Raumordnung und Raumordnungspolitik [Reprint 2018 ed.] 9783486787627, 9783486231755

Grundlegendes, interdisziplinäres Kompendium zur Raumordnung.

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German Pages 571 [576] Year 1995

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Raumordnung und Raumordnungspolitik [Reprint 2018 ed.]
 9783486787627, 9783486231755

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Grundlagen
1. Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik
2. Raumwirtschaftslehre
3. Raumwirtschaftsstrukturen
4. Grundlagen des Raumordnungsrechts
5. Finanzwissenschaftliche Grundlagen
6. Soziologie der Planung
7. Ökologische Grundlagen
II. Raumordnungspolitik
8. Wirtschaftsordnung und Raumordnungspolitik
9. Leitlinien der Raumordnungspolitik
10. Infrastrukturpolitik
11. Industrie- und Industriestrukturpolitik
12. Verkehrspolitik
13. Tourismuspolitik
14. Umweltpolitik
15. Agrarpolitik
16. Wohnungswirtschaftspolitik
III. Entwicklungstendenzen
17. Regionalentwicklung in den neuen Bundesländern
18. Entwicklung der Hauptstadt Berlin
19. Bevölkerungsentwicklung in Deutschland
20. Entwicklungsrisiken ländlicher Räume
21. Siedlungsstruktur- und Stadtentwicklung
IV. Anhang
1. Raumordnungsgesetz
2. Organisation der Landes- und Regionalplanung
3. Übersicht über Beratungsergebnisse
4. Raumordnungspolitische Handlungsrahmen
Verzeichnis der Autoren

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Raumordnung und Raumordnungspolitik Herausgegeben von

Prof. Dr. Helmut W. Jenkis unter Mitarbeit von Prof. Dr. Heinz Ahrens, Dr. Reinhold Buttgereit, Prof. Dr. jur. Carl-Heinz David, Prof. Dr. Walter Freyer, Prof. Dr. Bodo B. Gemper, Ulrich Graute M. A., Prof. Dr. Dr. h.c. Gernot Gutmann, Dipl.-Pol. Andreas Heigl, Dr. Ariane Hildebrandt, Dipl.-Volksw. Günter Högemann, Dipl.-Kfm. Mathias Holst, Prof. Dr. Dr. h.c. Reimut Jochimsen, Prof. Dr. Paul Klemmer, Prof. Dr. Michael Krautzberger, Dipl.-Ing. Roger Lienkamp, Christian Lippert, Prof. Dr. Werner Noll, Prof. Dr. Karl Oettle, Dr. Hans Petzold, Prof. Dr. Werner Rietdorf, Michael Rittershofer, Prof. Dr. Klaus M. Schmals. Prof. Dr. Josef Schmid, Dipl.-Ing. Stefan Siedentop, Prof. Dr. Horst Todt, Prof. Dr. Paul Velsinger, Prof. Dr.-Ing. habil. Rainer Winkel

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CLP-Einheitsaufnahme Raumordnung und Raumordnungspolitik / hrsg. von Helmut W. Jenkis. Unter Mitarb. von Heinz Ahrens ... - München ; Wien : Oldenbourg, 1996 ISBN 3-486-23175-8 NE: Jenkis, Helmut W. [Hrsg.]; Ahrens. Heinz

© 1996 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3 - 4 8 6 - 2 3 1 7 5 - 8

Inhaltsverzeichnis Vorwort I.

Grundlagen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Wirtschaftsordnung und Raumordnungspolitik (Gutmann) Leitlinien der Raumordnungspolitik (Krautzberger) Infrastrukturpolitik (Jochimsen/Högemann) Industrie- und Industriestrukturpolitik (Gemper) Verkehrspolitik (Oettle) Tourismuspolitik (Freyer) Umweltpolitik (Graute) Agrarpolitik (Ahrens/Lippert/Rittershofer) Wohnungswirtschaftspolitik (Jenkis)

III. Entwicklungstendenzen 17. 18. 19. 20. 21.

Regionalentwicklung in den neuen Bundesländern (Winkel) Entwicklung der Hauptstadt Berlin (Buttgereit/Holst) Bevölkerungsentwicklung (Heigl/Schmid) Entwicklungsrisiken ländlicher Räume (Klemmer) Siedlungsstruktur- und Stadtentwicklung (Rietdorf)

IV. Anhang 1. 2. 3. 4.

1

Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik (Jenkis) 2 23 Raumwirtschaftslehre (Velsinger/Lienenkamp) Raumwirtschaftsstrukturen (Todt) 54 Grundlagen des Raumordnungsrechts {David) 75 Finanzwissenschaftliche Grundlagen (Noll/Hildebrandt) 95 Soziologie der Planung (Schmals) 119 Ökologische Grundlagen (PetzoldJSiedentop) 142

II. Raumordnungspolitik 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

VII

Raumordnungsgesetz Organisationen der Landes-und Regionalplanung Übersicht über Beratungsergebnisse Raumordnungspolitischer Handlungsrahmen

Verzeichnis der Autoren

169 170 184 196 223 242 259 287 313 336 383 384 401 425 450 481 515 516 523 529 531 565

Vorwort Die Raumordnung und Raumordnungspolitik ist noch eine junge Wissenschaft, weder die Begriffe noch der Inhalt dieser Disziplin sind bisher eindeutig geklärt. Dieses Kompendium unternimmt den Versuch, einen Beitrag zur Klärung zu leisten. Im ersten Teil des Kompendiums werden die Grundlagen, im zweiten die verschiedenen Politikbereiche und im letzten Kapitel die Entwicklungstendenzen aufgezeigt. Ein Einzelner dürfte kaum in der Lage sein, sämtliche Bereiche abzudecken. Daher haben an diesem Kompendium rund zwanzig ausgewiesene Wissenschaftler und Fachleute mitgearbeitet. Das jeweilige Thema wird somit aus unterschiedlicher Sicht dargestellt, wobei sich in gewissem Umfang Überschneidungen nicht vermeiden ließen. Der Herausgeber hat sich um eine formale Harmonisierung der Beiträge bemüht, aber nicht inhaltlich eingegriffen. Aus der Unterschiedlichkeit der Standorte, der Darstellungsweise und des Stils wird auch zugleich die Komplexität der Raumordnung und der Raumordnungspolitik ersichtlich. Es wurde der Titel R a u m o r d n u n g und Raumordnungspolitik' gewählt, obgleich auch Überschriften wie Raumwirtschaftslehre, Räumliche Wirtschaftspolitik, Regional- und Strukturpolitik usw. denkbar gewesen wären. Das Raumordnungsgesetz und die auf Grund dieses Gesetzes zu erstattenden Raumordnungsberichte haben dazu geführt, daß sich der Begriff der Raumordnung und die darauf beruhende Politik eingebürgert hat. Dennoch wird auch dieser Begriff unterschiedlich interpretiert, zumal das Raumordnungsgesetz keine Legaldefinition enthält. Wie aus dem einleitenden Beitrag ersichtlich, ist eine einheitliche Nomenklatur nicht vorhanden und möglicherweise auch nicht möglich. Hierin liegt die Problematik und zugleich der Reiz dieses Themas. Der Herausgeber hat den Autoren für ihre Mitarbeit zu danken. Dank hat er dem R. Oldenbourg Verlag in München und insbesondere seinem Lektor, Herrn Diplom-Volkswirt Martin Weigert, zu sagen, der auch diese Publikation in bewährter Weise betreut hat. Nicht zuletzt dankt der Herausgeber seiner Frau, die wiederum ungeduldig die Planung und die Durchführung dieses Buches ertragen hat. Das ,Kompendium der Raumordnung und Raumordnungspolitik' widme ich der Fakultät für Raumplanung der Universität Dortmund, insbesondere seinem Lehrkörper, dem ich seit 1975 angehöre. Die Studenten mögen nicht nur in Dortmund aus diesem Kompendium Nutzen ziehen.

Helmut Jenkis

I. Grundlagen

1. Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik Gemäß Art. 75 Nr. 4 G G obliegt dem Bund unter den Voraussetzungen des Art. 72 G G Rahmenvorschriften über die Bodenverteilung, die Raumordnung und den Wasserhaushalt zu erlassen. Von diesem Recht hat der Bund durch das Raumordnungsgesetz vom 8. April 1965 Gebrauch gemacht. (Das R O G (Raumordnungsgesetz) in der Fassung vom 28. April 1993 ist als Anhang 1 diesem Kompendium beigefügt.)

1.0 Orientierungsrahmen der Raumordnung Sowohl in der Theorie als auch in der praktischen Raumordnungspolitik hat es eine lebhafte Diskussion über die Ziele der Raumordnung gegeben. In der Nachkriegszeit ging es vor allem um die Leitbildvorstellung der Raumordnung. In dieser Diskussion stellte das Gutachten des Sachverständigenausschusses für Raumordnung (SARO-Gutachten) einen Höhepunkt dar. Der durch Beschluß der Bundesregierung vom 25. November 1955 eingesetzte Sachverständigenausschuß hatte die Aufgabe, .Richtlinien (ein Leitbild) für die Koordinierung der von der Bundesregierung zu treffenden raumrelevanten Maßnahmen' zu erarbeiten und ,die rechtlichen Möglichkeiten und die verwaltungsmäßigen Mittel zur praktischen Erreichung dieses Zieles aufzuzeigen'. Im Mai 1961 legte der Ausschuß das Gutachten ,Die Raumordnung in der Bundesrepublik Deutschland' vor. Obgleich das SARO-Gutachten auf gesetzliche Bestimmungen über die Raumordnung auf Bundesebene für entbehrlich hielt, hat es auf die politische Willensbildung einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt, d.h., daß die Grundsätze des Raumordnungsgesetzes durch dieses Gutachten wesentlich beeinflußt wurden. Das R O G enthält keine Legaldefinition der Raumordnung (auf die Begriffsvielfalt wird weiter unten eingegangen), sondern in § 1 die ,Aufgaben und Leitvorstellungen der Raumordnung' und in § 2 die ,Grundsätze der Raumordnung.' In dem vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1994 herausgegebenen ,Raumordnungsbericht 1993' wird der Orientierungsrahmen der Raumordnung aufgezeigt. Allerdings enthält dieser Orientierungsrahmen keine rechtsverbindlichen Planungen und Maßnahmen, obgleich sich die zuständigen Minister auf Bundes- und Länderebene einstimmig auf eine raumordnerische Konzeption geeinigt haben. Die maßgeblichen Gesichtspunkte, um die Raumordnung positiv zu gestalten, sind die folgenden: 1 - Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen: Die Herstellung der Gleichwertigkeit ist selbst als langfristiger dauerhafter Prozeß zu verstehen und darf nicht mit gleichen räumlichen Bedingungen und Gleichartigkeit verwechselt werden. Dabei ist es auch notwendig, regionale Übergangslösungen anzustreben und die Frage von regionalen Mindeststandards neu zu diskutieren. 1

Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Raumordnungsbericht 1993, Bonn, März 1994, S. 5f.

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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- Dezentrale Raum- und Siedlungsstruktur: Eine der großen Vorteile der räumlichen Standortbedingungen des Bundesgebietes ist die relative Ausgeglichenheit der Zentrenstruktur. Deshalb sind städtische Vernetzungen sowohl in den Verdichtungsräumen als auch in den ländlichen Regionen zu stärken und auszubauen. - Uberlastungen entgegenwirken: Ein Teil der großen Verdichtungsräume ist erheblich überlastet, so daß Negativwirkungen auf die Lebenssituation der Bürger, die Umwelt und auch die Standort- und Wettbewerbsbedingungen der privaten Wirtschaft anfallen. Zur Funktionssicherung und Entlastung dieser Räume sind entsprechend dem Konzept der sogenannten dezentralen Konzentration leistungsfähige Zentren im weiteren Umkreis der großen Verdichtungsräume und auch in ländlich geprägten Regionen auszubauen. - Raumnutzungen optimieren: In einem so dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik Deutschland sind Konflikte über Raumnutzungen nicht zu vermeiden. Um so wichtiger ist es, daß konkurrierende Flächenansprüche rechtzeitig geklärt und verbindliche Festlegungen der Raumnutzungen, verbunden mit Freiraumkonzepten, getroffen werden. In diesem Zusammenhang sind Verbundlösungen auszubauen, die u.a. Siedlungs- und Verkehrsentwicklungen stärker integrieren, um hierdurch sowohl ökologischen als auch volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen. - Regionale Potentiale entfalten und Eigeninitiative stärken: Der weitere Ausbau der Raum- und Siedlungsstruktur und der spezifischen Standortbedingungen ist vorrangig von den öffentlichen und privaten Akteuren in den Regionen selbst zu gestalten. Damit stellt die Stärkung der regionalen Potentiale und Eigenkräfte selbst ein vorrangiges Raumordnungsziel dar. Der Bund kann hier zwar maßgebliche Voraussetzungen und Verbesserungen im infrastrukturellen Bereich und bei den ökonomischen Rahmenbedingungen leisten, die Anstöße zur weiteren Raumentwicklung müssen jedoch von den Regionen selbst getragen werden. Insofern erhält die interkommunale Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Planungs- und Investitionsträgern - bei grundsätzlicher Wahrung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten - einen neuen Stellenwert für das raumordnerische Handeln. - Regionale Standortbedingungen verbessern, Wettbewerbsfähigkeit stärken: Wenn auch die Fragen der Stabilisierung und Entwicklung der Regionen in den neuen Ländern für die Raumordnungspolitik im Vordergrund stehen, so ist die Erhaltung und der Ausbau wettbewerbsfähiger Standorte auch in den alten Ländern ein zentrales Anliegen, das künftig besondere Aufmerksamkeit verdient. Im Zuge eines sich verstärkenden europäischen Wettbewerbs werden regionale Standortbedingungen neu definiert und erfahren eine Überprüfung. Die dezentrale deutsche Raum- und Siedlungsstruktur mit einem leistungsfähigen Netz an Zentren - auch in verdichtungsferneren Räumen - hat gute Chancen, sich zu behaupten. Jedoch bedingt dies auch, daß gezielt Vorteile ausgebaut und Schwächen abgebaut werden. Hierzu bedarf es in besonderem Maße auch der Weiterentwicklung der interkommunalen Zusammenarbeit, um isoliertes Denken und Handeln im Sinne gemeinsamer Konzeptionen und eines innerregionalen Ausgleichs zu überwinden. Vorrangig gilt es, neue Kooperationsformen - informeller und formeller Art - zur funktionsgerechten Lösung der Stadt-Umland-Probleme der großen Verdichtungsräume zu finden. Dabei hat auch die Regionalplanung aktiven Anteil zu nehmen.

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I. Grundlagen

Sowohl für viele Ziele der Raumordnungspolitik als auch für den Orientierungsrahmen ist charakteristisch, daß diese nicht operational formuliert sind, d.h., daß es sich um Leerformeln handelt, wobei zwischen dem pseudo-empirischen und den pseudo-normativen Leerformeln zu unterscheiden ist.2 Diese Leerformeln sind dadurch gekennzeichnet, daß die Zieldefinitionen (Leitbilder) eine empirische Prüfung der Zielerreichung nicht zulassen. ,Operationalität setzt Meßbarkeit im Sinne ordinaler (d.h. eine Ordnung muß möglich sein, z.B. nach den Gruppen sehr schlecht, schlecht, gut, sehr gut) oder kardinaler (d.h. zahlenmäßiger) Messung sowie räumliche und zeitliche Fixierung voraus. Wenn raumordnungspolitische Ziele zur Beurteilung raumordnungspolitischer Maßnahmen geeignet sein sollen, so müssen sie operational definiert sein.' 3 Auch lassen sich in der Raumordnungspolitik - wie in anderen Politikbereichen - nicht immer Ziele einerseits und Instrumente oder Mittel andererseits eindeutig auseinanderhalten: Ist zum Beispiel die Ausweisung eines zentralen Ortes zur besseren Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen oder die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse Ziel oder Mittel der Raumordnungspolitik? ,Allgemein kann man deshalb immer dann von Zielen sprechen, wenn sie als solche erkannt, formuliert oder behandelt werden, das heißt, Mittel zu ihrer Erreichung gesucht und eingesetzt werden.' 4

2.0 Raumordnungspolitik als normative Ökonomik In den Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik 1909 in Wien ist der sogenannte ,Werturteilsstreit' ausgebrochen 5 , d.h., seitdem wird die Frage gestellt, ob und unter welchen Bedingungen in der Wissenschaft Werturteile gefällt werden dürfen. So z.B. hat Werner Sombart in der Wiener Diskussion darauf hingewiesen, daß der Bau von Kirchen für einen gläubigen Menschen eine Selbstverständlichkeit, für den Atheisten dagegen eine Verschwendung von Mitteln sei.6 Vertreter der Wertfreiheit der Wissenschaft gehen davon aus, daß wissenschaftliche Aussagen nur darüber möglich sind, was ist, nicht aber darüber, was sein soll; denn in Seinsollens-Aussagen fließen persönliche Werturteile ein, die außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis liegen. Da die Raumordnungspolitik sich ausdrücklich mit der künftigen Entwicklung bzw. Gestaltung des Raumes befaßt, ist sie ein Teil der normativen und nicht der positiven Ökonomik. 7 Aufgabe der positiven Ökonomik ist die Erklärung dessen, was ist, und die Vorhersage dessen, was sein wird. Dagegen befaßt sich die normative Ökonomik mit dem, was sein soll, insofern ist sie angewandte Wirtschaftsethik. Dieses gilt auch und gerade für die Raumordnungspoltik. Geht man vom Postulat der Wertfrei2

3 4 5 6 7

Zur Leerformel-Problematik siehe Ernst Topitsch: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Derselbe (Herausgeber): Logik der Sozialwissenschaften, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 6. Aufl., Köln-Berlin 1970, S. 17-36, insbesondere S. 27f. Ulrich Brösse: Raumordnungspolitik, 2. Aufl. Berlin-New York 1982, S. 35f. Ebenda, S. 26 Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik in Wien, 1909, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 132, Leipzig 1910, insbesondere S. 563ff. Ebenda, S. 568 Herbert Giersch: Allgemeine Wirtschaftspolitik - Grundlagen, Wiesbaden 1960, S. 26ff.

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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heit der Wissenschaft aus, dann könnte keine wissenschaftlich fundierte Raumordnungspolitik betrieben werden. Da aber weder die Raumordnungspolitik noch andere Politikbereiche ohne Werturteile auskommen, gibt es mehrere Möglichkeiten, (subjektive) Normen in wissenschaftlichen Aussagen kenntlich zu machen: 8 (1) Persönliches Bekenntnis: Eine raumordnungspolitische Forderung oder Maßnahme wird als persönliche Auffassung dargelegt. Sprachlich findet sie ihren Ausdruck in der Formulierung: ,Ich glaube, daß ...'. (2) Hypothetisches Werturteil: Die persönliche Einstellung tritt als Norm hinter die Hypothese zurück. Sprachlich wird sie durch den ,Wenn ... dann ...'-Satz ausgedrückt. Zum Beispiel: Wenn nicht der öffentliche Personennahverkehr ausgebaut wird, dann werden die Innenstädte am Individualverkehr ersticken. (3) Teleologisches Urteil: Es ist mit dem hypothetischen Urteil verwandt, denn die normative Prämisse wird als hypothetisches Ziel gesetzt, aus dem dann unter Berücksichtigung der Sachzusammenhänge eine Aussage über die zweckmäßigen Mittel folgt. In der Raumordnungspolitik wird diese Urteilsform angewandt. Teleologische Werturteile gehören zur Kunstlehre. (4) Kulturelles Urteil: Das Werturteil wird aus einer kulturellen Gegebenheit erklärt. Dieses dürfte für die Raumordnungspolitik nicht zutreffen. (5) Partial-Urteil: Das Werturteil bezieht sich auf ein Ziel und die Wirtschaftsoder Raumordnungspolitik wird einseitig unter einem partiellen Aspekt betrachtet. Die wissenschaftliche Redlichkeit erfordert, daß das Ziel genau definiert und kein Zweifel hinsichtlich der partiellen Gültigkeit der sich daraus ergebenden Urteile aufkommt. Auch in der Raumordnungspolitik werden Partial-Urteile gefällt. Wenn die Raumordnungspolitik den Rang der wissenschaftlichen Dignität erhebt, dann muß sie sich ihres normativen Charakters bewußt sein. Die in diesen normativen Aussagen enthaltenen Werturteile sind entweder als persönliches Bekenntnis, als teleologisches oder als Partial-Urteil kenntlich zu machen. Dieses erfordert aber nicht nur die wissenschaftliche Redlichkeit, sondern würde auch dazu beitragen, daß raumordnungspolitische Diskussionen sachlicher und damit rationaler geführt werden würden. Da diese Kenntlichmachung nur selten erfolgt, werden subjektive Meinungen bzw. Werturteile wie (objektive) Wahrheiten formuliert.

3.0 Die ordnungspolitische Stellung der Raumordnungspolitik Die Auffassungen darüber, ob die Raumordnung und insbesondere die Raumordnungspolitik Bestandteil der sozialen Marktwirschaft ist oder aber in ihr einen Fremdkörper darstellt, gehen auseinander:

s

E b e n d a , S. 49-51

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I. Grundlagen

Der Vater des Begriffes ,soziale Marktwirtschaft - Alfred Müller-Armack - hat die Überlegenheit des Marktsystems gegenüber der Planwirtschaft herausgestellt, zugleich aber auch auf seine Grenzen hingewiesen 9 : ,In der Epoche des Bauliberalismus wiederholte die damalige Zeit nur ihre auch auf anderen Gebieten begangenen Fehler, in einem freien Markt bereits die volle Gewähr für eine befriedigende Gesamtordnung zu sehen. Darin lag ein folgenschwerer Irrtum, denn so wenig der Wettbewerbsmarkt, wie wir sahen, einer öffentlichen Ordnung zu entbehren vermag,..., so wenig vermag die marktwirtschaftliche Regelung des Bauens schon eine sinnvolle einheitliche Aufschließung von Stadtgebieten zu gewährleisten. Der Marktapparat ist ein formales Organisationsgefüge, ein geradezu unentbehrliches Instrument wirtschaftlicher Kooperation, aber wie sollte er als solch formales Instrument schon die Fähigkeit besitzen, jenen vielfältigen kulturellen, sozialen, ästhetischen und hygienischen Gesichtspunkten gerecht zu werden, die sich die Raumplanung zum Ziele setzt.' Müller-Armack macht deutlich, daß trotz der Bejahung des marktwirtschaftlichen Systems eine Raumplanung und diese kann nur staatlich oder kommunal erfolgen - notwendig oder sogar unerläßlich ist. Eine andere Position nimmt Friedrich August von Hayek ein, der den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren bezeichnete, d.h., ,als ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen (betrachtet), die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genützt würden.' 10 Diese Gedanken hat von Hayek auch auf die Stadtplanung - ein wesentliches Element der Raumplanung - übertragen: 11 Nach von Hayek lautet die Frage nicht, ,ob man für oder gegen Stadtplanung sein soll, sondern ob die anzuwendenden Maßnahmen dazu dienen sollen, den Markt zu ergänzen und zu unterstützen oder um ihn auszuschalten und durch eine zentrale Lenkung zu ersetzen.' 12 Die von den Architekten und Ingenieuren durchgeführte Stadtplanung hat den Preismechanismus ausgeschaltet, da diese ,die Rolle der Preise in der Koordination der Tätigkeiten der Einzelnen nie verstanden haben.' In diesem Zusammenhang verweist von Hayek auf den ,Verwaltungsdespotismus', dem die Stadtplaner gern die ganze Wirtschaft unterwerfen möchten. Beispiel hierfür war das British Town and Country Act von 1947. Danach sollte jeder Wertzuwachs aus der planerischen Veränderung der Nutzung abgeschöpft werden, aber Wertminderungen hatte der Eigentümer zu tragen. Diese Bestimmungen ließen sich nicht verwirklichen, so daß das Gesetz aufgehoben werden mußte. ,Das ganze Experiment könnte als eine merkwürdige Episode und als ein Beispiel der Torheiten einer unüberlegten Gesetzgebung angesehen werden, wenn es nicht tatsächlich die logische Folge von weitverbreiteten Vorstellungen wäre. Alle Bemühungen, bei Grund und Boden den Marktmechanismus auszuschalten und durch zentrale Lenkung zu ersetzen, müssen zu irgend einem solchen Kontrollsystem führen, das der Behörde eine vollkommene Gewalt über jede Entwicklung gibt.' 13 In seiner Nobelpreis-Vorlesung hat von

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Alfred Müller-Armack: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg 1947, S. 111 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.) F. A. von Hayek: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Kieler Vorträge, N.F. 56, Kiel 1968, S. 3 F. A. von Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Walter Eucken Institut Freiburg i.Br., Tübingen 1971, insbesondere S. 436ff. Ebenda, S. 436 Ebenda, S. 440

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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Hayek 1 4 den Nationalökonomen vorgeworfen, daß sie unwissenschaftlich - naturwissenschaftliche (exakte) Denkmethoden auf die Sozialwissenschaften übertragen und daher scheitern müssen. Somit gehört von Hayek zu denjenigen Ökonomen, die die Planung im allgemeinen und die Stadtplanung (Raumplanung) im besonderen weitestgehend ablehnen, da lediglich durch den Wettbewerb die in den zahllosen Wünschen und Handlungen enthaltenen Informationen entdeckt werden können; dieses vermag keine noch so ausgeklügelte (Raum-)Planung. Gleichfalls aus ökonomischer Sicht hat van Suntum15 erhebliche Bedenken gegenüber der Regionalpolitik aus ordnungspolitischer Sicht angemeldet: Van Suntum ist der Ansicht, ,daß konsistente Ableitung eines räumlichen Leitbildes im Sinne einer konkreten Raumstruktur aus den gesellschaftlichen Grundwerten weder gelungen ist noch überhaupt möglich erscheint.' 16 Die im Rahmen es leitbildorientierten Ansatzes vollzogenen Maßnahmen der Regionalpolitik beruhen auf impliziten Werturteilen der Planungsinstanzen, die zudem hinter immer neuen leerformelartigen Zielformulierungen versteckt werden. Da das Konzept mit erheblichen immanenten Mängeln behaftet ist - mangelnde Erfolgskontrolle, Inflation der Fördergebiete, mangelnde Koordination zwischen den Instanzen - , kann dieses Konzept nicht länger vertreten werden. Ziel eines alternativen ordnungspolitischen Konzeptes muß nicht nur die Fehler vermeiden, sondern es müssen auch Verzerrungen der Standortwahl ausgeschaltet werden, die auf die staatliche Umverteilung zurückzuführen sind, d.h., die Umverteilungsmaßnahmen des Staates sollten möglichst ohne Einfluß auf die regionale Allokation sein. Auf der Grundlage der um die Verzerrungen bereinigten regionalen Einnahmeverteilung sollten sich die Standortentscheidungen einerseits nach den Präferenzen der Wirtschaftssubjekte und andererseits nach den regionalen Kostenunterschieden richten. Hinsichtlich der privatwirtschaftlich anfallenden Kosten bestehen keine Probleme, dagegen sind die technologischen externen Effekte zu internalisieren. Van Suntum gelangt zu dem folgenden Ergebnis: ,Als Alternative zum gegenwärtigen Konzept der Regionalpolitik bietet sich daher die Verlagerung der entsprechenden Kompetenzen auf die Teilregionen (insb. die Kommunen) unter gleichzeitigem Verzicht auf eine zentrale, leitbildorientierte Manipulation der Standortentscheidungen an.' 17 Der spätere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Otto Schlecht, hat sich in einem Vortrag mit der Strukturpolitik in der Marktwirtschaft auseinandergesetzt und ist zu den folgenden Ergebnissen gelangt: 18 „Thesen zur Strukturpolitik Die staatliche Strukturpolitik dient dem Ziel, ein optimales wirtschaftliches Wachstum zu sichern. Sie trägt damit zur Steigerung des allgemeinen Lebensstandards bei und erleichtert die Befriedigung sozialer Bedürfnisse. 14 15

16 17 18

F. A . von Hayek: D i e Anmaßung von Wissen, in: O R D O , Bd. 26 (1975), S. 12-21 Ulrich van Suntum: Regionalpolitik in der Marktwirtschaft - Kritische Bestandsaufnahme und Entwurf eines alternativen Ansatzes am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, Monographien der List Gesellschaft, N.F. Bd. 5, Baden-Baden 1981 Ebenda, S. 203 Ebenda, S. 206 Otto Schlecht: Strukturpolitik in der Marktwirtschaft, FlW-Schriftenreihe, Heft 46, Köln-Berlin-Bonn-München 1968, S. 9-39, die Thesen S. 38f.

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I. Grundlagen

Im allgemeinen vollzieht sich die Strukturanpassung durch den Wettbewerbsprozeß. Staatliche Förderung des Wettbewerbs bedeutet deshalb immer auch Förderung des Strukturwandels der Wirtschaft. Wenn wir von Strukturpolitik sprechen, dann meinen wir jene besonderen staatlichen Maßnahmen, die ganz bewußt auf die Erleichterung von strukturellen Anpassungen ausgerichtet sind. Die staatliche Strukturpolitik greift nur in besonders gelagerten Ausnahmebereichen ein: - Bei der regionalen Strukturpolitik handelt es sich um die Korrektur zu starker regionaler Diskrepanzen oder um die Überwindung der Häufung wirtschaftlicher Schwierigkeiten in einem bestimmten Gebiet. - Die sektorale Strukturpolitik erleichtert die Strukturanpassung einzelner Wirtschaftszweige, wenn bei ihnen besonders schwierige Produktions- oder Marktverhältnisse vorliegen oder wenn es zu unterschiedliche Wettbewerbsvoraussetzungen im nationalen und internationalen Wettbewerb auszugleichen gilt. Außerdem fördert sie die technische und wirtschaftliche Entwicklung zukunftssichernder, neuer Produktionen in Schlüsselbereichen. - Die Unternehmensgrößen-Strukturpolitik erstrebt durch Beeinflussung der Unternehmensgrößen ein verbessertes volkswirtschaftliches Ergebnis im Wettbewerbsprozeß. Die staatliche Strukturpolitik sollte in der Marktwirtschaft folgende Bedingungen erfüllen: 1. Der Staat ergänzt oder korrigiert die Wettbewerbswirtschaft dort, wo sie auf Grund von Marktunvollkommenheiten nicht funktioniert oder wo das Ergebnis ihres Kräftespiels den Zielsetzungen der marktwirtschaftlichen Ordnung zuwiderliefe. Die Eingriffe in den Wettbewerb können deshalb nicht als wettbewerbswidrig bezeichnet werden, weil sie dazu dienen, neue Grundlagen für einen besser funktionierenden Wettbewerb zu schaffen. 2. Der Staat bedient sich bei der Strukturpolitik marktkonformer Mittel und greift nicht in die Unternehmerentscheidungen ein. Er setzt keine Planziele und gewährt keine Absatzgarantien. 3. Das Ziel der Strukturpolitik ist nicht marktwidrige Strukturerhaltung, sondern die Anpassung an neue Wettbewerbsverhältnisse. 4. Die allgemeinen Maßnahmen der Strukturpolitik sollen vor allem die Mobilität der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit verbessern. Diesem Ziel dienen Maßnahmen zur Beseitigung von Mobilitätshemmnissen wie zur Schaffung von Mobilitätsvoraussetzungen und -anreizen. 5. Spezielle strukturpolitische Maßnahmen sollen zeitlich begrenzt und degressiv gestaltet werden. Ihre Kosten sollen offen dargelegt und weder verschleiert noch abgewälzt werden. 6. Die im Strukturwandel auftretenden sozialen Härten, insbesondere für ältere Arbeitnehmer, müssen aufgefangen werden. 7. Die Strukturpolitik muß zwischen Bund und Ländern und mit den EWG-Ländern koordiniert werden. Wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann ist unsere staatliche Strukturpolitik nicht nur mit der marktwirtschaftlichen Ordnung vereinbar, sondern darüber hinaus ein wichtiger Faktor zur Verbesserung dieses Ordnungssystems."

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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Der wesentliche Unterschied gegenüber von Hayek und van Suntum besteht darin, daß nach Schlecht die staatliche Strukturpolitik dem Ziel eines optimalen Wirtschaftswachstums dient und unter den von ihm genannten Bedingungen diese nicht nur mit der marktwirtschaftlichen Ordnung übereinstimmt, sondern auch sogar zur Verbesserung dieses Ordnungssystems beiträgt. Im Rahmen des Vereins für Socialpolitik ist Hans K. Schneider der Frage nachgegangen, ob und unter welchen Bedingungen eine regionale Wirtschaftspolitik notwendig ist:19 Nach Schneider ist dann wirtschaftspolitisches Handeln erforderlich, wenn die prognostizierte Situation nicht der durch die Wert- und Zielvorstellungen der Akteure bestimmten Programmsituation entspricht. Dabei geht es nicht um eine pauschale Rechtfertigung regionalpolitischer Aktivitäten, denn die regionale Wirtschaftspolitik ,dient der Aufgabe, die wirtschaftlichen Strukturen in den Teilräumen des Gesamtgebietes derart zu gestalten, daß die Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses dem für die Gesamtwirtschaft und Gesellschaft maßgeblichen Zielsystem bestmöglich entsprechen.' 20 Da es kaum möglich ist, die Aufgaben der regionalen Wirtschaftspolitik als Teil der Gesamtpolitik für die Wirtschaft und Gesellschaft konkret aufzuzeigen, beschränkt er sich auf die folgenden drei Einzelziele:21 (1) Regionale Gerechtigkeitsziele: Extreme Unterschiede im durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Regionen sollen vermieden bzw. beseitigt werden, da sie als ungerecht empfunden werden und hieraus Spannungen entstehen können, die gesellschaftspolitisch unerwünscht sind. Somit hat die Raumordnungspolitik die Aufgabe, in etwa gleichwertige Lebensbedingungen im Gesamtgebiet zu schaffen. Dieses ist ein politisch begründetes Postulat. (2) Regionale Stabilitätsziele: Zahlreiche Branchen sind aus verschiedenen Gründen ungleichmäßig räumlich verteilt, so daß die Entwicklung einzelner Regionen von diesen Branchen entscheidend beeinflußt wird. Da die gesamtkonjunkturellen Schwankungen sich unterschiedlich auf einzelne Gebiete auswirken, können monostrukturierte Regionen besonders stark beeinträchtigt werden. Daher kommt für diese Gebiete eine Diversifikation des regionalen Produktionsprogrammes in Frage. Allerdings ist eine derartige Diversifikation nicht in allen monostrukturierten Regionen erforderlich. (3) Regionale Wachstumsziele: Hauptziel jeder nationalen Wirtschaftspolitik ist ein optimales und stetiges Wachstum. Die einzelnen Regionen tragen nur nach Maßgabe ihres Entwicklungspotentiales zur gesamtwirtschaftlichen wachstumsoptimalen Wirtschaftsstruktur bei. Regionalpolitische Aktionen lassen sich damit begründen, daß durch diese Maßnahmen das gesamtwirtschaftliche Wachstum gefördert wird. Zwischen diesen drei Zielen der regionalen Wirtschaftspolitik bestehen zahlreiche kompetitive und komplementäre Interdependenzen, auf die hier nicht einge-

" Hans K. Schneider: Über die Notwendigkeit regionaler Wirtschaftspolitik, in: Derselbe (Herausgeber): Beiträge zur Regionalpolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 41, Berlin 1968, S. 3-17 20 Ebenda, S. 3 21 Ebenda, S. 4ff.

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I. G r u n d l a g e n

gangen werden soll. Schneider 22 kommt hinsichtlich der Notwendigkeit und damit der Begründung der regionalen Wirtschaftspolitik zu den folgenden Ergebnissen: ,Es ergibt sich das Fazit, daß die drei hier analysierten regionalen Zielsetzungen nicht automatisch durch den Marktmechanismus realisiert werden. Es ist vielmehr nachgewiesen worden, daß eine sich selbst überlassene Wirtschaftsentwicklung eine Diskrepanz zwischen prognostizierter und gewünschter Situation entstehen läßt, die nur durch gezielte Interventionen des Staates beseitigt werden kann. Es ist darüber hinaus gezeigt worden, daß eine regionale Wirtschaftspolitik nicht nur deshalb notwendig ist, weil der Marktmechanismus unter den behandelten Zielen Unvollkommenheiten aufweist, sondern auch, um eine regionale unerwünschte Entwicklung zu verhindern.' Mit diesen Feststellungen wird deutlich gemacht, daß nach Schneider die regionale Wirtschaftspolitik in den Bereich der normativen Ökonomik fällt, die Seinsollens-Aussagen beinhaltet und auf dieser Grundlage (regional-)politische Maßnahmen fordert. In diesem Zusammenhang machte Norbert Kloten 23 darauf aufmerksam, daß regionalpolitische Konzeptionen - die sich auf ein allgemeines gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild beziehen, das wenig präzisiert ist und/oder viele außerökonomische Elemente beinhaltet - immer einen sehr beachtlichen Ermessensspielraum aufweisen. Daraus können Unterziele und etwaige ordnungspolitische Prinzipien willkürlich formuliert werden. ,Viele sowohl theoretische als auch konkrete regionalpolitische Konzeptionen werden mit scheinlogischen Argumenten begründet. Eine gute Portion Skepsis und eine kritische Grundhaltung Konzeptionen gegenüber sind daher stets angebracht.' Wie in allen Bereichen der normativen Raumordnungs- und regionalen Wirtschaftspolitik kommt es auf das Vor-Verständnis des Wissenschaftlers oder des Politikers an, ob staatliche Aktivitäten total abgelehnt, bedingt zugelassen oder sogar als ein wesentliches Element der sozialen Marktwirtschaft angesehen werden. Aus der Vielzahl der Stellungnahmen können Äußerungen zitiert werden, die jede dieser Thesen stützt oder ablehnt. Eine rationale Diskussion ist nur dann möglich, wenn vorher das in das eigene Werturteil einfließende Vor-Verständnis kundgetan und ein Konsens über die normativen Annahmen herbeigeführt worden ist. Da aber nur in seltenen Fällen dieses geschieht, wird die Raumordnungspolitik sowohl vom Grundsatz her als auch von den Zielen und den anzuwendenden Instrumenten umstritten bleiben.

4.0 Instrumente raumordnungspolitischer Einflußnahme Wenn ein Konsens darüber herbeigeführt wird, daß sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene eine Raumordnungs- bzw. Regionalpolitik aus normativen Gründen betrieben werden soll, dann erhebt sich die Frage, welche Instrumente bzw. auf welcher staatlichen Ebene diese eingesetzt werden sollen.

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E b e n d a , S. 16f. N o r b e r t Kloten: A l t e r n a t i v e Konzeptionen der Regionalpolitik, in: Beiträge zur Regionalpolitik, S. 18-35, zitiert S. 30f.

1. Jenkis: Einführung in die R a u m o r d n u n g und Raumordnungspolitik

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Nach Harald Jürgensen24 unterscheidet sich das regionalpolitische Instrumentarium wenig von dem der allgemeinen Wirtschaftspolitik, entscheidendes Merkmal aber ist die Dominanz der raumstrukturellen Gesichtspunkte im Entscheidungsprozeß. Das wirtschafts- und regionalpolitische Instrumentarium läßt sich wie folgt systematisieren: (1) Imperative Regionalpolitik: Sowohl die regionale Wirtschaftsstruktur als auch die Betriebsstandorte werden durch die Träger der staatlichen Regionalpolitik geplant bzw. festgelegt. Verbote (standortlenkende Gesetze, Erklärung von Sperrgebieten, Genehmigungspflicht für Betriebsgründungen und -Verlagerungen) und Gebote (Erteilung von Verlegungsbefehlen mit Wahlmöglichkeiten des neuen Standortes, Planung und Lenkung durch Mehrjahrespläne) sind die zum Einsatz kommenden Instrumente. (2) Informative Regionalpolitik: An die Stelle direkter Lenkungsmaßnahmen treten (wirtschafts-)politische Bemühungen um die Erhaltung und Förderung eines funktionsfähigen Wettbewerbs, so z.B. Erhöhung der Markttransparenz, Informationen über Arbeitskräfte-, Rohstoff- und Energiequellen. (3) Konduktive Regionalpolitik: Es werden die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen beibehalten, aber es wird die regionale Verteilung der Produktions- und Wohnstätten beeinflußt, ohne die Autonomie der einzelwirtschaftlichen Entscheidungsträger einzuschränken. Die folgenden Maßnahmekomplexe können unterschieden werden, deren Einsatz mit unterschiedlicher Intensität erfolgt: Informations- und Beratungspolitik, Anreizpolitik (Vergabe-, Steuer- und Tarifpolitik, Kreditpolitik, Kapitalhilfe, Sachleistungen, Arbeitsmarktpolitik), Infrastrukturpolitik und - insbesondere auf kommunaler Ebene angewandt - die administrativen Zwangsmaßnahmen, die sich auf die Bodenordnung konzentrieren. Erst relativ spät - etwa zu Beginn der fünfziger Jahre - hat in Deutschland eine gezielte und systematische Beeinflussung der ökonomischen Aktivitäten im Raum eingesetzt. Zu Beginn dominierten Einzelmaßnahmen, die sich auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Notstandsgebieten - z.B. im Zonenrandgebiet - konzentrierten. Zwischen dem Bund und den Ländern trat eine Förderkonkurrenz ein; das Gießkannenprinzip mündete schließlich in das Regionale Aktionsprogramm ab 1969 ein, das zu einer Abstimmung der Bundes- und Ländermaßnahmen führte. Damit trat an die Stelle der bisherigen ,Notstandspolitik' die mittelfristige, auf bestimmte Ziele abgestimmte Raumwirtschafts- bzw. Regionalpolitik. Aus den Aktionsprogrammen wurde der Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur' (GRW) vom 1. Januar 1971 entwickelt. ,Damit wurde die GRW in den siebziger Jahren zum Kernstück der Regionalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Wichtigstes Gremium ist hierbei der Planungsausschuß unter dem Vorsitz des Bundesministers für Wirtschaft. ... In ihm werden die Abgrenzung der Fördergebiete, die Entwicklungsziele sowie die Schwerpunktorte innerhalb der jeweiligen Aktionsräume fixiert und der Finanzierungsplan der Maßnahmen beschlossen.' 25 Der Bund trägt die Hälfte der in den Ländern anfallenden Kosten. 1991 wurde das 20., 1992 das 21. und 1993 das 22. Rahmenprogramm beschlossen. Mit den neuen

24

25

Harald Jürgensen: Artikel ,Raumwirtschaft II: Politik', in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. VI, S. 429-441, insbesondere S. 431 f. Ebenda, S. 431

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I. Grundlagen

Rahmenplänen wurde das Schwergewicht auf die neuen Länder gelegt. Im 22. Rahmenplan 1993 belaufen sich die Soll-Ansätze für die neuen Länder auf 8.900 Mio. DM, für die alten Länder hingegen nur auf 700 Mio. DM. 26 Das Instrumentarium und die Trägerebenen der raumordnungs- oder regionalpolitischen Einflußnahmen lassen sich wie in Tabelle 1 (S. 13) dargestellt systematisieren 27 .

5.0 Die Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft Die nationale (deutsche) Raumordnungs- und Regionalpolitik wird zunehmend durch die der EU (Europäischen Gemeinschaft) ergänzt und überlagert: Durch die E E A (Einheitliche Europäische Akte) wurden mit Wirkung ab 1. Juli 1987 die Art. 130a-e in den EG-Vertrag eingefügt. Sie konkretisieren Abs. 5 der Präambel und die in Art. 2 genannten Vertragsziele der harmonischen Wirtschaftsentwicklung, insbesondere des regionalen Ausgleichs. Durch diese Vertragsergänzung wurde eine neue Grundlage für eine gemeinsame Regionalpolitik geschaffen, die bis dahin auf die Generalklauses des Art. 235 zurückgreifen mußte. In Art. 130a werden die Ziele der Gemeinschaft wie folgt umschrieben: ,Die Gemeinschaft entwickelt und verfolgt weiterhin ihre Politik zur Stärkung ihres wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung als Ganzes zu fördern. Die Gemeinschaft setzt sich insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete, einschließlich der ländlichen Gebiete, zu verringern'. Der erste Satz normiert die allgemeine strukturpolitische Aufgabe der Gemeinschaft, durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (,Kohäsion') eine harmonische Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern. Der zweite Satz hebt den regionalpolitischen Aspekt dieser Aufgabe hervor und normiert das Ziel, die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen und - insbesondere - den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern. Die zur Erfüllung dieser Aufgaben sich ergebenden Pflichten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten werden in Art. 130b genannt; die Art. 130c-e befassen sich mit dem koordinierten Einsatz der wichtigsten Finanzierungsinstrumente der Gemeinschaft, insbesondere mit den drei Strukturfonds. Art. 130b konkretisiert die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft, d.h.: ,Die Mitgliedstaaten führen und koordinieren ihre Wirtschaftspolitik in der Weise, daß auch die in Artikel 130a genannten Ziele erreicht werden. ... Die Gemeinschaft unterstützt diese Bemühungen durch die Politik, welche sie mit Hilfe der Strukturfonds (Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft - Abteilung Ausrichtung, Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzierungsinstrumente führt.' Die Kommission erstattet alle drei Jahre dem Europäischen Parlament, dem Rat, dem 26 27

Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Raumordnungsbericht 1993, Bonn, März 1994, S. 106f. Joachim Klaus: Artikel ,Raumwirtschaft III: Ordnung', in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. VI, S. 442-456, Tabelle S. 452

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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I. Grundlagen

Wirtschafts- und Sozialausschuß und dem Ausschuß der Regionen Bericht über die Fortschritte bei der Verwirklichung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (,Kohäsionsfortschritte'). Art. 130c regelt den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Aufgabe des Regionalfonds ist es,,durch Beteiligung an der Entwicklung und an der strukturellen Anpassung der rückständigen Gebiete und an der Umstellung der Industriegebiete mit rückläufiger Entwicklung zum Ausgleich der wichtigsten regionalen Ungleichgewichte in der Gemeinschaft beizutragen'. Der E F R E (Regionalfonds) wurde 1975 durch eine auf Art. 235 gestützte Verordnung geschaffen, seit dem 1. Juli 1987 (Inkrafttreten der E E A ) bildet Art. 130c eine primärrechtliche Grundlage. Der Fonds hat keine eigene Rechtspersönlichkeit, er ist eine unselbständige Einrichtung der Gemeinschaft, seine Mittel sind im allgemeinen Haushaltsplan der Gemeinschaft enthalten. Der Beitrag zum Ausgleich der regionalen Ungleichgewichte kann einmal in der strukturellen Anpassung der rückständigen Gebiete und zum anderen in der Umstellung der Industriegebiete mit rückläufiger Entwicklung bestehen. Es handelt sich um einen horizontalen Finanzausgleich zu Gunsten der Mitgliedstaaten, in denen strukturschwache Regionen vorhanden sind. Gemäß Art. 130d werden auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung der zuständigen Organe der EU die vorrangigen Ziele und die Organisation des Strukturfonds - einschließlich dessen mögliche Neuordnung - festgelegt. Nach demselben Verfahren war vor dem 31. Dezember 1993 ein Kohäsionsfonds zu errichten, dessen Aufgabe unter anderem darin besteht, finanzielle Beiträge für Vorhaben in den Bereichen Umwelt, transeuropäische Netze und auf dem Gebiet der Infrastruktur zu leisten. Durch den Maastrichter Vertrag, der am 1. November 1993 in Kraft getreten ist, wurden - wie dargelegt - neue Politikbereiche auf die EU übertragen, ohne daß die EU eine eigenständige Kompetenz für den Bereich Raumordnung erhält. Der Europäische Rat hat für den Zeitraum 1993-1999 eine finanzielle Vorausschau verabschiedet, nach der sich die Verpflichtungen für strukturpolitische Maßnahmen auf etwa 176 Mrd. E C U belaufen. Dieses entspricht einem durchschnittlichen Jahresbetrag von rund 25 Mrd. ECU, im Zeitraum 1988-1992 waren es jährlich nur 13 Mrd. ECU. ,Wenn also ca. ein Drittel der Ausgaben der Gemeinschaft auf strukturpolitische Maßnahmen entfallen und diese in ausgewählten Regionen eingesetzt werden sollen, wird deutlich, daß die Kommission - wenn auch nicht flächendeckend - europäische Raumentwicklungspolitik' betreibt.' 28

6.0 Die Territorialplanung der ehemaligen DDR In der ehemaligen D D R hat man die Raumordnung bzw. Raumordnungspolitik nicht nur als Territorialökonomie bzw. Territorialplanung bezeichnet, sondern auch damit andere Inhalte und Verfahren verbunden: 29

28 29

Raumordnungsbericht 1993, S. 201 Stichworte ,Territorialökonomie' bzw.,Territorialplanung' in: Ökonomisches Lexikon, 3. Aufl., Ost-Berlin 1979, Bd. III, S. 315f.

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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(1) Territorialökonomie: Es handelt sich um die Wissenschaft von den ökonomischen Verhältnissen und Prozessen im Territorium, sie erforscht Inhalt, Wirkungsweise und Erfordernisse der ökonomischen Gesetze im Hinblick auf die Entwicklung der territorialen Organisation und Effektivität des sozialistischen Reproduktionsprozesses. Ferner versteht man unter diesem Begriff die sparsamste Verwendung der im Territorium durch ihre effektive territoriale Struktur zusammenwirkenden Produktivkräfte, insbesondere ihre Standortverteilung im sozialistischen Reproduktionsprozeß. (2) Territorialplanung: Sie ist Bestandteil der sozialistischen Volkswirtschaftplanung und Instrument zur Sicherung der Einheit von ökonomischer und sozialer Entwicklung in den Territorien mit dem Ziel, die ökonomische, kulturelle und soziale Entwicklung in den Territorien (Bezirke, Kreise, Städte, Gemeinden, Gemeindeverbänden, Gebiete) so zu gestalten, daß auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, die Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität die ständige Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Werktätigen gewährleistet ist.' Dieses ist eine Ansammlung von pseudo-normativen Leerformeln, die keinen konkreten und nachprüfbaren Inhalt haben. Allerdings enthält auch das (westdeutsche) Raumordnungsgesetz zahlreiche Leerformeln. Der Unterschied zwischen der ost- und westdeutschen Raumordnungspolitik dürfte aber darin gelegen haben, daß in Westdeutschland die ökonomische Effizienz und die daraus resultierende finanzielle Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hände und der Privatwirtschaft zumindest zum Teil eine materiell-technische Ausfüllung dieser Leerformeln ermöglichte. Damit wird deutlich, daß wahrscheinlich normative Aussagen ein nahezu unvermeidbarer Bestandteil der Raumordnungspolitik sind, entscheidend aber bleibt, ob diese auf Grund der verfügbaren Ressourcen umgesetzt - realisiert - werden können. Der Unterschied zur westdeutschen ,Philosophie' der Raumordnung und Raumordnungspolitik wird auch daran deutlich, daß sich die Aufgaben der DDR-Territorialplanung ,aus den Erfordernissen der ökonomischen Gesetze des Sozialismus, aus ihrer Widerspiegelung in den Beschlüssen der Partei der Arbeiterklasse sowie aus den darauf beruhenden gesetzlichen Regelungen der sozialistischen Staatsmacht (ergeben).' 30 Die Territorialplanung wird von den zentralen und örtlichen Staatsorganen wahrgenommen, und zwar ausgehend von den Ergebnissen der langfristigen Planung als unmittelbarer Bestandteil der Fünfjahresplanung und der Jahresvolkswirtschaftsplanung. Sie umfaßt: 31 (1) die Planung der Standortverteilung der Produktivkräfte; (2) die Planung der ökonomischen, kulturellen und sozialen Entwicklung im Territorium, insbesondere die Koordinierung der Maßnahmen der Betriebe, Einrichtungen und örtlichen Räte, mit dem Ziel der Sicherung der Übereinstimmung der Entwicklung der Zweige und Bereiche der Volkswirtschaft mit der Entwicklung in den Territorien;

30 31

Ebenda, S. 316 Ebenda, S. 316

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I. Grundlagen

(3) die territoriale Bilanzierung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens und der Bauproduktion sowie den effektivsten Einsatz der territorialen Ressourcen; (4) die Standortverteilung der Investitionen und deren territoriale Sicherung; (5) die Entwicklung des Siedlungsnetzes und der territorialen Siedlungsstruktur. Zu den Aufgaben der Territorialplanung gehören insbesondere die Ausarbeitung von: (1) Konzeptionen zur Entwicklung der Produktivkräfte, der Territorialstruktur der gesellschaftlichen Reproduktion, der Infrastruktur und der territorialen Siedlungsstruktur im Rahmen der langfristigen Planung der Entwicklung der Volkswirtschaft; (2) Bilanzen über Aufkommen und effektiven Einsatz der territorialen Ressourcen; (3) Fünfjahr- und Jahrespläne zur Entwicklung der Bezirke, Kreise, Städte und Gemeinde; (4) Grundlagen zur Vorbereitung und Durchführung von Komplexberatungen in den Bezirken; (5) Konzeptionen zur Standortverteilung der Investitionen; (6) Bezirksinvestitionsplänen als Instrumente zur Planung und Durchsetzung einer effektiven Grundfondspolitik im Territorium; (7) Analysen der Plandurchführung und gesellschaftlichen Entwicklung im Territorium. Die Territorialplanung der ehemaligen D D R war Bestandteil der Leitung und Planung der Volkswirtschaft. Die wichtigsten Organe der Leitung der Territorialplanung waren der Ministerrat mit der Plankommission, die Räte der Bezirke mit den Bezirksplankommissionen und den ihnen unterstellten Büros für Territorialplanung, die Räte der Kreise mit den Kreisplankommissionen und die Räte der Städte mit den Abteilungen Planung und Standortverteilung der Produktivkräfte. Diese Aufzählung der Aufgaben der DDR-Territorialplanung und der damit befaßten Organe macht deutlich, daß es sich um eine imperative Raumordnungs(Territorial-)politik handelte. Nach marxistischer Auffassung unterschied sich die DDR-Territorialplanung von der Raumordnungspolitik in den westlichen Demokratien ,in der Zielstellung sowie in den Mitteln prinzipiell von allen Versuchen der staatsmonopolitischen Regulierung im Kapitalismus, die raumstrukturellen Probleme ihrer Gesellschaftsordnung zu lösen. Die staatsmonopolitische R a u m o r d n u n g ' dient den Interessen der Monopolbourgeosie und unterliegt den Verwertungsbedingungen des Kapitals. ... In der D D R wird die Territorialstruktur auf der Grundlage der Erfordernisse des Marxismus-Leninismus weiterentwickelt.' 32 D e r ideologische Hintergrund und der darauf beruhende institutionelle Aufbau sowie die sich daraus ergebenden Instrumente führten dazu, daß nach der Teilung Deutschlands in der ehemaligen DDR zum Teil neue Raumstrukturen entwickelt

32

Rolf Bönsich/Gerhard MohsAVerner Oswald: Territorialplanung, Ost-Berlin 1976, S. l l f .

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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wurden, die sich nicht mehr an der früheren innerdeutschen Arbeitsteilung, sondern an der Standortverteilung innerhalb des R G W (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, im Westen auch C O M E C O N = Council for Mutual Economic Assistance genannt) orientierte. ,Der wichtigste Gegenstand der zentralen staatlichen Planung der territorialen Entwicklung der Volkswirtschaft ist die Planung der Standortverteilung der Produktivkräfte. Sie wird gemeinsam von den zentralen Organen, den wirtschaftsleitenden Organen und den örtlichen Volksvertretungen durchgeführt.... Die Planung der Standortverteilung der Produktivkräfte umfaßt insbesondere die langfristige Verteilung der Bevölkerung und des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, der Siedlungen, der Produktion und Leistungen der Zweige, der Investitionen und Rationalisierungsmaßnahmen der produzierenden Bereiche sowie der Infrastruktur. ... Bei der Planung der Standortverteilung der Produktivkräfte müssen die Erfordernisse der sozialistischen ökonomischen Integration, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sowie die Bevölkerungsentwicklung berücksichtigt werden. Die sozialistische ökonomische Integration erfordert, die Produktivkräfte in wachsendem Maße aus der Sicht des Gesamtterritoriums und -potentials aller Länder des R G W planmäßig auf ihre Standorte zu verteilen.' 33 Der nach der Wiedervereinigung Deutschlands erfolgte Zusammenbruch insbesondere der industriellen Produktion hat vielfältige Ursachen. Eine dieser Ursachen war, daß eine planwirtschaftliche Territorialpolitik betrieben wurde, bei der die - politisch gewollte - Ausrichtung auf die Verflechtung innerhalb des R G W erfolgte und durch die Ausschaltung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs falsche Raumstrukturen und Standortverteilungen entstanden. Auch die hohe Arbeitslosenrate in den neuen Bundesländern ist zum Teil auf die ordnungspolitisch fehlorientierte Raumordnungs-(Territorial-)politik zurückzuführen. Das Beispiel der ehemaligen D D R belegt, daß die Raumordnung und Raumordnungspolitik nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik gesehen werden muß.

