Affekt zielt, ist sehr viel mehr als das Epicedium prädestiniert für das Einfließen stoischer Gedanken. Die Entwicklung der Gattung in der Antike geschieht in enger Berührung mit der Stoa.⁸¹ Dementsprechend begegnen in Flemings Gedichten vom Typus der Consolatio mancherlei stoisch gefärbte Argumente.⁸² Stoische Gedanken und Motive finden sich aber auch sonst vielfach bei Fleming.⁸³ Seine Offenheit für den Neostoizismus des 16. und 17. Jahrhunderts scheint die Voraussetzung dafür zu sein, daß bei ihm die Consolatio neben dem Epicedium so breiten Raum einnimmt und dieses beeinflußt. Dieser Befund des Nebeneinanders von Epicedium und Consolatio bestätigt wiederum, daß Flemings Stoizismus mehr ist als eine nur beiläufige Frucht einer allenthalben wirksamen geistigen Strömung der Zeit, die sich als ein selbstverständliches Element auch bei anderen Dichtern des 17. Jahrhunderts findet, daß dieser Stoizismus Flemings vielmehr ein durchaus individueller Zug, das Ergebnis einer bestimmten geistigen Entscheidung ist, das auch auf die Wahl und Ausgestaltung literarischer Formmöglichkeiten sich auswirkt und auch so etwas von der geistigen Haltung des Autors ahnen läßt. Andreas Gryphius, von dem das dritte Beispiel, eine pindarische Ode, stammt, hat im Gegensatz zu vielen anderen barocken Dichtern nur verhältnismäßig wenige Begräbnisgedichte geschrieben, und er hat davon nur einige

80 Adversative Partikel: Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 40, 255, 263, 274, 278, 281, 283; Schmückung des Grabes (vgl. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 153): ebd., Bd. 1, S. 275, 278. 81 Vgl. dazu bes. Kassel, a.a.O., S. 17ff. 82 Vgl. z. B. Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 255ff., 257ff., 272ff., 274f., 279ff. 83 Besonders kennzeichnend z. B.: Fleming, Deutsche Gedichte, Bd.  1, S.  128ff. (In GroßNeugart der Reußen, M. DC. XXXIV), S. 460 (Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct. Grabschrift, so er ihm selbst gemacht ... drei Tage vor seinem seligen Absterben), S. 472 (An sich).

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Sonette und Epigramme in die Sammlungen seiner Gedichte aufgenommen.⁸⁴ Unter dieser nicht sehr großen Zahl von Begräbnisgedichten gibt es keinen vorherrschenden Typus; neben einer Reihe von Epicedien stehen inschriftartige Epitaphien und einige freier gestaltete Stücke. Es bezeugt sich darin eine Distanz gegenüber mancherlei Formen und literarischen Konventionen der Zeit, die sich auch in anderer Hinsicht bei Andreas Gryphius feststellen läßt.⁸⁵ So kann auch das eine ausgewählte Beispiel für die Begräbnisdichtung und insbesondere für das Epicedium bei Gryphius nur in dem Sinne repräsentativ sein, daß es auf seine Weise jene Distanz, die Freiheit im Umgang mit den literarischen Möglichkeiten bezeugt und zugleich als ein weiterer Beleg dafür dient, welchen Spielraum die Gattung des Epicediums bei aller Traditionsbestimmtheit bietet:⁸⁶ „Begräbnis-Ode eines Kindes an die Eltern.

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1. Satz. Ach hat des Himmels Zorn noch nicht genung gewüttet Auf eur bestürtztes Hauß? Läst er mehr Flammen aus Auf den / den er so offt mit Weh gantz überschüttet? Ists nicht genung daß ihr den trüben Fall erlebt Der euer Vaterland durch Brand und Schwerdt In Dunst und Grauß und Staub und nichts verkehrt / In dem Europa sich in eigen Asch eingräbt? Ists nicht genung nach vielen Hertzen-Rissen Freund und Verwandte missen? Es vergingen auch die Wände Eh ihr recht gezogen ein / In kaum eine Handvoll Brände Und von Glut zusprengte Stein;

84 Sie finden sich im ersten und zweiten Sonettbuch sowie in den deutschen und lateinischen Epigrammbüchern. Ein längeres deutsches Gedicht in Alexandrinern und ein längeres lateinisches Gedicht in Hexametern stehen am Ende der Lissaer „Sonnete“; beide sind von Gryphius später nicht mehr neu gedruckt worden. Eine Reihe weiterer Sonette und fünf große Begräbnisgedichte verschiedener Form hat erst Christian Gryphius in die posthume Gesamtausgabe von 1698 (in das Buch der verstreuten und nachgelassenen Sonette bzw. in die Gruppe „Begräbnis-Gedichte“) aufgenommen. 85 Man denke in der Lyrik des Gryphius etwa an die Beschränkung auf wenige Formen wie Sonett, Ode, Epigramm und auf wenige Themenbereiche, unter denen die geistliche Thematik überwiegt, andererseits aber auch an die Selbständigkeit in der Ausgestaltung von Formen wie Sonett und Ode oder an die Eigenständigkeit des Gryphius innerhalb der Perikopen- und der Passionsdichtung (hierzu Hans-Henrik Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern, München 1974). 86 Einige ergänzende Hinweise zu den Epicedien in Sonettform s. unten im Exkurs.

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Als die bewegte Stadt in einer Nacht auffflog Und aller Schweiß in Rauch u schwartze Wolcken zog. Graute den gepresten Hertzen Wehrter Freund vor grösser Schmertzen? 1. Gegensatz. Doch nein / ihr habt kaum recht die Wohnung aufgeführet; So geht sie wieder ein Durch den (ô herbe Pein!) Der eures Hauses Grund / und euer Hauß gezieret / Der Sohn / der liebe Sohn / eur ein und höchste Lust Wird / eh ihn kaum die schnelle Seuch erblickt / Aus dieser Zeit und euer Schoß gerückt / Und läst die kalte Leich an seiner Mutter Brust. Und ihr / nach dem ihr alles müssen wagen / Must eur Fleisch zu Grabe tragen. Dieß ist wohl die tieffste Wunde / Die die rauhe Noth euch schlägt; Euch den eine schwere Stunde Jammer über Weh erregt. Ists frembd das eur Gesicht in lauter Thränen schwimt / Wenn die entdeckte Grufft eur kaltes Blut auffnit? Daß ihr über dem euch kräncket Das kein Tag nicht wieder schencket.

1. Abgesang. Doch hebt die Augen auf und seht nach dieser Hand Die euch so rauh angreifft / Man urtheilt ob verderb’ ein hart erschüttert Land 40 Wenn Süd und Norden pfeifft Und alle Donner Lüffte blitzen Und die zerspaltnen Wolcken schwitzen. Doch wenn der scharffe Sturm vergangen / Sieht man mit Blüt und Früchten prangen 45 Was man für verlohren schätzte / was man als verdorben hielt Wen hat GOtt so offt bewehret? der bey ihm das meiste gilt / Der dem des Himmels Schatz heimfällt Schlägt den Verlust der Erden aus. Der der den höchsten Freund behält 50 Klagt nicht sein hoch verwäiset Hauß.

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2. Satz. Wahr ists / diß schöne Kind / war eur höchste Wonne Und Wollust dieser Stadt. Den nicht beweget hat Das liebliche Gesicht der keuschen Augen Sonne / Der trefliche Verstand der über seine Jahr /

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Der grosse Muth der in der Tage Blum Schon vor sich drang nach ewig hohem Ruhm Und was mehr mit ihm fält auf die geschwärtzte Baar / Muß Menschlich nichts in Menschen Gliedern haben: Sind die Himmel wehrten Gaben Ihm nur darum einverleibet Daß weil er gantz hilisch wär Von uns da nichts hilisch bleibet Eilte zu der Sternen Heer. Mein Friedrich hast du denn / (weil alles hier verflucht) Zu grimmen Krieg so bald den Frieden dort gesucht? Muste dieser Raum der Erden Dir so bald zu enge werden.

2. Gegensatz. Ja wol / du bist denn hin! kein Todt hat dich verletzet / 70 Der Höchste ruffte dich Aus dieser Angst zu sich. Eh du die Pein gefühlt die uns ins Sterben setzet. Nun steckt die falsche Lust mit keiner Pest dich an; Dein reiner Geist steht unbefleckt für GOtt 75 Und lacht uns aus die wir um Spott und Koth Hingehn / wo blosses Schwerdt und Rasen führen kann / Dir wird kein Gifft der Natter-Zungen schaden / Du wirst nicht in Thränen baden / Nicht im Untergang der Reiche 80 Suchen wie und wo du liegst / Ob du unbetraurte Leiche Irgend eine Grube kriegst. Jetzt bleibst du unbewegt und siehst die Eitelkeit Der Erden sicher an / das Jammer-Spiel der Zeit. 85 Weißheit selbst hat dich gelehret Was kein Ohr je hat gehöret.

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2. Abgesang. O wol dem der so wol und bald von hier entgeht! Und bald die Kron erwirbt / Die mancher kaum erhält der Ach und Angst aussteht Und nach Viel Jammer stirbt. Wol dem / den dieser Fried umfangen! Der zu dem Vater heimgegangen / Der dieses Wohnhauß eingenommen Darein noch Brand noch Seuch je kommen Muß der Cörper gleich was warten / wird er gleich ins Grab versteckt Er blüht doch auf Gottes Acker / wenn sein Lentz ihn auferweckt. Was man beträhnt aussät allhier Und mit viel Winseln scharret ein /

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Diß Fleisch wird stracks voll neuer Zier 100 Geschmückt / und unverweßlich seyn.“⁸⁷

Das Besondere dieses Beispiels erwächst daraus, wie die Form der für Begräbnisgedichte oft verwendeten pindarischen Ode sich mit den Gesetzen des Epicediums verbindet. Wiederum hilft hier die Kenntnis des Bauschemas des Epicediums zunächst einmal dazu, das ganze Gedicht, seine Gliederung, seinen Ablauf zu überblicken. Dabei zeigt sich, daß alle erforderlichen Teile in der üblichen Reihenfolge und doch in einer ungewöhnlichen Anordnung vorhanden sind. Das Gedicht setzt ein mit einem längeren Proömion, das vom vorangegangenen sonstigen Unglück der Trauernden spricht. Auf dieses in einer Frage (v. 18) endende Proömion folgt ab v. 19 als steigernde Antwort eine Partie, die zunächst in knapper Form eine laudatio (v. 22–23 eigentlich nur) enthält, dann mit einer iacturae demonstratio (v. 24 ff.) in die lamentatio übergeht und dabei mit einer probatio der Trauer endet (v. 33–36). Darauf folgt in v. 37–50 eine consolatio. In v. 51–68 schließt sich eine weitere laudatio an, verbunden mit dem ähnlich auch in den Beispielen von Dach und Fleming vorhandenen traditionellen, die Trauer billigenden Hinweis, daß nur ein Unmensch hier nicht mitempfinden könne; daran fügen sich einige Verse der lamentatio. Dann führt eine breite consolatio von v. 69 bis zum Ende. Das Ungewöhnliche an diesem Gedicht ist also, daß, nach dem für die ganze Ode geltenden Proömion, die Hauptteile des Epicediums zweimal auftauchen. Das ist verknüpft mit der Gliederung der pindarischen Ode und gewinnt in ihr und durch sie Bedeutung. Die Grenzen zwischen den einzelnen Teilen der Ode fallen mit den Einschnitten zwischen einzelnen Epicedienteilen zusammen; die Teile der Ode werden jeweils von einem oder mehreren Teilen des Epicediums gefüllt. Der erste Satz der Ode enthält das Proömion, der erste Gegensatz die erste laudatio und lamentatio, der erste Abgesang die erste consolatio. Mit dem Anfang des zweiten Teils der Ode beginnt die Wiederholung der Epicedienteile. Im zweiten Satz stehen die zweite laudatio und lamentatio, im zweiten Gegensatz und im zweiten Abgesang die zweite consolatio. Die ganze Ode durchläuft also zweimal den zum Epicedium gehörigen Spannungsbogen von Affekterregung und Affektstillung, und sie tut dies so, daß nicht nur die einzelnen Odenteile für sich in Übereinstimmung mit Teilen des Epicediums stehen, sondern auch der

87 Andreas Gryphius, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hrsg. v. Marian Szyrocki, Hugh Powell, Tübingen 1963ff. (Neudr. dt. Literaturwerke, N.F. 9ff.), Bd. 3, S. 130–132, Begräbnis-Gedichte, V (die Verse 79–82, die in den Ausgaben fälschlich zu zwei Versen zusammengefaßt erscheinen, sind im obigen Abdruck des Textes entsprechend dem metrischen Schema der ganzen Ode als vier einzelne Verse wiedergegeben worden).

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doppelte Ablauf von Affekterregung und Affektstillung genau auf die beiden Hälften der Ode verteilt ist. Dabei wird jener Spannungsbogen innerhalb der beiden Teile der Ode jeweils in Übereinstimmung mit dem Gesetz der pindarischen Ode durchlaufen, deren Teile von der Poetik der Zeit so verstanden werden, daß Satz und Gegensatz in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen sollen, das dann im Nachsatz aufgehoben wird.⁸⁸ Der erste Gegensatz in der Ode des Gryphius stellt dem im ersten Satz bezeichneten Unglück, das die Trauernden bisher schon erfahren haben, das größere Unglück des gegenwärtigen Todesfalls gegenüber, der erste Abgesang hebt das in der consolatio auf. Der zweite Gegensatz stellt der laudatio und lamentatio, die den zweiten Satz ausmachen, eine consolatio entgegen, die der zweite Abgesang durch eine Preisung des seligen Toten überhöht. Mit dieser Art der Verbindung von Epicedien- und Odenteilen, die die innere Spannung der Odenform auf verschiedene Weise verwirklicht, wird zugleich der in beiden Hälften der Ode vorhandene Ablauf von Affekterregung und Affektstillung kunstvoll variiert. Denn in der ersten Odenhälfte stehen das im Proömion geschilderte übrige Unglück und der gegenwärtige Todesfall in dem zur pindarischen Ode gehörenden Spannungsverhältnis und nehmen dabei zusammen mehr Raum ein als die die Spannung ausgleichende consolatio im ersten Abgesang. In der zweiten Odenhälfte hingegen nehmen laudatio und lamentatio nur den Satz ein, und die den größeren Teil dieser Odenhälfte füllende consolatio gibt sowohl den Gegenpol zum Satz als auch die Auflösung der Spannung von Satz und Gegensatz ab. In einem gewissen Kontrast zu dieser verschiedenartigen Füllung der einander entsprechenden Odenteile steht, daß sich in beiden Odenhälften eine auffallend ähnliche Verknüpfung des jeweiligen Gegensatzes und Abgesangs beobachten läßt. Erster Gegensatz und erster Abgesang sind dadurch miteinander verbunden, daß sie beide mit einem anaphorischen „Doch“ einsetzen, das beim Abgesang das gattungstypische, die consolatio einleitende „doch“ ist. Zweiter Gegensatz und zweiter Abgesang sind durch die leicht voneinander abweichenden, ebenfalls anaphorischen Wortgruppen „Ja wol“ und „O wol“ miteinander verknüpft. Dabei besteht jedoch das Paradox, daß diese leicht voneinander abweichenden Wortgruppen, in denen

88 Vgl. dazu u. a. Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, S.  133 – Daniel Georg Morhof, Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, hrsg. v. Henning Boetius, Bad Homburg v.d.H. 1969 (Ars poetica, Texte, Bd. 1), S. 308 – Omeis, Gründliche Anleitung, S. 105ff. – Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 1, Bl. D4rff. – s. auch Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, Darmstadt 1961 (Nachdr. d. Ausg. München 1923), S. 74f., wo jene Auffassung der zeitgenössischen Poetik jedoch allzu rasch als „schulmäßig-banale Vorschrift“ abgetan wird.

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das gleichlautende „wol“ jeweils eine andere Bedeutung hat, doch zueinander gehörende, nämlich konsolatorische Odenteile einleiten, während das „doch“ in der ersten Odenhälfte einen Gegensatz und einen Abgesang einleitet, die als laudatio und lamentatio auf der einen und consolatio auf der anderen Seite einander entgegengesetzt sind. Das nicht nur dem Klang, sondern auch dem Sinn nach übereinstimmende „Doch“ am Beginn von erstem Gegensatz und Abgesang bezeichnet einen zweimaligen Umschwung, vom bisherigen Unglück zum größeren des jetzigen Todesfalls und von diesem zur Tröstung; das nur dem Klang, doch nicht dem Sinne nach übereinstimmende „wol“ hingegen verbindet zwei Stücke, von denen das zweite das erste fortsetzt und überhöht. Dieser Unterschied der scheinbar verwandten anaphorischen Einsätze signalisiert, daß in der ersten Hälfte der Ode ein schrofferer Affektwechsel als in der zweiten vorgeht, in der bezeichnenderweise auch zwischen lamentatio und consolatio die sonst in der Gattung so häufige adversative Partikel fehlt; sie ist, im Unterschied zur ersten Hälfte der Ode, ersetzt durch jenes eine ergebene Feststellung einleitende „Ja wol“. Dieser Unterschied in der Art des Affektwechsels korrespondiert der schon festgestellten unterschiedlichen Verteilung der Epicedienteile innerhalb der Odenhälften. Damit ist die erste Hälfte der Ode in mehrfacher Hinsicht beherrscht von laudatio (die im Falle eines Kindes traditionell knapp ist)⁸⁹ und vor allem lamentatio, die zweite hingegen von der consolatio. Das aber besagt, daß diese Ode den Spannungsbogen von Affekterregung und Affektstillung, den ihre beiden Hälften in jeweils anderer Weise für sich durchlaufen, zugleich auch als Ganzes nachvollzieht. Ganz allerdings hat man die Eigenart dieser Ode erst erfaßt, wenn man beachtet, daß dieses durch Korrespondenz und Variation so kunstvoll, ja raffiniert gebaute Epicedium sich auch in seiner Auslegung des Formgesetzes von Affekterregung und Affektstillung von den Beispielen von Dach und Fleming unterscheidet. Durch seinen sehr überlegten Bau hebt es die Spannung zwischen Affekterregung und Affektstillung sehr viel stärker hervor, und es bezieht sie durch die Art der consolatio auf einen sehr entschieden aufgefaßten Gegensatz von Irdischem und Ewigem. Diese consolatio argumentiert nicht wie bei Dach mit der allgemeinen Sterblichkeit, sie appelliert nicht wie bei Fleming mit einer unendlichen Kette von vernünftigen Argumenten an die Einsicht der Trauernden, sondern sie setzt, dabei natürlich wie die anderen ständig mit der sich anbietenden Topik arbeitend, der Klage die Gottverhängtheit des Todesfalls und die Herrlichkeit des ewi-

89 Vgl. die in Anm. 69 zitierte Stelle bei J.A. Fabricius oder die Ausführungen von Pontanus (Poeticarum Institutionum libri tres, S.  240ff.) über Trauergedichte auf Kinder und Heranwachsende.

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gen Lebens, die von allem irdischen Elend freimacht, als etwas auch im Schmerz unbedingt Gültiges entgegen, das über die Topik der consolatio hinaus durch mehrere biblische Anspielungen beglaubigt wird.⁹⁰ Die Verbindung von äußerster Kunstbewußtheit mit selbstverständlicher christlicher Gläubigkeit aber – das ist eine Verbindung, die man auch sonst bei Gryphius finden kann,⁹¹ und so mag denn diese entschieden christliche Ausprägung des Epicediums für ihn ebenso als charakteristisch gelten, wie die christlich-stoizistische Abwandlung des Epicediums bei Fleming für dessen geistige Haltung sich als Bestätigung erweist. Die drei näher erläuterten Epicedien von Dach, Fleming und Gryphius zeigen, wie aus den bis in die antiken Quellen in Rhetorik, Poetik und Literatur zurückverfolgten und dadurch erläuterten Gesetzmäßigkeiten auch in einer so traditionsgebundenen barocken Gattung das einzelne Gedicht als ein einzelnes gesehen, in seiner Besonderheit verstanden, gegen andere vergleichend und wertend abgegrenzt werden kann. Es hat hier allerdings keinen Sinn, direkt nach individuellem Gehalt, persönlichem Bekenntnis zu fragen, – zu glauben, man werde wahrer Dichtung am ehesten dort begegnen, wo der Gelegenheitscharakter am wenigsten zu spüren sei,⁹² – zu meinen, man müsse vom Zeitbedingten absehen, um Zeitloses zu finden.⁹³ Das sind unangemessene Kriterien.

90 Vgl. u. a. zu v. 37f.: Jes. 49, 18 („HEb deine augen auff vmbher  / vnd sihe“), Hiob 19, 21 („Denn die hand Gottes hat mich gerürt“), Ps. 32, 4 („Denn deine Hand war tag vnd nacht schweer auff mir“), Ps. 38, 3 („deine Hand drücket mich“) – v. 86: 1. Kor. 2, 9 („Das kein Auge gesehen hat / vnd kein Ohre gehöret hat / vnd in keines Menschen hertz komen ist / das Gott bereitet hat / denen / die jn lieben“) – v. 87f.: Jak. 1, 12 („SElig ist der Man / der die anfechtung erduldet / Denn nach dem er beweret ist / wird er die Krone des Lebens empfahen / welche Gott verheissen hat denen / die jn liebhaben“) – v. 92f.: Joh. 14, 2 („In meines Vaters hause sind viel Wonungen. Wens nicht so were / so wolt ich zu euch sagen / Ich gehe hin / euch die Stete zu bereiten“) – v. 97ff.: Ps. 126, 5. 6 („Die mit Threnen seen / Werden mit freuden erndten. Sie gehen hin vnd weinen / vnd tragen edlen Samen / Vnd komen mit Freuden / vnd bringen jre Garben“), 1. Kor. 15, 42 („ES wird geseet verweslich / Vnd wird aufferstehen vnuerweslich“). (Bibelzitate nach: Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht. D. Mart. Luth., Nachdr. d. Ausg. Wittenberg 1545, Stuttgart 1967). 91 Vgl. dazu bes. Böckmann, Formgeschichte, S. 416ff., und Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition. 92 So etwa v. Waldberg, Die Deutsche Renaissance-Lyrik, S. 6 – Ziesemer, Simon Dach, S. 51 („Dach erhebt sich zuweilen, indem er den Anlaß nur kurz andeutet oder ganz beiseite läßt, zu einer Dichtung, der der Gelegenheitsursprung kaum oder gar nicht mehr anzumerken ist. Da ist es, wenigstens im Kern, erlebte Dichtung, nicht leeres Wortgerede, und was uns fremdartig berührt, ist vor allem die vom Zeitlichen abhängige Form: das Entlehnte, Handwerksmäßige, Mechanische in Wortwahl, Bildern, superlativischen Wendungen“). 93 Vgl. Ziesemer, Simon Dach, S. 51: „man muß zunächst das Zeitliche, durch Geschmack und Mode Bedingte, was uns beim ersten Anblick befremden mag, ausschalten, dann gelangt man

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Denn auch die Werke der namhaften Dichter des 17.  Jahrhunderts sind nach den Vorschriften der Poetik und Rhetorik gearbeitet, die den Autoren schon von der Schule her ganz selbstverständlich vertraut waren. Das 17. Jahrhundert als eine bestimmte, in Fortsetzung und Opposition dann von andersartigen Versuchen abgelöste Phase der Aneignung der Antike ist das Jahrhundert der in besonderem Maße in der Rhetorik – und das sind eben nicht nur die rhetorischen Figuren – begründeten Dichtung, und es führt in die Irre, wollte man darüber hinwegsehen. Worauf es in solcher Dichtung ankommt, das ist nicht die vermeintliche Loslösung vom Schema, seine Überwindung, sondern seine Erfüllung. Nur in der Art und Qualität der Erfüllung, in der selbständigen Aneignung und Abwandlung des Schemas liegen die Kriterien, nach denen sich ein einzelnes Beispiel einer Gattung wie des Epicediums beurteilen läßt. Nur indem man sie konsequent in ihren eigenen Voraussetzungen aufsucht und an ihnen mißt, läßt sich die Literatur dieser Epoche überhaupt verstehen. Nur von diesen Voraussetzungen aus ist aber auch noch das Ende des Epicediums und der übrigen Gelegenheitsdichtung im 18.  Jahrhundert zu begreifen. Man sieht es, wie die einleitenden Zitate zeigten, gerne bei Johann Christian Günther gekommen und erklärt sich das dann mit der griffigen Formel, daß hier die Gelegenheitsdichtung durch die Erlebnisdichtung abgelöst werde. Aber Günther, der noch zahlreiche Epicedien, vor allem in sehr beweglichen Alexandrinern, geschrieben hat und darin seine völlige Vertrautheit mit den traditionellen Anforderungen der Gattung erweist, steht mit der Art seiner Epicedien gar nicht allein,⁹⁴ sondern bezeichnet nur zusammen mit älteren Autoren wie Christian Gryphius oder Mühlpfort⁹⁵ eine zum Ende hinführende Phase der Epicediendichtung. Diese stirbt hier noch keineswegs ab, sondern ihre Auflösung bereitet sich nur insofern vor, als die durchaus noch vorhandene Gliederung des Epicediums und die den einzelnen Teilen zugehörige Topik immer mehr überdeckt werden von einer immer stärker wuchernden, immer selbstgenügsamer werdenden Metaphorik, die die besonderen Züge des Epicediums zurücktreten

leicht zur Erfassung des Wesentlichen und findet von allem Zufälligen befreite zeitlose Werte“. 94 Es erscheint deshalb fragwürdig, Günthers Gelegenheitsdichtung so, wie das etwa W. Krämer in der Einleitung zu Band 5 seiner Günther-Ausg. tut, der übrigen Lyrik Günthers gegenüberzustellen und an dem Kriterium der „Echtheit“ zu messen. Vielmehr wäre Günther insgesamt zunächst viel stärker von seinem Zusammenhang mit barocker Überlieferung her zu sehen, um das Andersartige an ihm, das von jener Überlieferung her sich eher als Wildwuchs, als nur allzu privater Ausbruch darstellt, mit Vorsicht genauer zu kennzeichnen. 95 Vgl. Christian Gryphius, Poetische Wälder, 3Breslau/Leipzig 1718, S. 255–558: Anderes Buch / Leichen-Gedichte – Heinrich Mühlpfort, Teutsche Gedichte, Breslau 1686, [Teil 3], S. 3–463: Leichen-Gedichte.

