Wirtschaftliche Grundprobleme der Raumordnungspolitik [3 ed.]
 9783428474769, 9783428074761

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J. HEINZ MÜLLER

Wirtschaftliche Grundprobleme der Raumordnungspolitik

Wirtschaftliche Grundprobleme der Raumordnungspolitik

Von

Dr. J. Heinz Müller o. Prof. em. an der Universität Freiburg

Dritte, unveränderte Auflage

DUNCKER

& HUMBLOT I

BERLIN

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Müller, J. Heinz: Wirtschaftliche Grundprobleme der Raumordnungspolitik I von J. Heinz Müller.- 3., unveränd. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 ISBN 3-428-07476-9

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Unveränderter Nachdruck der l. Auflage von 1969 Gedruckt 1992 bei Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-07476-9

Vorwort Wenn die vorliegende Schrift den Titel "Wirtschaftliche Grundprobleme der Raumordnungspolitik" trägt, so geht sie davon aus, daß vielfach die tatsächliche räumliche Struktur von Gesellschaft und Wirtschaft nicht einem in seinen Einzelheiten näher zu fixierenden Ziel der Raurnordnungspolitik entspricht. Die Raumordnungspolitik steht dann vor der Aufgabe, nach Möglichkeiten zu suchen, die tatsächliche Raumstruktur in Richtung auf das erstrebte Leitbild der Raumordnung zu verändern. Das wirtschaftliche Element kommt im Rahmen der Raumordnungspolitik in zweifacher Hinsicht zum Tragen: Einmal erfolgt jedes menschliche Handeln unter der Bedingung der Knappheit der verfügbaren Mittel; diese müssen daher in der Weise eingesetzt werden, daß ein möglichst großer Erfolg eintritt. Dieses Prinzip gilt für alle Bereiche des menschlichen Handeins und unabhängig davon, welche Form der Wirtschaftsordnung in dem betreffenden Land vorherrscht. Für die marktwirtschaftliche Ordnung, der sich neben vielen anderen westlichen Staaten auch die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet hat, kommt ein weiteres Prinzip hinzu. In einem solchen Wirtschaftssystem erweist sich :bei konsequenter Befolgung der Spielregeln auf die Dauer nur jener Mitteleinsatz als erfolgreich, der ohne eine langfristige Unterstützung von Sei:ten der wirtschaftspolitischen Träger Bestand hat. Das entscheidende ökonomische Kriterium für den Erfolg einer Maßnahme zur langfristigen Änderung der räumlichen Struktur lautet dann, ob sich der durch die Förderung erreichte Zustand auch nach ihrem Auslaufen in der wirtschaftlichen Auseinandersetzung noch im erstrebten Sinne zu behaupten vermag. Nur insoweit aufgrund politischer Entscheidungen neben die ökonomischen Determinanten, die in einem rein marktwirtschaftliehen System die tatsächliche Raumstruktur bestimmen, außerökonomische Zielsetzungen treten, ist ein zeitlich nicht begrenzter Mitteleinsatz vertretbar. Die Grundsatzentscheidung für das marktwirtschaftliche System wird in diesem Fall durch politische Entscheidungen eingeschränkt, so daß das Prinzip, nach dem jede Förderungsmaßnahme vorübergehend sein soll, wenigstens teilweise aufgehoben wird. Die Grenze für eine solche Raumordnungspolitik liegt dann nicht mehr in dem zeitlichen Horizont, sondern allein im finanziellen Bereich, da der Träger dieser Politik in der Lage seih muß, die bei der Verfolgung außerökonomischer Ziele entstehenden Kosten auch langfristig zu tragen.