7.0 Versuch einer begrifflichen Klärung Bei wissenschaftlichen Untersuchungen erhebt sich die Frage, ob am Anfang oder ob am Ende einer Abhandlung eine begriffliche Klärung erfolgen soll. Werden die begrifflichen Abgrenzungen an den Beginn gesetzt, dann besteht die Gefahr, daß diese zur ,Begriffsnationalökonomie' degenerieren. 34 Setzt man die begrifflichen an das Ende der Ausführungen, dann wird der (unzulängliche) Versuch unternommen, die mit unterschiedlichem Inhalt gebrauchten Begriffe sinnvoll zu ordnen. In der Literatur wird festgestellt, daß es keine einheitliche Nomenklatur gibt. Brösse 35 bemerkt: ,Eine allgemein übliche oder anerkannte Definition von Raumordnungspolitik gibt es nicht'. Neben dem Begriff Raumordnung und 33

34

35

Hans-Heinrich Kinze/Hans Knop/Eberhard Seifert (Herausgeber): Volkswirtschaftsplanung, Ost-Berlin 1975, S. 494 Siehe hierzu Walter Eucken: D i e Grundlagen der Nationalökonomie, 8. Aufl., BerlinHeidelberg-New York 1965, S. 228ff. Brösse, S. 21

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I. Grundlagen

Raumordnungspolitik werden auch die Begriffe Strukturpolitik, Infrastrukturpolitik, Regionalpolitik, räumliche Wirtschaftspolitik usw. verwandt. Angesichts dieser Begriffsvielfalt ist es nahezu unmöglich, einen allgemeingültigen Begriffsapparat aufzubauen. Wenn man sich mit Definitionen befaßt, dann muß man zwischen den Nominalund den Realdefinitionen unterscheiden: 36 (1) Nominaldefinitionen: Sie liegen dann vor, wenn der durch sie eingeführte Begriff relativ willkürlich gewählt wird und ohne größere Umstände durch einen anderen ersetzt werden kann. ,Richtig ist, daß durch Nominaldefinitionen die jeweiligen Begriffe durch Festsetzung von Komplexen von anderen identifiziert werden, so daß sie also per definitionem wahr sind und damit niemals falsch sein können; in Diskussionen und Argumentationen haben sie daher den gleichen unangreifbaren Status wie die logisch wahren Urteile,...'. (2) Realdefinitionen: Bei Realdefinitionen sind derartige willkürliche Festsetzungen nicht zulässig. Nach traditioneller Auffassung handelt es sich um ,Wesensanalysen, die das Wesen des zu definierenden Begriffs adäquat wiedergeben sollen, was man allein durch die Analyse der fraglichen Begriffe feststellen kann; je nachdem, wie diese ausfällt, sind sie dann analytisch wahr oder analytisch falsch, also auf alle Fälle analytisch determiniert.' In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften dominieren die Nominaldefinitionen, dieses gilt auch für den Bereich der Raumordnung und Raumordnungspolitik. Wegen der Vielfalt der anzutreffenden Begriffe erscheint es angebracht, zwischen der technischen und der sozial-ökonomischen Seite der Raumordnung zu unterscheiden. Es gibt aber auch Begriffe, die mit gleichem Inhalt in beiden Bereichen gebraucht werden. Dieses macht es nahezu unmöglich, eine einheitliche Nomenklatur zu entwickeln. In allen Fällen handelt es sich um Nominaldefinitionen, die relativ willkürlich gewählt werden können. Unter Raumforschung kann man die wissenschaftliche Erfassung und Auswertung der ermittelten Fakten und Daten von Teilräumen bezeichnen. Es werden die Gestaltung, die Nutzung und insbesondere die Besiedlung erfaßt. Hierbei kann es sich einmal um einen vornehmlich naturwissenschaftlich-technischen, zum anderen um einen sozial-ökonomischen Vorgang handeln. Ob die Raumforschung als eigenständige Wissenschaft bezeichnet werden kann, ist umstritten. 37 Sowohl die theoretische als auch die angewandte Raumforschung dient in der Regel dem Ziel, wissenschaftliche Grundlagen für die Raumordnung zu gewinnen: ,Die Idee der Raumordnung lebt von der Überzeugung, daß das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Raum (die strukturräumliche Ordnung) nicht von selbst ein optimales ist, daß also unser ,Daseins-Raum' (Bülow) zu gestalten ist. Die Raumordnung als Aufgabe ist somit Teil der ,Daseins-Vorsorge', die heute von der sog. Leistungsverwaltung erwartet wird.' 38 Abgesehen davon, daß man zwischen der Raumordnungstheorie und der Raumordnungspolitik 39

36 37 38 39

Wilhelm K. Essler: Wissenschaftstheorie I - Definition und Reduktion, Freiburg-München 1970, S. 41 Karl Heinrich Olsen: Artikel,Raumforschung', in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, 2. Aufl., Hannover 1970, Bd. II, Sp. 2447-2459 Gottfried Müller: Artikel .Raumordnung', ebenda, Sp. 2460-2479 Gottfried Müller: Artikel,Raumordnungspolitik', ebenda, Sp. 2506-2509

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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unterscheiden kann, könnte man wiederum zwischen der naturwissenschaftlichtechnischen und der sozial-ökonomischen Komponente trennen. Bei der Raumordnungspolitik handelt es sich um normative Aussagen bzw. Zielsetzungen, die als solche kenntlich zu machen sind, um zu vermeiden, daß mit pseudonormativen Leerformeln operiert wird.,Raumordnungspolitik besteht in der bewußten Handhabung geeigneter Instrumente durch den Staat oder dem Staat nahestehender Institutionen, um eine zielbezogene Gestaltung, Entwicklung und Nutzung von Räumen und Regionen zu erreichen.' 40 Aus ökonomischer Sicht könnte man die vornehmlich technisch verstandene Raumordnungstheorie mit der Raumwirtschaftstheorie und die Raumordnungspolitik mit der Raumwirtschaftspolitik gleichsetzen. Allerdings wird die Raumordnungspolitik auch als Regionalpolitik verstanden, damit ist häufig eine Regionalisierung der Wirtschaftspolitik gemeint. ,Da es oft schwer fällt, das spezifisch Ökonomische in solchen Arbeiten über Regionalpolitik abzugrenzen, läßt sich feststellen, daß auch die Regionalpolitik der Raumordnungspolitik vergleichbare Zielsetzungen hat. Dann können beide Begriffe synonym gebraucht werden.' 41 Daneben wird aber auch der Ausdruck ,räumliche Wirtschaftspolitik'42 gebraucht, wobei es bemerkenswert ist, daß Klaus und Schleicher ihre Darlegungen mit der Kapitelüberschrift ,Strukturpolitische Konzeption und Wirtschaftssystem' beginnen, der erste Satz lautet:,Unter Struktur versteht man allgemein das innere Gefüge einer aus unterschiedlichen Elementen bestehenden Einheit.' Da auch in den weiteren Kapitelüberschriften nicht von der räumlichen Wirtschaftspolitik, sondern stets von der Strukturpolitik gesprochen wird, wäre die auch übliche Bezeichnung ,Strukturpolitik' angemessener gewesen. Die Begriffe Regional- und Strukturpolitik überschneiden sich: Bei der Regionalpolitik steht der räumliche Aspekt im Vordergrund - der auch das innere Gefüge beinhaltet - , bei Strukturpolitik strahlt dieses innere Gefüge auf die Region (den Raum) aus. So zum Beispiel kann man die Umstrukturierung des Ruhrgebietes von der Region oder von der Struktur her betrachten, einmal handelt es sich um die Regionalund zum anderen um die Strukturpolitik, die man sowohl im naturwissenschaftlich-technischen als auch im sozial-ökonomischen Sinne als Raumordnungspolitik verstehen kann. Gelegentlich wird auch von der Regionalökonomie gesprochen: 43 Man könnte diesen Begriff mit dem der Raumwirtschaftslehre gleichsetzen und damit als einen Oberbegriff verstehen. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, denn bereits im Vorwort heißt es, daß sich die Autoren an Studenten wenden, ,die sich mit regionalpolitischen Fragestellungen befassen' und hinsichtlich der Ziele der Regional- und Raumordnungspolitik heißt es: ,Der Stellenwert der Raumordnungspolitik liegt vor allem in der überfachlichen und überörtlichen Koordination von 40 41 42

43

Brösse, S. 22 Ebenda, S. 22 Joachim Klaus/Hans Schleicher: Räumliche Wirtschaftspolitik - Grundlagen strukturpolitischer Konzepte, WiSt Taschenbücher, München 1983, S. 1 - Siehe den Artikel .Strukturforschung' von Felix Boesler, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Bd. III, Sp. 3325-3331 Friedrich Buttler/Knut Gerlach/Peter Liepmann: Grundlagen der Regionalökonomie, rororro Studium Volkswirtschaftslehre, Nr. 102, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 9 bzw. S. 123

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I. Grundlagen

raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen der verschiedenen Ressorts. Da nun speziell die regionale wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung für die angestrebte Raumordnung ist, müssen die regionalpolitischen Förderungsmaßnahmen mit den Grundsätzen der allgemeinen Wirtschaftspolitik und - . . . - mit den Zielen der Raumordnungspolitik und Landesplanung übereinstimmen.' In diesem Zitat treffen wir nahezu sämtliche Begriffe, die sich mit der Raumordnung und Raumordnungspolitik befassen. Zugleich wird aber auch die Begriffsvielfalt und sogar die Begriffsverwirrung deutlich. In dem vorstehenden Zitat wird der Begriff der Landesplanung gebraucht. Zinkahn 44 stellt fest: ,Das Recht der Raumordnung und Landesplanung gehört nicht zum Baurecht. Die Raumordnung ist entwicklungsgeschichtlich aus dem Städtebau hervorgegangen, inzwischen aber längst zu einer selbständigen Materie herangewachsen. Unter Raumordnung versteht man die Aufgaben, unter dem Gesichtspunkt einer regionalen Strukturpolitik für eine Koordinierung und Ausrichtung der verschiedenen Fachplanungen und öffentlichen Investitionen zu sorgen. Sie legt zu diesem Zweck materielle Ziele fest, die als zusammenfassendes und übergeordnetes Leitbild für die gemeindliche Bauleitplanung, die Fachplanungen sowie die sonstigen raumbedeutsamen öffentlichen Maßnahmen verbindlich sind. ... Der funktionellen Verzahnung von Raumordnung (Landesplanung) und städtebaulichen Maßnahmen trägt das Baugesetzbuch (§ 1 Abs. 4) Rechnung.' Im Verzeichnis landesrechtliche Raumordnungs- und Planungsgesetze benutzen die meisten Bundesländer den Begriff ,Landesplanungsgesetz', aber in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz heißt es Gesetz über R a u m o r d n u n g und Landesplanung'. 45 Unter dem Begriff Raumplanung wird ,die Gesamtheit aller zur Erarbeitung, Aufstellung und Durchsetzung der erstrebten strukturräumlichen Ordnung eingesetzten planerischen Mittel' verstanden. 46 Sie gliedert sich in die supranationalen Planungsbereiche (Europäische Gemeinschaft), die Bundes-, Landes-, Regional-, Fach- und Ortsplanung. Versteht man unter ,Planung' einen prospektiven geistigen Prozeß, der sich aus verschiedenen Informationsgewinnungs- und -verarbeitungsvorgängen zusammensetzt und zur Vorbereitung zukünftigen Handelns dient, dann handelt es sich um einen wertneutralen (rationalen) Vorgang. In den Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften sowie in der Politik werden mit dem Planungsbegriff hoheitliche (staatliche) Eingriffe verstanden, die den Marktmechanismus ganz oder teilweise außer Kraft setzen. Daher haben marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen erhebliche Bedenken gegenüber allen planwirtschaftlichen Eingriffen und somit auch gegenüber der Raumplanung. Dieser unvollständige Überblick über die Begriffsvielfalt macht deutlich, daß es keine einheitliche Nomenklatur gibt und wohl auch kaum geben kann, da unter Raumordnung und Raumordnungspolitik sehr unterschiedliche Wertvorstellungen und Leitbilder subsummiert werden können. Die Architekten und Städtebauer haben offensichtlich andere Leitbilder als die Ökonomen und Sozialwis-

44 45 46

Willy Zinkahn, fortgeführt von Wilhelm Söfker in der Einführung zur Gesetzessammlung ,Baugesetzbuch', Beck-Texte im dtv, 21. Aufl., München 1992, S. XI Ebenda, S. 305f. Gottfried Müller: Artikel,Raumplanung', in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Bd. II, Sp. 2542-2554, zitiert Sp. 2554

1. Jenkis: Einführung in die Raumordnung und Raumordnungspolitik

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senschaftler. U m wertbeladene Aussagen und pseudo-normative Leerformeln zu vermeiden, sollte - wie im Zusammenhang mit der normativen Ö k o n o m i k dargelegt - die eigene Position dargelegt und begrifflich abgegrenzt werden. Ein derartiges Verfahren würde nicht die Begriffsvielfalt beseitigen, wohl aber dazu beitragen, daß in der (wissenschaftlichen) Diskussion größere Klarheit einkehren würde.

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I. Grundlagen

Ridinger, Rudolf: EG-Regionalpolitik - Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in der Europäischen Gemeinschaft, Hamburg 1992. Schwarz, Karl: Methoden der Bevölkerungsvorausschätzung unter Berücksichtigung regionaler Gesichtspunkte, Taschenbücher zur Raumplanung, Bd. 3, Hannover 1975. Seidenfuss, Hellmuth St.: Artikel ,Sektorale Wirtschaftspolitik', in: Kompendium der Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl., Göttingen 1975, Bd. II, S. 206-274. Voigt, Fritz/Frerich, Johannes/Radel, Rainer/Unterburg, Gerd: Wirtschaftliche Entleerungsgebiete in Industrieländern - Ein Beitrag zur Theorie der Raumwirtschaft und der Regionalpolitik für die Bundesrepublik Deutschland, Köln-Opladen 1969. Wurms, Christop: Raumordnung und Territorialplanung in der D D R , Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Bd. 2, Dortmund 1976. Schriftenreihen: Akademie für Raumforschung und Landesplanung: - Forschungs- und Sitzungsberichte (bis Ende 1993: 191 Bände) - Abhandlungen (bis 1988: 91 Bände, wird nicht fortgesetzt) - Beiträge (bis Ende 1993:126 Bände) Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen und des Zentralinstituts für Raumplanung der Universität Münster: - Beiträge zum Siedlungs- und Wohnungswesen und zur Raumplanung - Materialien zum Siedlungs- und Wohnungswesen und zur Raumplanung Fakultät Raumplanung der Universität Dortmund: Dortmunder Beiträge zur Raumplanung: - Bibliographien - Schriftenreihe - Materialien

2. Raumwirtschaftslehre 1.0 Einleitung Wirtschaftswissenschaftliche Theorien und Modelle als logisch konsistente Konzepte bzw. Abbildungen der Realität basieren in der Regel auf einem hohen Abstraktionsniveau. Dieses Abstraktionsniveau ist notwendig, da wirtschaftliche Prozesse äußerst komplex und mit nahezu allen a n d e r e n gesellschaftlichen Prozessen verflochten sind. Die R e d u k t i o n von Komplexität durch vereinfachende und idealtypische A n n a h m e n macht es ü b e r h a u p t erst möglich, wirtschaftliche Phänomene, Gesetzmäßigkeiten und Verhaltensweisen zu analysieren und wirtschaftstheoretische Ansätze zu formulieren. Diese müssen dann ständig überprüft, modifiziert u n d weiterentwickelt werden. Entscheidender M a ß s t a b für die Aussagekraft wirtschaftswissenschaftlicher Theorien als wesentlicher Bestandteil der Volkswirtschaftslehre ist die Relevanz für die E r k l ä r u n g und Gestaltung der wirtschaftlichen Realität. Kade (1963) bezeichnet eine (markt)wirtschaftliche O r d n u n g d a n n als optimal, wenn auf staatliche Interventionen (Wirtschaftspolitik) vollkommen verzichtet werden kann. D a sich einige der idealtypischen Voraussetzungen (z.B. vollkommene Information der Marktteilnehmer, vollkommene Mobilität der Produktionsfaktoren) als logisch widersprüchlich erweisen, ist eine derartige optimale Wirtschaftsordnung nicht realisierbar. Daraus folgt: N e b e n der Wirtschaftstheorie sind wissenschaftliche Ansätze zur Wirtschaftspolitik unverzichtbar. Letztere läßt sich unterteilen in: • Ordnungspolitik: Schaffung, Veränderung und Weiterentwicklung der Wirtschaftsordnung, in deren R a h m e n private Wirtschaftssubjekte (Produzenten und Verbraucher) ihre a u t o n o m e n Entscheidungen treffen; • Ablaufpolitik: Beeinflussung des Wirtschaftsablaufes bzw. der Planungen der o.a. privaten Entscheidungseinheiten durch staatliche Institutionen (Träger der staatlichen Wirtschaftspolitik) im Hinblick auf wirtschaftspolitische Ziele mit Hilfe wirtschaftspolitischer Instrumente. Diese Unterteilung in Theorie und Politik entspricht d e m Selbstverständnis der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft, in der es nicht um zweckfreies Erkenntnisstreben, sondern um die instrumentale Funktion der Theorie für die Politik geht (vgl. Woll 1987). Z u den wesentlichen Restriktionen ökonomischer Theorie- und Politikansätze zählte lange Zeit der Ausschluß räumlicher Aspekte wirtschaftlicher Systeme. „Es wurde weder explizit noch implizit berücksichtigt, d a ß die Wirtschaftspolitik einer räumlich unterschiedlich strukturierten Volkswirtschaft gegenübersteht und d a ß alle ihre Entschlüsse und Handlungen unterschiedliche Auswirkungen in diesem differenzierten R a u m h a b e n " (Töpfer 1969). Isard (1949) spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g von einem wonderland of no spatial dimension. Die Vernachlässigung räumlicher Aspekte im Bereich der Wirtschaftswissenschaft ist auch darauf zurückzuführen, daß zu Beginn der Erforschung wirtschaftlicher Prozesse im 18. Jahrhundert noch weitgehend von homogenen, landwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsstrukturen auszugehen war. Smith erweiterte die

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Grundlagen der Tauschwirtschaft im Jahre 1776 um die Aufwendungen für Kapital und Boden und zeigte erstmals das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Einkommen und Marktlage auf. Ricardo, ein Schüler Smith', schuf 1819 das erste völlig in sich geschlossene theoretische System der Volkswirtschaftslehre. Seine abstrakt deduktive Methode hat das wirtschaftswissenschaftliche Denken bis zum heutigen Tag entscheidend beeinflußt. Der Begriff Raumwirtschaftslehre ist erst Mitte des 20. Jahrhunderts in die ökonomische Theorie eingeführt worden. Lösch (1962) gilt als ihr Begründer und subsumiert unter dem Terminus alle Wechselbeziehungen zwischen Raum und Wirtschaft. Predöhl (1951) versteht Raumwirtschaftslehre als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der seinen Ursprung in der traditionellen Standortlehre hat. In marktwirtschaftlich organisierten Systemen sind somit für die Raumwirtschaft die Kriterien der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft anzuwenden, da Raumwirtschaftslehre als regionalisierte Volkswirtschaftslehre verstanden werden kann, wobei sich Regionalisierung auf Theorie und Politik, d.h. die Ziele und Träger sowie auf den Mitteleinsatz bezieht (vgl. Jürgensen 1988). Raumwirtschaftslehre läßt sich anhand dieser Ausführungen, insbesondere aber in Anlehnung an die allgemein übliche Unterteilung der Volkswirtschaftslehre, in Raumwirtschaftstheorie und Raumwirtschaftspolitik gliedern. Darüber hinaus liefert sie wesentliche Grundlagen für die Raumplanung und Raumordnung. Raumwirtschaftstheorie läßt sich als Diagnose (Beschreibung und Erklärung) und Prognose wirtschaftlich bedeutsamer räumlicher Gegebenheiten und Beziehungen definieren. Raumwirtschaftspolitik umfaßt die Schaffung einer Ordnung für raumrelevantes Handeln und die Festlegung räumlicher (für den Gesamtraum und die einzelnen Teilräume), spezifischer ökonomischer Ziele und die Entwicklung und Auswahl geeigneter Instrumente zur Realisation der o.a. Ziele, selbstverständlich unter Abwägung aller Nutzen und Kosten. Die analytische Untergliederung in Theorie sowie Ordnungs- und Ablaufpolitik kennzeichnet integrierte Bestandteile der Raumwirtschaftslehre, deren Elemente der Abbildung am Ende dieses Kapitels zu entnehmen sind.

2.0 Raumwirtschaftstheoretische Grundlagen Erkenntnisobjekt der Raumwirtschaftstheorie ist die räumliche Verteilung und Verflechtung der Menschen und ihrer ökonomischen Aktivitäten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wesentliche Fragen der Raumwirtschaftstheorie sind etwa: Welche ökonomischen Beziehungen bestehen zwischen verschiedenen Räumen, und welche Austauschprozesse sind damit verbunden? Wie entstehen und wie entwickeln sich Verdichtungsräume? Wie ändern sich Raumstrukturen im Zeitablauf? Erklärungsversuche hinsichtlich der Beziehungen zwischen Raum, Mensch, Wirtschaft und Zeit können aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfolgen. Die Perspektive hängt primär vom Erkenntnisinteresse des Betrachters ab. Denkt dieser in gesamtwirtschaftlichen Dimensionen, so wird er bei der Einschätzung der bisherigen Entwicklung und im Hinblick auf die einzusetzenden Methoden und Instrumente zu anderen Ergebnissen kommen als ein Akteur, der vorrangig einzelwirtschaftliche oder regionale Interessen verfolgt.

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Selbst wenn die normativen Ziele, die beiden Sichtweisen zugrunde liegen, ähnlich oder identisch sein können - wie etwa die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt - so unterliegen ihnen doch unterschiedliche Ansätze, um derartige Zielsetzungen zu konkretisieren und umzusetzen. Eine generelle Unterscheidung mikro- und makroökonomischer Sichtweisen findet sich in diesem Zusammenhang nicht nur in der traditionellen Standortlehre bzw. Standortstrukturtheorie, sondern auch in aktuellen regionalen Wachstums- und entwicklungstheoretischen Modellen. Eng mit den unterschiedlichen Perspektiven verknüpft ist von jeher die Frage, welche Raumeinheit betrachtet wird - eine Staatengemeinschaft, eine Nation, ein nach natürlichen, kulturellen, funktionalen oder administrativen Kriterien abgegrenzter Raum, eine Stadt, ein Industriekomplex oder ein einzelnes Unternehmen. Diese Raumeinheiten stehen, in welcher Ausprägung man sie auch betrachtet, untereinander in enger wechselseitiger, raumwirtschaftlicher Beziehung. Für die Entwicklung raumwirtschaftlicher Theorien läßt sich somit ein Spannungsverhältnis einer räumlichen Betrachtung der Wirtschaft einerseits und einer wirtschaftlichen Betrachtung von Raumeinheiten andererseits konstatieren. Die Komplexität raumwirtschaftstheoretischer Fragestellungen wird nicht zuletzt durch Verflechtungen mit der allgemeinen ökonomischen Theorie, der Politikwissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Soziologie, Geographie und mit anderen Wissenschaftsdisziplinen erhöht, die in den nachfolgenden Kapiteln dieses Kompendiums thematisiert werden. Im Verständnis einer modernen Raumwirtschaftstheorie haben die Regionalwissenschaften, vor allem die Planungs-, Verwaltungs-, Verkehrs- und Umweltwissenschaft, an Bedeutung hinzugewonnen. Insbesondere unter dem Aspekt einer vorausschauenden Raumwirtschaftspolitik, die zur Vermeidung unerwünschter Entwicklungen unentbehrlich ist, verdient die Raumplanung besondere Beachtung. Von Böventer, der sich wie kaum ein anderer um die moderne Raumwirtschaftslehre verdient gemacht hat, sieht die Raumwirtschaftstheorie in einer Mittelstellung zwischen der Regional Science und der traditionellen Standortlehre (von Böventer 1962). Die Raumwirtschaftstheorie umfaßt Standorttheorien, Standortstrukturtheorien sowie regionale Wachstums- und Entwicklungstheorien, die in einem engen inneren Zusammenhang stehen.

2.1 Traditionelle Standorttheorien 2.1.1 Landwirtschaftliche Standorttheorie Einführung der räumlichen Dimension in die Wirtschaftstheorie heißt nach von Böventer (1988a) zunächst, Entfernungen und Raumüberwindungskosten zu beachten. Weiterhin ist, wie von Böventer postuliert, gegenüber nicht räumlichen Ein-Punkt-Modellen eine Reihe weiterer wirtschaftlicher Gesichtspunkte, unter anderem Agglomerationseffekte und Transportkapazitäten, zu berücksichtigen. In diesem Sinne gilt von Thünen als derjenige, der als erster (1826) eine Theorie zur optimalen Raumnutzung entwickelt hat. Mit seinem Werk „Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie" hat von Thünen in Erweiterung bestehender Grundrententheorien eine optimale Bodennutzung und Bodenpreise als Funktion der Entfernung abgeleitet. Unter Einbeziehung der Transportkosten wies er nach, daß die sogenannte Landrente zu einer Diffe-

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renzierung der Intensität und Art der Bodennutzung führt. Welche Produkte in welchem Umfang angebaut werden, hängt entscheidend von der Entfernung der jeweiligen Produktionseinheit vom einzigen Konsumzentrum (und damit von den Transportkosten) ab. Das Ergebnis seiner Untersuchungen mündet in eine konzentrische Zonierung der Landnutzung, die sogenannten Thünen-Ringe. Das Thünen-Modell ist ein erster Versuch, die Struktur des Raumes gesamtwirtschaftlich zu erklären. Dieser Ansatz ist vielfach aufgenommen und weiterentwickelt worden. Das zentrale Anliegen dieser Bemühungen liegt darin, die restriktiven Bedingungen des Thünen-Modells, wie homogene Raumstruktur und Exklusivität der Tauschmöglichkeiten im Zentrum, zu überwinden, um das Modell den jeweilig vorherrschenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen (technischer Fortschritt, Verkehr, Außenhandel, Politik) anpassen zu können und folglich seine Anwendbarkeit auch auf den sekundären und tertiären Sektor zu analysieren. In diesem Zusammenhang sei auf die Arbeiten von Aereboe (1920) und Brinkmann (1922) hingewiesen. Später bemühten sich auch Lösch (1962) und Valavanis-Vail (1955) um eine Übertragung des von Thünenschen Modells auf den sekundären Sektor. Peuker (1966) betonte die Klimafaktoren und, wie Abler/Adams (1972), den technischen Fortschritt, während Lloyd/ Dicken (1972) das Modell unter dem Gesichtspunkt abnehmender Frachtraten einer kritischen Analyse unterzogen. Komplexere Standortstrukturtheorien wie die Christallers (1933) und Löschs (1962) gehen in Ansätzen auf die gesamtwirtschaftliche Orientierung von Thünens zurück und zielen auf eine umfassende Raumordnung ab, welche im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit gesamtgesellschaftlicher Ziele - vor allem bei der Wahl wirtschaftspolitischer Maßnahmen - auch soziale, kulturelle und andere außerökonomische Faktoren zu berücksichtigen hat.

2.1.2 Städtische Standorttheorie Auch die städtische Standorttheorie profitierte von den Arbeiten von Thünens. Unter ähnlich vereinfachenden Annahmen zeigten Park/Burgess/McKenzie (1925), daß sich für die städtische Nutzung des Bodens ebenfalls eine Ringtheorie entwickeln läßt. Mit Hilfe von Bodenpreis-Indifferenzfunktionen (abhängig von Fahrtkosten, Einkommen etc.) lassen sich nicht nur die Bodenpreise, sondern auch die Größe der Haushalte und die Entfernungen ihrer Grundstücke vom Zentrum bestimmen. Auf dieser Grundlage läßt sich ein Gleichgewicht auf dem Bodenmarkt ermitteln, in dem Flächenangebot und Flächennachfrage ausgeglichen sind. Die stark wachsenden Städte lieferten bereits Anfang der zwanziger Jahre ein reiches Betätigungsfeld für wissenschaftliche Untersuchungen. Im Zuge der aufkommenden Sozialökologie - hier ist vor allem die Chicago-Schule (um 1925) zu erwähnen - wurden umfangreiche empirische Analysen zur Erklärung typischer großstädtischer Sozialprobleme herangezogen. Der Entstehung von Subzentren wurde unter Einbeziehung soziologischer Faktoren und städtebaulicher sowie verkehrswissenschaftlicher Aspekte große Aufmerksamkeit gewidmet. Unter anderem wurde die Frage der optimalen Stadtgröße unter vorrangig soziologischen Gesichtspunkten erörtert. Eine geographische Akzentuierung der städtischen Standorttheorie ist bei Hoyt (1937) mit sei-

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ner geographischen Sektortheorie für Großstädte zu verzeichnen. Fernerhin sind für die moderne städtische Standorttheorie vor allem Alonso (1960) mit seiner Theorie der städtischen Bodennutzung sowie Muth (1969) hervorzuheben. Auch neuere Ansätze wie die „new urban economics" von Richardson (1977) greifen - kombiniert mit Elementen späterer Modelle, auf die noch einzugehen ist - auf die Grundzüge der traditionellen landwirtschaftlichen und städtischen Standorttheorie zurück. Daher unterstreicht von Böventer (1988a) die unumstrittene Bedeutung der klassischen Standorttheorien seit von Thünen: „Die landwirtschaftliche Standorttheorie von Thünens ist gleichzeitig Fundament und intakter Teilbau des heutigen Gebäudes der landwirtschaftlichen und städtischen Standorttheorie".

2.1.3 Industrielle Standorttheorie Abweichend von der bisherigen Betrachtungsweise ist die klassische industrielle Standorttheorie einzelwirtschaftlich ausgerichtet. Die Theorie der unternehmerischen Standortwahl (betriebswirtschaftliche Sichtweise) ist mikroökonomisch fundiert. Schäffle (Das gesellschaftliche System der menschlichen Wirtschaft, 1867) und Roscher (Studien über Naturgesetze, welche den zweckmäßigen Standort bestimmen, 1878) bemühten sich um die Ermittlung des optimalen industriellen Standorts. Launhardt erbrachte 1882 den Nachweis, daß der Standort einer industriellen Anlage von den Transportkosten abhängig ist und bestimmte unter einfachen Bedingungen einen Transportaufwandsminimalpunkt. Seine Überlegungen führten zu dem ersten theoretischen Modell eines Standortdreiecks. Unabhängig davon ermittelte auch Weber (1909) den Standort minimaler Transportkosten und analysierte diesen schließlich unter der Einbeziehung räumlich variierender Lohnhöhen und bestehender Lokalisationsvorteile. Unter der Annahme, daß Arbeits- und Transportkosten die wichtigsten standortbedingenden Faktoren seien, errechnete Weber den sogenannten tonnenkilometrischen Minimalpunkt, der approximativ besagt, daß bei überall gleichen Arbeits- und Kapitalkosten die Transportkosten zu minimieren sind. Darüber hinaus zeigte Weber, daß ein gemeinsamer optimaler Standpunkt verschiedener Unternehmen ermittelt werden kann. Sein deduktives Modell geht aus heutiger Sicht allerdings von wirklichkeitsfernen Bedingungen aus, besonders im Hinblick auf die einseitige Bestimmung der Transportkosten, die unbegrenzte Verfügbarkeit von Arbeitskräften und die Annahme einer konstanten Nachfrage (vgl. Schätzl 1988). In seiner „Theorie der Standortwahl" klassifiziert Meyer (1960) daher diesen Ansatz als technische Bestimmung des Standorts, die nicht in die allgemeine ökonomische Theorie eingebunden sei. Die nachfolgenden Versuche, das Weber-Modell der Wirklichkeit anzupassen und damit auch in die allgemeine Theorie einzubetten, was einer Annäherung der betriebswirtschaftlichen an eine gesamtwirtschaftliche Betrachtungsweise des Standortproblems gleichkommt, sind sehr vielseitig. Engländer (1924) versuchte mit der Theorie des Güterverkehrs und der Frachtsätze, sich dieser Aufgabe anzunehmen, indem er zwischen der Lehre vom Standort und der Lehre vom Markt unterschied. Preisbildung wurde in diesem Sinne als örtliche Angelegenheit betrachtet; die Standorttheorie wurde auf die-

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sem Wege zur Lehre von der örtlichen Bedingtheit in der Volkswirtschaft (vgl. Stavenhagen 1970). Auch wenn schließlich Ohlin (1933) erstmals explizit den Begriff der Region innerhalb seiner Theorie des interregionalen Handelns verwandte, so war es Ritsehl, der schon 1927 die ersten Konturen eines abgegrenzten, innerlich stark vernetzten Wirtschaftsgebietes herausarbeitete und auf der Grundlage des WeberModells die Lehre vom Wirtschaftskreis und der Dynamik des Standortes entwickelte. Im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums und des technischen Fortschritts, verbunden mit wachsendem Verkehr und zunehmender Arbeitsteilung, beobachtete Ritsehl in einem abgrenzbaren, durch starke Verflechtungen gekennzeichneten Wirtschaftskreis Bewegungen verschiedener Standorte. Diese erklärte er nicht nur mit Hilfe des statischen Weberschen Modells, sondern auch durch andere Phänomene, die er Elemente der Standortgravitation nannte. Damit waren nicht nur Grundrentenvorteile, sondern auch Steuer- und Zinsvorteile gemeint, die in die Kostenrechnung eines Unternehmens eingingen. Darüber hinaus begann Ritsehl, unter Berücksichtigung der Wirtschaftsstufentheorie, solche Phänomene in seine Überlegungen einfließen zu lassen, die im außerökonomischen Bereich lagen und sich nicht direkt in der betrieblichen Kostenrechnung niederschlagen (vgl. Stavenhagen 1970).

2.2 Annäherung einzel- und gesamtwirtschaftlicher Betrachtungen Den bedeutendsten Beitrag zur Integration von Standortlehre und allgemeiner Gleichgewichtstheorie leistete im Jahre 1925 Predöhl, der auf ein Prinzip der allgemeinen ökonomischen Theorie, die substitutionale Produktionsfunktion, zurückgriff, wonach ein bestimmter Produktionsfaktor durch einen anderen teilweise ersetzt werden kann. Predöhl interpretierte die Bewegung eines Betriebsstandortes zur optimalen Lage als einen solchen Substitutionsvorgang (vgl. Stavenhagen 1970 und Schätzl 1988). Bei ihren Bemühungen um die Entwicklung einer allgemeinen Theorie des räumlichen Gleichgewichts bezogen später auch Isard und von Böventer das Substitutionsprinzip in ihre Arbeiten ein. Einen weiteren Schritt in Richtung einer räumlichen Gleichgewichtstheorie unternahm auch Ohlin (1933), der Unterschiede in der Mobilität von Produktionsmitteln feststellte (ähnlich bei Weigmann, 1931, in seinen Ideen zu einer Theorie der Raumwirtschaft). Auf der Grundlage komparativer Vorteile, bezogen auf Regionen und deren verfügbarer Produktionsfaktoren, nahm er an, daß sich zwischen den Regionen ein Gleichgewicht bilden müsse (vgl. Stavenhagen 1970). In diesem Verständnis wurde die Außenhandelstheorie als eine internationale Standorttheorie gewissermaßen als interregionaler Spezialfall verstanden. Palander wies 1935 in seinen „Beiträgen zur Standortstheorie [sie]" nach, daß die Bedingungen der freien Konkurrenz bei einem Preisbildungsprozeß, der sich über mehrere Orte oder ein größeres Gebiet erstreckt, nicht mehr gegeben seien (Monopol- oder Oligopolbildung) und bemängelte, daß die Statik der Preisbildung und die Dynamik der Standortverschiebungen nicht miteinander vereinbar seien. Palander schlußfolgerte, daß eine allgemeine Gleichgewichtstheorie für den gesamten Wirtschaftsraum nicht aufzustellen sei. Festzuhalten bleibt, daß aufgrund der komplexen Problemlage auch in naher Zukunft nicht mit einer umfassenden Theorie der räumlichen Ordnung von Wirt-

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schaft und Gesellschaft zu rechnen ist. Gleichwohl sind die wissenschaftlichen Bemühungen darauf gerichtet, eine Integration verschiedener Ansätze und Theorien zu forcieren, um negative Entwicklungen in der räumlichen Wirtschafts- und Sozialstruktur rechtzeitig erkennen und durch den Einsatz raumwirtschaftspolitischer Maßnahmen vermeiden oder zumindest vermindern zu können (siehe hierzu auch Todt/Behnke 1994).

2.3 Landschaftsstrukturmodelle Lösch (1962) ging davon aus, daß das Standortproblem ohne Berücksichtigung von Konkurrenz und Nachfrage - und somit allein aus betriebswirtschaftlicher Sicht - nicht zu lösen sei und entwarf ein umfassendes Idealbild einer Wirtschaftslandschaft. Er vereinte Elemente bestehender Ansätze und schuf in Anlehnung an die landwirtschaftliche Standorttheorie ein System von Marktnetzen für den industriellen Sektor, was einem Versuch zur Erstellung einer räumlichen Gleichgewichtstheorie auf mikroökonomischer Basis gleichkommt. Lösch ging von einer homogenen Verteilung der Bevölkerung und der Produktionsfaktoren aus. Unter Vernachlässigung von Agglomerationsvorteilen, Faktorwanderungen und weiterer Größen folgerte er, das gesamte System müsse sich im Gleichgewicht befinden, wenn die nachfolgenden Bedingungen erfüllt sind (vgl. Lösch 1962, Schätzl 1988): • die Standortwahl erfolgt nach dem Prinzip der Gewinn- und Nutzenmaximierung, • der gesamte Raum ist mit Gütern zu versorgen, • es liegen vollkommene Konkurrenzbedingungen vor, • die Wirtschaftsräume sind möglichst klein zu definieren und • die Grenzen der Wirtschaftsräume entsprechen den Indifferenzlinien für Anbieter und Nachfrager. Aufgrund dieser Annahmen ließ sich ein Netz hexagonaler Marktgebiete mit unterschiedlichen Maschengrößen entwerfen. Lösch zeigte unter anderem, daß die Bildung von von Thünen'schen Ringen in einer industriellen Gesellschaft nicht zwingend ist. Er verstand sein Modell als industrielles Gegenmodell zu von Thünen. Das Marktnetz kann zur Erklärung der räumlichen Spezialisierung der Produktion herangezogen werden. Lösch hat selbst auf die Bedeutung von politischen Einflußfaktoren, räumlichen Produkt- und Preisdifferenzierungen, unterschiedlichen Frachtraten und Verkehrsbedingungen sowie auf die ungleiche Verteilung von Bevölkerung und Ressourcen und das Verhalten von Anbietern und Nachfragern hingewiesen. Lösch hat verschiedene Ansätze miteinander verknüpft und versucht, seine Aussagen empirisch zu untermauern. Später hat er durch die Analyse von Preisveränderungen und deren Auswirkungen auf die Ausdehnung der Absatzgebiete ein dynamisches Element in die Theorie der Marktnetze eingeführt. Entscheidend für die Aussage des Modells ist aber, daß „die Wirtschaftsgebiete als von wirtschaftlichen Grenzen umschlossene Markträume nicht das Ergebnis irgendwelcher natürlichen oder politischen Ungleichheiten", sondern „Folgeerscheinungen des Zusammenwirkens und Gegenspiels ökonomischer Kräfte" seien (Stavenhagen 1970).

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Trotz der Kritik an den restriktiven Voraussetzungen seines Modells hat Lösch wichtige Orientierungshilfen für regionalpolitische Entscheidungen gegeben (vgl. Schätzl 1988). Stavenhagen betont die grundlegende Bedeutung von Löschs Arbeiten für die Integration der Standorttheorie in die allgemeine Theorie; von Böventer schließlich betrachtet Lösch als Begründer der modernen Raumwirtschaftstheorie. Bereits einige Jahre vor Löschs räumlicher Ordnung der Wirtschaft entwarf Christaller (1933) das Hierarchische System zentraler Orte für den tertiären Sektor, das einige Parallelen zu Lösch (z.B. hexagonale R ä u m e als Versorgungsbereiche zentraler Orte) aufweist. Unter der Annahme, daß jedes Gut seine eigene Reichweite hat, was im wesentlichen auf Transportkosten zurückzuführen ist, hob Christaller den örtlichen Punktmarkt bewußt auf, schloß eine Spezialisierung des Angebots auf einzelne Standorte aus und entwickelte ein funktionales System mit unterschiedlicher Ordnung, in dem alle Orte gleicher Zentralität funktional identisch sind. Mit der geringstmöglichen Zahl an zentralen Orten sollten nach Christaller die räumlich gleichmäßig verteilten Kosumenten mit allen zentralen Gütern und Diensten zu versorgen sein. „ D e n Grundsatz, daß die Gesamtheit der individuellen Entscheidungen zu einer optimalen Versorgung der Gesellschaft führt, bezeichnete Christaller als Versorgungs- oder Marktprinzip" (Schätzl 1988). Werden dabei noch Verkehrsbedingungen und Verwaltungsstrukturen berücksichtigt, wird das System zwar erheblich komplexer, die hierarchische Struktur der zentralen Orte unterschiedlicher Zentralitätsstufen bleibt aber unter weitgehender Beibehaltung der vereinfachenden Bedingungen erhalten. Die Kritik am System zentraler Orte setzt denn auch bei den Vereinfachungen Christaliers an, denn seine Theorie „berücksichtigt weder die Agglomerationseffekte externer Ersparnisse noch die Wanderung mobiler Produktionsfaktoren, noch den interregionalen Güteraustausch. Es sind aber gerade die Agglomerations- und Mobilitätseffekte, die im Zuge des Industrialisierungsprozesses einer Volkswirtschaft die Bildung räumlicher Disparitäten verursachen. D e r Erklärungswert wird daher eingeengt, sektoral auf den Bereich der Versorgung der Bevölkerung mit zentralen Gütern und Diensten (tertiärer Sektor) und regional auf Gebiete, in denen die konzentrationsfördernden Agglomerationsvorteile keine Bedeutung besitzen" (Schätzl 1988). In diesem Zusammenhang sei auf Isards General Theory of Location and SpaceEconomy (1949) verwiesen, in der er unter Anwendung des Substitutionsprinzips versuchte, die regionale Variation von Preisen und Kosten zu erfassen und damit die Bedingungen des räumlichen Gleichgewichts zwischen den einzelnen Marktgebieten zu bestimmen (vgl. Stavenhagen 1970). Isard bezog auch andere Standortfaktoren (Agglomerationseffekte, Arbeitskosten etc.) in seine Überlegungen ein und gilt heute als der Begründer der weit über die Ökonomie hinaus greifenden Regional Science. Ähnliche Bedeutung für die Integration allgemeiner Standortmodelle und die Entwicklung einer allgemeinen räumlichen Gleichgewichtstheorie hat das Werk Lefebers „Allocation in space. Production, Transport and Industrial Location" (1958). Lefeber ging dabei von der kontinuierlichen Fläche mit unendlich vielen möglichen Standorten zu einem räumlich diskreten Modell mit endlich vielen Standorten über.

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2.4 Theorie des räumlichen Gleichgewichts Von Böventer entwarf 1962 auf der G r u n d l a g e der Modelle von Thünens, Löschs und Christallers eine umfassende Theorie des räumlichen Gleichgewichts. Es handelt sich um ein mikroökonomisches Totalmodell auf der Basis einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung, das das Gesamtsystem als hierarchisches System von Gleichgewichten auffaßt. Eine einzelne Wirtschaftseinheit befindet sich d a n n im Gleichgewicht, wenn sie sich unter gegebenen Verhältnissen rational verhält. Deshalb schenkt von Böventer dem Gleichgewicht der privaten und öffentlichen Haushalte, P r o d u k t i o n s u n t e r n e h m u n g e n und Banken b e s o n d e r e Beachtung. D a s Gesamtgleichgewicht liegt dann vor, wenn alle Teile eines Systems im Gleichgewicht sind, wie auch umgekehrt die einzelnen Wirtschaftseinheiten, O r t e und R e gionen sich erst dann im Gleichgewicht befinden, wenn das gesamte System das Gleichgewicht erreicht hat. Eine derartige Gleichgewichtssituation ist jedoch wegen mangelnder Realisationsmöglichkeiten der idealtypischen Voraussetzungen (z.B. vollkommene Konkurrenz, optimale Faktorkombination, optimale Konsumund Produktionsstruktur) nicht zu erreichen (siehe von Böventer 1962). Deshalb betonte von Böventer die B e d e u t u n g der Entwicklungsstufe einer Volkswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der (bisher vernachlässigten) raumdifferenzierenden Faktoren. D a r u n t e r fallen insbesondere die Transportkosten, die Mobilität von Input- und O u t p u t g ü t e r n , die Produktionsfaktoren sowie die internen und externen Ersparnisse. Interne Ersparnisse oder large scale economies sind im positiven Fall mit sinkenden Stückkosten verbunden und können einzelwirtschaftliche Konzentrationsprozesse begünstigen. Die externen Ersparnisse (Agglomerationsvorteile) werden unterteilt in localization economies - Lokalisationsvorteile, bedingt durch m e h r e r e Betriebe derselben Branche an einem Ort - und urbanization economies - Urbanisationsvorteile, bedingt durch m e h r e r e Betriebe verschiedener Branchen an einem Ort (siehe hierzu Ohlin 1933, H o o v e r 1937 und Isard 1956). In beiden Fällen kann es zu einer Senkung der Kosten oder zu einer Verbesserung der Absatz- bzw. Erlössituation k o m m e n (vgl. auch B ö k e m a n n 1982). Schätzl (1988) führt zu den raumdifferenzierenden Faktoren weiter aus, d a ß durch die Differenzierung der Mobilität der Arbeitskräfte in Wanderung u n d Pendelverkehr eine Beziehung zwischen Produktionsstandorten und Wohnorten hergestellt wird. Hinsichtlich der Abhängigkeit der Wirtschaft vom Produktionsfaktor Boden erfolgt eine Unterscheidung in Bodenleistungen f ü r produktive Z w e c k e (z.B. landwirtschaftliche Produktion, Bergbau, Standorte für Industriebetriebe und Infrastrukturanlagen) und Bodenleistungen für konsumtive Zwecke (z.B. Wohn- und Erholungsfunktion). Die Standortstruktur läßt sich aus dem Z u s a m m e n w i r k e n dieser raumdifferenzierenden Funktionen ableiten. D e r entscheidende Vorteil der Analyse von Böventers gegenüber statischen Modellen ist der Nachweis, d a ß das Gewicht der Faktoren vom Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft abhängt. Jedes Entwicklungsstadium weist eine charakteristische Standortstruktur auf (Schätzl 1988). Die B e d e u t u n g der raumdifferenzierenden Faktoren ist vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft abhängig (auch von außerökonomischen Faktoren) oder u m gekehrt: Auf jeder Entwicklungsstufe einer Volkswirtschaft lassen sich bestimmte raumdifferenzierende Faktoren ausmachen, welche charakteristisch für den Entwicklungsstand sind. A n h a n d dieser Faktoren kann man eine Volkswirtschaft

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zu jeder Zeit in Teilräume untergliedern. So ist eine agrarisch geprägte Gesellschaft im Vergleich zu einer Industriegesellschaft durch relativ geringe Mobilität und wenige Agglomerationsvorteile gekennzeichnet. Transportkosten und der Zeitaspekt der Raumüberwindung oder die Bodenqualität spielen hier eine andere Rolle als in einer Industriegesellschaft, in der Rohstoffe, Arbeitskräfte und die Infrastruktur höchste Priorität genießen. Haben etwa Agglomerationsvorteile der Industriegesellschaften im Gegensatz zu agrarisch geprägten Gesellschaften ein großes Gewicht, so lassen sich - zumindest bis zu einem gewissen Verdichtungsgrad - daraus auch bestimmte Konzentrationsprozesse erklären. Faktoren der räumlichen Differenzierung sind zugleich Indikatoren und Katalysatoren der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Sichtweise ist eng mit der Erklärung der Ursachen und Wirkungen regional differenzierten Wachstums sowie der Steuerungsmöglichkeiten von Entwicklungsprozessen verbunden.

2.5 Regionale Wachstumstheorien Von Böventer hat mit der Hervorhebung der raumdifferenzierenden Faktoren neue Impulse dafür gegeben, wie ein Gesamtraum - je nach Entwicklungsstand in verschiedene Teilräume untergliedert werden kann. Erst mit Hilfe raumdifferenzierender Faktoren kann ein Wirtschaftsraum als Industriewirtschaftsraum, Agrarwirtschaftsraum, zentralörtlicher Wirtschaftsraum, aber auch als Notstandsgebiet, Fördergebiet, Erholungsgebiet u.s.w. identifiziert werden. In diesem Sinne nimmt die Raumwirtschaftstheorie immer mehr den Charakter einer räumlichen Theorie der Wirtschaftspolitik an, welche auf ein Leitbild einer räumlichen Ordnung angewiesen ist. Dieses wiederum soll helfen, die Lebensverhältnisse in den Teilgebieten unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Ziele auszugestalten. Die Einführung der Raumdimension in die Regionalwissenschaften beinhaltet nicht nur die regional differenzierte Betrachtung gesamtwirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Phänomene, sondern auch die Interaktion von räumlichen Teilgebieten innerhalb eines Gesamtsystems (vgl. Stavenhagen 1970). Ungleiche Lebensverhältnisse in den Teilgebieten können mit Hilfe der raumdifferenzierenden Faktoren erklärt und somit auch den Maßnahmen einer steuernden Politik zugänglich gemacht werden. Ungleiche Lebensverhältnisse sind aber auch immer Ursache regional differenzierten Wachstums. Daher kommt dem regionalen Wirtschaftswachstum ebenfalls besondere Bedeutung zu. In Volkswirtschaften ohne Außenhandel ist es möglich, mit Hilfe makroökonomischer Methoden unter Berücksichtigung der sektoralen Struktur, des technischen Fortschritts u.s.w. das Wirtschaftswachstum zu bestimmen. Das Problem bei Wirtschaftsräumen mit interregionalen und internationalen Verflechtungen besteht darin, daß die Zunahme des realen Sozialprodukts durch externe Determinanten beeinflußt wird. Die interregionale Interaktion ist in erster Linie durch interregionale Faktorwanderungen und interregionale Mobilität der Güter und Dienstleistungen gekennzeichnet. Die raumdifferenzierenden Faktoren, zum Beispiel Agglomerationsvorteile, haben - wie von Böventer erkannte - wachstumssteigernde und wachstumshemmende Auswirkungen in den verflochtenen Regionen zur Folge. Die Zuwanderung mobiler Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital hat im allgemeinen ei-

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ne wachstumssteigernde Wirkung, wie umgekehrt deren Abwanderung als wachstumshemmend angesehen wird. Der interregionale Güteraustausch kann bei Ausnutzung der komparativen Kostenvorteile (intraregionaler Produktionsspezialisierung) der Regionen eine effizientere Allokation der Produktionsfaktoren bewirken und zu wachsender Exportnachfrage und Wachstumseffekten über die Nachfrage- und Angebotsseite führen. Von Böventer hat zwar deutlich gemacht, daß Standorttheorie und regionale Wachstumstheorie untrennbar miteinander verbunden sind und hat darüber hinaus selbst einen Integrationsansatz entwickelt; ein umfassendes Modell, in dem alle Determinanten des regionalen Wirtschaftswachstums enthalten sind, gibt es bislang jedoch nicht. Ein solches Modell, wollte es alle Einflußgrößen auf den regionalen Wachstumsprozeß erfassen, müßte nicht nur eine Vielzahl zum Teil schwer operationalisierbarer Variablen (z.B. das politische und soziale System, den technischen Fortschritt, die Sektoralstruktur), sondern darüber hinaus auch den Zeitfaktor berücksichtigen. Die bestehenden Ansätze zur Erklärung raumwirtschaftlich differenzierten Wachstums sind daher meist partieller Art. Während die neoklassische Wachstumstheorie das gesamtwirtschaftliche Wachstumsmodell durch räumliche Disaggregation auf regionale Wachstumsmodelle übertragen will, zielen andere Ansätze auf ein ungleichgewichtiges, kumulatives Wachstum ab, wie die Wachstumspoltheorie, oder erklären Entwicklungsprozesse mit Hilfe der Wirtschaftsstufentheorie.

2.5.1 Theorien regional gleichgewichtigen Wachstums Die neoklassische Theorie gleichgewichtigen regionalen Wachstums (vgl. Borts/ Stein 1964) berücksichtigt lediglich die Angebotsseite und geht unter anderem von vollkommener Konkurrenz und Mobilität der Produktionsfaktoren, Vollbeschäftigung, interregionalen Transportkosten von Null und von für alle Regionen identischen Produktionsfunktionen aus. In dem Modell existieren nur drei Variablen, nämlich die Wachstumsrate der Arbeit, die Wachstumsrate des technischen Wissens und der Anteil des Kapitals am Einkommen (vgl. Schätzl 1988). Unter Zugrundelegung substituierbarer Produktionsfaktoren wird erwartet, daß der Marktmechanismus und die Faktormobilität zu einem Ausgleich der regionalen Unterschiede des Pro-Kopf-Einkommens führen. Die Kritik an diesem Modell setzt an seinen vereinfachenden Bedingungen an. Die Realität ist, wie von Böventer betont, entscheidend von Agglomerationseffekten gekennzeichnet. Im neoklassischen Modell werden Mobilitätshemmnisse, Oligopol- und Monopolbildung vernachlässigt. Weitere Kritikpunkte sind die unzureichende Berücksichtigung der Nachfrageseite und die Tatsache, daß die interregionale Wanderung der Arbeitskräfte nicht nur vom Reallohn, sondern entscheidend von Lebenshaltungskosten, Wohn- und Freizeitwert sowie anderen Faktoren abhängt. Bei aller Berechtigung dieser Kritik konnte doch, wie Schätzl (1988) bemerkt, eine Theorie der Faktormobilität in die regionale Wachstumstheorie integriert werden, von der Elemente auch in Theorieansätze räumlich ungleichgewichtigen Wachstums eingegangen sind. Allgemeine postkeynesianische Wachstumsmodelle stellen das Problem unzureichender Nachfrage in den Vordergrund. Unter ähnlich einschränkenden Voraussetzungen wie die des neoklassischen Ansatzes soll ermittelt werden, unter wel-

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I. Grundlagen

chen Bedingungen die Nachfrage dem Angebot entspricht, sich also Wirtschaftswachstum im Gleichgewicht vollzieht (vgl. Klatt 1959). D o m a r (1946) und Harrod (1948) betonen die volkswirtschaftliche Ersparnis als entscheidende Determinante des Wirtschaftswachstums, die zu Investitionen in gleicher H ö h e führen soll. Die (Netto-)Investitionen schlagen sich, wie Keynes (1936) gezeigt hat, kurzfristig in einer Erhöhung des Einkommens (Einkommenseffekt), aber auch langfristig in einer Steigerung der Produktionskapazität (Kapazitätseffekt) nieder. Die genannten Effekte wurden von D o m a r und Harrod in Wachstumsmodellen verknüpft. Ein Gleichgewicht existiert demnach, wenn sich die genannten Effekte genau entsprechen, die Gesamtnachfrage also im gleichen Maße steigt wie die Produktionskapazität. Dieses Modell ist von Hirschman (1963) um den Komplementäreffekt erweitert worden. Nach Hirschman können Nettoinvestitionen einerseits zur Entstehung von Anschlußindustrien (Weiterverarbeitung) und andererseits zur Erhöhung der Nachfrage nach Gütern und Diensten in anderen Sektoren führen. „Wichtig ist, daß Komplementäreffekte in anderen Wirtschaftsbereichen nicht nur zu positiven internen und externen Ersparnissen sowie zu einer besseren Auslastung der Produktionsfaktoren führen können. Sie können auch einzelwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Kosten verursachen, indem sie Agglomerationsnachteile und eine Unterbeschäftigung lokaler Ressourcen bewirken" (Schätzl 1988). Klatt (1959) analysierte die räumlichen Auswirkungen der Komplementäreffekte, und Schmidt (1966) gelangte über die Untersuchung der räumlichen Wirkungen von Investitionen zu einer Einteilung zwischen Wachstums-, Entleerungs-, Stationär- und Indifferenzgebieten. Besondere Beachtung verdienen die Einkommens- und Multiplikatoreffekte, die von den Exporten ausgehen. Kann die Angebotsseite auf wachsende interregionale Nachfrage reagieren, so fällt den exportierbaren Gütern eine zentrale Rolle (Basis) zu, denn durch sie kann die wirtschaftliche Aktivität einer Region in starkem Maße stimuliert und multiplikativ wirksam werden. Diese sogenannte Exportbasis-Theorie (Duesenberry 1950, North 1955) vernachlässigt allerdings die Angebotsstruktur und erklärt das regionale Wirtschaftswachstum analog zur klassischen Außenhandelstheorie. Die Expansion der interregionalen Nachfrage ist in diesem Fall die entscheidende Determinante intraregionalen Wachstums. G r o b umschrieben führt der zunehmende Export bestimmter Rohstoffe in weiterentwickelte Regionen in der exportierenden Region zu einer Einkommenserhöhung, die einen weiteren Ausbau der Exportbasis zur Folge hat (Aufbau einer exportorientierten Infrastruktur). Dazu werden Güter und Dienstleistungen benötigt, die sowohl aus der eigenen Region als auch aus anderen Regionen stammen können. D a n e b e n werden in der exportierenden Region, vor allem aufgrund steigender interner und externer Ersparnisse, neue Betriebe gegründet und bestehende erweitert. Vor allem die Erweiterungen bestehender Betriebe bringen interne Ersparnisse, erhöhen die Konkurrenzfähigkeit am außerregionalen Markt und ermöglichen schließlich auch den Export von Industriegütern, erweitern also die Export-Basis und erhöhen das Regionaleinkommen. Langfristig wird mit einem Ausgleich regionaler Einkommensunterschiede gerechnet. Die Kritik an diesem Modell richtet sich nicht nur gegen die Vernachlässigung des tatsächlich vorhandenen Produktionspotentials einer Region, sondern auch gegen die einseitige Ausrichtung an der interregionalen Nachfrage. Intraregionale Faktoren wie der technische Fortschritt oder staatliche Investitionen finden

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keine Berücksichtigung. Interne Wachstumsfaktoren determinieren aber gleichzeitig die Nachfrage für a n d e r e Regionen. Die interregionale Nachfrage ist von den Beziehungen der Regionen untereinander und d e m G r a d der interregionalen Arbeitsteilung abhängig, was im vorliegenden Modell nicht ausreichend berücksichtigt wird.

2.5.2 Polarisationstheoretische Ansätze Im Gegensatz zu gleichgewichtigen Erklärungsansätzen geht die Polarisationstheorie davon aus, daß bestehende Ungleichgewichte einen Entwicklungsprozeß in G a n g setzen, der diese Ungleichgewichte sogar noch verstärkt. In diesem Sinne k ö n n e n Modelle sektoraler Polarisation und Modelle regionaler Polarisation unterschieden werden. Als B e g r ü n d e r sektoraler Modelle gilt Perroux, der in A n l e h n u n g an Schumpeter (1964) betont, daß wirtschaftliches Wachstum generell sektoral unterschiedlich verlaufe. D a b e i spielt die m a r k t f ü h r e n d e Stellung innovativer, stark wachsender Betriebe oder Branchen die entscheidende Rolle. Diese motorischen Einheiten (Perroux 1964) üben als sektorale Wachstumspole aufgrund ihrer ü b e r r a g e n d e n Marktstellung (Oligopole) wesentlichen Einfluß auf abhängige U n t e r n e h m e n aus, die sie in ihrer Entwicklung entweder positiv, effets d'entrainement, oder negativ, effets de stoppage, beeinflussen können. Ihre Machtstellung und erhebliche interne und externe Ersparnisse verstärken laut Perroux den Prozeß sektoraler Polarisation im funktionalen System, das durch intensive Verflechtungen gekennzeichnet ist. Myrdal und Hirschman gelten als die Begründer der regionalen Polarisationstheorie. Myrdal geht von einem marktwirtschaftlichen System aus, das von starker I n t e r d e p e n d e n z ökonomischer Faktoren gekennzeichnet ist und formuliert ein Entwicklungsgesetz, wonach d e m „freien Spiel der Kräfte eine Tendenz zu regionaler Ungleichheit inhärent ist" (Myrdal 1972). E r formulierte bereits 1957 die Hypothese der zirkulären Verursachung eines kumulativen sozioökonomischen Prozesses. Im Zusammenspiel können die miteinander verflochtenen ökonomischen Faktoren entweder einen kumulativen Schrumpfungsprozeß oder einen kumulativen Wachstumsprozeß auslösen, wobei zentripetale Entzugseffekte u n d zentrifugale Ausbreitungseffekte unterschieden werden. Die A b w a n d e r u n g eines U n t e r n e h m e n s äußert sich zunächst in Arbeitslosigkeit und sinkender Nachfrage im b e t r o f f e n e n Gebiet. Abhängige oder teilweise abhängige Betriebe (Zulieferer) sind nicht m e h r voll ausgelastet und müssen ihre Produktion drosseln, A r b e i t s k r ä f t e entlassen und im schlimmsten Fall den Produktionsstandort aufgeben. D a n e b e n sinkt das S t e u e r e i n k o m m e n der Gemeinde. Etwaige E r h ö h u n g e n der Steuersätze k ö n n e n zu weiteren A b w a n d e r u n g e n von ansässigen U n t e r n e h m e n führen. Durch diese Spirale verschlechtern sich die Standortbedingungen immer weiter: junge A r b e i t s k r ä f t e wandern z u n e h m e n d ab, während öffentliche Investitionen sinken. Zusätzlich wird diese Entwicklung von solchen Regionen beeinflußt, in denen sich - etwa durch Gewerbeansiedlung - der zirkuläre Prozeß in die a n d e r e Richtung vollzieht (Zentrifugaler Ausbreitungseffekt), denn diese Regionen üben einen Sogeffekt auf mobile Produktionsfaktoren der erstgenannten Region aus: dadurch schreitet die räumliche Differenzierung weiter voran. Dieser Erklärungs-

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ansatz macht besonders die Notwendigkeit staatlicher Raumwirtschaftspolitik und R a u m p l a n u n g deutlich. Parallel zu den beiden kurz skizzierten Ansätzen ging Hirschman (1963) - ähnlich wie Perroux - davon aus, d a ß interregional und international ungleichgewichtiges Wachstum unvermeidlich ist. Allerdings bewertete Hirschman die erwähnten Gegenkräfte (politische M a ß n a h m e n und Agglomerationsnachteile) stärker als Perroux und kam d a h e r zu a n d e r e n Ergebnissen im Bereich der regionalen Disparitäten, insbesondere in bezug auf das regionale P r o - K o p f - E i n k o m m e n . Nach Hirschman bewirken die ökonomischen und politischen G e g e n k r ä f t e kurzfristig regionale Ungleichheiten, langfristig aber, d a ß die Ausbreitungseffekte die Entzugseffekte ü b e r t r e f f e n u n d es auf diesem Weg zu einem räumlichen Gleichgewicht k o m m e n kann. Kritisch a n z u m e r k e n bleibt, daß diese Ansätze zwar räumliche Ungleichgewichte beschreiben und analysieren, aber Aussagen über künftige Auswirkungen auf den räumlichen Differenzierungsprozeß nicht zulassen (vgl. Kaldor 1970).

3.0 Raumwirtschaftspolitische Grundlagen Wie zu Beginn dargelegt, stellt die Raumwirtschaftspolitik neben der Raumwirtschaftstheorie eine weitere wesentliche K o m p o n e n t e der Raumwirtschaftslehre dar. Eine Unterscheidung in Theorie u n d Politik erfolgt im wesentlichen aus analytischen G r ü n d e n u n d in Anlehnung an die Unterscheidung in Volkswirtschaftstheorie und Volkswirtschaftspolitik. Die Trennung beider Bereiche entwickelte sich im L a u f e der Zeit zu einer inhaltlichen Isolation zwischen abstrakter Theorie und theorieloser Politik. „Die Theorie glaubte, [...] eine Eigendynamik entfalten zu können, o h n e auf politische U m setzungsmöglichkeiten noch Rücksicht n e h m e n zu müssen; und die Politik entwickelte ebenfalls eine Eigendynamik, ohne sich jedoch um eine theoretische Absicherung zu b e m ü h e n " (Glastetter 1992). D e r Versuch einer Z u s a m m e n f ü h r u n g von Theorie und Politik m ü n d e t bei Keynes (John N., 1891) in die sogenannte normative science, die Erklärungsansätze hinsichtlich einer U m s e t z b a r k e i t der Theorie und, umgekehrt, hinsichtlich der theoretischen F u n d i e r b a r k e i t der Politik thematisiert. O b w o h l Keynes die massiven Verflechtungen zwischen Theorie und Politik deutlich herausstellt, geht er nicht so weit, Wirtschaftspolitik als angewandte Wirtschaftstheorie zu bezeichnen, da er allgemeine Wirtschaftspolitik - weit über d e n ökonomischen Horizont hinaus - als eine K o m p o n e n t e gesamtgesellschaftlicher Entwicklung begreift (vgl. A d a m 1992). Allgemeine Wirtschaftspolitik, als Konglomerat konjunktur-, geld-, außenwirtschaftlicher und vieler anderer politischer Aktionsbereiche, setzt immer auch die Kenntnis disziplinübergreifender politischer G r u n d s a t z p r o b l e m e (vgl. Ahrns/Feser 1987) u n d ordnungspolitischer Handlungsmöglichkeiten voraus. In Analogie gelten diese Überlegungen für die Verzahnung von Raumwirtschaftstheorie und Raumwirtschaftspolitik sowie für die R a u m p l a n u n g und die Raumordnung.