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läßt und dämpft. Die reiche Bildlichkeit wird wichtiger als die deutliche oder gar scharfe Ausprägung der Spannung des Epicediums, die traditionellen Topoi werden überlagert und nahezu verhüllt von den sie amplifizierenden metaphorischen Inventionen.⁹⁶ Das aber spiegelt auch Veränderungen des Verständnisses

96 Drei Beispiele wenigstens aus Günthers Gedichten mögen das an den drei Teilen des Epicediums belegen. Ein Begräbnisgedicht auf eine „als ein Muster des preiswürdigen Frauenzimmers verehrte“ Frau (Sämtl. Werke, Bd. 5, S. 10ff.) häuft in den ersten sechs, aus je acht Alexandrinern bestehenden Strophen zunächst eine Fülle von Exempeln, ehe es mit ihrer Anwendung zur eigentlichen laudatio kommt, aus der dann der übrige Teil des Gedichts weitgehend besteht. Im Gedicht auf einen Wittenberger Schulrektor (Bd. 5, S. 125ff.) wird die Darstellung und Billigung der Trauer der Witwe mit mehreren, verschiedenartigen Bildern verknüpft: „Sie seufzt, sie ächzt, sie stöhnt, sie schluchzt, verstummt und schreyt; Der herbe Wechsel ist ein Sinnbild ächter Liebe; Ja, wir bestraften sie, wenn die Gerechtigkeit Vor ihre Traur und Leid nicht einen Freybrief schriebe. So aber wanckt ein Haupt, wenn ihm die Cron entfällt, Es muß der Balsambaum auf Schnidt und Meßer weinen, Sinckt doch die stärckste Last, wenn sie kein Grund erhält Und Wind und Boden es mit ihr verräthrisch meinen, Geschweige denn ein Mensch, der Fleisch und Adern trägt, Geschweige denn ein Weib, das Werckzeug schwacher Sinnen, Zumahl wenn ihr das Meer den besten Mast zerschlägt Und Schaden und Verlust ihr höchstes Gut gewinnen.“ Oder in einem an den Vater, einen Theologen und Schulinspektor, gerichteten Gedicht auf ein Kind (Bd. 4, S. 10ff.) werden altüberlieferte Trostargumente (der Tote in der ewigen Herrlichkeit; deren Gegensatz zum irdischen Elend), die hier, da es sich um ein Kind handelt, der Tradition gemäß breiten Raum einnehmen, u. a. mit folgenden Bildern dargeboten: „Doch er erfreut sich jezt in Salems sichern Mauren, Wo er des Höchsten Lob mit tausend Psalmen preist. Nun kan der Himmel ihm zu einer Schule werden, Es ist der Weißheit Glanz sein wahres Eigenthum, Ja er verlacht den Tand der Klügsten auf der Erden Und achtet nur wie Glas den allergrösten Ruhm. Hier speist ihn Engelbrodt an statt Egyptens Bohnen, Kein tödtlich Seelengift versalzet seine Kost. Ihn ziert ein großer Schmuck von vielen Kaysercronen, Sein Seelenmalvasier ist mehr als Nectarmost. Er darf nicht wie zuvor in Kedars schwarzen Hütten, Wo man Zeboims Mord und Drachenhöhlen sieht, Um ein erwüntschtes Heil und die Erlösung bitten, Weil ewig Wohlergehn auf seiner Scheitel blüht. ... Beglückt, wer so wie du Gomorrhens Blutgerichte Und Sodoms Zauberwein, so bald er kan, verläst;

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für die Funktion der Teile und die Wirkung des Ganzen, muß selbst solche Veränderungen befördern und dieses Verständnis schließlich mit aufheben. Es läßt sich hier wie auch sonst seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts eine zunehmende Verselbständigung, eine immer größere Künstlichkeit der Bildlichkeit, eine immer stärkere Ausweitung der von der Poetik gelehrten ausschmükkenden inventio beobachten. Das unter anderem bringt schließlich, als Reaktion gegen eine aus der Antike-Rezeption der Renaissance hervorgegangene immer fiktiver werdende Literaturwelt, in bestimmten, hier nicht näher zu erörternden Phasen die allmähliche Auflösung der tradierten Rhetorik und die Abwendung von der Gleichsetzung der Dichtkunst mit der Redekunst und das heißt vom Barock.⁹⁷Nicht einfach der Durchbruch der Erlebnisdichtung macht dem Epi-

Ein Gosen reicht uns dort weit beßre Zuckerfrüchte, Woraus man Göttertranck und Muscateller preßt. Entseelter Jonathan, schlaf in dem kühlen Sande, Bis einst der große Bau der festen Erden bricht; Dein nunmehr freyer Geist schwebt im gelobten Lande, Wo er von Jesu viel und deßen Warheit spricht. Aus Nain führt dich Gott auf Thabors Freudenhügel, Wo deiner Seelen Schaz kein Höllengeyer raubt.“ 97 Mancherlei Hinweise dazu u. a. bei Böckmann, Formgeschichte (in den Kapiteln zum 18. Jh.) und vor allem bei Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Der Vorgang müßte allerdings noch stärker im Zusammenhang mit der Geschichte der Rhetorik selbst und innerhalb der Poetikliteratur verfolgt werden. Kennzeichnend ist etwa die Kritik, die man im 18. Jh. innerhalb der Rhetorik an der Topik übt (vgl. u. a. Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 107ff.). Oder man kann z. B. bei Morhof, bei dem auch bereits Kritik am barocken Stil verschiedentlich vorgebracht wird, beiläufig eine Bemerkung wie die finden, daß bei „kleinen Carmina ... die Dispositiones Rhetoricas so genau ... zu suchen  / ... zu Haarkläuberisch zu seyn“ scheine (Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, S. 325). Im engeren Bereich der Leichabdankung und des Epicediums fällt auf, daß man im 18. Jh. in einer Weise, die über die aus der Lehre vom aptum sich ergebenden üblichen Abstufungen (vgl. oben Anm. 69) hinausgeht, besorgt vor einem unangemessenen Gebrauch warnt, so bei Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 456f. („Man kan weder die Klage, noch den Trost brauchen, wenn an dem Verstorbenen nicht viel zu bedauren ist, oder wenn niemand da ist, der sich um ihn grämen wird. Solche Leichen aber kommen nicht selten vor, und da thut ein kluger Redner wohl, wenn er kein groß Aufhebens machet. Denn denjenigen sehr zu bedauren, den die Welt sehr wohl hat entbehren können, das wird für eine satirische Verspottung aufgenommen. Und die hinterbliebenen weitläuftig zu trösten, wenn sie Gott danken, daß der Verstorbene sie einer Last überhoben; das heißt sie verspotten, und bey jedermann zum Gelächter machen“); Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, S.  730; Hunold-Menantes, Einleitung Zur Teutschen Oratorie, S. 386ff.; Wahll, Gründliche Einleitung zu der ... Teutschen Poesie, S. 77. Das gewiß noch aus der Lehre vom aptum sich herleitende Mißtrauen gegen eine bedingungslose Anwendung der Regeln beginnt sich hier, noch unvermerkt, gegen die unbedingte Gel-

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cedium wie der ganzen barocken Gelegenheitsdichtung ein Ende, sondern die zunehmende Abkehr von jener Gleichsetzung von Redekunst und Dichtkunst, die die Gelegenheitsdichtung seit der Renaissance hervorgebracht und getragen hatte.⁹⁸ Mit der Rolle der Rhetorik fallen auch die zum genus ἐpideiktikὸn gehörenden Gattungen dahin.

tung der Regeln selbst zu kehren. Gleichzeitig begegnen jetzt – ein weiteres Symptom sich vollziehender Wandlungen – Hinweise darauf, daß die Reihenfolge der herkömmlichen Teile (laudatio, lamentatio, consolatio) geändert werden könne, ja mehr oder weniger ins Belieben des Autors gestellt sei (so Bohse-Talander, Wegweiser zur Teutschen Rede-Kunst, S. 446 – Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, S. 730 – Wahll, Gründliche Einleitung zu der ... Teutschen Poesie, S. 76). Auch das bezeugt ein Verständnis, das sich von der Überlieferung der Gattung und ihren Voraussetzungen entfernt. Denn bis dahin war, trotz gelegentlichen Abweichungen in den antiken Mustern (vgl. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 113f.), die Folge der Teile als so verbindlich aufgefaßt worden, daß andersartige Gestaltungen, sofern sie nicht überhaupt anderen, verwandten Gattungen zugehören, nur als begründete Abweichungen von der Norm zu verstehen, aber nicht als beliebiges Ergebnis der Willkür des Autors möglich waren. 98 Bezeichnend dafür die Art der Kritik, die im 18. Jh. an der Gelegenheitsdichtung laut wird. Bei Johann Bernhard Basedow, Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, Kopenhagen 1756, S. 621, beispielsweise heißt es: „Beynahe hätte ich die Gelegenheitsgedichte vergessen, und sie verdienen es beynahe. Was kann man an Neujahrs- Geburts- Namens- und Gedächtnißtagen, bey gewissen Hochzeiten, Sterbefällen, Beförderungen und Jubiläen für Gutes sagen, wenn die Personen, die es angeht, nicht von hohem Werthe sind, oder ein dankbares und zärtliches Herz nicht etwas erfindet, das es auch sonst hätte sagen können? Man muß alsdenn entweder der Versuchung, Verse zu machen, widerstehen, oder seinen poetischen ehrlichen Namen verlieren, oder von ganz etwas anders als seinen Helden reden ... In den Bremischen Beyträgen und verm. Schriften sind sehr schöne Gelegenheitsgedichte anzutreffen. Aber die Gelegenheiten waren es auch werth“. Oder bei Johann Christoph Dommerich, Entwurf einer Deutschen Dichtkunst, Braunschweig 1758, S. 51f.: „Da nicht alle, besonders Privatbegebenheiten, die gehörige poetische Grösse besizen: ... so entsteht daher die ungeheure Menge schlechter Gelegenheitsgedichte, welche so vielen Anteil an dem Verderben des guten Geschmacks haben. Man hat zwar dadurch den Gelegenheitsgedichten aufzuhelfen gesucht, daß man zu Anfang derselben einen algemeinen Saz abhandelt, und beim Beschluß eine Art der Anwendung auf die vorhandene Begebenheit anbringt. Allein dis streitet wider die Einheit eines Gedichts, nach welcher kein Teil desselben, ohne Nachtheil der Schönheit des ganzen, von den übrigen muß können getrennet werden ... Doch giebt es Begebenheiten, die von der Art sind, daß sie poetisch können vorgestellet werden. Je wiziger und sinreicher der Poet ist, je mehr Betrachtungen er bei denselben anzustellen weiß, desto schöner wird sein Gedicht werden.“ Hier werden nicht etwa persönliches Erlebnis und individuelles Gefühl als kritischer Maßstab gegen die Gelegenheitsdichtung gekehrt, sondern, in Anknüpfung an ältere Mahnungen (vgl. Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, S. 11; Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, S. 307, 310f., 313ff.), eine Diskrepanz zwischen Gegenstand und poetischem Aufwand und die daraus folgende Gefahr der Unwahrhaftigkeit. Die Kritik ist nicht total, man führt die Gelegenheitsdichtung noch, wenngleich an untergeordneter Stelle und ohne nähere Anleitung und Differenzierung, auf; aber in einem aus der Verbindung mit der Rhetorik sich allmählich

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Das Epicedium ist wie die anderen Gattungen der barocken Gelegenheitsdichtung das Ergebnis einer vielleicht in ihrem Rang begrenzten, gegenüber den Anfängen in der Renaissance verengten Aneignung der Antike, die in der deutschen Literatur von Klopstock an anders und vielleicht großartiger, selbständiger und folgenreicher fortgeführt wird. Aber das über die barocke Gelegenheitsdichtung allzu gern gefällte Verdikt mag doch weniger leicht fallen, wenn man sieht, welche eigene Gesetzmäßigkeit sie besitzt und wie hier Literatur, so sehr sie auch stilisierend verfährt, noch einen engen, ungebrochenen Zusammenhang mit dem Alltag, mit der allgemeinen Lebenswirklichkeit hat. Das ist kein Anlaß zur Verklärung der Vergangenheit, aber es erinnert daran, wie sehr andererseits die Literatur, seit sie vom 18. Jahrhundert an aus jenem Zusammenhang heraustritt, weil sie immer mehr nur noch an das Individuum, seine persönliche Empfindungsweise, an die sich selbst genügende Kraft der Phantasie gebunden ist und damit eine zuvor undenkbare ästhetische Autonomie erhält, zugleich zur Realität in ein Verhältnis zunehmender Spannung gerät und damit einer Gefährdung ausgesetzt ist, die immer wieder dazu führt, daß Literatur selbst in Frage gestellt wird, weil die Spannung zwischen ihr und der Realität, so sehr sie doch produktiv sein kann, nicht ausgehalten wird. Diese Problematik bricht im Jungen Deutschland ebenso auf wie in der Sprachskepsis der Dichtung um 1900 oder dem politischen Engagement vieler Expressionisten wie auch gerade in den letzten Jahren in einem nur zu begreiflichen und doch fast erschreckenden Mißtrauen jüngerer deutscher Autoren gegen Kraft und Recht der Literatur angesichts einer oft allzu argen Wirklichkeit. Steht in dieser Hinsicht das barocke Epicedium wie die ganze Dichtung des 17. Jahrhunderts der Gegenwart fern, so besitzt diese doch andererseits zu ihr über Goethezeit und 19. Jahrhundert hinweg eine Beziehung der Nähe, sofern diese Gegenwart sich wieder von Genieästhetik und Erlebnisdichtung zu entfernen scheint, die einst das Barock abgelöst und unsere literarischen Begriffe lange geprägt haben. Durch beides, durch die Erfahrung der Ferne wie durch die der Nähe, mag die Beschäftigung mit einer Erscheinung wie dem barocken Epicedium den Blick für den dauernden Formenwie Funktionswandel der Literatur und damit einen historischen Sinn schärfen, der auch der Begegnung mit der immer neuen Literatur der Gegenwart zugute kommen kann. Diese Erfahrung von Ferne und Nähe scheint mir ein Grund der seit einer Reihe von Jahren neuerwachten Barockforschung zu sein, das scheint sie mir zu rechtfertigen als eine mehr als nur antiquarische Neigung.

lösenden Lehrgebäude der Literatur findet die Gelegenheitsdichtung, der hier zunehmend der Boden entzogen wird, kaum noch Verständnis und Interesse.

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Exkurs (zu S. 256) Als ergänzender Hinweis auf die Möglichkeiten der differenzierenden Ausgestaltung des Epicediums wie der verstehenden Analyse solcher Texte sei hier an einigen Beispielen angedeutet, wie Andreas Gryphius im Sonett, soweit es nicht Trauergedichte als inschriftartiges Epitaphium oder in freieren Bauformen gestaltet, die Gattung des Epicediums verwirklicht. Bereits in den Lissaer Sonneten hat Gryphius Gedichte auf seine Eltern veröffentlicht. Der Text lautet nach der überarbeiteten Fassung der Ausgabe von 1643 (Gesamtausgabe, Bd. 1, S. 36–37, Sonette I, 12 u. 13): „Tumulus admodum Reverend. Excellentis. Viri, PAVLI GRYPHII THEOLOGI. Vt suspicienda docendi assiduitate, sic imitanda vivendi sanctimonia pollentissimi, parentis desideratiss. A. AEtat. LX. hebdom. X. functionis XL. CHRISTI CIƆ IƆ CXXI. Glogov. major; extincti. Der Christum frey bekand / vnd seine stim erhoben Gleich einer feldposaun / den rufft er aus der welt / Eh als die blutt trompett aus seines grimmes zelt Erschall’ eh’ als sein grim so scharff fing an zu toben. Hier ruht sein müder leib gantz sicher / bis von oben Der printz wird brechen ein / dem jeder vorgestelt Sol werden / den der todt in seinen armen hält / Die seel ist schon bey dehn die Gott dort ewig loben. Sie wartet auff die kron / darmitt ihr trewer fleis / Ihr lehren / jhre müh’ ihr kämpfen / angst vnd schweis / Ihr eyver welcher nie der frechen laster schonet: Ihr wissen / das sie nur zu Gottes ehr anwandt. Ihr leiden / vndt geduldt von der gerechten handt Wen jener tag nun kombt sol werden abgelohnet.“ „ANNAE ERHARDINAE Optimae Matris, A. AEtat. XXXVI. Christi CIƆ IƆ CXXVIII. XXI. Martii extinctae tumulus Ach Edle tugendt blum / an der man konte schawen Was Got recht fürchten hies! was trew vnd heilig sein! O spiegel der gedult / O schawplatz höchster pein O andachts-volle roos / O richtschnur keuscher frawen! Ach hatt des todes seens! hatt die euch weggehawen! Im mittag ewrer zeitt! deckt dieser marmorstein Den leib / den feber / angst vnd schwindtsucht brachen ein! Ach! wollte Gott der welt euch länger nicht vertrawen? Gott rieß euch von vns weg gleich als sein grim entbrandt. Als seelen noth vnd krig verheerten kirch vnd landt. Itz seht ihr Christum selbst mitt süsser frewd vmbfangen

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Vndt seine herlikeit / wir schawen glutt vnd schwerdt / O Mutter / ihr seid euch gar eben von der erdt! Mir aber gar zu früh! Ach gar zu früh entgangen.“ Die beiden aufeinanderfolgenden Gedichte gehören sichtlich eng zusammen, unterscheiden sich aber doch auch auf sehr charakteristische Weise. Das Sonett auf die Mutter enthält im ersten Quartett eine laudatio. Das zweite Quartett besteht in einer lamentatio. Mit ihr ist die laudatio durch das anaphorische klagende „Ach“ verknüpft. Vers 8, der letzte Vers der lamentatio, leitet zugleich in Form der Frage zur consolatio über. Diese consolatio, die die beiden Terzette füllt, arbeitet zum einen mit dem schon in der Frage von v. 8 angelegten Argument des rechtzeitigen Todes, andererseits mit dem Gegensatz der himmlischen Herrlichkeit und des irdischen Unglücks. Das Sonett ist insoweit ein sehr regelmäßig gebautes Epicedium, dessen einzelne Teile sich mit den Teilen des Sonetts decken, und zwar genau so, daß die Terzette mit der consolatio die Gegenbewegung zur laudatio und lamentatio in den Quartetten geben. Eine Abweichung von solcher Regelmäßigkeit ist allerdings zu konstatieren: der letzte Vers bietet noch einmal eine lamentatio, entwickelt freilich aus den zuvor dargelegten konsolatorischen Argumenten. Dieser letzte Vers – nicht ohne Recht durch das anaphorisch in der Versmitte noch einmal aufgenommene „Ach“ nicht nur mit den Versen der lamentatio, sondern auch mit dem Beginn der laudatio verbunden – entspricht damit dem ersten Vers, der ebenfalls Klage einem andersartigen Dispositionsteil hinzufügt (und erfüllt durch solche Entsprechung von Anfang und Ende des Sonetts auch eine in der Zeit beliebte Bauform des Sonetts). So ist das Sonett ein regelmäßiges Epicedium, in dem doch die Klage, die anderen Teile durchdringend, das Ganze umgreifend, das stärkste Gewicht hat. Anders das Sonett auf den Vater. Einsetzend mit einer laudatio des Toten als eines Bekenners Christi, bieten die beiden Quartette knappe Andeutungen des Todes und Begräbnisses, verbunden mit dem konsolatorischen Argument des rechtzeitigen Todes als einer Wohltat Gottes. Die Terzette, den letzten Vers der Quartette aufnehmend und zugleich sich damit den Quartetten im Sinne der Sonettform entgegensetzend, sprechen vom himmlischen Geschick der in der Ewigkeit weilenden Seele, während die Quartette vor allem dem Los des vergänglichen Leibes galten. Die Terzette gebrauchen damit ein altes konsolatorisches Argument. Sie füllen es aber mit Einzelheiten, die zugleich eine laudatio bedeuten. Auch dies ist noch ein die Sonettform wiederum sinnvoll nutzendes Epicedium, wenn auch sehr freier Art. Dem Spannungsbogen des Epicediums tut es Genüge, indem es, in Übereinstimmung mit der Sonettgliederung, das Los des Leibes und das Geschick der Seele einander entgegenstellt. Doch anstelle einer Klage beschränkt es sich auf Andeutungen des Todes und Begräbnisses und gestaltet sie und die einleitende laudatio schon konsolatorisch, während die consolatio weitgehend den Charakter einer laudatio annimmt. Die laudatio wird damit hier zum beherrschenden Element. Das Sonett gewinnt dabei einen, übrigens zugleich auch in der Sprachform durchgeführten, inschriftartigen Charakter, und in der Tat knüpft es, was bisher nicht bemerkt worden ist, an die bei Johann Theodor Leubscher (De Claris Gryphiis, Brieg 1702, S. 47f.) überlieferte Grabschrift des Vaters an; aus ihr stammen die in der Überschrift des Sonetts angeführten preisenden Wendungen „Vt suspicienda docendi assiduitate, sic imitanda vivendi sanctimonia pollentissimi“, die das Sonett entfaltet. Der somit deutlich gewordene Unterschied der beiden Sonette auf die Eltern, die das Gesetz des Epicediums auf jeweils sehr eigene Weise erfüllen, dürfte zu einem Teil durch ein biographisches Moment erklärt werden können, das die Eigenart der Texte noch etwas greifbarer macht. Dazu ist daran zu erinnern, daß Scaliger (Poetices libri septem, S. 168) zwei Arten

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

von Trauergedichten unterscheidet: eines (recens), das einem gerade eingetretenen Trauerfall gilt, ein anderes (anniversarium), das dem Gedenken an einen schon länger zurückliegenden Todesfall gewidmet ist; für letzteres schreibt Scaliger, in Übereinstimmung mit ähnlichen Hinweisen bei Menander (perὶ ἐpideiktikῶn, S. 418, Z. 25 ff.), vor, daß darin der luctus, die lamentatio fehlen solle, begründet mit der Bemerkung: „Nemo enim iam annum bienniùmue defunctum deflet.“ Zwar hat Gryphius die 1637 zuerst veröffentlichten Sonette sicherlich beide erst mehrere Jahre nach dem Tod der Eltern geschrieben. Denn auch beim Tod seiner Mutter war er noch nicht zwölf Jahre alt. Aber er konnte an sie und ihren Tod noch eine lebendigere Erinnerung haben und stärker von ihm betroffen sein als von dem des Vaters, den er als gerade Vierjähriger erlebte. So mag es erklärlich sein, daß Gryphius – womit er aber auch noch wieder eine gattungsgemäße Abstufung nach dem Geschlecht der Toten vornimmt – sich an das vorhandene Grabmal anschließt und, nach der Vorschrift Scaligers auf einen Klageteil verzichtend, im Sinne einer Inschrift den kaum noch gekannten Vater preist, im anderen Falle aber die Klage in den Vordergrund rückt und sich dabei sogar, in der Betroffenheit der Identität von Consolator und Consolandus, die Lizenz einer Abweichung von der Norm gestattet, die sonst der consolatio das letzte Wort gibt. Für einige andre Epicedien in Sonettform mögen ein paar knappere Andeutungen genügen. Das Sonett II, 35 (Gesamtausg., Bd. 1, S. 84), dem Andenken der Großmutter des Dichters gewidmet, schildert in den beiden Quartetten vor allem das Unglück, das die Tote durch die Zeitumstände und durch Todesfälle in der eigenen Familie hat miterleben müssen. Das läßt den Todesfall, dem das Sonett gilt, als Erlösung erscheinen, als Weg in die wahre Ruhe der Ewigkeit. So lautet der Trost, den die Terzette den Quartetten entgegensetzen, endend in den Versen: „Ach / klag ich euch noch jtzt? da fiel ewr leben hin: Alß Freund vnd Lust verging / alß ich geschieden bin. Ihr seidt dem Land auch nicht / das Land ist euch gestorben.“ Das Alter der Verstorbenen und die Zeitumstände bringen es mit sich, daß die daraus sich herleitende Tröstung – schon in den Quartetten angebahnt, im Sinne der Sonettform aber in den Terzetten erst ausgesprochen und vom Blickpunkt der Ewigkeit dem in den Zeitumständen sich besonders deutlich erweisenden irdischen Elend entgegengestellt – dem Sonett das Gepräge gibt, während, dem Geschlecht bzw. dem Alter der Gestorbenen entsprechend, die laudatio, die nur mittelbar durch die Schilderung des von der Toten erlebten und ertragenen Unheils anklingt, und vor allem die Klage zurücktreten, auf die im vorvorletzten Vers im Sinne einer Selbsttröstung des Sprechenden geradezu ausdrücklich verzichtet wird. Die Sonette I, 32 und II, 36 und die beiden Nachlaßsonette Nr. 40 und 43 (Gesamtausg., Bd. 1, S. 51, 84f., 114, 116) sind Epicedien auf Kinder. Dementsprechend herrschen darin, mit unterschiedlicher Verteilung auf die Gliederung des Sonetts, Klage und Trost, wobei die consolatio als besonders eindringlicher, unmittelbarer Zuspruch entwickelt ist in den beiden Epicedien (Sonett I, 32 und Nachlaßsonett Nr. 43), die sich an die Mutter eines gestorbenen Kindes wenden. Eine laudatio fehlt in diesen Epicedien auf Kinder im Sinne der Gattung fast völlig, mit Ausnahme des Nachlaßsonetts Nr. 40, worin die ersten drei Verse eine laudatio bieten, denen sich in v. 4 eine knappe, aber nachdrückliche lamentatio anschließt:

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„SO reist holdselges Kind der unverhoffte Tod Dich von uns hin / und macht kaum inner einem Lichte / Das liebreichst Ebenbild der Anmuth gantz zu nichte. Ach kaum erhörter Fall! durch rauher schmertzen Noth.“ Darauf folgt allerdings im zweiten Quartett und in den beiden Terzetten, mit einem gattungstypischen „Doch“ (v. 5) entschieden einsetzend, eine breite consolatio. Der Grund für die von den anderen Epicedien abweichende breitere laudatio dürfte in dem Stand dieses Kindes, den die Überschrift Auf das Absterben eines Fürstlichen Kindes nennt, und in dem offizielleren Charakter liegen, den dieses Gedicht damit gewinnt. Das Nachlaßsonett Nr. 44 (Gesamtausg., Bd. 1, S. 116 f.) enthält im ersten Quartett laudatio und iacturae demonstratio. Mit Beginn des zweiten Quartetts setzt die consolatio mit einem „Doch nun“ ein. Aber sie wird wiederholt von Klagen durchbrochen und erscheint am Ende nur als Frage („Wie? oder hast du dort wornach wir hier uns sehnen“), weil das ganze Gedicht, das den Titel Auf eine Wöchnerin / unter eines andern Nahmen hat, gestaltet ist als Anrede des Witwers an die Tote, worin sich noch die trauernde Liebe bezeugt und zugleich zu fassen sucht. Alle diese Epicedien des Gryphius sind, wie sich zeigt, in Übereinstimmung mit den traditionellen Anforderungen der Gattung gekennzeichnet durch das abgestufte Gewicht, das sie je nach dem Anlaß den einzelnen Teilen geben. Sie sind überall mit den überlieferten Argumenten gefüllt, und sie enthalten etwa auch zumeist den gattungstypischen Einschnitt durch eine adversative Partikel am Beginn der consolatio. Sie sind insofern beredte Zeugen für die Selbstverständlichkeit der Gattung und die Verbindlichkeit ihrer Gesetze innerhalb der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Durch die große Variationsbreite in der Abstufung der Teile freilich, durch die einleuchtende Prägnanz der Anpassung an den einzelnen Anlaß, durch die je unterschiedliche, bedachte Verknüpfung der Teile mit den Gliederungsmöglichkeiten des Sonetts, durch die sich so überall bekundende Beweglichkeit und Überlegtheit des gestaltenden Zugriffs, durch das Gewicht, das sie bei der begrenzten Verszahl des Sonetts vielfach der consolatio geben, durch die Spannung zwischen irdischem Elend und ewiger Herrlichkeit, die sie wiederholt nachdrücklich entfalten (so beispielsweise auch in dem noch nicht erwähnten Sonett I, 40, Gesamtausg., Bd. 1, S. 55 f.) – durch all solche Züge sind diese Epicedien zugleich Belege für den Spielraum, den die Gattung bei aller Bestimmtheit ihrer Anforderungen dem Autor, der davon Gebrauch machen will, läßt, und sie bestätigen, wenn auch im engeren Raum des Sonetts auf begrenztere Weise, Merkmale der Dichtung des Gryphius, die oben an einer besonders kunstreich gestalteten pindarischen Ode abgelesen worden sind.