Vorwort

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Die beiden Prinzipien für eine marktwirtschaftlich orientierte Raurnordnungspolitik weisen ökonomischen Überlegungen eine zentrale Stellung zu. Sie wird oft nicht erkannt, vor allem von vielen Personen, die ohne ausreichende ökonomische Kenntnisse in diesem Fachbereich tätig sind. Diese Lücke will die vorliegende Schrift schließen; darüber hinaus versucht sie, nach Art eines Grundrisses einen geschlossenen Überblick über die wirtschaftlichen Grundprobleme der Raumordnungspolitik zu vermitteln. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer langjährigen intensiven Beschäftigung des Autors, des von ihm geleiteten Instituts für Regionalpolitik und Verkehrswissenschaft der Universität Freiburg sowie seines Seminars mit den darin behandelten Problemen, woran auch eine nicht geringe Zahl von Personen teilhatte, die in der Praxis der Raumordnungspolitik tätig sind. Ihnen allen sei an dieser Stelle aufrichtig gedankt. Nur der fortlaufende intensive Kontakt mit ihnen, vor allem aber mit den Assistenten, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Studenten ließ das Werk entstehen. Eine besondere Hervorhebung einzelner Personen erscheint nicht möglich, weil bei der langdauernden Fortführung der Diskussion nicht mehr feststellbar ist, wer bestimmte Beiträge besonders stark beeinflußt hat. Infolgedessen widme ich dieses Buch meinen Assistenten, Mitarbeitern und Studenten als Gesamtheit. Sie haben mit klugem Rat, scharf zugespitzten und bohrenden Fragen sowie großem Fleiß ganz erheblich zu diesem Werk beigetragen. Es war eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, wobei die Rollen der einzelnen immer wieder wechselten. Man kann nur hoffen, daß diese fruchtbare Form der wissenschaftlichen Arbeit - trotz aller Schematismen der "Hochschulreform" - auch in Zukunft möglich sein wird. Als einzige Ausnahme sei darauf hingewiesen, daß Herr Dipl.-Volkswirt E. Rinsche mich bei der Fertigstellung des endgültigen Manuskriptes tatkräftig unterstützt hat. Eine eindeutige Zurechnung ist aus diesen Gründen nur in dem Sinne möglich, daß Fehler und Unstimmigkeiten dem Autor der Schrift anzulasten sind (wobei dies nur deshalb hervorgehoben wird, weil viele Autoren das nicht für selbstverständlich halten und in ihren Vorworten besonders darauf hinweisen). Freiburg, im Januar 1969 J. Heinz Müller

Inhaltsverzeichnis I. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 1. Natürliche Faktoren und die historische Komponente . . . . . . . . . . .

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§ 2. Die Transportkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 3. Externe und interne Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 4. Die Zentralität von Orten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 5. Die Agglomeration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Realitätsbezogene Modellelemente als Grundlage der Raumordnungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur . . . . . . . . . . .

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§ 1. Das Leitbild der Raumordnungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Allgemeine Indikatoren zur Erfassung regionaler Besonder-

heiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Spezielle Indikatoren zur Erfassung regionaler Besonderheiten 75 3. Zum Problem der Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 3. Die tatsächliche Raumstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

§ 4. Divergenzen zwischen Leitbild und Lage: Anlaß für raumord-

nungspolitisches Aktivwerden ................................ . 107

V. Raumordnungspolitische Maßnahmen ...... . ............... .. ...... 111 § 1. Ansatzpunkte zur Konzeption einer Raumordnungspolitik . ..... 111 § 2. Verschiedene Kategorien raumordnungspolitischer Maßnahmen 122

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VI. Probleme der Koordinierung in einem mehrstufigen System raumordm,mgspolitischer Entscheidungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 § 1. Die Träger der Raumordnungspolitik in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . 128

1. Der Bund als Träger der Raumordnungspolitik ....... . ... .. 129

2. Die Länder als Träger der Raumordnungspolitik . . . . . . . . . . . . 130 3. Die Gemeinden als Träger der Raumordnungspolitik . . . . . . . . 132 § 2. Die Koordinierung von Entscheidungen in einem mehrstufigen

System von raumordnungspolitischen Entscheidungsträgern als grundsätzliches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

§ 3. Lösungsmöglichkeiten des Koordinierungsproblems in bezug auf

das Leitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

Sachverzeichnis ........... . . .. . ................ .... ............ .... . .. 143

J. Das Problem Entgegen allgemeiner Übung wollen wir vor der Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes dieses Buches die abstrakte Form festlegen, der die Ausführungen folgen werden. Dies erscheint zweckmäßig, vor allem weil die Beschreibung des Begriffes "Raumordnungspolitik" einige Schwierigkeiten bereitet. Ohne mit einer umfassenden Definition von "Politik" beginnen zu wollen, sollen die drei wesentlichen Bestandteile einer Politik den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bilden: Lage, Ziel, Maßnahmen. Der Träger politischer Gewalt versucht, die festgestellte Lage mit Hilfe politischer Maßnahmen in Richtung auf bestimmte Ziele umzugestalten. Auch die Wissenschaft findet in diesem abstrakten Gerüst ihren Platz: zum einen bei der Diagnose der Lage (einschließlich der Prognose), zum andem bei der Analyse des Instrumentariums zur Durchsetzung der Zielvorstellungen. Bei der Lagebeschreibung (in einem weiteren Sinne) geht es um die Ergründung des Was, Wie und Warum. Hier vermag die Wissenschaft zu helfen, desgleichen bei der Auswahl geeigneter politischer Maßnahmen, die sich auf eine Kenntnis der Wirkungszusammenhänge stützen muß. Den Zusammenhang der drei politischen Wesensmerkmale stellen in der praktischen Politik die Entscheidungsträger her. Die Verwaltungsstruktur und die tatsächliche Verteilung der Macht gewinnen auf diese Weise entscheidende Bedeutung für den Erfolg einer Politik. Diese Strukturskizze politischer Aktivität soll den Weg unserer Untersuchung vorzeichnen. In einem ersten Abschnitt werden - nach diesem grundlegenden Kapitel- theoretische Überlegungen über die Wirkungszusammenhänge des zu :gestaltenden Objektes angestellt (Teil II und Ill); damit sollen die Grundlagen bereitgestellt und eine gewisse Bekanntschaft mit dem Problemgebiet vermittelt werden. Ein weiterer Abschnitt wird den politischen Zielvorstellungen und der Beschreibung der tatsächlichen Lage gewidmet (Teil IV). In diesem Abschnitt ist die Rolle der Wissenschaft insofern angesprochen, als Methoden - wenn auch nur die einfachsten - zur Analyse tatsächlicher Strukturen dargestellt werden. Die Feststellung einer Diskrepanz zwischen Ziel und Lage führt dann zur Behandlung möglicher politischer Maßnahmen (Korrektive) im dritten Abschnitt dieses Grundrisses (Teil V). Schließlich werden Fragen der politischen Trägerschaft - insbesondere Koordinierungsprobleme- angesprochen (Teil VI).