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3.1 Zum Begriff der Raumwirtschaftspolitik Die Vernachlässigung der räumlichen Dimension der Wirtschaftswissenschaft erstreckt sich nicht nur auf die E b e n e der Theorie, sondern zeigt sich in Anbetracht der vielfältigen Wechselbeziehungen auch im Bereich der Wirtschaftspolitik. Auf die B e d e u t u n g raumdifferenzierender Faktoren für die Wirtschaftstheorie ist bereits eingegangen worden. Insofern ergibt sich fast zwangsläufig die Feststellung, d a ß „eine Vielzahl raumdifferenzierender exogener und endogener Einflußgrößen Ballungs- und Entleerungsgebiete ausprägen und zu einem Nebeneinander regional stark konzentrierter und räumlich weit gestreuter wirtschaftlicher Aktivitäten f ü h r e n " (Jürgensen 1988). Raumorientierte Wirtschaftspolitik m u ß insofern regional unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen berücksichtigen. Unter Struktur versteht man im allgemeinen den inneren A u f b a u einer komplexen Einheit (Eckey 1978) bzw. das innere G e f ü g e einer aus unterschiedlichen Elementen bestehenden Einheit (Klaus/Schleicher 1983). D e r Strukturbegriff stellt auf Teilaggregate im Verhältnis zum Gesamtaggregat ab (Molitor 1992); unter der räumlichen Struktur einer Volkswirtschaft wird d e m e n t s p r e c h e n d die Unterteilung in regionale Einheiten verstanden. D a zwischen diesen Teilräumen wirtschaftsstrukturelle Unterschiede bestehen, werden auch räumlich differenzierte Wirtschaftsprozesse ausgelöst, deren Steuerung im Mittelpunkt des raumwirtschaftspolitischen Interesses steht. Diesbezüglich m u ß festgestellt werden, „daß es im G r u n d e keine r a u m n e u t r a l e n Instrum e n t e der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik gibt, politische Entscheidungsträger zwar praktisch seit langem einen Einfluß auf die räumliche Verteilung von A n g e b o t und Nachfrage ausüben, dies aber nicht d a r ü b e r hinwegtäuschen darf, daß regionale Wirtschaftspolitik als bewußtes raumorientiertes Handeln erst jüngeren Datums ist" ( F ü r s t / K l e m m e r / Z i m m e r m a n n 1976). Damit ist aber die Notwendigkeit raumwirtschaftspolitischen Handelns, die Schneider (1968) nachweisen konnte, keineswegs in Frage gestellt. Raumwirtschaftspolitik (auch Regionale Wirtschaftspolitik, Regionalpolitik) „läßt sich definieren als die S u m m e aller Bestrebungen, M a ß n a h m e n und Handlungen, welche die Stimulation und Lenkung von Entwicklungen in der räumlichen Verteilung ökonomischer Aktivitäten verfolgen" (Jürgensen 1988). Diese weit gefaßte begriffliche Abgrenzung läßt in A n b e t r a c h t unterschiedlicher Problemstellungen n a t u r g e m ä ß einen großen Spielraum für problemspezifische Interpretationen. Klaus und Schleicher (1983) begreifen „Raumwirtschaftspolitik als die wirtschaftliche Dimension der räumlichen Strukturpolitik, wobei raumwirtschaftspolitischen M a ß n a h m e n wegen des großen Gewichts ökonomischer Zielsetzungen eine b e s o n d e r e Bedeutung z u k o m m t " . Fürst, Klemmer und Zimm e r m a n n (1976) bezeichnen regionale Wirtschaftspolitik „als eine Erscheinungsform der wirtschaftlichen Strukturpolitik, die sich auf die bewußte Beeinflussung von Teilgebieten der Volkswirtschaft zur besseren Durchsetzung gesamtwirtschaftlicher Zielsetzungen konzentriert" (vgl. auch Eckey 1978). Sie heben weiter hervor, daß es sich bei der regionalen Strukturpolitik nicht um eine Wirtschaftspolitik für eine bestimmte Region, sondern um die Berücksichtigung regionaler Besonderheiten zur Effizienzverbesserung der gesamtwirtschaftlich orientierten Politik handelt. D e m g e g e n ü b e r wendet Cohnitz (1981) ein, d a ß eine Regionalpolitik, die nur als Teil der Gesamtwirtschaftspolitik verstanden wird, sich der G e fahr aussetzt, durch eine ungleichgewichtige Entwicklung ökonomischer R a u m -

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strukturen den Zielvorgaben der Gesellschaftspolitik, deren integrierter Bestandteil sie ebenfalls ist, nicht gerecht zu werden. Tendenziell zeichnen sich in der raumwirtschaftspolitischen Diskussion zwei Strömungen ab: Auf der einen Seite wird das endogene Entwicklungspotential der Regionen in den Vordergrund gestellt, hier geht es also um die Regionalisierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik; auf der anderen Seite wird eine regional gezielte Wirtschaftspolitik favorisiert, die in der Regionalpolitik als wirtschaftliche Dimension der Raumordnung (Jürgensen 1988) angesehen wird. Dementsprechend verfolgen beide Strömungen unterschiedliche Zielsetzungen mit unterschiedlichen Instrumenten.

3.2 Akteure und Ebenen der Raumwirtschaftspolitik N e b e n diesen unterschiedlichen Interpretationen zeigt die Vielzahl von Akteuren und Ebenen der Raumwirtschaftspolitik zwei Problemebenen auf: die Notwendigkeit der internen und externen Koordination. A k t e u r e der Raumwirtschaftspolitik sind die Personen oder Institutionen, die an der Planung, der Auswahl und der Durchführung geeigneter raumwirtschaftspolitischer Maßnahmen beteiligt sind. Neben sogenannten Ein-Personen-Entscheidungen sind für die Raumwirtschaftspolitik insbesondere kollektive Entscheidungen (z.B. in parlamentarischen Gremien) bedeutsam. Auf den Ebenen der Europäischen Union, des Bundes und der Länder sowie der Regierungsbezirke und Kommunen bis hin zu den Gemeindeverbänden werden neben Einzelentscheidungen vor allem kollektive raumwirtschaftspolitische Beschlüsse gefaßt. Tragfähige Raumwirtschaftspolitik erfordert somit die Herausbildung von Mehrheiten in den Entscheidungskollektiven (interne Koordination). Neben den staatlichen Trägern der Raumwirtschaftspolitik (vor allem öffentliche Gebietskörperschaften; Bund, Länder, Kommunen) engagieren sich private Unternehmen sowie private Interessenverbände, aber auch halböffentliche Institutionen wie etwa Energieversorgungsunternehmen. Die Vielzahl der Ebenen und der öffentlichen Träger zeigt somit die Notwendigkeit einer externen Koordination auf: die Abstimmung von ursprünglich autonomen Entscheidungen. Da jeder Teilraum für sich Teil eines Gesamtraumes und gleichzeitig in kleinere Teilr ä u m e zerlegbar ist, ergibt sich ein vertikales Koordinationsproblem der unterund übergeordneten Ebenen. Darüber hinaus ist in der Regel auch eine horizontale Koordination notwendig, um etwa Interessenkonflikte verschiedener Ressorts, die raumwirtschaftliche Aktivitäten planen, zu beheben (vgl. Eckey 1978) oder konkurrierende Interessen zwischen Teilräumen zum Wohl der Gesamtwirtschaft zu befriedigen (Velsinger 1971). Die Probleme raumwirtschaftspolitischer Koordination lassen sich an der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren veranschaulichen. Mit ad hoc orientierten Einzelmaßnahmen zur B e k ä m p f u n g der Arbeitslosigkeit, vornehmlich in den damaligen Notstandsgebieten, wurden erstmals räumlich konzentrierte staatliche Anstrengungen der Wirtschaftspolitik untern o m m e n . Diese A b w e n d u n g vom „Gießkannenprinzip" vollzog sich jedoch nicht nur in den „Zonenrandgebieten" und landwirtschaftlich geprägten Regionen. Die Bundesländer selbst initiierten einen „Wettbewerb der Regionenförderung", indem sie eigenständig regionale Förderprogramme entwickelten, die allerdings

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weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Aus der Notwendigkeit für eine Abstimmungsinstanz wurde 1972 die Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur auf der Basis eines 21 Aktionsprogramme koordinierenden Rahmenplans institutionalisiert. Über die Erfolgsbilanz der Gemeinschaftsaufgabe, die bis in die 80er Jahre zentrales Organ der deutschen Regionalpolitik war, wird auch heute noch kontrovers diskutiert. Zum einen wird die Auffassung vertreten, daß sie wenig Erfolg gehabt habe, da bestehende räumliche Disparitäten nicht im gewünschten Maß ausgeglichen werden konnten, das Entstehen neuer Strukturschwächen nicht verhindert wurde (vgl. Hardt 1991) und die Regionalpolitik grundsätzlich reformbedürftig sei. Zum anderen wird bemängelt, daß die Gemeinschaftsaufgabe nur halbherzig angegangen worden und demzufolge eine Kompetenz- und Aufgabenerweiterung erforderlich sei. In der Kontroverse ist somit das Spannungsfeld zwischen den gesamträumlich orientierten Zielvorstellungen auf der Ebene der Gemeinschaftsaufgabe und den eigenständigen Zielen der Länder unverkennbar (Jürgensen 1988).

3.3 Ziele und Zielkonflikte der Raumwirtschaftspolitik Entsprechend der Vielzahl der raumwirtschaftspolitischen Akteure haben sich Fürst, Klemmer und Zimmermann (1976) nachhaltig mit den Zielsetzungen der regionalen Wirtschaftspolitik befaßt und fordern: „Regionale Wirtschaftspolitik ist [...] der umfassende Versuch, die zu beobachtenden Divergenzen zwischen den angestrebten Soll- und den zu erwartenden Ist-Werten der einzelnen Teilgebiete abzubauen. Dies impliziert die ausdrückliche Formulierung von Zielen für die regionalisierte Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik". Der Prozeß der Zielfindung und die Ableitung geeigneter Zielsysteme unter Berücksichtigung vertikaler und horizontaler Zielordnungen stand zu Beginn der „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" noch in seinen Anfängen. Obwohl die Frage der Formulierbarkeit umfassender und konsistenter Zielsysteme in der Literatur umstritten ist, sprechen Fürst, Klemmer und Zimmermann (1976) von der grundsätzlichen Notwendigkeit der Konzeption eines Zielsystems, das der gesellschaftspolitischen Ausrichtung der Raumordnungspolitik im Rahmen eines Raumordnungsprogramms zugrunde liegen sollte. Die Formulierung von operationalen Zielindikatoren erfolgt dann in Form einer Einengung auf drei Teilziele der regionalen Wirtschaftspolitik, namentlich das wirtschaftliche Wachstum, die Stabilisierung des jeweils erreichten materiellen Wohlfahrtsniveaus und die Forderung nach Abbau der interregionalen Unterschiede im materiellen Aktivitätsspielraum (Verteilungsziel). Als Begründer dieser Dreiteilung, die sich in der Literatur durchgesetzt hat, werden Giersch und Schneider (1968) angesehen. Klaus und Schleicher (1983) reduzieren das Zielsystem demgegenüber auf die Sicherung einer angemessenen Lebensqualität in allen Teilräumen. Währenddessen stellen Ahrns und Feser (1987) die Sicherung und Förderung künftigen Wachstums bei gleichzeitiger sozialer Absicherung der vom Strukturwandel Betroffenen als generelles Ziel der Strukturpolitik heraus, folgen in bezug auf die regionale Strukturpolitik jedoch dem Ansatz von Giersch und Schneider. Nach Jürgensen (1988) läßt sich das Wachstumsziel (Maximierung des Bruttosozialprodukts in der gesamten Volkswirtschaft durch die wachstumsoptimale Fak-

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torallokation im R a u m ) der Regionalisierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik zuordnen. „Die Verfolgung des Wachstumsziels schließt auch die Möglichkeiten einer passiven Sanierung ( G e s u n d s c h r u m p f e n ) ein, worunter die A b w a n d e r u n g von A r b e i t s k r ä f t e n aus wirtschaftsschwachen Problemgebieten verstanden wird, die eine Anpassung an die aktuelle Tragfähigkeit einer Region bedeutet und so das durchschnittliche P r o - K o p f - E i n k o m m e n der Verbleibenden steigert." D a s Gegenstück hierzu bildet das Konzept der aktiven Sanierung, das nach Jürgensen (1988) ein wichtiger Bestandteil des Verteilungsziels ist. Analog zur passiven Sanierung setzt die aktive Sanierung eine ausreichende A n g e b o t s m e n g e im Hinblick auf Einkommenerzielungsmöglichkeiten, Wohnwerte, nicht transportierbare Dienstleistungen und natürliche Umweltwerte voraus (siehe Fürst/Klemmer/ Z i m m e r m a n n 1976). Im Sinne einer wirtschaftlichen Dimension der R a u m o r d nung konzentriert sich das raumwirtschaftspolitische Interesse vorrangig auf den Ausgleich regionaler Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung (vgl. Jürgensen 1988), wobei die Bemühungen primär darauf abzielen, Abweichungen des regionalen Entwicklungsniveaus vom Bundesdurchschnitt zu minimieren. Fürst, K l e m m e r und Z i m m e r m a n n (1976) sprechen in diesem Z u s a m m e n h a n g von einer Kongruenz zwischen Ausgleichs- u n d Nivellierungspolitik. D a s raumwirtschaftspolitische Stabilitätsziel bezieht sich in erster Linie auf die Stabilität der Beschäftigung. Jürgensen (1988) stellt in bezug auf das Stabilitätsziel die Reduktion konjunktureller u n d struktureller Anfälligkeiten in den einzelnen Gebieten einer Volkswirtschaft in den Vordergrund. Sektorale Diversifikation und verstärkte Ansiedlungsbemühungen zugunsten von Branchen mit überdurchschnittlichen Wachstumschancen sieht er als notwendige Bestandteile einer sowohl kurz- als auch langfristig erfolgreichen Stabilisierungspolitik an. Für Fürst, Klemmer und Z i m m e r m a n n (1976) konzentriert sich das Stabilisierungsanliegen der regionalen Wirtschaftspolitik vor allem auf die ökonomische Existenzabsicherung der in den einzelnen Teilgebieten lebenden Menschen. In A n betracht geringer Preisunterschiede für G ü t e r und Dienstleistungen über die einzelnen Teilgebiete einer Volkswirtschaft hinweg engen sie das Stabilisierungsziel jedoch auf die oben a n g e f ü h r t e Absicherung der Einkommenerzielungsmöglichkeiten ein. Die a n g e f ü h r t e n drei Zielgrößen lassen sich in Abhängigkeit spezifischer Fragestellungen durch weitere K o m p o n e n t e n erweitern bzw. untergliedern. Für die E r ö r t e r u n g der grundsätzlichen Zielproblematik reicht diese Klassifikation jedoch aus. Wie bei jeder Politik ist auch bei der Raumwirtschaftspolitik die Erörterung der Zielbeziehungen, insbesondere die Aufdeckung von Zielkonflikten, Voraussetzung für eine effiziente Politik. E i n e gesamtwirtschaftliche Betrachtung der Zielbeziehungcn zeigt, daß zwischen Wachstum und Stabilität ein Konfliktpotential existiert, das sich ebenfalls bei einer raumwirtschaftlichen Analyse von Teilräumen wiederfindet. Wachstum setzt generell Strukturwandlungen voraus; diese bedingen unter a n d e r e m sektorale und regionale Mobilität des Arbeitskräftepotentials. Wird das Wachstumsziel zu stark in den Vordergrund gerückt, so wird eine relativ hohe Instabilität der Arbeitsplätze die Folge sein, so daß sich schließlich für das Wachstumsziel selbst negative E f f e k t e ergeben können. Mißt m a n statt dessen d e m Stabilitätsziel zu starke B e d e u t u n g bei, d.h., wird der Arbeitsplatzerhalt übermäßig betont, so sind Strukturwandel und damit das Wachstum gefährdet.

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Auch zwischen Wachstums- und Verteilungsziel besteht ein Konfliktpotential. Geht man davon aus, daß ein möglichst hohes Wachstum räumliche Konzentration voraussetzt, dann wird hierdurch eine gleichmäßige Verteilung über den Raum ausgeschlossen. Schließlich kann auch zwischen dem Ziel der regionalen Stabilität und der regionalen Verteilung ein Konflikt bestehen. Dies wird dann der Fall sein, wenn bereits unausgewogene Verteilungen existieren, und die Stabilitätspolitik ausschließlich auf das Erhalten des gegenwärtigen Zustandes gerichtet ist. Für die personelle Komponente des Verteilungsziels ist festzustellen, daß Wachstum den Ausgleich von Einkommensunterschieden erleichtern kann. Liegt kein Wachstum vor, so wird es nur sehr schwer möglich sein, das Volkseinkommen umzuverteilen. Insofern existieren zwischen den Zielgrößen also auch Harmoniebeziehungen. Die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel weist allerdings darauf hin, daß diese Zielharmonie nur bei einer konzentrierten Ausgestaltung des raumwirtschaftspolitischen Instrumentariums besteht, die zumindest für die Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben sei (vgl. Jürgensen 1988). Welche Ziele in der Praxis vorrangig verfolgt werden sollen, kann letztlich nur durch einen politischen Willensbildungsprozeß entschieden werden.

3.4 Instrumentale Ausstattung der Raumwirtschaftspolitik In der Diskussion um den Einsatz raumwirtschaftspolitischer Instrumente spiegelt sich nicht nur die hohe Komplexität dieses Politikbereiches wider, sondern auch die aus dieser Komplexität resultierende Entscheidungsunsicherheit hinsichtlich der Wahl des jeweils adäquaten Instrumentes. Die (raum-)wirtschaftspolitisch ausgerichtete Literatur bietet eine Fülle von Instrumentenkatalogen, die sich mehr oder weniger stark in ihrer Quantität und Qualität unterscheiden. Die vorhandenen Ansätze lassen sich nur schwer systematisieren. Unterscheidungsmerkmale beziehen sich etwa auf die Zielkonformität, die Dosierung bzw. Eingriffsintensität des Instrumenteneinsatzes, den Beeinflussungsgrad, das zugrunde liegende Wirtschaftssystem bzw. die Staatsverfassung und den Informationsstand hinsichtlich möglicher Handlungsalternativen. In Anbetracht der weitreichenden Differenzierungen bietet sich für eine Systematisierung bzw. Klassifizierung der Ansätze zunächst die Erfassung der Gemeinsamkeiten an. Diesbezüglich ist festzustellen, daß sich in marktwirtschaftlich organisierten Systemen für die Raumwirtschaftspolitik die Kriterien der allgemeinen Wirtschaftspolitik anwenden lassen (vgl. Jürgensen 1988) respektive angewandt werden müssen. Dies resultiert aus dem Tatbestand, daß regionale Wirtschaftspolitik als regionalisierte Wirtschaftspolitik verstanden werden kann, wobei Regionalisierung sich nicht nur auf die Ziele und Träger, sondern auch auf den Mitteleinsatz beziehen kann. „Der einzige Unterschied besteht darin, daß primär solche Instrumente bevorzugt werden, die sich durch einen engeren räumlichen Wirkungsbereich auszeichnen. [...] Es handelt sich somit um die Bevorzugung von Maßnahmen, von denen räumliche Polarisierungseffekte ausgehen, und damit im Grunde um Instrumente, die der Lokalisation von Arbeitsplätzen und Dienstleistungseinrichtungen dienen" (Fürst/Klemmer/Zimmermann 1976). Dementsprechend decken sich die Gliederungskriterien der allgemeinen Wirtschaftspolitik mit denen der Raumwirtschaftspolitik; die Instrumente lassen sich allgemein den Bereichen Ordnungspolitik und Ablaufpolitik (Prozeßpolitik) zu-

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I. Grundlagen

o r d n e n . Staatliche (räumliche) Wirtschaftspolitik ist u n t e r das Primat der O r d nungspolitik gestellt, d.h., jede wirtschaftspolitische Tätigkeit sollte zunächst auf die Gestaltung der O r d n u n g s f o r m e n der Wirtschaft gerichtet sein, nicht aber auf die L e n k u n g des Wirtschaftsprozesses. Eingriffe in den Wirtschaftsprozeß werd e n im G r u n d e als entbehrlich angesehen (vgl. Ahrns/Feser 1987) und sollten auf unvermeidliche Notwendigkeiten beschränkt bleiben. Regionale Wirtschaftspolitik hat nach Fürst, K l e m m e r und Z i m m e r m a n n (1976) als Ordnungspolitik dabei keine klar quantifizierte Vorstellung von dem anzustrebenden Regionalgefüge, s o n d e r n erwartet, daß sich aus bestimmten R a h m e n b e d i n g u n g e n ein raumwirtschaftlicher Z u s t a n d ergibt, der als optimal angesehen werden kann; demgegenüber geht die Ablaufpolitik von der Durchsetzung eines ganz bestimmten Regionalgefüges aus, das den Vorstellungen der verteilungspolitischen Anliegen entspricht. U n t e r Berücksichtigung dieser Grundsätze folgt die Systematisierung des raumwirtschaftspolitischen Instrumentariums bei Eckey (1978) einer Dreiteilung in Ordnungspolitik, prozeßpolitische Mittel und direkte Lenkung. Klaus und Schleicher (1983) unterscheiden zwischen Zwangsmaßnahmen, Informationsinstrumenten und finanziellen Instrumenten, wobei letztere in Anreiz- u n d Abschreckungsmittel sowie Aufwendungen für die Infrastruktur untergliedert werd e n . Auch bei Jürgensen (1988) findet sich eine Dreiteilung, die sich aus imperativer, informativer und konduktiver Raumwirtschaftspolitik ergibt. U n t e r imperativer Raumwirtschaftspolitik subsumiert Jürgensen die vollständige Planung der regionalen Wirtschaftsstruktur u n d die Festlegung der Betriebsstandorte durch die staatlichen Träger der Regionalpolitik. Die informative Regionalpolitik b e m ü h t sich u m die E r h a l t u n g und F ö r d e r u n g eines funktionsfähigen Wettbewerbs u n d die E r h ö h u n g der Markttransparenz durch staatliche Informationsverbreitung. Die konduktive Raumwirtschaftspolitik - wie sie in der Bundesrepublik Deutschland praktiziert wird - ergibt sich aus einer Mischung imperativer und informativer Ansätze, wobei daran erinnert sei, d a ß in einem freiheitlich d e m o k r a tischen marktwirtschaftlichen System die Entscheidungsautonomie über die S t a n d o r t e bei den privaten Entscheidungsträgern liegt. Imperative Reglementierungen sind im Vergleich zu anderen europäischen Volkswirtschaften in Deutschland k a u m verbreitet. Fürst, K l e m m e r und Z i m m e r m a n n (1976) schließlich haben die Systematisierung der regionalpolitischen Instrumente u m die Dimensionen der Einflußrichtung und des Beeinflussungsgrades erweitert. Grundsätzlich unterscheiden sie zwischen d e r weichen und der harten Verhaltenssteuerung. D e r weichen Verhaltenss t e u e r u n g ordnen sie die Informations- und Beratungspolitik, die Infrastrukturpolitik als Versorgungspolitik und die Anreizpolitik als raumwirtschaftspolitische Instrumente zu. Gegenstand der harten Verhaltenssteuerung sind administrative Maßnahmen etwa in Form von Ver- und G e b o t e n . Dieses instrumentale Q u a r t e t t wird in einer Matrix drei Einflußrichtungen gegenübergestellt und abschließend einer nominalen Bewertung des Beeinflussungsgrades unterzogen. D e r Infrastrukturpolitik wird im R a h m e n der Raumwirtschaftspolitik die höchste B e d e u t u n g zugemessen, vor allem deshalb, weil durch Infrastrukturausbau langfristige R a h m e n b e d i n g u n g e n f ü r die Entwicklung der Teilräume u n d der gesamten Volkswirtschaft geschaffen werden. Jochimsen und Gustafsson (1970) definieren Infrastruktur als die Wachstums-, integrations- u n d versorgungsnotwendigen Basisfunktionen einer Gesamtwirtschaft, wobei zwischen materieller, institutioneller und personeller Infrastruktur unterschieden wird (vgl. hierzu Jansen

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1968). Beim Einsatz der Infrastrukturpolitik als raumwirtschaftliches Instrument ist zu beachten, daß neben Kapazitätseffekten auch Anreiz-, Einkommens- und Versorgungseffekte auftreten.

3.5 Erfolgsbilanz und Entwicklungstendenzen Der Erfolg raumwirtschaftspolitischer M a ß n a h m e n wird naturgemäß daran gemessen, inwieweit bestehende Zielgrößen erreicht werden respektive wie weit man sich unter Anwendung eines verfügbaren raumwirtschaftspolitischen Instrumentariums an einen Sollwert annähert. Läßt man die methodischen Probleme einer Erfolgskontrolle (Indikatoren, Bewertung) außer acht, ist insgesamt eine negative Resonanz auf die raumwirtschaftspolitischen Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die bereits gegen E n d e der 70er Jahre unüberhörbar war, festzustellen. Z u Beginn der 90er Jahre manifestierte sich zunehmend die Auffassung, daß die „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" mit ihrem wenig differenzierten Instrumentarium die Vielfalt der Strukturprobleme a priori nicht bewältigen konnte. Darüber hinaus wurde die Vermutung geäußert, daß die Kosten der Regionalpolitik in einem nicht tragbaren Verhältnis zu den erzielten Ergebnissen stehen; dies um so mehr, als sich Mitte der 90er Jahre der Finanzierungsbedarf der deutschen Einheit zunehmend konkretisiert. Hinzu kommt, daß sich mit dem europäischen Integrationsprozeß die Rahmenbedingungen der Raumwirtschaftspolitik in Deutschland nachhaltig ändern (vgl. Schätzl 1991). Berücksichtigt man desweiteren, daß trotz einer intensiv betriebenen Regionalpolitik das Entstehen neuer Strukturschwächen in ehemals prosperierenden Regionen nicht verhindert werden konnte, scheint das Aufkeimen raumwirtschaftspolitischer Reformansätze nur konsequent zu sein. Bei der Neuorientierung der Raumwirtschaftspolitik schälen sich derzeit solche Ansätze heraus, die auf Dezentralisierung bedacht sind und übergemeindliche Kooperationen favorisieren. Fürst (1991) geht von der Notwendigkeit der Region aus und postuliert: „Regionale Wirtschaftspolitik bedeutet [...] die von der Region gestaltete Wirtschaftspolitik". Damit kapriziert er sich auf ein Verständnis von Raumwirtschaftspolitik, das er selbst bereits Mitte der 70er Jahre mit der Formulierung „Regionale Wirtschaftspolitik ist als regionalisierte Wirtschaftspolitik zu verstehen" vermittelt hat. Dieser, das endogene wirtschaftliche Potential der Regionen hervorhebende Ansatz steht auch für das Konzept der Regionalisierung der Regionalpolitik bzw. Regionalisierung der Strukturpolitik. Der G e d a n k e der Dezentralisierung beruht auf der Vorstellung, „daß sich die unteren föderalen Ebenen näher am ökonomischen und sozialen Geschehen befinden und daß hier deshalb wesentlich besser eingeschätzt werden kann, wo die lokalen Entwicklungsengpässe, aber auch die Entwicklungschancen liegen. Überdies ist man davon überzeugt, daß eigenständige Entwicklung - mit eigenen Instrumenten und Zielen - engagierter betrieben wird als eine von oben vorgegebene, weil sie den örtlichen Bedürfnissen und Wünschen eher entsprechen kann. Dezentralisierung wird insofern häufig gleichgesetzt mit Selbstbestimmung, Flexibilität und Kreativität. Gegenüber denkbaren Zentralisierungsvorschlägen fügt sich die Dezentralisierungsidee zur Zeit in ein weit verbreitetes Paradigma ein und wird allenthalben positiv aufgenommen" (Hardt 1991).

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I. Grundlagen

Die Vorteile der Kooperation werden im allgemeinen darin gesehen, daß unnötige Anstrengungen vermieden und Entwicklungsinstrumente zum gegenseitigen Nutzen eingesetzt werden, etwa um in einer konzertierten Aktion konkurrierende Standorte im Bereich der Europäischen Union auszustechen. Im Zusammenspiel dezentraler und kooperierender Kräfte wird nun ein Entwicklungspotential vermutet, mit dem die Wirksamkeit der Regionalpolitik erhöht werden kann. Das Vertrauen in die Reformansätze der Raumwirtschaftspolitik wird allerdings dadurch getrübt, daß von einer falschen Impulsquelle gesprochen wird. Dies ist auf den Tatbestand zurückzuführen, daß die Initiative der Reorganisation zunehmend von den Ländern und nicht von deren Teilräumen ausgeht. Mit diesem Verlust der Anziehungskraft des zentralen Etats (Popitz 1932) ist die Befürchtung verbunden, es ginge den Ländern bei der Dezentralisierung vorrangig um eine Überwälzung von Ausführungs- und Finanzierungsverantwortlichkeiten und weniger um die Übergabe von Kompetenzen (siehe Hardt 1991). Andererseits wird festgestellt, daß bisherige Kooperationsbemühungen kaum erfolgreich waren, wenn es um die Harmonisierung von Partikularinteressen ging. Die Hindernisse einer Regionalisierung der Strukturpolitik offenbarten sich denn auch nicht zuletzt im Rahmen der Zukunftsinitiative Nordrhein-Westfalen (siehe hierzu Heinze/Voelzkow 1992) und gehören zum Alltag fast aller deutschen raumwirtschaftspolitischen Reformbestrebungen. Betrachtet man das Ausmaß der Dezentralisierungsbestrebungen im regionalpolitischen Aktionsraum, so stellt sich die Frage, inwieweit noch staatliche Raumwirtschaftspolitik notwendig bzw. geeignet ist, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Ein marktwirtschaftliches System dezentraler Planung und Koordination auf der Basis des Privateigentums beruht nicht auf einer umfassenden Planung und Festlegung von Verhaltensweisen durch staatliche Institutionen, sondern auf einer sich im Wettbewerb herausbildenden Handlungsordnung. Die Beziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten unterliegen keiner zentralisierten, bürokratischen Organisation mit Verhaltensbefehlen und -anweisungen, sind aber gleichwohl geplant, allerdings dezentral in den Haushalten und Unternehmen auf der Basis einer Wirtschaftsverfassung (vgl. Woll 1987). Es ist davon auszugehen, „daß die Menschen aller Erfahrung nach dazu tendieren, ihre individuellen Erfolgsinteressen selbst dann durchzusetzen, wenn dies dauerhaft zu Lasten anderer geht. Es sind deshalb Sanktions- und Kontrollmechanismen notwendig, durch die die Gefahren asozialer Verformungen wirtschaftlicher Entscheidungen und Handlungen beseitigt bzw. gemindert werden" (Thieme, 1992). So begründet sich die Notwendigkeit staatlicher Wirtschaftspolitik (auch staatlicher Raumwirtschaftspolitik), da der hier angesprochene Marktmechanismus allein nicht in der Lage ist, die Wirtschaft zu stabilisieren, das Wachstum zu sichern, die Lebensrisiken abzusichern oder externe Effekte zu kompensieren: • Dem marktwirtschaftlichen System ist immer auch eine Tendenz der Verdrängung des Wettbewerbs immanent. Um das gesamtwirtschaftliche System vor diesen negativen Auswirkungen zu schützen, müssen (präventiv wirksame) Kontrollmechanismen zur Anwendung kommen. • Ein unkontrolliertes marktwirtschaftliches System versagt auch dort, wo externe Effekte auftreten und das Preissystem falsche Signale für individuelle Produktions- und Konsumentscheidungen setzt. Eine Prävention bzw. Korrektur des Marktversagens ist in diesen Fällen erforderlich und in der Regel durch

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staatliche Eingriffe möglich. Dies nicht nur durch Ver- und Gebote, sondern auch durch Auferlegung von Steuern, G e w ä h r u n g von Subventionen und Festlegung bestimmter N o r m e n (z.B. Schadstoffemissionen). •

Im Idealfall stellt sich Wachstum unter geeigneten R a h m e n b e d i n g u n g e n spontan als Ergebnis dezentraler, individueller Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte ein. Infrastrukturmaßnahmen sind notwendige Voraussetzungen privater Produktion und Konsumtion. Allerdings haben I n f r a s t r u k t u r m a ß n a h m e n den C h a r a k t e r von Kollektivgütern, weswegen sie im Normalfall vom Staat bereitgestellt werden müssen.

• Stabilität eines Gesellschaftssystems meint immer auch soziale Stabilität. D e m Staat k o m m t in dieser Situation die schwierige Aufgabe zu, die Lebensrisiken der Staatsbürger in Form von Invalidität, Alter etc. abzusichern und ungleiche Verteilung von E i n k o m m e n und Beschäftigung abzumildern, ohne gleichzeitig die Initiative der Individuen einzuschränken (Moral-Hazard-Problem). • D a r ü b e r hinaus ist quantitatives Wachstum im Regelfall mit steigenden U m weltbelastungen verbunden. Auch in diesem Fall hat der Staat die Aufgabe, den Wachstumsprozeß im Hinblick auf die Sicherung der Lebensbedingungen zu steuern. Raumwirtschaftsstrukturelle Unterschiede in den Teilräumen einer Volkswirtschaft führen nicht nur zu entsprechenden Abweichungen hinsichtlich Häufigkeit und Ausprägung der angeführten P h ä n o m e n e . In der Regel verschärft die auton o m e Standortwahl von Produzenten und Verbrauchern die räumlichen Disparitäten oder erzeugt zusätzliche Gefälle, d.h., die a u f g e f ü h r t e n Marktfehler tragen eindeutig zu einer unerwünschten Verstärkung von Verdichtungs- und Entleerungstendenzen bei. In den Ballungsgebieten bedeuten die in die private Kalkulation eingehenden Agglomerationsvorteile Attraktivität f ü r eine weitere Verdichtung. Die damit v e r b u n d e n e n zusätzlichen Agglomerationsnachteile (z.B. Verkehrs- und Umweltprobleme) w e r d e n bei den privaten Standortentscheidungen nur unzureichend (in H ö h e der durchschnittlichen A b g a b e n und G e b ü h r e n ) berücksichtigt. D i e Folge: Ballungs- und Entleerungstendenzen existieren weiterhin, auch wenn gesamtwirtschaftlich die Agglomerationsnachteile schon größer sind als die -vorteile. U m diesen unerwünschten Entwicklungen vorzubeugen u n d aktiv auf eine ausgewogene räumliche G e s a m t s t r u k t u r hinarbeiten zu k ö n n e n , entwickelt der Staat räumliche Leitbilder u n d Steuerungsprinzipien, die in der Bundesrepublik Deutschland u.a. im Raumordnungsgesetz verankert sind.

4.0 Raumordnung und Wirtschaft Die vorstehenden Ausführungen legen ein Begriffsverständnis von Raumwirtschaftslehre zugrunde, das - dem Selbstverständnis der allgemeinen Volkswirtschaftslehre folgend - eine Untergliederung in die Bereiche Raumwirtschaftstheorie und Raumwirtschaftspolitik aufweist. D a r ü b e r hinaus ist eine Affinität zur Raumplanung und zur Raumordnung angeklungen, die eine abschließende Abgrenzung der Begriffsinhalte u n d -Zuordnungen jedoch vermissen läßt. Eine solche Abgrenzung - so schwierig sie auch sein mag - ist f ü r das grundlegende Verständnis der Raumwirtschaftslehre jedoch erforderlich. So ist der dieses Kapitel beschließenden Abbildung der Versuch einer Abgrenzung bzw. Orientierungshilfe zu e n t n e h m e n .

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I. G r u n d l a g e n

Raumwirtschaftslehre Raumwirtschaftstheorie 1780 Ricardo 1820 1830 Schäine Launhardt Weber McKenzie Park Haig Ritsehl Ohlin Palander Keynes Hoyt

1870 1880

Smith (Grundrente) Thünen (Standorttheorie) Roscher

1900 1920

Burgess Engländer Predöhl

1930

Weigmann Christaller

Domar Harrod

Lösch (moderne Raumwirtschaftstheorie)

1950 Beckmann Samuelson

Infrastruktur Industrie Verkehr Umwelt Tourismus W o h n u n g s Wirtschaft Bildung, Kultur. Gesundheit

t

Ordnungspolitik

Peuker Schmidt

Isard (regional science) Myrdal Hirschman Böventer (Raumwirtschaftslehre) Borts Stein Perroux Schneider

Muth 1970

Kaldor Fürst Klemmer Zimmermann

Richardson

soziale Marktwirtschaft zentrale, dezentrale L e n k u n g Eigentumsformen Unternehmensformen

Duesenberry

Klatt Lefeber North Alonso 1960

1980

Quelle:

Ablaufpolitik

Wirtschaftsordnung 1940

Adams Lloyd

Raumwirtschaftspolitik

Eigene Darstellung

Freizügigkeit freie Standortwahl

tl

Raumplanung Raumordnung Raumordnungsprogramme, räumliche Leitbilder, Steuerungsprinzipien, Raumordnungsverfahren

Landesplanung Regionalplanung Stadtplanung Bauleitplanung

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Die Abbildung dokumentiert die Entwicklung der Raumwirtschaftstheorie im Zeitablauf mit ihren prozeß- und ordnungspolitischen Verflechtungen. Überdies gibt sie Hinweise auf den Einfluß der Raumplanung im Bereich der Raumwirtschaftslehre. Obwohl die o.a. Bezeichnungen nicht immer eindeutig verwendet werden (vgl. Haubner 1982), projiziert die Darstellung ein konkretes Verständnis der Sachzusammenhänge, dem in der Literatur in dieser Form nicht immer entsprochen wird. Damit wird die Richtigkeit abweichender Erklärungsmuster keinesfalls in Frage gestellt, sondern vielmehr deutlich, daß einerseits eine Vielfalt unterschiedlicher Betrachtungsperspektiven gewählt und andererseits eine Vielzahl von Abgrenzungskriterien herangezogen werden kann. So ist grundsätzlich die Frage zu stellen, ob die wirtschaftliche Problematik der Raumordnung Gegenstand des Erkenntnisinteresses ist oder die raumordnerische Problematik der Wirtschaft thematisiert werden soll. Allein die unterschiedliche Akzentuierung von Raumordnung und Raumwirtschaft kann im Ergebnis zu mehr oder weniger stark divergierenden Begriffsinhalten führen. Klaus (1988) geht beispielsweise von einem unlösbaren Zusammenhang raumwirtschaftlicher Gestaltungsvorstellungen mit räumlichen Gesamtordnungskonzeptionen aus, wobei Raumwirtschaftspolitik sowohl bei den Zielen als auch bei den Maßnahmen, Prozessen und Ergebnissen integraler Bestandteil der Raumordnung ist. Ley (1959) folgt dieser Zuordnung, indem er Regionalpolitik als Sonderbezeichnung für die planerische Tätigkeit innerhalb bestimmter, nach einheitlichen Funktionen begrenzbarer Räume und Planung selbst als vorbereitende Tätigkeit einer umfassenden, übergeordneten Raumordnung definiert. Dagegen kann Haubner (1982) dieser Zuordnung nicht folgen und stellt heraus, daß Regionalpolitik und Raumordnungspolitik im weiteren Sinn deckungsgleich verwendet werden. Im Gegensatz zu Klaus und Ley versteht Bökemann (1982) die mikroökonomisch ausgerichtete Raumplanung als Umsetzungsinstrument einer makroökonomisch orientierten Regionalpolitik. Diesem Abgrenzungsvorschlag entspricht Boesler (1982), der Raumordnung als Teil der Wirtschaftspolitik auffaßt. Zusätzlich ergeben sich Verständnisprobleme infolge der unterschiedlichen Definition und Interpretation der Begriffe Raumordnung und Raumplanung. Während Voppel (1989) auf der Basis öffentlicher und privater sowie theoretischer und praktischer Unterscheidungsmerkmale (vgl. hierzu auch Brösse 1982) zu dem Schluß gelangt, daß die Raumordnung raumplanerische Gestaltungsmaßnahmen vorgibt, geht Boesler (1982) von einem der Raumplanung untergeordneten Raumordnungsbegriff aus. Haubner (1982) differenziert in diesem Zusammenhang nach Verwaltungsebenen, hinsichtlich derer die räumliche Gesamtplanung der Gemeinden als Bauleitplanung, die der Regionen als Regionalplanung und die der Länder als Landesplanung und Raumordnung bezeichnet wird. Auf Bundesebene findet laut Haubner lediglich der Begriff Raumordnung Verwendung; das alle Verwaltungsebenen umfassende System wird als Raumplanung bezeichnet. Dieser Beitrag geht von einem Verständnis von Raumwirtschaftslehre aus, das einerseits die enge Verzahnung von Raumplanung und Raumwirtschaftspolitik berücksichtigt und Raumplanung als Oberbegriff räumlicher Gestaltungsprozesse auf allen Hierarchieebenen der Gebietskörperschaften versteht. Ökonomische Überlegungen müssen Eingang in die Leitvorstellungen der räumlichen Ordnung finden, während die räumliche Planung gestaltend auf die Wirtschaft einwirken

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I. Grundlagen

m u ß , d a das f r e i e Spiel d e r K r ä f t e - w i e o b e n a n g e f ü h r t - w e d e r in a l l o k a t i v e r n o c h in d i s t r i b u t i v e r H i n s i c h t zu b e f r i e d i g e n d e n E r g e b n i s s e n f ü h r t . A n d e r e r s e i t s m u ß j e d o c h b e t o n t w e r d e n , d a ß R a u m p l a n u n g ü b e r die r a u m w i r t schaftlichen Verflechtungen hinaus einen gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsa n s p r u c h e r h e b t , d e r n i c h t zuletzt in d e r K o o r d i n a t i o n z a h l r e i c h e r F a c h p o l i t i k e n ( I n f r a s t r u k t u r , I n d u s t r i e , V e r k e h r , U m w e l t , T o u r i s m u s , W o h n u n g s w i r t s c h a f t , Bildung, Kultur, G e s u n d h e i t ) z u m Ausdruck kommt. Räumliche Ordnungs- und Ges t a l t u n g s v o r s t e l l u n g e n b e z i e h e n sich d e m n a c h s o w o h l auf d a s I n d i v i d u u m wie a u c h auf die faits sociaux totaux.

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I. Grundlagen

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I. Grundlagen

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2. Velsinger/Lienenkamp: Raumwirtschaftslehre

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3. Raumwirtschaftsstrukturen* 1.0 Einleitung Als Regionalwissenschaft sei der Teil der Nationalökonomie verstanden, der den geographischen Raum explizit in die Analyse aufnimmt. Dies bedeutet, daß Entfernungen und Entfernungsgefüge von wirtschaftlichen Aktivitäten mit in die Betrachtung eingehen. Auf Mikroebene (Standorttheorie) sind hier insbesondere die Standortwahl einzelner Akteure (z.B. Firmen, Wohnungssuchende etc.) und der räumliche Wettbewerb Themen der Forschung; auf der Makroebene stehen die folgenden Problemkreise im Vordergrund: 1. Die Muster der Flächennutzung eines Wirtschaftsraumes, also die sche Raumstruktur (Regionaltheorie);

ökonomi-

2. die speziellen Methoden der Erforschung des Wirtschaftsraumes (empirische Regionalforschung); 3. die staatlichen Möglichkeiten auf den Wirtschaftsraum und die Entwicklung im Raum einzuwirken (Regionalpolitik).

wirtschaftliche

Hier soll allein die Lehre von der ökonomischen Raumstruktur besprochen werden. Sie gibt das (vereinfachte) Bild der Nationalökonomik vom Wirtschaftsraum wieder und stellt die theoretische Grundlage der anderen Zweige der Regionalforschung dar. Einmal liefert die Theorie die empirisch überprüfbaren Hypothesen, zum anderen muß die Wirtschaftspolitik die räumlichen Regelmäßigkeiten beachten. Zumindest sollte dies so sein. Eine ökonomische Raumstruktur liegt nur dann vor, wenn sich - die (hinreichend klein gewählten) Teilräume eines Wirtschaftsraumes in der Art ihrer Nutzung unterscheiden und - Regelmäßigkeiten in der Anordnung der unterschiedlichen Teilräume erkennen lassen. Nur wer diese beiden Grundvorstellungen für richtig hält, wird die Regionalwissenschaft als sinnvolles Spezialgebiet akzeptieren können. Eine gedankliche Kontraposition zur Regionalwissenschaft wäre eine ,Punktwirtschaft': Entfernungen sind hier für die Wirtschaftsstruktur irrelevant. Der überwiegende Teil der herrschenden ökonomischen Lehre ignoriert die Ausdehnung von Wirtschaftsräumen und ihre Lage - ist also Analyse einer Punktwirtschaft - oder aber erwähnt beides nur in einigen ergänzenden Bemerkungen. Dies ist zwar völlig unangemessen, doch unausweichlich, wenn die Konzeptionen überschaubar bleiben sollen. Auch in der Regionalwissenschaft wird unangemessen vereinfacht, indem Ergebnisse der Standardökonomik nur sehr grob berücksichtigt werden. Das ist der Preis für die genauere räumliche Analyse.

* Frau Dipl.-Math. M. B u b e n h e i m hat durch kritische B e m e r k u n g e n zu dieser Arbeit beigetragen; a u ß e r d e m hat sie das Manuskript redigiert.

3. Todt: R a u m w i r t s c h a f t s s t r u k t u r e n

55

Sicher ist es für die regionale Wirtschaftsforschung wichtig zu wissen, welche ökonomischen Erscheinungen in (sinnvoll abgegrenzten) Regionen einer Volkswirtschaft zu beobachten sind; soweit dabei aber nicht die wirtschaftsräumliche Struktur berücksichtigt wird, sondern die Region als Punktwirtschaft erscheint, liegt keine spezifisch raumwirtschaftliche Fragestellung vor. Probleme dieser Art seien hier ausgeschlossen. Betrachtet werden allein Konzeptionen, denen eine Entfernungsfunktion zugrundeliegt. Eine solche Funktion beschreibt die Intensität von wirtschaftlicher Interaktion in Abhängigkeit von der Entfernung. Die Lehre von der ökonomischen Raumstruktur wurde von Johann Heinrich von Thünen begründet, der in seinem epochalen Werk „Der isolierte Staat" 1 das Modell einer Region entwickelte, das verschiedene homogene Teilräume (d.h. Gebiete mit gleichartiger ökonomischer Nutzung) zu einem strukturierten Ganzen verknüpft. Aus Gründen der Vereinfachung wurde eine solche strukturierte Region als isolierter' Staat konzipiert. Die moderne Regionaltheorie kann als Fortentwicklung dieses Ansatzes verstanden werden. Wesentliche Elemente der modernen Regionalwissenschaft, wie insbesondere die ,Entfernungsfunktion' sind bereits bei v. Thünen zu erkennen. Eine weitere tragende Idee der Regionaltheorie ist die von Netzwerken ineinander verschachtelter Regionen, die von Walter Christaller 2 eingeführt und von weiteren Autoren, insbesondere August Lösch 3 , diskutiert wurden. Hinter dieser Konzeption steht die Vorstellung, daß Städte unterschiedlicher Größe samt ihres Umlands Systeme höherer Ordnung bilden, für die ökonomisch begründete Regelmäßigkeiten gelten. Die Lehre von derartigen Netzwerken übt einen starken intuitiven Appell aus. Sie hat Wortwahl und Hypothesenbildung in der Regionalforschung stark beeinflußt.

2.0 Das Ringmodell einer Region 2.1 Das Thünensche Modell einer Region Joh. Heinrich v. Thünen ist der Begründer der Regionaltheorie. Sein Modell einer vom Rest der Welt isolierten Region ist das schulebildende Paradigma aller späteren Forschung auf diesem Gebiet. Die Modellregion besteht aus einer großen Stadt, die Sitz aller nicht-landwirtschaftlichen Leistungen (Produktion und Marktfunktion) und Mittelpunkt eines kreisförmigen, weiten landwirtschaftlichen Umlands ist, das allseitig in großer Entfernung in Wildnis übergeht. Das Umland ist homogen in bezug auf alle relevanten naturgegebenen Merkmale, wie etwa der Bonität des Bodens. Je nach dem Stand des Wissens stehen verschiedene landwirtschaftliche Techniken zur Verfügung (z.B. bestimmte Fruchtfolgen). Für jede dieser Techniken ergibt 1

2

3

J. H. v. T h ü n e n : D e r isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und N a t i o n a l ö k o n o mie. 4.. u n v e r ä n d e r t e Auflage (1. Auflage H a m b u r g 1826). Stuttgart 1966. W. Christaller: Die zentralen O r t e in Süddeutschland. E i n e ökonomisch-geographische U n t e r s u c h u n g ü b e r die Gesetzmäßigkeit d e r Siedlungen mit städtischen F u n k t i o n e n . 2., u n v e r ä n d e r t e Auflage (1. Auflage Jena 1933), D a r m s t a d t 1968. A. Lösch: D i e räumliche O r d n u n g der Wirtschaft, 3., u n v e r ä n d e r t e Auflage (1. Auflage Jena 1940), Stuttgart 1962.

56

I. Grundlagen

sich im mehrjährigen Mittel pro Flächeneinheit ein Warenkorb von Produkten, die in der Stadt zu (hier konstant angenommenen) Marktpreisen verkauft werden. Jedem Warenkorb i entspricht: - der Rohgewinn y, (Erlös in der Stadt abzüglich aller Kosten mit Ausnahme Transportkosten) und

der

- das Gewicht a,, das vom landwirtschaftlichen Betrieb in die Stadt transportiert werden muß. v. Thünen ermittelt eine spezielle Transportkostenfunktion4, die auf der Vorstellung aufbaut, daß der mitzuführende ,Treibstoff (Futter für die Pferde) über die Entfernung, x, allmählich die Nutzlast aufzehren würde. Dies führt zu einer Funktion des Typs:

Die Transportkosten sind proportional zum Gewicht, das in den Koeffizienten a eingeht. Die Essenz der Thünenschen Theorie läßt sich sehr gut mit Hilfe einer linearen Tranportkostenfunktion darstellen. Trotzdem soll hier dem Original gefolgt werden. Moderne Modelle der Regionalwissenschaft erfassen Entfernungen meistens durch einen Gravitationsansatz, von dem es zahlreiche Varianten und Verallgemeinerungen gibt. Eine neuerdings sehr beliebte, vielleicht allzu einfache Version hiervon ist die sog. ,Eisberg'-Modellierung5 der Entfernung, wobei die Güter während des Transportes quasi ,abschmelzen'. Es kommt also eine kleinere Menge an, als abgesandt wurde. Der Thünensche Ansatz drückt genau diese Vorstellung aus. Der Gewinn je Warenkorb i in einer Entfernung x vom Zentrum errechnet sich dann als

Rohgewinn yj und Gewicht aj des Produktes einer Flächeneinheit variieren mit dem Stand des technischen Wissens, u.a.m. Zwei mögliche Gewinnfunktionen seien im folgenden Diagramm dargestellt. Der Schnittpunkt der beiden Gewinnkurven markiert die Entfernung, in welcher die erfolgreichere landwirtschaftliche Technik wechselt. In der geographischen Ebene markiert dieser Schnittpunkt einen Kreis um die Stadt. Bei mehreren Techniken ergeben sich mehrere Kreise, die sog. Thünenschen Kreise. Die jeweils am höchsten liegenden Kurvenstücke formen eine insgesamt konvex fallende Kurve. Sie gibt den maximal pro Flächeneinheit erzielbaren Gewinn an. Dieser Gewinn pro Flächeneinheit nimmt mithin vom Zentrum (der Stadt) zur

4 5

J. H. v. Thünen, a.a.O., S. 21 ff. P. A. Samuelson: The Transfer Problem and Transport Cost, II: Analysis of Effects of Trade Impediments, in: Economic Journal, Vol. 64,1954, S. 264-289.

57

3. Todt: Raumwirtschaftsstrukturen Abb. 1

Für die Gewinnfunktionen: g, (x) = 20-12*x/(30 + x) und g2 (x) = 30 - 30*x/(30 + x)

Peripherie hin ab, bis er Null wird und so das Ende der Kulturlandschaft erreicht ist. Der Bodenwert ergibt sich durch Kapitalisierung des Gewinns. Bei einem langfristigen Zinssatz r und einem Gewinn g(x) := maXj gj(x) folgt ein Bodenwert, w, von w = g (x) / r. Der Gewinn g(x) heißt Lagerente. Der Bodenwert wird aus der Lagerente erklärt. Im Thünenschen Staat nimmt auch die Intensität der Bodennutzung eingesetzte Arbeit) mit der Entfernung zur Stadt ab. 6

(pro Fläche

Die Gewinnfunktion hat alle Merkmale einer Entfernungsfunktion: Sie bezieht die Bodennutzung (in simpler Weise) auf einen einzigen zentralen Punkt, die Stadt. Alle Strukturmerkmale der Landschaft werden allein durch die Entfernung bestimmt. Alle späteren Regionaltheorien greifen diese Vorstellung auf. Es ist nun keineswegs notwendig, daß der einzelne Landwirt die Einsicht von Thünens besitzt und seine Wirtschaftsweise bewußt den Regeln Thünenscher Kreise anpaßt. Vielmehr wird er von der Erfahrung geleitet. Hat ein Nachbar mit seiner Anbautechnik größeren Erfolg, so wird er ihn nachahmen, auch wenn er den tieferen Grund für eben diesen Erfolg nicht kennt. Es ist ein leider nicht hinreichend gewürdigter Vorzug der Thünenschen Theorie, daß sie nicht den homo oeconomicus voraussetzt, der alles wirtschaftliche Geschehen durchdringt. Es

6

v. Thünen betont diesen Aspekt nicht; doch geht aus der Gesamtdarstellung hervor, daß er ihn genau kennt. Vgl. v. Thünen , a.a.O., S. 98ff.

58

I. Grundlagen

genügt, wenn die Landwirte etwas gesunden Menschenverstand besitzen. Selbst wenn einige daran Mangel haben sollten, würde v. Thünens Schema sich durchsetzen, weil die Uneinsichtigen vom Markt verschwinden müßten. 2.2 Städtische Ringe 2.2.1 Die Idee der städtischen Ringstruktur Die Vorstellung, daß Städte (und städtische Agglomerationen) ebenfalls eine Ringstruktur aufweisen ist alt. Engels 7 gibt eine Beschreibung von Manchester, welche eine ringförmig um die Börse gelagerte Innenstadt mit darum ebenfalls ringförmig angeordneten Wohnvierteln konstatiert. Die Ringe sowohl der Innenstadt als auch des Wohnbereiches sind durch soziale Merkmale gekennzeichnet. Die Innenstadt versorgt in ihrem Kern die .Kapitalisten' und an der Peripherie das ,Proletariat'. Für die Wohnringe folgt eine umgekehrte Ordnung. Nahe der Innenstadt wohnt das Proletariat und am Stadtrand die Kapitalisten. Das gleiche Bild wird von Burgess 8 und seiner Schule entworfen, wobei Chicago das genau untersuchte Beispiel ist. Einige dynamische Elemente sind hier zusätzlich in die Beschreibung aufgenommen worden. Mit ,zone in transition' wird der Bereich des ersten Wohnringes um die Innenstadt bezeichnet, der in einer wachsenden Stadt voraussichtlich in Citynutzungen umgewidmet wird. Deshalb werden dort nur die notdürftigsten Reparaturen durchgeführt. Die Ärmsten wohnen hier unter schlechtesten Bedingungen, eng zusammengepfercht bei geringen Mietausgaben, die im Verhältnis zum beanspruchten Raum jedoch sehr hoch sind. Die Eigentümer versuchen so, auf begrenzte Zeit möglichst hohe Erträge zu erwirtschaften.

2.2.2 Das städtische Ringmodell Alonso 9 hat die Konzeption der Wohnringe nach dem Thünenschen Paradigma in Form eines Modells beschrieben. Wie die Stadt bei v. Thünen das Zentrum der Region ist, bildet bei Alonso die City das Zentrum der Stadt und wird als Punkt gedacht. Sie ist Sitz aller Arbeitsplätze und aller Einkaufsmöglichkeiten. Somit wird der Weg zur Stadt zur relevanten nachteiligen' Größe, die durch eine Entfernungsfunktion eigener Art erfaßt wird, die sog. Gebotspreiskurve (,bid price curve'). Gegeben sei der repräsentative Haushalt einer sozialen Schicht gleichen Einkommens. Wieviel wird der Haushalt - sofern er ein festes Nutzenniveau realisieren will - für eine Einheit Grund und Boden bietenl Nimmt er eine größere Entfernung in Kauf, so muß er den Grund und Boden billiger bekommen, damit er für diesen Nachteil kompensiert werden kann, sowohl durch ein größeres Grundstück als auch durch sonstige Konsumgüter.

7

8

9

F. Engels: D i e Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke, Bd. 2, (Hrsg.) Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1972, S. 276ff. E. W. Burgess: The Growth of the City, in: The City, (Hrsg.) R. E. Park et al, Chicago 1925, Ch. 2. W. Alonso: Location and Land Use, Cambridge (Mass.) 1964.

59

3. Todt: Raumwirtschaftsstrukturen

Alonso leitet die Gebotspreiskurve formal aus einer Nutzenfunktion ab. Unter Standardannahmen läßt sich jedoch nur nachweisen, daß die Kurve fällt, nicht aber, daß sie konvex ist, was Alonso zusätzlich voraussetzt. Die Konzeption erscheint allerdings auch ohne nutzentheoretische Fundierung unmittelbar plausibel. Die Kompensation zwischen Preisgebot und Entfernung leuchtet auch dann ein, wenn anstelle des konstanten Nutzens in anderer Weise ein Standard gesetzt wird, der z.B. auch als Anspruchsniveau verstanden werden kann. Für verschiedene Anspruchsniveaus (oder Nutzenniveaus) gibt es verschiedene Kurven. Je höher die Kurve liegt, desto niedriger ist das Niveau; denn wenn ein höherer Preis für die Wohnung geboten wird, so muß gegebenenfalls auf andere Ausgaben verzichtet werden. Der Haushalt wird die Gebotspreiskurve wählen, die ihm gerade noch ein realistisches, d.h. vom Markt akzeptiertes G e b o t erlaubt. D e r Haushalt wird dementsprechend durch eine Schar von Gebotspreiskurven beschrieben, die sich nicht schneiden. Nur eine der Kurven kommt jedoch zum Tragen: Die niedrigste, für die ein Angebot bereitgestellt wird. A m R a n d e der Stadt tritt der Haushalt in Wettbewerb mit den landwirtschaftlichen Nutzern von G r u n d und Boden, die ein G e b o t gemäß der Thünenschen Theorie abgeben. Es kann unterstellt werden, daß der Wert des landwirtschaftlichen Bodens gemäß dieser Theorie viel langsamer zur Peripherie hin fällt als der städtische. Darum kann er hier in grober Vereinfachung als konstant, d.h. als Parallele zur Abszisse angesetzt werden. Mitglieder einer Einkommensgruppe können durch eine Schar von Gebotspreiskurven repräsentiert werden (vgl. Abb. 2), die sich nicht schneiden. Verschiedene Einkommensgruppen unterscheiden sich u.a. durch die Steigung der Gebotspreiskurven. Man nimmt an, daß für besser gestellte Haushalte flachere Kurven typisch sind. Für die relevante Kurve gilt dann das gleiche Bild wie bei den Thünenschen Kreisen: In den Randlagen verdrängen die Reichen die A r m e n , nahe dem Zentrum ist es umgekehrt. Die Theorie vermag nicht zu erklären, weshalb die Reichen am R a n d e siedeln, denn sie determiniert nicht die Steigung der Gebotspreiskurven in Abhängigkeit Abb. 2 Preis

Gebotspreiskurven

Preis für landwirtschaftlichen Boden Entfernung

60

I. Grundlagen

vom Wohlstand. Die Theorie liefert lediglich einen Rahmen für die empirischen Fakten. Es gibt auch keine konkreten Schätzungen für die Gebotspreiskurven. Soll die Theorie jedoch in Einklang mit den empirisch fundierten Aussagen von Engels und Burgess stehen, so liegt es nahe, den beschriebenen Verlauf vorauszusetzen. Die beschriebene Ordnung von Siedlungsringen gilt für die postindustrielle Stadt, also die Stadt in einem Lande, das die industrielle Revolution hinter sich hat. Die präindustrielle Stadt weist die umgekehrte Ordnung auf.10 So siedelten im Mittelalter die Reichen im Zentrum, nahe Dom und Marktplatz und die Armen an der Stadtmauer. Ebenso sind die Slums der Entwicklungsländer typischerweise am Stadtrand. 2.2.3 Entfernungsfunktionen Die Entfernungsfunktionen, die in irgend einer Form in jeder Theorie der Raumstruktur auftreten, bieten sich auch für empirische Untersuchungen an. Nahezu jede konvexe, fallende Kurve kann verwendet werden, um sozio-ökonomische Effekte über die Distanz abzuschätzen. Zahlreiche Funktionstypen wurden schon verwandt. Sichere Hinweise, daß ein bestimmter Typ im allgemeinen vorzuziehen sei, gibt es nicht. Oft zeigt sich jedoch der konvex fallende Verlauf erst jenseits einer Schranke: Zunächst dämpft die Entfernung die räumlichen Beziehung nicht (Plateaueffekt) und nimmt dann erst den charakteristischen Kurventyp an. Geeignete Funktionen, um einen solchen Plateaueffekt zu erfassen, sind die TVerteilung und die Log-Normalverteilung. Für die meisten Anwendungen genügen jedoch Entfernungsfunktionen vom Paretotyp, wie sie in Gravitations- und Potentialmodellen verwandt werden. Auch hier läßt sich ein Plateaueffekt einbauen, indem man Entfernungen jenseits einer Schranke betrachtet. Abb. 3 Intensität der räumlichen Wirkung

10

Vgl. G. Sjoberg: Cities in Developing and Industrial Societies: A Cross-cultural Analysis, in: The Study of Urbanisation, (Hrsg.) P. M. Hauser und L. F. Schnore, 3., unveränderte Auflage, New York 1967, S. 216 f.

3. Todt: Raumwirtschaftsstrukturen

61

Gemäß des Gravitationsansatzes11 wird analog zur physikalischen Gravitation den ökonomischen Raumeinheiten (i = 1, ..., n) - z.B. Städten - ein geeignetes ,Gewicht' (z.B. Bevölkerung, Inlandsprodukt oder Beschäftigtenzahl) zugeordnet und die Interaktion T (Handel, Verkehr, Telefongespräche etc.) über die Entfernung x durch

Tij " a

PjPi 11 yh A

iJ

empirisch geschätzt. Der Koeffizient a dient der Skalierung. Die entscheidende Größe ist das exponentielle Gewicht b, das die Dämpfung der ökonomischen Interaktion durch die Entfernung ausdrückt. In der Regel reagiert die Formel auf Variation von b nicht sensitiv. Es genügt darum eine grobe Approximation. Die meisten Interaktionen lassen sich durch einen Wert von b £ {1/2, 1, 2, 4} gut erfassen. Um die Analogie zur Physik weiterzutreiben, sei für einen festen Punkt i die ,Schwerewirkung' aller - hinreichend klein gewählten - Teilgebiete eines Landes (z.B. aller Kreise Deutschlands) erfaßt als

J

X « A1J

Wenn P die Bevölkerung ist, so kann dieser Ausdruck durch die Vorstellung motiviert werden, daß kein Bürger des Landes strikt an seinen Wohnsitz gebunden ist, sondern mit entfernungsabhängiger Wahrscheinlichkeit jeden Teilraum des Landes aufsucht. Eliminiert man die unterschiedliche,Attraktivität' der verschiedenen Landesteile, so werden Teilräume in jeweils gleicher Entfernung auch gleich oft aufgesucht. Jeder Punkt i im Raum kann so bezüglich seiner Lagevorteile abgeschätzt werden. Tj ist das Potential, genauer das Bevölkerungspotential, des Punktes i in bezug auf die (kleinen) Teilgebiete j = 1,..., n. So könnte z. B. die unbekannte, bevölkerungsabhängige potentielle Nachfrage eines Standortes im Vergleich zur bekannten Nachfrage in anderen Standorten in erster Näherung geschätzt werden. Eine Korrektur bezüglich anderer Faktoren, z.B. Konkurrenzsituation, Infrastruktur, u.a.m. ist allerdings geboten. Anstelle der Bevölkerung könnte auch das Einkommen (oder eine andere Größe) eingesetzt und entsprechend ein Einkommenspotential (oder ein sonstiges Potential) bestimmt werden. Flächendeckend über einem Untersuchungsgebiet ermittelte Potentiale können als Potentialkarte dargestellt werden. Dies ist auch analog möglich, wenn die Potentiale aufgrund anderer Entfernungsfunktionen erstellt worden sind. Die Karte gibt z.B. das Bevölkerungspotential des wiedervereinigten Deutschlands auf der Basis einer T-Verteilung wieder. Die Potentiallinien (Linien gleicher Potentialdichte) sind normiert. Der Ort mit höchstem Potential wird 100 gesetzt, der mit kleinstem gleich 1. Die dazwischen liegenden Linien sind in relativ gleichen Abständen gezeichnet.