2 „Ich öffne meines Herzens Wunden“* Wandlungen des Epicediums in den Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau bei Besser, Canitz und Haller und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert Eine Skizze „... Levamen etiam quoddam mihi est amicorum compellatio in sic luctu domestico conjugali grauissimo, quem exponet programma inclusum … Si dolori saevi levando epicedio aliquo subvenies … mihi tam gratum accidet quam quod gratissimum vtinam in rebus laboratis parilia officia praestare possim“¹ (Auch ist mir die Rede zu Freunden ein gewisses Linderungsmittel in der so gewaltigen, meine Ehe betreffenden häuslichen Trauer, welche die eingeschlossene Mitteilung erklären wird ... Falls Du zu seiner Erleichterung dem heftigen Schmerz mit irgendeinem Epicedium zu Hilfe kommen willst ... wird mir das ebenso wohltuend sein wie dies für mich höchst erwünscht, daß ich [Dir] in mühseligen Umständen ebensolche Dienste möge leisten können) – so schreibt am 11. Juli 1658 nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau der Wittenberger Theologieprofessor Abraham Calov (1612–1686),² einer der führenden Köpfe der lutherischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts, an den als Hauptpastor an St. Petri und Senior ministerii in Hamburg wirkenden Theologen Johann Müller (1598–1672).³ Der Brief Calovs, der im Lauf seines weiteren Lebens noch mehrfach den Tod einer Ehefrau und das frühe Sterben zahlreicher Kinder zu beklagen hatte, ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß das auf die antike Rhetorik zurückgehende und insbeson-

* Albrecht von Haller, Trauer-Ode, beim Absterben seiner geliebten Mariane, v.7. 1 Zitiert – unter stillschweigender Auflösung der Abkürzungen – nach einer Kopie des Originals (Hamburg, SUB, Sup.Ep.6,293), für die ich der Bibliothek meinen verbindlichen Dank sage. Den ersten Hinweis auf diesen Brief verdanke ich der Darstellung von A. Tholuck, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17.  Jahrhunderts, theilweise nach handschriftlichen Quellen, Hamburg, Gotha 1852, S. 208f. Ob die gegenüber dem nicht mitgeteilten Original z.T. recht freie Übersetzung Tholucks auf einem abweichenden Text in der von ihm angegebenen Quelle: „Epp. Ad J. Müllerum, ep. 188“ beruht, ist nicht zu klären, da kein Nachweis eines Exemplars dieses Drucks zu finden war, der auch nicht aufgeführt ist in: Verzeichnis der gedruckten Briefe deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts. Teil 2, bearb. v. Thomas Bürger, Teilbd. A-F, Wiesbaden 2002, S. 194. 2 Zu ihm u. a. NDB 3, 1971, S. 99f. – 4RGG 2, 1999, Sp. 15f. – am ausführlichsten TRE 7, 1981, S. 563–568 (J. Wallmann). 3 Zu ihm Jöcher, T.3, 1751 (ND 1961), Sp. 731 – Jöcher-Adelung, Bd. 5, 1816 (ND 1961), Sp. 67–70 – 4RGG 5, 2002, Sp. 1571.

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

dere im 17.  Jahrhundert in reicher Blüte stehende Epicedium⁴ nicht nur sozialem Repräsentationsbedürfnis gedient, sondern sehr konkrete lebensweltliche Bedeutung besessen hat, sofern es den Zeitgenossen mittels der aus seinen drei Teilen laudatio, lamentatio und consolatio erwachsenden Spannung von Affekterregung und Affektstillung ein hilfreiches Therapeutikum für die so oft sich häufenden Erfahrungen des Sterbens nahestehender Menschen sein konnte. Der Schreiber jenes Briefes wäre aber wohl verwundert gewesen, hätte er erfahren, daß seit seinen letzten Lebensjahren Beispiele solcher Gedichte aufkamen, welche deren Verfasser selbst zum Tode des ihnen am nächsten stehenden Menschen, der eigenen Ehefrau, schrieben,⁵ und daß einige von diesen Texten außergewöhnlich bekannt und für mehrere Jahrzehnte Anlaß literaturkritischer Erörterungen werden konnten, die sich als aufschlußreiche Symptome für Veränderungen von Dichtungsverständnis und lyrischer Poesie im 18.  Jahrhundert erweisen. Es sind dies die Gedichte, die Johann von Besser, F.R.L. von Canitz und Albrecht von Haller auf den Tod ihrer Ehefrauen geschrieben haben. Johann von Besser (1654–1729) widmete seiner Ehefrau Catharina Elisabeth, geb. Kühlwein, die sechsundzwanzigjährig im Dezember 1688 „in ihrem dritten Wochenbette, sechs Tage nach der Geburth einer gleich des folgenden Tages wieder verschiedenen Tochter“⁶ gestorben war, dieses Gedicht, das

4 Siehe dazu im einzelnen die in diesem Band vorausgehende Abhandlung „Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert“. 5 Das hat seinen Niederschlag gefunden in der von Anton Paul Ludwig Carstens herausgegebenen Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe nach dem Tode Tugendhafter Frauen in gebundener deutscher Rede abgestattet von Ihren Ehemännern“ (Hannover 1743; Expl. StuUB Göttingen; eine Kopie hat mir vor vielen Jahren für die hier nunmehr nur skizzierte Abhandlung Jürgen Stenzel überlassen, dem ich hier noch einmal danke). Das früheste Beispiel darin ist Christian Weises Gedicht „auf das Absterben seiner Eheliebsten, Reginen Arnoldinn“ vom Jahr 1678. Die weiteren (chronologisch angeordneten) Texte (von einem zweifachen Anhang abgesehen) stammen von Johann von Besser, Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, Christoph Fürer von Haymendorf, C.H. Amthor, Sam. Theodor Gericke, Georg Bayer, Sebast. Kortholt, Georg Philipp Telemann, Christoph Christian Händel, Michael Richey, Christoph Fürer von Haymendorf (auf seine zweite Gemahlin), Carl Otto Rechenberg, Johann Valentin Pietsch, Just Diedrich Heidmann, Georg Friedrich Deinlein, Albrecht von Haller (auf seine erste und seine zweite Gemahlin), Barthold Hinrich Brockes, Paul Gottlieb Werlhof (dem die Sammlung gewidmet ist) und reichen bis ins Jahr 1742. – Einige der biographischen Hinweise zu den Ehefrauen von Besser, Canitz und Haller, die der Herausgeber der Sammlung in seinen Fußnoten gegeben hat, sind in den hier folgenden einführenden Hinweisen zu den Trauergedichten der drei Autoren benutzt worden. 6 Zeugnisse treuer Liebe, S. 6.

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zuerst 1711 in seinen „Schrifften in gebundener und ungebundener Rede“ erschienen ist:⁷ Verhängniß getreuer Liebe, Von dem Autore vorgestellet, als dessen Ehgattin, seine geliebteste Kühleweinin, den 14. Decembr. 1688. im Kind=Bette verstorben. Ovid. – – – Ego sum tibi funeris auctor, Qua mea culpa tamen? nisi si lusisse, vocari Culpa potest, nisi culpa potest & amasse vocari. Als dieses Leich=Gedicht erstlich ans Licht gekommen, meineten viele: daß der Autor zu sehr geklaget. Aber als etwan 7. Jahr hernach, dem nunmehr sel. Herrn Baron von Canitz seine Gemahlin gestorben; sagte er zu dem Autore, den er umb eine Trost=Schrifft angesprochen: daß er durch seinen so langen Witwer=Stand den Character seines vorigen Leich=Gedichtes mehr als genug bewähret hätte. Welches wenigstens anitzo anzunehmen seyn wird; da es allbereits in das 21ste Jahr gehet, daß der Autor Witwer verblieben.

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DJe GOtt und ihrem Mann getreueste Calliste, Der Tugenden Begriff, der Schönheit Schau=Gerüste, Die edle Kühlweinin, von Leipzig dargestellt: Bracht ihre dritte Frucht, ein Töchterlein zur Welt. Welch schmertzliche Geburt, und dennoch zum Verderben! Das Kindlein mußte gleich nach seiner Tauffe sterben: Ach aber nicht genug! die Mutter folgte nach, Die erst zu ihrem Mann die Abschieds=Worte sprach: Mein Besser, der allein mir iemahls lieb gewesen, Jch werde wie es scheint, nicht wiederum genesen. Die Hand, die uns verknüpfft, zerreist auch unser Band: Und wie ich fühlen kan, selbst durch diß Liebes=Pfand. O angenehmes Band, das mich bißher umgeben! Jch wünschte wohl mit dir noch eine Zeit zu leben,

7 In dieser Fassung – unter Ergänzung der in der neuen Besser-Edition leider fehlenden Verszählung – abgedruckt nach: Johann von Besser, Schriften, Bd. 1, Schrifften in gebundener und ungebundener Rede, hrsg. v. Knut Kiesant, bearb. v. Andreas Keller, Heidelberg 2009, S. 515– 523; S. 523–549 weitere Texte zum Tod der Frau von Besser. In der Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ ist das Gedicht (S. 5–19) nach der von Johann Ulrich König besorgten dritten Ausgabe von Bessers „Schrifften“ (1732) abgedruckt in einer spät vom Autor veränderten Fassung.

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Und wolte gantz vergnügt im blossen Kittel seyn; Allein, es ist umbsonst: des Himmels Schluß spricht nein! Was hab ich deiner Treu zum Denckmahl zu vermachen? Du warst den ersten Tag Herr meiner Haab’ und Sachen. Doch nimm den letzten Kuß, als ein Vermächtniß an; Weil ich ihn unbefleckt dir hinterlassen kan. Versiegele damit den Kindern unsre Hertzen. Du weinst! Ach, weine nicht! mich jammern deine Schmertzen! Jch weiß, du legest gern allhier an meiner Statt. Doch weil des Höchsten Wahl mich ausersehen hat; So hab dich ewig wohl, und denck an deine Riebe: Jch sterbe, doch verstirbt nicht meine treue Liebe.

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Den Leib befiel sofort ein kalter Todes=Schweiß. Der rothe Mund ward bleich, die Wangen wurden Eys. Der blauen Augen Glantz begunte schon zu brechen, 30 Und in der Marmer=Brust der Othem sich zu schwächen. Jhr Ehmann der indes, als der nie von ihr ging, Um ihren welcken Hals mit seinen Armen hing: Die Seele wenigstens durch Bitten aufzuhalten; Rief seiner Gattin nach, in wehrendem Erkalten: 35 Ach meine Kühlweinin! Geliebte Kühlweinin! Sie reichte noch einmahl die starren Lippen hin, Eröffnet’ ihr Gesicht, obgleich es schon verzucket; Und als sie ihn gesehn, und fest an sich gedrucket; Druckt sie mit seiner Hand zu der verlangten Ruh, 40 Als wenn noch diß gefehlt, ihr selbst die Augen zu. Das Haupt sanck unter sich, der Geist GOtt anbefohlen, Wandt’ sich allmählich loß, im tieffen Othem=hohlen; Biß sie, so schwer er auch den schönen Sitz verließ, Jhn ruhig, sanfft und still, entschlaffend von sich bließ. 45 O Elend, für den Mann! O unglückselger Besser! Wie weit ist dein Verlust und Hertzeleid itzt grösser, Als ehmahls dein Gelück und dein Vergnügen war? Die Todte lag vor ihm. Er warf sich gantz und gar Bald auf der Todten Mund, und bald zu ihren Füssen: 50 Daß man ihn mit Gewalt von ihr hat reissen müssen. Man bracht ihn im Geheul von Kindern und Gesind, Verstumt in ein Gemach, wo er ihr und dem Kind, So bald er reden kont, an dem Begräbniß=Tage; Mit Thränen ohne Zahl, hielt diese Jammer=Klage: 55

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SO ist es nun mit dir, zu sehr verwayßtes Hauß, Du Pilgrim dieser Stadt, du Wander=Hüttlein aus? Gerecht und gütiger, nunmehr erzürnter Himmel! Was trägt diß gräßliche vermumte Leich=Getümmel? Jst es nicht mein Gemahl, das du mir beygelegt, Und womit man zugleich mein Hertz zu Grabe trägt?

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Du kennst die Einigkeit von unser beyder Seelen. Du hast sie wunderbar, du hast sie wollen wehlen. Jhr Ursprung war dein Zug, ihr Reitz der Tugend Trieb, Und durch dich hatten wir uns unzertrennlich lieb. 65 Uns band zwar unser Eh, doch mehr die Neigungs=Kette. Jch liebte, wenn ich gleich sie nicht erhalten hätte. Jch liebte sie üm sie, und mich, weil sie mir hold; Jch lebte, weil ich ihr dadurch gefallen solt. Zween Leiber waren wir, doch in ein Fleisch gedrungen. 70 Kein Weinstock hält so fest den Ulmenbaum ümschlungen; Als meine Kühlweinin, O Reben guter Jahr! Mit ihrer süssen Huld in mich verwachsen war. Zwo Seelen, durch ein Feur, wie Wachs zuhauf geronnen; Zwey Hertzen die vermischt ein Wesen nur gewonnen. 75 Zween Menschen, die vereint ein Leben nur gefühlt, Und deren ider sich für eine Helffte hielt. Was abr reissest du, ie fester wir verbunden, Je mehr wir uns geliebt, für ungeheure Wunden? Du spaltest meinen Leib, du spaltest auch mein Hertz, 80 Und was mir gantz verbleibt, ist nur der herbe Schmertz! Du Quell der Liebe weist, was bey dergleichen Scheiden, Für Marter und für Quaal getreue Seelen leiden. Ach, so verdencke mir zum wenigsten Du nicht; Wofern es Menschen thun, mein thränendes Gesicht! 85 Wir hatten auf dein Wort das Vaterland verlassen. Wir waren beyde fremd, Berlin, in deinen Gassen. Geschwister, Eltern, Freund, war sie mir gantz allein; Und ich im Gegentheil must ihre Freundschafft seyn. So trösteten wir uns, wie zwo verscheuchte Tauben. 90 Jsts müglich, hast du mir den Gatten können rauben? Dis Schäflein hatt’ ich nur, das meine Seite schloß; Und auch diß eintzige rafst du aus meiner Schoß! Nur die Gehülffin half mir allen Kummer tragen. Mich trifft das gröste Creutz; wem soll ichs itzund klagen? 95 Nichts schwerers hat die Welt für mich, als diesen Tod; Und meine Trösterin verläßt mich in der Noth! Mein Wunsch und Muth ist hin, mein Leitstern zu der Tugend, Das Kleinod meines Lauffs, das Weib von meiner Jugend, Mein’ erste Liebe selbst, und deren erste Krafft: 100 O wie zermartert mich so manche Leidenschafft! Verhängniß reimst du dann auf lieben nur betrüben? Trennt dein Geschick zuerst, die sich am meisten lieben? Sie selbst, die du mir raubst, befahrte diesen Schluß; Ach! daß sie solchen auch nun selbst erfüllen muß! 105 Wir brennen, sprach sie stets, zu licht in unsern Flammen; Mein Besser, gib nur acht, wir bleiben nicht beysammen. Ach leider, allzuwahr: daß Purpur leicht verdirbt, Und eine Rahel ehr als eine Lea stirbt!

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Ein treuverknüpfftes Paar, das sich von Hertzen meinet: 110 Jst zwar des Himmels Bild, da Mond und Sonne scheinet, Deß Stand der Schöpffer schon im Paradieß gestifft; Doch welchen auch das Creutz am allermeisten trifft. Mit Mühe paart man sich, mit Furcht wird man besessen; Bald und zu schwer getrennt, und nimmermehr vergessen. 115 Diß wäre schnöder Brunst ein wohlverdientes Weh; Und diß ist insgemein das Looß der besten Eh! Mit was für Ungemach hab ich sie mir erworben? Doch reich belohnter Schweiß, wenn sie nur nicht gestorben! Hab ich nicht sieben Jahr, (wen hätt’ es nicht versühnt?) 120 Auch dir, Bekümmerniß, umb ihre Gunst gedient. Jhr süssester Besitz hielt selbst viel Angst verborgen. Mein Glücke war zu groß, was solt’ ich nicht besorgen? Jhr Tod, Jhr Tod allein, blieb mir ein solcher Feind, Deß blosse Müglichkeit ich offt in mir beweint. 125 Bald lag sie sterbe=kranck, bald mußt’ ich von ihr reisen. Vergälltes Thränen=Brodt, hier soltest du uns speisen! Voraus als* Engeland mich von ihr scheiden hieß, Und ich sie hinter mir allein zurücke ließ! Drey Monat schon vorher war lauter Abschied nehmen. 130 Wie haben wir darauf, entfernt uns müssen grämen? Die Briefe klagten es, und rieffen allezeit: Voll heisser Ungedult, nach Gegenwärtigkeit. Sie gab mir das Geleit’, und blieb im Felde stehen, Sah mir beweglich nach, so weit ich abzusehen. 135 Das Hertze blutet mir, wenn es daran gedenckt; Doch ist was grösseres, was mich anitzo kränckt, Der Abschied, den anitzt wir unter uns genommen; Ist nicht auf wiedersehn, und nicht auf wiederkommen. Der angenehme Mund, der ehmals mich empfing, 140 Ist nicht mehr in der Welt, wie sehr ich an ihm hing. Es hieß, als wie ich kam: nun sol uns nichtes trennen. Was aber hat der Tod nicht unterbrechen können? Der Tod, der allzuleicht es müglich hat gemacht, Was weder Neid noch Glück an unser Ruh vollbracht. 145 Das Glück, der Affter=Gott der niedrigen Gemüther, Gedacht uns weh zu thun, durch Hemmung seiner Güter; Allein da unser Hertz an seinem Theil vergnügt, Durch seines Fürsten Huld das Glücke schon besiegt, Ja im Begriffe stund der Mißgunst Hohn zu sprechen: 150 Kam, gleichsam zum Entsatz, der Würger es zu rächen; Und traf, uns weh zu thun, den unfehlbahrsten Weg.

* Als Se. Churfl. Durchl. Fridrich Wilhelm der Grosse ihn dahin schickte, und er fast zween Jahre daselbst verbleiben muste.

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O grausames Geschick! o grimmer Todes=Steg! Du warst allein die Bahn uns unvergnügt zu machen; Ein allzufetter Raub erfüllt itzt deinen Rachen! Sind dir dann sieben Jahr an solcher Eh genug? Du hättest nichts versäumt durch längeren Verzug. O wenn noch stets bey ihr ich dieser Zeit genossen, Die schneller als ein Traum, und wie ein Strom verflossen! Wie nichts Vollkommenes hat unser Lebens=Ziel! Ein besser Glück und sie, war es für mich zu viel? Ja freylich dieses solt uns nicht zugleich gelingen: Erhielt ich sie dann nur, umb sie ins Grab zu bringen? Jhr armen Sterblichen, wie sehr betriegt ihr euch! Erlangen, was man wünscht, ist unser Himmelreich; Doch glaubt man nimmermehr, indem wir es begehren: Daß künfftig unser Wunsch uns solte Leid gebähren. Jch sprach, als sie mir ward, du hast die gantze Welt. O theur erkauffter Schatz, hast du mich selbst gefällt? Die Zeit ist leyder da, die Klag üm dich zu führen: Viel leichter nie gehabt, als lieb gehabt verliehren! Wer dachte wohl daran den ersten Hochzeit=Tag? Daß auch der beste Wein zu Eßig werden mag! Mein eigener Gewinst ist mir zur Folter worden, Und was ich so geliebt, will mich anitzt ermorden! Wo find ich in der Angst noch einen Aufenhalt? Jch klage nicht an ihr die prächtige Gestalt: Die Anmuth des Gesichts; des Mundes Morgen=Rosen; Der Augen holden Ernst gebietend liebzukosen; Jhr lang=gekrolltes Haar, das meine Sinnen band; Die Schwanen=weisse Brust; die Atlaß=weiche Hand; Nicht die Geschicklichkeit der schlanck=polirten Glieder: Verhängniß gib sie mir nur ungestalter wieder! Jch klage bloß an ihr, was keine Mißgunst sieht: Jhr groß und edles Hertz, ihr redliches Gemüth; Den Englischen Verstand, die Sorgfalt mir in allen, Vergnügt in Lieb und Leid, beständig zu gefallen. Exempel aller Treu! ich rede jetzt zu dir, Die diß für mich gethan: was thatst du nicht an mir? Wie liebreich hat dein Thun mich iderzeit ümfangen? Jch war dein gantzer Ruhm, dein Ehrgeitz und Verlangen. Wer hat bey einer Lust dich sonder mich gesehn? Mein Nahme muste dir in allen Zügen stehn. Dein Arm fand keine Rast, als wenn er mich umgeben; Wie? daß ich, sonder dich, dann itzt vermag zu leben! Was meinst du, wie mir sey bey meiner Einsamkeit? Wenn noch darzu die Nacht mit ihrem Schrecken dreut. Wenn die gewöhnte Hand dich sucht, im Traum entzündet, Und deine Stelle zwar, doch dich nicht selbsten findet.

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Kein Wunder, daß dein Mann sich dann verlassen schätzt, 200 Und ein wehklagend Ach! das wüste Lager netzt. Laß, weil es zu gerecht, es deine Ruh nicht stören; Wofern uns ja dein Ohr alldort vermag zu hören! Jch thue was du thätst, und was die Liebe heist; Vielleicht sehnt sich auch noch nach mir dein treuer Geist. 205 Hab ich so mancher Noth hierzu entrinnen sollen? Ja da des Himmels Schluß dich mir entwenden wollen; Warum verliehr ich dich auf so betrübter Art? Daß Unsre Liebe selbst dich gleichsam aufgebart. Dich tödtet die Geburt, die kleine Schmertz=Luise; 210 Kommt leyder Fall und Tod aus unserm Paradiese! Das Ehbett ist dein Grab, o wie verwerff’ ichs nicht, Als wie den Richter=Platz, da ich dich hingericht! So recht, so muß es seyn, sein Unglück recht zu fühlen! Verzeihe, weil du liebst, dem unbedachten Spielen! 215 Die Blumen, die der Glantz der Sonnen erst erquickt; Verwelcken, wenn ihr Strahl sie allzubrünstig drückt. Jch bin der Wunden Schuld, die dir der Tod gerissen; Ach hätt ich doch mit dir, zur Rache sterben müssen! Ein böses Stündlein wär die Endschafft aller Quaal; 220 Jtzt sterb ich, sonder Tod, des Tages tausend mahl. Jch bin gleich einem Reh, das seinen Pfeil noch heget, Und sich iemehr verletzt, ie weiter es ihn träget. Ein Palmen=Baum verdorrt von seines Gattens Pein; Und der gerühmte Mensch kann nicht so glücklich seyn! 225 Ja, daß die Traurigkeit mich desto mehr bestreiche, Seh ich zugleich das Kind auf seiner Mutter Leiche. Ein Sarg, zwiefaches Weh, erscheint vor meiner Thür: O Angst=Gebehrerin, was Schmertzen machst du mir! Allein was soll ich thun? Wenn meine Noth am grösten; 230 Muß ich, so gut ich kan, mich dennoch endlich trösten. Ertrag ich nicht mein Creutz; so schlepp ich es doch nach, Wer weiß, wie lang’ ichs noch in dieser Hütten mach. Glückseelig dann den Schatz voran geschickt zu haben! Begehrt ich wohl von ihr, daß sie mich solt begraben? 235 Ach nein! Diß ist ein Werck, das lebendig verzehrt! Ach nein, du armes Kind! wie hätt ich das begehrt? Du wärst vor Hertzeleyd zu mir herab gefahren; Du warst mir auch zu lieb dich andern vorzusparen: Hingegen sterb ich nun der Welt noch eins so leicht. 240 Was hielte mich doch hier, da dich das Grab erreicht? Nun mögen immer hin die Todes=Stunden eilen; Du zeuchst mich, wo du bist, mit deinen Liebes=Seilen. Du hast es wohl verdient was meine Trauer thut. Mein Arm, der dich beschloß, als sein vertrautes Gut, 245 Jn welchem du erfreut die Kinder mir gebohren;

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Jn welchem leyder! auch dein Leben sich verlohren; Gräbt billig dir nunmehr die letzte Lagerstätt! Du sorgtest jener Zeit für unser Hochzeit=Bett; Jch aber baue jetzt ein Grabmahl für uns beyden! Weil man ja leyden muß, solt ich üm dich nicht leyden? Es ist ein Jammerthal; was seh ich viel zurück? Jch büsse mit Gedult mein vorgehabtes Glück: Und denck, als wenn aufs neu, ich um dich müste werben. Gnug: daß ich dich gehabt, und künfftig auch soll sterben. Du hast bey vieler Wahl vor allen mich erwehlt: So weise dir mein Leid, daß du auch nicht gefehlt: Daß du zum wenigsten mir itzund seyst zu gönnen, Und keiner, wer er sey, dich mehr betrauren können. Dein Werth bewehrt den Ernst von meiner Kümmerniß, Man halte sie für falsch; du machst sie zu gewiß. Wer deine Tugend kennt, gläubt meinen Traur=Geberden; Jch klage nur üm dich, und nicht gerühmt zu werden. Was that ich dir zu gut, so sehr ich es gesucht? Du stirbst, indem uns wächst die längst gezeugte Frucht; Warüm? umb kund zu thun: daß als du mich erlesen, Kein Nutz, nur deine Gunst, dein Absehn sey gewesen. O Jammer! gönnt der Tod mir die Vergeltung nicht; So sterbe doch mit dir nicht meine treue Pflicht! Kont meine Danckbarkeit nicht lebend sich erweisen; Soll sie dennoch der Neid nach deinem Tode preisen. Zwey Kinder läst du mir, von beyderley Geschlecht: Mit denen theil ich nun dein dir gehörig Recht. Jch wil sie auch zum Trost, nach deinem Nahmen heissen; Der Tod, so starck er ist, sol dich nicht gantz entreissen. Dein Ehgelöbniß lebt in dieser Kinder=Paar. Das Dritte starb mit dir, als Zeugin der Gefahr. Das sol, in jenem Licht, von unser Liebe zeugen; Und hier sol auch davon dein Trauer=Hauß nicht schweigen: Was üm und an mir ist, entspringt aus deiner Hand; An allen Wänden wird dein Liebes=Mahl erkant. Jhr Kleider, Zeug und Schmuck, des nun verlohrnen Weibes, Du süsser Uberrest des noch geliebten Leibes! Jhr stellt mir mein Gemahl an allen Orten vor. Mich daucht, es hört dich noch mein offt ergötztes Ohr; Und hat mein Abschied=Kuß, entzückt an dich gezogen, Nicht mit dem letzten Hauch den Geist mir ausgesogen? Dein letzter Liebes=Blick gab zwar mir gute Nacht; Doch hat, dem ersten gleich, er mich verliebt gemacht. Dein Sterbe=Kittel selbst vergrössert deine Schöne; Jch brante nie so sehr, als ich mich itzund sehne. Die Buhlschafft ist verkehrt, der Trauungs=Saal ein Grab; Doch nimmt sie auch daselbst durch kein Verhängniß ab.