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I. Das Problem

Um zum Gegenstand dieses Buches vorzudringen, fragen wir nun, was in die bislang beschriebene abstrakte Form gegossen werden soll. Zu klären ist also, was unter "Raumordnungspolitik" zu verstehen ist. Zunächst ist hervorzuheben, daß mit dem Begriff "Raumordnungspolitik" sowohl konkretes politisches Handeln als auch dessen wissenschaftliche Analyse belegt werden; Raumordnungspolitik steht also für "praktische Raumordnungspolitik" und "Theorie der Raumordnungspolitik". Was dieses Buch darzustellen beabsichtigt, ist eine "Theorie der Raumordnungspolitik" 1• Wenn im folgenden von Raumordnungspolitik gesprochen wird, so wird darunter angewandte Theorie im Sinne einer entscheidungslogischen Umkehrung der "reinen Theorie" verstanden. Der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang der Theorie wird zum MaßnahmeZiel-Verhältnis der Politik uminterpretiert. Das angedeutete Verhältnis zwischen Politik und Theorie läßt es darum zweckmäßig erscheinen, einer näheren Analyse des Begriffs der Raumordnungspolitik eine kurze Kennzeichnung der ihr korrespondierenden "reinen Theorie" voranzustellen. Als Gegenstand des der Raurnordnungspolitik entsprechenden Bereichs der Theorie, der als "Raumtheorie" bezeichnet werden könnte, kann unter Verwendung einer Formulierung v. Böventers "die Erforschung und möglichst weitgehende Erklärung der geographischen Verteilung sowohl der Produktion und des Konsums der Güter als auch der (Wohn-) Sitze und der Beschäftigungsorte der mobilen Produktionsfaktoren" 2 angesehen werden. Die sich an das Zitat anschließende Einschränkung v. Böventers "soweit diese durch ökonomische Faktoren bedingt sind" soll absichtlich ausgeschlossen werden. Wie weiter unten näher dargelegt und wie es darüber hinaus der Grundthese des Buches entspricht, erscheint eine Trennung zwischen ökonomischen und nichtökonomischen Faktoren und eine entsprechende Unterscheidung der Maßnahmen nicht sinnvoll3 • Raumordnungspolitik wäre demnach - als Umkehrung - die bewußte Beeinflussung der räumlichen (geographischen) Ordnung in Richtung auf ein bestimmtes Ziel oder Leitbild mit Hilfe einer Veränderung der erklärenden Faktoren (Maßnahmen). Diese Definition klammert aus der Raumordnungspolitik jenen Bereich von Maßnahmen aus, die zum Teil erhebliche Aus1 "Theorie der Raumordnungspolitik" allerdings nicht im strengen Sinne einer in sich geschlossenen Theorie (die es noch nicht gibt), vielmehr im Sinne einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit verschiedenen wesentlichen Aspekten des Problembereiches. 2 E. v. Böventer, Raumwirtschaftstheorie, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 8, S. 704. 3 Der Nichtökonom mag sich dann zwar noch daran stoßen, daß v. Böventers Definition einige ökonomische Termini enthält, jedoch erscheint ihre Beibehaltung möglich, weil sie- wie auch schon die Tatsache beweist, daß v. Böventer selbst anschließend die dargelegte Einschränkung auf das Ökonomische vornimmt- umfassender Natur sind.