11

Eine ausführliche Beschreibung findet sich in H. Kemming.: Raumwirtschaftstheoretische Gravitationsmodelle, Berlin 1980.

62

I. Grundlagen

Karte

Hannovfl

Drasddn

Die Karte läßt die regionale Gliederung Deutschlands erkennen. Die Tallinien über die ,Pässe' hinweg geben die Grenzen nicht-isolierter Thünenscher Regionen an. Die meisten großen Zentren liegen vergleichsweise nahe bei den Grenzen, während das Innere weniger scharf gegliedert erscheint. Dies gibt dem Land die Gestalt eines Ringes von Zentren, der sich allerdings nicht um ein ,centrum centrorum' lagert. D i e nicht-isolierten Thünenschen Regionen werden sichtbar.

3. Todt: Raumwirtschaftsstrukturen

63

2.2.4 Weiterführende Ansätze Ein geschlossenes Stadt-Umland-Modell, das primäre (landwirtschaftliche Produktion), sekundäre (gewerbliche Produktion) und tertiäre (Handel, Dienstleistungen) Standorte uno acto erklärt, existiert bis heute nicht. Angesichts der sehr langsamen, historischen Entwicklung von Standortmustern bleibt auch jedwede empirische Evidenz konkreter Regelmäßigkeiten dem Zweifel unterworfen, welche Epoche und welche Prinzipien hier ursächlich sind und welche in Zukunft wirken werden. Immerhin wird in neuester Zeit versucht, das Thünensche Forschungsprogramm wieder aufzugreifen, v. Thünen erklärte landwirtschaftliche Standortmuster theoretisch und postulierte aufgrund allgemeiner Erfahrungen, daß alle anderen ökonomischen Leistungen in der Stadt erbracht würden. Das Thünensche Postulat bedarf einer genaueren theoretischen Diskussion. Auf Krugman 12 geht ein vielbeachteter Modellansatz modernen Stils zurück. Er untersucht einen Wirtschaftzweig, in dem monopolistische Konkurrenz herrscht. Aufgrund von Lokalisationseffekten (Nachbarschaftsvorteile für Betriebe ähnlicher Produktion), wie z. B. einem effizienten Arbeitsmarkt für Fachkräfte tendiere der Wirtschaftszweig zur Konzentration auf wenige Standorte (Städte). Räumliche Konzentrationen dieser Art, für die es Beispiele gibt, können im Modell gut als Punktmärkte beschrieben werden. Ein CES-Mengenindex C erfasse die n konkurrierenden Produkte:

C= wobei Cj die einzelnen Mengen der Produkte sind und die Substitutionselastizität ist. Die Austauschverhältnisse (Preise) der Produkte müssen in diesem Ansatz gleich -dCj/dCj sein, was eine schematische Beschreibung von Substitutswettbewerb erlaubt. Massenproduktionsvorteile (increasing returns to scale) für den einzelnen Betrieb wie auch die Branche als Ganzes vermögen den Standortvorteil zu festigen. Einige Studien auf dieser Basis sind vielversprechend. Das Phänomen ,Stadt' wird so allerdings kaum angemessen erklärt; denn Städte zeichnen sich vor allem durch Urbanisationseffekte (Nachbarschaftsvorteile von verschiedenen Branchen) aus, also der Vielfalt verschiedener, nicht konkurrierender Anbieter hauptsächlich des tertiären Sektors. Neben den Urbanisationseffekten spielen jedoch auch Lokalisationseffekte 13 insofern eine Rolle, als größere, in jeder Branche des tertiären Sektors diversifizierte Zentren stärker ins Umland wirken können; denn auch die Vielfalt der Konkurrenz wirbt bei den Nachfragern. Darüber hinaus sind Städte auch Produktionsstandorte, häufig mit einem 12

13

Krugmans Ansatz ist in mehreren Arbeiten mit unterschiedlichen Akzentsetzungen enthalten. Der hier vorgestellte Aspekt ist eine Interpretation für den vorliegenden Zusammenhang. Vgl. P. Krugman: Geography and Trade, Leuven, Cambridge (Mass.), London 1991. Drs.: Increasing Returns and Economic Geography, in: Journal of Political Economy, Vol. 99, Nr. 31, 1991, S. 483-499. Drs.: First Nature, Second Nature, and Metropolitan Location, in: Journal of Regional Science, Vol. 33, Nr. 2, 1993, S. 129-144. Drs: On the Number and Locations of Cities, in: European Economic Review, Vol. 37, S. 293-298. Vgl. W. J. Baumol und E. A. Ide: Variety in Retailing, in: Management Science, Vol. 3, S. 93-101.

64

I. G r u n d l a g e n

Schwerpunkt für einen oder wenige spezielle Produktionszweige. Diese Facette kann mit dem beschriebenen Ansatz auf jeden Fall beleuchtet werden.

3.0 Netztheorien 3.1 Christaliers Theorie 3.1.0 Das Problem Das moderne Paradigma einer einzelnen (isoliert gedachten) Region wird erstmals in v. Thünens „Der isolierte Staat" beschrieben. Wenn die wirklichkeitsfremde Hypothese einer vom Rest der Welt abgeschiedenen, isolierten Region aufgegeben wird, ergibt sich das Bild einer räumlichen Volkswirtschaft (Raumwirtschaft), die aus mehreren oder gar vielen Regionen aufgebaut ist, die aneinandergrenzen und interagieren. Gegenstand der Netztheorien sind derartige Gefüge von Regionen. Schon v. Thünen sieht in seiner Theorie ein vereinfachtes Bild der Wirklichkeit und nennt einige Momente, durch die sich reale Regionen von seinem Modell unterscheiden. Einer der von ihm erwähnten Aspekte verdient hierbei besondere Aufmerksamkeit: Eine Region bestehe nicht nur aus einer zentralen Stadt und dem Umland. Vielmehr werde in aller Regel eine zweite, kleinere Stadt (oder gar mehrere kleine Städte) angetroffen. Mithin reiht sich nicht einfach Region neben Region, wenn sie aus der Isolierung heraustreten. Vielmehr ist eine Struktur erkennbar, in der auch kleinere Städte eine Funktion haben, v. Thünen spricht eine solche übergeordnete Regelmäßigkeit nicht an. Erst Christaller versucht den Einstieg in eine derartige Beschreibung des Wirtschaftsraumes.

3.1.1 Grundlegende Elemente der Theorie Christaller entwirft das Modell einer Raumwirtschaft, das auf folgenden Thesen einer hierarchischen Ordnung von Gütern 1 4 und (städtischen) Orten aufbaut: 1. Städte (vereinfacht als Punkte gedacht) sind Standorte des tertiären Sektors, die ein Umland zentral bedienen. 2. Die verschiedenen Angebote (Güter) des tertiären Sektors einer Stadt sind durch spezifische Höchstreichweiten (von Christaller Reichweiten genannt 15 ) charakterisiert. Bis zu einer Entfernung, die der Höchstreichweite gleicht, wandert die Nachfrage zur nächstgelegenen Stadt. Jenseits der Höchstreichweite verschwindet die Nachfrage schlagartig und vollständig 16 . 3. Die Städte können anhand der Höchstreichweite der dort angebotenen Güter (des tertiären Sektors) ökonomisch angemessen klassifiziert werden. Hierzu werden alle Güter (in geeigneter, durch die Theorie zu erklärende Weise) zu

14

15

16

Christaller bezieht ausdrücklich Dienstleistungen in den Begriff des Gutes ein. Vgl. W. Christaller, a.a.O., S. 29. E s empfiehlt sich den A s p e k t einer maximal möglichen Reichweite zu b e t o n e n , weil auch eine Mindestreichweite auftaucht. Christaller spricht nur von Reichweite, obgleich er die Höchstreichweite m e i n t . Vgl. W. Christaller, a.a.O., S. 32. Vgl. W. Christaller, a.a.O., S. 32.

3. Todt: R a u m w i r t s c h a f t s s t r u k t u r e n

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Bündeln ähnlicher Höchstreichweite zusammengefaßt, die in aufsteigender Reihenfolge numeriert eine Hierarchie bilden. Die Güter der jeweils höchsten Hierarchiestufe, die in den Städten angeboten werden, ordnen auch diese nach der gleichen Hierarchie. Alle Städte einer Raumwirtschaft genügen nach Christaller diesen Thesen. Die Zahl der Städte verschiedener Hierarchiestufen und ihre räumliche Anordnung wird durch das folgende Optimierungssystem ermittelt: - Es ist auf jeder Hierarchiestufe die minimale Zahl von Städten so zu bestimmen, daß die Nachfrage überall bedient wird (Versorgungsprinzip). Bedient wird die Nachfrage, wenn jeder Bewohner des Landes jedes Gut erwerben kann, indem er von seiner Wohnung maximal einen Weg zurücklegt, der dessen Höchstreichweite entspricht. - Dies gilt unter der Restriktion des Zentralitätsprinzips: Eine Stadt, die Güter der Hierarchiestufe n anbietet, bietet auch alle Güter der niedrigeren Hierarchiestufen an und gehört damit auch den niedrigeren Hierarchiestufen an. Dieses sind die grundlegenden Elemente der Theorie der zentralen Orte. Die Annahmen sollen zunächst kurz kommentiert werden. In einem nächsten Schritt sollen die Konsequenzen des Christallerschen Ansatzes - die Theorie der zentralen Orte - herausgearbeitet werden. Es folgt eine Kritik und eine Bewertung der Theorie. 3.1.2 Die ökonomische Interpretation der Annahmen Die Stadt wird mit unterschiedlicher Akzentsetzung schon sehr lange - in heute vorherrschender Terminologie - als Dienstleistungszentrum eines Umlandes oder - in Christallerscher Terminologie - als zentraler Ort verstanden. Der Christallerschen Begriffsbildung liegt jedoch ein sehr umfassendes Verständnis von Dienstleistungen als zentralen Funktionen' zugrunde. Neben der ,Marktfunktion' im engeren (Marktplatz, Einzelhandel) und im weiteren Sinne (einschließlich Handwerk, konsumnaher Produktion, Banken, Versicherungen, freier Berufe) gehören hierher auch das gesamte Kulturleben sowie die öffentliche und die private Verwaltung (Firmensitze). Die Funktionen eines zentralen Ortes sind sicherlich ganz überwiegend Dienstleistungen; doch diese Qualität tritt beim Christaller'schen System in den Hintergrund. Entscheidend ist einzig und allein, daß die Versorgung eines Gebietes (womit auch immer) von einem Zentrum aus erfolgt. 17 Die Höchstreichweite der verschiedenen Güter ist bei Christaller die entscheidende Größe; denn er will die Raumwirtschaft mit einer möglichst kleinen Zahl

17

Vgl. Christaliers Diskussion, W. Christaller, a.a.O., S. 29, und die g e n a u e r e n A u s f ü h r u n gen von C. Clark, d e r eine f ü r die Regionalwissenschaft geeignete B e s t i m m u n g des tertiären Sektors gibt. E r o r d n e t diesem Sektor auch die mittelständische Bauwirtschaft zu, wobei das M e r k m a l eines begrenzten Marktgebietes - sonst nur typisch f ü r Dienstleistungen - als konstitutives M e r k m a l verwandt wird. Auch einige k o n s u m n a h e mittelständische P r o d u k t i o n s b e t r i e b e (Molkereien, B r a u e r e i e n etc.) wiesen historisch starke lokale Bindung auf. Vgl. C. Clark: The Conditions of E c o n o m i c Progress, 3. Auflage, L o n d o n 1957, S. 490ff.

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I. Grundlagen

von Zentren voll versorgen. Das ist nur dann gewährleistet, wenn die Höchstreichweite so gut wie möglich ausgeschöpft wird. Eine verblüffende Konsequenz dieser Sichtweise ist hier hervorzuheben: Die Höchstreichweite wird bei Christaller wie eine Eigenschaft von Gütern und nicht von Menschen behandelt. Nicht individuelle Neigungen bestimmen den Weg, der zurückgelegt wird, sondern es gibt für das jeweilige Gut eine für alle Nachfrager gültige Höchstreichweite. Dies kann auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden. Einmal könnte ein sozialer Planer den Standort von Städten bestimmen. Christaller mag mit der Idee gespielt haben, seinen Ansatz planerisch zu verwerten. Primär will er jedoch erklären, wie ein Stadtsystem zustande kommt. Dann bleibt nur die Interpretation, daß es sich um eine vereinfachende Annahme handelt 18 . Wer diese Vereinfachung nicht akzeptieren möchte, muß bedenken, daß die typischerweise nicht regionalwissenschaftlich geprägte Ökonomik Entfernungen völlig unterschlägt. Dies ist sicher noch weniger akzeptabel. Ergänzend diskutiert Christaller auch die Mindestreichweite der Güter. Dahinter steht die Vorstellung, daß ein Gut eine Mindestnachfrage und ein entsprechend großes Marktgebiet benötigt, um überhaupt zentral angeboten zu werden. Beschränkt man sich auf faktisch angebotene Güter, so erübrigt sich jede weitere Diskussion dieses Aspektes. Die Höchstreichweite der Güter variiert beträchtlich. Die Leistungen der zentralen Gewalten (Parlament, Oberste Gerichte, Regierung) werden von einer Stelle aus (meist der Hauptstadt) für das ganze Land erbracht. Für die täglichen Einkäufe ist niemand bereit eine große Entfernung zurückzulegen; eher geht man weit zu einer Universität, um zu heiraten oder um selten anfallende, große Einkäufe zu tätigen (Wohnzimmereinrichtung, Yacht). Dazwischen liegen wohl die Reichweiten für Anzüge oder Schuhe etc. Man könnte annehmen, daß die Größe der Nachfrage davon beinflußt wird, wie groß der Weg zum Angebot ist. Dies würde zu einer kontinuierlichen Dämpfung wie in Abb. 4 führen.

Abb. 4 Nachfrage

18

Christaller unterscheidet zwischen dem von ihm entwickelten „mathematisch-starren Schema" und und der Realität. Dies ist ein Hinweis für die hier gegebene Deutung. Vgl. W. Christaller, a.a.O., S. 73.

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3. Todt: Raumwirtschaftsstrukturen Abb. 5 Nachfrage

Genau dieses nimmt Christaller nicht an. Vielmehr liegt seiner theoretischen Konzeption eine stufenförmige Entfernungsfunktion zugrunde. Typ a einer Entfernungsfunktion (vgl. Abb. 5) drückt dies am einfachsten aus. Auch Typ b - den Christaller wohl eher im Auge hatte 19 - ist mit seinem Modell vereinbar. Unabdingbar ist jedoch der Sprung bei der Höchstreichweite, den Christaller nicht explizit postuliert, den jedoch viele seiner Formulierungen (z.B. die Ausführungen zur ,Reichweite' 20 ) nahelegen. Er betrachtet bei seiner Modellkonstruktion die obere Grenze als eine feste Größe 21 , die ,erforderlich' ist, damit das gesamte Gebiet versorgt wird. Dies ist mit einer stetigen Entfernungsfunktion nicht zu realisieren. Jeder Nachfrager ist bereit, für das betrachtete Gut eine Entfernung bis zur Höchstreichweite zurückzulegen - und keinen Schritt weiter. Verschiedene Güter haben verschiedene Höchstreichweiten, die wie nachfolgend gezeigt angeordnet sein mögen: Abb. 6 Verteilung von Höchstreichweiten Disperse Güter

Entfernung

Güter mit sehr kleinen Höchstreichweiten bezeichnet Christaller als dispers; sie werden sozusagen überall angeboten. Erst von einer Untergrenze der Höchstreichweite an sind die Güter an der Bildung von Stadtnetzen beteiligt. Diese Güter heißen zentral.

" „Wir stellen also generell fest: der Verbrauch von zentralen Gütern ist trotz gleicher B e dürfnisse und gleicher E i n k o m m e n an den verschiedenen Orten des G e b i e t e s verschieden groß, in der N ä h e desjenigen Ortes, w o das A n g e b o t erfolgt, höher, mit z u n e h m e n der Entfernung von ihm geringer werdend, bis dann schließlich an der Peripherie der Verbrauch vielleicht dann ganz aufhört." W. Christaller, a.a.O., S.35. 20 Vgl. W. Christaller, a.a.O., S.31f. 21 W. Christaller, a.a.O., S. 65.

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I. G r u n d l a g e n

3.1.3 D i e Theorie der zentralen Orte U m Christaller'sche Marktnetze abzuleiten, stelle man sich vor, daß - ähnlich wie bei v. T h ü n e n s isoliertem Staat - überall strikte Homogenität gegeben sei, d.h. die Bevölkerung soll kontinuierlich mit gleicher Dichte über den Staat verteilt sein, was allenthalben gleichartigen Lebensbedingungen entspricht; sie entwickle zud e m überall gleiche Nachfragemuster. I n d e m sich Städte bilden, wird d e m Gebiet d a n n jedoch eine ( i n h o m o g e n e ) Struktur überlagert. Weiterhin soll der Staat eine allseitig unendliche E b e n e ausfüllen. 22 Z u n ä c h s t werde das Standortsystem f ü r G u t 1, d.h. f ü r das zentrale Gut mit der kleinsten Höchstreichweite, betrachtet 2 3 . G u t 1 soll also an einer minimalen Zahl von Standorten (je endlicher Teilfläche) angeboten werden, so d a ß jede Nachfrage (d.h. j e d e r Punkt der E b e n e ) innerhalb d e r Höchstreichweite wenigstens eines Ortes liegt. Dies geschieht dadurch, d a ß die O r t e 1 in einem Sechseckraster ang e o r d n e t werden. Wird die Reichweite rx des Gutes 1 gleich 1 gesetzt, so ergibt sich ein Netz mit dem A b s t a n d zweier Angebotsstandorte ( E l e m e n t a r a b s t a n d ) von V3 (vgl. A b b . 7). Als nächstes zentrales G u t soll Gut 2 betrachtet werden. G u t 2 kann wegen des Zentralitätsprinzips nur an d e n Standorten des Gutes 1 angeboten werden. Z u gleich ist eine größere Reichweite als bei G u t 1 vorausgesetzt. Die kleinstmögliche Reichweite r2 > r, = 1 des Gutes 2, die eine flächendeckende Versorgung garantiert, ist V3. Die S t a n d o r t e des Gutes 2 bilden mithin ein Sechseckraster mit E l e m e n t a r a b s t a n d 3. Alle G ü t e r mit Höchstreichweite r mit rj < r < r 2 (d.h. 1 < r < V3) müssen im Basisraster angeboten werden. Sie werden mithin dem G u t 1 und gleichzeitig den O r t e n 1 zugeschlagen. Abb. 7 Zentrale Orte mit sechseckigem Marlctgebiet (Basisraster)

22

23

Diese A n n a h m e wird von Christaller nicht gemacht; wenn seine Folgerungen jedoch strikt gelten sollen, so ist es zweckmäßig einen unendlich a u s g e d e h n t e n Staat anzunehmen. E s wird später diskutiert, was die K o n s e q u e n z für das Modell ist, wenn zu e i n e m realen Staat mit G r e n z e n u n d Küsten ü b e r g e g a n g e n wird. Christaller beschreibt sein System ausgehend von einer h o h e n ( a b e r nicht der höchsten) Hierarchiestufe. In der Darstellungsweise soll i h m hier nicht gefolgt werden, weil diese wenig durchsichtig ist.

3. Todt: R a u m w i r t s c h a f t s s t r u k t u r e n

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Abb. 8

• Orte des Basisrasters © Orte der nächsten Hierarchiestufe

Alle Netze höherer Ordnung lassen sich in gleicher Weise rekursiv aus dem nächstniedrigeren Netz ableiten. Auf diese Weise ist eine Hierarchie der Güter und der Orte uno acto determiniert. Einige interessante Folgerungen sind aus dem System ableitbar: 1. Eine Region hat nur in erster Näherung die durch v. Thünen beschriebene G e stalt eines Zentrums mit einem Umland aus wirtschaftlich homogenen Ringen. Jede Stadt ist von sechs Orten umgeben, die genau eine Hierarchiestufe niedriger angesiedelt sind. Die Struktur der Landschaft ist zwar in der Tendenz durch abnehmende Intensität der Bodennutzung vom Z e n t r u m zur Peripherie gekennzeichnet; doch ist die A b n a h m e nicht gleichförmig. Christaller beschreibt eine innig verschachtelte Struktur. 2. Städte gleicher Funktion sind gleichförmig im Raum verteilt. 3. Es liegt nahe zu postulieren, daß Bevölkerungszahl und Hierarchiestufe hoch und positiv korreliert sind. Christaller selbst bestreitet das und gesteht allenfalls einen schwachen Zusammenhang dieser Art zu. Die meisten seiner Nachfolger 24 sehen dies aber anders. 4. Schließlich liefert der Christaller'sche Ansatz eine Basis für die ökonomische Erklärung der Existenz von Städten überhaupt. Die Bezeichnung ,Urbanisationseffekte' wurde nicht von Christaller geprägt, wohl aber das Prinzip. Urbanisationseffekte liegen dann vor, wenn verschiedenartige wirtschaftliche Aktivitäten aus der räumlichen Nachbarschaft Vorteile ziehen. Es handelt sich also um positive externe Effekte. Es ist wahr, daß Christaller diesen Gesichtspunkt nicht eingehend diskutiert oder begründet 2 5 . Wohl aber insistiert er entschieden auf dem Zentralitätsprinzip als dem grundlegenden Postulat seiner Konzeption. Dieses Zentralitätsprinzip ist aber nichts anderes als eine spezielle Fassung der Urbanisationseffekte: Die G ü t e r aller Hierarchiestufen bis hin zur Hierarchiestufe der Stadt werden dort räumlich vereinigt für ein ganzes Gebiet angeboten. Als Postulat steht dieses Prinzip am Anfang aller Überlegungen von Christaller und nicht als Ergebnis am Ende.

24

25

Vgl. B. J. L. Berry und A . Pred : Central Place Studies - A Bibliography of T h e o r y a n d Applications, Regional Science Research Institute, Philadelphia 1961. Christaller verweist auf die Wegeminimierung. Vgl. W. Christaller, a.a.O., S. 55. Ausf ü h r u n g e n an a n d e r e r Stelle k ö n n e n so gedeutet werden, d a ß auch der A r b e i t s m a r k t in Städten günstiger sei. Vgl. Christaller, a.a.O., S.98.

70

I. Grundlagen

3.1.4 Kritik an der Theorie der zentralen Orte Christaller hat als Pionier das Recht, das neue Gedankengut verwirrend darzustellen. Er hat von diesem Recht reichlich Gebrauch gemacht. Er vermengt fortwährend empirische Beobachtungen und Erklärungsprinzipien. Wichtige Grundlagen werden eher beiläufig erwähnt, Einzelbeobachtungen oder denkbare Möglichkeiten sehr eingehend diskutiert. Christaller traut offensichtlich seinem mathematisch-starren Schema nur begrenzt und versucht es zu verbessern, indem er eine Fülle von zusätzlichen standortbildenden Faktoren ins Spiel zu bringt. Er hofft wohl, das System lasse sich auf diese Weise auflockern bzw. abwandeln und zu größerer Realitätsnähe fortentwickeln. Genau das geht jedoch nicht. Die Konzeption benötigt zwingend die Annahme einer unendlichen Ebene (was Christaller unterschlägt), die völlig homogen bezüglich aller relevanten Faktoren ist (was Christaller betont), wenn Christaller'sche Prinzipien zu halbwegs erkennbaren Sechseckstrukturen führen sollen. Hat das Land Grenzen und Küsten, Gebirge und Flüsse, die den Verkehr behindern oder begünstigen bzw. umlenken, so wird das regelmäßige Sechseckraster empfindlich gestört. Eigene Simulationsstudien zeigen, daß schon einige der genannten Störungen das System bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Führt man noch Christallers Absonderungsprinzip ein, wonach die Verwaltung Abweichungen veranlaßt oder gar einen systematischen Einfluß der Verkehrswege, so verschwindet jede augenfällige Regelmäßigkeit. Die von Christaller für Süddeutschland ermittelte Struktur paßt nicht so gut, wie er glaubt, mag aber noch akzeptiert werden. Verallgemeinern läßt sich diese Beschreibung auf keinen Fall. Darüber hinaus fehlen jegliche Kriterien, mit deren Hilfe Christallersche Systeme diagnostiziert werden könnten, vor allem aber auch, wie die modifzierenden Faktoren ,weggerechnet' werden sollten. Wie groß dürfen die Abweichungen sein, so daß Christallers System noch als näherungsweise zutreffend gelten kann? Wie kann man solche Kriterien begründen? Die Hierarchien bei Städten und Gütern müßten sich identifizieren lassen. Selbst Christaliers eigene Daten lassen Hierarchien mit klaren Sprüngen nur bei viel Optimismus erkennen. Verändern sich die Daten des Systems, z.B. die Höchstreichweiten, so gibt es keinen Mechanismus, dies auch nur in einigen Jahrzehnten zu bewirken. Christaliers System enthält auf der Ebene der Prinzipien auch kein Entwicklungsgesetz. Marktmechanismen setzen nicht die Höchstreichweite durch; dies könnte nur eine höhere (staatliche?) Vernunft leisten, für deren Existenz es keine Anhaltspunkte gibt. Ein übergreifender sozialer Planer entspricht jedoch nicht der historischen Wahrheit. Selbst wenn eine Dynamik der Anpassung existieren sollte, so würden die Stadtsysteme in ständiger Umgestaltung begriffen sein, so daß Realität und theoretische Konzeption auch aus diesem Grunde auseinander klaffen müßten; erneut stellt sich dann die Frage, wie weit das gehen darf, ohne daß die Thesen Christaliers widerlegt wären.

3. Todt: Raumwirtschaftsstrukturen

71

3.2 Löschs Netztheorie 3.2.0 Die Konzeption Die Konzeption Löschs 2 6 kann als positive Kritik an Christaller aufgefaßt werden. Die Idee des Geographen Christaller, daß eine minimale Zahl von Zentren das Land versorgt, und die damit verbundene Orientierung an den Höchstreichweiten der Güter widerspricht der Tradition des ökonomischen Denkens. D e r Wettbewerb sollte, nach Lösch, eher gerade noch ausreichende Marktgebiete bewirken. Weiterhin folgt aus Christallers Zentralitätsprinzip, daß ein Ort gegebener Hierarchie alle Güter niedrigerer Hierarchie anbietet. Diese Vorstellung von Urbanisationseffekten hält Lösch für falsch. Anknüpfend an diese Kritikpunkte konzipiert Lösch Christaliers Netzansatz neu. Das Netz der untersten Hierarchiestufe (Basisraster) gleicht dem Christallers, nur sind die Abstände an der Mindestreichweite orientiert. Ebenso werden vom Christallerschen System folgende Bedingungen übernommen: - Die zentralen Güter der untersten Hierarchiestufe werden in jeder Siedlung angeboten; d.h. alle Orte höherer Hierarchie liegen auf dem Netz der untersten. - Die Stadt höchster Hierarchie (Hauptstadt) bietet die Güter jeder Hierarchiestufe an. Löschs Netz läßt sich anhand von Abb. 9 erklären. Die Figur kann als schiefwinkliges Koordinatensystem aufgefaßt werden, bei dem die ,Ordinate' in einem 60°-Winkel auf die ,Abszisse' trifft. Im Ursprung des Systems (der linken unteren Ecke der Figur) liege die Hauptstadt. E s liegt Rotationssymmetrie vor: Wird das System in Schritten von 60° um den Ursprung gedreht, so erhält man identische Segmente. Es genügt, wenn - wie in der Abb. - eines davon dargestellt ist. Die eingezeichneten Parallelen zu den beiden Achsen markieren das hexagonale B a Abb. 9

H

26

A. Lösch, a.a.O.

3

5

72

I. Grundlagen

sisraster: In den Schnittpunkten liegen die O r t e der untersten Hierarchiestufe, die auch die alleinigen möglichen Standorte für höhere Hierarchiestufen sind. Soweit stimmt das Schema bis auf den Maßstab völlig mit dem Christallerschen überein. Lösch ersetzt nunmehr jedoch das Christallersche Zentralitätsprinzip (Jeder Ort i bietet auch alle Güter an, die einer Hierarchiestufe kleiner als i entsprechen) durch die Forderung nach minimalen, flächendeckenden (und darum hexagonalen) Marktgebieten: Indem in einem Ort gegebener Hierarchie nicht mehr alle Güter niedrigerer Hierarchiestufe vereint sind, wird eine dichtere Packung erreicht. Die hierarchische O r d n u n g ist nur noch an der G r ö ß e der Marktgebiete erkennbar. Die Größe eines Marktgebietes wird bei Lösch durch die Anzahl der darin enthaltenen Punkte des Basisrasters erfaßt. Die Hauptstadt H (vgl. Abb. 9) vereinigt alle Hierarchiestufen. Man visiere nun von der Hauptstadt aus der Reihe nach die nächsten Standorte aller Hierarchiestufen an. Die jeweilige Verbindungslinie von H zu den Standorten „1", „2", „3", usw. charakterisiert die dazugehörigen hexagonalen Marktgebiete und auch das gesamte Netz der jeweiligen Stufe. Ein ähnliches System könnte statt an der ,Abszisse' an der ,Ordinate' ausgerichtet sein. Beides ist jedoch nicht gleichzeitig möglich: Entweder folgt man der einen oder aber der anderen Seite. Lösch nutzt diesen Freiheitsgrad, um eine A n reicherung von Städten entlang einer Verkehrsachse zu erklären. Angesichts der Rotationssymmetrie bedeutet dies eine Struktur mit sechs Hauptverkehrsachsen, die von der Hauptstadt ausgehen.

3.2.1 Kritik an der Theorie Löschs Beim System von Lösch gelten Urbanisationseffekte uneingeschränkt nur bei den Gütern der untersten Stufe und für die Hauptstadt. Darin ist ein erheblicher Nachteil gegenüber dem System von Christaller zu sehen. Urbanisationseffekte sind der entscheidende Faktor bei der Entstehung und Fortentwicklung von Städten. G e r a d e auf diesen fundamentalen, von Christaller eingeführten Faktor verzichtet Lösch. So sehr der Gedanke des Wettbewerbs auch besticht, minimale Preise und ein minimales Marktgebiet können nicht gleichzeitig erzwungen werden. Bei gegebenen Preisen könnte der Wettbewerb das Marktgebiet klein halten. Sind jedoch an einem O r t mehrere Anbieter im Wettbewerb räumlich vereint, so gewinnt der monopolistische Wettbewerb unter ihnen eine weit in das Umland reichende A n ziehungskraft: Die Vielfalt des Angebotes zwingt die Konkurrenz ins Z e n t r u m oder aus dem Markt. Auch als räumliches Schema für die industrielle Produktion überzeugt Löschs System nicht. Zwar existieren Fühlungsvorteile zwischen Industriebetrieben der gleichen Branche, etwa weil die Nachbarschaft ähnlicher Produktionsvorgänge einen Arbeitsmarkt für Fachkräfte erzeugt; doch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß sich solche Agglomerationen rhythmisch im Raum wiederholen. Es muß darum klar gesagt werden: Das System Löschs ist dem Christallers unterlegen. Trotzdem ist Lösch ein wesentlicher Beitrag geglückt: Durch seine Kontraposition gegenüber Christaller werden werden die Probleme einer Netzkonzeption viel deutlicher.

3. Todt: Raumwirtschaftsstrukturen

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Die Ansätze von Christaller und Lösch sind trotz ernster Mängel die einzigen ausgearbeiteten Netztheorien. Zahlreiche Diskussionsbeiträge, die Variationen im Detail vorschlugen, haben die Grundstruktur nicht verändert 27 . Insofern besteht bis heute keine Alternative zu dieser Betrachtungsweise.

4.0 Schlußbetrachtung Das Bemühen der Regionaltheoretiker ist darauf gerichtet, übergreifende Regelmäßigkeiten im Wirtschaftsraum zu erkennen. Selbstverständlich muß das theoretische Bild die Wirklichkeit vereinfacht beschreiben, d.h. anhand weniger Prinzipien erfassen. Nur so kann der menschliche Geist die Wirklichkeit durchdringen. Komplexe Modelle mögen empirisch erfolgreich sein, dem Verständnis dienen sie kaum. Hier wird ein Dilemma sichtbar: Kann der Wirtschaftsraum überhaupt mit Hilfe weniger, schlichter und damit durchsichtiger Prinzipien zufriedenstellend erklärt werden? Ganz gewiß bleibt stets ein unerklärter Rest von systematischen Fehlern. Dieser Rest wird auch erheblich sein. Dieses Problem teilt die Regionalökonomik mit den anderen Zweigen der Nationalökonomik. Doch gibt es auch Aspekte, die optimistisch stimmen: Der langsame Wandel von Raumstrukturen erlaubt eine zuverlässigere Erfassung dessen, was ist, und eine bessere Prognose, selbst wenn die Zusammenhänge nur unvollkommen verstanden werden. Im Grunde beruft sich dieses Argument auf die Fortdauer des historisch gewachsenen Zustandes. Die zu erklärende Änderung ist kurzfristig marginal, aber über längere Zeiträume hinweg schwerwiegend.

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27

Ein beachtlicher Versuch, die Konzeptionen von Christaller und Lösch zu vereinigen, geht auf von Böventer zurück. Vgl. E. von Böventer: Die Struktur der Landschaft, Versuch einer Synthese und Weiterentwicklung der Modelle J. H. von Thünens, W. Christallers und A. Löschs, in: Optimales Wachstum und optimale Standortverteilung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, (Hrsg.) E. von Böventer, R. Henn und G. Bombach, Bd. 27, Berlin 1962, S. 77-133.

74

I. Grundlagen

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4. Grundlagen des Raumordnungsrechts In Art. 75 Nr. 4 GG wird zwar die „Raumordnung" als eine der Rahmengesetzgebungsbefugnis des Bundes unterliegende Gesetzgebungsmaterie aufgeführt. Der Umfang des Raumordnungsrechts reicht indes weiter und geht insbesondere weit über den unmittelbar Regelungsbereich des auf diesen Artikel gestützten (Bundes-)Raumordnungsgesetzes ( R O G i.d.F. der Bekanntmachung v. 28.4.1993; BGBl I S. 630; letztmalig geändert durch Art. 6 Abs. 33 des G. zur Neuordnung des Eisenbahnwesens v. 27.12.93; BGBl I S. 2378) hinaus. Das hängt mit der Aufgabenstruktur der Raumordnung als einer zusammenfassenden, übergeordneten und überörtlichen Planung zusammen (Gutachten des BVerfG v. 16.6.1954 BVerfGE 3,407 (425). Damit wird die Raumordnung in einen weiten politischen, legislativen, administrativen und planerischen Zusammenhang zu einer Vielzahl öffentlicher und privater Aktivitäten gesetzt, die ihrerseits rechtliche Grundlagen und Rückbezüge haben, die im weiteren Sinne dem Raumordnungsrechts zuzurechnen sind und vielfach unter der Bezeichnung „Raumplanungsrecht" zusammengefaßt werden. Dieser weitere Begriffsrahmen wird im folgenden zu Grunde gelegt, ohne den Begriffsinhalt damit völlig ausufern zu lassen.

1.0 Geschichtliche Entwicklung Der Raumordnungsbegriff ist unrühmlich verknüpft mit der Ostexpansionspolitik des Dritten Reiches und mußte Mitte der 60er Jahre im Vorfeld des Erlasses des R O G (1965) erst einmal „entnazifiziert" werden, um dann als grundgesetzkonforme, föderalstaatlich gebotene Aufgabe neu konstituiert zu werden. Diese politische Abschichtung ist vollauf gelungen. Indes hat sich die Mitte der 60er Jahre in Bund-Länderkompromissen herausgebildete Raumordnungsaufgabe seitdem wiederholt maßgeblich verändert. Das hat sich rechtlich weniger in expliziten Veränderungen des ROG, als vielmehr in wiederholten Änderungen der in den verschiedenen Bundesländern in Ausfüllung des Bundesrahmenrechts erlassenen Landesplanungsrechte, sowie in der Fortentwicklung der Fachplanungs- und Umweltplanungsgesetzgebung auf Bundes- und Länderebene niedergeschlagen. In die Mitte der 70er Jahre fällt die raumordnungspolitische Anstrengung, über ein schließlich von Bund und Ländern gemeinsam verabschiedetes Bundesraumordnungsprogramm eine bundesweite Koordinierung raumordnungsrelevanter Planungen, Maßnahmen und Investitionen von Bund und Ländern zu erreichen, die allerdings mit einem Minimalkompromiß und einem nur marginalen Koordinierungserfolg endete. Der integrative, d.h. über einzelne konkrete Fachaufgaben hinausgehende Koordinationsansatz wurde der Raumordnung seitdem zunehmend von Fachplanungen zu entwinden versucht, die ihr sektorales Planungsverständnis um fachübergreifende, insbesondere Umweltaspekte erweiterten. Überhaupt stellte die erstarkende Umweltplanungsdiskussion einen für eine weite Öffentlichkeit weit verständlicheren Koordinierungsaspekt in den Vordergrund, als er von der eher vage raumbezogen argumentierenden Raumordnung verwandt wurde.

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I. Grundlagen

Das hier verwandte verfassungsrechtlich-institutionell geprägte Verständnis von Raumordnung hat indes keineswegs so in den politischen und wissenschaftlichen, insbesondere wirtschaftswissenschaftlichen Sprachgebrauch Eingang gefunden. Dort wird der Begriff durchweg eher so verwandt, daß Raumordnung als Aufgabe aller möglichen Politikbereiche, wie etwa der regionalen Wirtschaftspolitik, Agrar-, Verkehrs-, Europapolitik etc. verstanden wird, so daß alle möglichen Ressorts neben den für Raumordnung und Landesplanung zuständigen Bundes- bzw. Landesbehörden ebenfalls die Wahrnehmung von Raumordnungsaufgaben für sich beanspruchen können. Strategische Überlegungen, die Raumordnung über die Verbindung mit einer starken Fachplanung politisch aufzuwerten, wurden zwar angestellt, fanden aber dort, etwa bei der in der 70er Jahren sehr starken Verkehrsplanung, kein Echo und hätten auch eine grundsätzliche Änderung des Aufgabenverständnisses der Raumordnung bedingt. Erst im Zusammenhang mit der sich Anfang der 80er Jahre abzeichnenden Notwendigkeit, die Umweltverträglichkeits-Richtline der E G (UVP RL 85/337 E W G v. 27.6.85 ABl. E G Nr. L175, S. 40) in nationales Recht umsetzen zu müssen, wurden entschiedene Anstrengungen seitens der Raumordnung unternommen, ihr Abseitsstehen gegenüber den erstarkenden Fachplanungen zu überwinden und unter Betonung von Umweltschutzaspekten verstärkt koordinierenden Einfluß auf die raumrelevanten Fachplanungen zu gewinnen. Durch einen neueingefügten § 6a ROG wurde 1989 das Raumordnungsverfahren (ROV) rahmenrechtlich verbindlich vorgeschrieben und mit der Funktion einer 1. Stufe einer mehrstufig konzipierten UVP versehen; im Zuge allgemeiner Deregulierungs-, Beschleunigungs- und Verwaltungsvereinfachungstendenzen wurden allerdings bereits im Jahre 1993 die Verknüpfung von ROV und UVP wieder weitgehend revidiert. Einen bemerkenswerten politischen Anschub hat die Raumordnung auf Bundesebene indes durch das Zusammenfallen von Wiedervereinigung, Öffnung des Eisernen Vorhangs und der Fortentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Union (EU) erfahren, der sich bundesraumordnungspolitisch insbesondere in der schnellen Aufeinanderfolge der dem Bundestag vorgelegten Raumordnungsberichte 1991 und 1993, sowie in einem 1993 vom BMBau vorgelegten Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen widerspiegelt.

2.0 Rechtsmaterien der Raumordnung und Landesplanung Die Zuweisung der Rahmenkompetenz für die Raumordnung an den Bund in Art. 75 Nr. 4 G G betrifft nur die Frage der Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse zwischen Bund und Ländern für diesen Aufgabenbereich, dagegen nicht die davon zu unterscheidende Frage der Verteilung der diesbezüglichen Verwaltungsbefugnisse einschließlich der Befugnis zur Aufstellung einschlägiger Programme und Pläne. Die rechtliche Verteilung raumplanerischer Befugnisse zwischen Bund und Ländern ist insofern kompliziert, als Planung, etwa in Form der Erstellung von Programmen und Pläne je nach deren Inhalt und nach dem eingeschlagenem Verfahren als legislatives oder als administratives Handeln zu betrachten sind und da-

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mit den jeweils dafür einschlägigen Kompetenz- und Verfahrensvorschriften zu unterstellen ist. Die Abgrenzungskriterien sind in der Vergangenheit keineswegs durch zwingende rechtliche Vorgaben, sondern durchaus durch den verfassungsrechtlichen Rahmen ausfüllende politische Bund-Länder-Kompromisse vorgezeichnet worden, die indes eine breite politische Öffentlichkeit kaum zu interessieren vermocht haben. So ist auch die Begrifflichkeit bisher eher durch Konvention zwischen Fachleuten als durch juristische Stringenz gekennzeichnet. Dazu gehört, daß Raumordnung vielfach mit deutlicher begrifflicher Ausrichtung auf die Bundesebene verwandt wird, während Landesplanung i.S. einer Raumordnung auf Landesebene verstanden wird. Insofern ist das Aufgabenverständnis von Raumordnung und Landesplanung durchaus gleich definiert, und beide Begriffe werden deshalb auch vielfach undifferenziert parallel nebeneinander aufgeführt, u.a.auch vom Gesetzgeber selbst etwa in der immer wieder verwandten Formulierung „Ziele der Raumordnung und Landesplanung", vgl. § 5 Abs. 4 ROG, § 1 Abs. 3 BauGB. Insbesondere durch den § 5 ROG, der sich mit der Raumordnung in den Ländern befaßt, wird deutlich, daß die Aufstellung von raumordnerischen Programmen und Plänen Aufgabe der Länder sein soll. Dabei ist dies nicht Ergebnis des Art. 75 Nr. 4 GG, sondern Ausdruck der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung des Art. 30 GG, wonach die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben, also der Vollzug auch von Bundesgesetzen, grundsätzlich Aufgabe der Länder ist, sofern nicht das Grundgesetz eine davon abweichende Regelung getroffen hat. Bei der Abfassung des R O G ist politisch konsentiert worden, daß rahmenrechtlich nicht nur verfahrensrechtliche Regelungen bezüglich der Wahrnehmung der Raumordnungsaufgabe bundesrechtlich getroffen werden dürfen. Vielmehr sind auch materiell-inhaltliche Regelungen, etwa in Form der bundesgesetzlichen Vorgabe von Leitvorstellungen und Raumordnungsgrundsätzen als zulässig erachtet worden. Rechtlich unzulässig ist indes, daß der Bund raumordnerische Zielsetzungen mit der in § 5 Abs. 4 R O G vorgesehenen rechtlichen Beachtlichkeit erlassen kann. Diese bei Erlaß (1965) des R O G konsentierte Bund-Länder Kompromißlösung hat seitdem, insbesondere im Zusammenhang mit der Diskussion um die Aufstellung eines Bundesraumordnungsprogramms, umfangreiche Überlegungen ausgelöst, um den Bund aus diesen juristischen Fesseln zu lösen. Dabei hat die in dem oben erwähnten Gutachten des BVerfG aus dem Jahre 1954 eher beiläufig erwähnte Vollkompetenz des Bundes für die Raumplanung für den Gesamtstaat „aus der Natur der Sache" eine gewisse Rolle gespielt. Allerdings hat sich vor dem Hintergund einer jahrzehntelangen Verfassungpraxis eines „Kooperativen Föderalismus" für eine solche Vollkompetenz bislang kein konkreter Anwendungbereich finden lassen, nachdem gesamtstaatlich evidente Planungsdefizite auf Seiten der Länder bei länderübergreifenden Fragestellungen nicht zutage getreten sind. Die Vorstellung einer rahmensetzenden Strukturierung der Landesplanungsrechte der Länder durch das R O G mag idealtypisch zutreffen, verkennt aber, daß das (Bundes-)Raumordnungsgesetz bereits bei seinem Erlaß mit sehr unterschiedlichen landesplanungsrechtlichen Traditionen in den einzelnen Bundesländern

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konfrontiert war, die bei der Kodifizierung (und auch späteren Novelllierungen) des Bundesraumordnungsrechts eher aufgenommen worden sind, als daß eine strukturierende Beeinflussung unternommen worden wäre. Alle Flächenstaaten, inzwischen auch die neuen Bundesländer, besitzen heute eine gesetzliche Kodifzierung ihres Landesplanungsrechts, meist unter der Bezeichnung als „Landesplanungsgesetz" bzw. als „Gesetz zur Raumordnung und Landesplanung", o.ä. Wegen der Bezeichnungen und Fundstellen sei auf die Wiedergabe im Anhang des jeweils letzten (Bundes-) Raumordnungsberichtes verwiesen, aus dem sich auch Informationen über die Organisation der Landes- und Regionalplanung der einzelnen Bundesländer, sowie relevante Planungsgrundlagen, wie Programme und Pläne (im Zeitpunkt der Erstellung des Berichts) entnehmen lassen. Die Inhalte der Landesplanungsgesetze der einzelnen Länder differieren durchaus erheblich, insbesondere hinsichtlich der Organisation der Landes- und Regionalplanung, sowie der Plansystematik und -inhalte. Für die Stadtstaaten ersetzt nach § 5 Abs. 1 S. 5 R O G der jeweils gültige Flächennutzungsplan die raumordnerischen Pläne und Programme i.S. dieser Vorschrift.

3.0 Aufgabenkonstruktion der Raumordnung und Landesplanung Anhand der erwähnten, im Gutachten des BVerfG herausgestellten Begriffsmerkmale: überfachlich, überörtlich, zusammenfassend lassen sich wesentliche Aspekte der Aufgabenkonstruktion erläutern. Raumordnung und Landesplanung stellen eine Koordinierungsaufgabe dar, die sich prinzipiell an öffentliche Planungs- und Aufgabenträger wendet, nicht dagegen an den einzelnen Bürger. Begrifflich ist diese Koordinierungsaufgabe mit der Vorstellung eines rechtlichen und politischen Vorranges der verfolgten Koordinierungziele gegenüber den zu koordinierenden Aufgabestellungen verbunden. Dieser Vorrang bedarf indes einer rechtlich-differenzierten Sichtweise, weil die Koordinationsadressaten durchweg selbst in ihrer öffentlichen Aufgabenwahrnehmung auf Grund von gewichtigen verfassungsrechtlichen Prinzipien, wie etwa des Föderalstaatsprinzip (Art. 20 GG), des die ministerielle Eigenständigkeit der Fachminister sichernden Ressortprinzips (Art. 65 GG) oder des die kommunalen Planungsträger schützenden Recht der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 G G ) über eine rechtlich gesicherte Position verfügen. Koordinierung beläßt die Wahrnehmung der zu koordierende Aufgabe grundsätzlich in der Kompetenz der betreffenden öffentlichen Planungs- und Aufgabenträger, d.h. Raumordnung und Landesplanung werden mit ihrer Koordinierungsaufgabe keineswegs Inhaber einer Art „Superkompetenz" für alle Aufgabenbereiche, auf die sich die Koordinierung richtet. Daraus folgt, daß Raumordnung und Landesplanung bewußt nicht über eigene Haushaltsmittel zur Wahrnehmung ihrer Koordinierungsaufgabe, etwa durch die Gewährung von „Spitzenfinanzierungen" verfügen, sondern sich nur auf ihre Planungsinstrumentarien und ggf. auf ihre Überzeugungskraft stützen können.

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Hinsichtlich ihres rechtlichen Planungs- und Koordinationsinstrumentariums weisen Raumordnung und Landesplanung bezogen auf den von ihnen erhobenen umfassenden Koordinierungsanspruch eine überschießende Innentendenz auf, d.h. ihr koordinatives politisches Wollen geht u.U. weiter, als ihr rechtliches Koordinationsinstrumentarium reicht. Inhaltlich folgt aus der Beschränkung auf eine Koordinierungsaufgabe, daß die vielfach anzutreffende Vorstellung, die kommunale Bauleitplanung und die Fachplanungen müßten die Bundesraumordnung bzw. die Landesplanung im Sinne einer stufenweise sich konkretisierenden Zielhierachie umsetzen (implementieren), unzutreffend ist. Raumordnung und Landesplanung setzen zwar zwingend zu beachtende planerische Fixpunkte (= Ziele der Raumordnung und Landesplanung), aber daraus lassen sich nicht im Wege einer stufenweise Plan-Konkretisierung etwa konkrete kommunale Planungsentscheidungen ableiten, z.B. ob auf einer Fläche eine Grundschule oder ein Friedhof ihren Standort finden sollen. Der überörtliche Charakter der Raumordnung und Landesplanung wird determiniert durch die rechtliche Konstruktion als staatliche Koordinierungs- und Steuerungsaufgabe, die von der örtlichen Bauleitplanung in kommunaler Trägerschaft mit anderer kompetenzrechtlicher Grundlage (Art. 74 Nr. 18 GG, „Bodenrecht") deutlich abzusetzen ist, obwohl sich Raumordnung und Landesplanung einerseits und Bauleitplanung andererseits in ihrem zusammfassenden, weil mehrere Fachaspekte integrierenden Charakter durchaus gleichen. Insofern mag es durchaus nachvollziehbar sein, wenn im politischen Sprachgebrauch zuweilen von „kommunaler Raumordnung" gesprochen wird. Rechtlich ist dies aber eher irreführend. Die paarweise Verwendung der Begriffe Raumordnung und Landesplanung setzt sich fort in der vielfach ebenfalls paarweisen Verwendung der Begriffe „Landesund Regionalplanung", die die Regionalplanung als Unterfall der Landesplanung erscheinen läßt.In der Tat stellt die Regionalplanung die höchste Konkretisierungsstufe landesplanerischer Zielsetzungen im Zielsystem der Landesplanung dar. Irritierend mag sein, daß die Trägerschaft für die Regionalplanung nicht unbedingt staatlich, sondern durchaus auch etwa in kommunaler oder (kondominal) staatlich-kommunaler Aufgabenwahrnehmung erfolgen kann, s.u. 5.1.1), d.h. außerhalb streng hierachischer staatlicher Behörden und Weisungsstrukturen. Über in staatlichem (Planungs-) Ermessen stehende Genehmigungserfordernisse wird aber der staatliche Charakter eindeutig belegt. Eine Besonderheit der Regionalplanung ist ihre Einflußnahme nicht nur auf die raumbedeutsamen (kommunalen Bauleit- und auf Fach-) Planungen, sondern gerade auch auf die für die Verwirklichung der Raumordnung wichtigen raumbedeutsamen Maßnahmen und Investitionen. Insofern ist die Regionalplanung in besonderer Weise nicht nur planungs-, sondern in erheblichem Maße auch implementationsorientiert. Der Sprachgebrauch anderer wissenschaftlicher Disziplinen, insbesondere der Regionalökonomen, ignoriert diese Differenzierungen der raumplanungsrechtlichen Begriffsbildung weitgehend, und auch die ausländische Diskussion einschließlich der Terminologie in den deutschen Fassung der Dokumente der EU gehen von einem von deutsche Rechtsgebrauch unterschiedlichen Raumordnungsbegriff aus, der auch für die E U Dokumente keineswegs einheitlich ist.(vgl. auch u. 8.0)

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Das deutsche Verständnis von Raumordnung als einer verrechtlichten politischen Steuerungs- und Koordinationsaufgabe bezogen auf das Gesamt- bzw. auf erhebliche Teilterritorien des Staatsgebietes ist von den europäischen Nachbarländern durchweg nicht aufgegriffen und übernommen worden. Teils werden diese Aufgaben dort als rein politische verstanden und dementsprechend als Gegenstand der allgemeinen Regierungspolitik oder einzelner Fachpolitiken aufgefaßt. Das spiegelt sich auch in der Sichtweise der einzelnen wissenschaftlicher Fachdisziplinen wieder, deren Terminologien u.U. entsprechende länderspezifische Unterschiede aufweisen. Daraus ergeben sich manigfache interdisziplinäre Verständnis- und fremdsprachliche Übersetzungsschwierigkeiten. So stößt die Übersetzung von Raumordnung/ Landesplanung mit „regional planning" oder „comprehensive regional planning" auf erhebliche Widerstände etwa seitens Großbritannien, wo sich inzwischen die zunehmend auf den Kontinent übergreifende Übersetzung mit „spatial planning" weitgehend durchgesetzt hat. Dahinter steht die politische Befürchtung, daß von dem Begriff „regional planning" Ansätze zu einer das zentralistische Staatssystem gefährdenden, rechtlichen Verselbständigung einzelner Teilräume des Staatsgebietes ausgehen könnten und bestehende Regionalisierungtendenzen Vorschub erhalten könnten. In EU-Dokumenten wird der Begriff „Raumordnung" im Zusammenhang mit großräumigen Auswirkungen einzelner Fachpolitiken, z.B. im Dokument Europa 2000 auf dem Kommunikationssektor, verwandt und damit ein indes keineswegs gegebener Bezug zu dem rechtlich geprägten deutschen Raumordnungsaufgabenverständnis impliziert (vgl. 8.0).

4.0 Organisation und Instrumentarien der Bundesraumordnung Angesichts der oben beschriebenen Kompetenzlage sind die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten des für die Raumordnung zuständigen Bundesministers beschränkt. Wer der für die Raumordnung zuständige Bundesminister ist, ergibt sich aus Geschäftsverteilung für die Bundesregierung, die durch Regierungsakt, nicht etwa durch Gesetz erfolgt. Gegenwärtig ist für die Raumordnung zuständig das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. In der Vergangenheit hat die Raumordnung auch in anderen Ministerien, lange Zeit etwa im Bundesinnenministerium, ressortiert. Die Koordinationsaufgabe der Raumordnung spiegelt sich organisatorisch in einer Reihe von Koordinationsgremien wieder, die insbesondere horizontal zwischen den verschiedenen Bundesressorts und vertikal im Bund-Länderverhältnis mit gesamtstaatlicher Ausrichtung wirken, aber auch dem fachlich-wissenschaftlichen Meinungsaustausch und der politischen Willensbildung dienen sollen. Zu nennen sind hier etwa: - der Kabinettsausschuß für Raumordnung - der Interministerielle Ausschuß für Raumordnung - IMARO - die Ministerkonferenz für Raumordnung M K R O mit einer Unterorganisation (Hauptausschuß und Fachausschüsse) - die Ministerpräsidentenkonferenz

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- ferner der Beirat für Raumordnung. Die rechtlichen Grundlagen für deren Zusammentreten und Tätigwerden finden sich u.a. in der internen Geschäftsordnung der Bundesregierung, im R O G (§§ 8 und 9), sowie in der föderalen Verfassungspraxis. Dementsprechend sind die Entschließungen und Handlungsformen der erwähnten Gremien sehr unterschiedlich nach ihrer Rechtsnatur und ihrem Inhalt. Das Hauptinstrument in der Hand des für die Raumordnung zuständigen Bundesministers ist die Federführung bei erforderlich werdenden Novellierungen des R O G und die damit gegebene Einflußmöglichkeit auf die Fortentwicklung des Bundesraumordnungsrechts. Weil dafür allerdings, wie erwähnt, nur eine Rahmenkompetenz zur Verfügung steht, ist dadurch eine direkte Eingriffsmöglichkeit in die landesplanerische Programm- und Planungskompetenz (der Länder) nicht gegeben. Über die Ausformulierung materiell-inhaltlicher Raumordnungsgrundsätze kann indes eine gewisse rechtliche Hebelwirkung im Zusammenhang mit § 4 Abs. 1 R O G ausgeübt werden.Danach hat der Raumordnungsminister unbeschadet der Zuständigkeiten der Länder auf die Verwirklichung der Raumordnungsgrundsätzein § 2 R O G hinzuwirken, insbesondere durch Abstimmungen der raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen einschließlich der raumwirksamen Investitionen. Ferner hat der Raumordnungsminister nach § 4 Abs. 1 S. 2 R O G die langfristigen und großräumigen Planungen und Maßnahmen zusammenfassend darzustellen. Seit Erlaß der R O G sind jedoch die politischen Bemühungen des Raumordnungsministers - insbesondere nach den Erfahrungen im Zusammenhang mit der Ausarbeitung eines Bundesraumordnungsprogramms- angesichts erheblicher Widerstände seitens der Länder eher verhalten geblieben, die rechtlichen Möglichkeiten, die das R O G bietet, politisch und gegebenenfalls verfassungsgerichtlich auszuloten. Die nach der ursprünglichen Konzeption des R O G über die vorgenommene Verrechtlichung beabsichtigte stärkere Bindung der Länder hat sich bundesraumordnungspolitisch im Ergebnis nicht durchsetzen lassen. Indes erscheint der seiner Zeit gewählte Verrechtlichungsansatz, auch angesichts der Entwicklung in den europäischen Nachbarländern, zu einem erheblichen Teil überholt. Insofern erscheint die politische Handhabung der Bundesraumordnung in der Vergangenheit als politisch angemessen, auch wenn eine engagiertere Auslotung der darin liegenden rechtlichen und politischen Möglickeiten vorstellbar gewesen wäre. In dem (novellierten) programmatischen § 1 R O G wird die Revelevanz der Raumordnung u.a. für die Herstellung der Deutschen Einheit und die Schaffung von Voraussetzungen für die Zusammenarbeit im europäischen Raum herausgestellt und eine Reihe von Leitvorstellungen formuliert, von denen die Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Teilräumen angesichts der nach der Wiedervereinigung noch zu bewältigenden Aufgaben diejenige materielle Leitvorstellung mit der derzeit wohl erheblichsten Operationalität ist, wobei der Begriff von anderen Vorschriften des Grundgesetzes, etwa dem Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG, eine inhaltliche Auffüllung erfährt. Die im nachfolgenden § 2 Abs. 1 R O G in 13 Ziffern geregelten Raumordnungsgrundsätze gelten nach § 3 R O G nur gegenüber bestimmten Adressaten, nämlich auf Bundesseite ziemlich umfassend gegenüber allen Bundesbehörden sowie gegenüber sonstigen bundesunmittelbaren Planungsträgern und juristischen Personen, dagegen auf Länderseite nur beschränkt gegenüber den Landesplanungen in

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den Flächenländern bzw. gegenüber der Flächennutzungplanung in den Stadtstaaten. Die Rechtsnatur der Raumordnungsgrundsätze als geltendes Bundesrecht steht außer Frage, gleichwohl sind die von ihnen ausgehenden Rechtswirkungen, wenn auch zweifellos weitgehender als die der Leitvorstellungen in § 1 ROG, angesichts ihres durchweg eher programmatischen Inhalts nur von begrenzter rechtlicher Bestimmtheit. Überdies können sie von den Zieladressaten des § 3 R O G nach Maßgabe des § 1 R O G abgewogen werden, d.h. sie stehen diesen im Rahmen pflichtgemäßer Abwägung insoweit zur Disposition, als sie die hinter den Raumordnungsgrundsätzen stehenden Belange ohne Rechtsverstoß vorziehen oder zurückstellen können. Der einzelne Bürger kann aus den Raumordnungsgrundsätzen nach § 3 Abs. 3 R O G keine Rechtwirkungen herleiten. Gegenüber den anderen Landesbehörden erlangen die Raumordnungsgrundsätze - recht kompliziert - erst über die sie beachtenden Planungsaktivitäten der Landesplanung (unmittelbare) Relevanz. Die Länder können übrigens auch selbst weitere (Landes-)Raumordnungsgrundsätze aufstellen, wobei die materielle Abgrenzung zu allgemeinen Zielen der Raumordnung und Landesplanung eher rechtsdogmatische als planungspraktische Probleme aufwirft. Auf den ersten Blick mag die gewisse Heterogenität des Regionen-Rasters der derzeit 97 (Bundes-)Raumordnungsregionen erstaunen, das von der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung mit Hauptsitz in Bonn-Bad Godesberg, einer dem Bundesraumordnungsministerium nachgeordneten Oberen Bundesbundesbehörde, z.B. bei der Erstellung des Bundesraumordnungsberichte oder sonst für Analysezwecke zu Grunde gelegt wird. Das hängt damit zusammen, der Bund die Regionsabgrenzung nicht autonom vorgenommen hat, sondern sich dabei an die von den Landesplanungen der Ländern vorgegebenen Regionalstrukturen gehalten hat.

5.0 Organisation und Instrumente der Landesplanung In § 5 R O G sind einige Rahmenvorgaben enthalten, die die Länder bei der rechtlichen Ausgestaltung ihrer Landesplanung zu beachten haben. Diese aber lassen einen weiten Raum für deren Organisation ( einschließlich der Regionalplanung) und die Ausgestaltung der Instrumentarien. Die Landesplanung weist von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedliche Entwicklungen auf, die zu der Verwaltungs- und Kommunalstruktur des jeweiligen Bundeslandes und zu der Verwaltungskultur, insbesondere im Umgang zwischen Staat und Selbstverwaltung - jedenfalls in den alten Bundesländern - in einem engen gewachsenen Zusammenhang stehen. Als rechtliche Problematik der Landes- und Regionalplanung ist sicherlich die Verbindlichkeit der Ziele der Raumordnung und Landesplanung gegenüber der kommunalen Bauleitplanung, aber auch gegenüber den Fachplanung von besonderer Bedeutung, zumal die rechtliche Beachtlichkeit der Ziele in § 5 Abs. 4 ROG, sowie in zahlreichen Raumordnungsklauseln sowohl im BauGB als auch in fast allen Fachplanungsgesetzen (meist) bundesrechtlich angeordnet ist und insoweit unabhängig von den rechtlichen Eigenheiten der einzelnen Landesplanungsrechte bundesweit gilt. Landesplanung erschöpft sich jedoch keineswegs in der Erstellung rechtsverbindlicher Ziele, d.h. ist keineswegs nur Rechtshandeln, sondern in erster Linie politi-

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sches Handeln. Dieses spiegelt sich in den landesplanerischen Programmen und Plänen (einschließlich der Regionalplanung) wider, die vielfach mit ihrem zeitlich eigentlich auf ca. 10 Jahre beschränkten Zielgeltungshorizont trotz maßgeblich veränderter landesplanungs- bzw. landesentwicklungspolitischer Grundvorstellungen weitergelten und als rechtliche Basis zur Realisierung auch inhaltlich durchaus veränderter politischer Vorstellungen benutzt werden. Nicht alle textlichen oder zeichnerischen Darstellungen in diesen Programmen und Plänen weisen Zielcharakter auf, insbesondere nicht soweit darin etwa reine physische status quo - Darstellungen aufgenommen worden sind, die zum Verständnis der Zusammenhänge oder zur Erläuterung der räumlichen Bezüge von Zielen erforderlich sind. Von besonderer Bedeutung ist der Plan- oder Programmaufstellungsprozeß, da etwa die Ausformulierung von Zielen zwar planerischer Rationalität verhaftet sein sollte, aber die zugrunde liegenden Wertungen durchweg das Ergebnis von umfangreichen Kompromiß- und Abstimmungsprozessen zwischen den verschiedenen betroffenen Planungsträgern sind. Von daher stellt die Durchführung des Planungsprozeses einen zentralen Aufgabengegenstand der Landes- und Regionalplanung mit einen Wert in sich selbst dar. Planerische Konzeptbildung und Prognose künftiger Entwicklungen bedingen wissenschaftlich-methodisches Arbeiten der Landesplanung, das über wissenschaftlich qualifiziertes Personal bei den Landesplanungsbehörden selbst, über zu- bzw. nachgeordnete Landesinstitute oder über die Einschaltung externen wissenschaftlichen Sachverstandes gewährleistet wird. Die einzelnen landesplanerischen Aktivitäten weisen insofern durchaus unterschiedliche rechtliche Relevanz auf, wobei zunehmend politische, rechtlich nicht mehr faßbare Verbindlichkeiten das Instrumentarium der Landes- und Regionalplanung bereichern, wobei Novellierungen des jeweiligen Landesplanungsrechts vielfach erst mit einiger zeitlicher Verzögerung die politische Realität rechtlich nachzuzeichnen unternehmen. Durchweg hinkt die rechtliche Erfassung der landesplanerischen Praxis um einiges der politischen Realität hinterher, d.h. die rechtliche Dogmatik segnet vielfach nachträglich erst eine politische Praxis ein.