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Laß seyn: daß dessen Spruch mich wozu möchte zwingen; Soll doch kein Zufall dich aus meinem Hertzen dringen. Du nimmst die Liebe mit in deine kalte Grufft; Behalte sie darin, sie bleibt in deiner Klufft. Jch wil, wie ich gewohnt, noch deine Tage feyren; Ob dein Gedächtniß gleich den Kummer wird erneuren. Mein* Lied, das du gelehrt, zwar nicht zu solchem Brauch, Sol klagen deinen Fall an jenem Linden=Strauch, Und wenn es dich beweint, zum ewgen Angedencken; Wil ich, verkehrt ans Grab, die stumme Leyer hencken. Nun, todte Kühlweinin, die Bahre wird gesetzt, Ach meine Kühlweinin, seh ich dich nun zu letzt! Gehab dich ewig wohl, mein’ allererste Liebe, Gehab dich ewig wohl, mein’ auserwehlte Riebe, Gehab dich ewig wohl, geliebte Kühlweinin! Kan es nicht anders seyn, so zeuch mit Frieden hin; Zeuch hin: wir scheiden zwar, mit Thränen und mit Grauen; Allein wir werden uns mit Jauchzen wieder schauen. So klagte bitterlich der sehr betrübte Mann, Der sonst nicht weichlich ist und selten klagen kan. Diß war ihm allzuschwer; wer darf die Liebe höhnen? Wer kan dann auch getheilt zu leben sich gewöhnen? Der Sarg ward zugemacht; man hatte, wie man pflegt, Der Mutter in den Arm das Töchterlein gelegt: Sie lagen weiß gekleidt, wie zween entschlafnen Engel: Als wie zwo Lilien an einem Liljen=Stengel, Die zwar ein Norden=Wind zur Erden hat gebeugt; Jedoch an welchem sich der volle Glantz noch zeigt. Die Fackeln führten uns die Leichen zu bestatten. Er zog sich kläglich nach, als ein verwebter Schatten. Das Volck bejammert ihn, das häuffig auf uns drang; Und der Höchst=seeligen Glückwünschungs=Lieder sang. Was fehlt ihr, sprachen sie, mit diesen Zurufs=Worten: Sie hat beglückt gelebt, in zween berühmten Orten: In Leipzig werth geschätzt; hier zu Berlin geehrt; Vergnügt in ihrer Eh; und was ihr Glücke mehrt: Von Fridrich Wilhelm selbst, als eine Braut geworben; Sie stirbt nun auch mit Ruhm, ist im Beruf gestorben; Sie stirbt jung und verlangt, von groß und klein bedaurt; Von ihrem Mann geliebt, begraben und betraurt; Ja in der Todes=Art den Schönsten zwo verglichen; Der Both= und Natzmerin, die auch wie sie verblichen. Die Perlen unsers Hofs, zerronnen auch also! Sie hat nun überstrebt, und ist des Wechsels froh: Wer wil aus Eigennutz dann um sie Leide tragen?

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Wer ja mitleidig ist, mag ihren Mann beklagen; Der solch vollkommenes und treues Weib verliehrt, 340 Und weil er leben muß, ein Jammer=Leben führt.

Das Gedicht von Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz (1654–1699) auf den Tod seiner ersten Ehefrau, Dorothea Emerentia, geb. von Arnim (1656–1695) – gestorben, „nachdem sie einer unzeitigen Leibesfrucht entbürdet war“⁸ – erschien zuerst 1700 in der postumen ersten Gesamtausgabe seiner Gedichte, der in der Folgezeit oft wiederaufgelegten Sammlung „Neben-Stunden Unterschiedener Gedichte“. Es lautet: Klag=Ode über den Tod seiner ersten Gemahlin.

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SOll ich meine Doris missen?* Hat sie mir der Tod entrissen? Oder bringt die Phantasey Mir vielleicht ein Schrecken bey? Lebt sie? Nein, sie ist verschwunden; Meine Doris deckt ein Grab. Schneid, Verhängniß, meinen Stunden Ungesäumt den Faden ab! Solt ich dich noch überleben! Der ich mehr, als mir, ergeben, Die ich in mein Hertz gedrückt; Dich, die du mich so beglückt, Daß die Welt mit Kron und Reichen Mich zu keinem Neid gebracht, Weil ich sie, dir zu vergleichen, Niemahls groß genug geacht? Doris, kanst du mich betrüben! Wo ist deine Treu geblieben, Die an meiner Lust und Gram Immer gleichen Antheil nahm? Du eilst zur bestirnten Strassen, Und hast nun zum ersten mahl Mich und unsern Bund verlassen; Deine Wonne schafft mir Qvaal!

8 Zeugnisse treuer Liebe, S. 29. * Die erste Gemahlin des Herrn von Canitz hieß Dorothea Emerentia, und war eine gebohrne von Arnimb.

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Was für Wellen und für Flammen Schlagen über mich zusammen Unaussprechlicher Verlust, Wie beklemmst du meine Brust! Und wie kömmts? da ich mich kräncke, Werd ich gleichsam wie ergötzt, Wenn ich nur an die gedencke, Die mich in diß Leid gesetzt.

Möchte mir ein Lied gelingen, Sie nach Würden zu besingen: 35 Doch ein untermengtes Ach Macht mir Hand und Stimme schwach; Worte werden mir zu Thränen, Und so muß ich mir allein, In dem allergrösten Sehnen, 40 Der betrübte Zeuge seyn.

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Ihr, die ihr mit Schrifft und Tichten Könnt die Sterblichkeit vernichten, Singt die Angst, die mich verzehrt, Und der Doris ihren Werth; Daß man sie, nach langen Jahren, Mag bedauren, und auch mich. Doch ihr könnt die Arbeit spahren; Wer kennt beydes so, wie ich? Ihrer edlen Seelen Gaben Hielt sie zwar nicht als vergraben; Nein, sie waren Stadt und Land Meistens, mir doch mehr, bekannt. Manches Weib wird hoch gepriesen, Das kaum so viel Tugend zehlt, Als die Seligste von diesen Aus Bescheidenheit verhöhlt. Daß sie wohl mit GOtt gestanden, Sieht man, da sie von den Banden Dieses Lebens wird befreyt; Seht, wie sie der Tod bedräut, Aber selbst beginnt zu zittern! Denn sie zeigt ihm lächlend an, Daß, der die Natur erschüttern, Ihren Schlaff kaum hindern kan. In dem eiteln Welt=Gedränge, Ward von der verführten Menge,

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Die man allenthalben spührt, Doris dennoch nie verführt, Niemahls hatte sie erkohren Einen Gifft, der Zucker hieß; Weil ihr etwas angebohren, Das so fort die Probe wieß.

Doch, in Worten und in Wercken, Ließ sie einen Umgang mercken, 75 Der nicht fremdes Thun verhönt, Und das Seinige beschönt. Was für kluge Tugend=Sätze Macht indessen nicht ihr Mund, Und für ungemeinte Schätze 80 Noch vielmehr ihr Wandel kund!

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Gütig jederman begegnen, Lieb und Wohlthat lassen regnen, Das war ihre beste Kunst. Auch der höchsten Häupter Gunst,* Und ihr innerstes Vertrauen, Hat sie nie zum Stoltz bewegt. Wir und das, worauf wir bauen, Sprach sie, wird in Staub gelegt. Durch verstelletes Beginnen Fremden Beyfall zu gewinnen, Wär ein zu verächtlich Spiel, Das ihr niemahls wohlgefiel. Und was war es ihr vonnöthen? Ihre Stirn, die nie betrog, Machte so den Neid erröthen, Als sie Hertzen an sich zog.

Von der Anmuth ihrer Sitten Fand ich mich schon längst bestritten; Doch in unserm Ehestand 100 Ward ich hefftiger entbrannt: Weil ich so ein Hertz erlesen, Das, wenn Unglück auf uns stieß, Eben ein so sanfftes Wesen, Als im Glücke spüren ließ.

* Churfürst Friedrich erwehlte sie einsmahls, aus eigener Bewegniß, um mit Sr. Durchl. Gemahlin nach Hanover auf den Carneval, als Ober=Hofmeisterin, zu reisen. Von beyden aber ward sie jederzeit eines gantz besondern Vertrauens gewürdiget.

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105 Bey der liebsten Kinder Leichen* Gab sie kein verzagtes Zeichen. Hof und Hauß vergieng in Glut,** Aber nicht ihr Helden=Muth. Regung, Sinn und Wunsch zu brechen 110 Nach des weisen Schöpffers Rath, Und mir tröstlich zuzusprechen, Das war alles, was sie that. Mit was lieblichem Bezeigen Gab sie sich mir gantz zu eigen! 115 Und wie sehr war sie bemüht, Biß sie meine Neigung rieth. Alles das hab ich verlohren! Ach! wie werd ich Traurens=voll! Hat mein Unstern sich verschworen, 120 Daß ich sterbend leben soll? Selbst das Pfand von unserm Lieben, Das von allen übrig blieben, Wenn ichs in der Unschuld seh, Machet mir ein neues Weh; 125 Weil sein aufgeweckt Geblüte, Seiner Mutter frohen Geist, Und sein unverfälscht Gemüthe, Ihren wahren Abdruck weist. Was mir ehmals wohlgefallen, 130 Schmeckt itzund nach lauter Gallen, Und mich beugt der kleinste Wind, Weil er mich verlassen findt; Mir erweckt das Schau=Gerüste Grosser Höfe nur Verdruß, 135 Und mein Hauß scheint eine Wüste, Weil ich Doris suchen muß. Ich durchirre Land und Seen, In den Thälern, auf den Höhen, Wünsch ich, wider die Gewalt 140 Meines Schmertzens, Auffenthalt. Berg und Thal, samt See und Ländern, Können auch zwar mein Gesicht, Aber nicht mein Leid verändern; Denn ich finde Doris nicht.    * Von sieben in ihrer Ehe erzeugten Kindern blieb ihr nicht mehr als ein einiger Sohn im Leben. ** Sein schönes Land=Gut Blumberg, welches 1695. fast gantz in die Asche gelegt ward.

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

145 Euch, ihr Zeiten, die verlauffen, Könt ich euch mit Blut erkauffen, Die ich offt, aus Unbedacht Ohne Doris zugebracht! Sonne, schenck mir diese Blicke! 150 Komm, verdopple deinen Schritt! Eilt ihr Zeiten, eilt zurücke, Bringt mir aber Doris mit! Aber nein: Eilt nicht zurücke! Sonst entfernen eure Blicke 155 Mir den längst begehrten Tod, Und benehmen nicht die Noth. Doch, könt ihr mir Doris weisen? Eilet fort! Nein, haltet still! Ihr mögt warten. Ihr mögt reisen. 160 Ich weiß selbst nicht, was ich will. Helffte meines matten Lebens, Doris! ists denn gantz vergebens, Daß ich kläglich um dich thu? Kanst du noch in deiner Ruh, 165 Die getreuen Seuffzer hören? Rührt dich meiner Schickung Grimm? Ach so laß dein Schlummern stöhren! Sieh dich einmahl nach mir üm! Zeige dich mit den Geberden, 170 Die so manches mahl auf Erden Mich von Sorgen loß gemacht. Gib mir noch, zu guter Nacht, Nur mit Wincken zu verstehen, Daß du meinen Jammer kennst, 175 Wenns der Himmel so versehen, Daß du dich auf ewig trennst. Laß in der Gestalt dich schauen, Wie dich in den sel’gen Auen Eine Klarheit nun erleucht, 180 Der die Sonne selbst nicht gleicht. Oder scheint der Engel Freude Nicht durch grober Sinnen Flohr; Wohl! so stell, in meinem Leyde, Dich auf andre Weise vor. 185 Dürfft ich küssend dich umfassen, So, wie ich dich sah erblassen,

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Wie der werthen Augen Paar Dir zuletzt gebrochen war, Und der Angst=Schweiß deine Wangen 190 Als mit Perlen angefüllt! Denn so wäre mein Verlangen, Sollt ich meynen, schon gestillt. Ja, ob gleich die Träume trügen, So will ich mich doch vergnügen, 195 Wenn du in der stillen Rast Meinen Wahn befriedigt hast. Ist denn dieses auch verboten, Ey! so steht die Hoffnung fest, Daß der finstre Weg der Todten 200 Mich zu dir gelangen läßt. Denn will ich, nach langem Schmachten, Dich in Sions Burg betrachten. Brich, erwünschter Tag, herein! Und mein sterbliches Gebein 205 Soll, biß künfftig unsre Seelen Wieder in die Cörper gehn, Nechst bey dir, in einer Höhlen, Die Verwesung überstehn. Wie geschicht mir? Darff ich trauen? 210 O du angenehmes Grauen! Hör ich meine Doris nicht? Die mit holder Stimme spricht: Nur drey Worte darff ich sagen: Ich weiß, daß du traurig bist; 215 Folge mir! Vergiß dein Klagen, Weil dich Doris nicht vergißt.⁹

9 Abgedruckt nach: Friedrich Rudolph Ludwig Freiherr von Canitz, Gedichte, hrsg. v. Jürgen Stenzel, Tübingen 1982 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. NF Bd.  30), S.  327–334 (hier S. 335 ferner ein „Sinn-Gedicht. Nach eben derselben Absterben“). Am Ende des Abdrucks in den „Zeugnissen treuer Liebe“ (S. 39–38) wird in einer Fußnote berichtet: „Es hat der Herr von Canitz diese schöne Klagode, erst einige Zeit nach dem Absterben seiner so geliebten Doris verfertiget. Denn die Heftigkeit seines Schmerzens war anfangs zu gewaltig, als daß er sich getrauet, so gleich etwas seiner Gemahlinn würdiges zu schreiben. Er ersuchte also seinen werthen Freund, den Herrn von Besser, die Feder zu seinem Troste anzusetzen, welches auch von ihm in der schon angeführten Trostode geschehen. Zugleich suchte der Herr von Besser, den Herrn von Canitz zu bewegen, daß er selbst etwas auf seine Gemahlinn schreiben möchte“. Die Trostode Bessers an Canitz ist 1697 aufgenommen worden in den 2. Teil der Sammlung

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Albrecht (seit 1749 von) Haller (1708–1777) schrieb wenige Wochen nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Mariane, geb. Wyß (1711–1736), die kurz nach der Übersiedlung des Ehepaares nach Göttingen gestorben war, ein Trauergedicht, das ähnlich wie die Gedichte von Besser und von Canitz lange bekannt blieb. Es erschien zuerst in einem undatierten Einzeldruck (wohl noch vom Jahr 1736), wurde 1738 in den 3. Teil der von Gottsched eingeleiteten Sammlung „Oden und Cantaten“ der Deutschen Gesellschaft in Leipzig aufgenommen¹⁰ und stand seit der dritten Auflage (1743) von Hallers Sammlung „Versuch Schweizerischer Gedichte“ in den zahlreichen weiteren Auflagen, die zu seinen Lebzeiten erschienen:¹¹ Trauer-Ode, beim Absterben seiner geliebten Mariane.* Nov. 1736.

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Soll ich von deinem Tode singen? O Mariane! welch ein Lied, Wann Seufzer mit den Worten ringen Und ein Begriff den andern flieht! Die Lust, die ich an dir empfunden, Vergrößert jetzund meine Noth;

„Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte“ (hrsg. v. Angelo George de Capua u. Ernest Alfred Philippson, Tübingen 1965, S. 175– 183); sie findet sich zusammen mit anderen Texten im „Ehren-Mal Zum Angedenken Der Frau von Canitz Auffgerichtet“ am Ende des Einleitungsteils der von Johann Ulrich König besorgten Canitz-Ausgabe von 1727 (hrsg. v. Stenzel, S. 165–184) und seit 1711 in den „Schrifften“ Bessers (hrsg. v. Kiesant/Keller, S. 494–502). Vgl. zu dieser Trostode die Studie von Ulrich Breuer: Poetische Reisefiktion als Melancholietherapie. Johann von Bessers „Trost aus anderer Unglück“, in: Daphnis 24, H. 2–3, 1995, S. 427–453. 10 Näheres dazu in Anm. 25. 11 Abgedruckt nach: Albrecht von Haller, Gedichte, hrsg. u. eingeleitet v. Ludwig Hirzel, Frauenfeld 1882, S. 158–162; hier auch S. 163–166 das Gedicht „Ueber eben Dieselbe“ vom Februar 1737, S. 335–340 Bodmers Gedicht an Haller „Auf das Absterben der Mariane“ von 1738, das Haller in die Sammlung seiner eigenen Gedichte aufgenommen hat, S. 176–183 Hallers „Antwort an Herrn Johann Jakob Bodmer“ vom selben Jahr und schließlich S. 184–187 das Gedicht „Ueber den Tod seiner zweiten Gemahlin, Elisabeth Bucher“ vom Februar 1741. – In der Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ sind die beiden Gedichte Hallers auf seine erste Ehefrau (S. 165– 171, 172–175), sein Dankgedicht an Bodmer (S. 176–184, mit Zitaten aus Bodmers Gedicht an Haller in den Fußnoten des Herausgebers) und Hallers Gedicht zum Tod seiner zweiten Ehefrau (S. 203–207) wiedergegeben. * Aelteste Tochter des Herrn Samuel Wyß, Herrn zu Mathod und la Mothe, und Marien von Dießbach, die der Verfasser den 19. Febr. 1731 geheirathet und den 30. Octob. 1736 durch den Tod verloren hat, da er eben einen Monat vorher in Göttingen angekommen war.

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Ich öffne meines Herzens Wunden Und fühle nochmals deinen Tod.

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Doch meine Liebe war zu heftig, Und du verdienst sie allzuwohl, Dein Bild bleibt in mir viel zu kräftig, Als daß ich von dir schweigen soll. Es wird, im Ausdruck meiner Liebe, Mir etwas meines Glückes neu, Als wann von dir mir etwas bliebe, Ein zärtlich Abbild unsrer Treu! Nicht Reden, die der Witz gebieret, Nicht Dichter-Klagen fang ich an; Nur Seufzer, die ein Herz verlieret, Wann es sein Leid nicht fassen kann. Ja, meine Seele will ich schildern, Von Lieb und Traurigkeit verwirrt, Wie sie, ergötzt an Trauer-Bildern, In Kummer-Labyrinthen irrt! Ich seh dich noch, wie du erblasstest, Wie ich verzweifelnd zu dir trat, Wie du die letzten Kräfte fasstest, Um noch ein Wort, das ich erbat. O Seele, voll der reinsten Triebe, Wie ängstig warst du für mein Leid! Dein letztes Wort war Huld und Liebe, Dein letztes thun Gelassenheit.

Wo flieh ich hin? in diesen Thoren Hat jeder Ort, was mich erschreckt! 35 Das Haus hier, wo ich dich verloren; Der Tempel dort, der dich bedeckt; Hier Kinder – ach! mein Blut muß lodern Beim zarten Abdruck deiner Zier, Wann sie dich stammelnd von mir fodern; 40 Wo flieh ich hin? ach! gern zu dir!

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O soll mein Herz nicht um dich weinen? Hier ist kein Freund dir nah als ich. Wer riß dich aus dem Schooß der deinen? Du ließest sie und wähltest mich. Dein Vaterland, dein Recht zum Glücke, Das dein Verdienst und Blut dir gab, Die sinds, wovon ich dich entrücke, Wohin zu eilen? in dein Grab!

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Dort in den bittern Abschieds-Stunden, Wie deine Schwester an dir hieng, Wie, mit dem Land gemach verschwunden,* Sie unserm letzten Blick entgieng; Sprachst du zu mir mit holder Güte, Die mit gelassner Wehmuth stritt: ‚Ich geh mit ruhigem Gemüthe, Was fehlt mir? Haller kömmt ja mit!‘ Wie kann ich ohne Thränen denken An jenen Tag, der dich mir gab! Noch jetzt mischt Lust sich mit dem kränken, Entzückung löst mit Wehmuth ab. Wie zärtlich war dein Herz im lieben, Das Schönheit, Stand und Gut vergaß, Und mich allein nach meinen Trieben Und nicht nach meinem Glücke maß. Wie bald verließest du die Jugend Und flohst die Welt, um mein zu sein; Du miedst den Weg gemeiner Tugend Und warest schön für mich allein. Dein Herz hieng ganz an meinem Herzen Und sorgte nicht für dein Geschick; Voll Angst bei meinem kleinsten Schmerzen, Entzückt auf einen frohen Blick.

Ein nie am eiteln fester Wille, Der sich nach Gottes Fügung bog; 75 Vergnüglichkeit und sanfte Stille, Die weder Glück noch Leid bewog; Ein Vorbild kluger Zucht an Kindern, Ein ohne Blindheit zartes Herz; Ein Herz, gemacht mein Leid zu mindern, 80 War meine Lust und ist mein Schmerz.

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Ach! herzlich hab ich dich geliebet, Weit mehr als ich dir kund gemacht, Mehr als die Welt mir Glauben giebet, Mehr als ich selbst vorhin gedacht. Wie oft, wann ich dich innigst küsste, Erzitterte mein Herz und sprach: ‚Wie? wann ich sie verlassen müsste!‘ Und heimlich folgten Thränen nach.

* Die Reise nach Göttingen fieng zu Schiff an.

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Ja, mein Betrübniß soll noch währen, Wann schon die Zeit die Thränen hemmt; Das Herz kennt andre Arten Zähren, Als die die Wangen überschwemmt. Die erste Liebe meiner Jugend, Ein innig Denkmal deiner Huld, Und die Verehrung deiner Tugend Sind meines Herzens stäte Schuld.

Im dicksten Wald, bei finstern Buchen, Wo niemand meine Klagen hört, Will ich dein holdes Bildniß suchen, 100 Wo niemand mein Gedächtniß stört. Ich will dich sehen, wie du giengest, Wie traurig, wann ich Abschied nahm! Wie zärtlich, wann du mich umfiengest, Wie freudig, wann ich wiederkam! 105 Auch in des Himmels tiefer Ferne Will ich im dunkeln nach dir sehn Und forschen, weiter als die Sterne, Die unter deinen Füßen drehn. Dort wird an dir die Unschuld glänzen 110 Vom Licht verklärter Wissenschaft; Dort schwingt sich aus den alten Gränzen Der Seele neu entbundne Kraft! Dort lernst du Gottes Licht gewöhnen, Sein Rath wird Seligkeit für dich; 115 Du mischest mit der Engel Tönen Dein Lied und ein Gebet für mich. Du lernst den Nutzen meines leidens, Gott schlägt des Schicksals Buch dir auf; Dort steht die Absicht unsers scheidens 120 Und mein bestimmter Lebenslauf. Vollkommenste! die ich auf Erden So stark und doch nicht gnug geliebt! Wie liebens-würdig wirst du werden, Nun dich ein himmlisch Licht umgiebt. 125 Mich überfällt ein brünstigs hoffen, O! sprich zu meinem Wunsch nicht nein! O! halt die Arme für mich offen! Ich eile, ewig dein zu sein!