I. Das Problem

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wirkungen auf die räumliche Struktur haben, die aber "nicht bewußt" - im Sinne einer geplanten Beeinflussung der Struktur des Raumes eingesetzt werden. Die Ausklammerung nicht bewußter, "raumbedeutsamer" Maßnahmen aus dem Bereich der Raumordnungspolitik bedeutet jedoch nicht, daß diese gegenüber den dem räumlichen Leitbild zugrunde liegenden Zielvorstellungen ungebunden wären. Vielmehr erwächst der Raumordnungspolitik aus ihnen - zusätzlich zur geplanten Beeinflussung räumlicher Strukturen- eine weitere Aufgabe: Die "Abstimmung" unbewußter, raumbedeutsamer Maßnahmen auf das räumliche Leitbild4. Eine weitere Abgrenzungsschwierigkeit ergibt sich hinsichtlich der Träger der Raumordnungspolitik: Soll man diesen Bereich allein auf die Träger hoheitlicher Gewalt beziehen, oder soll man auch Institutionen (z. B. Siedlungsgenossenschaften, Großunternehmen usw.) darin einbeziehen? Entgegen der sonst oft üblichen Verwendung des Wortteiles "-politik" erscheint es zweckmäßig, den Bereich der Raumordnungspolitik auf ein Tätigwerden von Trägern öffentlicher Gewalt zu beschränken, wobei dieses aber auch indirekt erfolgen kann ( z. B. über privatwirtschaftlich organisierte Planungsverbände). In diesem Sinne würden also in der BRD vor allem der Bund, die Länder und Gemeinden sowie die verschiedenen Verbände dieser Institutionen (z. B. Regionale Planungsgemeinschaften) als Träger der Raumordnungspolitik in Frage kommen. Bei der oft starken Zersplitterung der Träger der Raumordnungspolitik liegt es nahe, daß die entsprechenden Träger ausschließlich ihren Gebietsbereich sehen. Ein solches Verhalten wird in der Praxis nicht selten dadurch gefördert, daß viele für die Raumordnungspolitik grundlegende statistische Daten erst mühsam erhoben werden müssen. Aus Kostengründen und wegen der sonst fehlenden gebietliehen Kompetenz beschränkt man sich daher gerne auf das Gebiet des betreffenden Trägers der Raumordnungspolitik. Der äußere "Erfolg" bei der kartographischen Wiedergabe der Ergebnisse sind dann "Inselkarten", d. h . Karten, in denen ausschließlich das Untersuchungsgebiet erscheint. Nach innen gerichtet folgt daraus nicht selten auch eine Art von "Inseldenken". Vor einer solchen Sicht kann nicht eindringlich genug gewarnt werden. Zwar sind die zwischenräumlichen Verflechtungen nicht in jeder Hinsicht und in jedem Raum gleich eng; aber angesichts der entwickelten Verkehrs- und Wirtschaftsbeziehungen von der Vorstellung isolierter Räume 4 Die Koordinierungsfunktion der Raumordnungspolitik endet jedoch da, wo zwischen den Zielsetzungen, auf denen das räumliche Leitbild beruht, und den Zielen, die durch die raumbedeutsamen Maßnahmen zu verwirklichen sind, Zielkonflikte auftreten. Eine Abstimmung divergierender Zielvorstellungen kann nur auf einer übergeordneten politischen Ebene erfolgen.

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I.