5.1 Organisation der Landes- und Regionalplanung 5.1.0 Organisatorischer Standort der obersten Landesplanungsbehörde Der organisatorische Standort der Landesplanung innerhalb der Ressortverteilung der einzelnen Landesregierungen ist sehr unterschiedlich. Durchweg sehen die Länder für die Wahrnehmung der Aufgaben der obersten Landesplanungsbehörde kein eigenes (Landesplanungs-)Ministerium vor, sondern fassen die Wahrnehmung der genannten Aufgaben mit anderen Ressortaufgaben, insbesondere im Umweltbereich, in einem Minsterium zusammen. Teilweise befindet sich die oberste Landesplanungsbehörde auch als Abteilung in einem klassischen Ministerien, wie etwa dem Innenminsterium, oder dem Wirtschaftsministerium, oder ist der Staatskanzlei zugeordnet. In den Stadtstaaten liegen die entsprechenden Aufgaben durchweg bei den Senatoren für Stadtentwicklung. Die Regierungsorganisation in den neuen Bundesländern hat gezeigt, daß es für die Landesplanung kein allgemein akzeptiertes Zuordnungsmodell gibt, das selbstverständlich übernommen worden wäre. Es gibt offensichtlich jeweils Vor-

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und Nachteile der einzelnen Organisationsmodelle. Es ist zu beachten, daß die obersten Landesplanungsbehörden mangels Zuständigkeit für Haushaltsmittel erfordernde Durchführungsaufgaben nur eine relativen geringen Personalbestand aufweisen, der es bereits vom Stellenkegel her vielfach schwer macht, den Leiter der obersten Landesplanungsbehörde besoldungmäßig den Leitern anderer großer Ministerialabteilungen gleichzustellen.

5.1.1 Organisation der Regionalplanung Regionalplanung ist als Teil der Landesplanung der Sache nach ebenfalls eine staatliche Aufgaben, wobei die Trägerschaft für die Regionalplanung staatlich, über kommunale Zusammenschlüsse (Planungsgemeinschaften) oder auch in kondominal staatlich-kommunaler Trägerschaft erfolgen kann; bei staatlicher Trägerschaft sind jedoch die Kommunen in einem förmlichen Verfahren an der Regionalplanung zu beteiligen (§ 5 Abs. 3 ROG). In der Regionalplanung erreichen die Ziele der Raumordnung und Landesplanung ihre höchste räumliche und sachliche Konkretheit innerhalb der landesplanerischen Ziel- (und Grundsatz-)hierarchie, so daß sich die kommunale Bauleitplanung und die Fachplanungen insbesondere durch die Regionalplanung konfliktträchtig unmittelbaren rechtlichen Bindungen ausgesetzt sehen. Gleichzeitig weist die Regionalplanung gegenüber der (Bundes-) Raumordnung und Landesplanung einen wesentlich unmittelbareren Durchführungs- und Realisierungsbezug auf, der es im Interesse einer verwirklichungsorientierten Regionalplanung erfordert, die Trägerschaft und den gebietsmäßigen Zuschnitt für die Regionalplanung mit den Organisationsstrukturen für staatliche und kommunale Trägerschaft bezüglich der Wahrnehmung des Verwaltungsvollzugs abzustimmen, also etwa Deckungsgleichheit mit Regierungsbezirken bzw. (ein/) mehreren (ungeteilten) Landkreisen/kreisfreien Städten anzustreben. Regionalplanung kommt auch bundeslandüberschreitend vor, z.B. Regionalplanung Donau-Iller oder Raumordnungsverband Rhein-Neckar, und muß dabei aus verfassungrechtlichen Gründen schwierige Organisations- und Verfahrensprobleme bewältigen. Vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher staatlicher Organisationsstrukturen, insbesondere dem Fehlen einer staatlichen Mittelinstanz (Regierungsbezirke) in einigen Bundesländern und unterschiedlicher Kommunalstrukturen - trotz oder wegen noch Ausstehens kommunaler Neuordnung, etwa in den neuen Bundesländern- haben sich in den Flächenländern sehr unterschiedliche Organisationsformen für die Regionalplanung herausgebildet, die von starker Kommunalisierung durch Herunterziehen der Regionalplanung auf die Kreisebene (z.B. Niedersachsen) über die Zuordnung zur staatlichen Mittelinstanzebene mit Arbeitsteilung zwischen kommunal legitimiertem regionalen Planungsgremien und der staatlichen Verwaltung als Arbeitsstab bzw. einem staatlich angestellten Bezirksplaner (z.B. NRW) bis zur Bildung staatlicher Regionalplanungsämter als Außenstellen ministerialer Behörden, etwa in einigen neuen Bundesländern (z.B. Thüringen), reichen.

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5.2.0 Planungssysteme der Landes- und Regionalplanung Die Systematik der landesplanerischen Planungssysteme variiert zwischen den verschiedenen Bundes(flächen-)ländern erheblich. Dahinter verbergen sich nicht nur formale (z.B. bzgl.der verwandten Darstellungsweisen oder Planzeichen) oder bezeichnungsmäßige Unterschiede (z.B. als Landesentwicklungs- oder (Landes-) Raumordnungsplan/-programm o.ä.), sondern auch sehr unterschiedliche landesplanerische methodische und -systematische Vorgehens weisen, etwa welche planerischen Freiräume der Regionalplanung von der Landesplanung belassen bleiben und wie die konkret-projektbezogene landesplanerische Ziclkonsistenz hergestellt wird, ob eher durch Anpassungänderung vorhandener Pläne, durch Dispensierung oder über die Durchführung von Raumordnungsverfahren (mit bzw. ohne Charakter einer Umweltverträglichkeitprüfung(= UVP)). Die meisten Länder sehen auf der Ebene der Landesplanung (i.e.S., d.h. oberhalb der Regionalplanung) eine Unterscheidung zwischen durch rein verbal gefaßten (Landesentwicklungs-/-raumordnungs-) Programmen und (Landesentwicklungs/-raumordnungs-) Plänen mit meist zeichnerischen und textlichen Darstellungen vor, wobei die Unterscheidung insofern einen verfassungsrechtlichen Hintergrund hat, als für die (Landesentwicklungs-/-raumordnungs-)Programme meist eine Beteiligung des Parlaments, z.T. durch Aufstellung des Programms in Form eines formellen Gesetzes, landesplanungsrechtlich vorgesehen ist, während die Landesentwicklungs-/-raumordnungs-) Pläne durchweg in der exekutivischen Zuständigkeit der Landesregierung oder der obersten Landesplanungsbehörden aufgestellt werden, zuweilen auch unter Beteiligung parlamentarischer Gremien. Während die (Landesentwicklungs-/-raumordnungs-)Programme durchweg den Charakter eines einheitlichen Dokuments in Textform aufweisen, werden die (Landesentwicklungs-/-raumordnungs-)Pläne vielfach als fachliche Teilpläne, z.B. betr. Siedlungsstruktur, Entwicklungsachsen, Freiraumschutz, Mineralienabbau etc. aufgestellt. Die Wahrung der Ressortinteressen wird durch die Beschlußfassung der Landesregierung bzw. das Erfordernis der Zustimmung der jeweils betroffenen Ressortminister sicher gestellt. So wichtig, wie für die rechtliche Verbindlichkeit der betreffenden Programme und Pläne die Einhaltung des einschlägigen, im jeweiligen Landesplanungsrecht geregelten Verfahrens sein mag, so haben der (Planungs-)verfahrensprozeß und die darin getroffenen sachlichen und politischen Kompromißfindungen doch einen nicht zu übersehenden Wert in sich und entfalten vielfach faktische Wirkungen bereits, bevor es zu formellen Aufstellung selbst kommt. Das mag selbst dann der Fall sein,wenn diese letztlich scheitern sollte, d.h. das Entwurfsstadium nie verlassen wird. Während (Landesentwicklungs-/-raumordnungs-)Pläne und -Programme (neben landespezifischen Raumordnungsgrundsätzen) eher die in der landesplanerischen Zielhierarchie die allgemein Ziele der Raumordnung und Landesplanung enthalten, wird in den Regionalplänen der räumlich und sachlich höchste Zielkonkretisierungsgrad erreicht, der insbesondere für die kommunale Bauleitplanung die unmittelbarste Verbindlichkeit aufweist. Insofern wird eigentlich nur ausnahmsweise zur Bindung der Bauleitplanung an die Ziele der Raumordnung und Landesplanung auf die Zielinhalte der vorgeordneten landesplanerischen Programme und Pläne zurückgegriffen. Vielmehr wird durchweg unmittelbar auf

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deren Entfaltung in der Regionalplanung abgestellt. Ausnahmen bestätigen indes auch hier die Regel. Für die im Gesamtlandesinteresse liegende Ausweisung von Standorten für Großunternehmen hat z.B. N R W ein Darstellungsprivileg für den entsprechenden Landesentwicklungsplan vorgesehen, der insoweit sachlich die Detaillierung eines Regionalplans erreicht. Die Bezeichnung der Regionalpläne in den verschiedenen Landesplanungsgesetzen variiert erheblich; neben Regionalplan werden Begriffe wie Regionaler Raumordnungsplan oder Gebietsentwicklungsplan u.ä. verwandt. Vielfach werden Regionalpläne in Form räumlicher Teilpläne aufgestellt, d.h. nur für Teilräume des Planungsgebietes des betreffenden Regionalplanungsträger, z.B. um das komplizierte Abstimmungsverfahren besser bewältigen zukönnen. Wegen seiner hohen zielmäßigen Konkretheit berührt sich der Regionalplan außerordentlich stark mit der Bauleitplanung und zwar insbesondere der Flächennutzungsplanung der von ihm erfaßten Gemeinden. Dabei können sich die Darstellungsinhalte namentlich in Großverdichtungsräumen erheblich überschneiden und das Erfordernis insoweit paralleler Planwerke fraglich erscheinen lassen. So werden etwa im Verdichtungsraum Frankfurt Regional- und Flächennutzungsplanung weitgehend zu sychronisieren versucht. Ein früheres Hauptargument für die Regionalplanung, nämlich über die Koordination auch der Fachplanungen deren Vorrangigkeit gegenüber der kommunalen Bauleitplanung abzumildern, verliert in dem Maße an Gewicht, in dem die Fachplanungen unter Einbeziehung integrativer (insbesondere Umwelt-)Elemente ihre fachplanerischen Interessen selbst relativieren.

5.3.0 Rechtsnatur landes- und regionalplanerischer Programme und Pläne Die Rechtsnatur von Programmen und Plänen ist ein juristisches Standardthema und hat ihren besonderen Stellenwert im Landesplanungsrecht, weil über die Rechtsverbindlichkeit der Ziele der Raumordnung und Landesplanung inbesondere gegenüber der kommunalen Bauleitplanung das durch Art. 28 Abs. 2 G G gewährleistete Recht der kommunalen Selbstverwaltung relativiert wird, das allerdings dem Verfassungswortlaut nach nur „im Rahmen der G e s e t z e " gewährleistet wird. B e i einer strengen Wortinterpretation müßten danach die Programme und Pläne, die solche verbindlichen Ziele enthalten, selbst Rechtssatzcharakter haben. Die daraus resultierenden (Gesetzes-)Formerfordernisse würden für die Landes- und Regionalplanung indes kaum lösbare Verfahrensprobleme aufwerfen und auch die Zuständigkeit der Exekutive für die Planaufstellung in Frage stellen. Es wird deshalb für die Beachtung des Art. 28 Abs. 2 G G für ausreichend erachtet, daß die die Ziele enthaltenden Programme und Pläne in einem (landesplanungs-)rechtlich förmlich geregelten Verfahren und für die Regionalplanung unter den weiteren in § 5 Abs. 3 R O G genannten Voraussetzungen (durch kommunale Zusammenschlüsse oder unter kommunaler Beteiligung) zustandegekommen sind. Obwohl also viele Programme und Pläne nur Weisungsund keinen Rechtssatzcharakter haben, entfalten die darin enthalten Ziele der Raumordnung und Landesplanung dennoch rechtliche Bindungswirkung. Angriffe auf die grundsätzliche Rechtsverbindlichkeit landes- oder regionalplanerischer Zielsetzungen lassen sich deshalb regelmäßig nicht auf Rügen des Rechtscharakters des in Frage stehendes Planes und die daraus abgeleiteten Form- und Verfahrensmängel stützen. Die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 R O G sind so weit

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gefaßt, daß sie kaum durch die landesplanerische Regelung von Trägerschaft und Verfahren der Regionalplanung verletzt werden. Die rechtliche Problematik der Bindungswirkung von Zielen der Raumordnung und Landesplanung hat sich im übrigen dadurch relativiert, als eine solche Bindungswirkung auch den sog. „Erfordernissen der Raumordnung und Landesplanung" zukommen soll, für die es einer formalen Planungsbasis nicht bedarf, die aber etwa aus Raumordnungsverfahren resultieren können.

6.0 Sonstige landesplanerische Instrumentarien Die Programme und Pläne der Landesplanung (einschließlich der Regionalplanung) sind nicht selbstvollziehend in dem Sinne, daß auf Grund ihrer Existenz bereits ein zielkonformes Verhalten der Adressaten einträte. So müßten bestehende kommunale und fachlich Pläne an die Ziele der Raumordnung und Landesplanung angepaßt und bei Neuaufstellung von Plänen bestehende Ziele beachtet werden. Inhaltliche nicht aus sich selbst heraus verständliche Ziele müssen interpretiert und bestehende Zielkonflikte gelöst werden. Generell bedürfen Landesund Regionalplanung wie jede Planung der Umsetzung, des Vollzuges, der Realisierung, der Implementation, wobei die vier Begriffe hier als gleichbedeutend nebeneinander gestellt sind. Darunter fällt auch die Plansicherung, durch die gewährleistet wird, daß die künftige Planumsetzung nicht durch fachliche Planungsund Vollzugmaßnahmen, oder etwa kommunale Sperrplanungen verhindert oder jedenfalls erheblich verteuert oder erschwert wird.

6.1 Anpassungspflicht der Gemeinden Ein Standardinstrument, um jedenfalls neue kommunale Bauleitpläne mit den landesplanerischen Zielen konform aufzustellen, ist die Statuierung von Anpassungspflichten der Gemeinden. Sie wird verfahrensmäßig dadurch abgesichert, daß die Gemeinde vor Inangriffnahme von Bauleitplanungen die Bekanntgabe der bestehenden landesplanerischen Ziele zu erfragen haben, ihr ggf. die relevanten Ziele benannt werden und bei Zielkontroversen diese mit ihnen erörtert und gegebenenfalls im Kompromißwege beigelegt werden. Nicht zielangepaßte Bauleitpläne verstoßen gegen das Anpassungsgebot, das sowohl in § 5 Abs. 4 R O G wie in § 1 Abs. 4 BauGB statuiert ist. Deren Nichtbeachtung führt zur Versagung der Genehmigung des Bauleitplans bzw. dessen Beanstandung im Rahmen des Anzeigeverfahrens durch zuständige staatliche Behörde und verhindert damit dessen Inkrafttreten. Im Gegensatz zu den abwägungserheblichen Belangen, die bei Aufstellung von Bauleitplänen zu berücksichtigen sind, sind die landesplanerischen Ziele schlechthin zu beachten und nicht im Wege der Abwägung überwindbar. Bei eindeutig entgegenstehenden Zielen muß also gegebenfalls etwa der Regionalplan geändert werden. Nach der kürzlichen Hinzufügung eines Abs. 5 an den § 5 R O G werden künftige alle Landesplanungsgesetze Dispensationsmöglichkeiten vorzusehen haben. Die nachträgliche Anpassung vorhandener Bauleitpläne an vorhandene Ziele der Raumordnung und Landesplanung scheitert in der Praxis vielfach daran, daß

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die Landesplanung, würde sie eine solche Anpassung verlangen, der umplanenden Gemeinde von Entschädigungszahlungen freizustellen hätte, die diese etwa nach Paragraphen 39ff. BauGB an die durch die Bebauungsplanung benachteiligten Grundstückseigentümer zu leisten hat. Da der Landesplanung für die Freistellung regelmäßig nur geringe Haushaltsmittel im Landeshaushalt zur Verfügung stehen, werden in der landesplanerischen Praxis derartige nachträgliche Anpassungen praktisch nicht verlangt.

6.2 Interne Informationsinstrumente Neben Mitteilungs- und Informationsrechten kommt der regelmäßigen Raumbeobachtung als internen Informationsinstrumenten besondere Bedeutung zu, wobei der Aufbau eines aktuellen gemeindebezogenen Raumordnungskatasters seit jeher auf der landesplanerischen Wunschliste steht, der allerdings auf entschiedenen kommunalen Widerstand gegen eine in ihrer infrastrukturellen Ausstattung „gläserne Gemeinde" stößt.

6.3 Untersagungsrechte Dem Städtebaurecht nachempfunden sind landesplanungsrechtliche Untersagungerechte, die kompetenzrechtlich umstritten sind und für die letztlich auch kein rechter Anwendungsbedarf zu bestehen scheint. 6.4 Raumordnungsverfahren Die instrumentelle Bedeutung des Raumordnungsverfahrens läßt sich nur jeweils im Gesamtzusammenhang der Ausgestaltung der einzelnen Landesplanungsrechte und der sich darin widerspiegelnden, in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlichen landesplanerischen Praxis mit diesem Instrument beurteilen. § 6a R O G darf mit seinem detaillierten, inzwischen 12 Absätze umfassenden Wortlaut nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um eine rahmenrechtliche, d.h. letztlich landesplanungsrechtlich auszufüllende Regelung handelt. Die Vorschrift ist durch das Investitionserleichterungs- und WohnbaulandG v. 1993 neu gefaßt worden und hat die gerade zwei Jahre zuvor nach langen Diskussionen um die Umsetzung der E G - U V P RL vorgenommene Verknüpfung zwischen Umweltverträglichkeitsprüfung und Raumordnungsverfahren in ihrer rahmenrechtlichen Verbindlichkeit weitgehend zurückgenommen. Damit sind Regelungsfreiräume für die Landesplanungsgesetzgebungen erweitert worden. Soweit etwa mit dem Raumordnungsverfahren nicht zugleich eine UVP 1. Stufe geleistet werden soll, sind etwa nicht mehr die für eine UVP-rechtskonforme Öffentlichkeitsbeteiligung maßgeblichen rechtlichen Anforderung zu stellen. Die rahmengesetzgeberische Praxis auf dem Gebiete des Bundes-Raumordnungsrechts, möglichst allen Wünschen der Länder nach Regelungsfreiräumen zu genügen und bestehendes Landesplanungsrecht möglichst nicht zu tangieren, hat sich wiederum bestätigt. In der Diskussion um die Vereinfachung der Planungsverfahren für Verkehrswege, wie sie dem Erlaß des Planungsvereinfachungsgesetz vom 17.12.1993 (BGBl. I S. 2123) vorwegging, ist ernsthaft erwogen worden, die Funktionen des Linienbe-

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stimmungsverfahren, das seit eh und je eine Domäne des Bundesverkehrsministers war, künftig im Rahmen des Raumordnungsverfahrens und damit in Länderkompetenz wahrnehmen zu lassen. Das die fachplanerische Präponderanz unterstreichende Linienbestimmungsverfahren ist jedoch erhalten geblieben, und für die neuen Bundesländer wurde sogar ausdrücklich vorgesehen, auf die Durchführung von Raumordnungsverfahren verzichten zu können, wenn dadurch Verzögerungen bedeutsamer Investitionen drohten (§ 6a Abs. 12 ROG). Das ROV hat die Feststellung der Raumverträglichkeit von Planungen und Maßnahmen zum Gegenstand, und zwar im Hinblick auf ihre wechselseitige Abstimmung und Durchführbarkeit unter raumordnerischen Gesichtspunkten, sowie ihrer Ubereinstimmung mit den Erfordernissen der Raumordnung und Landesplanung, d.h. sich mit unmittelbar oder in einem weiteren Sinne sich ergebenden landes- und regionalplanerischen Zielvorgaben oder -Vorstellungen. Die Synchronisierung des ROV mit der Umweltverträglichkeitsprüfung war in der Fassung des § 6a Abs. 1 R O G vom 25.7.1991 (BGB1.I S. 1726) dadurch herzustellen versucht worden, daß die für die UVP relevanten Umweltmedien als maßgeblicher Untersuchungs- und Bewertungsrahmen auch für das ROV statuiert wurden. Dies ist inzwischen zwar als rahmenrechtlich verpflichtend wieder aufgegeben worden, ist jedoch landesplanungsrechtlich künftig nicht unzulässig. Die Rechtswirkungen eines Raumordnungsverfahrens werden in § 6a Abs. 9 R O G dahingehend bestimmt, daß dessen Ergebnis in den nachfolgenden Planungs- und Genehmigungsverfahren zu berücksichtigen sei. Die rechtliche Relevanz ist damit ziemlich niedrig angesetzt, was der rechtlichen Gesamtkonstruktion entspricht. Danach ist das Raumordnungsverfahren als rein behördeninternes Verfahren ohne unmittelbare Rechtswirkung gegenüber dem Bürger konzipiert. Das gilt auch für den am Ausgang des ROV zweifellos wirtschaftlich besonders interessierten Träger des in Frage stehenden Vorhabens. Das ROV soll möglichst nicht unmittelbar mit Rechtsschutzfragen belastet werden und auch die nachfolgenden rechtsschutzrelevanten Verfahren nicht mittelbar binden. Deshalb werden auch die nachfolgenden Genehmigungs-, Planfeststellungs- oder ähnlichen Verfahren nicht durch das ROV in irgendeiner Weise ersetzt, § 6a Abs. 10 ROG. Der Beschleunigungsdruck auf Planungsverfahren betrifft auch und gerade das ROV. Ob ein ROV notwendig ist, muß binnen 4 Wochen nach Einreichung der Unterlagen entschieden werden. Abgesehen werden kann von einem ROV insbesondere dann, wenn die landesplanerische Zielsituation räumlich und sachlich hinreichend klar ist bzw. die Abstimmung anderweitig in einem gesetzlich geregelten Verfahren unter Beteiligung der Landesplanung erfolgt. Liegen die für die Durchführung des ROV erforderlichen Unterlagen vor, ist das Verfahren binnen 6 Monaten abzuschließen.

7.0 Ausgewählte Kollisionsprobleme mit wichtigen Adressaten der Raumordnung und Landesplanung 7.1 Im Verhältnis zur kommunalen Bauleitpianung Aus der Sicht der kommunalen Bauleitpianung ergeben sich Kollisionsprobleme vielfach daraus, daß die Kommunen sich in ihrer Bauleitpianung von den Ziel-

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vorgaben der Landes- und Regionalplanung unerwünscht eingeschränkt sehen. Das mag sich ausnahmsweise aus allgemeinen landesplanerischen Ausweisungen ergeben, wie etwa der Zentralitätszuweisung als zentraler Ort relativ geringer Stufe, an dem z.B. öffentliche Infrastruktureinrichtungen oder großflächige Einzelhandelsmärkte, die höherer Zentralität vorbehalten sind, nicht vorgesehen sind. Einschränkend werden weiter regionalplanerische Restriktionen gegenüber der Bauleitplanung bezüglich der Wohnsiedlungs- oder Gewerbeflächenausweisungen empfunden. Bei Erlaß der BBauG 1960 bestand Einverständnis, daß die generelle Überlassung der Bauleitplanungshoheit an alle Gemeinden nur unter der bestimmten Vorraussetzung in Betracht komme, u.a. daß die Bauleitplanung in ein überörtliches Zielsystem der Landes- und Regionalplanung eingebunden werde. Das fehlerhafte Funktionieren der städtebaupolitisch konzipierten Steuerungsmechanismen hat den in den 70er Jahren umfangreiche Kommunalreformen in den alten Bundesländern ausgelöst. Die im DDR-Übergangsrecht und nach Einigungsvertragsrecht durchaus vorgesehenen staatlichen Eingriffsmöglichkeiten gegenüber raumordnerisch unverträglicher kommunaler Bauleitplanung einzelner Gemeinden haben aus vielen G r ü n d e n nicht gegriffen, und es bleibt abzuwarten, wie sich die landesplanerische Steuerungseffizienz unter der Herrschaft der neu erlassenen Landesplanungsrechte in den neuen Bundesländern bewähren wird. Auch hier werden Reformaktivitäten erforderlich werden, die auf eine tendenzielle Vergrößerung der Kommunalterritorien in den neuen Bundesländern hinauslaufen, ohne daß sich ohne weiteres Parallelen zur Situation der Funktionalreformen der 70er Jahre ziehen lassen. Nach den Erfahrungen in den alten Bundesländern ist in Bezug auf die Steuerungeffizienz der Landes- und Regionalplanung durchaus Skepsis geboten. Ein Dilemma der Regionalplanung hängt u.a. mit der von ihr grundsätzlich verfolgten Kompromißstrategie zusammen, die schon bei der Aufstellung von Regionalplänen weitgehend die kommunalen Planungsvorstellungen aufgreift und regionalplanerisch nachzeichnet. Bei kontroversen Zielvorstellungen kann dann im Einzelfall politisch vielfach nur schwer verständlich gemacht werden, weshalb nunmehr die Kompromißstrategie plötzlich verlassen werden soll. Das hochgelobte „Gegenstromprinzip", das in § 1 Abs. 4 R O G seinen Ausdruck findet, ist kein Rechtsprinzip i.e.S., sondern lediglich ein auf Kompromißfindung ausgerichteter Programmsatz. In diesem Zusammenhang sind Kollisionen der Regionalplanung mit großen, juristisch gerüsteten Städten in Planungsfragen von einigem politischen Gewicht eher selten. Den in NRW in der Vergangenheit geführten Streit, o b für die planerische Bestimmung der S-Bahn-Haltepunkte die Regionalplanung oder die Stadtentwicklungsplanung der Städte zuständig sei, konnten die Städte seiner Zeit im wesentlichen für sich entscheiden. Erhebliche rechtliche und organisatorische Probleme wirft die Bewältigung der Stadt-Umland-Probleme in den Verdichtungsräumen auf, in denen vielfach durchweg durch Gesetz errichtete Verbände (Umlandverband Frankfurt, Kommunalverband Ruhr, Großraum Hannover) sich in ihren Aufgaben und Kompetenzen mit denen der Zentralstädte bzw. der Umlandgemeinden berühren. Dabei können auch rechtlich-inhaltliche Planungsprobleme auftreten, wenn etwa im R a h m e n von „Fingerkonzepten" für Verdichtungsräume die Zwischenachsräume von Entwicklung freigehalten werden sollen, um die Infrastruktur an den

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Achsen bündeln zu können, und deshalb die zwischen den Achsen liegenden G e meinden auf sog. „Eigenentwicklung" beschränkt werden sollen. Danach dürften auf deren Gemeindegebiet nur noch Siedlungflächen für die bereits ansässige Bevölkerung und keine Wohn- und Gewerbeflächen für neuzuziehende Einwohner oder Wirtschaftsaktivitäten zulässig sein. Die rechtliche Zulässigkeit solcher Beschränkung von selbständigen G e m e i n d e n auf Eigenentwicklung muß rechtlich diffenziert gesehen werden, weil deren verfassungsrechtlich gesicherter kommunaler Freibereich nicht durch solche Planungsvorgaben beliebig überspielt werden kann. In der Vergangenheit unternommene Anstrengungen, das landesplanungsrechtliche Instrumentarium derartig zu verfeinern, daß fallweise eine beinahe bauleitplanungsmäßige Schärfe erreicht werden kann, sind weitgehend teils gesetzgeberisch, teils auf gerichtliche Beanstandung hin zurückgenommen worden. So werden auch ortsteilscharfe Zielfestlegungen heute durchweg vermieden. Eine Ausnahme bildet die beinahe parzellenscharfe Sicherung landesplanerisch gebotener „Knotenpunkte" der Planung.

7.2 Im Verhältnis zur Fachplanung Das Verhältnis der Landesplanung zur den verschiedenen Fachplanungen ist wechselseitig von sehr unterschiedlichen Überlegungen bestimmt gewesen: Relativ starke Fachplanungen, wie insbesondere die Verkehrsplanung, haben ihr Eigenständigkeit gegenüber der Landesplanung stets hervorgehoben, ihr eigenes Planungsinstrumentarium auf eine der Landesplanung vergleichbaren Verrechtlichungsstandard gebracht und im übrigen den prinzipiellen Vorrang der Landesplanung als zusammenfassender Planung politisch und rechtlich niemals voll anerkannt. So liegt die Verbindlichkeit landesplanerischer Entwicklungsachsensysteme oder gar regionalplanerischer Prioritätensetzungen für die verkehrsplanerischen Trassenprioritäten weitgehend in rechtlichem Dunkel. Eine weiterer unausdikutierter landesplanerischer Schwachpunkt sind zweifellos die dem Mineralienabbau zu G r u n d e liegenden Planungs- und Genehmigungsverfahren. Über das Erfordernis des Einvernehmens der fachlich zuständigen Ressortminister bei Aufstellung der (Landesentwicklungs- bzw. -raumordnungs-)Pläne bzw. der im weiten landespolitischen Ermessen liegenden Plangenehmigung für die Regionalplanung wird sichergestellt, daß politisch wichtige Fachressortinteressen in und von der Landesplanung nicht ohne weiteres übergangen werden können. Notfalls kommen landesplanerische Pläne mangels Zustimmung des oponierenden Ressorts niemals über das Entwurfsstadium hinaus. Politisch weniger starke Fachplanungen, etwa solche, die nicht mit der Befugnis zur Durchführung von Planfeststellungsverfahren ausgestattet sind (vgl. die Aufzählung in § 38 BauGB), haben in der Vergangenheit vielfach den Versuch unternommen, ihre Zielvorstellungen als fachliche Ziele der R a u m o r d n u n g und Landesplanung deklarieren zu lassen, um ihnen so Rechtsverbindlichkeit beizulegen. Teilweise sind landesplanerischen Plänen in einzelnen Landesplanungsrechten sogar Aufgaben einer fachlichen Rahmenplanung zugewiesen worden, wobei jedoch nur Zielen der R a u m o r d n u n g und Landesplanung im engeren rechtlichen Sinne Bindungswirkung zukommt, nicht dagegen den fachplanerischen (Rahmen-)Vorgaben.

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I. Grundlagen

Im Zuge der Umweltdiskussion erstarkte Fachplanungen, wie etwa die Landschaftsplanung, drängen inzwischen in einigen Bundesländern auf Verselbständigung, um mit ihren Zielvorstellungen in den landesplanerischen Kompromißfindungs- und Abwägungsprozessen nicht zu stark nivelliert zu werden.

7.3 Im Verhältnis zu Einzelgenehmigungsverfahren Kollisionen mit Zielen der Raumordnung und Landesplanung können sich insbesondere bei Außenbereichsvorhaben ergeben, und zwar sowohl bei solchen nach § 35 Abs. 1 BauGB privilegierten, als auch sonstigen Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB. In § 35 Abs. 3 S. 3,1. und 2. Hs. BauGB sind die diesbezüglichen negativen und positiven Wirkungen solcher in landesplanerischen Programmen und Plänen enthaltenen Zielvorgaben geregelt. Insbesondere bei Außenbereichsaktivitäten, die durch die Eigentumsgarantie des Art. 14 G G in besonderer Weise geschützt sind, wie etwa die nach § 35 Abs. 1 B a u G B privilegierten Nutzungen, die dem Außenbereich planartig zugewiesen sind, oder die sich auf Grund der Situationsgebundenheit des Eigentums als Inhalt des Eigentums geradezu anbieten, wie z.B. Auskiesungen bei bestimmten geologischen Gegebenheiten, ergeben sich für die Zielbestimmtheit landesplanerischer Ziele besondere rechtliche Anforderungen. Es reicht dann nicht, wenn etwa in Regionalplänen nur die allgemein und ohne weiteres zu berücksichtigenden öffentlichen Belange verbal wiederholt werden. Einmal landesplanerisch abwägend geprüfte öffentliche Belange brauchen im Einzelgenehmigungsverfahren dann nicht nochmals geprüft zu werden. Damit werden in rechtsdogmatisch nur schwer nachvollziehbarer, aber sehr verwaltungsvereinfachend wirkender Weise landes- oder regionalplanerische Zielbestimmungen mit unmittelbar rechtlicher Relevanz für Einzelgenehmigungsverfahren ausgestattet und damit die oben unter 3. dargelegte Aufgabenkonstruktion unterlaufen. Allerdings läßt sich auch damit nicht die rechtliche Grenze zwischen projektbezogener Genehmigungsfähigkeit nach § 35 BauGB und bauleitplanungsmäßiger Planungsbedürftigkeit überwinden, die z.B. bei Windmühlenparks zur Stromerzeugung jenseits einer bestimmten Größe strittig ist.

8.0 Europäische Raumordnung Von raumordnungsrechtlicher Relevanz auf europäischer Ebene bleibt neben der Europäischen Union (EU) insbesondere noch der Europarat zu nennen, unter dessen organisatorischem Dach weiterhin wichtige gesamteuropäische Raumordnungsaktivitäten, z.B. auf dem Verkehrssektor, stattfinden. Die raumordnungspolitische Relevanz der verschiedenen Politiken der Europäischen Union (EU) ist evident. Dagegen lassen sich für den Umfang der raumordnungsrechtiichen Aufgaben und Kompetenzen der Organe der EU nur schwer explizit bestimmte Vorschriften des E G V angeben. Die beiden einschlägigen Kompentenzbereiche „Umweltschutz" und „regionale Wirtschaftpolitik" sind in der Vergangenheit schrittweise von der E G / E U ausgebaut worden. Durch den Vertrag über die Europäische Union (Maastricht) ist die gegenwärtige kompetenz- und aufgabenmäßige Rechtslage präzisiert worden und ergibt sich heute

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u.a. aus den Art. 2,3 lit.k, 100,100a, 130a-e, 130r-t EWGV. Dadurch werden aber den Mitgliedsstaaten durchaus eigenständige Kompetenzen auf den Gebieten der Raumordnung, des Umweltschutzes, der Regionalen Wirtschaftspolitik und schließlich auch des Städtebaus belassen. Allerdings ist die rechtliche Grenzziehung insbesondere für den hier interessierenden Aufgaben- und Kompetenzbereich der überfachlichen Raumordnung mit ihren vielfachen Bezügen zu anderen fachlichen und überfachlichen Aufgabenund Politikbereichen alles andere als eindeutig, zumal wenn die europäischen Organe nicht dezidiert in Form expliziter Rechtsakte handeln, sondern etwa über informelle Mittelverteilungsmechanismen, z.B. Fondskonstruktionen, Einfluß zu nehmen versuchen. Die auf dem informellen (EU) Raumordnungs-Ministerrat-Treffen von Leipzig im September 1994 beschlossenen „Grundlagen einer Europäischen Raumentwicklungspolitik" weisen in die Richtung, eine sich nicht an Vorbildern nationaler, z.B. der französischen oder der deutschen Raumordnungspolitik orientierende „Europäische Raumentwicklungspolitik" zu institutionalisieren, die die verschiedenen EG-Politiken - unter Einschluß etwa der EG-Agrar- und der EGUmweltpolitik - horizontal koordiniert, damit aber auch vertikal im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten Koordinierungswirkungen entfaltet. In strikter Wahrung des Subsidiaritäts-Prinzips (Art. 3b E W G V ) soll dies nicht zu einer Kompetenzausweitung der EU-Organe führen, auch nicht schleichend, etwa gestützt auf „die Natur der Sache" oder die Annahme einer „Notkompetenz", wenn sich etwa intergouvernmentale Abstimmungsprozesse zwischen Mitgliedstaaten in die Länge ziehen. Vielmehr soll die Koordinierung in einem verfahrensmäßig definierten kondominalen Zusammenwirken der Mitgliedstaaten und der EU-Organe auf der Basis eines „Europäischen Raumentwicklungskonzepts" erfolgen und über periodische Berichterstattung transparent gemacht werden. Die notwendige Erweiterung des EU-Vertrages bzw. die Ergänzung des E W G V werden Gegenstand der anstehenden Maastricht Ii-Verhandlungen sein.

Literaturverzeichnis Battis, Ulrich; Krautzberger, Michael; Lohr: BauGB, Kommentar, 4. Aufl., Beck, 1994 BauGB, Beck-Texte im DTV, 24. Aufl., 1993. Bielenberg, Walter: in: Ernst-Zinkahn-Bielenberg, BauGB Kommentar (Loseblatt), Anhang zur Einleitung (vor § 1), Beck Verlag, Stand 1994. Bielenberg, Walter; Erbguth; Söfker: Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Kommentar und Textsammlang (Loseblatt), Erich Schmidt Verlag Bundesminister für Raumordnung: Bauwesen und Städtebau (Hrg): Raumordnungsbericht 1991 und Raumordnungsbericht 1993. Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrg.): Grundlagen einer Europäischen Raumentwicklungspolitik/Principles for a European Spatial Development Policy/Principes pour une politique d'aménagement du territoire européenne, Bonn, 1995. David, Carl-Heinz: Europäische Tendenzen und gemeinschaftliche Grenzen einer Harmonisierung raumplanungsrechtlicher Vorschriften, -Städtebau, Umweltpolitik und Regionalpolitik, in: D Ö V 1993 S. 1021 ff. Erbguth, Wilfried; Schoeneberg: Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, Carl Heymanns Verlag, 2. Auflage, 1992. Ernst,Werner; Hoppe: Das öffentliche Bau- und Bodenrecht, Raumplanungsrecht, 2. Aufl., Beck, 1981.

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I. Grundlagen

Fürst, Dietrich; Ritter, Ernst-Hasso: Landesentwicklungsplanung und Regionalplanung, ein verwaltungswissenschaftlicher Grundriß, 2. Aufl., Werner Verlag, 1993. Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Jänecke, 1970. Kloepfer, Michael: Umweltrecht, Beck, 1989 Kommission der EG: G D Regionalpolitik: Europa 2000 - Perspektiven der künftigen Raumordnung der Gemeinschaft, Brüssel, 1991. Kommission der EG: G D Regionalpolitik: Europa 2000 +, Europäische Zusammenarbeit bei der Raumentwicklung, Luxemburg, 1994. Steinberg, Rudolf: Fachplanung, Nomos, 2. Aufl., 1993.

5. Finanzwissenschaftliche Grundlagen 1.0 Öffentliche Finanzen und Raum Erkenntnisobjekt der Finanzwissenschaft ist die ökonomisch relevante Staatstätigkeit. Diese wird in sehr unterschiedlichen Formen ausgeübt und reicht von der (hoheitlichen) Einflußnahme auf das wirtschaftliche Geschehen bis zu der (mehr oder weniger gleichberechtigten) Teilnahme am wirtschaftlichen Geschehen. Der Staat setzt institutionelle Rahmenbedingungen (Verfassung, Gesetze), auf deren Basis sowohl private als auch öffentliche Haushalte und Unternehmen ihre Entscheidungen treffen. Er zieht finanzielle Ressourcen an sich (Besteuerung), fragt Güter und Produktionsfaktoren am Markt nach, produziert und stellt dem privaten Sektor unentgeltlich Güter zur Verfügung. Im volkswirtschaftlichen Prozeß der Produktion und Einkommensentstehung tritt der Staat somit als Käufer, Produzent und Arbeitgeber auf. Daneben betätigt sich der Staat als Umverteiler der am Markt erzielten Einkommen, indem er einerseits Transferzahlungen leistet und andererseits nach Leistungsfähigkeitskriterien besteuert. Der Untersuchungsgegenstand der Finanzwissenschaft kann konkretisiert werden als diejenige Staatstätigkeit, welche sich in öffentlichen Ausgaben und Einnahmen, zusammengefaßt in öffentlichen Budgets, niederschlägt. Hierzu gehören auch Fragen der öffentlichen Verschuldung. In dieser Abgrenzung sind o f f budget-Aktivitäten (Saunders/Klau 1985, S. 74ff.), wie beispielsweise die Regulierung der Privatwirtschaft mittels gesetzlicher Ge- und Verbote (Vickers/Yarrow 1988, S. 79ff.) oder der Betrieb von öffentlichen Unternehmen mit öffentlichem Auftrag (Brede/Loesch 1986, Eichhorn/Engelhardt 1994, Noll 1984, 1994, Thiemeyer 1987) weitgehend ausgeklammert, obgleich sie mitunter unmittelbare instrumentelle Substitute zu budgetrelevanten Aktivitäten sind. Beispielsweise können umweltpolitische Zielsetzungen mittels gesetzlicher Auflagen verfolgt werden, aber auch durch Subventionierung von umweltfreundlichem bzw. Besteuerung von umweltschädigendem Verhalten, was zu Staatsausgaben bzw. -einnahmen führt. Öffentliche Ausgaben und Einnahmen können Gegenstand sowohl normativer als auch positiver Theoriebildung sein. Bei der normativen, d.h. Werturteile beinhaltenden Theorie steht die Rechtfertigung von Staatstätigkeit im Vordergrund, insbesondere die Herstellung von Allokationseffizienz bei Versagen privater Märkte, sowie die Theorie der optimalen Besteuerung. Die positive Theoriebildung versucht Aufschluß zu geben über empirische Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen Staatsausgaben und -einnahmen und den ökonomischen Variablen außerhalb des Staatssektors. Dabei werden mikroökonomische Zusammenhänge (Ressourcenallokation) ebenso wie makroökonomische (gesamtwirtschaftliche) Zusammenhänge untersucht. Die durch die Finanztheorie gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage der Finanzpolitik, da aus der Analyse der Wirkungen von Ausgaben und Einnahmen auf den Privatsektor und dessen Rückwirkungen auf das Budget technologische Handlungsanweisungen zur Erreichung politischer Ziele abgeleitet werden können. Diese finanzwissenschaftlichen Standards wurden in den letzten Jahrzehnten erweitert um die Analyse politisch-ökonomischer Zusammenhänge. Die Neue Po-

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I. Grundlagen

litische Ökonomie (Public Choice-Theons) befaßt sich mit der spezifischen Problematik demokratischer Entscheidungsprozesse (Blankart 1994, Mueller 1989). Sie erlaubt es, öffentliche Einnahmen- und Ausgabenentscheidungen als Resultate der Interaktion von Politikern, Bürokraten, Interessengruppen und Wählern zu analysieren. Mit der Metaebene der Regeln befaßt sich die ökonomische Theorie der Verfassung (Constitutional Economics, Buchanan/Tullock 1965, Brennan/Buchanan 1980). Den Finanzwissenschaftler interessieren hier vor allem die Entstehung und Sicherung bzw. der Wandel der Finanzverfassung, die die grundlegenden Rahmenbedingungen für nachrangige Institutionen und die für ihr Funktionieren erforderlichen Entscheidungsregeln vorgibt, auf deren Grundlage dann Finanzierungs- und Bereitstellungsentscheidungen getroffen werden können (Besteuerungkompetenzen, Verschuldungsregeln, Ausgabenzuständigkeiten, Bereitstellung öffentlicher Güter). Nachdem der Gegenstand der Finanzwissenschaft grob umrissen ist, stellt sich nun die Frage nach den Beziehungen zwischen öffentlichen Finanzen einerseits und Raumordnung und Raumordnungspolitik andererseits. Da sich die Finanzwissenschaft mit einnahmen- und ausgabenrelevanter Staatstätigkeit befaßt, bieten sich als Berührungspunkte zunächst all diejenigen im Haushalt einer Gebietskörperschaft erfaßten Aktivitäten an, die durch raumordungspolitische Ziele motiviert sind bzw. die spezifisch räumliche Wirkungen entfalten. Dies trifft im besonderen für finanzielle Maßnahmen im Rahmen regionaler Strukturpolitik zu. Die Förderung strukturschwacher Regionen zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse läßt sich im übrigen auch außerhalb des staatlichen Haushalts durch öffentliche Unternehmen erreichen, die ihre Verbrauchs- oder nutzungsorientierten Leistungen flächendeckend anbieten (Bsp. Bundesbahn, Sparkassen). Eine systematische Berücksichtigung, die über die Auflistung einzelner finanzpolitischer und gleichzeitig raumwirksamer Maßnahmen hinausgeht, findet die räumliche Komponente wirtschaftlicher Staatstätigkeit in der Föderalismustheorie. Ursprünglich eine Erweiterung der Wohlfahrtstheorie um die Dimension Raum, erlaubt die Föderalismustheorie Aussagen über optimale föderative Strukturen (Dezentralisierungsgrade) bzw. über die Raumwirksamkeit der Zuordnung von öffentlichen Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen im gewaltenteiligen Mehrebenensystem eines föderativen Staates. Die folgenden Ausführungen sind in vier Abschnitte gegliedert. Zunächst wird Staatstätigkeit definiert und quantifiziert. Abschnitt 3 behandelt die Budgettheorie mit ihren Ausgaben- und Einnahmenaktivitäten. Im 4. Abschnitt wird die Stabilisierung der Gesamtwirtschaft auf der Grundlage der makroökonomischen Theorie reflektiert. Sowohl in der mikroökonomischen Budgettheorie als auch in der Stabilisierungstheorie wird implizit ein Zentralstaat unterstellt. Im abschließenden 5. Abschnitt erfolgt die Erweiterung um die räumliche Dimension durch die Theorie des fiskalischen Föderalismus.

2.0 Messung der Staatstätigkeit Um den Umfang und die Struktur staatlicher Ausgaben- und Einnahmentätigkeit, ihre längerfristige Entwicklung und ihre Aufteilung auf die föderativen Ebenen zu beschreiben, ist es erforderlich, auf die Problematik der Quantifizierung von Staatstätigkeit einzugehen. Die Messung der Staatstätigkeit setzt eine Abgrenzung des Staates und die Bestimmung relevanter Größen voraus, die dann

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5. Noll/Hildebrandt: Finanzwissenschaftliche Grundlagen

anhand geeigneter statistischer Rechenwerke (z.B. Finanzstatistik, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, O E C D Annual National Accounts) quantifiziert werden können. Im föderativen System der Bundesrepublik umfaßt der Staat die öffentlichen Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden. Unternehmen, die sich im öffentlichen Eigentum befinden, werden nicht dem Staat, sondern dem Unternehmenssektor zugerechnet. Problematisch ist die Abgrenzung im Bereich der Sozialversicherungen und sonstiger Parafisci. Verschiedene statistische Rechenwerke dienen unterschiedlichen Erkenntniszwecken. Daher sind auch die Abgrenzungen des Staates und die Definition der Ausgaben und Einnahmen im Detail uneinheitlich. Die Finanzstatistik beispielsweise richtet sich nach haushaltsrechtlichen Kategorien und erfaßt im öffentlichen Gesamthaushalt die Zahlungsvorgänge von Bund, Sondervermögen des Bundes, Sozialversicherung, Ländern und Gemeinden (einschließlich Gemeindeverbänden) und EG-Finanzierungsanteilen. Demgegenüber ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung dem Grunde nach eine Produktions- und Einkommensentstehungsrechnung. Die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben sind die mit der Tätigkeit des Staates verbundenen Einzahlungs- und Auszahlungsströme in einer Periode. Eine Strukturierung der Einnahmen und Ausgaben kann nach mehreren Kriterien erfolgen. Das deutsche Haushaltsrecht kennt neben der institutionellen Gliederung (Ressortprinzip) die Gliederung nach Aufgabengebieten sowie, in Anlehnung an die Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, nach ökonomischen Arten (siehe Abb. 1 und 2). Aus ökonomischer Sicht sind die wichtigsten Ausgabenbestandteile Ausgaben für den Kauf von Gütern und Faktorleistungen (Inputs) einerseits und Transferzahlungen (Sozialleistungen, Subventionen) andererseits. Die Käufe des Staates unterteilen sich in konsumtive, d.h. laufende Ausgaben

Abb. 1

Ausgaben der Gebietskörperschaften nach Aufgabenbereichen im Jahr 19911 Staatsausgaben 2 in Mrd. D M

alle Aufgabenbereiche: darunter: Verteidigung Öffentl. Sicherheit und O r d n u n g Wissenschaft und Forschung Schulen, Hochschulen, übriges Bildungswesen und Kultur Soziale Sicherung Gesundheit, Sport und Erholung Wohnungswesen u. R a u m o r d n u n g 3 Verkehr und Nachrichtenwesen 1 2

3

Bund

Länder

Gemeinden

in vH der gesamten Ausgaben

1.411,8

28,6

19,7

12,2

55,5 24,0 15,0

100,0 9,5 75,2

0,0 63,0 22,3

0,0 27,5 2,4

119,0 687,8 54,4 50,7 37,0

6,7 19,9 3,3 7,4 47,7

73,2 3,8 27,4 25,3 27,2

19,8 5,9 67,8 67,3 25,0

Früheres Bundesgebiet. Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände, Zweckverbände, Lastenausgleichsfonds, ERP-Sondervermögen, Fonds „Deutsche Einheit", Kreditabwicklungsfonds, Sozialversicherung und EG-Anteile. D a r u n t e r auch kommunale Gemeinschaftsdienste (Straßenreinigung, Abwasser- und Abfallbeseitigung).

Quelle: Statistisches Bundesamt (1994), S. 524f.

98

I. Grundlagen

Abb. 2 Ausgaben und Einnahmen der Gebietskörperschaften nach ökonomischen Arten im Jahr 1993 (Mrd. DM) Bund

Länder

Gemeinden

Insgesamt1

Ausgaben darunter: - Personalausgaben - laufender Sachaufwand - Zinsausgaben - laufende Zuweisungen und Zuschüsse - Sachinvestitionen Einnahmen darunter: - Steuern - Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit - Gebühren - Zahlungen v. Gebietskörperschaften - sonstige Einnahmen

498,7

460,8

339,3

1.022,5

52,7 41,7 45,8

177,3 50,3 28,1

105,3 65,4 0,4

294,0 135,3 101,4

255,1 12,5 431,7

132,1 18,3 419,0

126,4 69,5 324,9

311,6 91,6 885,7

356,0

271,6

87,3

714,8

16,1 4,7

6,8 8,9

15,7 36,1

38,7 49,6

2,5 11,2

58,3 19,0

99,3 37,8

82,6

Finanzierungssaldo

-67,0

-41,1

-14,4

- 136,8

1

-

Ausgaben der Gebietskörperschaften einschl. Lastenausgleichsfonds, ERP-Sondervermögen, Fonds „Deutsche Einheit" Kreditabwicklungsfonds und EG-Anteile; ohne Sozialversicherung.

Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (1994), S. 634

(Sachmittel, Personal usw.) und Investitionen, d.h. vermögenswirksame Ausgaben. Mit der G l i e d e r u n g nach Aufgabenbereichen werden U m f a n g und Struktur der Bereitstellung öffentlicher Leistungen (Outputs) zu erfassen versucht. A n a log k ö n n e n bei den E i n n a h m e n solche aus der B e s t e u e r u n g von Faktoren (direkte Steuern, z.B. E i n k o m m e n s t e u e r ) u n d solche aus der Besteuerung von G ü t e r n (indirekte Steuern, z.B. Mehrwertsteuer) sowie die Beiträge an die Sozialversicherung unterschieden werden. D i e K r e d i t a u f n a h m e schließt verbleibende Finanzierungslücken. U m f a n g und Struktur von öffentlichen E i n n a h m e n und Ausgaben k ö n n e n mit Hilfe von absoluten und relativen G r ö ß e n erfaßt werden. D a absolute Zahlen ( D M - B e t r ä g e ) wenig aussagefähig sind, wird die Staatstätigkeit üblicherweise zu a n d e r e n ökonomischen G r ö ß e n ins Verhältnis gesetzt. Allerdings ist auch der Aussagegehalt derartiger „ Q u o t e n " zu durchleuchten; er hängt maßgeblich von der Eignung der Bezugsbasis im N e n n e r (z.B. Bruttosozialprodukt o d e r Bruttoinlandsprodukt) ab. Eine „Staatsquote" von mittlerweile über 50 Prozent in Deutschland (Ausgaben des Staates einschließlich Sozialversicherung zu B r u t t o i n l a n d s p r o d u k t ) ist nicht dahingehend zu interpretieren, daß der Staat ü b e r die Hälfte des Inlandsprodukts „für sich" beansprucht, denn die in den Staatsausgaben enthaltenen Umverteilungsaktivitäten des Staates (Transferzahlungen) sind nicht Teil des Sozialprodukts. Geeigneter sind daher echte Quoten, die die B e a n s p r u c h u n g von Märkten durch den Staat zum Ausdruck bringen, beispielsweise der Anteil der Güternachfrage des Staates an der gesamtwirtschaftlichen G ü t e r n a c h f r a g e ( L a n g 1976).

5. Noll/Hildebrandt: Finanzwissenschaftliche Grundlagen Abb. 3

99

Staatswirtschaftliche Quoten im Zeitablauf 1

Jahr

1980

1985

1990

1992

1993

1994

1995

Staats(ausgaben)quote 2 Steuerquote 3 Abgabenquote 4 Kreditquote 5 Staatsschuldenquote 6

49,0 24,8 40,4 -2,9 31,5

50,1 24,0 40,3 -1,2 41,5

46,2 22,7 38,5 -2,1 43,2

50,1 24,2 41,7 -2,6 44,0

51,2

51,5

51,5

1 2 3 4 5 6

-

-

-

-

-

-

-3,3 48,2

-3,0 52,5

-2,5 62,0

Einschl. Sozialversicherung, ab 1991 Gebielsstand nach dem 3.10.1990. Staatsausgaben in vH des Bruttoinlandprodukts. Steuern in vH des Bruttoinlandprodukts. Steuern und Sozialabgaben in vH des Bruttoinlandprodukts. Anteil der öffentlichen Defizite am Bruttoinlandprodukt in vH. Bruttoschuld des Staates in vH des Bruttoinlandprodukts.

Quelle: Bundesministerium der Finanzen (1994), S. 342ff.

In der langfristigen Entwicklung öffentlicher Einnahmen und Ausgaben zeigt sich die Bedeutungszunahme der Staatstätigkeit in entwickelten Volkswirtschaften. In Deutschland - wie auch in den meisten anderen Industrieländern - ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Staatshaushalt nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch in Relation zum Sozialprodukt mehr oder weniger kontinuierlich angewachsen. Dabei sind vor allem die Ausgaben für wohlfahrtsstaatliche Zwecke (Umverteilungsaktivitäten) gestiegen (Saunders 1993). Die wichtigste Entwicklung auf der Einnahmenseite zeigt sich bei der staatlichen Verschuldung. Da die steigenden Staatsausgaben nicht vollständig durch steigende Steueraufkommen finanziert wurden, führte die fortgesetzte staatliche Nettokreditaufnahme zu erheblichen Schuldenständen (siehe Abb. 3). Weiterhin ist bei der Quantifizierung von Staatstätigkeit zwischen realen und nominalen Größen zu unterscheiden. Ein Wachstum der nominalen Konsumausgaben des Staates (aktuelle Preise) impliziert nicht automatisch ein Anwachsen der real bereitgestellten Menge an öffentlichen Gütern, da der Ausgabenanstieg auch eine Folge von Inflation sein kann. Wird die Entwicklung der Ausgaben (bzw. Einnahmen) in Relation zum Sozialprodukt ausgedrückt, bringt eine Deflationierung der Größen jedoch nur dann zusätzliche Informationen, wenn sich das Preisniveau im öffentlichen Sektor anders entwickelt als im Privatsektor, beispielsweise aufgrund einer Verschiebung der relativen Preise zuungunsten des Staates (Verteuerung staatlicher Inputs) oder aufgrund unterschiedlicher Produktivitätsentwicklungen. Die Bestimmung eines separaten Preisindex für öffentliche Güter stößt jedoch auf erhebliche methodische Schwierigkeiten, da diese in der Regel unentgeltlich bereitgestellt, d.h. nicht zu Marktpreisen, sondern zu Inputpreisen (Kostenpreisen) bewertet werden. Empirische Untersuchungen, die den Versuch einer separaten Deflationierung der Staatsausgaben unternehmen, weisen darauf hin, daß die Preise staatlicher Leistungen im Vergleich zu privaten Gütern schneller ansteigen (Beck 1982,1985, Oxley et al. 1990). Gemmell (1993) ermittelt für Deutschland und andere OECD-Länder zwischen 1950 und 1985 sogar einen Rückgang der realen Konsumausgaben des Staates in Relation zum Sozialprodukt, während die nominale Konsumausgabenquote angewachsen ist.

100

I. Grundlagen

Die Messung von Staatstätigkeit liefert Werte, die in der quantitativen Theorieund Modellbildung und in empirischen Untersuchungen verwendet werden können. Grundsätzlich ist die Quantifizierung von Staatstätigkeit, d.h. sowohl die Abgrenzung des Staates als auch die Auswahl der relevanten Größen und des statistischen Datenmaterials am Untersuchungszweck auszurichten. Je nach Fragestellungen ist zu entscheiden, ob die Sozialversicherung einbezogen wird, ob reale oder nominale Größen Verwendung finden usw. Dies verdeutlicht, daß kein eindeutiger und objektiver, von ökonomischer Theoriebildung unabhängiger Maßstab zur Messung von Staatstätigkeit existiert und erklärt wenigstens teilweise, warum die Größenangaben in der Debatte um den öffentlichen Sektor so stark differieren. Darüberhinaus bleiben in der meßbaren Staatstätigkeit diejenigen Komponenten unberücksichtigt, die sich nicht in Zahlungsströmen abbilden lassen. Neben den off-budget-Aktivitäten gilt dies auch für die qualitativen Eigenschaften öffentlicher Leistungen.

3.0 Öffentliche Ausgaben und öffentliche Einnahmen Nach diesen Überlegungen zur Messung von Staatstätigkeit sollen nun wesentliche theoretische Argumentationen behandelt werden: Musgrave (1959) unterscheidet als Funktionen der öffentlichen Finanzwirtschaft zwischen Allokations-, Redistributions- und Stabilisierungsfunktion. Die ersten beiden Funktionen, die Korrektur von Marktversagen vor allem durch Bereitstellung öffentlicher Güter und die Umverteilung von Einkommen zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit, sind mikroökonomischer Natur. Die Stabilisierungsfunktion hingegen betrifft die gesamtwirtschaftliche Verantwortung des Staates, konjunkturelle Schwankungen auszugleichen. Indem er sein Ausgaben- und Einnahmengebaren im Zeitablauf gezielt variiert, soll über die Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Vollbeschäftigung hergestellt werden. Diese antizyklische Fiskalpolitik basiert auf dem Keynesianismus, der lange Zeit die dominierende makroökonomische Theorie darstellte. Seit Beginn der siebziger Jahre hat sich die Finanzwissenschaft zunehmend von der Stabilisierungsfunktion distanziert. Dies ist u.a. eine Konsequenz der Bemühungen um stärkere entscheidungstheoretische Fundierung von Verhaltensfunktionen. Die „neue" Finanzwissenschaft hat damit die Musgrave'sche Dreiteilung der finanzwirtschaftlichen Funktionen aufgegeben und ist rein mikroökonomisch. Schwerpunkte ihrer oft sehr formalen neoklassischen Modellbildung sind die Theorie des Marktversagens und die Theorie der optimalen Besteuerung. Außerdem werden, im Vergleich zur älteren Literatur, weitgehend Informations- und Anreizprobleme in die finanzwissenschaftlichen Problemstellungen und Problemlösungen einbezogen (zur „neuen Finanzwissenschaft" siehe Richter/Wiegard 1993a, 1993b). Zunächst werden einige Schwerpunkte der neoklassischen Finanzwissenschaft behandelt. Den normativen Theorien schließen sich positive politisch-ökonomische Theorien zur Erklärung von Staatstätigkeit an.