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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Die Gedichte von Besser, Canitz und Haller – die hier, um hinreichende Anschauung zu vermitteln, in voller Länge mitgeteilt werden mußten – sind, wie schon ein rascher Blick auf diese Texte lehren kann, regelgerechte Epicedien. Verwundern kann das nicht, denn neben anderen Formen der Kasualpoesie behält – trotz aller im späten 17. und im 18. Jahrhundert zunehmenden Kritik an der Gelegenheitsdichtung¹² – nicht zum wenigsten das Epicedium noch lange seinen Platz in der literarischen Produktion vieler Autoren wie in den Lehrbüchern der Poetik und Rhetorik und sonstigen Kompendien¹³ und war gelehrten Autoren wie Besser, Canitz und ebenso noch dem jüngeren Haller selbstverständlich wohlvertraut. So setzen alle drei Gedichte – mit einer über die schon immer gegebene Freiheit der Ausgestaltung der Teile des Epicediums und ihres Verhältnisses zueinander hinausgehenden auffälligen, wenngleich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert auch in der Theorie ausdrücklich als zulässig geltenden¹⁴ Abweichung vom her-

12 Nähere Belege für diese aus einer massenhaften Produktion von oft zweifelhafter Qualität wie aus einer nach und nach zunehmenden Distanz gegenüber der rhetorischen Tradition erwachsende Kritik, die sich in literaturkritischen Texten, in Briefen, aber auch in kritischen Bemerkungen in mancherlei Gedichten vielfältig niederschlägt, erübrigen sich hier; doch sei wenigstens aus der Vielzahl jüngerer Arbeiten zur Gelegenheitsdichtung die umfassende Untersuchung von Wulf Segebrecht hervorgehoben: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977 (darin bes. S. 225–286: Dritter Teil. Das Casualcarmen als Gegenstand vorgoethescher Kontroversen). 13 Hierzu wie zur denselben Regeln folgenden oratio funebris s. als beliebige Beispiele aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wenigstens diese Werke: Gottsched, Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst, Zum Gebrauche der Schulen entworfen, 1Leipzig 1756, S. 158 (s. das Zitat in der unten folgenden Quellensammlung) – Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, herausgegeben von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1760 (ND Hildesheim, New York 1970), Sp. 617 (Epicedium), mit knapper Definition; Sp. 1575 (Trauerreden), mit näherer Erläuterung der dispositio: Lob des Verstorbenen, Klage über den Verlust, Bemühen, die Betrübten aufzurichten – Johann August Ernesti, Initia Rhetorica, Leipzig 1783 (Expl. StuUB Frankfurt a.M.; 11750), S. 132f.: „Restat vnum genus [orationis], de quo separatim praecipiendum videtur, epitaphium, siue funebre. Possunt autem in oratione tali esse haec: doloris atque luctus demonstratio, laudatio mortui, ex qua luctus causa intelligatur, consolatio eorum, ad quos dolor maxime pertinet, veluti parentum, coniugum, liberorum, etc … maxime in hoc genere dominantur laudes mortui … Doloris autem significatio non modo ponetur ab initio, quamquam id non est perpetuum, sed etiam, atque vel maxime, post laudes; quibus explicatis, breuiter repetendo laudum … capita, argumentationes efficientur, e quibus veritas et magnitudo doloris intelligatur“. 14 S. die in Anm. 97 der Abhandlung „Das barocke Epicedum“ in diesem Band angeführten Stellen in den Werken von Bohse-Talander (1692), Hallbauer (31736) und Wahll (1723) – ferner z. B. auch: Erdmann Uhse, Wohl-informirter Redner, 5Leipzig 1712 (ND Kronberg 1974), S. 415: „Die Stücke folgen zwar am natürlichsten also auff einander / daß 1. Das Lob. 2. Die Klage. 3. Der Trost ... gesetzet wird: Allein es kommet bißweilen gar pathetisch heraus / wenn man

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

gebrachten Dispositionsschema laudatio, lamentatio, consolatio – ein mit eindringlichen und zum Teil umfangreichen Klageteilen (bei Besser nach einer einleitenden iacturae demonstratio, wie sie Scaliger als zusätzlichen Teil genannt hatte), aus denen dann das Lob der Toten, die Klage um sie begründend, hervorgeht (so Besser, v.61ff.; bei Canitz anklingend schon v.12ff., entschiedener dann v.49ff.; Haller, v.49ff.), um zum Teil wiederholt in Klage zurückzufallen, die doch immer auch laudatio bedeutet und in unterschiedlicher Mischung mit dieser auftritt. Jedes der drei Gedichte endet in einem deutlich ausgeprägten consolatio-Teil (Besser, v.229, mit einem den Einschnitt betonenden „Allein“; Canitz, v.161ff.; Haller, v.105ff.) mit mancherlei lange schon tradierten Trostargumenten, bei Besser etwa der vom Todesfall ausgehenden Aufforderung zur Abwendung von der Welt als einem Jammertal (v.232f., 239f., 251f.) oder der Erwartung des Wiedersehens „mit Jauchzen“ in der Ewigkeit (v.310), bei Canitz mit mehrfach variiertem Hinweis auf den glückseligen Zustand der Vorangegangenen in der Ewigkeit und auf die Erwartung einer neuen Vereinigung der Seelen in der künftigen Welt. Freilich handhaben die drei Autoren die Form des Epicediums – die man immer schon mit einfacher Regeltreue wie mit selbständiger Kunst gestalten konnte – über die bei jedem von ihnen in gleicher Weise zu beobachtende Stellung der lamentatio vor der laudatio hinaus in eigenwilliger Weise. Das zeigt sich schon an der bis dahin unbekannten Tatsache, daß hier die Trauernden selbst, die den Tod eines ihnen ganz nahe stehenden Menschen, der eigenen Ehefrau, beklagen, Trauer- und Trostgedichte schreiben.¹⁵ Diese Abweichung

mit der Klage anfänget ...“ oder oben in Anm. 13 das Zitat aus den „Initia Rhetorica“ von J.A. Ernesti. 15 Wieweit es dafür noch vor Bessers Gedicht von 1688 und dem zehn Jahre älteren von Christian Weise (s. Anm. 5) Beispiele aus dem späteren 17. Jahrhundert gibt, muß hier offen bleiben. In der für die zweite Hälfte des 17. und die ersten Jahrzehnte des 18.  Jahrhunderts repräsentativen Sammlung „Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte“ erster [-siebender] theil (1695–1727), hrsg. v. Angelo George de Capua, Ernest Alfred Philippson, Erika A. Metzger, Michael M. Metzger, Tübingen 1961–1991 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF Bd. 1, 16, 22, 24, 29, 38 und 43) findet sich (T.7, S. 378–385) ein einziges, viel späteres Beispiel von Carl Otto Rechberg aus dem Jahr 1720, das 1743 in die Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ aufgenommen wurde. Zwei Gedichte in der sogen. Hoffmannswaldau’schen Sammlung, die dem Tod naher Verwandter (aber nicht der Ehefrau) gelten, gehören auch erst dem späteren 17. oder frühen 18. Jahrhundert an (T.3, S. 239–241: Wehmüthiges leid bey dem grabe seiner schwester / Frau Maria Magdalena Schultzin  / gebohrnen Peuckerin; undatiert, Verfasser Johann Wolfgang Peucker, 1652–nach 1701 – T.7, S.  406–409: Thränen eines höchstbetrübten Vaters über den frühzeitigen Tod seiner eintzigen an den Blattern schmertzhafft doch seelig verblichenen Tochter; datiert 1718, Ver-

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von einer lange gültigen Norm hat allerdings die Leser und Kritiker des frühen 18. Jahrhunderts – wohl im Rahmen einer sich anbahnenden Distanz gegenüber der Kasualdichtung und ihren rhetorisch fundierten praecepta – offenkundig, falls sie überhaupt noch als Normabweichung wahrgenommen worden ist, nicht gestört, sie hat nur Anlaß zu Erwägungen gegeben, in welchem Affektzustand ein Dichter sich befinden muß, um ein derartiges Gedicht zu schreiben. Gleichwohl ist die von Besser und entschiedener noch von Canitz und Haller mit Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau vollzogene Abweichung von einer lange Zeit selbstverständlichen Norm des Epicediums Voraussetzung für das Echo, das diese Gedichte dann über mehrere Jahrzehnte gefunden haben. Denn diese Normabweichung, die offenkundig zugleich auf ein verändertes Selbstverständnis, auf veränderte Absichten verweist,¹⁶ bedeutet, sofern der Verfasser sich nun nicht den von einem Todesfall am nächsten Betroffenen als teilnehmend Klagender und Tröstender zuwendet oder im Namen eines unmittelbar Betroffenen dessen Leid ausspricht, sondern den eigenen Schmerz, das eigene Trostbedürfnis bekundet und zu stillen sucht, eine Sprechhaltung, durch welche die hergebrachte dispositio und inventio des Epicediums, so sehr diese ersichtlich noch das Fundament jener Gedichte sind, doch folgenreich verändert werden müssen. Das ließe sich durchgehend an vielen Einzelheiten an jedem der drei Texte zeigen, doch mögen hier einige begrenzte Andeutungen genügen.

fasser Johann Christian Stieff). Zwei andere Epicedien (T.1, S. 166–168: Die an dem begräbnißtage / ihres grossen Friedrich Wilhelms / wehklagende Durchlauchtigste Dorothee; zum Tod des Großen Kurfürsten verfaßt von Johann von Besser; T.6, S. 207–209: Trauer-klag eines fürnehmen witwers über den Tod seiner gemahlin; von Benjamin Neukirch) sind nur scheinbar Parallelfälle zu den Gedichten von Besser, Canitz und Haller, denn sie gehören zum Typus des Gelegenheitsgedichts „in eines andern Namen“ (deshalb auch, wie die Vorrede Bl.  c5rf. ausdrücklich begründet, in der Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ „mit Fleiß übergangen“), der im 17. Jahrhundert, in welchem Gelegenheitsgedichte vielfach unverächtliche Auftragsarbeit waren, verbreitet und unumstritten war und erst in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts aus Gründen, von denen weiter unten zu sprechen sein wird, zum Gegenstand der Kritik wurde. Auch die Gedichte von Andreas Gryphius auf den Tod seiner Eltern und seiner Großmutter (s. den Anhang zu der Abhandlung „Das barocke Epicedium“ in diesem Band) können, auch wenn hier consolator und consolandus ebenfalls identisch sind, mit den späteren Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau nicht verglichen werden, da sie, offenkundig aus mehr oder weniger großem zeitlichen Abstand entstanden und eben so sehr Zeitklage wie persönliche lamentatio, nur sehr zurückhaltend von der Betroffenheit des sprechenden Ich und seinem Trostbedürfnis zeugen. 16 In welchem genauen Wechselverhältnis das, was hier nur angedeutet werden kann, als Symptom oder auch mitwirkendes Medium zu jenen geistes- und literaturgeschichtlichen Wandlungen des Denkens und Empfindens steht, die dann das 18. Jahrhundert entscheidend prägen, kann im hier gegebenen Rahmen nicht einmal ansatzweise näher erörtert werden.

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Besser, als Hofdichter in brandenburgischen, später sächsischen Diensten Verfasser zahlreicher Gelegenheitsgedichte, macht mit seinem umfangreichen Alexandriner-Gedicht auf den Tod seiner Ehefrau noch zurückhaltender als bald darauf Canitz und Jahrzehnte später Haller von der mit jener Normabweichung gegebenen Sprechhaltung Gebrauch, wie am Aufbau seines Textes sogleich ins Auge fällt: der in der 1. Person sprechende umfangreichste Teil ist von einem einleitenden (v.1–54) und einem abschließenden Teil (v.311–340) eingefaßt, die in der 3. Person Singular gehalten sind und den Todesfall und den Jammer des verlassenen Ehemanns schildern, um im langen Mittelteil der eindringlichen Bekundung seiner Klage und seiner Suche nach Trost ausführlich Raum zu geben. In diesem Rahmen kann sich nun in vielfältigen Zügen des privaten Lebens das Band sehr persönlicher ehelicher Liebe (s. z. B. v.65) bezeugen und die Klage über seine Auflösung durch den Tod laut werden in einer Sprache, die von den ausschmückenden Mitteln der amplificatio nur sparsam Gebrauch macht, einzelne Bilder aber (so in v.70ff. das von Weinstock und Ulme, in v.73 das von in Feuer geschmolzenem Wachs zur Bekräftigung der liebenden Zuwendung in der Ehe) umso wirksamer einsetzen kann oder beispielsweise in Versen einer laudatio innerhalb der lamentatio typische Züge des barocken Schönheitspreises aufruft (v.176ff.), um sie hinter dem zurücktreten zu lassen, was wesentlicher Grund von Lob und Klage ist: „... was keine Mißgunst sieht: Ihr groß und edles Hertz, ihr redliches Gemüth“ (v.183f.), und das keineswegs neue Motiv einer Entgegensetzung von Schönheit und Tugend mit einzelnen Zügen ehelicher Verbundenheit zu bekräftigen. Auch der konsolatorische Teil wandelt traditionelle Trostargumente ab, wenn der Trauernde (v.233ff.) nicht die Tote, sondern sich glückselig nennt, weil der Tod sie davor bewahrt hat, ihn begraben, um ihn trauern zu müssen, – wenn er den Tod der Ehefrau nicht als allgemeine Erinnerung an die Unentrinnbarkeit des Todes und als Mahnung zur Abkehr von der Welt erfährt, sondern eine Abkehr von der Welt nur deshalb leicht nennen kann, weil ihn darin angesichts des Grabes der Vorangegangenen nichts mehr zu halten vermag (v.239ff.), – wenn das irdische Jammertal, das sonst kontrastierender Anlaß einer tröstlichen Preisung des in die ewige Herrlichkeit entrückten Toten ist, als mit Geduld zu tragende Buße für das zuvor erlebte Glück der Ehe verstanden wird (v.251ff.). Durch derlei Abwandlungen traditioneller Trostargumente bleibt der consolatio-Teil, durch welchen der Trauernde nur mühsam Fassung bis zum eigenen Tod findet, durchzogen von Klage, wie es schon seine an der Kraft des Trostes zweifelnde Einleitung (v.230: Muß ich, so gut ich kan, mich dennoch endlich trösten) andeutet und der in den Schlußteil des Rahmens überleitende Vers (v.311: So klagte bitterlich der sehr betrübte Mann) abschließend ausspricht. So trägt hier auch der Trostteil dazu bei, daß Bessers Gedicht in einem Maß von Klage durchzogen ist, das durch die besondere Sprechsituation des trauernden

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Ehemanns möglich und legitimiert wird und damit die Bekundung persönlichprivater Betroffenheit sich entfalten lässt, wie sie in einem sich strenger an die hergebrachten praecepta haltenden Epicedium kaum denkbar ist. Auf andere, aber doch vergleichbare Weise lebt auch das Epicedium von Canitz auf die eigene Ehefrau aus den Möglichkeiten der damit gegebenen besonderen Sprechsituation und einer damit verbundenen Umprägung traditioneller Argumente und Topoi, die den hergebrachten Teilen des Epicediums einen stärker privaten, persönlichen Charakter geben. Daß es eine zwiespältige Rolle ist, in welcher der um die eigene Ehefrau trauernde Dichter sich befindet und die erinnernde laudatio immer wieder von der Klage verdrängt zu werden droht, bekundet schon die fünfte Strophe, die einen alten Topos, die Frage nach der Fähigkeit des Poeten zur angemessenen Verfertigung eines Epicediums und zur Erfüllung der damit verbundenen Erwartungen der Trauernden abwandelt für die Situation des um die geliebte Ehefrau Trauernden, der auch mit seinen zum Lob der Toten bestimmten Versen Zeuge der eigenen Trauer sein muß und immer wieder in Klage ausbrechen wird. So folgen zwar von v.49 an Strophen einer laudatio, die vielfach traditionelle Motive der bewährten Tugend, der Standhaftigkeit im Unglück, der Liebe aufgreifen, dabei jedoch als Zeugnisse sehr persönlicher Eigenschaften ausprägen, die zum Anlaß immer erneuter und wachsender Liebe des nun Trauernden wurden (v.97ff.). Diese Strophen liebender, dankbarer laudatio aber werden (v.117ff.) alle zusammen zur ausdrücklichen Begründung für einen die Anfangsstrophen fortsetzenden Klageteil, der mit dem summierenden Vers „Alles das hab ich verlohren“ (v.117) einsetzt und sich darauf konzentriert, die widersprüchlichen Affekte des Trauernden – unter Benutzung tradierter Motive und Sprachgesten (v.137ff.: das Umherirren in der Natur; v.158ff.: in Form einer dubitatio wechselnde Wünsche, gipfelnd im Vers „Ich weiß selbst nicht, was ich will“) – in einer beweglichen Abfolge von Versen und Strophen zu vergegenwärtigen. Von dauernder Klage und Sehnsucht bleibt auch der abschließende Trostteil geprägt, der mit v.161 einsetzt. Wenn er vom Schlummer der Toten (v.167), von einem erhofften Winken „zu guter Nacht“ (v.172), als Abschiedsgruß also, von der Klarheit seliger Auen (v.178f.), in welchen die Tote weilt, oder von der künftigen Auferstehung und Wiederbegegnung (v.199ff.) spricht, so sind auch dies überlieferte Trosttopoi. Doch dienen sie hier nicht als wirksame Trostargumente, sondern dem von Strophe zu Strophe immer wieder laut werdenden Wunsch, der Toten noch einmal zu begegnen, der sich doch – nach vorausgegangener Ergebung in das der Toten und dem noch Lebenden gemeinsame Los der Verwesung in einander nahen Gräbern (v.203ff.) – nur in einer Vision zu erfüllen vermag, welche mit unsicherem Fragen aufgenommen wird. Dieser Trostteil führt nicht, wie es seine ursprüngliche Funktion ist, zur Affektstillung, aber er trägt auf seine

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Weise dazu bei, daß dieses Epicedium zum Mittel der Vergegenwärtigung sehr persönlich erfahrener Trauer wird. Daß Albrecht von Hallers Gedicht auf den Tod seiner Frau Mariane, mehrere Jahrzehnte nach den Gedichten von Besser und Canitz entstanden, von weiter voranschreitenden Wandlungen des lyrischen Sprechens geprägt ist, welche es von jenen unterscheiden, bezeugt nachdrücklich die programmatische dritte Strophe, in welcher der Autor rhetorischen und poetischen Texten, „die der Witz gebieret“ (v.17f.),¹⁷ die Absicht entgegensetzt, die Seufzer eines fassungslosen Herzens, ja die Seele zu schildern,¹⁸ die verwirrt ist von widersprüchlichen, von vermischten – bei Canitz sich erst andeutenden – Empfindungen, wie sie im Denken und Dichten des 18.  Jahrhunderts eine zunehmende Rolle spielen. In Übereinstimmung mit dieser Strophe durchzieht das Wort „Herz“, mit dessen Gebrauch Haller an einer anderen Stelle in dessen Bedeutungs- und Verwendungsgeschichte schon steht als Besser und Canitz, das ganze Gedicht und spielt nicht nur der Zahl, sondern seinem Sinn nach eine im Vergleich mit den beiden poetischen Vorgängern ungleich größere und andersartige Rolle als Organ einer zunehmend ihrer selbst bewußt werdenden Innerlichkeit. In solchem Sinne verändert auch Haller das Epicedium, an dessen dispositio und inventio er gleichwohl noch festhält. So wird in der ersten und der dritten Strophe aus dem tradierten Einleitungstopos des Zweifels an der Befähigung des mittrauernden Poeten zur angemessenen Gestaltung des Trauer- und Trostgedichts die Not des möglichen Verstummens (besonders v.3f. und 19f.) vor der Größe des erlittenen und immer neu und gerade auch mit dem Versuch eines Gedichts erneut vergegenwärtigten eigenen Leids. Die achte Strophe nennt mit „Schönheit, Stand und Gut“ (v.62) Eigenschaften, die als Topoi einer laudatio entfaltet werden könnten, doch nur, um ihnen als wahres Lob das zärtlich liebende Herz der Toten entgegenzustellen, das einst sich für den nun um sie Trauernden nicht nach dessen Glücksumständen, sondern nur um seiner Liebe willen entschieden hatte,

17 Zu Begriff und Bedeutung des Witzes in der frühen Aufklärung ist noch immer zu verweisen auf Paul Böckmanns grundlegende Studie „Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung“, zuerst gedruckt 1932/33 im „Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts“ und später aufgenommen in die „Formgeschichte der deutschen Dichtung“ (Bd. 1, Hamburg 1949, S. 471–552). 18 Haller hat diesen Gegensatz noch einmal hervorgehoben in einer Vorbemerkung, die er der „Trauer-Ode“ in der 4. und 5. Auflage (1748, 1749) beigegeben hat: „Diese Ode ist wenige Wochen nach der traurigen Begebenheit, die sie veranlaßt, aufgesetzt worden. Sie redet mehr die Sprache des Herzens als des Witzes. Es ist mir immer vorgekommen, als wann einige der beliebtesten Gedichte von der gleichen Art zu sehr die letztere redeten“ (Gedichte, hrsg. v. Hirzel, S. 332).

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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– Anlaß für die widersprüchlichen Empfindungen von „Lust“ und „Kränken“, „Entzückung“ und „Wehmuth“ (v.59f.), in welchen sich laudatio und lamentatio kaum unterscheidbar mischen. Auch in den Schlußstrophen, dem Ort der consolatio, greift Haller tradierte, geistliche Topoi des Epicediums auf: den Glanz der jenseitigen Welt, die verklärte Erscheinung der Toten, ihre Teilhabe an den Lobgesängen der Engel, die Teilnahme der Gestorbenen, die nun das den Lebenden verschlossene Buch des Schicksals kennen lernt, an dem noch auf Erden Weilenden. Doch verbinden sie sich nicht zu einer theologisch begründeten Tröstung, sondern Trost gewährt hier nur die darin sich bekundende sehnsuchtsvolle Vergegenwärtigung der verklärten Toten, aus welcher zuletzt Hoffnung auf die künftige Wiedervereinigung der durch den Tod getrennten Liebenden in der Ewigkeit erwächst. Durch die Art, wie Besser, Canitz und Haller sich zwar an die lange Tradition des Epicediums anschließen, die in ihm angelegten Möglichkeiten einer aus den Verfahrensweisen der Rhetorik gespeisten Affektdarstellung aber – zumal in der von der ursprünglichen Sprechhaltung der Gattung abweichenden Form des Trauergedichts auf die eigene Ehefrau – zu einer zunehmend persönlicher werdenden affektbewegten Bekundung von Trauer und dauernder ehelicher Liebe entwickeln, werden diese Epicedien trotz der sich ausbreitenden Kritik an der gesamten Kasualdichtung und wohl gerade mit dem hier entstandenen Spannungsverhältnis von Traditionsbeziehung und Normabweichung zu auffälligen und die Zeitgenossen beschäftigenden Beispielen, an denen Wandlungen der Gestaltung von Affekten oder (zunehmend so genannten) Empfindungen und der sie tragenden Sprechweise des carmen lyricum sichtbar werden und die daher über mehrere Jahrzehnte hin in der literarischen Diskussion des 18. Jahrhunderts immer wieder eine aufschlußreiche Rolle spielen.¹⁹ Wichtige Stimmen sind – in chronologischer Folge – diese:²⁰

19 Die Trauergedichte von Besser, Canitz und Haller (weniger allerdings die Tradition, in welcher sie stehen, und deren produktive Bedeutung) haben – von manchen gelegentlichen, oft nur knappen Bemerkungen in anderen Arbeiten abgesehen – ausführlicher Beachtung gefunden in dem (in Ergebnissen und Perspektiven freilich begrenzten) Aufsatz von Christoph Siegrist, Frühaufklärerische Trauergedichte zwischen Konvention und Expression, in: Text & Kontext 6, 1978, S.  9–20, und in der viel ergiebigeren, vor allem auf die frühaufklärerische Liebes- und Eheauffassung gerichteten Studie von Ernst Osterkamp, Liebe und Tod in der deutschen Lyrik der Frühaufklärung, in: Critica Poeticae. Lesarten zur deutschen Literatur, hrsg. v. Andreas Gößling u. Stefan Nienhaus, Würzburg 1992, S. 75–100. 20 Diese Belege, zusammengetragen im Lauf mancher Jahre und bei Lektüre für unterschiedliche Zwecke, können keinen Anspruch auf eine gewisse Vollständigkeit erheben, dürften aber repräsentativ genug für die Wirkungsgeschichte der Epicedien von Besser, Canitz und Haller im 18. Jahrhundert und für die darin sich ergebenden Fragen sein.