Das Problem

auszugehen, heißt doch, einer Analyse völlig falsche Voraussetzungen zu Grunde zu legen. Die Vorstellung von auch nur einigermaßen klar abgrenzbaren Räumen, wie sie in der Regel mit dem Terminus "Region" verbunden wird, entspricht nämlich, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht der Realität5 • Den Trägern der öffentlichen Gewalt stehen für eine Beeinflussung der räumlichen Struktur im Sinne ihres Leitbildes zwei verschiedene Arten von Mitteln zur Verfügung: das Gebot (oder in seiner Negativform: das Verbot) und der Anreiz. In einer freiheitlich ausgerichteten Gesellschaft wird dabei das Gebot bzw. Verbot nur dann Anwendung finden, wenn es unumgänglich notwendig ist; sonst würde der menschliche Freiheitsraum unnötig beschränkt werden. Das Gebot weist dabei die Tendenz auf, den Freiheitsraum noch stärker einzuschränken als das Verbot, weil es eine bestimmte Gestaltung gebietet, während das Verbot nur eine bestimmte Gestaltungsmöglichkeit ausschließt. Allerdings kann das Verbot, wenn eine ganze Reihe von Gestaltungsformen davon betroffen ist, in der praktischen Auswirkung sich einem Gebot annähern. Es bleibt aber dabei dem Betroffenen immer noch die Möglichkeit eines völligen Ausweichens (d. h. des Verzichts auf eine entsprechende Maßnahme), was bei der schärfsten Form des Gebotes ausgeschlossen ist. Aus diesem Grunde kommt ein Gebot im Rahmen einer freiheitlichen Ordnung nur ausnahmsweise in Frage, während das Verbot häufiger angewendet wird6• So findet sich z. B. oft in den Bauleitplänen der Gemeinden, daß bestimmte Bauformen, etwa in bezug auf die Zahl der Geschosse oder die Gestaltung des Daches, nicht gestattet sind. In der Regel ist auch die Errichtung von Betrieben bestimmter Art in Wohngebieten nicht erlaubt, ohne daß freilich ein ganz bestimmter Standort positiv zwingend vorgeschrieben wird. Eine weitaus größere Bedeutung als Ge- und Verbote hat als Mittel der Raumordnungspolitik der Anreiz im weitesten Sinne. Es ist darunter nicht nur der einer speziellen Person gewährte Vorteil (etwa die Unterstützung eines Unternehmers, der sich in einem bestimmten Raum neu niederlassen will) zu verstehen, sondern auch der generelle an keine bestimmte Person gerichtete Anreiz, wie er sich z. B. aus dem Ausbau der Infrastruktur für die Ansiedlung neuer Personen ergibt. Allen 5 Das ist auch der Grund, warum die vorliegende Schrift den Terminus "Region" nach Möglichkeit vermeidet, weil mit ihm sehr weitgehend die Vorstellung von einer mit Hilfe von eindeutigen und allgemein gültigen Kriterien vorgenommenen räumlichen Abgrenzung verbunden ist. Wo dieser Begriff verwendet wird, soll er lediglich als eine nicht näher gekennzeichnete räumliche Einheit verstanden werden. 8 Es erscheint dem Wirtschaftswissenschaftler, daß auf den unteren Ebenen der raumordnerischen Gestaltung in dieser Hinsicht nicht selten zuviel getan wird. Vieles, was mit einem Verbot belegt wird, ließe sich auch auf andere Weise gestalten.

I. Das Problem

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diesen Maßnahmen ist gemeinsam, daß von ihnen Anreize für eine Änderung ausgehen und daß sie Geldmittel erfordern. Die ressortmäßige Einbettung der entsprechenden Maßnahmen ist in den verschiedenen Staaten bzw. Ländern und bei den Kommunen durchaus verschieden. Sie kann auch eine Verschiebung der Akzente in der Zielsetzung zur Folge haben, insbesondere in der Weise, daß engere ressortmäßige Gesichtspunkte, etwa die Entwicklung der Wirtschaft oder die Pflege des Waldes, sich gegenüber allgemein raumordnungspolitischen Gesichtspunkten stärker durchsetzen. Bei der weiteren Analyse des Begriffes der Raumordnungspolitik erhebt sich die Frage, ob sich ein speziell ökonomischer Bereich aussondern läßt, mit Hilfe welcher Kriterien das zu erreichen wäre und unter welchen Bedingungen eine derartige Abtrennung sinnvoll erscheint. Die Versuche der Abtrennung eines ökonomischen Bereichs basieren darauf, daß irgendwelche Maßnahmen als "wirtschaftspolitische" von dem Komplex der übrigen Maßnahmen abgetrennt werden. Jürgensen will unter diesem Aspekt zwischen "Regionalpolitik" oder "regionaler Wirtschaftspolitik" einerseits und "Raumordnungspolitik" andererseits unterschieden wissen. "Regionalpolitik oder regionale Wirtschaftspolitik erfaßt den ökonomischen Bereich der Raumordnungspolitik und damit die Summe der wi?·tschaftspolitischen Maßnahmen, die in den einzelnen Wirtschaftsräumen gesellschaftliche Leitbilder realisieren sollen7 ." Die Schlüsselstellung in dieser Definition nimmt der Begriff der "wirtschaftspolitischen Maßnahmen" ein. Sie sind bei Jürgensen nicht näher abgegrenzt. Jedoch kann der Begriff auf drei verschiedene Weisen verstanden werden: als bestimmt durch die Art der Maßnahmen, durch das die Maßnahmen tragende Ressort und durch den Inhalt der Zielsetzung. Will man mit der Bezeichnung "wirtschaftspolitisch" die Art der Maßnahmen charakterisieren, so ist man kaum in der Lage, eine wirksame Abgrenzung gegenüber anderen Maßnahmen vorzunehmen, bzw. wesentliche raumordnungspolitische Maßnahmen als "nichtökonomisch" zu bezeichnen. Olsen unterscheidet folgende Instrumente der Raumordnungspolitik: Öffentlichkeitsarbeit; Tätigkeit des Gesetzgebers oder der darauf fußenden Verwaltung; Einsatz und Lenkung öffentlicher Mittel (wobei die Dominanz der letzten Kategorie stark betont wird) 8 • Als nicht wirtschaftspolitische Maßnahme ließe sich allenfalls jener Bereich abtrennen, in dem die öffentliche Hand durch Gebot und Verbot auf die Raumstruk7 H. Jürgensen, Antinomien in der Regionalpolitik, Jb. f. Sozialwissenschaft, Band 14 (1963), S. 401 (Hervorhebung von mir, H. M.). 8 K. H. Olsen, Raumforschung, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover 1966, Sp. 1459 f.