5. Noll/Hildebrandt: Finanzwissenschaftliche Grundlagen

101

3.1 Theorie des Marktversagens, optimale Besteuerung und Staatsverschuldung 3.1.1 Theorie des Marktversagens Ausgangspunkt der normativen Theorie ist die Frage nach der Rechtfertigung von Staatstätigkeit: Mögliche Argumente liefert die Theorie des Marktversagens. Sie befaßt sich mit einer Reihe unterschiedlicher Konstellationen, die das Erreichen eines Pareto-Optimums in der Konkurrenzwirtschaft verhindern. Eine pareto-optimale Allokation ist dann gegeben, wenn kein Individuum der Gesellschaft seinen Nutzen weiter erhöhen kann, ohne daß ein anderes schlechtergestellt wird. Die paretianische Wohlfahrtsökonomik geht dabei von einer gegebenen Anfangsausstattung der Individuen mit Ressourcen aus und läßt daher keine Aussagen über die optimale Einkommensverteilung zu, sondern nur über die Effizienz von Produktion und Verbrauch. Unter den restriktiven Annahmen der vollständigen Konkurrenz - Bedingung hierfür sind die Existenz eines vollkommenen Marktes sowie das Vorhandensein unendlich vieler Anbieter und Nachfrager - und bei gleichzeitiger Abwesenheit externer Effekte und öffentlicher Güter kommt es zur pareto-effizienten Gleichgewichtslösung (Feldmann 1980). Eine Rechtfertigung von Staatstätigkeit kann demnach dann vermutet werden, wenn Marktunvollkommenheiten vorherrschen, etwa bei Vorliegen subadditiver Kostenstrukturen (natürliche Monopole) oder im Falle von Unsicherheit über zukünftige Zustände. Verschiedene Formen von Informationsasymmetrien zwischen den Marktteilnehmern können dafür verantwortlich sein, wenn Zukunftsgüter in der Gegenwart nicht auf vollkommenen Märkten gehandelt werden. Beispielsweise bestehen auf Versicherungsmärkten Asymmetrien zwischen dem Informationsstand des Versicherungsgebers und des (potentiellen) Versicherungsnehmers bezüglich der vorgegebenen individuellen Risiken des Versicherungsnehmers (Problem der adversen Selektion) oder bezüglich seiner zukünftigen Verhaltensweisen nach Vertragsabschluß (moral-hazard-Problem). Allerdings rechtfertigt das Vorliegen von Marktunvollkommenheiten nicht automatisch staatliche Eingriffe. Obgleich in bestimmten Fällen staatliche Eingriffe zu Effizienzverbesserungen führen können, ist dies nicht immer der Fall. Die Ergebnisse hängen stark von den Modellspezifikationen ab und pauschale Antworten auf die Frage, ob und in welcher Form (Regulierung, Subventionierung etc.) der Staat eingreifen soll, sind nicht möglich. Negative oder positive externe Effekte liegen vor, wenn aufgrund mangelnder Eigentumsrechte Nutzen oder Kosten, die mit der Produktion oder dem Konsum eines Gutes einhergehen, nicht in das Kalkül der Entscheidungsträger eingehen. Typisches Beispiel sind die sozialen Kosten der Umweltschädigung, die nicht über den Markt abgegolten werden. Theoretisch kann der Staat dieses Marktversagen beheben, indem er in Höhe der Differenz zwischen sozialen und privaten Grenzkosten (Grenznutzen) eine Steuer erhebt (eine Subvention auszahlt). Einer solchen Pigou-Steuer spricht jedoch entgegen, daß auch der Staat die sozialen Nutzen und Kosten und damit auch die effiziente Höhe der Steuer bzw. Subvention nur schwer ermitteln kann. Zum anderen zeigt das Coase-Theorem, daß auch Verhandlungslösungen zwischen den Beteiligten (Schädiger und Geschädigte) zu einer Internalisierung der externen Effekte führen können, und sich somit der staatliche Eingriff auf die Zuweisung der Handlungsrechte beschränken kann. Die im Hinblick auf die Ausgaben wichtigste Legitimation von Staatstätigkeit ist das Vorliegen reiner öffentliche Güter (Kollektivgüter). Als konstitutive Merk-

102

I. Grundlagen

male hierfür gelten die Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität im Konsum. Nicht-Rivalität liegt vor, falls der Nutzen der Individuen nicht beeinträchtigt wird, wenn weitere Nutzer hinzukommen, d.h. zusätzliche Nutzer verursachen keine weiteren Kosten. Nicht-Ausschließbarkeit bedeutet, daß es technisch unmöglich oder prohibitiv kostspielig ist, Individuen von der Nutzung des G u t e s auszuschließen. Typisches Beispiel f ü r ein nationales Kollektivgut ist die Landesverteidigung. D e r Markt versagt, da die Individuen nicht gewillt sind, einen Preis für die Nutzung des Gutes zu entrichten - Trittbrettfahren ist rational (free-ricLer-Problem). Aufgrund mangelnder Zahlungsbereitschaft findet sich kein privates A n g e b o t . Folglich soll der Staat die öffentlichen G ü t e r unentgeltlich bereitstellen und über Steuern finanzieren. Wie auch bei den vorangegangenen Fällen besteht jedoch auch hier ein f ü r den Staat zunächst unlösbares Informationsproblem: Da die Präferenzen der Individuen nicht offenbart werden, kann der Staat die optimale Angebotsmenge nicht kennen. Trotz entsprechender A n sätze (Clarke 1971, Groves/Ledyard 1977) wurde bislang kein Mechanismus gef u n d e n , der einen Anreiz zur O f f e n b a r u n g der P r ä f e r e n z e n setzt und gleichzeitig Pareto-Effizienz garantiert. Ein allokationsoptimaler U m f a n g der Staatstätigkeit, speziell der Ausgabentätigkeit, ist daher nicht bestimmbar.

3.1.2 Theorie der optimalen Besteuerung Die Theorie der optimalen Besteuerung klammert die Frage nach dem optimalen B u d g e t v o l u m e n aus. D a s zur Bereitstellung öffentlicher G ü t e r notwendige Ausg a b e n v o l u m e n ist exogen vorgegeben. E s stellt sich dann die Frage nach der Ausgestaltung der Einnahmenseite, d.h. nach geeigneten Steuerbemessungsgrundlagen und Tarifen. U n t e r Allokationsgesichtpunkten wäre eigentlich eine Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip optimal. Hierbei entspricht der individuelle Steueranteil dem G r e n z n u t z e n des Individuums aus öffentlichen G ü t e r n . D a jedoch bei öffentlichen G ü t e r n der Nutzen der Individuen gerade nicht b e k a n n t ist (siehe oben), sind derartige Steuerpreise (Lindahl-Preise) nicht ermittelbar. Lange Tradition h a b e n Versuche, aus Prinzipien der Gerechtigkeit Aussagen zur B e s t e u e r u n g abzuleiten. Gerechtigkeit kann einerseits dahingehend verstanden werden, daß der einzelne ein Anrecht darauf hat, sein am Markt erwirtschaftetes E i n k o m m e n für sich zu behalten. Andererseits kann Gerechtigkeit verstanden werden im Sinne einer sozialstaatlich motivierten Korrektur der am Markt erzielten E i n k o m m e n . U n t e r Umverteilungsgesichtspunkten wäre eine Besteuerung nach d e m Leistungsfähigkeitsprinzip wünschenswert, bei dem sich der Steueranteil des einzelnen nach seiner individuellen Opferfähigkeit richtet. Die in Form von N u t z e n e i n b u ß e n aus E i n k o m m e n s m i n d e r u n g e n operationalisierte O p f e r fähigkeit ist jedoch nicht bestimmbar. D a r ü b e r h i n a u s führt eine Besteuerung der E i n k o m m e n nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu Allokationsverzerrungen. Die Steuer wird nach dem Opferprinzip auf gegebene E i n k o m m e n gelegt. In der m o d e r n e n E i n k o m m e n s t e u e r theorie reagiert der Steuerzahler jedoch zumindest langfristig. Deshalb ist die Steuer unter Berücksichtigung der Reaktion festzulegen. U m Fehlallokationen, beispielsweise des Produktionsfaktors Arbeit, zu vermeiden, müßte die Fähigkeit, E i n k o m m e n zu erzielen, zur Besteuerungsgrundlage gemacht werden. Diese ist j e d o c h ebenfalls u n b e k a n n t .

5. Noll/Hildebrandt: Finanzwissenschaftliche G r u n d l a g e n

103

Ebenso wie die Besteuerung angeborener individueller Fähigkeiten ausscheidet, da diese nicht beobachtbar und quantifizierbar sind, sind auch andere mögliche Bemessungsgrundlagen einer lump-sum-Steuer problematisch. Eine lump-sumSteuer ist völlig allokationsneutral. Sie läßt dem Individuum keine Möglichkeit zur Verhaltensänderung, da es die Bemessungsgrundlage nicht manipulieren kann (keine Substitutionseffekte). In Gestalt einer einheitlichen Kopf-Steuer (ohne Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten) ist eine lump-sum-Steuer zwar realisierbar, jedoch ist diese Option wiederum aufgrund ihrer Verteilungswirkungen nicht akzeptabel. Da kein Optimum herzustellen ist, befaßt sich die moderne Theorie der optimalen Besteuerung genaugenommen mit second-best-Lösungen. Unter Effizienzund (bei Postulierung von sozialen Wohlfahrtsfunktionen) Verteilungsgesichtspunkten werden für verschiedene direkte und indirekte Steuern Empfehlungen bezüglich der Bemessungsgrundlage und des Tarifs abgeleitet. Dabei werden wiederum Informations- und Anreizprobleme berücksichtigt. Zentral ist das Bemühen um die Minimierung von Allokationsverzerrungen (Zusatzlasten, excess bürden) durch Besteuerung. Implizit liegt dieser Argumentation die Vorstellung zugrunde, daß ohne Besteuerung die optimale Allokation gewährleistet ist und somit jeder Staatseingriff eine Verzerrung herbeiführt - es gibt beispielsweise keine negativen externen Effekte, die durch eine Pigau-Steuer korrigiert würden. Bei den indirekten Steuern empfiehlt die Theorie der optimalen Besteuerung, Güter nach Maßgabe der Preiselastizität ihrer Nachfrage mit Verbrauchsteuern zu belegen. Bei hohen Steuersätzen auf preisunelastische und niedrigen Steuersätzen auf preiselastische Güter können die Allokationsverzerrungen minimiert werden. Analog wird bei direkten Steuern und hoher (niedriger) Substitutionselastizität zwischen E i n k o m m e n und Freizeit ein geringer (hoher) Einkommensteuersatz empfohlen. Neben diesen beispielhaften, eher simplen Erkenntnissen bietet die Theorie der optimalen Besteuerung eine Fülle formal ausgefeilter Modelle mit oft geringem praktischem Wert. Fragwürdig sind insbesondere diejenigen Modelle, die mit sozialen Wohlfahrtsfunktionen operieren (siehe Richter/Wiegard 1993b für einen Überblick über die wichtigsten Modelle). Neuere dynamische Modelle befassen sich mit optimaler Besteuerung in der zeitlichen Dimension. Zu unterscheiden sind hierbei Modelle, bei denen Individuen mit unbegrenzter Lebensdauer ihren intertemporalen Nutzen maximieren, und Modelle mit mehreren „überlappenden" Generationen (overlapping generations). Wiederum werden unter restriktiven A n n a h m e n nach Effizienz- und Verteilungsgesichtspunkten Empfehlungen bezüglich der Eignung von Bemessungsgrundlagen und Tarifen einzelner Steuerarten abgeleitet. Aus der Sicht der dynamischen Besteuerungstheorie finden sich Hinweise auf die Überlegenheit der Verbrauchsbesteuerung gegenüber der Einkommensbesteuerung. Schließlich werden Probleme zeitkonsistenter bzw. -inkonsistenter Steuerpolitiken behandelt. Bei Zeitinkonsistenz handelt es sich um Änderungen der staatlichen Steuerpolitik im Zeitverlauf, die im Vergleich zur ursprünglich angekündigten (zeitkonsistenten) Politik eine Wohlstandserhöhung herbeiführen können. Allerdings leidet die Glaubwürdigkeit des Staates unter derartigen - wenn auch effizienzsteigernden - Kursänderungen. Sie sind daher bei rationaler Erwartung der Individuen und unendlichem Zeithorizont nicht durchführbar (Persson/Tabellini 1990).

104

I. Grundlagen

3.1.3 Staatliche Verschuldung Die intertemporale Betrachtungsweise leitet zur staatlichen Kreditaufnahme über: Werden Ausgaben in der Gegenwart nicht über Steuern finanziert, sondern durch Kreditaufnahme, müssen zukünftige Generationen die aufgebauten Staatsschulden durch Steuern tilgen. Traditionell fußte die Begründung von staatlicher Kreditaufnahme auf der Überlegung, daß öffentliche Investitionen in der Zukunft Nutzen abwerfen. Daher ist eine Finanzierung investiver Ausgaben durch staatliche Verschuldung in der Gegenwart und ihre Tilgung durch Steuerzahlungen zukünftiger Generationen vertretbar (Pay-as-you-use-Prinzip). Es finden hierbei keine intergenerativen Umverteilungen statt. Neuere Modelle konzentrieren sich wiederum verstärkt auf die mögliche Korrektur von Ineffizienzen. Gemäß der tax-smoothing-Hypothese (Barro 1979, 1986) erlaubt die Kreditaufnahme eine Vermeidung intertemporaler Ineffizienzen, da die Wohlfahrtskosten der Besteuerung optimal zeitlich verteilt werden können, wenn die Kreditaufnahme die (positive oder negative) Lücke zum jeweils erforderlichen Ausgabenvolumen schließt. Allerdings liegen auch dieser Argumentation sehr restriktive Annahmen zugrunde, durch die mögliche Umverteilungseffekte zwischen den Generationen unberücksichtigt bleiben. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die neuere finanzwissenschaftliche Literatur nicht mehr vom omnipotenten Staat ausgeht, der jegliches Marktversagen beheben und Pareto-Optimalität herstellen kann. Bevor staatliche Zuständigkeit attestiert wird, ist jeweils zu überprüfen, ob der Einsatz finanzpolitischer Instrumente überhaupt Effizienzverbesserungen bewirken kann. Durch die immer differenzierteren Analysen und die explizite Berücksichtigung von Informationsund Anreizproblemen wird es jedoch zunehmend schwierig, eindeutige Lösungen und damit klare Handlungsanweisungen an den Staat abzuleiten. Im übrigen kann auch die Differenziertheit und formale Präzision der Modelle nicht darüber hinwegtäuschen, daß die neoklassische Finanzwissenschaft durch die grundlegenden Defizite der Neoklassik geprägt ist, deren Realitätsgehalt teilweise zu wünschen übrig läßt.

3.2 Public Choice-Theorie: Erklärung von Staatstätigkeit In ihrem Bemühen um die Ableitung von Politikempfehlungen gehen die vorgestellten normativen Theorieansätze implizit von einem wohlwollenden, uneigennützigen Staat aus, der optimale Politiken - soweit sie möglich sind - im Interesse seiner Bürger verwirklicht. Dieses idealistische Staatsverständnis durch ein realistisches zu ersetzen ist Anliegen politisch-ökonomischer Theorien, die versuchen, staatliches Verhalten empirisch gehaltvoll zu erklären. Die Neue Politische Ökonomie (Public C/jo/ce-Theorie) überträgt Annahmen und Analysemethoden aus der MikroÖkonomik auf den politischen Bereich. Politische Entscheidungen werden als Interaktion rational und in der Regel eigennützig handelnder Individuen (Politiker, Wähler etc.) modelliert. Auch im Hinblick auf staatliche Ausgaben und Einnahmen bietet es sich an, Erklärungsversuche (positive Theoriebildung) nicht nur auf rein ökonomische Variablen zu beschränken, sondern die politischen Prozesse zu analysieren, die zu Budgetentscheidungen führen. Die Erklärung von öffentlichen Ausgaben hat in der deutschen Finanzwissenschaft eine lange Tradition. Bereits im letzten Jahr-

5. Noll/Hildebrandt: Finanzwissenschaftliche Grundlagen

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hundert formulierte Adolph Wagner sein „Gesetz" der wachsenden Staatsausgaben, das in der modernen Literatur in Form vereinfachter Hypothesen zur Einkommenselastizität der Nachfrage nach öffentlichen Gütern weiterlebt. Eine ganze Reihe weiterer Theorien und Hypothesen eruieren mögliche ökonomische und politisch-ökonomische Ursachen für den Umfang und die zeitliche Entwicklung staatlicher Ausgaben. Die Erklärung öffentlicher Einnahmen wurde hingegen weitgehend vernachlässigt, da von der vereinfachten Annahme ausgegangen wurde, daß die Ausgabenund Einnahmenentscheidungen simultan erfolgen (Steuerpreise öffentlicher Güter) bzw. daß die Einnahmen rein fiskalisch motiviert sind und sich dem Ausgabenvolumen anpassen. Diese vereinfachte Sichtweise wird jedoch der eigenständigen Bedeutung der öffentlichen Einnahmen als finanzpolitische Instrumente (inbesondere im Rahmen der Verteilungspolitik) nicht gerecht. Auch vernachlässigt sie mögliche kausale Beziehungen zwischen Staatseinnahmen und -ausgaben. Gerade in Zeiten der Knappheit finanzieller Mittel ist die Verfügbarkeit von Steuereinnahmen eine wichtige Determinante des staatlichen Ausgabenverhaltens. Die einfachsten Modelle der Neuen Politischen Ökonomie beschränken sich auf Politiker als „Anbieter" und Wähler als „Nachfrager" nach öffentlichen Gütern (Budgetumfang). Unter bestimmten restriktiven Annahmen wird bei Mehrheitswahlen diejenige Menge bereitgestellt, die den Präferenzen des Medianwählers, d.h. des nach Einkommen geordneten mittleren Wählers, entspricht. Die politischen Parteien sind aufgrund des politischen Wettbewerbs gezwungen, diese Menge zu realisieren, die zwar i.d.R. nicht pareto-effizient ist, jedoch dem Willen der politischen Mehrheit der Gesellschaft entspricht. Die verwendete Terminologie (Angebot, Nachfrage, Wettbewerb) macht deutlich, daß der Public ChoiceTheorie die Analogie zwischen ökonomischer und politischen Sphäre zugrunde liegt - marktliche und nicht-marktliche Entscheidungen werden mit ökonomischen Methoden analysiert. Der Theorie des Marktversagens wird durch die Neue Politische Ökonomie eine Theorie des Staatsversagens entgegengestellt. Die Auflösung der restriktiven Bedingungen des Medianwählermodells, die Einbeziehung weiterer Akteure mit diskretionären Handlungsspielräumen (Bürokraten, Lobbyisten) und die Einführung zusätzlicher staatlicher Leistungen, um die die beteiligten Akteure konkurrieren (Konkurrenz um Einkommensumverteilung) führt zu einem weiten Spektrum politisch-ökonomischer Modelle. Im Unterschied zur vereinfachten Medianwähler-Welt werden den „politischen Märkten" weitreichende Unvollkommenheiten attestiert, so daß staatliche Entscheidungen nicht den Willen des Medianwählers widerspiegeln oder gar Pareto-Effizienz herbeiführen. Anreizund Informationsprobleme spielen hier (wie auch bei der Theorie des Marktversagens) eine große Rolle. Viele der Modelle und Hypothesen deuten darauf hin, daß Staatstätigkeit tendenziell exzessive Ausmaße annimmt (excess bias). Die Theorie der Fiskalillusion geht beispielsweise von Informationsproblemen des Wählers aus: Der Wähler unterschätzt die Steuerlasten und läßt zuviel Ausgabentätigkeit zu. Interessengruppen verschaffen sich durch besondere Einflußnahme (rent-seeking-Aktivitäten) spezielle, ihnen zugutekommende Vergünstigungen, wie z.B. Subventionen. Auf der Seite des Angebots staatlicher Leistungen werden politische Parteien und staatliche Bürokratien nicht durch vollkommenen Wettbewerb diszipliniert.

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I. Grundlagen

Die ihnen verbleibenden Handlungsspielräume schöpfen Politiker und Bürokraten zur Verfolgung eigener Ziele aus. Nach Brennan/Buchanan (1980) führt dies zur Einnahmenmaximierung durch den Staat. Bei Niskanen (1971) betreiben die Bürokraten Budgetmaximierung; in der Folge kommt es zu Ineffizienzen im staatlichen Leistungsangebot und in der staatlichen Produktion. Obgleich die Neue Politische Ökonomie einen wichtigen Schritt in Richtung der positiven Analyse staatlichen Verhaltens vollzogen hat, unterliegt auch ihre Leistungsfähigkeit gewissen Restriktionen. Zum einen sind die theoretischen Ergebnisse weniger einheitlich, als der hier vorgenommene kurze Überblick vermuten läßt. Je nachdem, von welchen Annahmen ausgegangen wird, lassen sich auch Hinweise auf zu geringe Staatstätigkeit finden (z.B. Downs 1960) oder auf Effizienz der Staatstätigkeit (z.B. Becker 1983, 1985). Die empirische Evidenz zu den Modellen ist lückenhaft und ebenfalls nicht widerspruchslos. Zum anderen ist auch die Public Choice-Theorie gezeichnet vom neoklassischen Paradigma. Dessen Beharren auf das Rationalverhaltensmodell und das statische Gleichgewichtsdenken wird den komplexen Realitäten demokratischer Gesellschaften letztlich nicht vollständig gerecht (Hildebrandt 1995).

4.0 Makroökonomische Finanzwissenschaft Historischer Ausgangspunkt der makroökonomischen Stabilisierungspolitik ist Keynes' General Theory (1936), in der die klassischen Annahmen des Say'schen Theorems (jedes Angebot schafft sich selbst seine Nachfrage) und der Quantitätstheorie des Geldes (Neutralität des Geldes) in Frage gestellt werden, was die Möglichkeit von Unterbeschäftigungsgleichgewichten zur Folge hat. Unterstellt man zusätzlich eine Multiplikatorwirkung fiskalpolitischer Maßnahmen auf die gesamtwirtschaftliche Endnachfrage, so ergibt sich die keynesianische Legitimation makroökonomischer Stabilitätspolitik mit dem Ziel der Vollbeschäftigung. Der Staat kann dabei zum einen diskretionär in Form der Erhöhung staatlicher Nachfragekomponenten (staatliche Investitionen und staatlicher Konsum) oder durch Beeinflussung der privaten Verhaltensparameter (Spar- bzw. Konsumneigung, Investitionsneigung) auf die Endnachfrage einwirken. Zum anderen wirken Teile des Steuer- und Transfersystems auch ohne diskretionären Eingriff bei konjunkturellen Schwankungen der Wirtschaftstätigkeit als automatische Stabilisatoren (built-in-flexibility). Die These der Globalsteuerung statt schlichtem laissez-faire war lange Zeit Grundelement der wirtschaftspolitischen Konzeption einer auf Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität bei angemessenem Wirtschaftswachstum ausgerichteten Politik der Bundesrepublik Deutschland und hat ihren Niederschlag im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG mit Ergänzungen im H G r G ) aus dem Jahre 1967 gefunden. Die Probleme der praktischen Umsetzung der keynesianischen Konzeption und die kritische Einschätzung der stabilisierungspolitischen Möglichkeiten des Staates hatten Ende der 70er Jahre zur Folge, daß keynesianisches Gedankengut sowohl in der akademischen als auch in der politischen Diskussion an Bedeutung verlor. In der einfachen und politisch relevanten Variante des Keynesianismus wurde zum einen die Informations- und Anreizproblematik für eine antizyklische Fiskalpolitik unterschätzt, was zur Folge hatte, daß die Instrumente, die das Stabi-

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litätsgesetz der Politik an die Hand gab, ungenutzt blieben bzw. die Maßnahmen nicht die erhoffte Wirkung hatten. Dabei bereitete der föderale Aufbau der Bundesrepublik für die praktische Umsetzung der Konzeption zusätzliche Schwierigkeiten. Zum anderen wurde kritisiert, daß der Versuch, mittels einer kompensatorischen Politik Vollbeschäftigung bei stetigem Wirtschaftswachstum herbeiführen zu wollen, schon im Ansatzpunkt verkehrt sei. Diese Kritik wird erstmals durch den Monetarismus formuliert, der die weitgehende Wirkungslosigkeit stabilisierungspolitischer Maßnahmen (crowding-outHypothese) postuliert (z.B. Friedman 1970). Die theoretischen Aspekte dieser Kritik werden systematisch von der Neuklassik aufgegriffen, die im Rahmen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie die Ineffektivität keynesianischer Stabilisierungspolitik nachweist. Die Grundannahme dieser Theorierichtung, individuelle Wahlhandlungen unter Bildung rationaler Erwartungen als mikroökonomische Fundierung makroökonomischer Phänomene heranzuziehen, und die Annahme der Markträumung spiegeln diese Intention wider und geben der makropolitischen Diskussion eine liberale Wende (Sargent/Wallace 1976). Für die Wirtschaftspolitik ist vor allem die Kritik der Neuklassik an der Verhaltensmodellierung des Keynesianismus durchschlagend, da dieser bislang davon ausging, daß das ökonomische System in Bezug auf wirtschaftspolitische Maßnahmen invariant ist. Die Neuklassik hingegen kommt in ihren Modellen zum Ergebnis, daß sich die Wirkungszusammenhänge aufgrund der Wahrnehmung wirtschaftspolitischer Maßnahmen durch die Akteure ändern, so daß die resultierende Wirkung nicht die vom politischen Träger gewünschte ist. Eine extreme Variante ist die völlige Antizipation der Intervention durch die Wirtschaftssubjekte (Felderer/ Homburg 1994, S. Tili.). Bei dieser Sicht der Dinge laufen stabilisatorische Maßnahmen des Staates ins Leere (Lucas-Kritik). Angesichts der anhaltenden Dringlichkeit der makroökonomischen Probleme westlicher industrialisierter Volkswirtschaften bei nunmehr weitgehendem Verzicht auf keynesianische Politik in den 80er Jahren stellt sich allerdings die Frage, ob ein Rückzug von der Makropolitik auf der Basis dieser Theorie die richtige Reaktion war. Auch vor dem Hintergrund neuerer empirischer Untersuchungen zur Multiplikatorwirkung fiskalpolitischer Maßnahmen scheint nämlich die Debatte um die Effektivität der Politik nicht entschieden zu sein (Nowotny 1994). Vielmehr steht zu vermuten, daß die derzeitige Neuorientierung keynesianischer Gedanken bei gleichzeitiger Modernisierung der makroökonomischen Instrumente hilfreich zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sein kann. Diese aktuellen Entwicklungen sollen im folgenden kurz beschrieben werden. Während eine Weiterentwicklung des Keynesianismus darin besteht, mittels Verwendung einer dualen Entscheidungshypothese Ungleichgewichte auf Güterund Faktormärkten zu begründen (Rothschild 1981), konzentriert sich eine Spielart des sog. New Keynesianism darauf, die Annahme der Preisrigiditäten, auf der Ungleichgewichte meist basieren, mikroökonomisch durch individuelle Wahlhandlungen zu erklären. Damit trägt sie der allgemeinen Tendenz einer entscheidungslogischen Fundierung makroökonomischer Phänomene Rechnung (Mankiw/Romer 1991). Zum anderen wird neuerdings der Gedanke aufgegriffen durchaus im Rahmen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie - die strategischen Wechselwirkungen zwischen den Akteuren analytisch besser abzubilden und auf dieser Grundlage die Debatte um die Notwendigkeit keynesianischer Makropolitik mit neuen Argumenten anzureichern (Cooper/John 1988). Geht man nämlich ab von der Annahme eines einzigen allgemeinen Gleichgewichts und läßt die

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Möglichkeit vieler Gleichgewichte zu, die unterschiedliche Wohlfahrtseigenschaften besitzen (multiple equilibria), dann wird bedeutsam, welche institutionelle Struktur für die Erreichung eines wohlfahrtsoptimalen Gleichgewichts am geeignetsten ist. Diese Annahme läßt sich begründen durch die Existenz von Synergieeffekten i.V.m. makroökonomischen Externalitäten, die auf nicht internalisierten Interdependenzen zwischen den Akteuren (z.B. Nachfrageinterdependenzen, steigende Skalenerträge) beruhen und meist in einem spieltheoretischen Kontext modelliert werden. Aufgrund der unterschiedlichen Wohlfahrtseigenschaften der möglichen Gleichgewichte ist es nun möglich, Koordinationsversagen einer bestehenden institutionellen (Markt-)Struktur abzuleiten (Unterbeschäftigung kann ein Tatbestand dieses Versagens sein), und dieses kann Anlaß für makropolitische Aktivitäten des Staates sein. Institutionen haben in diesem Forschungsprogramm demnach eine Doppelfunktion: Sie koordinieren die individuellen, interdependenten Erwartungen und sie koordinieren bei einer gegebenen Erwartungsstruktur das individuelle Verhalten. Dies führt zu einer Verlagerung des Schwerpunktes der MakroÖkonomik von Interventionsfragen bei gegebenen institutionellen Strukturen hin zu institutionellen und ordnungspolitischen Fragen, ohne jedoch die herkömmliche Stabilisierung mittels Fiskalpolitik aus den Augen zu verlieren (Colander 1992). Zusammenfassend bedeutet dies, daß sowohl in theoretischer als auch praktisch-politischer Hinsicht die Diskussion um die Stabilisierungsfunktion staatlicher Fiskalpolitik nicht abgeschlossen ist, ja geradezu eine neue Dynamik erfährt.

5.0 Föderalismustheorie In den vorhergehenden Abschnitten wurde der Sektor Staat als einheitliches Ganzes (Zentralstaat) aufgefaßt und ausschließlich dessen Interaktion mit den übrigen Sektoren untersucht. In der Realität ist der Sektor Staat jedoch ein System von mehr oder weniger selbständigen Einheiten, die untereinander und mit den anderen Sektoren in Verbindung stehen. Untersuchungsgegenstand der ökonomischen Theorie des Föderalismus sind Staaten mit dezentraler Organisationsstruktur. Konstitutiv für einen föderativen Staat sind dabei zwei Merkmale. Erstens sind die verschiedenen selbständigen Einheiten (Gebietskörperschaften) mit politischen Kompetenzen ausgestattet (Entscheidung, Kontrolle und Verantwortung staatlichen Handelns). Zweitens hat das Handeln der Gebietskörperschaften immer räumlichen Bezug: Die budgetwirksamen Aktivitäten der einzelnen Gebietskörperschaften haben unterschiedliche räumliche Anknüpfungspunkte und unterschiedliche räumliche Wirkungen. Die Organisationsstruktur eines föderativen Staates wie der Bundesrepublik weist eine vertikale und eine horizontale Dimension auf. Die vertikale Struktur bezieht sich auf die Beziehungen zwischen zwei Ebenen. Somit sind die Beziehungen zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen einem Bundesland und seinen Kommunen vertikal, wohingegen die Beziehungen zwischen den gleichrangigen Gebietskörperschaften einer Ebene (Länderebene, kommunale Ebene) horizontaler Natur sind. Die Organisation des Sektors Staat kann unter rechtlichen, politischen sowie soziologischen und ökonomischen Gesichtspunkten analysiert werden. Im folgen-

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den wird mit der Theorie des Finanzföderalismus der ökonomische Beitrag zur Föderalismusforschung vorgestellt (Musgrave/Musgrave/Kullmer 1992, S. lff.; für einen Überblick Noll 1979, S. 195ff.). Im Vordergrund stehen die Frage nach der Zuordnung staatlicher Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen auf die verschiedenen Ebenen eines föderativen Staates (Finanzausgleich im weitesten Sinne) sowie die Gestaltung der Ausgleichszahlungen zwischen den Gebietskörperschaften (Finanzausgleich im engen Sinne).

5.1 Allokations-, Verteilungs- und Stabilisierungsfunktion im föderativen Staat Wenn vom (gedanklichen) Einheitsstaat zum föderativen Staat übergegangen wird, stellt sich die Frage, wie die drei Musgrave'schen Grundfunktionen der Finanzwirtschaft, Allokation, Verteilung und Stabilisierung, den räumlichen Teilaggregaten zuzuordnen sind. Aus der Regelung der Aufgabenzuständigkeiten ergeben sich logische Konsequenzen für die Ausgaben- und Einnahmenverteilung. 5.1.1 Die Allokationsfunktion Die Föderalismustheorie setzt an bei der normativen Analyse der Bildung von Gebietskörperschaften, indem sie die Theorie der öffentlichen Güter um die Dimension Raum erweitert. Es wird erkannt, daß universelle öffentliche Güter mit unbegrenzter Nicht-Rivalität und Nicht-Ausschließbarkeit (nutzenseitige Eigenschaften) selten existieren. Vielmehr wird der universelle Charakter solcher Güter durch die räumliche Nutzendiffusion begrenzt. Die im Sinne der effizienten Allokation knapper Ressourcen optimale föderative Struktur wird damit eine Anzahl von Gebietskörperschaften unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung beinhalten, die jeweils die ihrem Gebiet entsprechenden öffentlichen Leistungen produzieren, anbieten und finanzieren. Auf diese Weise werden die Kosten der Bereitstellung der öffentlichen Güter und Dienstleistungen zwischen den Einwohnern aufgeteilt, die tatsächlich einen Nutzen aus dem öffentlichen Angebot ziehen (räumliche Nutzen-Kosten-Äquivalenz). Im Idealfall sollten die politischen Grenzen der Gebietskörperschaft (Entscheidung, Kontrolle und Verantwortung über das öffentliche Gut) mit den Nutzengrenzen des Gutes übereinstimmen. Eine Ebene von Gebietskörperschaften, die nur ein Gut bereitstellen, wird gebildet (funktionale Gebietskörperschaften). Güter mit räumlich unbegrenztem Wirkungskreis werden auf nationaler Ebene bereitgestellt; Güter mit regionalem bzw. lokalem Wirkungskreis werden von regionalen bzw. lokalen Gebietskörperschaften angeboten. Fehlt im übrigen einem öffentlichen Gut die Eigenschaft der Nicht-Ausschließbarkeit, steht einem privaten Angebot grundsätzlich nichts im Wege. Bei zunehmendem Öffentlichkeitsgrad wird die Bildung von privaten Kollektiven jedoch nicht gelingen (ClubTheorie). Für die Dezentralisierung der Aufgabenerfüllung spricht die Möglichkeit, den Präferenzen der Bürger stärker gerecht zu werden. Je kleiner die Gebietskörperschaft ist, um so homogener sind die Präferenzen. Die politischen Entscheidungsträger sind besser über die Wünsche der Bürger informiert und können mit ihrem Angebot flexibler darauf reagieren. Folglich werden die einzelnen Gebietskörperschaften auf regionaler bzw. lokaler Ebene ein spezifisches, auf die Bedürfnis-

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se ihrer Bevölkerung abgestimmtes Leistungsangebot realisieren. Falls die Bürger mobil sind, können sie über die Möglichkeit der Teilnahme an politischen Wahlen hinausgehend auch „mit den Füßen" über das öffentliche Leistungsangebot abstimmen (voting onfoot), indem sie den Wohnort in diejenige Gebietskörperschaft verlegen, deren Leistungsangebot den eigenen Vorlieben am nähesten kommt (Tiebout 1956). Schließlich kann gerade bei Mobilität der Bürger (Produktionsfaktor Arbeit) und der Unternehmen (Realkapital) die Existenz einer Vielzahl von lokalen und regionalen Gebietskörperschaften zu einem fruchtbaren Entdeckungswettbewerb führen, wenn es darum geht, innovative und effiziente Verfahren zur Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen zu entwickeln (Produktionsargument). Die Errichtung eines föderativen Systems bzw. die Dezentralisierung bringt jedoch auch Schwierigkeiten mit sich: Eine Struktur von funktionalen Gebietskörperschaften, bei denen es so viele Ebenen wie öffentliche Güter gibt, ist mit einem hohen Ressourcenverbrauch verbunden (Kosten der Aufrechterhaltung der vielen Entscheidungseinheiten). Um solche Kosten zu senken, liegt es nahe, mehrere Funktionen (Aufgaben bzw. Güter) in einer Einheit zusammenzulegen. So kommt man zu der Bildung von auf den Raum (statt auf ein Gut) bezogenen Gebietskörperschaften. In diesen Gebietskörperschaften ist es allerdings nicht mehr gewährleistet, daß die Nutzengrenzen aller einzelnen Güter mit den politischen Grenzen übereinstimmen. Es kommt dann zu externen Effekten zwischen den benachbarten Gebietskörperschaften, sog. spillover-Effekten. Derartige Externalitäten können beispielsweise durch finanzielle Transfers zwischen den Gebietskörperschaften (Finanzausgleichszahlungen) korrigiert werden. Weisen schließlich bestimmte öffentliche Güter als produktionsseitige Eigenschaft steigende Skalenerträge auf (economies ofscale), so daß in einer kleinen Gebietskörperschaft ein kostengünstiges Angebot nicht möglich ist, kann auch dieses Problem durch Kooperation benachbarter Gebietskörperschaften gelöst werden, beispielsweise durch gemeinsame Produktion kostenoptimaler Mengen (z.B. Abwasserreinigung in kommunalen Zweckverbänden).

5.1.2 Die Distributionsfunktion In der Literatur wird die Korrektur der Verteilung von Einkommen (und Vermögen) übereinstimmend der nationalen Ebene zugewiesen. Dabei hängt der Spielraum für eine aktive Umverteilungspolitik ganz wesentlich vom Grad der Mobilität der Bewohner der jeweiligen Gebietskörperschaft ab. Auf lokaler Ebene, wo kaum Hinderungsgründe für einen Wohnortwechsel in benachbarte Gemeinwesen bestehen, wird eine aktive Umverteilungspolitik somit kaum Erfolg haben. Betreiben lokale Gemeinwesen eine unterschiedlich aggressive Redistributionspolitik, so werden allein aus diesem Grund Wanderungsbewegungen einsetzen. Reiche Bürger werden eine Gebietskörperschaft mit aggressiver Redistributionspolitik verlassen, arme Bürger werden hingegen zuziehen. Auf diese Weise wird die Mobilität den Umverteilungsprozeß zum Erliegen bringen. Im Ergebnis werden die Unterschiede zwischen armen und reichen Regionen sogar noch verstärkt. Auf nationaler Ebene trifft dies nicht zu, da hier die Bürger mit höherem Einkommen den Umverteilungsmaßnahmen der zentralen Regierung nicht mehr ausweichen können, so daß eine erfolgreiche Redistributionspolitik möglich wird.

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5.1.3 Stabilisierungsfunktion Die Stabilisierungsfunktion wird in der Literatur üblicherweise der zentralen Ebene zugewiesen. Zum ersten, weil der Handlungsspielraum lokaler Einheiten, die eine antizyklische Fiskalpolitik betreiben wollen, starken Beschränkungen unterliegt (Noll 1983). Dies trifft besonders auf die Einnahmenseite zu, da aufgrund der Verteilungsproblematik die Steuersätze weitgehend von der übergeordneten Ebene festgelegt werden. Bemühen sich lokale Gemeinwesen dennoch um eine aktive Stabilisierungspolitik, so werden zum zweiten Sickerverluste auftreten, weil die lokalen Märkte eng miteinander verbunden sind. Lokale Ausgabenprogramme werden so zu steigenden Importen aus angrenzenden Gebietskörperschaften führen und dadurch die positiven Auswirkungen solcher Programme für das eigene Gemeinwesen (Multiplikatoreffekte) vermindern. Eine erfolgreiche Stimulierung von Einkommen und Beschäftigung wird sich nur in dem Maß ergeben, in dem es der lokalen Regierung gelingt, die Neigung der Bevölkerung der Kommune für Importe aus benachbarten Gebietskörperschaften zu senken. Zum dritten stellt die Defizit-Finanzierung lokaler Vorhaben ein Problemfeld dar. Ein großer Teil der lokalen Schuldenaufnahme wird aus der Kommune abfließen und so zu einer externen Verschuldung in benachbarten Gebietskörperschaften führen. In späteren Perioden sind dann Transfers an Bewohner außerhalb der Kommune für Zinszahlungen und zur Tilgung der Kreditaufnahme die Folge. Mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert, werden viele Gemeinwesen versuchen, als „Trittbrettfahrer" an den Stabilisierungsbemühungen anderer Gemeinwesen teilzunehmen. Schon aus diesem Grund sollte die zentrale Ebene die Hauptverantwortung für die Stabilisierungsfunktion übernehmen, oder aber die lokalen Gemeinwesen müssen durch eine Reform der institutionellen Rahmenbedingungen (Gemeindesteuern, Verschuldungsgrenzen, zwischenstaatliche Transfers) in die Lage versetzt werden, von sich aus, Stabilisierungspolitik zu betreiben. In letzterem Falle bedarf es aufgrund der Anreizproblematik (Trittbrettfahrer) einer Koordination der Politiken der einzelnen Gebietskörperschaften (Lang 1992).

5.2 Besteuerung im föderativen Staat Ein „gutes" Steuersystem zeichnet sich durch Eigenschaften aus, die die Erfüllung aller drei staatlichen Funktionen (Allokation, Umverteilung und Stabilisierung) ermöglichen. In einem föderativen Staat sollten die unterschiedlichen Einnahmequellen grundsätzlich so auf die verschiedenen Regierungsebenen verteilt werden, daß die Vorteile jeder Einnahmeart in Bezug auf allokative Effizienz, auf Aspekte der Gerechtigkeit und auf die Effizienz der Steuerverwaltung und -erhebung vollständig ausgenutzt werden. Die Steuerlast soll dabei soweit möglich von den Steuerzahlern entsprechend dem Nutzen getragen werden, den sie aus der Verausgabung der erhobenen öffentlichen Mittel ziehen. Die Gestaltung der Besteuerung sollte sich demnach am Prinzip der räumlichen Äquivalenz orientieren. Zentral angebotene Leistungen werden mittels zentral erhobener Einnahmen finanziert. Leistungen der unteren Ebenen hingegen mit Mitteln, die durch Besteuerung im jeweiligen Verantwortungsbereich erhoben wurden. Allerdings können die Anforderungen an ein gutes Steuersystem Zielkonflikte zwischen den drei öffentlichen Funktionen ergeben, die bei der tatsächlichen Ausgestaltung des Steuersystems berücksichtigt werden müssen. Ausgehend von der Zuweisung

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der Verteilungs- und Stabilisierungsfunktion an die nationale Regierung lassen sich folgende Leitlinien zur Besteuerung in einem föderativen Staat nennen (Musgrave/Musgrave/Kullmer; 1992, S. 35ff.): • Steuern, die auf relativ mobile Produktionsfaktoren erhoben werden (Kapital und Arbeit) oder die mit stark progressiven, umverteilenden Steuertarifen ausgestaltet sind (bspw. die Einkommensteuer), sollten der nationalen Ebene zugewiesen werden. Andernfalls kann es zur Abwanderung der Steuergrundlage mit unerwünschten Auswirkungen für die wirtschaftliche Entwicklung der lokalen oder regionalen Gebietskörperschaften kommen. • Steuerobjekte, die sehr ungleich zwischen den subnationalen Gemeinwesen verteilt sind (bspw. natürliche Ressourcen), sollten auf zentraler Ebene besteuert werden. So werden übermäßige Ungleichheiten der Steuerbasen einzelner Jurisdiktionen vermieden. • Steuern, die auf immobile Faktoren erhoben werden (bspw. Grundsteuer), deren Steuerlast nicht auf andere Gebietskörperschaften überwälzt werden kann (im Unterschied bspw. zur Besteuerung von speziellen Gütern und Dienstleistungen) sollten den lokalen Gemeinwesen zugewiesen werden. • Gebühren sind von besonderem Wert für lokale Gebietskörperschaften, können aber prinzipiell auf allen Ebenen erhoben werden. Dem Nutzer wird hierbei ein direktes Entgelt für die Inanspruchnahme einer öffentlichen Leistung abverlangt. Dieses Entgelt (z.B. Abfallgebühren) soll den Kosten der individuellen Nutznießung entsprechen. Damit entstehen keine Anreize, diesen Zahlungen durch Abwanderung in andere Gemeinwesen zu entgehen. Als spezielle Problemfelder dezentraler Einnahmenerzielung sind Aspekte der Steuerkonkurrenz, der Steuerüberwälzung und der Steuerverwaltung zu nennen. Versuchen lokale Gebietskörperschaften durch besonders günstige Steuerbedingungen, Unternehmen sowie deren Arbeitskräfte und Kapital aus benachbarten Gebietskörperschaften in die eigene Region zu locken, so spricht man von Steuerkonkurrenz zwischen den Gebietskörperschaften. Dies führt in zwei Fällen zu Problemen. Zum einen, wenn sich angrenzende Gemeinwesen durch eine fortgesetzte Senkung der Steuerbelastung ihrer Bewohner gegenseitig die Existenzgrundlage entziehen. Zum anderen, wenn sich Gebietskörperschaften nicht gegen den Abfluß von Arbeitskräften und Kapital wehren können, weil eine Senkung der Steuerbelastung ihrer Bewohner zum Wegfall wichtiger öffentlicher Leistungen führen würde. Steuerüberwälzung definiert in Bezug auf ein dezentralisiertes Steuersystem die Möglichkeit subnationaler Gebietskörperschaften, Steuerlasten von der eigenen auf andere Gebietskörperschaften zu verlagern. Dies kann beispielsweise geschehen, indem speziell solche Güter und Dienstleistungen mit hohen Steuern belegt werden, die bevorzugt von Bürgern fremder Gebietskörperschaften nachgefragt werden (z.B. Übernachtungen in Hotels). Als Folge der Überwälzung von Steuerlasten kommt es zu einer Verletzung des fiskalischen Äquivalenzprinzips. Im Bereich der Steuerverwaltung ergeben sich Ansatzpunkte, die eine zentrale Verwaltung gegenüber einer dezentralen günstiger erscheinen lassen. So können bei zentraler Erhebung horizontale Steuerüberschneidungen für Steuerzahler, die in verschiedenen Gebietskörperschaften geschäftlich tätig sind, vermieden werden. Zudem lassen sich bei der Steuererhebung Skalenerträge erwirtschaften, so daß eine zentrale Steuererhebung zu Kostenersparnissen gegenüber dezentraler Verwaltung führen kann.

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5.3 Finanzausgleich im engen Sinne Nach der Verteilung der originären Einnahmen verbleibt im föderativen Staat in der Regel ein Ausgleichsbedarf zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften, so daß ergänzend ein Finanzausgleich (im engen Sinne) als sekundäre Einnahmenverteilung durchgeführt wird. Dieser umfaßt die Umverteilung der bereits einzelnen öffentlichen Aufgabenträgern zugeteilten Mittel an andere Aufgabenträger in Form zwischenstaatlicher Transfers. Diese Übertragungen können sowohl horizontal (auf Länder- bzw. Gemeindeebene) als auch vertikal (zwischen zwei Ebenen) erfolgen. Die zwischenstaatlichen Transfers nehmen unterschiedliche Formen an und dienen je nach Ausgestaltung unterschiedlichen Funktionen innerhalb des föderativen Staates. Zunächst ist zu unterscheiden zwischen allgemeinen und zweckgebundenen Zuweisungen. Allgemeine Zuweisungen sind nur mit minimalen Restriktionen für den Gebrauch der Mittel behaftet, wohingegen zweckgebundene Zuweisungen an Bedingungen bezüglich der Mittelverwendung geknüpft sind. Desweiteren sind zwischenstaatliche Transfers in Zuweisungen mit und Zuweisungen ohne Eigenleistungen einzuteilen. Zuweisungen mit Eigenleistungen verlangen von der empfangenden Gebietskörperschaft, jede Einheit empfangener Zuweisung mit einem bestimmten Betrag eigener Mittel aufzustocken. Bei Zuweisungen ohne Eigenleistung müssen demgegenüber keine eigenen Geldmittel eingesetzt werden. Aus ökonomischer Sichtweise sind den zwischenstaatlichen Transfers drei Hauptfunktionen zuzuweisen, die jeweils eine bestimmte Form der Ausgestaltung der Zuweisung sinnvoll erscheinen lassen (Oates 1991, S. 54ff.) : • Die Subventionierung solcher Programme, bei denen positive externe Effekte für Bürger außerhalb der bereitstellenden Jurisdiktion auftreten. In diesem Fall sollte von der zentralen Ebene eine Zuweisung, die an eine bestimmte Eigenleistung der produzierenden Gebietskörperschaft geknüpft wird, zur Verfügung gestellt werden. So wird ein Ausgleich für die Produktion der positiven externen Effekte geschaffen und eine Erhöhung des Outputs des öffentlichen Guts auf eine effizientes Niveau gefördert. Die Theorie der zentralen Orte (Leibfritz/Thanner 1986) berücksichtigt solche grenzüberschreitenden Leistungen auf lokaler Ebene. Hier wird unterstellt, daß größere Städte bei der Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter eine Zentralitätsfunktion erfüllen: Ein zentraler Ort soll das Angebot an einem bestimmten Gut allein übernehmen, da beispielsweise Skalenerträge in der Produktion des Gutes vorliegen, was ein Angebot von einem Anbieter ökonomisch sinnvoll erscheinen läßt. Die Nutzendiffusion des Gutes in die angrenzenden Gebietskörperschaften stellt beabsichtigte spill-over-Effekte dar. • Die Angleichung der fiskalischen Kapazität aller regionalen und lokalen Gemeinwesen, um allen Gebietskörperschaften die Möglichkeit zu verschaffen, eine Mindestversorgung mit öffentlichen Gütern bei etwa gleicher Steueranstrengung gewährleisten zu können. Hier sollten die Transfers als allgemeine Zuweisungen ohne Zweckbindung erfolgen, um den jeweiligen Gemeinwesen freien Handlungsspielraum zu lassen, die Mittel gemäß den eigenen Präferenzen zu verausgaben. • Der Einsatz zwischenstaatlicher Transferprogramme durch die zentrale Regierungsebene, um die öffentliche Stabilisierungsfunktion zu erfüllen. Durch den

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Abbau vertikaler zwischenstaatlicher Transfers in wirtschaftlichen Boomzeiten, bzw. deren Aufbau während wirtschaftlicher Rezessionen, kann die zentrale Ebene den Handlungsspielraum der unteren Organisationsstufen entscheidend beeinflussen. So kann das Verhalten der regionalen und lokalen Aufgabenträger in eine Richtung gesteuert werden, die mit den Stabilisierungszielen der nationalen Entscheidungsträger harmoniert. Die finanzielle Ausgestaltung der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland ist in der Finanzverfassung, Abschnitt X. des Grundgesetzes („Das Finanzwesen") verankert. Gemäß Art. 109 G G sind Bund und Länder (einschließlich Gemeinden) „in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig" (Abs. 1), sie haben jedoch „bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen" (Abs. 2). Das Grundgesetz gibt vor, welche Aufgaben der Bund und die Länder (einschließlich Gemeinden) zu erfüllen haben (Art. 30, 70-75, 83-87, 91a, b GG) und welche Steuerquellen ihnen hierbei zur Verfügung stehen (primäre Steuerverteilung, Art, 106,107 Absatz 1 GG). Darüberhinaus beinhaltet es die Grundzüge des bundesstaatlichen Finanzausgleichs (sekundäre Steuerverteilung, Art. 107 GG, näher geregelt im FAG). Dieser ist darauf ausgerichtet, durch Angleichung der Finanzkraft (Steueraufkommen pro Einwohner) in den einzelnen Bundesländern die finanzielle Voraussetzung für einheitliche Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet zu schaffen (vgl. hierzu die Neufassung des Art. 72 G G Bedürfnisklausel sowie die Neuregelung der §§ 1,10,11 FAG im Zuge des Solidarpakts zur Bewältigung der Wiedervereinigung). Der bundesstaatliche Finanzausgleich zielt auf die Angleichung der Einnahmen ab und läßt länderspezifische Ausgabenbedarfe (beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Wirtschaftsstrukturen oder natürlicher Gegebenheiten) dabei weitgehend außen vor. Allerdings werden hier bereits Einwohnerzahlen von Gemeinden berücksichtigt. Stärkeren Bezug zur Ausgabenseite und zu raumwirtschaftlichen Erfordernissen weist der kommunale Finanzausgleich auf, der jeweils auf Länderebene geregelt wird (vgl. hierzu vor allem die GO, kommHV, KAG und FAG der Länder). Die Theorie zentraler Orte findet hier ihren institutionellen Niederschlag. Mangels exakter Erfassung der räumlichen Wirkungen und der zusätzlichen Kosten der beabsichtigten spill-overs wird in den kommunalen Finanzausgleichsystemen der Bundesrepublik jedoch mit sehr groben Indikatoren gearbeitet. Der Funktion „zentraler Orte" als Anbieter von Gütern mit grenzüberschreitender Wirkung wird hauptsächlich über die Gemeindegröße Rechnung getragen („Einwohnerveredelung"). Die Zuweisungen zur Finanzierung laufender Ausgaben sind i.d.R. allgemeiner Art, d.h. nicht zweckgebunden (Schlüsselzuweisungen), und werden überproportional mit der Gemeindegröße korreliert. Demgegenüber sind investive Zuweisungen i.d.R. projektbezogen. Der Eindruck, daß die räumliche Dimension fast ausschließlich im Hinblick auf die Allokationsfunktion und primär auf der untersten, d.h. kommunalen Ebene, eine Rolle spielt, täuscht. Mit zunehmender europäischer Integration werden gerade auch auf Ebene der Europäischen Union („vierte Ebene") Fragen der Koordination oder Konkurrenz von Politiken virulent. Die Diskussion über eine „Sozialunion" in Europa und über die Notwendigkeit der Koordination der Makropolitiken zeigt, daß sich hier auch erneut Verteilungs- und Stabilisierungsfragen stellen.

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Zusammenfassend ist festzustellen, daß sich seit A n f a n g der 70er Jahre der U m fang der Finanzwissenschaft erheblich ausgedehnt hat und zunehmend die A n wendung verfeinerter mathematischer Methoden zu beobachten ist. D i e s e Entwicklung macht es dem Finanzwissenschaftler - vor allem im Hinblick auf die Politikberatung - immer schwerer, alle Aspekte einer finanzwissenschaftlichen B e trachtung gleichzeitig im Auge zu behalten. D i e Spezialisierung hält Einzug. Gleichzeitig führt diese Theorieentwicklung weg von der Einbeziehung institutioneller und räumlicher Bezüge in die finanzwissenschaftliche Analyse. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt tendenziell weg von denjenigen Aspekten, die bspw. für die Föderalismustheorie von entscheidender Bedeutung sind. D i e Konzentration der neueren Finanzwissenschaft auf die Allokationsfunktion und damit der Verzicht auf die Musgrave'sche Dreiteilung der finanzwissenschaftlichen Aufgabengebiete sowie die Vernachlässigung von Institutionen und Raum stellen deshalb vielleicht weniger eine Frage des wissenschaftlichen Fortschritts dar als der Arbeitsteilung.

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118

I. Grundlagen

3. Rechtsquellen Bundeshaushaltsordnung ( B H O ) vom 19.8.1969 - B G B l I S. 1284, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 22.9.1994 - B G B l I S. 2605. Finanzausgleichsgesetze der Länder (FAG der Länder), z.B. Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Staat, Gemeinden und Gemeindeverbänden - Finanzausgleichsgesetz im Freistaat Bayern, vom 19.2.1992 - G V B 1 S . 27; B a y R S 605-1-F, zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.12.1992 - GVB1 S. 783; B a y R S 605-3-F. Gemeindeordnungen ( G O ) der Bundesländer, z.B. Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern, vom 11.9.1989 - G V B i S. 585, zuletzt geändert durch Gesetz vom 7.8.1992, GVB1 S. 306. Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz) (FAG), vom 23.6.1993 - B G B l I S. 944/977, zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.4.1995 - B G B l S. 583. Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG), vom 8.6.1967 - B G B l I S. 582. Grundgesetz ( G G ) für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 - B G B l I S. 1, zuletzt geändert am 27.10.1994 - B G B l I S. 3146. Haushaltsgrundsätzegesetz ( H G r G ) vom 19.8.1969 - B G B l I S. 1273, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 26.11.1993 - B G B l I S. 1928. Kommunalabgabegesetze ( K A G ) , z.B.: Kommunalabgabegesetz des Freistaates Bayern vom 4.2.1977 - B a y R S 2024-1-1, zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.7.1989 - G V B I S. 361. Kommunale Haushaltsverordnungen (KommHV) der Bundesländer, z.B.: Kommunalhaushaltsverordnung des Freistaates Bayern vom 3.12.1976 - G V B I S. 499. Länderhaushaltsordnungen (LHO), z.B. Haushaltsordnung für den Freistaat Bayern (BayHO), vom 8.12.1971 - G V B I S. 433; BayRS 630-1-F, zuletzt geändert durch Gesetz vom 29.7.1991 - G V B I S. 231; BayRS 630-7-F. Möller, Alex (Hrsg.): Kommentar zum „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft", 2. Aufl., Hannover 1969. Piduch, Erwin: Kommentar zur Bundeshaushaltsordnung, Stuttgart, 1995. Schreml, Arthur: Kommunales Haushalts- und Wirtschaftsrecht in Bayern - Textausgabe mit Erläuterungen, München, 1995.

6. Soziologie der Planung 1.0 Vorbemerkungen Im Folgenden greife ich aus den weitverzweigten Arbeitsfeldern der Planungssoziologie einige mir zentral erscheinende Elemente heraus. Es sind dies die Aspekte Sozialer Wandel, Raum und Zeit, Partizipation, Familie und nicht zuletzt planungstheoretische Überlegungen. Auch diese Teilbereiche, die sich in der Planungssoziologie interdisziplinär zusammengeführt finden, sind hier nur ausschnitthaft darzustellen, da sie in sich bereits wieder eine breite Themen- und Problemlandschaft entfaltet haben. Ich wähle diese Aspekte aus, da sie in historischer, theoretischer, politischer und alltagskultureller Hinsicht beispielhafte Einblicke in Gegenstand, Arbeitsweise und Entwicklung der Planungssoziologie vermitteln (vgl. K. M. Schmals, 31994).

2.0 Begriffsbestimmungen, Arbeitsebenen und Konzepte der Planungssoziologie Soziologie ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelte sie sich u.a. aus der Religionswissenschaft, der Philosophie und der Geschichtswissenschaft. Gegenstand der Soziologie ist es, den sozialen Wandel der Gesellschaft zu analysieren, zu interpretieren, zu erklären und zu prognostizieren. Soziologie entstand als Wissenschaft von gesellschaftlichen Krisen. Im Umbruch von der agrarisch-feudalistischen zur industriell-kapitalistischen Gesellschaft wurde es zu ihrer Aufgabe, Lösungen für die dabei auftretenden Probleme, Konflikte und Widersprüche zu entwickeln. Die zentralen Probleme und Konflikte reichten dabei von Wohnungsnot, Hungersnot, Massenarbeitslosigkeit, Seuchen, Prostitution und hohen Sterblichkeitsziffern bei Kindern bis hin zu Beschaffungskriminalität, sozialen Unruhen und Arbeitskämpfen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigte sich die Soziologie noch als eine relativ geschlossene Disziplin. Im Zuge einer sich immer rascher verändernden - arbeitsteiliger werdenden - Gesellschaft, zerfiel auch die Soziologie - entsprechend einer differenzierter werdenden Gesellschaft und dabei resultierender Probleme in eine Vielzahl von Binde-Bindestrichsoziologien (vgl. dazu Abb. 1). Sie reichen heute von der Verkehrs-, Stadt-, Regional-, Land- oder Planungssoziologie über die Betriebs-, Architektur-, Wohn- oder Freizeitsoziologie bis hin zur Soziologie sozialer Ungleichheit oder Familiensoziologie (mit Binde-Bindestrichsoziologien wie der Soziologie der Geschlechter, der Frau, des Kindes oder der Gefühle). Quer zu diesen Bindestrichsoziologien verfügt die Soziologie über eine große Zahl an theoretischen und methodischen Schulen. Sie reichen einerseits von einer eher qualitativen bis hin zu einer eher quantitativen Methodenauffassung und andererseits von der Verhaltens-, Handlungs- und Systemtheorie über Konflikttheorien und hermeneutische Konzepte bis hin zur Theorie kommunikativen Handelns. Nicht nur die Gesellschaft und ihre Planung, sondern auch die Sozio-

120

I. Grundlagen

Abb. 1 Arbeitsfelder der Planungssoziologie

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logie ist unübersichtlich geworden. In dieser Situation Ordnungs- und Orientierungswissen zu entwickeln, ist eine Aufgabe der (Planungs-)Soziologie. Im R a h m e n der Planungssoziologie wird der sozialräumliche, soziokulturelle, politisch-ökonomische oder ökologische Strukturwandel der Gesellschaft untersucht. Weiterhin werden Veränderungen der Siedlungsweise ihrer Bürger beobachtet. G e m e i n t sind damit Prozesse der Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert, der städtischen Agglomerierung und Suburbanisierung in den 60er und 70er Jahren dieses Jahrhunderts, Prozesse der Re-Urbanisierung in den 80er Jahren oder neuerdings Prozesse der internationalen Metropolenbildung. Nicht zuletzt werden im R a h m e n planungssoziologischer Überlegungen die alltäglichen Lebensgewohnheiten sozialer Gruppen im R a u m analysiert. Gemeint sind damit sowohl Altersgruppen, Geschlechtsgruppen, Bildungsgruppen, Einkommensgrup-

121

6. Schmals: Soziologie der Planung

p e n als auch ethnische G r u p p e n . D i e Rolle des S u b j e k t s bzw. einzelner H a u s h a l te spielen h e u t e in der R a u m p l a n u n g hingegen eine noch e h e r u n t e r g e o r d n e t e Rolle. D a s Wechselwirkungsverhältnis von sozialer Ungleichheit, ungleichzeitiger E n t wicklung u n d G e w a l t stellt ein wichtiges t h e o r e t i s c h e s A n a l y s e k o n z e p t d e r (Planungs-)Soziologie dar. Ungleichzeitige E n t w i c k l u n g e n vollziehen sich auf d e r int e r n a t i o n a l e n , n a t i o n a l e n , regionalen, städtischen u n d bezirklichen E b e n e . Auf d e r m i k r o - u n d m a k r o r ä u m l i c h e n E b e n e d e r Gesellschaft h a b e n sich w a c h s e n d e , s t a g n i e r e n d e u n d s c h r u m p f e n d e L e b e n s r ä u m e herausgebildet. A u f g r u n d ungleichzeitiger E n t w i c k l u n g e n d e r Gesellschaft im R a u m e n t s t e h t auch soziale U n gleichheit. Sie erweist sich als ö k o n o m i s c h , politisch u n d / o d e r kulturell vermittelt. G e w a l t bildet eine z e n t r a l e O r d n u n g s k a t e g o r i e in u n s e r e r G e s e l l s c h a f t u n d damit auch f ü r das Wechselwirkungsverhältnis dieser drei z e n t r a l e n gesellschaftlichen B e s t i m m u n g s f a k t o r e n . Sind in gesellschaftlichen I n t e r e s s e n s k o n f l i k t e n wie H a u s b e s e t z u n g e n , A r b e i t s k ä m p f e n o d e r U m w e l t v e r s c h m u t z u n g e n - die alltäglichen S t e u e r u n g s m ö g l i c h k e i t e n a u s g e s c h ö p f t , verbleibt d e r Staat mit s e i n e m G e w a l t m o n o p o l als letzte E n t s c h e i d u n g s i n s t a n z . Werte, Ziele und Interessen der Planungssoziologie spiegeln - e n t s p r e c h e n d gesellschaftlicher M a c h t s t r u k t u r e n - s o w o h l konservative, traditionalistische u n d lib e r a l e Positionen als auch e m a n z i p a t o r i s c h e u n d v e r ä n d e r n d e E n t w i c k l u n g s m o delle. Seit g e r a u m e r Z e i t w e r d e n a b e r auch diese ü b e r g r e i f e n d e n Weltbilder u n d allgemeinverbindliches O r i e n t i e r u n g s w i s s e n brüchig. U n s e r e G e s e l l s c h a f t zerfällt in eine Vielzahl n o r m a t i v g e p r ä g t e r Milieus. D i e Soziologie hat n u n vor diesem H i n t e r g r u n d traditionellerweise die A u f g a b e , sich mit e n t s p r e c h e n d e n Sinnund Weltbildfragen auseinanderzusetzen. Vor diesem H i n t e r g r u n d ist festzuhalten, d a ß sich Soziologie mit d e r A n a l y s e u n d I n t e r p r e t a t i o n gesellschaftlicher M a k r o - u n d M i k r o s t r u k t u r e n sowie d e r e n Vern e t z u n g u n d i h r e m W a n d e l im historischen E n t w i c k l u n g s p r o z e ß d e r Gesellschaft a u s e i n a n d e r s e t z t (vgl. A b b . 2). Parallel hierzu w e r d e n auch die A r b e i t s e b e n e n Abb. 2 Arbeitsebenen von Soziologie und Planungssoziologie ARBEITSEBENEN DER SOZIOLOGIE

ARBEITSEBENEN DER PLANUNGSSOZIOLOGIE iv^/

1) Gesellschaftliche Makrostrukturen wie z.B.: Macht - und Herrschaftsverhättnlsse

/-

2) Vermittlung von Strukturen und Handlungswelsen: Interaktion, Inszenierung, Vernetzen und Mediation

3) Gesellschaftliche Mikroebene: Handeln, Gestalten und Verhalten

1) Planungsstrukturen und Planungssituationen wie Gewalt, Herrschaft, Macht, Institutionen (Verwaltung), Recht 2) Vernetzungs- und Vermittlungsaufgaben der Planung; mediale Aufgabe der Planung

3) planendes Handeln gesellschaftlicher Akteure

.Gesellschaft

122

I. Grundlagen

der Planungssoziologie in makro- und mikrogesellschaftlicher Hinsicht, in vernetzender Perspektive und eingebettet in den sozialen Wandel der Gesellschaft deutlich.