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J.J. Bodmer (1721) Der Herr Besser ... schreibet Gedichte  / worinnen er die reichste Imagination hervorblicken läßt. Er ist insonderheit lebhafft in den Beschreibungen der Bewegungen einer Armee / der Schlachten und der Bestürmungen ... Aber ich werde niemals so empfindlich getroffen / als wenn ich die Klag-Gedichte lese / welche dieser Herr und sein vortrefflicher Freund der Hr. Canitz über das Absterben ihrer Gemahlinnen geschrieben haben. Dies sind vielleicht die zwey passionniertste Stücke / welche wir in der Deutschen Poesie haben. Es ist unmöglich / daß ein Leser nicht einen Theil der Grösse des Affectes / welcher sie beyde erhitzet hat / in seinem Hertzen empfinde. In des Herrn Bessers haben mich die folgenden Stellen mit einer Traurigkeit angefüllet / die sich erneuert / so offt ich sie wieder lese. Bl.219. Erhielt ich sie denn nur / um sie ins Grab zubringen? Und Bl.220. Was meinst du / wie mir sey bey meiner Einsamkeit? Wenn noch darzu die Nacht mit ihrem Schrecken dreut. Wenn die gewohnte Hand dich sucht im Traum entzündet / Und deine Stelle zwar / doch dich nicht selbsten findet. Kein Wunder / daß dein Mann sich dann verlassen schätzt / Und ein Wehklagend Ach! das wüste Lager netzt. Und Bl.221. Begehrt ich dann von ihr / daß sie mich solt begraben? Ach nein! diß ist ein Werck / das lebendig verzehrt! Ach nein! du armes Kind / wie hätt ich das begehrt? Du wärst vor Hertzeleid zu mir herabgefahren. *** Dein letzter Liebes-Blick gab zwar mir gute Nacht / Doch hat dem ersten gleich er mich verliebt gemacht. Dein Sterbe-Kittel selbst vergrössert deine Schöne / Ich brannte nie so sehr / als ich mich jetzund sehne. *** Ich liebte / wenn ich gleich sie nicht erhalten hätte; Ich liebte sie um sie / und mich / weil sie mir hold / Ich lebte / weil ich ihr dadurch gefallen solt. Welche Stärcke der Passion bemercken diese letztern Verse? Des Herrn Canitz seine ist nicht schwächer gewesen / und seine Expressionen sind eben so natürlich. – – Wie kömmts / da ich mich kräncke / Werd ich gleichsam wie ergetzt / Wenn ich nur an die gedencke / Die mich in das Leid gesetzt? *** Euch ihr Zeiten die verlauffen / Könnt ich euch mit Blut erkauffen / Die ich offt aus Unbedacht / Ohne Doris zugebracht! Sonne schenck mir diese Blicke! Komm verdopple deinen Schritt /

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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Eilt ihr Zeiten / eilt zurücke! Bringt mir aber Doris mit! Der Zweiffelmuth eines betrübten Amanten kann nicht natürlicher gesetzt werden / als wie in der Strophen so auf diese folget / geschicht. Aber nein; eilt nicht zurücke / Sonst entfehrnen eure Blicke Mir den längst begehrten Tod / Und benehmen nicht die Noth; Doch könnt ihr mir Doris weisen; Eilet fort! Nein haltet still! Ihr mögt warten / ihr mögt reisen; Ich weiß selbst nicht / was ich will. Diese vornehme Poeten / die ich niemals müde werde zuloben / lassen das Hertze reden / man kann sagen / daß Amor ihnen ihre Verse in die Feder geflösset hat / wenn sie von der Liebe / und Mars wenn sie von dem Kriege singen. Sie zwingen uns die Affecte anzunehmen / welche sie wollen / wir lachen / wir werden stoltz / wir förchten uns / wir erschrecken / wir betrüben uns  / wir weinen wenn es ihnen gefällt; aber auch die traurigen Affecte die sie in uns rege machen / werden von einem gewissen Ergetzen begleitet / das damit vermenget ist. Ich belache diese fantastische Schüler der Reim-Kunst  / welche sich eine Chimerische Maitresse bey einem frostigen Herzen / und einer noch kältern Imagination machen / welche von Brand und Feuer mit den kältesten Expressionen reden / in der Metaphora sterben / sich hencken  / sich zu tode stürtzen  / derer passioniertste Complimente  / die sie ihrer Liebsten machen / Spiele der Wörtern / und der truckenen Imagination sind / Phebus / Galimathias / etc. Es bleibt mir übrig / euch mit wenigen Worten zuerklären / was es eigentlich seye / daß die Poeten figürlich ihren Enthousiasmum / ihre Inspiration / oder auch nur Poetische Raserey nennen. Diese Worte bedeuten nichts anders / als die hefftige Passion / mit welcher ein Poet für die Materie seines Gedichtes eingenommen ist / oder die gute Imagination / durch welche er sich selbst ermuntern / und sich eine Sache wieder vorstellen / oder einen Affect annehmen kan / welchen er will. Wenn er also erhitzet ist / so wachsen ihm / so zusagen / die Worte auf der Zungen / er beschreibet nichts als was er siehet / er redet nichts / als was er empfindet / er wird von der Passion fortgetrieben / nicht anderst als ein Rasender / der ausser sich selbst ist / und folgen muß / wohin ihn seine Raserey führet. (zit. aus: Die Discourse der Mahlern, hrsg. v. Johann Jakob Bodmer u. Johann Jakob Breitinger, T.1, Zürich 1721, ND Hildesheim 1969, Bl. T 3r-T4v, XIX. Discours, unterzeichnet mit dem in den „Discoursen“ von Bodmer benutzten Pseudonym Rubeen)

Anon., Anleitung zur Poesie (1725) Unter denenjenigen, welche sich von andern unterschieden, sind die Gedichte des Frey-Herrn von Abschatz, und des Herrn von Canitz ... Der andere [Canitz] hat es den meisten von unsern Poeten zuvorgethan, und es ist zu beklagen, daß uns von seiner Arbeit so wenig zu Gesichte kommen. Die Ode, welche er auf den Tod seiner ersten Gemahlin verfertiget, ist insonderheit werth zu lesen, denn sie hat alles, was zur Vollkommenheit einer Ode erfodert wird. –– –

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Opitz hat einige sehr schöne Oden geschrieben. Flemming hat es ihm nachgethan. Hoffmannswaldau und Menantes haben einige Lieder die unverbesserlich, wie auch Logau. Die schönste Ode aber, die wir haben, ist die Ode des Herrn von Canitz, welche er auf den Tod seiner Gemahlin gemacht. (zit. aus: Anon., Anleitung zur Poesie / Darinnen ihr Ursprung / Wachsthum / Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersuchet und gezeiget wird, Breslau 1725, Expl. Slg. Jantz, Film Nr. 573, S. 84, IX. Cap. Von dem Zustande der Poesie in Deutschland, § 11; S. 111, XI. Cap. Von geistlichen und weltlichen Oden, § 6)

G.F.W. Juncker (1727) Es ist iede Gemüths-Neigung, wenn sie in Schranken gehalten wird, edel. Es kann eine verliebte Ode in ihrer Art so schön seyn, als eine heroische, die ihre Reitzungen von der aufgebrachten Ehrbegierde herleitet. Ohngeachtet die Raserey vieler Dichter bey verständigen Leuten fast einen Eckel vor den verliebten Versen erweckt, so glauben wir doch, daß sich niemand solche Stücke zu lesen schämen wird, in welchen die Natur einer Leidenschafft, nach ihren Kennzeichen, abgeschildert ist, und die an und für sich nichts lächerliches hat. [es folgen zwei Beispiele von J.Chr. Günther] Der Herr von Besser hat so vernünfftig und zärtlich den Tod seiner Kühleweinin besungen, als erhaben er die Belagerung von Stettin beschrieben, und der Freyherr von Canitz ist so beweglich in der Ode auf seine verblichene Doris, als scharfsinnig er die Laster in seinen Satyren entlarvet. Kurtz ein verliebtes Gedicht ist seiner Hochachtung werth, wenn es eine vernünfftige Zärtlichkeit hat, und nicht ins lächerliche fällt, oder zum Phöbus und Galimathias wird. (zit. aus: Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker, Untersuchung Herrn Gottfried Benjamin Hankkens Weltlicher Gedichte, S. 41f., in: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte Siebender Theil. Nach dem Druck vom Jahre 1727 hrsg. v. Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger, Tübingen 1991, Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF Bd. 43, S. 11–60)

J.Chr. Gottsched (1730) Die andre Art der Nachahmung geschicht, wenn der Poet selbst die Person eines andern spielet, oder einem der sie spielen soll, solche Worte, Geberden und Handlungen vorschreibt und an die Hand giebt, die sich in solchen und solchen Umständen vor ihn schicken. Man macht z.E. ein verliebtes, trauriges, lustiges Gedichte im Nahmen eines andern, ob man gleich selbst weder verliebt noch traurig, noch lustig ist. Aber man ahmet überall die Art eines in solchen Leidenschafften stehenden Gemüthes so genau nach, und drückt sich mit so natürlichen Redens-Arten aus, als wenn man wircklich den Affect bey sich empfände. Zu dieser Gattung gehört schon weit mehr Geschicklichkeit als zu der ersten. Man muß hier die innersten Schlupfwinckel des Hertzens ausstudirt, und durch eine genaue Beobachtung der Natur den Unterscheid des gekünstelten, von dem ungezwungenen angemercket haben. Dieses aber ist sehr schwer zu beobachten, wie die Fehler sattsam zeigen, so von den grösten Meistern in diesem Stücke begangen worden ... Die Klag-Gedichte, die Canitz und Besser auf ihre Gemahlinnen gemacht, werden sonst als beson-

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dere Muster schön ausgedruckter Affecten angesehen; die ich gar wohl unter diese Art der Nachahmung rechnen kan, ob sie gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorstellen wollen. Denn so viel ist gewiß, daß ein Dichter zum wenigsten denn, wenn er die Verße macht, die volle Stärcke der Leidenschafft nicht empfinden kan. Diese würde ihm nicht Zeit lassen, eine Zeile aufzusetzen, sondern ihn nöthigen, alle seine Gedancken auf die Größe seines Verlusts und Unglücks zu richten. Der Affect muß schon ziemlich gestillet seyn, wenn man die Feder zur Hand nehmen und seine Klagen in einem ordentlichen Zusammenhange vorstellen will. Und es ist auch ohnedem gewiß, daß alle beyde oberwehnte Gedichte eine gute Zeit nach dem Tode ihrer Gemahlinnen verfertiget worden: da gewiß die Poeten sich nur bemühet haben ihren vorigen betrübten Zustand aufs natürlichste auszudrücken. Ob ich nun wohl nicht leugne, daß diese treffliche Stücke des berühmten Amthors Klagen in gleichem Falle weit weit vorzuziehen sind: So könnte doch ein scharfes Auge auch in diesen zwey Meisterstücken noch manchen gar zu gekünstelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entdecken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr würde hervorgebracht oder gelitten haben. Was hier von dem Schmertze gilt, das muß von allen Affecten verstanden werden. Hoffmanns Waldaus Helden-Briefe, sollen verliebt geschrieben seyn: haben aber den Affect, den der Poet nachahmen wollen, sehr schlecht getroffen, und tausend bunte Einfälle und Zierrathen angebracht, die sich vor keinen warhafftig verliebten schicken. Man darf nur dargegen halten, was Günther I.Th. sein. Ged. an seine Geliebte geschrieben, wo alles der Natur gemäß ist: so wird man leicht selbst wahrnehmen, was eine geschickte Nachahmung der Natur ist, und was ein kaltes und frostiges Gewäsche in der Poesie heist. – – – So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der Traurigkeit u.s.w. Das Wunderbare muß noch allezeit in den Schrancken der Natur bleiben und nicht zu hoch steigen. Was ist gemeiner als daß man in Romanen, in Schauspielen und andern verliebten Gedichten die Buhler so rasend abbildet, daß sie sich alle Augenblick hengen, erstechen und ersäufen wollen? Was ist aber auch ausschweifender als dieses? Daher es denn gekommen, daß diese Art des eingebildeten Wunderbaren schon längst lächerlich geworden und nur der Poesie zum Schimpf gediehen. Das Seltsame in allen Arten muß noch natürlich und glaublich bleiben, wenn es die Bewunderung, nicht aber ein Gelächter erwecken soll. Die Traurigkeit wird ebenfalls auf eine solche Art ausschweifend, wenn der Poet nicht stets die Natur vor Augen hat. Es ist so schwer, einen hohen Grad derselben poetisch vorzustellen, als abzumahlen ... Des Herrn von Bessers Schmertz über seine Kühlweinin ist mir allezeit gar zu geschwätzig vorgekommen, und es scheint mir nicht glaublich, daß ein ausserordentliches Leid so viel auserlesene Redner-Künste leiden könne. Er erschöpfet seine gantze Einbildungs-Krafft seinen Jammer auszudrücken; und das Unglaublichste ist dabey, daß er diese seine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben die Leichen-Procession auf der Gasse gesehen, wie ausdrücklich darinne steht. Gieng er denn irgend nicht mit zu Grabe? Oder hatte er auf der Gasse Zeit sie so sinnreich zu beklagen? Der Affect hat bey dem Verluste einer ungemeinen Ehgattin, ungemein und wunderbar seyn sollen: Er ist aber unglaublich geworden. Besser hat als ein künstlicher Poet, nicht als ein trostloser Wittwer geweinet. Ich will hiermit diesen gantzen Ausdruck der Traurigkeit nicht verwerfen; Es ist so viel schönes darinn als in irgend einem Klaggedichte, so wir haben. – – – ... ich will also nur aus einem wiedrigen Affecte etwas hersetzen. Es ist solches die Traurigkeit, und davon will ich das Exempel aus Canitzens Ode auf seine Doris nehmen. Diese ist gleichfalls gantz affectuös gesetzt, und drücket den zärtlichsten Schmertz sehr natürlich und beweglich aus. Er fängt unter andern einmahl gantz unvermuthet an:

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Helfte meines matten Lebens! Doris! ist es gantz vergebens, Daß ich kläglich um dich thu? Andre schöne Stellen sind schon in den vorhergehenden Capiteln daraus angemercket: ich will hier nur noch eine hersetzen, die mir einen Tadel zu verdienen scheint. Es ist folgende: Alles das hab ich verlohren! Ach wie werd ich Traurens-voll! Hat mein Unstern sich verschworen, Daß ich sterbend leben soll? Die letzte Zeile ist es, was mir nicht gefällt. Sterbend leben, ist viel zu künstlich, vor einen wahrhaftig Betrübten. Es ist eine gesuchte Antithesis, ein verwerffliches Spiel der Gedancken, so sich zum wenigsten in keinen Affect schicket. (zit. aus: Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1730, Expl. Slg. Faber du Faur, Film Nr. 618, S. 120–122, 1.T., IV. Cap. Von den drey Gattungen der Poetischen Nachahmung, und insonderheit von der Fabel; S. 157f., V. Cap. Von dem Wunderbahren in der Poesie; S. 300, XI. Cap. Von der poetischen Schreibart).

J.D. Heidmann (1730/1743) Der Herr Verfasser dieses Zeugnisses der Liebe schreibt an uns. „Er habe diese Arbeit angefangen, da die Leiche seiner seligen Frauen noch bey ihm im Hause gewesen, und in den nächsten 8 Tagen nach ihrer Beerdigung geendiget: sein Lied sey also bey den lebhaftesten Empfindungen eines durch und durch gerührten Herzens verfertiget, und in der Sprache der Natur geschrieben, doch eben diese Stärke der Gemüthsbewegung (so fähret er fort) ist der Aufmerksamkeit auf die Wortfügung sehr hinderlich, und man ist nicht ruhig genug, bey derselben, so lange als nöthig, zu verweilen. Mir ist es wenigstens so gegangen. Daher habe ich mir zuweilen Freyheiten wider die Reinigkeit der Wortfügung, imgleichen wider die Cäsur in den so genannten versibus communibus erlaubet, die ich mir nimmermehr bey einem, mit ruhigerm Gemüthe zu schreibenden Gedichte, gönnen würde“. (zit. aus: Zeugnisse treuer Liebe nach dem Tode Tugendhafter Frauen, Hannover 1743, S. 148f., Fußnote, in welcher der Herausgeber der Sammlung aus einem Brief von Justus Diederich Heidmann über die Entstehung des Trauergedichts auf seine 1730 verstorbene Ehefrau berichtet und zitiert)

J.J. Bodmer (1737) Er [Canitz] legete nichts fremdes in dieselben [seine Gedichte], was nicht zuvor in seinem Sinn und Hertzen gewesen wäre ... Das Hertz kan sich nicht entbrechen, an denen Empfindungen des Verfassers, welche er nach ihren wahren Symptomatibus, wie er sie an sich selbst gefühlet hatte, so getreulich ausgedrücket, Theil zu nehmen; da es menschliche Empfindungen sind, welche wir ebenfalls empfunden haben, werden wir davon aufs neue angestecket. Auf diese Weise finden wir unsere eigene Angelegenheit von ihm vorgestellet; und dieses verbindet uns mit dem Poeten. Kein Wunder, wann tausend andere Gedichte weggeworffen werden, weil sie uns nichts angehen, weil die Meinungen darinn keine Verbindung mit unsern haben, weil sie

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ohne Empfindung geschrieben sind. Die Verfasser derselben reden nicht nach ihrem eigenen Befindniß, ex alieno jecore sapiunt; sie haben ihre Gedancken nur gelehrnet und nicht erkennet. Die Empfindungen, von welchen sie schreiben, sind nicht in ihrer Brust gewesen, sie haben sie in Büchern gefunden, und mit einer ihnen nicht zustehenden Belesenheit verderbet. (zit. aus Bodmers Vorrede „Von den Eigenschaften dieser Gedichte und den Quellen des Vergnügens, womit sie gelesen werden“ zur Ausgabe C der Gedichte von Canitz, Zürich 1737, in: Canitz, Gedichte, hrsg. v. J. Stenzel, 1982, S. 433f.)

J.J. Bodmer (1741) Die natürlichen Empfindungen sind gemeiniglich auf einem ziemlichen Grade vorhanden, und man hätte keine grosse Mühe, sie einfältig auszudrücken, wenn man nicht mit einer unzeitigen Sorge zu gefallen, und Kunst und Gelehrsamkeit zu zeigen, eingenommen wäre, womit aber die pathetische Schreibart häßlich verderbt ... wird ... Ohne Zweifel hat dergleichen Begierde nach einem so elenden Ruhme Schuld an etlichen verdorbenen Ausdrücken, welche sich in das Affectreiche Gedichte von Besser auf den Tod seiner Gemahlin eingeschlichen, und die Leidenschaft, so darinnen herrschet, nur vermindert haben. Wir lesen in der ersten Ausgabe desselben: Zween Leiber waren wir, doch in ein Fleisch gedrungen, Kein Wein-Stock hält so fest den Ulmenbaum umschlungen, Als meine Kühlweinin, o Reben guter Jahr! Mit ihrer süssen Huld in mich verwachsen war. So nachdrücklich hier die enge Vereinigung dieses Pars ausgedrücket ist, so frostig und müssig ist der eingestreute Ausruf, o Reben guter Jahr! Du spaltest meinen Leib, du spaltest auch mein Hertz, Und was mir gantz verbleibt, ist nur der herbe Schmertz. Der traurige Ehmann mag wohl nichts anders in den Gedancken gehabt haben, als daß ihm von seiner Geliebten jetzo nichts mehr übrig bleibe, als sein Trauren um sie. Das war geistreich genug, und doch dem Affecte gemäß: Alleine da der Poet jetzo dieses in einen solchen gezwungenen Gegensatz, der auf harten Metaphern beruhet, verkleidet hat, wird es wider die Natur dieser Leidenschaft spitzfündig. Die Gegensätze müssen aus der Sache hervorfliessen und mit den eigensten Worten vorgetragen werden, wenn sie den Affect vorstellen sollen ... Von einer andern Art ist dasjenige, was Herr Gottsched an diesem Trauergedichte ausgestellt hat; daß der Herr von Besser seine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben das Leichengefolge auf der Gasse gesehen, welches nach der Meinung dieses Kunstrichters das Ungläublichste dabey ist. Gieng er denn irgend, sagt er, nicht mit zu Grabe, oder hatte er auf der Gasse Zeit, sie so sinnreich zu beklagen? Dieser Vorwurff ist ohne Zweifel Ursache, daß in der letztern Herausgabe der Besserischen Schriften hierinnen eine Aenderung vorgenommen worden. Alleine ich hätte den Poeten lieber entschuldiget. Diese Anklage ist in der That zu weit hergeholet, man hätte ihm aus demselben Grunde vorwerffen können, warum er seine Klage in Versen und Reimen verfasset hätte. Schickte es sich vor seinen Affect, auf der Gasse, oder in seinem Zimmer selbst, die Worte in Verse und Reimen zu binden? Denn gesetzt, der Ehmann wäre mit zu Grabe gegangen, war nicht dieses der rechte Umstand, seine Leidenschaft, die ihr Geliebtestes jetzo in Staub und Erde versincken sah, in die höchste Wuth zu setzen? Und

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braucht es eben viel Zeit zu dem verwirrtesten Gefechte der Regungen in einem aufgebrachten Hertzen? Wenn er nun diese Gemüthes-Verfassung nach der Zeit wieder in die Gedancken geholet, und als ein Poet, nicht als ein Geschichtschreiber, mit der Absicht vorgestellet hat, daß er die Phantasie der Lesenden in Entzückung setzete, und diejenige Lust dadurch hervorbrächte, so das Hertz mitten in der Bewegung und dem Streit der Leidenschaften findet; wenn er zu diesem Ende sich der Vorrechte der Poesie bedienet hat, so seh ich nicht, was ihm mit Recht vorzuwerffen sey. Was der erstgedachte Kunstrichter über dieses ausgestellet hat, daß Besser seine gantze Einbildungskraft erschöpfe, seinen Jammer auszudrücken, enthält vielmehr ein Lob in sich; es wäre denn daß sie über die Gräntzen des Glaubwürdigen hinausgeschritten wäre, und die Kunst allzu hoch gespannet hätte; wie in der That einigemahl geschehen ist. Nicht gründlicher ist das Urtheil desselben über eine Stelle in Canizens Ode auf seine Doris, wo es heißt: Alles das hab ich verlohren! Ach wie werd ich traurensvoll! Hat mein Unstern sich verschworen, Daß ich sterbend leben soll? Die letzte Zeile gefällt ihm nicht. „Sterbend leben, sagt er, ist viel zu künstlich, für einen wahrhaftig betrübten. Es ist eine gesuchte Antithesis, ein verwerffliches Spiel der Gedancken, so sich zum wenigsten in keinen Affect schicket.“ Wenn ich etwas in dieser Stelle tadeln sollte, so wäre es, daß ich hier einen ziemlichen Sprung finde, ich sehe in dem vorhergehenden zwar einen grossen Verlust des Poeten, der billig eine tiefe Traurigkeit bey ihm verursachen mußte; aber man hat mich nicht vorbereitet, daß ich sie plötzlich bis zu dem Tod oder doch bis zu dem Leben eines Sterbenden sollte hinansteigen sehen. Sonst ist der Ausdruck sterbend leben ebenso natürlich als die Sache selbst. Sterbende sind noch nicht gestorben, sie leben noch, aber so nahe bey dem Tode, daß ihr Leben gleichsam an denselben gräntzet ... Diese beyden Stücke, Bessers Trauergedichte über die Kühlweinin, und Canizens Ode auf die Doris, werden mit Recht für zwey der Affectreichsten Wercke gehalten. Beyde sind von vornehmen Staatsmännern geschrieben worden, beyde beklagen den Verlust geliebter Gemahlinnen mit so vieler Betrübniß, daß der Leser in einen gleichen Affect geräth. Doch sind sie von ungleicher Art. Die Leidenschaft des Hrn. von Caniz war sehr heftig und ungestüm; Liebe, Furcht, Trost, Schrecken, Ungedult, Sehnsucht und äusserste Empfindlichkeit äussern sich in denen verwirrten Klagen, die sonder Kunst so natürlich fliessen: Die Leidenschaft des Hrn. von Bessers war gesetzter, ohne sonderliche Vermischung und Zusatz; daher ist seine KlagRede auch kunstreicher und voller Gegensätze. Beyde haben nach ihrem Character geschrieben ... [hier folgen nähere Vergleiche der Affektdarstellung bei Canitz und Besser] Zwischen diesen beyden Stücken regiert noch der Unterschied, daß die Leidenschaft in dem Canizischen selber durchaus redet; da hingegen der Verfasser in dem Besserischen das meiste saget, und die Empfindungen seines Gemüthes nicht selber auf die Bühne führt, sondern beschreibt. Ich könnte mich jetzo schwerlich überwinden, nach diesen Affectreichen Stücken das aufgebrachte Hertz mit frostigen und schülerischen Exempeln wieder zu erkälten, wenn es nicht meine redliche Absicht dem guten Geschmack zum besten erfoderte. Also muß ich erstlich dem Hofmannswaldau alle die ungereimten Ausdrücke, die zusammengeketteten Metaphern, und die spielenden Zierrathen verweisen, womit er die pathetische Sprache der Leidenschaft und vornehmlich der Liebe verderbt hat. (zit. aus: Johann Jakob Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter, Zürich 1741, ND Frankfurt a.M. 1971, S. 345–357, 11. Abschnitt. Von dem Ausdruck des Gemüthes mittelst der Figuren der Rede)

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A.P.L. Carstens (1742) Wir haben es ... selbst schon bestimmet, daß wir nur an solche Trauergedichte gedenken, welche nicht untergeschoben, nicht aus fremden Federn geflossen sind. Es gereichet niemals zum großen Ruhme, wenn man bey einem Gedichte nichts weiter, als den Namen hergiebt. Am wenigsten rührend aber wäre es, bey dem Grabe einer geliebten Gemahlinn einen andern für sich weinen zu lassen, oder ihm aufzutragen, er solle unsre Leidenschaft nach seiner eigenen Vorstellung ausdrücken ... Wir reden endlich nur von solchen Dichtern, welche mit Wahrheit ein Zeugniß der Liebe bey dem Absterben ihrer Ehefrauen ablegen können ... Wenn auch gleich die Kunst ihren gehörigen Antheil daran hätte, so würde doch die Natur ihrer Arbeit nicht das Leben geben. Eine jede Verstellung hat etwas todtes an sich. Man entdecket den Betrug gar zu leicht ... Der geschickteste Maler kann mit aller Kunst nichts mehr, als die äußern Schalen der Menschen abreißen ... Wir wissen noch nichts von der Beschaffenheit des Gemüths. Und dessen Schönheit soll doch insonderheit geliebet und bewundert werden. In Schriften kann mehr geschehen ... Kommt die Annehmlichkeit, die Kraft der Dichtkunst hinzu, so wird das Bild der Seele gleichsam noch mehr belebet ... Wer kann aber besser ein Zeugniß von der Beschaffenheit einer tugendhaften Seele ablegen; als der, welcher mit ihr ehelich verbunden gelebet, der die beste Gelegenheit gehabt, sie zu erkennen? ... Leidet es gleich die Größe der Traurigkeit nicht, daß sie [die Verfasser] gleich den Augenblick, nachdem ihre werthen Freundinnen erkaltet, zu Dichten anfangen; so haben wir doch billig eine desto vortheilhaftere Meynung von der Arbeit, welche erst einige Zeit nachher verfertiget worden. Die meisten Stücke, welche wir liefern, sind mehrere Tage nach dem Abschiede der besungenen Personen ausgearbeitet. Man sehe des Herrn Gottscheds critische Dichtkunst Blatt 139. Alsdann ist die erste Heftigkeit der Leidenschaften überstanden. Aber es ist noch so viel davon übrig, als erfordert wird, beweglich und stark zu singen. Die Ausübung der Dichtkunst erfordert eine nicht gemeine Gemüthsbewegung. Man muß selbst gerühret seyn, wenn sich Kraft und Leben in unsern Liedern äußern soll. Ein Dichter, der eine liebenswürdige verlohrne Ehefrau besingen will, ist in diesen Umständen. Sein ganzes Herz reget sich. Alle Kräfte seines Geistes werden angestrenget. Wir thun nicht Unrecht, wenn wir das, was alsdann verfertiget wird, mit unter die besten Arbeiten eines Dichters rechnen ... Man kann ferner die menschliche Seele daraus genauer kennen lernen ... Sie drücken alle ihren Affect aus. Man trifft bey ihnen etwas gleiches, und doch bey einem jeden etwas besonderes an ... Einige Stücke aber sind mit Fleiß übergangen ... weil wir gesehen, daß sie von denen nicht wirklich herrühren, welche ihren Namen dazu geliehen. Dahin gehöret z.E. die Trauerklage eines vornehmen Witwers über den Tod seiner Gemahlin, in den Hofmannswaldauischen Gedichten, Th.6, Bl.143, welches Lied der Hofrath Benjamin Neukirch in fremdem Namen verfertiget ... Wir wollten aber keine andere als ausnehmende, gewisse und wahrhaftige Zeugnisse der Liebe liefern ... (zit. aus: Zeugnisse treuer Liebe nach dem Tode Tugendhafter Frauen in gebundener deutscher Rede abgestattet von Ihren Ehemännern, Hannover 1743, Expl. StuUB Göttingen, Bl.a7v–c5v, Vorrede des Herausgebers Anton Paul Lud. Carstens, dat. Sept. 1742)

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

J.W.L. Gleim (1745) Die Witwer, an die Frau von S. Ach, seht doch die Männer! Sie schwimmen in Tränen. Seht, Canitz geht, seufzend, Durch Blumbergs Gefilde! Er hört nicht die Lerche, Er sieht nicht die Blumen, Er fühlt nicht die Weste, Er wünscht sich zu sterben. Seht, Haller, der Weise Kan klagen und weinen! Wie ringt er die Hände, Am Ufer der Leine! Seht Bessern in Tränen! Was weinen die Männer? Sie seufzen, sie weinen, Um würdige Damen, Um trefliche Schönen. Ach lebt doch nur ewig, Ihr trefliche Schönen! Ach laßt euch, ihr Damen, Vom Tode nicht holen; Sonst weinen die Männer. (zit. aus: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder, hrsg. v. Alfred Anger, Tübingen 1964, Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF Bd. 13, S. 95, Versuch in Scherzhaften Liedern, 2.T., Berlin 1745).