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I. Das Problem

tur einwirkt. Diese finden sich jedoch weitgehend nur auf der kommunalen Ebene der Bauleitplanung (Flächennutzungsplan, Bebauungsplan). Die Art der Maßnahmen erscheint daher nicht als zweckmäßig€s Kriterium, die Raumordnungspolitik in einen Bereich zu unterteilen, in dem ökonomische, und einen anderen, in dem nichtökonomische Maßnahmen angewendet werden. Die ressortmäßige Abgrenzung müßte danach unterscheiden, ob eine bestimmte Maßnahme vom Wirtschaftsministerium oder einem anderen Ministerium des betreffenden Landes oder Staates getroffen wird. Für die Trennung der Verwaltung und die klare ressortmäßige Abgrenzung mag eine solche Unterscheidung nützlich und zweckmäßig sein, wobei dann sogar der Bereich der Maßnahmen des Wirtschaftsmintsteriums als "regionale Wirtschaftspolitik"' noch besonders herausgestellt werden könnte. Für eine systematische Behandlung des Problemsbereiches, wie es der Sinn der vorliegenden Abhandlung ist, kann dagegen auch dieses Kriterium nicht befriedigen, da die Ressortgliederung stets in gewisser Hinsicht willkürlich ist. In der BRD ergeben sich zudem gerade hinsichtlich der ressortmäßigen Gliederung und der Zuordnung der Raumordnungspolitik bzw. regionalen Wirtschaftspolitik sehr erhebliche Unterschiede zwischen dem Bund einerseits und den Ländern andererseits. Auch zwischen den verschiedenen Ländern bestehen erhebliche Abweichungen, nicht zuletzt weil die Zahl der Ministerien von Land zu Land oft stark voneinander verschieden ist. Würde man die ressortmäßige Abgrenzung als Kriterium übernehmen, so wäre der Gegenstand dieses Grundrisses durch die mehr oder weniger zufällige Ressortaufteilung (in einem bestimmten Lande zu einem bestimmten Zeitpunkt) fixiert. Es bliebe schließlich die dritte Möglichkeit, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen von den Zielvorstellungen her zu definieren. Als wirtschaftspolitisch wären dann jene Maßnahmen zu bezeichnen, die die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele beinhalten.. Reduziert man die Vie1falt wirtschaftspolitischer Zielsetzungen, so gelangt man zur Wohlstandssteigerung als übergeordneter Zielvorstellung der gesamten wirtschaftspolitischen Aktivität. Der wirtschaftliche Bereich der Raumordnungspolitik würde dann seine Aufgabenstellung von dieser übergeordneten wirtschaftspolitischen Zielsetzung empfangen; er würde den besonderen Akzent auf die räumlich-strukturelle Ausprägung des allgemeinen wirtschaftspolitischen Ziels setzen, es also um die r äumliche Dimension erweitern. Diese zielorientierte Definition bietet zwar den Vorteil, daß man ökonomische und nichtökonomische Bereiche der Raumordnungspolitik eini• W. Giel, Regionale Wirtschaftspolitik in der BRD, im Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung. Sp. 1671.