3.0 Planungssoziologische Aspekte sozialen Wandels Sozialer Wandel meint in makro- und mikrohistorischer Perspektive den Veränderungsprozeß von Gesellschaften. Gewandelt werden in entsprechenden Entwicklungszeiträumen ihre Strukturen, Funktionen, Lebensbedingungen, Handlungsweisen und ihre Wertsysteme. Dieser Veränderungsprozeß vollzieht sich insbesondere auch in raum-zeitlichen Wechselwirkungsverhältnissen. Unterworfen sind in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch die stabilisierenden (integrierenden) und Wandel verursachenden (destabilisierenden) Antriebskräfte und Blockaden einer Gesellschaftsformation wie z.B. der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Sozialer Wandel läßt sich auch als Prozeß der Modernisierung und Rationalisierung gesellschaftlicher Alltagskultur, Herrschaftsformen, Wirtschaftsverhältnisse und Weltbilder charakterisieren. Sozialer Wandel durchlief dabei u.a. die Entwicklungsstufen der feudalistischen Agrargesellschaft, der kapitalistischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft und mündet gegenwärtig in solche der Informations-, Risiko- oder Erlebnisgesellschaften (vgl. dazu D. Bell (1989), U. Beck (1986) und G. Schulze (1992)). Auf diesen historischen Entwicklungsebenen bilden Ökonomie, Politik, Kultur, Weltbilder, Soziales oder die Natur jeweils typische Strukturmuster. In diesem Wandlungsprozeß gesellschaftlicher Strukturen trat auch ( R a u m p l a nung - zur Steuerung gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Interessen - immer deutlicher ins Blickfeld der Öffentlichkeit. „Planung" - die Institutionalisierung planenden Handelns - enthält die Dimensionen „planen und Plan". Dokumentiert der „Plan" Ergebnisse planenden Handelns, meint „planen" das Wechselwirkungsverhältnis, die Tätigkeit oder den Prozeß des Projektierens, des Entwerfens und abwägenden Vorausdenkens. War Planung zu Beginn des abendländischen Modernisierungsprozesses eher im Handlungsalltag verborgen, also handlungsimplizit, so wurde sie im Fortgang des okzidentalen Rationalisierungsprozesses immer offenkundiger, handlungsexpliziter. D.h., je arbeitsteiliger die Gesellschaft, je kleiner die Familienverbände, je individualistischer die Bedürfnisse und Weltbilder, je mobiler die Gesellschaft und je demokratischer ihre politischen Strukturen wurden, desto notwendiger wurde Planung. Dies nicht nur, um die differenzierter gewordene Gesellschaft zusammen zu halten, sondern auch, um die einzelnen Subsysteme der Gesellschaft funktional aufeinander zu beziehen. Im Wandlungsprozeß der Gesellschaft veränderte, entwickelte sich Planung von Alltagsroutine zum universellen - zweck-mittel-rationalen - Handlungs-, Steuerungs- und Herrschaftsprinzip, ohne deren Existenz die heutige Gesellschaft nicht mehr organisierbar scheint. Vor den Schlagworten „Süd-Nord-Gefälle" oder „West-Ost-Gefälle" wird seit einigen Jahren unter Versorgungsgesichtspunkten sozialer Wandel im Raum der Bundesrepublik Deutschland eingebettet in die These von den „Langen Wellen der Entwicklung" diskutiert (vgl. D. Läpple, 1986). Dabei geht häufig die Erkenntnis unter, daß es sich hierbei um ein bereits seit langem bekanntes gesell-

123

6. Schmals: Soziologie der Planung Abb. 3

Lange Wellen der konjunkturellen Entwicklung (vgl. E. Mandel, 1972)

1. lange Welle „Industrielle Revolution"

2. lange Welle

Einsatz von hand- Einsatz von werklichen Dampf- industriellen maschinen Dampfmaschinen 1793

1825/26 1847/48

1873/74

3. lange Welle

4. lange Welle

Einsatz von Benzin- und Elektromotoren

Einsatz von Elektronik

1893/94 1913/14

1940/45

5. lange Welle 1 l Einsatz von i Mikroelektroi nik, Biotech1 nologie

1966,67

1982

schaftliches Entwicklungsmuster im Raum handelt. Nach N. D. Kondratieff (1926) verläuft die industrielle Entwicklung seit der Französischen Revolution in langen Wellen, die zwischen 40 und 50 Jahre dauern können (vgl. Abb. 3). Die sog. „Langen Wellen" der Entwicklung stellen dabei jedoch kein Gesetz im Sinn der Naturwissenschaften dar. Sie entfalten sich in einem historischen Wirkungszusammenhang gesellschaftlicher Bestimmungsfaktoren. Sie sind also in einem gewissen Umfang „planbar". Nach I. A. Schumpeter (1961) kann man „Lange Wellen" im Rahmen der Entwicklung und Ausbreitung von Basisinnovationen erklären. Die vier bisher abgelaufenen „Kondratieff-Zyklen" basierten auf Basisinnovationen wie dem mechanischen Webstuhl (Textilindustrie im Bergischen Land), der Dampfmaschine (Kohleförderung und Stahlindustrie im Ruhrgebiet), dem Verbrennungsmotor, der Elektrizität, der Atomenergie und der Chemie (etwa am Niederrhein) oder der Mikroelektronik (z.B. im Münchner Raum). Bisher fand jeder abgelaufene Innovations- oder Produktionszyklus seine eigene Region. Auf der Basis der „Langen Wellen der Konjunktur" entfalteten sich schrittweise auch neue Gesellschaftsstrukturen. Diese Entwicklung wird bezogen auf das 20. Jahrhundert mit den Begriffen Fordismus und Postfordismus umschrieben. Der Begriff Fordismus entwickelte sich dabei um den Produktionstypus des US-amerikanischen Autohersteliers H. Ford. Fordismus meint - eingebettet in die Fließbandproduktion und flankiert durch eine keynesianische Wohlfahrtspolitik - einerseits Massenproduktion und andererseits Massenkonsum. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Aspekte entwickelte sich wiederum der Massenwohnungsbau, Massenverkehr und die Massenmedien. Mit der „Charta von Athen" (entwickelt u.a. durch den Architekten Le Corbusier) entstand für dieses gesellschaftliche Gestaltungsmuster auch ein eigenes städtebauliches Leitbild. Diese Epoche brachte den Industrienationen für viele Jahrzehnte relativen Wohlstand. Die fordistische Gesellschaft geriet aber in den 70er Jahren durch innere Starrheiten bzw. Inflexibilitäten auch in Deutschland in die Krise. Die sich anschließende Entwicklungsphase wird „Postfordismus" genannt. Sie wird charakterisiert durch flexible Produktions-, Organisations- und Reproduktionskonzep-

124

I. Grundlagen

te, die I n t e r n a t i o n a l i s i e r u n g v o n Politik u n d Ö k o n o m i e sowie die Erschließung n e u e r A n l a g e s p h ä r e n u n d Wachstumsfelder. V e r b u n d e n sind d a m i t R e s t r u k t u r i e r u n g s m a ß n a h m e n d e r betrieblichen Q u a l i f i k a t i o n , der Arbeitszeitregelung, d e r betrieblichen S t a n d o r t p o l i t i k , der A r b e i t s v e r t r ä g e , R a u m b e z ü g e , Planungsf o r m e n und Lebensstile. Sozialer W a n d e l b e s c h r e i b t die makrohistorische Seite d e s gesellschaftlichen T r a n s f o r m a t i o n s p r o z e s s e s . Sozialstrukturanalysen - die K e h r s e i t e der Medaille g e b e n A u s k u n f t ü b e r d e n qualitativen u n d q a n t i t a t i v e n E n t w i c k l u n g s s t a n d der Gesellschaft. Sozialer W a n d e l stellt also die e h e r dynamische, Sozialstrukturanalysen die e h e r statische Seite d e r Gesellschaftsanalyse im historischen P r o z e ß dar. D i e historische R e i h u n g bzw. V e r k n ü p f u n g v o n S o z i a l s t r u k t u r a n a l y s e n gesellschaftlicher E p o c h e n läßt das entstehen, was mit d e m K o n z e p t d e s Sozialen Wandels g e m e i n t ist. S o z i a l s t r u k t u r a n a l y s e n stellen eine wichtige A r b e i t s b a s i s f ü r die ( R a u m ) P l a n u n g dar. Teilbereiche d e r Sozialstrukturanalyse sind die A n a l y s e d e r Bevölkerungss t r u k t u r , des g e n e r a t i v e n Verhaltens, der B e r u f s s t r u k t u r , d e r E i n k o m m e n s - u n d Bildungsverhältnisse, d e r A l t e r s - und Familienstruktur, des G e s c h l e c h t e r v e r h ä l t nisses, der Religionszugehörigkeit, d e r sozialen u n d r ä u m l i c h e n Mobilität, der M a c h t s t r u k t u r , d e r sozialen Sicherung o d e r d e r E i g e n t u m s v e r h ä l t n i s s e (vgl. B. Schäfers, 5 1990). U n a b d i n g b a r f ü r Sozialstrukturanalysen sind D a t e n . Mit d e m K o n z e p t der g r o ß - u n d k l e i n r ä u m i g e n , der o b j e k t i v e n u n d s u b j e k t i v e n R a u m b e o b a c h t u n g stellt die „ B u n d e s a n s t a l t f ü r L a n d e s k u n d e u n d R a u m o r d n u n g " eine d y n a m i s i e r t e D a t e n b a n k f ü r unterschiedliche P l a n u n g s a s p e k t e zur V e r f ü g u n g (vgl. B u n d e s f o r s c h u n g s a n s t a l t . . . , 1992). Sozialer Wandel ist in vielerlei Hinsicht steuerbar. D i e s sicher nicht im R a h m e n eines ganzheitlichen Modells. Sozialer Wandel resultiert e h e r aus d e m W i r k g e f ü ge sozialer, ökologischer, politischer u n d ö k o n o m i s c h e r Bedürfnisse, Interessen u n d E n t s c h e i d u n g e n . Je v e r a n t w o r t u n g s b e w u ß t e r sie f ü r sich gestaltet und aufe i n a n d e r b e z o g e n sind, d e s t o h u m a n e r k ö n n t e sich auch u n s e r e sozialräumliche Z u k u n f t erweisen.

4.0 Raum und Zeit in planungssoziologischer Perspektive „ N o c h f ü r Isaac N e w t o n w a r e n Zeit u n d R a u m zweifelsfrei z u m v o r n h e r e i n geg e b e n e , sowohl v o n e i n a n d e r wie von d e r U m w e l t gänzlich u n a b h ä n g i g e Koordin a t e n mit E w i g k e i t s c h a r a k t e r , in die alles G e s c h e h e n e i n g e b e t t e t ist wie in ein unv e r ä n d e r l i c h e s u n d u n e n d l i c h e s G e f ä ß " (L. Ciompi, 1988, S. 83). E n t s p r e c h e n d absolute, objektive, u n e n d l i c h e und ewig gültige Zeit- u n d R a u m v o r s t e l l u n g e n lassen sich u.a. bis auf Aristoteles z u r ü c k v e r f o l g e n . In bereits a b g e w a n d e l t e r F o r m f i n d e n sie sich auch bei I. Kant, nach A u f f a s s u n g vieler F a c h l e u t e der „bed e u t e n d s t e vorrelativistische Wissenschaftsphilosoph der N e u z e i t " (L. Ciompi): E r „ b e t r a c h t e t e Z e i t wie R a u m als reine , F o r m e n der A n s c h a u u n g ' , die allerdings nicht f ü r sich allein, s o n d e r n n u r als d e m menschlichen Verstand ,vor aller E r f a h r u n g n o t w e n d i g e V o r s t e l l u n g e n ' existieren w ü r d e n ( , A b e r diese A n s c h a u u n g m u ß a priori, d a ß heißt vor aller W a h r n e h m u n g eines G e g e n s t a n d e s in uns anget r o f f e n w e r d e n , mithin reine, nicht empirische A n s c h a u u n g sein', sagte er v o m R a u m , und v o n d e r Zeit: ,Die Z e i t ist eine n o t w e n d i g e Vorstellung, die allen E r s c h e i n u n g e n z u m G r u n d e liegt', und ,So ist die Z e i t eine B e d i n g u n g a priori von

6. Schmals: Soziologie der Planung

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aller Erscheinung überhaupt')" (L. Ciompi, 1988, S. 83f.). Bereits bei G. W. Leibniz stoßen wir auf einen relativen, subjektiven und endlichen Zeit- und Raumbegriff: „Ich habe mehrfach betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammen, wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinander ist" (G. W. Leibniz, 1966, S. 134, zitiert nach E. Stieb, 1985, S. 69). Die Vorstellung von relativistischen, sich wandelnden und subjektiven „Raumkonzepten" wurde in der abendländischen Philosophie vorbereitet und von der modernen Naturwissenschaft u.a. durch Albert Einstein bestätigt: „Am wichtigsten ist zunächst (...) die Tatsache, daß die vermeintlich unveränderlichen Grundkoordinaten der Zeit und des Raumes sich aus relativistischer Sicht als ,deformierbar', genauer gesagt als dehnbar oder kontrahierbar erweisen, und daß all diese Veränderungen von der Position und dem Bewegungszustand des Beobachters, beziehungsweise des von ihm beobachteten Geschehens abhängen. Des weiteren ist von großer Bedeutung, daß Zeit und Raum nicht mehr als voneinander unabhängige Größen betrachtet werden dürfen, sondern in einem relativistischen ,Raum-Zeit-Kontinuum' in eigenartiger Weise miteinander verquickt sind" (L. Ciompi, 1988, S. 85f.). Unsere Raum- und Zeitvorstellungen, unsere Raum- und Zeitkonzepte, mit denen wir die soziale Wirklichkeit betrachten und interpretieren sind aufs engste miteinander vernetzt. Form und Inhalt entstehen entsprechend des Entwicklungsstandes der Gesellschaft und der kognitiven Leistungsfähigkeit der in ihr lebenden Menschen. Nach N. Elias sind Raum und Zeit „menschliche Syntheseleistungen". Weiter meint er: „Jede Veränderung im ,Raum' ist eine Veränderung in der ,Zeit', jede Veränderung in der ,Zeit' ist eine Veränderung im ,Raum'. Man lasse sich nicht durch die Annahme irreführen, man könne ,im Raum' stillsitzen, während ,die Zeit' vergeht: man selbst ist es, der dabei älter wird. (...) Die Veränderung mag langsam sein, aber man verändert sich kontinuierlich ,in Raum und Zeit' (...)" (N. Elias, 1984, S. 74). Vor dem Hintergrund einer unterstellten Vernetzung von Raum und Zeit im Wandlungsprozeß der Gesellschaft ist weiterhin zu beobachten, daß bestimmte ihrer Entwicklungsphasen eher „raumdominant" (vgl. die Epoche der „geographischen Entdeckungen" oder die Etappe der „kolonialen Landnahme") und andere Entwicklungsphasen eher „zeitdominant" waren bzw. sind (vgl. die Entwicklung der kapitalistischen Industriegesellschaft in der „Zeit Geld ist") (vgl. D. Läpple, 1991, S. 163). Insbesondere Jean Piaget (und Bärbel Inhelder) haben die Entwicklung des „Zeitbegriffs" und die „Präsentation des Raumes" im kindlichen Entwicklungsprozeß herausgearbeitet. Entsprechend ihrer Arbeitsergebnisse entfalten sich dieselben bis zum 16. Lebensjahr - bis sich das Kind in die „Welt der Erwachsenen" einfügt - stufenweise. Diese Stufen sind a) die „senso-motorische Stufe"; b) die „Entwicklung der Wahrnehmungen"; c) die Stufe, auf der „semiotische oder symbolische Funktionen" übernommen werden; d) der Abschnitt, in dem „konkrete" Denkoperationen und „interindividuelle Beziehungen" herstellbar werden (diese Entwicklungsstufe enthält wiederum drei Abschnitte, im Rahmen derer ein Übergang von der „Aktion zur Operation" stattfindet); und e) die Stufe, auf der „formales Denken und die Kombinatorik" entsteht. Nach J. Piaget und B. Inhelder sind diese „Gesamtstrukturen (...) integrativ und lösen einander nicht ab: jede geht aus der vorhergehenden hervor, indem sie sie als untergeordnete Struktur integriert, und bereitet die nächste vor, indem sie sich früher oder später in sie integriert" (dies., 41991, S. 151 f.). Auf jeder dieser Entwicklungsstufen sind

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I. Grundlagen

jeweils Zeit- und Raumvorstellungen vorhanden, die hier aber nicht im einzelnen dargestellt werden sollen (vgl. dies., 41991, S. 25ff.). Von Wichtigkeit ist dabei wieder, daß in personaler und historischer Hinsicht ein „gewisses Primat der Raumvor der Zeiterfassung" feststellbar ist (vgl. L. Ciompi, 1988, S. 217). Raum scheint nach den Arbeitsergebnissen von G. Sturm (1995) nicht nur in seiner historischen Entfaltung, sondern auch in unserer unmittelbaren Wirklichkeit kein eindeutiger Gegenstand zu sein: „Was nun den Raumbegriff angeht, so scheint es, daß ihm der Begriff ,Ort' vorangegangen ist als der psychologisch einfachere. ,Ort' ist zunächst meist ein mit einem Namen bezeichneter (kleiner) Teil der Erdoberfläche. Das Ding, dessen ,Ort' ausgesagt wird, ist ein körperliches Objekt'. Der ,Ort' erweist sich bei simpler Analyse ebenfalls als eine Gruppe körperlicher Objekte. (...) /Ein als Ort verstandener/ ,Raum' /ist/ eine Art Ordnung körperlicher Objekte (...) und nichts als eine Art Ordnung körperlicher Objekte" (A. Einstein, 1953, S. Xllf. (zitiert nach G. Sturm)). Es handelt sich um eine Auffassung als „Lagerungsqualität der Körperwelt". Dagegen hat der „Raum als Container aller körperlichen Objekte (...) eine vom besonderen Objekt losgelöste Bedeutung". In diesem Fall kann ein Objekt „nicht anders als im Raum gedacht werden; der Raum erscheint dann als eine gewissermaßen der Körperwelt übergeordnete Realität. Beide Raumbegriffe sind freie Schöpfungen der menschlichen Phantasie, Mittel ersonnen zum leichteren Verstehen unserer sinnlichen Erlebnisse" (A. Einstein, 1953 (zitiert nach G. Sturm)). In einer grundsätzlichen Arbeit befaßte sich D. Läpple (1991) mit der Kategorie des Raumes (und der Zeit), wie wir ihn heute in der (Sozial-) Geographie, der Ökonomie (der Raumwirtschaftslehre) und der Raumplanung - relativ unbesehen - verwenden. Seine Überlegungen abschließend, versucht er sich - angeregt durch Überlegungen von F. Perroux - von einem eher „banalen Raumbegriff" zu lösen und die Bedingungen für ein „gesellschaftliches Raumkonzept" aufzuzeigen. D. Läpple findet zwei Grundauffassungen von Raum vor, a) das „Landschaftskonzept der (ideographischen) Geographie" und b) das geographische Konzept des „chorischen Raumes": Zu a): Landschaft wird in dieser Denktradition nicht naturwissenschaftlich behandelt, sondern „als Wohn- und Erziehungshaus konkreter regionaler Lebensformen" (G. Hard, 1987, S. 10). In diesem Sinne ist das eigentliche Thema der Länderkunde (der Geographie) das „Mensch-Natur-Verhältnis im Rahmen einer konkreten Landschaft gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Der analytische Zugang zur Erfassung dieses Mensch-Natur-Verhältnisses erfolgt über den jeweiligen ,Erdraum', der gleichzeitig als,Lebensraum' und Kulturraum' seiner Bewohner gefaßt wird" (D. Läpple, 1991, S. 168). Zu b): Unter dem „chorischen Raumkonzept" (chora = Raum der Erdoberfläche) ist die „zweidimensional-euklidisch-metrische und abstrakte Repräsentation der Geosphäre (...) zu verstehen" (H. Köck, 1987, S. 179). Raum wird in dieser Tradition als Ordnungsschema zur Beschreibung von Lageeigenschaften bzw. von Standorten der Beobachtungsgegenstände definiert. Gemeint ist mit dieser Betrachtung die „Anordnung von Objekten", wenn man von Raum, Ort oder Lage spricht (vgl. D. Läpple, 1991, S. 168f.). Dieser Raumbegriff bestimmt heute die Raumwirtschaftslehre (und damit auch an zentraler Stelle die Raumplanung). Entsprechende Raumkonzepte nennt F. Perroux eine „banale Raumauffassung". Angeregt durch diese Kritik trug D. Läpple Bausteine eines „gesellschaftlichen Raumkonzepts" zusammen.

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„Gesellschaftlicher Raum" wird bestimmt a) durch das ,materiell-physische Substrat' gesellschaftlicher Verhältnisse (gemeint sind damit menschliche, vielfach ortsgebundene Artefakte oder die materiellen Nutzungsstrukturen der Gesellschaft); b) durch die .gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen' bzw. die gesellschaftliche Praxis' (gemeint ist damit die gesellschaftliche Praxis der Produktion, der Nutzung und Aneignung von Raum/Natur); c) durch ein i n stitutionalisiertes und normatives Regulationssystem' (gemeint sind damit Eigentumsformen, Macht- und Kontrollbeziehungen, rechtliche Regelungen, Planungsrichtlinien oder soziale Normen und Werte); sowie d) durch ein mit dem materiell-physischen Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse verbundenen räumlichen .Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem' (gemeint sind damit u.a. Symbol- und Zeichenträger, „Raumbilder" oder „kollektives Gedächtnis"). Ein „gesellschaftliches Raumkonzept" wäre hiernach aus dem „gesellschaftlichen Herstellungs-, Verwendungs- und Aneignungszusammenhang' seines materiellen Substrats zu erklären, in dem diese vier schematisch unterschiedenen Komponenten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Als Resultat der materiellen Aneignung der Natur ist ein gesellschaftlicher Raum zunächst ein gesellschaftlich produzierter Raum'. Seinen gesellschaftlichen Charakter entfaltet er allerdings erst im Kontext der gesellschaftlichen Praxis der Menschen' die in ihm leben, ihn nutzen und ihn reproduzieren. Durch diese .unmittelbare' gesellschaftliche Dimension erklärt sich auch sein Charakter als ,Matrix-Raum', d.h. ein sich selbst gestaltender und strukturierender Raum" (D. Läpple, 1991, S. 197). Dabei kennzeichnet der Begriff „Matrix-Raum" (N. Poulantzes) eine „formschaffende und gestaltgebende ,Wirkungsgröße'" (ders., a.a.O., S. 196). Raum und Zeit. Raum- und Zeitkonzepte sowie Raum- und Zeitvorstellungen erweisen sich entsprechend der Entwicklungshöhe einer Gesellschaft als unterschiedlich. Sie erweisen sich aber auch in kultur-, alters-, einkommens-, bildungsund geschlechtsspezifischer Hinsicht als voneinander differierend. Raum und Zeit finden sich eingebettet in den wissenschaftlich-technischen Entwicklungsprozeß unserer Gesellschaft sowohl einem Vernichtungs- als auch Erweiterungsprozeß ausgesetzt. Diese Vorstellung basiert auf der Geschwindigkeit, die sog. Raumüberwindungsmaschinen (das Auto, die Eisenbahn oder das Flugzeug) erreichen: „,Entfernungen verkürzen sich praktisch genau im Verhältnis zur Geschwindigkeit, mit der man sich bewegt' (...)" (W. Schivelbusch, 1977, S. 35). Ein anderer Aspekt ist der der „Substitution von „Raum durch Zeit": Raumengpässe entstanden u.a. historisch durch Prozesse der Arbeitsteilung, durch wirtschaftliche Wachstumsprozesse oder individuell gesteigerte Raumansprüche. Zeitliche Nutzungserweiterungen können nun teilweise Raumengpässe oder eine Einsparung von Flächen im Raum bewirken. Zeit läßt sich - so D. Henckel, 1988, S. 195 - als Ressource zur Bewältigung von Raumengpässen einsetzen. Gerade in verstädterten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften bedeutet dies heute eine enge Kopplung von „Zeit- und Raumplanung" bei der Gestaltung gesellschaftlicher Lebensräume. Im Wandlungsprozeß unserer Gesellschaft von fordistischen zu postfordistischen Organisationsformen haben sich auch die Raumbilder, also das ästhetische Erscheinungsbild unserer Siedlungsformen geändert. Fordistische Raumbilder - wir kennen sie aus dem Ruhrgebiet - repräsentieren industrielle Produktionsstrukturen, das Nebeneinander unterschiedlichster Nutzungen, Massengüter verteilende Infrastrukturen, zerschnittene Naturräume oder die Alltagskultur in Arbeiter-

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I. Grundlagen

Siedlungen. Postfordistische Raumbilder - etwa im S ü d e n von M ü n c h e n - f ü h r e n uns - auch ästhetisch - g e w a n d e l t e gesellschaftliche L e b e n s v e r h ä l t n i s s e vor Augen. G e m e i n t sind d a m i t a n d e r e U m g a n g s f o r m e n mit N a t u r , Kultur, Freizeiteinrichtungen, A r b e i t s k o n z e p t e n u n d L e b e n s a u f f a s s u n g e n . Z e i t u n d R a u m , die zwei S e i t e n einer Medaille, sind e i n e m p e r m a n e n t e n W a n d l u n g s p r o z e ß ausgesetzt. D i e M o d e r n i s i e r u n g s a n s t r e n g u n g e n d e r v e r g a n g e n e n Jahre p r o d u z i e r t e n vielen M e n s c h e n auch v e r m e h r t e n Alltagsstreß. D.h., viele M i t b ü r g e r b e w e g e n sich z w a r in einem relativen G e l d w o h l s t a n d , a b e r auch in ein e r relativen Z e i t n o t . V o r d i e s e m H i n t e r g r u n d e n t s t a n d d e r Begriff der „ Z e i t p i o n i e r e " (vgl. K . H . H ö r n i n g u.a., 1990). D a m i t g e m e i n t e B ü r g e r b e m ü h e n sich zun e h m e n d ihre „betriebliche A r b e i t s z e i t " zu r e d u z i e r e n , u m w i e d e r m e h r Zeit „ f ü r sich selbst" zu g e w i n n e n . Neben N a c h t e i l e n wie E i n k o m m e n s e i n b u ß e n u n d A r b e i t s v e r d i c h t u n g e n t s t e h e n hierbei auch Vorteile wie relativer Z e i t w o h l s t a n d o d e r G e s t a l t u n g s p o t e n t i a l e im Lebensalltag. Mit s e l b s t b e w u ß t e r e n u n d selbstbes t i m m t e r e n L e b e n s f o r m e n k ö n n t e möglicherweise auch d e r R a u m b e z u g wieder deutlicher ins Z e n t r u m d e r Gesellschaft treten.

5.0 Der Wandel der Familie und die Ergrauung der Gesellschaft Stadt- u n d R a u m p l a n u n g g e h e n bei d e r E n t w i c k l u n g von N u t z u n g s k o n z e p t e n noch u m f a n g r e i c h von d e r Existenz der bürgerlichen Kleinfamilie aus. A u s u n t e r schiedlichen G r ü n d e n hat sie aber ihre „selbstverständliche Legitimität", ihre „exklusive M o n o p o l s t e l l u n g " u n d ihre „ m o t i v a t i o n a l e R o l l e " e i n g e b ü ß t (vgl. H. Tyrell, 1990). A n ihre Stelle trat eine Vielfalt von L e b e n s f o r m e n , die die Verk e h r s p l a n u n g , die W o h n u m f e l d p l a n u n g , die W o h n r a u m g e m e n g e p l a n u n g o d e r die W o h n u n g s g r u n d r i ß p l a n u n g v e r ä n d e r t e n u n d v e r k o m p l i z i e r t e n . D i e s e Situation stellt a b e r n u r das vorläufige E n d e eines verzweigten familialen E n t w i c k lungsprozesses dar. In ständisch-feudalistischen Gesellschaften galt die „große Haushaltsfamilie" (das „ganze H a u s " ) als die d o m i n a n t e Familienform. G ü t e r p r o d u k t i o n u n d die w e i t g e h e n d als a u t a r k e Vorratswirtschaft g e f ü h r t e H a u s w i r t s c h a f t s t a n d e n u n t e r d e r p a t r i a r c h a l e n L e i t u n g d e s Hausvaters. E r l e n k t e die P r o d u k t i o n u n d r e p r ä s e n t i e r t e die Familie in der Öffentlichkeit. D e r H a u s f r a u u n t e r s t a n d die i n n e r e O r g a n i s a t i o n der H a u s w i r t s c h a f t und die R e p r o d u k t i o n d e r Mitglieder der H a u s haltsfamilie. Sozialer Wandel im 18. und 19. Jahrhundert - g e m e i n t sind A s p e k t e von Säkularisierung, Industrialisierung, D e m o k r a t i s i e r u n g , U r b a n i s i e r u n g u n d Individualisierung - b r a c h t e n e n t s c h e i d e n d e V e r ä n d e r u n g e n f ü r das Familienleben (vgl. R. Sieder, 1987). D i e s e V e r ä n d e r u n g e n lassen sich u m s c h r e i b e n mit einer zunehm e n d e n T r e n n u n g von Privatheit, Intimität u n d Ö f f e n t l i c h k e i t , von A r b e i t e n , W o h n e n , Kultur, Freizeit u n d E r z i e h u n g sowie d e r U m s t e l l u n g d e s H a u s h a l t s von d e r „Vorrats- auf die M a r k t w i r t s c h a f t " . Sichtbar w u r d e dieser W a n d e l insbesond e r e an den H a u s h a l t e n des städtischen B ü r g e r t u m s und d e r stark z u n e h m e n d e n A r b e i t e r s c h a f t . D i e d a b e i e n t s t a n d e n e Klein- o d e r K e r n f a m i l i e meint einerseits eine H a u s h a l t s f i g u r a t i o n b e s t e h e n d aus M a n n , Frau u n d K i n d ( e r n ) , a n d e r e r s e i t s die R e d u z i e r u n g familialer F u n k t i o n e n auf W o h n e n , K o n s u m , E r z i e h u n g , partn e r s c h a f t l i c h e Solidarität o d e r Freizeitgestaltung. D a b e i e n t s t a n d e n auch eine

6. Schmals: Soziologie der Planung

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„Intimisierung und Emotionalisierung familiärer Binnenbeziehungen" sowie eine räumliche und soziale Grenzziehung gegenüber der durch „Sachlichkeit und Zweckrationalität" geprägten Außen- bzw. Arbeitswelt. Die familialen Haushaltsgrößen - hier als ein A s p e k t von Sozialstrukturanalysen vorgetragen - haben sich im Laufe dieses Jahrhunderts - auch statistisch nachvollziehbar - verändert: „Im Jahr 1900 lebten in rund 44% aller Privathaushalte fünf oder m e h r Personen, 1990 lag der entsprechende Wert nur noch bei 5 % . D e r Anteil der Zweipersonenhaushalte nahm von 15% im Jahr 1900 auf 30% 1990 zu, und der Anteil der Einpersonenhaushalte stieg im gleichen Zeitraum von 7 % auf etwa 35%. Somit lebten 1990 im f r ü h e r e n Bundesgebiet etwa 9,8 Mill. Personen, also rund 16% der Bevölkerung, allein. Die durchschnittliche Haushaltsgröße belief sich um die J a h r h u n d e r t w e n d e in Deutschland auf 4,5 Personen, 1990 hingegen nur noch auf 2,3 Personen in den alten Bundesländern. Nach Schätzungen auf der Grundlage von Einwohnerdateien gab es E n d e 1989 in der ehemaligen D D R fast 6,6 Mill. Privathaushalte, davon rund 1,6 Mill. Einpersonenhaushalte (24,9%) und rund 4,9 Mill. M e h r p e r s o n e n h a u s h a l t e (75,1%). E n d e 1989 lebte etwa j e d e zehnte Person (9,9%) in der ehemaligen D D R für sich allein; die durchschnittliche Haushaltsgröße betrug hier 2,45 P e r s o n e n " (Statisches Bundesamt, Hrsg., 1992, S. 49f.). Insgesamt vollzog sich der Auflösungsprozeß der bürgerlichen Kleinfamilie und verwandtschaftlicher Versorgungsnetze in den G r o ß s t ä d t e n schneller u n d prinzipieller als in Mittel- oder Kleinstädten und im ländlichen Raum: „In d e n G r o ß städten (früheres Bundesgebiet) sind insbesondere die Einpersonenhaushalte (48% dieser Haushalte befinden sich dort) zahlreich vertreten. Im Jahr 1990 lebte fast jeder f ü n f t e G r o ß s t a d t b e w o h n e r allein (in M ü n c h e n ist dies bereits m e h r als jeder zweite, A.d.V.), während in G e m e i n d e n mit weniger als 100.000 Einw o h n e r n nur etwa j e d e r achte einen Einpersonenhaushalt f ü h r t e " (Statistisches Bundesamt, Hrsg., 1992, S. 50 und Ch. H e m m e r / G . H ü f n e r / K . M . Schmals, 1990). Was mit unserer Gesellschaft geschieht, wenn die „kostengünstige" Produktions-, R e p r o d u k t i o n s - und Sozialisationsform „Familie" noch weiter zerbricht, d a r ü b e r wird heute - auch in der R a u m p l a n u n g - noch zu wenig nachgedacht. Eine Ausnahme bildete dabei E. Spiegel mit ihrer Arbeit „Neue Haushaltstypen": E. Spiegel untersuchte unverheiratet Z u s a m m e n l e b e n d e , Wohngemeinschaften, alleinlebende und alleinerziehende Personengruppen in H a m b u r g . E. Spiegel versteht d e n Haushalt als übergreifenden „Lebenszusammenhang, als Lebensform, die e b e n s o durch spezifische Formen des Wohnens und Wirtschaftens wie durch die Art der Rollenverteilung, der interpersonalen Beziehungen und der normativen Vorstellungen und Erwartungen der Haushaltsmitglieder geprägt ist" (dies., 1986, S. 9). Die Haushaltsmitglieder k ö n n e n dabei unterschiedlichen Altersgruppen (Mehrgenerationenhaushalt), unterschiedlichen Geschlechtsgruppen, E i n k o m m e n s g r u p p e n und verschiedenen ethnischen G r u p p e n angehören (multikultureller Haushalt). D e r demographische Wandel insbesondere der bundesrepublikanischen Stadtgesellschaft - dies ist ein weiterer Aspekt der Sozialstrukturanalyse - ist durch die S c h r u m p f u n g der deutschen Wohnbevölkerung und eine Z u n a h m e von Aus- und Übersiedlern geprägt. Insgesamt wird das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigen. Das heißt, einem sinkenden Anteil von Kindern und Jugendlichen steht ein wachsender Anteil alter Menschen gegenüber: U n s e r e Gesellschaft wird zun e h m e n d „ergrauen". Hierbei spricht m a n nicht m e h r einfach nur von „alten

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I. Grundlagen

Menschen", sondern differenzierter von „jungen (neuen) Alten, mittleren und alten Alten". Dabei kennen wir nach den Erfahrungen von J. U. Walther „von der ,ergrauten Gesellschaft' allenfalls das demographische Profil. Gesichertes Wissen darüber, wie das Leben darin aussehen wird, setzt mehr Forschung voraus" (ders., 1991, S. 153). Betrug die Zahl der über 60-jährigen im Jahr 1985 12,4 Mio (= 20,2% der Gesamtbevölkerung), so wird sie laut BfLR-Prognose bis zum Jahr 2000 auf über 14 Mio. Personen gestiegen sein (= 23,2% der Gesamtbevölkerung). Innerhalb dieses Prognosezeitraums bleibt die Zahl der Hochbetagten (über 80 Jahre) weitgehend konstant bzw. sinkt relativ, während der größte Zuwachs in der Altersgruppe der 65-70-jährigen zu erwarten ist. Weiterhin wird die Zahl der Haushalte - bei sinkender Zahl der Haushaltsmitglieder - steigen (vgl. W. Siebel u.a., 1990, S. 145ff.). Der demographische Alterungsprozeß vollzieht sich nicht schlagartig und gleichverteilt in ländlichen, städtischen oder suburbanisierten Räumen. Er vollzieht sich schleichend und oftmals unbemerkt. Der Anteil älterer Menschen wird sich im Umland von Verdichtungsräumen erhöhen und in den Kernstädten zurückgehen. Da die bürgerliche Klein- bzw. Kernfamilie eine vorzügliche gesellschaftliche Infrastruktureinrichtung darstellt(e) und auch die aktuell praktizierte Raumplanung ausschließlich auf diese Familienform - und auf ihr aufbauenden Verwandtschaftsnetzen - ausgerichtet ist, verlangt ihr schrittweises Zerbrechen von der Raumplanung der neuen Lage gerechtwerdende infrastrukturelle Versorgungskonzepte. Das heißt, es müssen entsprechend neu entstandener Milieus, Lebensstile und Haushaltsformen (vgl. die „Wahlfamilie" oder die „Wahllebensgemeinschaft") Hort-, Krippen- und Kindertagesstättenkonzepte, Schul- und Berufsbildungskonzepte, Gesundheits-, Erziehungs-, Kultur-, Wohn- und Arbeitskonzepte räum- und zeitspezifisch entwickelt werden, die der „Pluralisierung der Lebensstile" gerecht werden könnten.

6.0 Partizipation im planungssoziologischen Blickfeld Partizipation ist aus soziologischer Perspektive ein zentraler Begriff der Planung, dies insbesondere auch in einer Gesellschaft mit „Repräsentativer Demokratie". In Deutschland bedeutet „Repräsentative Demokratie" die „Ausübung von Herrschaft im Namen, jedoch ohne bindenden Auftrag des Volkes (...). Das Volk ist zwar Träger der Staatsgewalt, übt sie aber nicht aus (...). In der repräsentativen Demokratie der BRD beschränkt sich die Willensbildung des Volkes auf die Wahl der Abgeordneten" (H. Drechsler u.a., "1984, S. 507f.). Das heißt, die Bundesrepublik ist „eine rein mittelbare Demokratie (...). Repräsentative Organe erheben den Anspruch, für das ganze Volk zu handeln, gleichgültig, ob alle an der Wahl teilgenommen haben, oder mit den Beschlüssen einverstanden sind. (...). Die Repräsentanten können nur dadurch zur Verantwortung gezogen werden, daß sie nicht wiedergewählt werden" (dies., 61984, S. 508f.). Aber: „Intermediäre Gruppen" wie Parteien, Interessenverbände und sonstige Initiativen und Bewegungen sollen für ständige Informations-, Artikulations-, Denk- und Druckprozesse zwischen der gesellschaftlichen Basis und ihren Repräsentanten sorgen (vgl. Abb. 4).

6. Schmals: Soziologie der Planung Abb. 4

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Intermediäre Organisationen (vgl. K. Seile, 1991)

Nutzer/Selbsthilfegemeinschaften

Mit dieser Diskussion ist an zentraler Stelle auch das Rollenverständnis des Planers, der Planerin angesprochen. Es geht hier um unsere fachliche, normative und insbesondere auch um unsere politische Position in der (Raum)Planungsdebatte. Es geht um die Fragen, wie wollen wir im Umbauprozeß unserer Gesellschaft auf der sozialräumlichen Ebene planend miteinander umgehen, für wen wollen wir planen und welche Form der Gesellschaft schwebt uns dabei im Raum vor? Haben wir eine eher dezentral organisierte und selbstbestimmte oder eine eher zentral regulierte und fremdbestimmte Gesellschaft in unserem Blickfeld? Für den Sachverhalt der Teilhabe bzw. Teilnahme der Bürger an Planungsverfahren und Entscheidungsprozessen entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Akteneinsicht, Unterrichtung, Anhörung, Erörterung, Beteiligung, Partizipation, Mitbestimmung oder Selbsthilfe eine Vielzahl an Begriffen. Diese Entwicklung zieht sich wie ein roter Faden u.a. vom Erlaß bis zu den Fortschreibungen des Bundesbaugesetzes (BBauG, 1960 und 1976) über das Städtebauförderungsgesetz (StBauFG: 1971 und 1976) bis hin zur Verabschiedung des Baugesetzbuches (im Jahr 1986 (in ihm wurden BBauG und StBauFG vereinigt)). In diesem Zeitraum veränderten sich die Inhalte der Bürgerbeteiligung in Planungsverfahren und Entscheidungssituationen z.T. prinzipiell. Einen Höhepunkt erreichte die Billigung der Mitwirkung von Bürgern an Planungsentscheidungen in den Jahren 1971 und 1976 im Städtebauförderungsgesetz. Hier wurden u.a. die „Grundsätze für den Sozialplan" und die Erörterung der Stadtsanierung mit den unmittelbar Betroffenen festgeschrieben. Im Baugesetzbuch wurde nach dem Jahr 1986 die Beteiligung der Bürger an der Gestaltung ihres Lebensumfeldes wieder stark zurückgenommen. Vor diesem Wandlungsprozeß der Bürgerbeteiligung erweisen sich entsprechende Festlegungen heute wieder als relativ offen, unverbindlich und ohne zureichende Einklagbarkeit. Eine der frühesten Formen, Bürger an der Planung zu beteiligen, bildet das in den USA (am MIT) von P. Davidoff (1965) entwickelte Konzept der „Anwalts- oder Advokatenplanung": „Nach ihm sollen professionelle Experten zwischen Pia-

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I. Grundlagen

n e r n u n d B e t r o f f e n e n vermitteln, i n d e m sie d e r e n I n t e r e s s e n zu sich selbst zu k o m m e n v e r h e l f e n u n d v e r t r e t e n " (O. R a m m s t e d t , 1981, S. 452). Ihren N i e d e r schlag f a n d diese Beteiligungsform in d e r b u n d e s r e p u b l i k a n i s c h e n S t a d t e n t w i c k l u n g s d e b a t t e u.a. in d e n F o r m e n der „Sozial- und Gemeinwesenarbeit". Mit ihnen sollte d u r c h die W e c k u n g von P r o b l e m b e w u ß t s e i n u n d d u r c h das A u f z e i g e n von H a n d l u n g s a l t e r n a t i v e n die Artikulationsfähigkeit unterprivilegierter G r u p p e n g e s t ä r k t w e r d e n . Mit einiger Skepsis g e g e n ü b e r solchen i n d i r e k t e n Planungsk o n z e p t e n m e i n t C. O f f e : „ D i e Klientel solcher P l a n u n g s a n w ä l t e scheinen j e d e n falls ihre Skepsis u n d Passivität nicht zu ü b e r w i n d e n , weil sie die w o h l w o l l e n d e H i l f e v o n E x p e r t e n nicht als ausreichende Basis f ü r e i g e n e G e g e n m a c h t anseh e n " (C. O f f e , 1972, S. 144). In d e n 60er J a h r e n e n t w i c k e l t e n sich Schritt f ü r Schritt d i r e k t ( e r ) e Beteiligungsf o r m e n an d e r Planung. Sie fanden sich z u n e h m e n d e i n g e b u n d e n in eine „Bürgerinitiativbewegung". D.h., (ideell u n d existentiell) negativ b e t r o f f e n e B ü r g e r schlössen sich - u m ihre in d e r Regel legitimen B e d ü r f n i s s e u n d Interessen d u r c h zusetzen - i m m e r h ä u f i g e r zu Bürgerinitiativen z u s a m m e n . In d e r L i t e r a t u r t a u c h t e zu d i e s e m Z e i t p u n k t der Begriff der „Bürgerinitiativ-Gesellschaft" auf: N o c h A n f a n g der 50er J a h r e waren ca. 6 7 % d e r B u n d e s b ü r g e r d a v o n ü b e r z e u g t , g e g e n die „offizielle Politik" machtlos zu sein. B e r e i t s im Jahr 1971 hielten es 5 5 % der B e f r a g t e n f ü r wichtig, auf den Staat E i n f l u ß zu n e h m e n . 7 8 % d e r Interviewten b e k u n d e t e n ihre B e r e i t s c h a f t an „ g e m e i n w o h l o r i e n t i e r t e n A k t i o n e n " teilzun e h m e n " (vgl. P. C. Mayer-Tasch, 5/1985, S. 11). E n t s t e h u n g s h i n t e r g r ü n d e dieser E n t w i c k l u n g w a r e n soziale P r o b l e m e u n d K o n f l i k t e (vgl. A . Mitscherlich, 1965), wie sie im M o d e r n i s i e r u n g s p r o z e ß der Gesellschaft o f f e n k u n d i g w u r d e n . „Treib e n d e K r ä f t e " w a r e n u.a. die S t u d e n t e n b e w e g u n g u n d / o d e r die „ a u ß e r p a r l a m e n tarische O p p o s i t i o n " , die die „alten Z ö p f e d e r G e s e l l s c h a f t " los w e r d e n wollten. Als p a r l a m e n t a r i s c h e politische Kraft erwies sich z u m d a m a l i g e n Z e i t p u n k t die SPD, die - mit W. B r a n d t - d e n „ A u f b r u c h zu m e h r D e m o k r a t i e " wagen wollte. B e r e i t s im J a h r 1973 w u r d e n bis zu 50.000 Bürgerinitiativen gezählt. E i n e Z a h l , die sich bis h e u t e v e r d o p p e l t haben d ü r f t e . K.W. B r a n d , D. Büsser, D. R u c h t u n t e r s c h i e d e n gegen E n d e d e r 70er J a h r e zum i n d e s t sechs r e l e v a n t e Strömungen der Bürgerinitiativbewegung: a) k o n s e r v a t i ve u n d / o d e r n a t u r r o m a n t i s c h e Bewegungen; b ) ökologische B e w e g u n g e n ; c) reformistische B e w e g u n g e n ; d ) demokratisch-sozialistische B e w e g u n g e n ; e) antikapitalistische u n d / o d e r spontaneistische B e w e g u n g e n ; sowie f) o r t h o d o x - k o m munistische B e w e g u n g e n . Bürgerinitiativen k ö n n e n globale u n d sektorale, dem o k r a t i s c h e u n d repressive, materielle und n o r m a t i v e Ziele verfolgen. I h r e O r g a n i s a t i o n s s t r u k t u r oszilliert dabei zwischen b a s i s d e m o k r a t i s c h e n , egalitären u n d „ l o c k e r e n " S t r u k t u r e n sowie straff g e f ü h r t e n O r g a n i s a t i o n e n . B ü r g e r b e t e i l i g u n g - e i n g e b e t t e t in Bürgerinitiativen - s c h w a n k t e schon frühzeitig zwischen „Institutionalisierung u n d S p o n t a n e i t ä t " sowie zwischen „ V e r e i n n a h m u n g und A u t o n o m i e " (vgl. hierzu auch die „Stufen der B ü r g e r b e t e i l i g u n g " in A b b . 5 von Sherry R. A r n s t e i n (dies., 1972, S. 192ff.)). W u r d e die Beteiligung d e r B ü r g e r in P l a n u n g s v e r f a h r e n zunächst e h e r individualistisch o d e r sozialstrukturell g e h a n d h a b t (vgl. die „ V o r b e r e i t e n d e n U n t e r s u c h u n g e n " u n d das „ S o z i a l p l a n v e r f a h r e n " im S t B a u F G ) , so organisierten die Bürger in d e n 70er J a h r e n ihre Interessen in Bürgerinitiativen z u n e h m e n d gemeinwohlorientiert: In d e n 80er Jahren m ü n d e t e diese „Interessenpolitik von u n t e n " ein in eine solche d e r „sozialen B e w e g u n g " u n d „Selbsthilfe". S o k o n s t a t i e r t e n F. Vilmar u n d B. R u n g e (1986) in der Mitte d e r 80er J a h r e b e r e i t s ü b e r 40.000

6. Schmals: Soziologie der Planung

133

Abb. 5 Stufen der Beteiligung (vgl. S. R. Arnstein, 1972)

8

Bürgerkontrolle

7

Delegation von Entscheidungen

6

Partnerschaft

5

Scheinbefugnis

4

Beratung

3

Information

2

Therapie

1

Manipulation

Weisungsbefugnis

„Spielwiese"

Nichtbeteiligung

Selbsthilfegruppen. K. Seile verweist im J a h r 1991 auf bereits 40.000-50.000 „soziale S e l b s t h i l f e g r u p p e n " mit 400.000-600.000 in i h n e n tätigen M e n s c h e n , die nicht n u r v e r s o r g e n d e s o n d e r n auch vermittelte u n d v e r n e t z e n d e A u f g a b e n ü b e r n a h m e n . L e t z t e r e e r b r i n g e n z.Zt. eine volkswirtschaftliche Leistung von 6,7 M r d . D M / J a h r (vgl. K.Seile, 1991, S. 56). D.h., Bürgerinitiativen w a n d t e n sich a b v o m b l o ß e n Protest g e g e n staatliche P l a n u n g e n , v e r w e i g e r t e n die b l o ß e U n t e r r i c h t u n g u n d / o d e r A n h ö r u n g in P l a n u n g s v e r f a h r e n . Sie w a n d t e n sich z u n e h m e n d d e r Eigeninitiative u n d d e r Selbsthilfe zu (vgl. A b b . 6). D a b e i meint d e r Begriff der Selbsthilfe „selbst, o h n e Staat, o h n e G ä n g e l u n g , R e g e l u n g , B e t r e u u n g von ,oben', geistige, materielle, t h e r a p e u t i s c h e L e i s t u n g e n f ü r ihr eigenes u n d das W o h l e r g e h e n ihrer M i t m e n s c h e n zu b e w i r k e n " (F. Vilmar, B. R u n g e , 1986, S. 11). In den 70er u n d 80er J a h r e n entwickelte sich eine g r o ß e Z a h l an E x p e r i m e n t e n , in d e n e n B ü r g e r b e t e i l i g u n g an P l a n u n g s p r o z e s s e n u n d in E n t s c h e i d u n g s s i t u a t i o n e n e r p r o b t , der P r o t e s t gegen staatliche ( F e h l - ) P l a n u n g v o r g e t r a g e n u n d die Selbstorganisation b ü r g e r s c h a f t l i c h e r I n t e r e s s e n organisiert w e r d e n k o n n t e . E n t s p r e c h e n d e K o n z e p t e laufen - vor d e n unterschiedlichsten Inhalten u n d Z i e l e n von v e r s c h i e d e n e n F o r m e n der A n w a l t s p l a n u n g ü b e r n e u e Trägermodelle, interAbb. 6 Hierarchie der Bedürfnisse (vgl. A. H. Maslow, 1981)

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I. Grundlagen

mediäre Organisationen (vgl. Abb. 4), Hearings, Runde Tische, mitbestimmten und selbstbestimmten Projekten bis hin zu (legalisierten) Hausinstandbesetzungen. Einige Beispiele sind a) Konzepte „bewohnerorientierter Stadterneuerung" (vgl. ILS, 1989, S. 10ff.), b) Ansätze „neuer Trägerformen" (vgl. R. Baatz, 1990), c) Modelle der „frühzeitigen und vorgezogenen Bürgerbeteiligung" (vgl. P. C. Dienel, 1978), d) Strategien „mitbestimmter Modernisierung" (vgl. ILS, 1989, S. 90) oder Experimente der „Mietermitbestimmung und der Mieterselbstverwaltung" (K. M. Schmals u.a., 1990-1994). Kritik an bürgerschaftlichen Beteiligungsrechten in Planungs- und Entscheidungssituationen setzte schon frühzeitig ein. Im wesentlichen liegt sie auf folgenden Ebenen: 1) Die Beteiligungsmöglichkeiten sind zu unbestimmt formuliert; 2) entsprechende Rechte sind im einzelnen nicht einklagbar; 3) Beteiligungsrechte sind eher auf nachrangige Fragestellungen ausgerichtet. Zentrale Fragen - wie z.B. der gesellschaftliche Umgang mit Eigentum oder die Abschöpfung von Planungsgewinnen - sind der Bürgerbeteiligung entzogen. 4) Bürgerbeteiligung findet sich zu eng an gesellschaftliche Konjunktur- und Politikzyklen bzw. an politische Opportunismen gekoppelt. 5) Beteiligungsrechte sind zu statisch formuliert. Aus experimentellen Projekten, Prozessen oder Strukturen können nur mit allergrößten parlamentarischen und außerparlamentarischen Kraftanstrengungen Weiterungen in Beteiligungsrechte einfließen. Und nicht zuletzt unterscheiden sich 6) Beteiligungsrechte entsprechend der Verfügung über Eigentum. An Bürgerinitiativen wurde u.a. kritisiert, daß sie oftmals nicht über den Tellerrand ihrer Interessen schauen bzw. das Allgemeinwohl oftmals aus den Augen verlieren. Auch ist ihr Interesse an öffentlichen Angelegenheiten oftmals nur von vorübergehender Natur. Bürgerinitiativen büßen dann ihre verändernde Kraft ein, wenn sie nach innen formale Strukturen entwickeln (vgl. Abb. 7). Nicht zuletzt wurde an Bürgerinitiativen kritisiert, daß sie Aufgaben des politisch-administrativen Systems - z.T. im Rahmen von Selbstausbeutung - übernehmen und so den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben entlasten. Formen, Intensität und Inhalte der Bürgerbeteiligung werden an zentraler Stelle durch die geltenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse bzw. durch das praktizierte Demokratieverständnis unserer Gesellschaft bestimmt. Partizipation wird in diesem Kontext durch vielfältige Barrieren und Blockaden erschwert bzw. in ihrer Entwicklung behindert. In einem vergleichbaren Zusammenhang konkretisierte der italienische Kulturphilosoph A. Gramsci im ersten Drittel dieses Jahrhunderts das politische Modell für eine „Zivilgesellschaft". Dieses Konzept wurde in den USA u.a. von M. Walzer (1992) weiterentwickelt und in den letzten Jahren von Soziologen der „Dritten Generation" der „Frankfurter Schule" aktualisiert (vgl. H. Dubiel, G. Frankenberg und U. Rödel, 1989). Mit dem Konzept der „Zivilgesellschaft" versuchte A. Gramsci eine Erweiterung der bürgerlichen Gesellschaft. Er schlug vor, die Organisationsfähigkeit und den Entfaltungsraum der Bürger zu stärken sowie die Aktivitäten des Staates einzugrenzen: Die Mitglieder einer antizipierten „Zivilgesellschaft" wenden sich kritisch gegen Planungs- und Entscheidungsstrukturen, in deren Rahmen die Bürgerrechte eingeschränkt werden bzw. nicht zur Entfaltung kommen können. Dabei meint „Zivilgesellschaft" kein „verfassungsrechtliches Minimum", sondern eine „historisch offene soziale Sphäre" (V. Gransow, 1990, S. 243). Autonom und handlungsfähig wird diese Gesellschaft, indem sie eine „eigenständige öffentliche Sphäre des Politischen herausbildet, in der sie ihre Interessen verfolgt. Strukturen, wie sie ansatzweise in der „Bürgerinitiativ- und Selbsthilfegesellschaft" zu beobachten sind. Mit dem

6. Schmals: Soziologie der Planung

Abb. 7 Struktur und Prozeß sozialer Bewegungen (vgl. O. Rammstedt, 1978 S. 170)

135

136

I. Grundlagen

sozialen, politischen und kulturellen Konzept der „Zivilgesellschaft" wird eine „konkrete, politische Utopie" angeregt, vor deren Hintergrund der Weg in eine demokratisch gesicherte Z u k u n f t begangen werden könnte. Um das komplizierte Arbeitsverhältnis von Staat, Staatsapparat, gesellschaftlichen Institutionen und Bürgern genauer zu bestimmen, legte der deutsche Sozialphilosoph J. Habermas (1992, S. 429ff.) - unter Verwendung von Überlegungen von B. Peters - ein formales Konzept vor, das die „Kommunikations- und Entscheidungsprozesse des rechtlich verfaßten politischen Systems auf der Achse Zentrum-Peripherie" anordnet, durch ein „System von Schleusen strukturiert" und durch „zwei Arten der Problemverarbeitung" - die Entwicklung bindender Entscheidungen und die Legitimation von Entscheidungen - bestimmt ist.