Chr. G. Krause (1752) Heute zu Tage haben wir hauptsächlich viererley Gattungen der Oden. Es giebt Loblieder auf die Gottheit ... auf die Helden ... Hernach giebt es moralische, oder philosophische Oden ... Ferner haben wir eine Art Lieder, die man in besonderm Verstand affectreiche Oden nennen kann. Dergleichen sind alle Lieder über verliebte Materien, die Oden des Herrn von Caniz und Herr Hallers auf ihre Gemahlinnen, u.s.f. Endlich kommen die Oden, die bloß zum Scherz, zu Beförderung der Frölichkeit und des Vergnügens gemacht werden ... Betrachtet man nun diese vier Gattungen der Oden nach ihrem Stof und Inhalt, so ist die dritte derselben in der musikalischen Poesie am gewöhnlichsten ... (zit. aus: [Christian Gottfried Krause], Von der Musikalischen Poesie, Berlin 1752, Expl. StB München, S. 63f., 3. Hauptstück. Von den Gedanken musikalischer Gedichte überhaupt)

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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J. Chr. Gottsched (1756) Ein Epicedion ist ein Leichengedicht, auf den Tod eines berühmten Mannes, Freundes oder Blutsverwandten ... So besang Besser seine Kühlweininn, Canitz einen Grafen von Dohna ... und seine Doris, Pietsch des Grafen Truchses von Waldburg Tod; und meine Oden auf den König August, und den Prinzen Eugen sind von eben der Art. Man hat auch eine ganze Sammlung von Gedichten, welche die Poeten auf ihrer Gattinnen und Geliebten Tod gemachet. (zit. aus: Johann Christoph Gottsched, Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst, Zum Gebrauche der Schulen entworfen, Leipzig 1756, Expl. Slg. Faber du Faur, Film Nr. 627, S. 158, IX. Hauptstück. Von dem Unterschiede der Gedichte in Ansehung des Inhalts, § 8)

J.A. Schlegel (1759) Oder sollte etwan der Nachahmer der Psalmen in den Empfindungen, die er ausdrückt, demjenigen Dichter ähnlich seyn, welcher die Empfindungen eines Helden vorgiebt, itzt als Brutus, itzt als Cato, itzt als Cäsar redet? Sollte er dem Schauspieler ähnlich seyn, welcher durch Hülfe seiner Kunst sich in Feuer setzt, und diese Empfindungen an sich nimmt, bloß um sie glücklicher ausdrücken zu können, nicht um sie ernstlich, als seine eigne, fühlen zu wollen; welcher diese Empfindungen in den Zuschauern erregt, daß sie ihre Herzen auf einige Zeit zu ihrer Ergetzung täuschen, nicht daß sie darinnen haften sollen? Dann wird er zwar noch immer ein Dichter seyn; aber ein Dichter, der seinem Herzen desto weniger Ehre macht, ie mehr er von der Seite des poetischen Ruhmes gewinnt ... Sollte die Ehre des Gedichts und die Ehre des Dichters sich nicht vereinigen lassen? Wer sieht nicht hieraus, daß diejenigen Oden, welche aus der Religion ihre Materie schöpfen, von dem Gesetze der Nachahmung ausgenommen sind? Und sie sind nicht etwan die einzigen. Wollte man wohl den Thränen, welche Haller über den Gräbern seiner Mariane und seiner Elise geweinet, den Namen der Oden streitig machen, weil sie aus dem Herzen geflossen sind? Sie sind es nicht minder, ja sie könnens noch mehr seyn, als die Klagen, mit welchen der Zorn oder der Tod einer erdichteten Phyllis beseufzet wird. (zit. aus: Charles Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen, 2 Leipzig 1759, Expl. StB Berlin, S. 197, T.3/1, 10. Cap. Von der lyrischen Poesie, Anm. des Übersetzers Johann Adolf Schlegel gegen den umfassenden Geltungsanspruch des Nachahmungsbegriffs von Batteux)

J. Chr. Gottsched (1760) Sieht man auf die Beyspiele der Alten, so haben sowohl die Griechen als Römer Gelegenheitsgedichte gemachet ... Alle heutige europäische Völker sind seit 300 Jahren in eben dem Geschmacke gewesen; und sind es noch. Was sollte denn immer mehr die Deutschen bewegen, dergleichen kleine Stücke nicht zu machen? Opitz und Flemming, Tscherning und Neukirch,

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Besser und Canitz haben eben das gethan; und zwar mit dem besten Erfolge. Und sind in den Hofmannswaldauischen Gedichten viel schlechte Stücke dieser Art mit untergelaufen: so hindert das nicht, daß nicht ein guter Poet, auch was bessers bey solchen Gelegenheiten sagen könnte. (zit. aus: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Zum Gebrauche der Liebhaber derselben hrsg. v. Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1760, ND Hildesheim, New York 1970, Sp. 751: Gelegenheitsgedichte)

A. von Haller (1765) In den Satyren nähert sich Horaz in etwas der ungebundenen Rede, und mit derselben dem leichten, einfachen und fliessenden Vortrage des Hrn. v. Canitz, bey dem die Liebe zur Tugend, und die Gottesfurcht noch immer ein unschätzbarer Vorzug ist: da hingegen an vielen Stellen die allzufliessende Schreibart fast unter der poetischen Wärme bleibt: obwol an andern allerdings seine Muse sich erhebt. Wir haben das „Doris kanst du mich betrüben“ [v.17] niemals poetisch noch rührend finden können. Da hingegen gleich darauf „Was für Wellen und für Flammen“ [v.25] von einer besondern Schönheit ist. (zit. aus: Albrecht von Hallers Rezension der Canitz-Ausgabe von 1764 in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“, 38. Stück, 30. März 1765, S. 312, wiedergegeben im Anhang von: Canitz, Gedichte, hrsg. v. J. Stenzel, 1982, S. 440)

J.G. Herder (1767) Eine Ode, die würklich Empfindungen singt und in mir erregen will, muß sich in das Labyrinth der Mythologie gar nicht, oder nur selten verlieren. In einem Empfindungsvollen Klopstockischen Gedicht, oder in Hallers Ode auf die Mariane würde es ohne Zweifel fremde und gesucht seyn, Bilder, die bei uns nicht so nahe an den Kammern des Herzens liegen, zu brauchen, um an das Herz des andern zu klopfen. Aber eine Ode, wenn ich sie als eine Poetische Ausbildung eines lebhaften Gedanken ansehe, die die Einbildungskraft des andern bis zur sinnlichen Anschauung erregen, und bis zur Illusion beschäftigen soll: so erlaubt sie die Mythologie als eine Quelle sehr lebhafter Bilder anzusehen, aus der ich welche herausheben kann, um meinen Gedanken gleichsam in sie zu kleiden, daß er sinnlich anschauend erscheine, die Aufmerksamkeit bis zur Täuscherei beschäftige, und durch die Illusion reize. (zit. aus: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, ND Hildesheim 1994, S. 436, Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767)

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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Chr. H. Schmid (1767) Haller. Ein so empfindliches Unglück, als das Absterben seiner Mariane und Elise warf ihn in die tiefste Traurigkeit. Die öden Ufer der Leine waren eine Wüste; wo nichts als Jammer, als Angst und blasse Schrecken ihn erinnerten, daß er lebte ... Alle Abende strömeten ganze Monate lang Thränen ihm aus den Augen, und diese Stunde war die angenehmste seiner Tage. Aber in der einsamen Dunkelheit der Nacht, die oft der Traurige sucht ... rührte der Dichter sein klagendes Saitenspiel. Die Gedichte auf das Absterben seiner Gemahlinnen drücken Schönheiten aus, die das andächtige Gemüth Menschenliebender Leser in Entzükkung an die Gräber führen. (zit. aus: Christian Heinrich Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen, T.1, Leipzig 1767, Expl. StuUB Göttingen, S. 299f., Von der Elegie, II. Litteratur; Haller darin als erster deutscher Musterautor behandelt vor Klopstock, Kästner und Anna Louisa Karsch).

J.G. Herder (1769) Nun ersticke man aber dasselbe [das Familiengefühl, das „die besten Dichtungen ... aller Völker durchströmt“]: man gehe über die natürlichen Bedürfnisse der unverdorbnen Menschlichen Seele und der einfachern Lebensart hinaus: man mache die Ehe zu einem Wirthschaftsvergleich, zu einem Stande der Mode, die Eheleute zu nichts als einander lästigen oder Zeitkürzenden Personen ... freilich so wird eine Nerve des Gefühls getödtet: es erlischt der Ehrenname: „Achilles war ein Sohn Peleus“ allmählich: die Sehnsucht des Ulysses zu seiner alten Penelope, und seinem steinigten Ithaka dünkt uns abentheuerlich: der Gefühlvolle Stolz der Morgenländer auf ihre Geschlechtswürde wird lächerlich in unsern Augen, und die Klagen eines Hallers, Klopstocks, Canitz, Oeders, dünken vielen artigen Ehemännern so Poetisch, als eine Anruffung an die Muse. (zit. aus: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 3, Berlin 1878, ND Hildesheim 1994, S. 32f., Kritische Wälder, 1769. Erstes Wäldchen, 4. Eine philosophische Geschichte der Elegischen Dichtkunst über Völker und Zeiten)

J.G. Lindner (1772) Es giebt auch überhaupt in andern Gedichten elegische Stellen. Todtenklagen gehören hieher, wie der Alten Gebrauch der Klageweiber. Bey den Römern sind eigentliche Elegienschreiber Tibull, Properz, Ovid ... Bey den Deutschen Canitz, Haller, Oeder auf ihre Gemahlinnen, v. Kreutz Gräber zum Theil, Klopstocks Rothschilds Gräber, Gleims Klagen, die Klopstockin, Karschin ... (zit. aus: [Johann Gotthelf Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2, Königsberg, Leipzig 1772, Expl. StuUB Göttingen, S. 379, § 13. Von der Elegie)

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

J.F. Marmontel (1777) La poésie allemande a cependant eu ses succès dans le genre de l’ode. Celle du célebre Haller sur la mort de sa femme, a le mérite rare d’exprimer un sentiment réel & profond, émané du coeur du poëte. (zit. aus: Jean François Marmontel, Poésie, S. 436, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Supplément, T.IV, Amsterdam 1777, Expl. UB Mainz, S. 426– 440)

F. Schiller (1795) Unter Deutschlands Dichtern in dieser Gattung [der elegischen] will ich hier nur Hallers, Kleists und Klopstocks erwähnen. Der Charakter ihrer Dichtung ist sentimentalisch; durch Ideen rühren sie uns, nicht durch sinnliche Wahrheit, nicht sowohl weil sie selbst Natur sind, als weil sie uns für Natur zu begeistern wissen ... Nur ihr eigentlicher und herrschender Charakter ist es nicht, mit ruhigem, einfältigem und leichtem Sinn zu empfangen und das Empfangene eben so wieder darzustellen. Unwillkührlich drängt sich die Phantasie der Anschauung, die Denkkraft der Empfindung zuvor ... Wir erhalten auf diese Art nie den Gegenstand, nur was der reflektirende Verstand des Dichters aus dem Gegenstand machte, und selbst dann, wenn der Dichter selbst dieser Gegenstand ist, wenn er uns seine Empfindungen darstellen will, erfahren wir nicht seinen Zustand unmittelbar und aus der ersten Hand, sondern wie sich derselbe in seinem Gemüth reflektiert, was er als Zuschauer seiner selbst darüber gedacht hat. Wenn Haller den Tod seiner Gattin betrauert (man kennt das schöne Lied) und folgendermaßen anfängt: Soll ich von deinem Tode singen O Mariane welch ein Lied! Wenn Seufzer mit den Worten ringen Und ein Begriff den andern flieht u.s.f. so finden wir diese Beschreibung genau wahr, aber wir fühlen auch, daß uns der Dichter nicht eigentlich seine Empfindungen, sondern seine Gedanken darüber mittheilt. Er rührt uns deswegen auch weit schwächer, weil er selbst schon sehr viel erkältet seyn mußte, um ein Zuschauer seiner Rührung zu seyn. (zit. aus: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hrsg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 452f. Ueber naive und sentimentalische Dichtung, zuerst in: Die Horen, 4. Bd., 12. St., 1795)

A.W. Schlegel (1809) Das lyrische Gedicht ist der musikalische Ausdruck von Gemütsbewegungen durch die Sprache. Das Wesen der musikalischen Stimmung besteht darin, daß wir irgendeine Regung, sei sie nun an sich erfreulich oder schmerzlich, mit Wohlgefallen festzuhalten, ja innerlich zu verewigen suchen. Die Empfindung muß also schon in dem Grade gemildert sein, daß sie uns nicht durch Streben nach der Lust oder Flucht vor dem Schmerz über sich selbst hinausreiße, sondern daß wir, unbekümmert um den Wechsel, welchen die Zeit herbeiführt, in einem einzelnen Augenblick unsers Daseins einheimisch werden wollen.

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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(zit. aus: August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. v. Edgar Lohner, Bd. 5, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil, 1809, Stuttgart u. a. 1966, S. 40)

Die Epicedien von Besser, Canitz und Haller, von denen die ersten beiden noch aus dem späten 17.  Jahrhundert stammen, besitzen in der literarischen Diskussion des 18. Jahrhunderts, wie die hier zusammengestellten Texte zeigen, über viele Jahrzehnte hin eine bemerkenswerte Präsenz.²¹ Daß dabei zuerst Besser und Canitz immer wieder und zumeist zusammen genannt werden, dann Canitz und Haller und schließlich nur noch Haller allein,²² ergibt sich natürlich zum einen aus dem unterschiedlichen Alter der drei Autoren und der unterschiedlichen Entstehungszeit der Gedichte (die freilich 1743 alle in die Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ Eingang gefunden haben), zum anderen aber und vor allem aus den Wandlungen von Literatur und Literaturverständnis in diesen Jahrzehnten und aus den damit zusammenhängenden Wandlungen des Interesses, das diese Gedichte immer erneut – aber eben doch ihren Unterschieden gemäß in sich ändernder Perspektive – finden und das ihnen vielfach die Rolle geradezu ausschließlicher Muster für bestimmte Erwartungen von den Möglichkeiten und Leistungen lyrischer Poesie ²³ – und dies wiederholt auch in polemischer Abgrenzung gegen hoch- und spätbarocke Erscheinungen wie Hoffmannswaldau und die mit seinem Namen verbundene vielbändige Sammlung²⁴ – zuwachsen läßt.

21 Ein sehr frühes Zeugnis der Rezeption von Bessers erstmals 1711 gedrucktem Gedicht, das dabei bereits als bekannt vorausgesetzt wird, findet sich bei Johann Christian Günther, bei welchem in einem Epicedium aus dem Jahre 1716 (Sämtliche Werke, hrsg. v. Wilhelm Krämer, Bd. 3, Leipzig 1934, ND Darmstadt 1964, S. 25–29: Trostschreiben an einen sehr guten Freund wegen Absterben seiner geliebten Margaris in Leipzig) zu lesen ist (v.33–36): Dein zärtlicher Verdruß, dein traurendes Beginnen Kommt mir, ich weis nicht wie, in den Gedancken vor; Du übernimmest dich mit so verrückten Sinnen Als Beßer, da sein Herz den halben Theil verlor. Um die Mitte des 18.  Jahrhunderts sind die drei Gedichte von Besser, Canitz und Haller so bekannt, daß Gleim mit Reminiszenzen daraus ein ganzes seiner „Scherzhaften Lieder“ (1745) füllen kann (s. die Wiedergabe in der Quellensammlung). 22 In den hier zusammengestellten Texten wird Besser zuletzt 1760 (bei Gottsched) genannt, Canitz 1772 (bei Lindner), Haller noch 1795 (bei Schiller). 23 Vgl. dazu als frühe Belege die beiden oben wiedergegebenen Stellen aus der anonymen „Anleitung zur Poesie“ von 1725, sowie Juncker (1727) zu Besser und Canitz, aus späterer Zeit Krause (1752) zu Canitz und Haller und Marmontel (1777) zu Haller. 24 Vgl. hierzu die Texte von Gottsched (1730), Bodmer (1741), Gottsched (1760).

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Der erste der Texte, der von dem damals nur wenig mehr als zwanzig Jahre alten Bodmer stammt, bezeugt eindringlich, welche starke Wirkung die Gedichte von Besser und Canitz auf zeitgenössische Leser haben konnten. Daß diese Wirkung auf einer Gestaltung des Epicediums beruht, die den affektreichsten Teil, die lamentatio, am intensivsten ausformt und durch die Ausstrahlungen dieses Teils nachhaltig prägt, wird schon daran deutlich, daß Bodmer diese Texte zusammen „Klag-Gedichte“ nennt und als solche die „passioniertste Stücke  / welche wir in der Deutschen Poesie haben“. Wenn er deren Wirkungsweise näher beschreibt mit Wendungen wie „Sie [die beiden Dichter] zwingen uns die Affecte anzunehmen / welche sie wollen / wir lachen / wir werden stoltz / wir förchten uns / wir erschrecken / wir betrüben uns / wir weinen wann es ihnen gefällt“ und im letzten Teil des Textes den poetischen Enthusiasmus erläutert als „die gute Imagination / durch welche er [der Poet] sich selbst ermuntern / und sich eine Sache wieder vorstellen / oder einen Affect annehmen kan  / welchen er will“, dann hat seine Erklärung der Produktion und Rezeption solcher Gedichte zum Fundament noch die lang tradierten, bis weit ins 18. Jahrhundert gegenwärtig bleibenden und unter anderem die vorausgegangene Barockliteratur tragenden Anleitungen der Rhetorik und ihr Affektverständnis. Doch um die so stark und offenkundig als neuartig empfundene Affekterfülltheit jener „Klag-Gedichte“ hinreichend zu begreifen, bieten sich ihm mit dem „Hertzen“, in welchem der Leser „einen Theil der Grösse des Affectes / welcher sie beyde [Besser und Canitz] erhitzet hat“, empfindet, – mit der Feststellung „Diese vornehme Poeten ... lassen das Hertze reden“, – mit dem Hinweis, die von ihnen rege gemachten „traurigen Affecte“ seien „von einem gewissen Ergetzen begleitet / das damit vermenget ist“, – mit der Besser zugeschriebenen reichsten „Imagination“, die unter Vergleichung von Opitz und Hunold-Menantes das Thema des ersten Teils des XIX. Diskurses ist, oder mit der Beobachtung, bei Canitz seien die „Expressionen ... eben so natürlich“ wie bei Besser, – damit bieten sich ihm zugleich Begriffe und Vorstellungen an, wie sie sich nach und nach vor allem im Rahmen der sich entfaltenden frühaufklärerischen Lehre von den verschiedenen Seelenvermögen ausbilden und zunehmend geläufig werden. Das Betroffensein von einer sich verändernden und verstärkenden Affektsprache läßt einen kritischen Text entstehen, in welchem sich Wandlungen des poetischen Verfahrens und seiner theoretischen Beschreibung spiegeln, die sich vorerst eher unauffällig vollziehen, doch nach und nach sich von der alten Prägung durch die produktiven Möglichkeiten der Rhetorik entfernen und diese schließlich ganz aufgeben werden.

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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Auch Gottsched hat an den Gedichten von Besser und Canitz,²⁵ die er wie Bodmer als „Klag-Gedichte“ aufnahm,²⁶ offenkundig – weniger stark freilich davon überwältigt als knapp ein Jahrzehnt zuvor der junge Bodmer – eine neuartige Affektdarstellung wahrgenommen²⁷ und – wenn auch nicht ohne gelegentliche kritische

25 Die Gedichte von Besser und Canitz werden wiederholt in den vier Auflagen von Gottscheds „Versuch einer Critischen Dichtkunst“ (1730, 1737, 1742, 1751) behandelt, Hallers Trauergedicht hingegen, entstanden 1736 und in einem Einzeldruck wohl noch im selben Jahr publiziert, konnte in der fast gleichzeitigen 2. Auflage von Gottscheds Poetik schwerlich noch Beachtung finden. Es wurde jedoch zwei Jahre nach seiner Entstehung in die von Gottsched mit einer Vorrede „über die Frage: Ob man auch in ungebundener Rede Oden machen könne“ eingeleitete Sammlung „Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Oden und Cantaten“ (Leipzig 1738; Expl. UB Marburg) aufgenommen (S. 348–352, 3. Buch, XVII. Ode), worin als XXIX. Ode auch Hallers zweites Gedicht vom Februar 1737 auf den Tod seiner ersten Ehefrau erschien (S. 394–396). Auch gab es in diesen Jahren einige direkte oder indirekte Korrespondenzkontakte zwischen beiden, an denen auch Bodmer beteiligt war (s. jetzt die einschlägigen Stellen in den Bänden 3–5 der von Detlef Döring und Manfred Rudersdorf betreuten Ausgabe von Gottscheds Briefwechsel, Berlin, New York 2009–2011), auch wurde Haller 1737 in die Deutsche Gesellschaft in Leipzig aufgenommen. Doch als 1742 die 3. Auflage von Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ erschien, da war bereits der jahrelange literarische Streit zwischen Zürich und Leipzig in Gang, der sich auch auf Hallers Gedichte bezog. So sah sich Gottsched nicht mehr veranlaßt, in seiner Poetik auch von Hallers Trauergedicht Notiz zu nehmen, dessen „Versuch Schweizerischer Gedichte“ (1. Auflage) er 1732 noch einer Rezension gewürdigt hatte (s. Hallers Dankbrief vom 15.1.1735 in Bd. 3 des GottschedBriefwechsels und die ergänzenden Nachweise in den zugehörigen Fußnoten). 26 S. dazu auch die Erwähnung von Bessers Gedicht an anderer Stelle der „Critischen Dichtkunst“ (erst in der 4. Auflage, S. 538): „... das Verhängniß getreuer Liebe, womit er seine Kalliste beehret hat; wiewohl in dem letzten die Traurigkeit durchgehends herrschet“. – Auch wenn für die Wiedergabe des aus der Antike stammenden und durch die humanistische Poetik überlieferten Wortes „Epicedium“, das Gottsched in Lehr- und Handbüchern benutzt (Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst, 1756, S. 158, zit. in der hier vorausgehenden Quellensammlung; Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 1760, Sp. 617), eine vielfältige, aus der Bezeichnung des Teile des Epicediums abgeleitete deutsche Terminologie zu beliebiger Verwendung bereit lag, wie sie gut in der Fülle entsprechender Gedichte von Simon Dach zu beobachten ist (s. Dach, Gedichte, hrsg. v. Walther Ziesemer, Bd. 3–4, Halle 1937–1938, u. a.: Trost-Schrift, Trost-Liedchen, Klag-Schrift, Begräbnis-Reime, Klag- und Trost-Reimchen, Klag-Gedicht, Grab-Gedicht, Ehren-Gedächtnis, Christliches Denkmal, Trauer-Reime), erscheint doch die – mit der Überschrift des Gedichts von Canitz sich berührende – Wortwahl bei Gottsched wie bei Bodmer als symptomatisch für die Rezeption der Epicedien von Besser und Canitz. 27 S. dazu einzelne weitere Erwähnungen der Trauergedichte von Besser und Canitz an diesen Stellen der „Critischen Dichtkunst“ (11730; Expl. Slg. Faber du Faur, Film Nr. 618): zu Besser: S. 267 (1.T., 10. Cap. Von den Figuren in der Poesie), S. 334 (2.T., 1. Cap. Von Oden, oder Liedern) – zu Canitz: S. 261, 275 (1.T., 10. Cap. Von den Figuren in der Poesie), S. 331, 334 (2.T., 1. Cap. Von Oden, oder Liedern).

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Bemerkungen²⁸ – zum Gegenstand prinzipieller Reflexionen gemacht. Das gilt vor allem von der ersten der oben ausgehobenen Passagen. In diesen wenigen Sätzen, die in dem für Gottscheds Dichtungsauffassung grundlegenden Kapitel von den poetischen Nachahmungen stehen, verknüpfen sich mehrere zentrale Aspekte der zeitgenössischen Poetik. Gottsched hat schon geraume Zeit vor dem Erscheinen der dann für einige Zeit in der literarischen Diskussion in Deutschland so einflußreichen Schrift „Les Beaux Arts réduits à un même Principe“ (1746) von Charles Batteux und ihren bald folgenden deutschen Übersetzungen (seit 1751),²⁹ zu denen Gottsched einen „Auszug“ (1754) beigesteuert hat,³⁰ seine Poetik – die allem Spott der nächsten Generation und vieler folgender zum Trotz eine bedeutende Leistung gewesen ist – ausdrücklich auf das Fundament der Nachahmung der Natur gestellt, wie schon das Titelblatt der 1. Auflage von 1730 ankündigt: „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe“. Er steht damit in der Tradition der Aristoteles-Rezeption in der humanistischen Poetik der Frühen Neuzeit und der dabei sich aufdrängenden Frage nach der Geltung der aristotelischen Mimesis für die poesis lyrica.³¹ Nachahmung der Natur ist danach für die poesis lyrica, da sie hier nicht in der Darstellung von Figuren oder Handlungen bestehen kann, Darstellung von Affekten, die mit Mitteln und nach Regeln geschieht, die noch immer die Rhetorik zur Verfügung stellt.