I. Das Problem

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germaßen eindeutig im politischen Kosmos ansiedeln kann. Es fragt sich jedoch, ob es überhaupt zweckmäßig oder zulässig ist, einen speziell ökonomischen Bereich aus der Raumordnungspolitik herauszulösen. Gerade an dem letzteren Versuch, das mit Hilfe einer Unterscheidung von ökonomischen und nichtökonomischen Zielen zu erreichen, zeigen sich die Gefahren einer solchen Abtrennung. Die raumordnungspolitischen Ziele umfassen gleichermaßen ökonomische und nichtökonomische Zielvorstellungen. Wenn man von einem Sonderfall absieht, bei dem die Verfolgung wirtschaftlicher Zielsetzungen mit "wirtschaftspolitischen" Maßnahmen die nichtökonomischen Zielvorstellungen konfliktlos erfüllt, muß bei der Planung des Einsatzes politischer Maßnahmen ein Gesamtkomplex gewichteter Ziele berücksichtigt werden; damit ist jedoch die Zweckmäßigkeit der Heraustrennung einer "regionalen Wirtschaftspolitik" aus dem Gesamtrahmen der Raumordnungspolitik in Frage gestellt. Auf einer ganz anderen Ebene liegt das Problem, welche Bedeutung ökonomischen Überlegungen im Rahmen der Raumordnungspolitik zukommt. Hiermit ist die Frage der Wirtschaftsordnung angesprochen: Mit der Entscheidung für das marktwirtschaftliche System fällt gleichzeitig eine Grundentscheidung für den Geltungsbereich des wirtschaftlichen Kalküls. Grundsätzlich werden in diesem Falle alle Bereiche des menschlichen Handelns, soweit sie nicht, wie etwa gewisse Teile der Sozialpolitik, ausnahmsweise und ausdrücklich davon ausgenommen sind, dem marktwirtschaftlichen Prinzip unterworfen. Außerökonomische Überlegungen -etwa der Versuch, Zielsetzungen zu verfolgen, die nicht dem Ergebnis des marktwirtschaftliehen Prozesses entsprechen - haben in dieser Wirtschaftsordnung keinen Platz. Auch für den Träger der Raumordnungspolitik impliziert die Entscheidung für das marktwirtschaftliche System bestimmte Handlungsrichtlinien. Unter ihnen spielt das Verbot der Gewährung langfristiger Erhaltungssubventionen eine ganz entscheidende Rolle10• Solange die Raumordnungspolitik nicht ausdrücklich von dieser Spielregel befreit ist - und eine solche Befreiung kann in der BRD nach dem heutigen Stand der Diskussion allenfalls für einzelne Teilbereiche der Raumordnungspolitik (Förderung des Zonenrandgebietes, Neubau von Straßen zur Erschließung bestimmter Gebiete usw.) unterstellt werden-muß sich die Raumordnungspolitik daranhalten. Sie ist daher, von .g anz besonders gelagerten Fällen abgesehen, gar nicht in der Lage, auf die Dauer unabhängig vom marktwirtschaftliehen Prinzip bestimmte Zielsetzungen zu verfolgen. So würde z. B. die Förderung nichtwettbewerbsfähiger Industrie-Standorte nach Auslaufen der För10 J. Heinz Müller, Bruno Dietrichs und Joachim Klaus, Grenzen der Raumpolitik im Rahmen einer Marktwirtschaft, Ordo Bd. XII, 1960/61, S . 147 ff.

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I. Das Problem

derung mit Notwendigkeit zum Untergang dieser Industrien führen. Wahrscheinlich wird sogar eine entsprechende Maßnahme der Raurnordnungspolitik von vornherein scheitern, weil ihre Träger privatwirtschaftliche Entscheidungen zwar zu beeinflussen vermögen, aber nicht bestimmen können. Der private Unternehmer wird sich aber in diesen Fällen auch durch die Förderungsmaßnahmen der Raumordnungspolitik kaum zu einer, später im Wettbewerb nicht zu haltenden Industrie-Ansiedlung verleiten lassen11 • Die ökonomischen Determinanten der tatsächlichen räumlichen Ordnung werden sich daher in einem marktwirtschaftliehen System auf Grund des besonderen Gewichtes, das diesen Faktoren in ihm verliehen ist, langfristig immer wieder durchsetzen, solange sich der Träger der Raumordnungspolitik an die durch die Wirtschaftsordnung geprägten Spielregeln hält. Allerdings wird das Gewicht ökonomischer Faktoren im Rahmen raumordnungspolitischer Überlegungen in dem Maße verringert, wie durch politische Entscheidungen, die in ihrer Bedeutung der Grundsatzentscheidung für das marktwirtschaftliche System entsprechen, auch außerökonomische Ziele herausgestellt werden. Bei der Durchsetzung solcher außerökonomischen Ziele bleiben die "ökonomischen" Determinanten der tatsächlichen Raumstruktur im Prinzip wirksam; ihre Wirkungen werden jedoch durch den Träger der Raumordnungspolitik über zusätzliche Maßnahmen neutralisiert, soweit sie mit den "außerökonomischen" Zielen nicht im Einklang stehen. Es bleibt jedoch zu bedenken, daß außerökonomische Zielsetzungen nicht im beliebigen Maße verfolgt werden können. Wichtige Grenzen werden hier wiederum durch ökonomische Faktoren gesetzt. Sie sind einerseits, gesamtwirtschaftlich gesehen, durch die internationale Konkurrenzfähigkeit gesteckt. Darüberhinaus müssen die Träger der Raumordnungspolitik in der Lage sein, die Kosten langfristig zu tragen, die ihnen bei der Verfolgung solcher außerökonomischer Ziele entstehen. Wenn z. B. eine Gemeinde mit der Zielsetzung, eine historisch gewachsene Landschaftsstruktur zu erhalten, auf die Ansiedlung von Industrie verzichtet, muß sie fähig sein, die entstehenden "Kosten" (in Form zusätzlicher Leistungen oder auch des Ausfalls von Steuereinnahmen) zu tragen. Gelingt das nicht, muß die außerökonomische Zielsetzung aufgegeben werden. 11 Bedenkt man jedoch in diesem Zusammenhang, daß in den letzten Jahrzehnten die Transportkosten zunehmend an Bedeutung für die Standortwahl verloren haben, ist bei geeigneter Wahl des Ansatzpunktes und bei einem räumlich konzentrierten Einsatz von Mitteln in der heutigen Zeit die Möglichkeit größer als früher, einen bestimmten Punkt vorübergehend so intensiv zu fördern, daß er sich anschließend im Wettbewerb behauptet. Rein vom Quantitativen her verbietet sich jedoch eine solche Politik für eine größere Fläche von selbst. Sie kann mit Erfolg nur an einzelnen kleineren Orten angewendet werden.