7.0 Soziologische Aspekte einer Theorie der Planung Raum-zeitliche, partizipatorische, politische, ökonomische oder familiale Bestimmungsfaktoren der Gesellschaft finden sich selbstverständlich auch eingebettet in planungssoziologische Theorien. Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts erkannte der italienische Philosoph G. Vico die Geplantheit der Gesellschaft durch den Menschen. Vico's Erkenntnisinteressen sahen zwar bereits die „Machbarkeit, die Planbarkeit" der Geschichte, der Gesellschaft und des Staates durch den Menschen, sein D e n k e n und Handeln. Seine Perspektive war jedoch nur „retrospektiv". Sie war im Prinzip noch „rückwärtsgewandt auf die bereits gelebte, abgetane Geschichte" gerichtet (vgl. dazu seine Arbeit „Scienza Nuova", Neapel 1725). Vico - so Friedrich Jonas - verstand „seine neue Wissenschaft als zivile Theologie der göttlichen Vorsehung. (...) Die Tatsache, daß wir die Geschichte verstehen können, weil sie vom Menschen geschaffen worden ist, heißt aber bei Vico nicht, daß die Geschichte deswegen auch Ausdruck menschlichen Willens sei. Das Grundgesetz der Geschichte ist vielmehr (und immer noch?, A.d.V.) die göttliche Vorsehung (...)" (ders., 1976, S. 35f.). In seiner Arbeit „Voraussetzungen der Gesellschaftsplanung" (1973, S. 105) vergleicht B. Schäfers die Planungskonzeption von Saint-Simon mit der von K. Mannheim. Dies ist deshalb von Interesse, weil Saint-Simon am Anfang und K. Mannheim am E n d e einer großen Industrialisierungsphase stand. Die von SaintSimon uneingeschränkt begrüßten Grundlagen der künftigen Gesellschaft, positive Wissenschaft und Industriesystem, zu dessen voller Entfaltung er beitragen wollte, haben in der Zeit K. Mannheim's längst ihre „gefahrvolle Eigengesetzlichkeit und mißbräuchliche Verwendungsmöglichkeit offenbart: Die Dämonie der Technik ist enthüllt, der Fortschrittsrausch verflogen, zumindest stark ged ä m p f t " (B. Schäfers, 1973, S. 107). Betrachten wir die beiden Positionen etwas genauer. Die Frage „Was leistet unser ,Verstand zur Erkenntnis und Gestaltung unserer unmittelbaren und fernen Zukunft' (B. Schäfers) wurde zuerst und am präzisesten von dem französischen Soziologen, Sozialphilosophen, Industrialisten und Frühsozialisten C. H. Saint-Simon gestellt. In dieser Perspektive gelang es die Gesellschaft „insgesamt unter Planungsgesichtspunkten zu betrachten" (B. Schäfers, 1973, S. 104): „Die neue Dimension des Begriffs Plan, die Saint-Simon einführt, liegt einerseits in der Tendenz zur gesamtgesellschaftlichen Planung, die bei ihm - eingebettet in das Stadiengesetz des Fortschritts von Turgot - zum erstenmal auftaucht, und andererseits in der technischen Komponente seines Planungsdenkens. Der Totalitätsanspruch

6. Schmals: Soziologie der Planung

137

von Planung, der auf die Beherrschung aller gesellschaftlicher Lebensbereiche unter Einbeziehung allen verfügbaren Wissens hinzielt, deutet eine Richtung des Planungsdenkens an, die bis in die heutige Diskussion zu verfolgen ist" (Ch. Lau, 1975, S. 14). Zentral war für Saint-Simon's neue Wissenschaft u.a. die Erfahrung der gesellschaftlichen Krise als eine gesamtgesellschaftliche Krise, die Ausdehnung seiner Überlegungen auf die Gesamtgesellschaft, die Entwicklung auch einer sozialen, kulturellen, wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Veränderungsperspektive der Gesellschaft, die Entwicklung nicht nur einer retrospektiven sondern zudem auch einer prospektiven Geschichtsauffassung sowie die A n n a h m e positiver gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze. Das Werk von Saint-Simon bildet den Auftrakt für sämtliche modernen „gesellschaftsplanerischen Vorstellungen" (B. Schäfers), Instrumente und Konzepte. Entsprechend der Überlegungen von T. R a m m (1955, S. 245ff.) beruhen seine „planungstheoretischen Vorstellungen" auf zumindest vier „Grundprinzipien. Diese sind a) die A n n a h m e einer Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung; b) die Fortschrittsidee; c) die Lehre von der Einheit der menschlichen Gesellschaft; und d) die Lehre von der Identität von Theorie und Wirklichkeit". A m Ende eines über 100 Jahre anhaltenden Industrialierungsprozesses steht die Position des Soziologen K. Mannheim, einem der Gründungsväter des modernen Planungsdenkens. Bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erschien ihm die Fortentwicklung des abendländischen Rationalisierungsprozesses hin zur wissenschaftlich-technischen Welt noch relativ unproblematisch. Danach warnte er vor dem Abgleiten in „totalitäre Staats- und Gesellschaftsverfassungen": Die „Sozialisation der Gesellschaft", verstanden als „gesellschaftlicher U m b a u " , ist nach seinen Erfahrungen nur durch Erziehung zu erreichen. Der einzelne soll dazu erzogen werden, über seine individuellen Interessen hinaus, die gemeinschaftlichen Bezüge seines Handelns und Planens zu begreifen. Planung wird von K. Mannheim durch historische und kritische Merkmalsdimensionen zugleich bestimmt. In historischer Hinsicht begriff der die Entwicklung der Gesellschaft in den drei idealtypisch gedachten Entwicklungsstufen „Finden, Erfinden und Planen". In kritischer Perspektive entwickelte K. Mannheim sein Planungskonzept als eine umfassende „Diagnose der Gegenwart". Es entfaltet sich an der bereits vollendeten Entwicklung der „technisch-wissenschaftlich-industriellen Epoche als Fazit (1935): „Den Glauben an einen allgemeinen Fortschritt der Vernunft in der Geschichte hält Mannheim ausdrücklich für ein widerlegtes Vorurteil. (...) Weil Wissenschaft und Technik ihre Wirk- und Entwicklungskräfte bis in die seelische Struktur der Menschen hinein fortsetzen, sind Mensch und Gesellschaft von den unbewußten und unreflektierten Seiten dieses Geschehens zu bewahren" (B. Schäfers, a.a.O., S. 108). Planung ist für Mannheim ein Prozeß der Rationalisierung von Handeln und Verhalten auf einer historischen Ebene, die sich der des „Findens und Erfindens" anschließt. Gesellschaftliche Planung nimmt auf dieser höchsten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe eine zentrale Rolle ein. Sie kann nach K. Mannheim nicht mehr als Gefährdung gesellschaftlicher Freiheit verstanden werden, sondern wird zu ihrer Bedingung. Für ihn stellt sich nicht mehr das Problem, zwischen „freier Marktkonkurrenz und Planung" zu unterscheiden, sondern nur noch zwischen „guter und schlechter Planung. Die geplante Demokratie sieht er als dritten Weg zwischen den zusammenbrechenden liberalen Demokratien und den totalitären Gesellschaften" (Ch. Lau, 1975, S. 18):

138

I. Grundlagen

„Sozialtechnologie oder soziale Emanzipation", „nicht, ,was' und ,wie' erkannt werden soll, steht zur Frage, sondern ,wozu' wir überhaupt (...) Wissenschaft betreiben" so und mit anderen eingängigen Begriffen und Formulierungen brachte Horst Baier im Jahr 1969 die Inhalte des „Positivismusstreites in der Deutschen Soziologie" auf den Begriff. Diskutiert hatten zu diesem Zeitpunkt über die Ziele und geeigneten Methoden der Erkenntnisgewinnung u.a. Karl R. Popper und Hans Albert sowie Th.W. Adorno (1972) und J. Habermas. Der erst kürzlich verstorbene Karl R. Popper blieb mit dem von ihm entwickelten „Kritischen Rationalismus" zentrale Bezugsperson aktuell entworfener Gestaltungskonzepte für Stadt und Region. Ich meine hier u.a. den „Perspektivischen Inkrementalismus", die Strategie der „Raumentwicklung durch Projektentwicklung" der Internationalen Bauausstellung im Emscher Park in NRW (vgl. T. Sieverts u.a., 1993). (Planung-)Theorie ist für Popper ein Netz, das ausgeworfene wird, um die Welt einzufangen. Kausalität, Erklärung, Prognose und Deduktion sind die Maschen der Theorie, deren Strukturelemente. D.h., eine Planungstheorie muß für Popper falsifizierbar sein. Sie kann demnach nur auf empirischen Daten - bzw. Hypothesen über diese Daten - basieren. Gesellschaft ist nach Popper zu komplex, um sie „ganzheitlich" gestalten zu können. Popper meint nur solche gesellschaftlichen Veränderungen planend verantworten zu können, bei denen er „Ursache und Wirkung" genau bestimmen kann, bei denen also Planungsabläufe genau - bis ins Detail - kontrollierbar sind. Nur das kann für Popper als wissenschaftlich abgesichert gelten, was empirisch überprüfbar ist. So fundierte Gestaltungskonzepte und Planungsstrategien sind wertfrei. Sie haben rein instrumenteilen Charakter. Demgegenüber treibt eine holistisch angelegte Planungskonzeption auf offene Irrationalität zu. Popper bezeichnet seine Planungstechnik als „Stückwerk-Sozialtechnik", als „Technik des Herumbastelns, des Durchwursteins bzw. als Prinzip der dauernden Fehlerkorrektur". Der Stückwerk-Sozialtechniker geht folgendermaßen an die Arbeit: „Er mag zwar einige Vorstellungen von der idealen Gesellschaft ,als Ganzem' haben (...), aber er ist nicht dafür, daß die Gesellschaft als Ganzes neu geplant wird. Was immer seine Ziele sein mögen, er sucht sie schrittweise durch kleine Eingriffe zu erreichen, die sich dauernd verbessern lassen. (...) Wie Sokrates weiß der Stückwerk-Ingenieur, wie wenig er weiß. Er weiß, daß wir nur aus unseren Fehlern lernen können. Daher wird er nur Schritt für Schritt vorgehen und die erwarteten Resultate stets sorgfältig mit den tatsächlich erreichten vergleichen, immer auf der Hut vor den bei jeder Reform unweigerlich auftretenden unerwünschten Nebenfolgen" (K.R. Popper, 41987, S. 53f.). D. Boris sieht (vgl. ders., 1971, S. 201) trotz der scharfen Distanzierung Popper's von K. Mannheim viele konzeptionelle Gemeinsamkeiten: „In der Praxis müsse sich einerseits der Mannheim'sche Planer notgedrungen mit Stückwerkarbeit begnügen, während der Popper'sche Sozialtechniker eine, wenn auch noch so unscharfe, Vorstellung von der Gesellschaft als Ganzes haben müsse, wolle er seine ,Stückwerksarbeit' mit dem gesellschaftlichen Ganzen vermitteln". Vor diesem vielschichtigen Bild historischer Vorstellungen über Ziele, Methoden und Wege der planerischen Gestaltung unserer Gesellschaft ein abschließender Blick auf ein Ergebnis der Arbeit von A. Evers/H. Nowotny „Über den Umgang mit Unsicherheit - Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft". Im Prozeß des „Abbröckeins des Fortschrittsvertrauens" und den zunehmenden

6. Schmals: Soziologie d e r Planung

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Zweifeln an der „eigenständig-gesetzlichen Entwicklung technisch-ökonomischer Zusammenhänge" wird technischer Fortschritt politisch, umstritten und legitimationspflichtig. An der Schnittstelle von Planungs- und Techniksoziologie ist auch die raumorientierte Soziologie mit ihrem Wissen um Fragen der Partizipation gefragt: Der „Konflikt um Gestaltbarkeit" - so A. Evers/H. Nowotny, der auf der Seite sozialwissenschaftlichen Wissens begleitet wird vom Einbezug der Akteure in das gesellschaftliche Konfliktfeld, „beherrscht heute die aktuelle Diskussion sowohl um soziale wie technische Sicherheiten. Auf beiden Ebenen, der des Wissens und der des Handelns, geht es um eine Zuschreibung, ein ,Zutrauen' von mehr sozialer Kompetenz, auf der Handlungsebene um die tatsächliche Umsetzung und das Einbringen dieser Kompetenz in die politischen Entscheidungsprozesse" (dies., 1987, S. 319).

8.0 Ausblick Soweit ein Blick in die „Werkstatt" der Planungssoziologie. Sozialer Wandel, Raum und Zeit, Familie, Partizipation und Planungstheorie bilden nur einen kleinen Teil planungssoziologischer Arbeitsfelder. Weit fortgeschritten erweist sich heute auch die Arbeit der Verkehrs-, der Wohn- und Freizeitsoziologie sowie die Entwicklung einer Soziologie der Ökologie. Diese Hinweise verdeutlichen, wie komplex, engagiert und vernetzt sich Planungssoziologie entwickelt hat. Insgesamt ging es darum, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß ( R a u m p l a nung a) historisch und gesellschaftlich verankert ist, b) sich bedingt durch die Transformation der Gesellschaft in einem permanenten Veränderungsprozeß befindet, c) vom Planungssubjekt - entsprechend alltäglicher Interessen und Bedürfnisse - beeinflußt wird und nicht zuletzt d) durch Strukturen und Funktionen in gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet ist.

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140

I. Grundlagen

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7. Ökologische Grundlagen 1.0 Einführung Die heute vordringlich diskutierten Umweltprobleme, wie die neuartigen Waldschäden, der Rückgang biologischer Vielfalt (Artensterben) oder globalklimatische Veränderungen, sind Erscheinungen komplexer, kaum vollständig durchschaubarer Wirkungsverflechtungen. Unterschiedlichste Umweltveränderungen - auch solche eher „alltäglicher", unbedeutend erscheinender Art - zeigen in ihrer Summe und wechselseitigen Beziehung Auswirkungen ungeahnten Ausmaßes. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge werden in immer größeren räumlichen Maßstäben erkennbar. Können ein winterliches Smog-Ereignis, die Vergiftung lokaler Grundwässer oder Waldschäden in räumlicher Nähe von Industrieanlagen auf wenige, lokal wirkende Belastungsfaktoren zurückgeführt werden, ist dies z.B. für die neuartigen Waldschäden (die auch in Reinluftgebieten auftreten) oder globale Klimaveränderungen keineswegs möglich. Umweltbeeinträchtigungen werden neben den vielfältigen stofflichen Belastungen auch durch die unmittelbare Raumwirksamkeit gesellschaftlicher Ansprüche verursacht. Der anhaltend hohe und scheinbar unabweisliche Bedarf nach neuen Wohn- und Gewerbeflächen sowie Infrastrukturen hat eine Entkoppelung des „Flächenverbrauches" von der allgemeinen Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung bislang verhindert. Urbane Systeme dehnen sich zudem überwiegend nicht räumlich konzentriert, sondern in einer dispersen, die Zersiedelung der Landschaft vorantreibenden Art und Weise aus (Abb. 1). Gleichzeitig steigt auch die Intensität von Freiraumnutzungen (land- und forstwirtschaftliche Monokulturen, intensive Freizeitformen u.a.) mit häufig extremen landschaftsstrukturellen Folgen. Die nicht nur in den Verdichtungsräumen ständig zunehmenden Nutzungskonkurrenzen und -konflikte werden überwiegend zu Lasten der ökologischen Funktionsfähigkeit der Kulturlandschaft ausgetragen. Vieles spricht dafür, daß die stetig wachsenden Anforderungen an Wohnen, Freizeit oder Mobilität bei prinzipiell unvermehrbarem Raumangebot und begrenzter Regenerationsfähigkeit natürlicher Ressourcen auf ökologische Grenzen stoßen, die auch durch technischen Fortschritt kaum zu verschieben sein werden. Die Gesellschaft steht vor komplexen Fragen der Zukunftsgestaltung. Erforderlich ist eine an der Tragfähigkeit natürlicher Systeme orientierte Entlastung der Umwelt - eine Aufgabe, die mit den Möglichkeiten medialer Umweltpolitik augenscheinlich nur bedingt zu bewältigen ist. Maßnahmen des Umweltschutzes setzen sich bis heute mit sachlichen oder räumlichen Einzelausschnitten, mit einzelnen Belastungsfaktoren oder Umweltmedien auseinander. Der ökologische Gesamtzustand der Umwelt wird erst in Ansätzen betrachtet. Bemühungen planerischen Ressourcenschutzes sind in ihrer Effizienz durch ein allenfalls die „ökologische Optimierung" von Projektplanungen gewährleistendes System räumlicher Planung bislang ebenfalls beschränkt. Notwendig sind daher den sektoralen und technischen Umweltschutz in sinnvoller Weise ergänzende integrierte, überfachliche und überörtliche Gesamtkonzepte. Jedoch erscheint die Annahme, Umweltprobleme ließen sich durch raumordnerische Koordination und

7. Petzold/Siedentop: Ökologische Grundlagen

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Abb. 1 Disperse Siedlungsentwicklung im Raum Leipzig (vereinfachte Darstellung nach Banse, Schmidt, Wirth 1993).

Grenze des Untersuchungsgebietes

Größenstruktur der Baugebiete bis 10 ha über 10 ha bis 50 ha über 50 ha



A

O



A

O



Industrie- und Gewerbegebiet

In Vorbereitung bzw. Realisierung Weitere Vorschlage

A O

Sondergebiet (einschließlich Einzelhandel)

Wohnungsbaugebiet

Gemeindegrenze

LEIPZIG

Oberzentrum

Schkeuditz

Mittelzentrum

Markranstädt

Unterzentrum

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I. Grundlagen

Steuerung umfassend lösen, realitätsfern. Eine solche Erwartung verkennt nicht nur die politische Bedeutung der Raumordnung, sondern auch die Reichweite ihres gesellschaftlichen Auftrages. Mit Instrumenten räumlicher Planung sind gesellschaftliche Ansprüche zwar in ihren räumlichen Ausprägungen zu koordinieren, nicht aber direkt in Ausmaß und Struktur beeinflußbar.

2.0 Erläuterung zentraler Begriffe Mit dem Begriff Umwelt werden die wechselseitigen Beziehungen eines Organismus zu seiner Umgebung bezeichnet. Die (physische) Umwelt ist aber nicht mit dem Umgebungsraum als Ganzes gleichzusetzen, sondern beschränkt sich auf die für ein Lebewesen existenzbedeutsamen Umgebungsbestandteile. D a jedes Lebewesen spezifische Ansprüche an die Umwelt stellt, es gewissermaßen eine „eigene" Umwelt aufweist, kann nicht von einer, es müßte vielmehr von einer Vielzahl von „Umwelten" gespochen werden - eine Feststellung, die die grundsätzliche Problematik einer allein auf den Menschen bezogenen Umweltpolitik verdeutlicht. Die Umwelt unterliegt ständigen Veränderungen, die natürliche Ursachen haben können (Naturkatastrophen, langzeitliche Klimaveränderungen), die vor allem aber durch menschliches Handeln bedingt sind. Während der Umweltbegriff diese anthropogenen Umweltveränderungen per Definition miteinschließt, sich damit immer auf die aktuelle Ausprägung der relevanten Umweltfaktoren bezieht, impliziert die Bezeichnung natürliche Umwelt Vorstellungen eines unberührten, vom Menschen unbeeinflußten Umweltzustandes. Angesichts des Ausmaßes zivilisatorischer Überformung kann in Mitteleuropa strenggenommen von Natur, auch von natürlicher Landschaft, nicht mehr gesprochen werden. Dennoch findet der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch wie auch in Gesetzen breite Verwendung. Natur wird dabei überwiegend als naturbürtiger, ursächlich zur Natur gehörender und natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegender Teil der Umwelt verstanden, ohne daß damit etwas über das Maß anthropogener Beeinflussung ausgesagt ist (siehe hierzu Abschnitt 6). Die Ökologie ist die „Wissenschaft vom Stoff- und Energiehaushalt der Biosphäre und ihrer Untereinheiten ... sowie von den Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Organismen, zwischen Organismen und den auf sie einwirkenden unbelebten Umweltfaktoren sowie zwischen den einzelnen unbelebten Umweltfaktoren" (Bick 1989, S. 8). Sie entstand als Teilgebiet der Biologie, erfordert jedoch eine disziplinübergreifende Arbeitsweise, an der neben Biologen vor allem Geowissenschaftler maßgeblich beteiligt sind. Dieser arbeitsteilige, disziplinübergreifende Ansatz ist in der Landschaftsökologie und der Ökosystemforschung am ausgeprägtesten. Je nach dem im Vordergrund stehenden Objekt ökologischer Forschung wird zwischen der Autökologie (einzelne Arten), der Dem- und Synökologie (Populationen und Lebensgemeinschaften) sowie der Ökosystemforschung (Ökosysteme) unterschieden. Die ursprünglich überwiegend erkenntnisorientierte und auf die Erforschung natürlicher Ökosysteme ausgerichtete Wissenschaft sah sich durch die der Öffentlichkeit seit Ende der 60er Jahre verstärkt bewußt werdenden Umweltprobleme „gezwungen", die Wirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt verstärkt einzubeziehen und damit wichtige Wissens- und Entscheidungsgrundlagen für den Schutz der Umwelt bereitzustellen (angewandte Ökologie, Humanökologie).

7. Petzold/Siedentop: Ökologische Grundlagen

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Die extreme Komplexität der Wirkungsgefüge von Lebewesen und ihrer Umwelt zwingt zu Vereinfachungen der Realität. Umwelt wird daher in Form von Systemen (Ökosysteme) betrachtet. Sie sind als Modelle zu verstehen, welche die Wirklichkeit verständlicher, „handhabbarer" machen (siehe Abschnitt 5.1). Mit dem Begriff Ökosystem verbindet sich aber keine spezifische räumliche oder sachliche Betrachtungsschärfe. Ökosysteme werden unterschiedlich abgegrenzt, sie zeigen zwar „teileigenständige Funktionsgefüge" (Leser 1991, S. 126), die Beziehung zu übergeordneten Systemen, letztlich zum „Gesamtsystem Erde", ist jedoch nie aufgehoben. Eine stark vereinfachende Strukturierung der Umwelt erfolgt nach Umweltmedien oder Schutzgütern (Boden, Wasser, Luft, Klima, biotisches Potential). Naturgüter oder Ressourcen - diese können stofflich-materieller Art (z.B. Grundwasservorkommen, Rohstoffe) oder immaterieller Art (Landschaftsästhetik) sein - sind Bestandteile naturbürtiger Systeme, welche in ihrer Summe auch als natürliche Lebensgrundlagen einer Gesellschaft bezeichnet werden können. Werden Ökosysteme oder ihre Bestandteile im Hinblick auf die Bedeutung für Lebewesen bewertet, findet der Begriff der Leistung Verwendung. Leistungen des Naturhaushaltes (verbreitet sind auch die Ausdrücke Funktionen oder - stärker planungsbezogen - Naturraumpotentiale) kennzeichnen nicht nur die Befähigung zur Bereitsstellung von Naturgütern/Ressourcen im engeren Sinne, sondern schließen auch bestimmte, die Regeneration und Regulation bewahrende Eigenschaften von Ökosystemen, wie der Schutz des Grundwassers durch Filterund Pufferfunktionen des Bodens, ein (ausführlich hierzu Abschnitt 5.2). Umweltschutz kann als Gesamtheit aller Maßnahmen zur Erhaltung und Entwicklung der öualität der Umwelt bezeichnet werden. Wird dennoch zwischen Umweltschutz und Umweltvorsorge unterschieden, so ist damit einem abweichenden Aufgabenverständnis Ausdruck verliehen. So wird Umweltschutz als eher reaktiv betriebene Gefahrenabwehr und nachsorgende Schadensbeseitigung, Umweltvorsorge hingegen als langfristig angelegte Vermeidung von Beeinträchtigungen verstanden. Eng damit zusammenhängend kann zwischen einem anthropozentrisch ausgerichteten, stark sektoral betriebenen sowie tendenziell raumneutralen, technischen Umweltschutz (Emissionsminderung, Altlastensanierung, Lärmschutz) und einem „ökologischen" Umweltschutz (Naturschutz, Landschaftsplanung, „ökologische Planung"), welcher (umwelt-)medienübergreifend und weniger anthropozentrisch ausgerichtet ist sowie die räumlich-differenzierten Eigenschaften des Naturhaushaltes stärker mitberücksichtigt, unterschieden werden.

3.0 Umweltvorsorge in der Raumordnung Aufgrund ihres umfassenden Auftrages zur Koordination raumwirksamer Planungen ist die Raumordnung naturgemäß mit ökologischen Fragen konfrontiert. Raumordnerische Vorgaben stellen wesentliche, das Ausmaß von Umweltbelastung bzw. -entlastung beeinflussende und vorstrukturierende Faktoren dar. In den Landes- und Regionalplänen werden über Vorrang- und Vorbehaltsregelungen der Rahmen möglicher Ressourcennutzung abgesteckt, durch die Lokalisierung belastender Vorhaben das Maß potentieller Umweltbeeinträchtigungen beeinflußt sowie mittels siedlungsstruktureller Vorgaben die Flächenausdehnung und „Verkehrsintensität" urbaner Systeme maßgeblich mitbestimmt.

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I. Grundlagen

Eine rückschauende Betrachtung zeigt, daß auch der „disziplinare Ursprung" der Raumordnung in engem Zusammenhang mit raumbezogenen Umweltproblemen steht. Denn erste Bemühungen überörtlicher Planung zu Beginn dieses Jahrhunderts waren schlicht Reaktionen auf eine expansive, vornehmlich den Interessen der Industrie verpflichtete Siedlungsentwicklung mit gravierenden ökologischen und sozialen Folgeerscheinungen. Die in den schnell wachsenden Verdichtungsund Industrieregionen gegründeten Planungs- und Zweckverbände (z.B. Zweckverband Groß-Berlin 1912, Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk 1920, Siedlungsverband für den engeren mitteldeutschen Industriebezirk 1925) waren bemüht, die in solcher Intensität bis dahin unbekannten Raumansprüche von Bergbau, Industrie und Wohnungsbau zu lenken sowie grundlegende infrastrukturelle und grünordnerische Anliegen zu verwirklichen. Ohne dies explizit als planerischen Umweltschutz zu bezeichnen, trugen diese Ansätze durchaus ressourcensichernde, ökologische Züge, wenn auch Begriffe wie „Ökologie" oder „Umweltschutz" im Kontext räumlicher Planung damals noch nicht gebräuchlich waren. Vor diesem Hintergrund muß es überraschen, daß sich der Umweltschutz seit den 70er Jahren als ein von der Raumordnung weitgehend abgekoppelter, eigenständiger Politikbereich mit überwiegend reaktivem, medialem und technisch orientiertem Charakter etablierte. Dies vollzog sich ungeachtet der Tatsache, daß Wissenschaft und Politik die enge inhaltliche Verzahnung von Umweltvorsorge und Raumordnung durchaus wahrgenommen und ein entsprechend enges Zusammenwirken propagiert haben: - Im „SARO-Gutachten" (SACHVERSTÄNDIGENAUSSCHUSS FÜR R A U M O R D N U N G 1961, S. 48), welches das erste Raumordnungsgesetz (ROG) von 1965 wesentlich beeinflußte, wurden die möglichst weitgehende Erhaltung „naturhaft gewachsener Landschaft" sowie die Wahrung oder Wiederherstellung des „biologischen, wasserwirtschaftlichen und klimatischen Gleichgewichts" der von der Industriegesellschaft überforderten Landschaft als wichtiger Gegenstand der Raumordnungspolitik genannt. - Das die „moderne Umweltpolitik" begründende Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 bezeichnete diesen Politikbereich „als Teil der gesamten Struktur- und Raumordnungspolitik", da rein reaktive Schutzmaßnahmen eine „nachhaltige Verbesserung der Umwelt" nicht gewährleisten könnten ( D E U T S C H E R BUNDESTAG 1971, S. 12). - Auch die M I N I S T E R K O N F E R E N Z FÜR R A U M O R D N U N G (1972) stellte fest, daß die räumliche Planung über eine zweckmäßige Ordnung und Gestaltung des Raumes wichtige Voraussetzungen für einen wirksamen Umweltschutz schaffe. Die Raumordnung ihrerseits kennzeichnete bis in die 80er Jahre hinein ein primär ökonomisches Verständnis (SRU 1987; Hübler 1988). Ihr vorrangiges Interesse galt der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilräumen der Bundesrepublik, wobei strukturelle Gefälle zwischen den Verdichtungsräumen und ländlichen Gebieten ausschließlich anhand sozioökonomischer Indikatoren ermittelt wurden. Zwar finden sich auch in den 70er und 80er Jahren Umweltschutzziele in den Programmen und Plänen (zu nennen sind vor allem Versuche, der Zersiedelung in den Verdichtungsräumen mit Zentrale-Orte-Konzepten oder kleinräumigen Siedlungsachsenmodellen zu begegnen), eine konsequente Operationalisierung und Umsetzung wurde jedoch versäumt (Hübler 1987; Schmidt, Rembierz 1987). Der Raumordnung wird vor diesem Hintergrund heu-

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te der Vorwurf gemacht, Umweltzerstörungen mitgetragen, zumindest aber nicht verhindert zu haben (Kiemstedt, Horlitz, Ott 1993; Hübler 1987). Seit Mitte der 80er Jahre deutet sich eine umweltpolitische Neuorientierung an, die das Vorsorgeprinzip in den Vordergrund des Handelns zu rücken sucht und auf eine stärkere Wirkungsbezogenheit von Umweltschutzzielen abzielt: - Mit den „Leitlinien Umweltvorsorge" ( D E U T S C H E R BUNDESTAG 1986) rückt die Bundesregierung von einer Politik raumneutraler Emissions- und Immissionsstandards zugunsten einer stärkeren Wirkungsbezogenheit von Umweltschutzzielen ab. Die „Grobsteuerung" durch Emissionsstandards soll durch eine „Feinsteuerung" mit Hilfe von an teilräumlichen Vorbelastungen und Empfindlichkeiten orientierten Immissionsstandards ergänzt werden. - Auch die „Bodenschutzkonzeption" ( D E U T S C H E R BUNDESTAG 1985a) dokumentiert die Abkehr von einer stark sektoral und technisch ausgerichteten Umweltpolitik. War der Boden vorher ein wenig beachtetes Aufnahmemedium großräumig verfrachteter Schadstoffe („Politik der hohen Schornsteine"), ist er nun als eigens zu schützendes Gut anerkannt. Gefordert wird darüber hinaus nicht nur die Minimierung von Stoffeinträgen, sondern auch eine „Trendwende im Landverbrauch". - Ergebnisse der zunächst ausschließlich wissenschaftlich geführten Diskussion um die Entwicklung von Umweltqualitätszielkonzepten (siehe hierzu Abschnitt 7) finden zunehmend Eingang in die Politik. Im Rahmen der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes wird erwogen, der Landschaftsplanung die Formulierung von Umweltqualitätszielen gesetzlich aufzuerlegen (Finke 1992). Die Raumordnungspolitik griff diese Entwicklung bereits mit den „Programmatischen Schwerpunkten der Raumordnung" ( D E U T S C H E R BUNDESTAG 1985b) auf. Darin stellte die Bundesregierung planerische Umweltvorsorge erneut als zentrale raumordnerische Aufgabe heraus und empfahl die verstärkte Ausweisung „umweltempfindlicher Räume". Die im Raumordnungsgesetz (ROG) bis dahin eher zurückhaltend formulierten ökologischen Belange wurden mit der 1989 vollzogenen Novellierung des Gesetzes gegenüber konkurrierenden raumbedeutsamen Ansprüchen wesentlich gestärkt, was als deutliche „Akzentverschiebung im bestehenden allgemeinen Zielsystem der Raumordnungspolitik" (Kratzenberg 1989) gewertet wurde. Die Raumordnung kann seither auf einen erklärten Auftrag zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen verweisen; das Vorsorge- und Nachhaltigkeitsprinzip wurde in § 1 unübersehbar verankert. Die verstärkte Hinwendung zu ökologischen Fragen dokumentiert schließlich auch der „Raumordnungspolitische Orientierungsrahmen" der Bundesregierung (BMBau 1993). In dessen „Leitbild Siedlungsstruktur" werden den in den Verdichtungs- und Ordnungsräumen bedenkliche Ausmaße erreichenden Dispersionsprozessen Leitvorstellungen „Dezentraler Konzentration" entgegengehalten. Das „Leitbild Umwelt und Raumnutzung" beinhaltet allgemeine Leitsätze planerischen Ressourcenschutzes; neben der Sicherung von Umweltpotentialen gering belasteter Räume wird eine aktive Verbesserung der gegebenen Umweltqualität durch Schaffung von Freiraumverbundsystemen und die Sanierung flächenhafter Schäden gefordert. Insgesamt aber bleibt festzustellen, daß trotz vielgestaltiger inhaltlicher Überschneidungen eine konsequente Zusammenführung oder Koordination von Um-

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I. Grundlagen

weltschutz und Raumordnung bis heute nicht realisiert wurde. Dies verdeutlichte zuletzt die 1993 mit dem Investitionserleichtungs- und Wohnbaulandgesetz vollzogene „Entkopplung" von Raumordnungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfung.

4.0 Rechtliche Rahmenbedingungen ökologisch orientierter Raumordnung Raumordnerische Einflußnahme zielt darauf, die räumliche Struktur einer Entwicklung zuzuführen (Bielenberg, Erbguth, Söffker 1979, Rn. 3). Das Wort Entwicklung drückt den Anspruch auf einen eigenständigen Gestaltungsauftrag aus, was eine neutralistisch begriffene Koordination ohne erklärtes räumliches Leitbild oder gar ein rein additives Nebeneinanderstellen von Raumnutzungsansprüchen von vornherein ausschließt. Raumordnung verlangt vielmehr nach einer Entflechtung widerstreitender Interessen durch wertende Gewichtung (Schmitz 1988); gefordert ist eine „leitbildgerechte Koordination" (Erbguth 1990), deren materielle Grundlage aus den in den §§ 1 und 2 R O G genannten Aufgaben, Leitvorstellungen und Grundsätzen abzuleiten ist. § 1 dieses Gesetzes bestimmt, den Schutz, die Pflege und Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen sowie die langfristige Offenhaltung der Gestaltungsmöglichkeiten der Raumnutzung im Rahmen der räumlichen Entwicklung zu gewährleisten. § 2 Absatz 1 Nr. 8 präzisiert diese Aufgabenstellung durch die Nennung von zu schützenden Naturgütern. Danach ist unter anderem für den Schutz, die Pflege und Entwicklung von Natur und Landschaft, insbesondere des Naturhaushaltes, des Klimas, der Tier- und Pflanzenwelt, für den Schutz des Bodens und des Wassers zu sorgen. Explizit gefordert wird die „sparsame und schonende Inanspruchnahme der Naturgüter, insbesondere von Wasser, Grund und Boden". Neben eher qualitativen Anforderungen ist damit auch eine unter quantitativen Gesichtspunkten gebotene Ressourcenschonung eingefordert. Die gesetzestextliche Verwendung des Begriffes „Naturhaushalt" und die ausdrücklich angesprochenen, zu berücksichtigenden „Wechselwirkungen" von Umweltschutzzielen können zudem als Eingang eines Ökosystemaren Denk- und Handlungsansatzes in das Gesetz gewertet werden und dokumentieren die im vorigen Abschnitt angesprochene Weiterentwicklung des Raumordnungsrechts. Die Grundsätze des R O G sind nach § 2 Absatz 3 „im Rahmen des ihnen zukommenden Ermessens gegeneinander und untereinander" abzuwägen. Während der Diskussion um die Novellierung des R O G wurde vorgeschlagen, das Gesetz um eine generelle Vorrangregelung für Umweltanliegen zu ergänzen. Danach sollte Belangen des Umweltschutzes Vorrang dann eingeräumt werden, wenn eine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung droht oder die langfristige und nachhaltige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet ist. Der Gesetzgeber griff dies nicht auf, obwohl eine derartige Regelung bereits durch die M I N I S T E R K O N F E R E N Z FÜR R A U M O R D N U N G (1972) und auch in den „Programmatischen Schwerpunkten" ( D E U T S C H E R BUNDESTAG 1985b) empfohlen wurde. Für die öffentlichen Planungsträger und auch die Raumordnung der Länder bleibt es damit beim Gebot prinzipiell gleichrangiger Abwägung aller Belange, eine Gewichtung kann erst nach Maßgabe konkreter Planungssituationen erfolgen. Trotz des Verzichts auf eine formale

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V o r r a n g b e s t i m m u n g spricht E r b g u t h (1990) v o n e i n e m aus d e n m a t e r i e l l e n B e s t i m m u n g e n d e s R O G a b l e i t b a r e n „ökologischen Optimierungsauftrag der Landesplanung" im Sinne einer „schwergewichtig ökologisch o r i e n t i e r t e n Z w e c k e n " verpflichteten Koordination von Raumnutzungsansprüchen. Ö k o l o g i s c h o r i e n t i e r t e R a u m o r d n u n g setzt die V e r f ü g b a r k e i t qualifizierter ö k o logischer E n t s c h e i d u n g s g r u n d l a g e n z w i n g e n d voraus. Als solche sind zunächst die r a u m b e d e u t s a m e n Inhalte der v e r s c h i e d e n e n U m w e l t f a c h p l ä n e zu bezeichnen (zu n e n n e n sind z.B. A b f a l l e n t s o r g u n g s p l ä n e nach § 6 Abfallgesetz, L u f t r e i n h a l t e p l ä n e nach § 47 B I m S c h G o d e r wasserwirtschaftliche R a h m e n p l ä n e nach § 36 Wasserhaushaltsgesetz). D e r A n s p r u c h ökologischer O r i e n t i e r u n g g e h t a b e r ü b e r e i n e s u m m a t i v e I n t e g r a t i o n s e p a r a t e r u m w e l t f a c h l i c h e r Belange weit hinaus. D i e s ergibt sich z u m e i n e n daraus, d a ß F a c h p l a n u n g e n zu einseitig nutzungso r i e n t i e r t e r R e s s o u r c e n b e w i r t s c h a f t u n g neigen ( H o p p e n s t e d t 1994) u n d auch u n t e r e i n a n d e r in Konflikt g e r a t e n (z.B. A b f a l l w i r t s c h a f t - Wasserwirtschaft). Z u m a n d e r e n k ö n n e n ökologische Z i e l s e t z u n g e n nicht als einzelne S a c h a s p e k t e in die G e s a m t p l a n u n g e i n g e b r a c h t w e r d e n , d a die ökologischen A n s p r ü c h e vielfach selbst querschnittsorientiert sind (Schmidt, R e m b i e r z 1987). A l s Beispiel sei die g e f o r d e r t e B e w a h r u n g der Q u a n t i t ä t u n d Q u a l i t ä t regionaler G r u n d w a s s e r v o r k o m m e n g e n a n n t ; diese A u f g a b e k a n n nicht d u r c h die Wasserwirtschaft allein b e wältigt w e r d e n , relevant sind vielmehr auch E n t w i c k l u n g e n in der L a n d w i r t schaft, der L u f t r e i n h a l t u n g u n d im Siedlungswesen (Versiegelung). Vor d i e s e m H i n t e r g r u n d k o m m t d e r Landschaftsplanung eine h e r v o r g e h o b e n e Stellung i n n e r h a l b d e r U m w e l t p l a n u n g e n zu. D a s B u n d e s n a t u r s c h u t z g e s e t z ( B N a t S c h G ) f o r d e r t in § 1 die nachhaltige S i c h e r u n g der Leistungsfähigkeit d e s N a t u r h a u s h a l t e s , worin eine weit ü b e r die A u f g a b e n d e s B i o t o p - u n d A r t e n schutzes sowie d e r l a n d s c h a f t s g e b u n d e n e n E r h o l u n g h i n a u s r e i c h e n d e A u f g a b e n stellung g e s e h e n wird (Finke 1994; K i e m s t e d t 1988; G a s s n e r , Piest 1988). D a n a c h hat die L a n d s c h a f t s p l a n u n g n e b e n d e n e n g e r e n fachlichen A u f g a b e n des N a t u r schutzes u n d der E r h o l u n g s v o r s o r g e ökologische B e i t r ä g e zur r ä u m l i c h e n G e s a m t p l a n u n g zu e r b r i n g e n , was § 5 A b s a t z 2 B N a t S c h G auch ausdrücklich verlangt. In A u s f ü l l u n g dieses „Integrationsgebotes" ( H a h n 1991) wirkt die L a n d s c h a f t s p l a n u n g als teilintegrierende, q u e r s c h n i t t s o r i e n t i e r t e Fachplanung. Q u e r s c h n i t t s o r i e n t i e r u n g b e d e u t e t p l a n u n g s p r a k t i s c h , d a ß die E r a r b e i t u n g von L a n d s c h a f t s p r o g r a m m e n u n d - r a h m e n p l ä n e n n e b e n einer fachlichen B e u r t e i l u n g - der E i g n u n g von L a n d s c h a f t s t e i l e n im Hinblick auf A n s p r ü c h e von L e b e w e s e n (vor allem des M e n s c h e n ) , - der E m p f i n d l i c h k e i t der L a n d s c h a f t g e g e n ü b e r U m w e l t b e l a s t u n g e n - sowie d e r Schutzwürdigkeit und - b e d ü r f t i g k e i t von L a n d s c h a f t s t e i l e n stets auch e i n e A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit a k t u e l l e n u n d a b s e h b a r e n N u t z u n g s a n s p r ü c h e n sowie eine darauf b e r u h e n d e O f f e n l e g u n g von K o n f l i k t e n e r f o r d e r t ( K i e m s t e d t 1988). L a n d s c h a f t s p l a n e r i s c h e I n h a l t e sind somit eine n o t w e n d i g e „ E n t s c h e i d u n g s g r u n d l a g e " f ü r den r a u m o r d n e r i s c h e n A b w ä g u n g s p r o z e ß , gleichzeitig a b e r auch dessen G e g e n s t a n d . W e n n dies inhaltlich als Q u e r s c h n i t t s o r i e n t i e r u n g bezeichnet wird, so ist doch zu b e a c h t e n , d a ß die endgültige G e w i c h t u n g k o n f l i g i e r e n d e r B e l a n g e d e n I n s t a n z e n d e r L a n d e s - und R e g i o n a l p l a n u n g v o r b e halten bleibt. E i n solcher, die P r o g r a m m e u n d P l ä n e der R a u m o r d n u n g ökologisch qualifizier e n d e r B e i t r a g d e r L a n d s c h a f t s p l a n u n g wird als „ökologische Planung", als

150

I. Grundlagen

„ökologischer Umweltschutz" seit Mitte der 70er Jahre intensiv diskutiert (Bierhals, Kiemstedt, Scharpf 1974; ausführlich auch Fürst u.a. 1992), eine Implementation steht aber bis heute aus. Die Landschaftsprogramme und -rahmenpläne der heutigen Generation werden den Ansprüchen des BNatSchG aufgrund ihrer überwiegenden Beschränkung auf den Biotop- und Artenschutz nicht gerecht (Jessel 1994). So reduziert sich planerische Umweltvorsorge bislang weitestgehend auf die „ökologische Optimierung" von Einzelvorhaben. Durch Raumordnungsverfahren, Umweltverträglichkeitsprüfungen oder landschaftspflegerische Begleitplanungen lassen sich ökologische Beeinträchtigungen von Projektplanungen minimieren, nicht jedoch ein wirkungsvoller Naturhaushaltsschutz gewährleisten.

5.0 Eigenschaften natürlicher und kulturlicher Ökosyseme Trotz des immensen technischen Fortschritts bleiben die Existenz des Menschen, sein Wohlbefinden und seine Gesundheit mit Eigenschaften der naturbürtigen Umwelt untrennbar verbunden. Der Mensch „entnimmt" der Umwelt lebensnotwendige Rohstoffe, er nutzt sie als Transportmedium und „Endlager" produzierter Schadstoffe oder erholt sich in unterschiedlich entfernten Naturräumen. Das Wissen um diese Umwelt-Funktionen und die Kenntnis ihrer räumlichen und funktionalen Ausprägungen ist für die Raumordnung von zentraler Bedeutung.

5.1 Natürliche Ökosysteme Mit Hilfe geologischer, bodenkundlicher und biologischer Untersuchungen lassen sich flächendeckend in sich relativ homogene Abschnitte der Erdkruste, sogenannte Ökotope (besiedelte Physiotope), abgrenzen. Diese Raumeinheiten, deren räumliche Ausdehnung von weniger als einem Hektar bis zu vielen Quadratkilometern reichen kann (Haber 1993), weisen spezifische Umweltbedingungen auf; in ihnen verlaufen einheitliche stoffliche und energetische Prozesse (Leser 1991). Die Beschaffenheit eines Ökotops wird vor allem durch das Klima, den Wasserhaushalt sowie den Boden bestimmt. Ökotope sind jedoch nicht nur durch eine gleichartige abiotische Ausstattung, sondern auch durch einen standorttypischen Besatz mit pflanzlichen und tierischen Lebewesen gekennzeichnet. Das Wirkungsgefüge abiotischer und biotischer Faktoren wird als Ökosystem bezeichnet. Eine Landschaft besteht wiederum aus einem charakteristischen räumlichen Gefüge unterschiedlicher topischer Ökosysteme, welche untereinander in funktionaler Beziehung stehen. Ein Ökosystem kann als ein Wirkungsgefüge von Lebewesen und deren anorganischer Umwelt, das offen und bis zu einem gewissen Grade zur Selbstregulierung befähigt ist, bezeichnet werden. Es besteht nicht nur aus der Summe seiner abiotischen und biotischen Bestandteile, sondern ist ein „neues übergeordnetes Ganzes mit systemimmanenten Eigenheiten" (Wittig 1993). Innerhalb eines Ökosystems lassen sich drei „biotische Hauptkomponenten" (Odum 1991) bzw. Organismenarten unterscheiden: - Photoautotrophe Organismen (Grüne Pflanzen, auch Produzenten genannt) erzeugen organische Substanz durch direkte Nutzung der Sonneneinstrahlung.

7. Petzold/Siedentop: Ökologische Grundlagen

151

- Heterotrophe Organismen (Konsumenten) setzen die produzierte organische Substanz in ihrem Stoffwechsel um. - Eine dritte Organismengruppe (Destruenten; vor allem Bakterien und Pilze) schließlich baut tote organische Substanz ab, mineralisiert diese. In natürlichen Ökosystemen besteht zwischen den an einer Biozönose (Lebensgemeinschaft) beteiligten Arten ein „inneres", „biozönotisches" Gleichgewicht. Ungeachtet auftretender Populationsschwankungen wird eine langfristige Konstanz der Individuendichte aller Arten einer Biozönose aufrechterhalten. Gleichgewichtszustände herrschen in Ökosystemen aber auch zwischen dessen biotischen und abiotischen Bestandteilen. Ineinander verschachtelte Prozesse des Auf- und Abbaus von Biomasse und Stoffen „führen zu einer ständigen Wiederverwendung der dem Ökosystem zur Verfügung stehenden Substanzen und im Idealfall zu einem vollständigen Stoffkreislauf" (Haber 1993, S. 17). Bei zeitlich und in ihrer Intensität begrenzten Veränderungen der abiotischen Bedingungen - diese müssen nicht unbedingt anthropogenen Ursprungs sein sorgen negative Rückkopplungen dafür, daß das gestörte System wieder in den Gleichgewichtszustand gerät. Ein Ökosystem besitzt in der Regel eine Vielzahl derartiger Regelkreise, wobei angenommen wird, daß die Anzahl auch durch das Alter und den Zustand des Ökosystems beeinflußt wird (Wittig 1993). Dieses selbstregulative Zurückführen in den ursprünglichen, den abiotischen Standortverhältnissen angepaßten Zustand erfolgt über Sukzessionsstufen mit jeweils charakteristischen Tier- und Pflanzenarten. Eine derartige, mit dem Begriff der Stabilität bezeichnete Eigenschaft von Ökosystemen ist aber nur bis zu einem bestimmten Belastungsniveau gewährleistet. Werden die Belastungen zu hoch oder dauern sie über einen langen Zeitraum an, gerät das System aus dem Gleichgewicht, es verändert seinen Zustand dauerhaft. Das gerade noch tolerierte Belastungsniveau kennzeichnet die systemspezifische Belastbarkeitsgrenze bzw. die Empfindlichkeit (Guderian, Braun 1993).

5.2 Kulturliche Ökosysteme Ökosysteme lassen sich naturwissenschaftlich-erkenntnisorientiert, aber auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für Lebewesen - wobei in aller Regel der Mensch gemeint ist - beschreiben. Folgende, durch die Gesellschaft in Anspruch genommene Ökosystemare Funktionen werden unterschieden (SRU 1987; Haber 1993): - Produktionsfunktionen sind Grundlage für die Versorgung mit Wasser, pflanzlichen, mineralischen oder fossilen Rohstoffen, - Trägerfunktionen dienen u.a. dem Abtransport oder schadenminimierenden Aufenthalt von Abfallstoffen (z.B. in Gewässern oder Deponien), - Regulationsfunktionen gewährleisten die Aufrechterhaltung naturhaushaltlicher Vorgänge (biologische Selbstreinigung, Filterfunktion, Wasserrückhaltung u.ä.), - Informationsfunktionen sind für Zwecke der Umweltbeobachtung (Biomonitoring, Bioindikatoren) sowie für Bildung und Erholung nutzbar. D e r Mensch hat zur Optimierung vor allem der Produktionsfunktionen Ökosysteme und ganze Landschaftsräume massiv nach primär technischen Gesichtspunkten verändert. Während unter natürlichen Bedingungen die Flächenausdeh-

152

I. Grundlagen

nung des Ökosystems durch die räumliche Heterogenität der abiotischen Standortbedingungen begrenzt wird, hat sich der wirtschaftende Mensch von diesen Gegebenheiten gelöst (Finke 1994). Das ursprüngliche Ökosystem-Gefüge wurde in zunehmenden Maße durch Nutz- und auch Siedlungssysteme immer größerer Ausdehnung ersetzt (Haber 1993), scheinbar weniger nutzbringende natürliche und naturnahe Landschaftsräume und -elemente finden sich entsprechend räumlich immer weiter zurückgedrängt (Abb. 2). Abb. 2

Geschätzte Veränderung der Flächenanteile der Haupt-Okosystemtypen der mitteleuropäischen Kulturlandschaft (nach Haber 1991).

HauptÖkosystemGruppen

Beispiele

natürlich

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Prozentualer Flächenanteil der HauptÖkosystemtypen

Zeit

Z u r Erzeugung hoher land- und forstwirtschaftlicher Erträge werden Ökosysteme großflächig in frühen Sukzessionsstadien mit hohem Energieaufwand „künstlich" stabil gehalten (Odum 1991). Neben hoher Produktivität weisen diese Systeme aber auch hohe Labilität auf, da die biologische und strukturelle Vielfalt häufig über kritische Werte hinaus herabgesetzt ist (Schemel 1980). Als Beispiele seien die hohe Anfälligkeit von Intensivforsten gegenüber Schädlingsbefall oder die Erosionsproblematik ausgeräumter Agrarflächen genannt. Mit landwirtschaftlichen Produktionsweisen verbundene - unerwünschte, aber bei gegebener Bewirtschaftungsintensität kaum vermeidbare - laterale und vertikale Stoffausträge belasten zudem benachbarte Ökosysteme oder Systembestandteile (z.B. Eutrophierung von Gewässern durch landwirtschaftliche Stoffeinträge). D e r a n d a u e r n d e Verlust biologisch aktiver Flächen in d e n V e r d i c h t u n g s r ä u m e n

bewirkt negative Veränderungen der siedlungsklimatischen Bedingungen und forciert die Abhängigkeit dieser Räume von den Ressourcen des Umlandes.

7. Petzold/Siedentop: Ökologische Grundlagen

153

Letzteres zeigt sich in Form automobiler Orientierung der Bevölkerung auf entfernte Erholungsräume oder der Fernversorgung von Großstädten mit Trinkwasser besonders deutlich. Die übermäßige Beanspruchung der in den Kernstädten und angrenzenden Bereichen verbliebenen Freiräume verringert deren ökologische Funktionsfähigkeit und steigert wiederum ressourcenbezogene „Außenorientierungen". Die kulturlandschaftliche Entwicklung kann so als ein Prozeß immer umfassenderer Trennung der in einem natürlichen Ökosystem räumlich integriert zusammenwirkenden Systembestandteile gekennzeichnet werden. Produktions-, Konsumtions- und Destruenten-Systeme sind in Form ausgedehnter Agrar- und Forstmonokulturen, Verdichtungsräume und einer technisierten Abfallwirtschaft heute großräumig entmischt (Haber 1993), worin eine grundlegende Ursache ökologischer Destabilisierung der mitteleuropäischen Kulturlandschaft zu sehen ist (Finke 1994). Die Problematik von Entmischungsprozessen liegt darin, daß „funktional spezialisierte" Räume andere gesellschaftlich geforderte Umweltfunktionen von Ökosystemen nicht gleichermaßen ausüben können. Agrar- und Forstmonokulturen sind hochproduktiv, sie üben aber nur in beschränktem Maße Regulationsfunktionen aus. Auch Urbane Systeme sind nicht zur Selbstregulation befähigt und daher auf sogenannte ökologische Ausgleichsleistungen (vor allem bioklimatischer Ausgleich und Erholungseignung) biologisch-geprägter Ökosysteme angewiesen. Aufgrund der begrenzten natürlichen wie technischen Möglichkeiten des räumlichen Austausches ökosystemarer Leistungen (z.B. lassen sich bioklimatische Austauschvorgänge nur sehr kleinräumig nachweisen) sind urban-industrielle Gebiete, aber auch Agrarräume, auf einen „Mindest-Besatz" mit naturnahen Flächen unbedingt angewiesen. Technisch organisierte, großräumige Mobilität (von Personen, Rohstoffen oder Abfällen) kann das „Funktionieren" eines stark arbeitsteilig organisierten Landnutzungssystems alleine nicht gewährleisten.

6.0 Prinzipien und Leitbilder Bislang wurden nur wenige theoretische Ansätze ökologisch orientierter Raumnutzung entwickelt. Die räumliche Heterogenität realer Umweltbedingungen beschränkt die Begründbarkeit schematisierter, den Zentrale-Orte- oder Achsenkonzepten vergleichbarer Ordnungsvorstellungen. Die relative Standortgebundenheit natürlicher Ressourcen stellt die bei primär ökonomisch geprägten Raumordnungskonzepten zentrale Verteilungsfrage (Verteilung von Kapital, Gütern, Personen oder Infrastrukturen) nur eingeschränkt. Demzufolge muß das gegebene räumliche Gefüge der Ökosysteme Ausgangspunkt von Nutzungsentscheidungen sein. Sehr wohl sind aus ökologischer Sicht aber plausible Prinzipien für das planerische Denken und Handeln ableitbar. Die sogenannte „Diversitätsthese" besagt, daß die ökologische Stabilität eines Raumes durch dessen strukturelle Vielfalt bestimmt wird (Haber 1979; Schemel 1980; Finke 1981). Als ideales landschaftsökologisches Organisationsmodell gilt danach eine kleinräumige, an die vielfältige abiotische und biotische Raumausstattung angepaßte und ökologische Nachbarschaftswirkungen zur Geltung bringende Durchmischung (Finke 1981). Die einzelnen Ökosysteme einer Landschaft können dabei unterschiedlich stabil sein, als Gesamtkomplex bilden sie jedoch ein stabiles landschaftliches Gefüge (Haber

154

I. Grundlagen

1978). Kulturlandschaftliche Stabilität in diesem Sinne wird demnach nicht naturwissenschaftlich, sondern „nach den Ansprüchen, die der Mensch an das Landschaftsgefüge stellt und an deren stetiger Erfüllung ihm gelegen ist" (Schemel 1980, S. 40), bemessen. Grundlegende Zielsetzung der Raumordnung muß es daher sein, ein Flächennutzungsmuster unter weitestgehender Ausschöpfung des landschaftlichen Regulations- und Regenerationspotentials zu entwickeln, was durch eine planvolle räumliche Anordnung von in unterschiedlichem Maße zu Produktion, Regulation und Information befähigten Ökosystemen erreichbar ist. Das Konzept der ökologisch-differenzierten Landnutzung (Haber 1978; Haber 1979) zielt auf eine planungsorientierte Operationalisierung der Diversitätsthese und beruht auf einer räumlichen Differenzierung der Kulturlandschaft in biologisch und technisch geprägte (urban-industrielle) Ökosysteme. Erstere werden nach zunehmender menschlicher Beeinflussung (Hemerobie) weiter differenziert in : - natürliche Ökosysteme, die vom Menschen nicht oder kaum beeinflußt sind und in den Industriestaaten heute kaum noch existieren (z.B. Wattenmeer, Hochalpen), - naturnahe Ökosysteme, welche vom Menschen zwar beeinflußt, aber dennoch zu Selbstregulation befähigt sind (z.B. Moore, Auenwälder) - halbnatürliche Ökosysteme, welche durch menschliche Nutzungen entstanden, aber nicht bewußt geschaffen sind und bei Aufgabe der Nutzung Veränderungen unterliegen (z.B. Kalkmagerrasen), - sowie Agrar- und Forstökosysteme, die bewußt geschaffen wurden und auf Außensteuerung angewiesen sind. Hinsichtlich der Anordnung dieser Systemtypen ergeben sich drei zentrale Handlungsansätze für die Raumordnung: Erstens ist die flächenmäßige Ausdehnung der Nutz- sowie urban-industriellen Ökosysteme zu begrenzen. Zweitens ist ein verträgliches Mindestmaß ökologischer Vielfalt innerhalb der Nutzökosysteme und urban-industriellen Räume zu gewährleisten (Prinzip der inneren Differenzierung) und drittens sind die noch bestehenden naturnahen Landschaftsbereiche zu sichern. Das Konzept ökologisch-differenzierter Landnutzung ist zunächst lediglich ein gedanklicher Rahmen für eine ökologischen Prinzipien folgende Entwicklung des Flächennutzungsmusters. Die planerische Umsetzung erfordert eine den Ausgangsbedingungen des Planungsraumes gerecht werdende sachliche und räumliche Operationalisierung. Darüber hinaus wird der Umsetzung des Konzeptes eine ökologisch stabilisierende Wirkung nur dann zukommen, wenn die stofflichen Belastungen auf Ökosystemare Belastbarkeitsgrenzen zurückgeführt werden können. Bei anhaltend hohen Schadstoffeinträgen bleiben kleinräumig differenzierte raumordnerische Funktionszuweisungen (z.B. Vorranggebiete zur Sicherung schutzwürdiger Bereiche) zweifelsohne wirkungsschwach, denn auch ohne eine direkte Inanspruchnahme von Landschaft wird diese in ihrer Funktionsfähigkeit durch Schadstoffe beeinträchtigt. Beispielhaft sei auf die beobachtbare unerwünschte Verschiebung der Artenzusammensetzung in empfindlichen Ökosystemen durch eutrophierende Stickstoffeinträge verwiesen. Neben der kulturlandschaftlichen Entmischung von Produktions- und Konsumtionssystemen vollziehen sich räumliche Differenzierungen auch innerhalb des Funktionsgefüges urbaner Systeme. Die in Verdichtungsräumen abgelaufenen

7. Petzold/Siedentop: Ökologische Grundlagen

155

Suburbanisierungsprozesse haben die Trennung der Daseinsgrundfunktionen (Wohnen, Arbeiten, Bildung, Einkaufen, Erholung) vorangetrieben, das Maß verkehrlicher Verflechtungen sowie die durchschnittlich im Verkehr zurückgelegten Entfernungen (Verkehrsaufwand) extrem erhöht. Siedlungsstrukturelle Entwicklungen stehen somit in direktem Zusammenhang mit Veränderungen des Verkehrsgeschehens und damit verbundenen Umweltbelastungen (vor allem die CO z - und Stickstoff-Emissionen). Vor diesem Hintergrund wird „Verkehrsvermeidung" als eine im wesentlichen durch Raumordnung und Städtebau getragene Strategie zur Begrenzung des weiteren Verkehrswachstums diskutiert. Verkehrsvermeidung zielt auf eine siedlungsplanerisch herbeigeführte Reduzierung des Verkehrsaufwandes. Durch eine bessere Zuordnung verschiedener Funktionen sollen zurückzulegende Entfernungen verringert und Bedingungen umweltschonender Mobilität verbessert werden. Die Raumordnung reagierte hierauf mit der „Rückbesinnung" auf bereits in den 60er Jahren entwickelte Konzepte „dezentraler Konzentration". Gestützt auf das „Ordnungsraumkonzept" (BEIRAT F Ü R R A U M O R D N U N G 1972; MINIS T E R K O N F E R E N Z FÜR R A U M O R D N U N G 1977) versucht die Regionalplanung seit langem, die Siedlungsflächenausdehnung in Verdichtungsräumen räumlich-punktuell entlang von leistungsfähigen Nahverkehrsachsen zu bündeln („punkt-axiale Konzentration"). Die Achsenzwischenräume sollen hingegen von weiterer Besiedlung freigehalten werden und „ökologische Ausgleichsfunktionen" wahrnehmen. Für idealtypische Fälle wurden verschiedene Modelle entwickelt (Abb. 3). Derartige Zielvorstellungen wurden durch zahlreiche wissenschaftliche Beiträge mittlerweile weitgehend bestätigt (Bergmann u.a. 1993; Holz-Rau 1993; Kutter 1993; Schallaböck 1991; Schmitz 1992; Würdemann 1993). „Verkehrsvermeidung durch Zentralität im Umland" (Kutter 1993, S. 289), eine ausgewogene Nutzungsmischung innerhalb des Siedlungsgefüges sowie eine sozialverträglich und städtebaulich vertretbare Dichte schaffen räumliche Voraussetzungen für eine „verkehrssparsamere Lebensorganisation" und decken sich darüber hinaus weitestgehend mit den oben genannten Prinzipien ökologisch orientierter Raumnutzung.

7.0 Abwägung und Entscheidung Als zentrale Aufgabe ökologisch orientierter Raumordnung kann die Abstimmung gesellschaftlicher Nutzungsansprüche mit der räumlich differenzierten Belastbarkeit und bereits bestehenden Belastung der Umwelt bezeichnet werden. Im Mittelpunkt steht die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Raumnutzungen nach deren Art und Intensität und ökologischen Leistungen (Funktionen) der Landschaft. Ökosysteme werden dabei nicht nur im Hinblick auf ihre Eignung für bestimmte gesellschaftliche Ansprüche untersucht, Analyse- und Bewertungsgegenstand sind auch die Wirkungen von Nutzungen auf den Naturhaushalt sowie ihre Rückwirkungen auf andere Nutzungen (Abb. 4). Die Identifikation von Nutzungskonflikten reicht jedoch nicht weit genug; es bedarf einer Bewertung, ob und in welchem Maße eine Planung, Maßnahme oder bestehende Nutzung vertretbar ist, auch wenn sie ökologische Funktionen oder andere Nutzungen beeinträchtigt. Jedes Straßenbauvorhaben, jegliche bauliche

156 Abb. 3

I. Grundlagen Zielvorstellungen für eine verkehrsarme Siedlungsstruktur (nach Rothengatter, Sieber 1993).



Mittelzentrum

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16. Jenkis: Wohnungswirtschaftspolitik

347

Gebäude-, sondern auch die Frei- und Verkehrsflächen und nicht zuletzt die Erholungsflächen wie die innergemeindlichen Grün- und Parkanlagen. Selbst dann, wenn man unterstellt, daß die Siedlungs- Verkehrsfläche der Versiegelung der Landschaft entspräche, kommt man zum Ergebnis, daß nahezu 90% der Grundfläche der Bundesrepublik noch unbebaut ist. Diese globale Aussage täuscht allerdings darüber hinweg, daß erhebliche Unterschiede im Zeitablauf und regional hinsichtlich der Flächeninanspruchnahme für Wohnen und Wirtschaft bestehen: In Ermangelung von Daten für die neuen Bundesländer nahm in der,alten' Bundesrepublik die Siedlungs- Verkehrsfläche zwischen 1981 und 1989 um 0,293 ha (von 2,752 ha = 1981 auf 3,045 ha = 1989) zu, d.h. täglich um rund 100 ha; im Zeitraum 1981-1985 belief sich die Flächeninanspruchnahme auf 114 ha täglich, von 1985-1989 auf nur 87 ha, da der Wohnungsneubau in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erheblich zurückging. Entscheidend für die Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsfläche in den 80er Jahren war der Suburbanisierungsprozeß von Bevölkerung und Arbeitsplätzen in den Kernstädten und deren Umlandräume; denn sowohl die Kernstädte als auch die Umlandräume weisen die mit Abstand höchste Inanspruchnahme von Siedlungsflächen auf. Die regionalen Unterschiede der Flächeninanspruchnahme werden dann deutlich, wenn man die Zunahme an der 1989 noch verfügbaren Freiflächen mißt: Dieser Indikator identifiziert die Teilräume, in denen angesichts geringer Freiflächen vorrangig Baulandknappheit und Abwägungsprobleme zwischen der Siedlungsentwicklung und dem Schutz von Freiraum auftreten können; in erster Linie sind dies die großen Kernstädte und ihr engeres Umland. 2 Die zusätzliche Flächeninanspruchnahme für Siedlungszwecke liegt im hochverdichteten bzw. verdichteten Umland der Kernstädte in den Agglomerationsräumen am höchsten; so beträgt z.B. der Anteil der Siedlungs- und Verkehrsfläche im München 39%. Allerdings ist zu Beginn der 90er Jahre vor allen Dingen in den alten Bundesländern auf Grund der Zunahme der Haushalte eine starke Nachfrage nach Wohnbauland zu verzeichnen; mittelfristig ist mit keinem Stillstand dieser Entwicklung zu rechnen, da alle Anzeichen dafür sprechen, daß in diesem Jahrzehnt ein neuer starker Siedlungsschub ansteht. Folglich werden die Raumordnung und Landesplanung sowie der Städtebau verstärkt mit der Forderung konfrontiert werden, mehr Bauland für Zwecke des Wohnens und der Wirtschaft bereitzustellen, d.h., eine verstärkte aktive Siedlungsflächenausweisungs- und -mobilisierungspolitik zu betreiben. Die Ausweisung von Wohnbauland sollte vorwiegend in den Randzonen von Städten und Ballungszentren - wo die Nachfrage besonders hoch ist erfolgen. Dieses erfordert aber eine Bauleitplanung, die sich nicht mehr an den engen Grenzen und Interessen der jeweiligen Gemeinde orientiert. Zugleich sollten insbesondere die Kommunen eine aktive Bodenvorratspolitik betreiben, d.h., preisgünstige Grundstücke zum Acker- und Grünlandpreis ankaufen, danach erschließen und den Bauherren anbieten. Es sind keine natürlichen Grenzen für die Bereitstellung von Bauland erkennbar; denn bei je 100 qm Brutto-Geschoßfläche und einer Geschoßflächenzahl von 0,6 erfordern eine Million Wohnungen lediglich 0,06% der Grundfläche des Bundes-

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II. Raumordnungspolitik

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