28 Kritisch zu Canitz z. B. in der 1. Auflage der „Critischen Dichtkunst“ S. 121, 300 (beide Stellen zit. oben in der Quellensammlung) – zu Besser u. a. S. 121, 158 (beide Stellen zit. oben in der Quellensammlung), 320 (1.T., 12. Cap. Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart, dem verschiedenen Sylbenmaaße und den Reimen). – Die Gesamtheit der positiven oder kritischen Erwähnungen von Besser und Canitz und der Zitate aus ihren Gedichten in Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ (vgl. dazu das Register von Hans Otto Horch, Darmstadt 1978, zum ND der 4. Auflage von 1751) läßt erkennen, daß Gottsched Besser, wiewohl er ihn im Kapitel „Von heroischen Lob-Gedichten“ (so erst in der 4. Auflage, S. 537) als den ersten der großen Dichter des frühen 18. Jahrhunderts ansieht, distanzierter gegenüberstand als dem Werk von Canitz, offenkundig aufgrund von Unterschieden zwischen beiden Dichtern, die sich auch an ihren Trauergedichten ablesen lassen und eine Entsprechung in der unterschiedlichen Dauer der Wirkungsgeschichte dieser Gedichte im 18. Jahrhundert finden. 29 Nähere bibliographische Angaben dazu in den Anm. 29 und 58 zur Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. 30 S. Anm. 62 zur Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 31 S.  dazu die Belege in Anm.  16 der Abhandlung „Principes Lyricorum“ und die dort in Anm. 17 gegebenen Hinweise auf einschlägige Partien in anderen Studien dieses Bandes.

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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Das gilt noch sehr deutlich von den Sätzen, die in Gottscheds Text denen über Besser und Canitz vorausgehen. In ihnen ist das Horazische „si vis me flere ...“ (ars poetica, v.102f.) noch im Sinne eines Kunstgriffs wirksam, der bald darauf durch eine Auslegung verdrängt werden wird, wonach es für die Wirkung eines poetischen Textes auf den tatsächlich vorhandenen und nicht erst künstlich erzeugten Affekt des Poeten ankommt,³² und in engster Verbindung mit der

32 Vgl. dazu entsprechende Bemerkungen in dem Auszug aus Bodmer (1737) oder in Bodmers „Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter“ (1741): „Das andere Kunstmittel der pathetischen Schreibart ... gehört vornehmlich für aufgewecktere Köpfe; und dieses bestehet darinnen, daß man niemahls schreibe, als wenn man einen Affect empfindet, und wenn man nichts mehr empfindet, die Feder niederlege ... denn man wird mit frostigem Hertzen niemand in einen Affect jagen“ (S.  340; Der eilfte Abschnitt. Von dem Ausdruck des Gemüthes mittelst der Figuren der Rede). Ausdrücklich gegen die hier in Frage stehende Gottsched-Stelle polemisiert – unter Berufung auf die Horaz-Stelle – Georg Friedrich Meier in seiner „Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst“ (Halle 1747, Expl. StB München): „Der Herr Professor sagt ... man macht z.E. ein verliebtes, trauriges, lustiges Gedichte im Namen eines andern; ob man gleich selbst weder verliebt, noch traurig, noch lustig ist. Dieses ist ohne Zweifel unmöglich. Wer eine Leidenschaft nicht selbst empfindet, der kan sie nicht nachahmen, und ein Dichter, der mitten im Dichten nicht erhitzt ist, der denckt ohnfehlbar frostig und matt. Ohne dieses hier weitläuftig zu beweisen, so soll Horatz mein Gewährsmann seyn. Dieser sagt: Si vis me flere, dolendum est Primum ipsi tibi“ (S. 98). – Wie selbstverständlich hingegen Autoren des 17. Jahrhunderts die noch von Gottsched vertretene Meinung war, mögen wenigstens zwei Belege zeigen: „Alle GemühtsBewegungen muß der Poet erst durch starke Einbildungen empfinden / wann er selbe Naturgemäß beschreiben / und anderer Sinne beybringen wil“ (Georg Philipp Harsdörffer, Gesprächspiele, 5.T., Nürnberg 1645, ND Tübingen 1969, S. 30) – „Wann ich vordessen dergleichen poëtisirte, bildete ich mir ein, ich wäre dieselbe Person, in deren Namen ich redte, und so kame es recht: ist ein arcanum, das mir auch in Schauspielen gedienet“ (Sigmund von Birken an Joh. Gabriel Majer, 6.2.1670, im Zusammenhang mit einem von ihm geforderten Gelegenheitsgedicht; mitgeteilt in: Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Findlinge. Zur Geschichte deutscher Sprache und Dichtung, Bd. 1, Leipzig 1860, ND Amsterdam 1968, S. 164). In abgeschwächter Form wirkt diese Vorstellung aber z. B. noch 1759 bei Moses Mendelssohn nach, wenn er in den „Briefen die Neueste Litteratur betreffend“ (60. Brief, 11.10.1759) schreibt: „Gesetzt ein Dichter hat Empfindungen auszudrücken, die ihm fremde sind, die er niemals gefühlt hat, wenn es ihm nur nicht an Genie mangelt; so wird er wenigstens denken, statt zu empfinden. Seine Empfindungen werden das entzündete Feuer der Begeisterung nicht haben, die bey dem Leser ein sympathisches Gefühl erregen; er wird aber doch allezeit Gedanken hervorbringen, die gelesen zu werden, verdienen“ (Gesammelte Schriften, Bd. 5,1, hrsg. v. Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S.  89). – Zum sich wandelnden Verständnis des Horazischen „si vis me flere ...“ im 17. und 18. Jahrhundert vgl. im übrigen: Jürgen Stenzel, „Si vis me flere ...“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts, in: DVjs 48, 1974, S. 650–671.

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

älteren Auslegung der Horaz-Stelle ist es auch für Gottsched noch wie für die ganze ältere Kasualdichtung ganz unproblematisch, daß man „ein verliebtes, trauriges, lustiges Gedichte im Nahmen eines andern“ mache, „ob man gleich selbst weder verliebt noch traurig, noch lustig ist“, – auch dies eine Position, die bald kritisch betrachtet und zunehmend abgelehnt werden wird.³³ Da Gottsched, beeindruckt von der aus der Ausgestaltung des Epicediums bei Besser und Canitz erwachsenden Affektsprache, in diesen Gedichten „besondere Muster schön ausgedruckter [d. h. dargestellter] Affecten“, willkommene Beispiele für eine zwar den Regeln der Kunst entsprechende, doch ungekünstelte, ungezwungene „Nachahmung der Natur“ sieht, sucht er sie dafür in Anspruch zu nehmen, „ob sie gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorstellen wollen“. Dieses Spannungsverhältnis, das bald darauf in den Debatten über Batteux eine entscheidende Rolle spielen wird, aber auch schon in der humanistischen

33 Ein Beleg für die lange Zeit selbstverständliche Abfassung von Gelegenheitsgedichten im Namen eines anderen – s. dazu auch Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht, S. 181–185 – ist die in Anm. 32 zitierte Stelle aus einem Brief von S. von Birken. Eine – freilich schon nicht mehr unangefochtene – Rechtfertigung solcher noch geübten Praxis findet sich in einem Brief von Anna Louisa Karsch an Gleim vom 13.3.1767: „... es ist wahr ich mache zuweillen Gelegenheitsgedichtte, Eine sehr erniedrigende Arbeit, wenn man so Stolz wäre als der Verbeßrer der Hagedornischen Lieder [Ramler] ist, der Sie jüngsthin mit dem Anstreichen der Stubenthüren verglich, ich nehme mir die freyheit Ihnen eins von diesen Liedern beyzulegen, ich hab es auff bitte des Arztes gemacht den Ramler durch Einem Gesang zu verEwigen geglaubt hat, und Er sagt mir daß ich alles daß außgedrükt hätte was die junge dreyzenjährige Pflegetochter des Verstorbnen gern sagen wollen, wenn ich die Zufriedenheit derienigen Betrachtte, in deren Nahmen ich Eine solche Arbeit übernehme, so fällt alles Verächtliche davon weg, wir sind ja nicht um unßerer selbst willen, oder um daß bißgen ungewißen Nachruhm zu erhaschen in der Wellt, wir sind da unßern Nebenmenschen nüzlich zu sein, und ich erfülle diese Pflicht So offt ich den Wünschen desjenigen Genüge Thue der mich bittet an Seiner Stat Klagen oder Freudenaußruffungen zu Thun“ („Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, hrsg. v. Regina Nörtemann, Bd. 1, Göttingen 1996, S. 280f.). Wie fragwürdig aber um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Abfassung von Gelegenheitsgedichten in eines andern Namen schon geworden ist, zeigen entsprechende Bemerkungen in dem oben in der Quellensammlung mitgeteilten Auszug aus der – in anderer Hinsicht sich an Gottsched anschließenden – Vorrede des Herausgebers A.P.L. Carstens (1742) zur Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“, wonach darin nur solche Gedichte aufgenommen worden sind, „welche nicht untergeschoben, nicht aus fremden Federn geflossen sind“ (Bl. a7v), da der Herausgeber „keine andere als ausnehmende, gewisse und wahrhaftige Zeugnisse der Liebe liefern“ wollte (Bl. c5v). Oder 1747 fügt G.F. Meier der in Anm. 32 schon zitierten Kritik an Gottsched noch den Vorwurf hinzu: „Ueberdies können in diesen Worten des Herrn Professors alle Miethpoeten eine Schutzschrift finden“.

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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Poetik wahrgenommen wird,³⁴ ist Gottsched bemüht mit der Annahme aufzulösen, das Gefühl bedürfe, ehe der Poet es kunstgemäß nachahmend gestalten könne, der Abkühlung, eines zeitlichen Abstands von seinem Anlaß. Auch wenn jenes Spannungsverhältnis schon bald dadurch aufgehoben wird, daß es geradezu in sein Gegenteil verkehrt wird, indem die verbürgte Authentizität des Gefühls und seine unmittelbare Kundgabe zum neuen Maßstab wahrer Dichtkunst werden, wirkt die Vorstellung von der nötigen Abkühlung doch nach bis zu Schillers Erörterung über Hallers Trauergedicht auf seine Ehefrau Mariane in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ von 1795³⁵ und, gelöst nun ganz von den einst so bekannten Trauergedichten von Besser, Canitz und Haller, noch in einer Beschreibung des lyrischen Gedichts bei August Wilhelm Schlegel (1809).³⁶ Daß aber das von Gottsched im Rahmen der so lange maßgeblichen Nachahmung der Natur wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen der Präsenz eines womöglich allzu frischen Affekts und seiner geforderten nachahmenden, kunstgerechten Darstellung nicht nur einer Marotte Gottscheds entspringt, sondern eine auch anderen Zeitgenossen in diesen Jahren sich anbahnender Veränderungen gegenwärtige Problematik war, zeigt in den „Zeugnissen wahrer Liebe“ nicht nur die Vorrede des Herausgebers Carstens (1742), der die Gottsched’sche Vorstellung von der erforderlichen Abkühlung des Affekts unter ausdrücklicher Berufung auf die „Critische Dichtkunst“ referiert,³⁷ sondern auch sehr anschaulich der von ihm zitierte Bericht von J.D. Heidmann über die Entstehung des in der Sammlung mitgeteilten Trauergedichts auf seine 1730 gestorbene Ehefrau. Der Verfasser erklärt und rechtfertigt darin enthaltene Verstöße gegen Regeln der Kunst mit den „lebhaftesten Empfindungen eines durch und durch gerührten Herzens“, mit der „Sprache der Natur“, der „Stärke der Gemüthsbewegung“, die „der Aufmerksamkeit auf die Wortfügung sehr hinderlich“ sei.³⁸ Daß für Gottsched selbst aber mit der Vorstellung von der nötigen Abkühlung des Affekts als Bedingung seiner nachahmenden Gestaltung jener

34 S. dazu weiter unten zu dem in der Quellensammlung enthaltenen Auszug aus J.A. Schlegels Anmerkungen zu seiner Batteux-Übersetzung (1759). 35 Vgl. bei Schiller auch eine – auf die zeitgenössische Diskussion der Epicedien auf die eigene Ehefrau nicht Bezug nehmende – Stelle in der Bürger-Rezension, an welcher jener Gedanke als kritischer Maßstab gegen Bürger gewendet wird: „... ein Dichter nehme sich ja in Acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen“ (Nationalausgabe, Bd. 22, Vermischte Schriften, hrsg. v. Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 256). 36 S. dazu die entsprechenden Auszüge am Ende der oben gebotenen Quellensammlung. 37 S. den Auszug aus der Vorrede oben in der Quellensammlung. 38 S. das vollständige Zitat oben in der Quellensammlung.

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

Widerspruch gleichwohl nicht ohne Rest gelöst war, zeigen Bemerkungen wie die, man könne auch in den Meisterstücken von Besser und Canitz „noch manchen gar zu gekünstelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entdecken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr würde hervorgebracht oder gelitten haben“, oder in der zweiten oben wiedergegebenen Passage aus der „Critischen Dichtkunst“ das Resümee einer Kritik an der Situation (dem Augenblick des Leichencondukts), in welche Besser den Hauptteil seines Klagegedichts gestellt und die eben noch nicht jene nach Gottscheds Auffassung erforderliche Abkühlung des Affekts glaubhaft machen kann: „Besser hat als ein künstlicher Poet, nicht als ein trostloser Wittwer geweinet“. Auch in solchen Wendungen, die im Kontrast zu Gottscheds sonst ersichtlicher Konzeption die wahre Empfindung zum kritischen Maßstab der doch eigentlich auf die Nachahmung der Natur gegründeten Leistung der Kunst machen, wo diese zu künstlich zu werden droht, – selbst mit Sätzen wie diesen erweisen sich am komplizierten Zusammentreffen verschiedener, zum Teil einander auch widersprechender Aspekte überkommener und zeitgenössischer Poetik in Gottscheds Auseinandersetzung mit den Trauergedichten von Besser und Canitz diese als folgenreicher Ausgangspunkt weitreichender Veränderungen, zeigt sich, wie aus den Ansätzen einer veränderten poetischen Gestaltungsweise und dem Bemühen, sie in bisher gültige Vorstellungen einzufügen, weitere Wandlungen sich ergeben. Die Äußerungen Bodmers in der Vorrede zur Züricher Canitz-Ausgabe von 1737 und in seinen „Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter“ (1741), um mehr als anderthalb Jahrzehnte entfernt von seinem enthusiastisch-bewegten Bekenntnis zu Besser und Canitz in den „Discoursen der Mahlern“ von 1721, sprechen unverkennbar gedämpfter von beiden Dichtern. Das ist nicht nur in der individuellen geistigen Entwicklung des Kritikers begründet, sondern es spiegeln sich darin auch Wandlungen des Dichtungsverständnisses, die seither eingetreten und weiterhin im Gange sind. In der Vorrede von 1737 ist für die auch hier bekundete Schätzung der Gedichte von Canitz nicht mehr die nach rhetorischen Regeln verfahrende Einwirkung auf die Affekte der Maßstab, sondern die Kundgabe dessen, was „zuvor in ... Sinn und Hertzen“ des Poeten gewesen ist, der dafür auf das „si vis me flere ...“ im Sinne eines fremde Affekte vergegenwärtigenden Kunstgriffs nicht angewiesen ist. Wo der Poet seine „Empfindungen ... nach ihren wahren Symptomatibus, wie er sie an sich selbst gefühlet hatte, ... getreulich ausgedrücket“ hat, können entsprechende „menschliche Empfindungen“ auch im Leser geweckt werden.³⁹ Auf der

39 Vgl. als wenige Jahre jüngere Parallele dazu den Anfang des in der Quellensammlung mitgeteilten Auszugs aus der Vorrede des Herausgebers Carstens zu den „Zeugnissen treuer Liebe“.

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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Wahrheit der Empfindung und ihrer Mitteilung auf der Seite des Dichters und der teilnehmenden Mitempfindung auf der Seite des Lesers beruht hier für Bodmer die Leistung des Gedichts. Das steht als Voraussetzung offenkundig auch hinter der Kritik an Besser, zu welcher Bodmer 1741 in seinen „Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde“ Anlaß sieht. Das immer noch als affektreich von Bodmer geschätzte Trauergedicht wird für den Kritiker dort „frostig“ und damit fragwürdig, wo es sich nicht mit dem einfachen Ausdruck der vorhandenen „natürlichen Empfindungen“ zufrieden gibt, sondern einem unnötigen Ehrgeiz nachgibt, „Kunst und Gelehrsamkeit zu zeigen“, die offenkundig anfangen, als hinzutretender Schmuck des Gedichts obsolet zu werden. Das läßt Metaphern – eines der Hauptmittel eines hohen, affektreichen Stils im Barock – als spitzfindig und der „Natur“ der „Leidenschaft“ nicht gemäß erscheinen, deren innere Spannungen „aus der Sache hervorfliessen und mit den eigensten Worten vorgetragen werden“ müssen, „wenn sie den Affect vorstellen sollen“. Zwar verteidigt Bodmer – es sind die Jahre des beginnenden Streites zwischen Zürich und Leipzig – auf den folgenden Seiten die Trauergedichte von Besser und Canitz gegen die Vorwürfe, die Gottsched schon in der 1. Auflage seiner „Critischen Dichtkunst“ (1730) gegen diese erhoben⁴⁰ und bis hin zur 4. Auflage (1751) stets beibehalten hatte. Doch in dem dann folgenden Vergleich, den Bodmer mit den Worten einleitet: „Diese beyden Stücke, Bessers Trauergedichte über die Kühlweinin, und Canizens Ode auf die Doris, werden mit Recht für zwey der Affectreichsten Wercke gehalten“, kommt er zu bemerkenswerten Beobachtungen wie der: „Die Leidenschaft des Hrn. von Caniz war sehr heftig und ungestüm; Liebe, Furcht, Trost, Schrecken, Ungedult, Sehnsucht und äusserste Empfindlichkeit äussern sich in denen verwirrten Klagen, die sonder Kunst so natürlich fliessen“, während er zu Besser festhält: „Die Leidenschaft des Hrn. von Bessers war gesetzter, ohne sonderliche Vermischung und Zusatz; daher ist seine Klag-Rede auch kunstreicher und voller Gegensätze“. Und er endet die Vergleichung mit dem Resümee: „Zwischen diesen beyden Stücken regiert noch der Unterschied, daß die Leidenschaft in dem Canizischen selber durchaus redet; da hingegen der Verfasser in dem Besserischen das meiste saget, und die Empfindungen seines Gemüthes nicht selber auf die Bühne führt, sondern beschreibt“. Die veränderten Erwartungen von der Art, in welcher die Empfindungen des Poeten als solche zur Sprache kommen sollen, ohne eines gesteigerten Kunstaufwands zu bedürfen, sind es, die Bodmer hier die Augen dafür öffnen, daß

40 S. oben in der Quellensammlung die Auszüge aus Gottscheds Kapiteln „Von dem Wunderbahren in der Poesie“ und „Von der poetischen Schreibart“.

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

von den berühmten Trauergedichten der beiden fast gleichaltrigen Autoren das jüngere von Canitz, das übrigens auch Gottsched mehr als das Bessers geschätzt und häufiger zitiert und als Muster erwähnt hat,⁴¹ diesen Erwartungen doch mehr entspricht, wohingegen Bessers Text – wie man an ihm auch im einzelnen zeigen könnte – als der allmählich aus der Mode kommende zu erscheinen beginnt, auch wenn in Bodmers Abhandlung gleich darauf Hoffmannswaldau ungemein viel kritischer abgehandelt wird. Die von Bodmer wahrgenommenen Unterschiede machen es verständlich, daß im Lauf des 18. Jahrhunderts Canitz länger als Besser unter den Musterautoren genannt wird,⁴² nun zum Teil zusammen mit Haller,⁴³ der seinerseits mit kritischen Bemerkungen zum Trauergedicht von Canitz⁴⁴ den fortschreitenden Geschmackswandel bezeugt, welcher ihn, den jüngeren, vorerst noch auf einige Zeit verschont. So kann Hallers Trauergedicht auf seine erste Ehefrau Mariane (zum Teil auch zusammen mit dem auf seine spätere Ehefrau Elise) in der zweiten Jahrhunderthälfte – wie Besser und Canitz in den Jahrzehnten zuvor – als Exemplum in der Diskussion bedeutsamer Aspekte der zeitgenössischen Poetik dienen. Johann Adolf Schlegel, einer der beiden ersten deutschen Übersetzer (1751) der zuerst 1746 erschienenen Schrift „Les Beaux Arts réduits à un même principe“ von Charles Batteux, war einer der Hauptakteure der in Deutschland besonders in den 50er und 60er Jahren des 18.  Jahrhunderts geführten Diskussion um den von Batteux mit umfassendem Geltungsanspruch vertretenen Grundsatz der Nachahmung der Natur als Fundament aller Künste.⁴⁵ Schlegel hat dazu durch die seiner Übersetzung beigegebenen eigenen Abhandlungen und durch umfangreiche Anmerkungen in der 2. Auflage seiner Übersetzung (1759) und deren auf Erwiderungen von Batteux polemisch eingehende Erweiterung in der 3. Auflage von 1770 beigetragen. Zu den Schwerpunkten der im deutschen Sprachraum geführten Debatte und insbesondere der polemischen Beiträge in den Fußnoten Schlegels gehörte die Frage nach der Geltung des Prinzips der Nachahmung der Natur für die lyrische Poesie (was nach dem Stand der Theorie hieß: für die Ode), die Batteux mit Entschiedenheit verfocht. Er wie seine Gegner standen dabei in einer auf die humanistische Poetik des 16. und

41 Vgl. dazu schon die Belege in Anm. 27 und 28 und darüber hinaus das in Anm. 28 erwähnte Register von Horch zum Nachdruck der 4. Auflage der „Critischen Dichtkunst“. 42 S. dazu Anm. 22. 43 S. oben in der Quellensammlung die Auszüge aus Herder (1769) und Lindner (1772). 44 S. oben in der Quellensammlung den Auszug aus Hallers Rezension (1765) der Canitz-Ausgabe von 1764. 45 S. dazu die schon in Anm. 29 und 30 gegebenen Verweisungen auf einschlägige Stellen in anderen Untersuchungen in diesem Band.

Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller 

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17. Jahrhunderts zurückgehenden Traditionslinie.⁴⁶ Denn schon diese hatte sich im Zuge der Rezeption der aristotelischen Poetik vor dieselbe Frage gestellt gesehen, weil die bei Aristoteles gar nicht behandelte poesis lyrica Nachahmung von Handlungen und Figuren wie Epos und Drama jedenfalls nicht leistet. So mochte als nachahmende – und das bedeutete: fingierend darstellende – Leistung der lyrischen Poesie die Darstellung von Affekten verstanden werden. Doch mußte es dann zum Problem werden, ob denn die als göttlich inspirierte Dichtung verstandenen Psalmen, aber auch andere geistliche Dichtung, die man schlechterdings nicht als bloße Nachahmung verstehen konnte, gleichwohl auch dem Prinzip der Mimesis unterstellt sein könnten. Dagegen hat sich schon in der humanistischen Poetik da und dort Widerspruch erhoben, so bei G.J. Vossius, der feststellte: „... si poësis citra figmenta foret nulla; David, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poëtarum numero debeant excludi“.⁴⁷ Um dieselbe Frage geht es auch noch in dem oben in der Quellensammlung mitgeteilten Auszug aus einer langen polemischen Anmerkung Schlegels, in welcher er die Trauergedichte Hallers auf seine erste und auf seine zweite Ehefrau als exempla heranzieht.⁴⁸ Daß Batteux das hergebrachte Problem kannte und die Schwierigkeiten – auch im Hinblick auf die antiken Muster der Ode, Pindar und Horaz – für sein System sah, zeigt der Anfang des Kapitels „Sur la Poësie lyrique“ schon in der 1. Auflage seines Werks: „Quand on examine superficiellement la Poësie ly rique, elle paroît se prêter moins que les autres espèces au principe général qui raméne tout à l’imitation. Quoi! s’écrie-t’on d’abord; les Cantiques des Prophètes, les Pseaumes de David, les Odes de Pindare & d’Horace ne seront point de vrais Poëmes? Ce sont les plus parfaits … Je n’y vois point de tableau, de peinture. Tout y est feu, sentiments, yvresse. Ainsi deux choses sont vrais: la premiere, que les Poësies lyriques sont de vrais Poëmes: la seconde, que ces Poësies n’ont point le caractère de l’Imitation. Voilà l’objection proposée dans toute sa force“.⁴⁹ Der Widerlegung dieser „objection“ ist das gesamte Kapitel gewidmet, das sich dabei mehrfach auf David und die Psalmen als das Hauptexemplum der Einwände zurückzukommen gezwungen sieht. Es gipfelt in Sätzen wie diesen: „... dans le lyrique, qui est livré tout entier au sentiment, il [le Poëte] doit échauffer

46 S. dazu die schon in Anm. 31 notierten Verweisungen auf einschlägige Stellen in anderen Abhandlungen in diesem Band. 47 De Artis Poeticae Natura, ac Constitutione, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln), S. 20. 48 Diese Passage nahezu wörtlich übereinstimmend auch in der 3. Auflage von Schlegels Übersetzung (1770, ND Hildesheim, New York 1976), S. 365. 49 Les Beaux Arts Réduits à un même Principe, Paris 1746 (Expl. StB Berlin), S.  235f. (das ganze Kapitel S. 235–246).

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 Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte

son coeur, & prendre aussitôt la lyre. S’il veut composer un Lyrique élevé, qu’il allume un grand feu. Ce feu sera plus doux, s’il ne veut que des sons modérés. Si les sentimens sont vrais & réels, comme quand David composoit ses Cantiques, c’est un avantage pour le Poëte … Alors l’imitation Poëtique se réduit aux pensées, aux expressions, à l’harmonie, qui doivent être conformes au fonds des choses. Si les sentimens ne sont pas vrais & réels, c’est-à-dire, si le Poëte n’est pas réellement dans la situation qui produit les sentimens dont il a besoin; il doit en exciter en lui, qui soient semblables aux vrais, en feindre qui répondent à la qualité de l’objet. Et quand il sera arrivé au juste dégré de chaleur qui lui convient; qu’il chante: il est inspiré“ (S. 244f.). Gegen den Versuch von Batteux, die Nachahmung der Natur auch als umfassendes Prinzip der lyrischen Dichtung zu rechtfertigen, polemisiert Schlegel in der Folge von – teilweise sehr ausführlichen und den Text von Batteux an Umfang übertreffenden – Fußnoten. Die zweite dieser Fußnoten richtet sich gegen den Anfang der Batteux’schen Verteidigung, worin der Autor die lyrische Poesie in Parallele zur Nachahmung von Leidenschaften in Musik, Oper, Drama stellt, um daraus die Geltung der Nachahmung auch für jene abzuleiten. Wenn in der daraus oben mitgeteilten Passage Schlegel nicht nur David und die Psalmen als Exempla anführt, sondern auch Haller, so schließt er sich zwar an das alte Argument eines Vossius an, geht aber über dess