I. Das Problem

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Nach diesen Ausführungen zum Begriff der Raumordnungspolitik sind noch einige Bemerkungen zu den im folgenden angestellten theoretischen Überlegungen erforderlich. Wie bereits erwähnt, sollen diese theoretischen Ausführungen einerseits eine knappe Einführung in die räumlichen Probleme der Wirtschaft, andererseits gewisse Anhaltspunkte für eine rational konzipierte Raumordnungspolitik (und deren Schwierigkeiten) geben. Von dieser Aufgabenstellung leiten sich bestimmte Erfordernisse ab. Oberstes Postulat ist, daß diese theoretischen Gedankengänge nicht zu abstrakt sein dürfen, damit sie im Hinblick auf die Raumordnungspolitik operational sind. Besondere Gefahren für die Aussagefähigkeit vieler theoretischer Modelle ergeben sich aus der Beschneidung der Interdependenzen als Folge der Analyse eines räumlich abgegrenzten Gebietes. Das ist der Fall, wenn die Vorgänge außerhalb des betrachteten Gebietes völlig ignoriert werden, auch wenn diese Rückwirkungen auf den Untersuchungsraum haben. Ein solches methodisches Vorgehen ist nur dann vertretbar, wenn der Autarkiegrad des Untersuchungsgebietes groß ist. Will man den Interdependenzen Rechnung tragen, so kann man in einer ersten Näherung unterstellen, daß sich die anderen Gebiete in ihrem gegebenen Entwicklungsstand nicht verändern (Status-quo-Bedingungen). Vielfach wird man aber die Status-quo-Bedingungen dadurch ersetzen, daß man unterstellt, daß die herrschenden Entwicklungstendenzen in diesen Gebieten beibehalten bleiben, daß sie aber durch Entwicklungen in dem Untersuchungsgebiet nicht verändert werden. Eine weitere Form der Untersuchung, die jedoch keine Ausschnittsuntersuchung darstellt, müßte endlich die Wirkung des untersuchten Gebietes auf andere einschließlich der hieraus resultierenden Rückwirkungen erfassen. Daß solche Modelle wesentlich schwieriger sind als Ausschnittsuntersuchungen liegt auf der Hand, insbesondere weil dynamische Relationen eingebaut werden müssen. Darum werden in der Regel solche Rückwirkungen vernachlässigt und Ausschnittsuntersuchungen vorgezogen. Sie genügen umso eher: a) je kürzer der zu untersuchende Zeitraum ist (weil dann die für die Rückwirkungen in der Regel erforderliche Zeit nicht vorhanden ist), b) je stärker das untersuchte Gebiet gegenüber anderen Gebieten abgeschlossen ist, c) je höher die Kosten der Kommunikation, des Transportes usw. zur Überwindung der räumlichen Distanz sind. Auch staatliche Grenzen können, insbesondere wenn an ihnen hohe Warenzölle erhoben und/oder der Verkehr von Waren und Personen auf andere Weise erheblich erschwert wird, ein Gebiet gegen seine Nach2 Müller, R a umordnungspolitik

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I. Das Problem

barn so stark abschirmen, daß eine Ausschnittsuntersuchung, die nur dieses Gebiet berücksichtigt, den methodischen Anforderungen genügt. Ein wirklichkeitsnahes Modell sollte ferner die vorgefundene räumlich-historische Ausgangsstruktur einschließlich der innewohnenden Beharrungstendenz berücksichtigen. Diese Beharrungstendenz beruht auf der Immobilität der die Raumstruktur determinierenden Größen.

II. Das Phänomen der

Raumdifferenzierun~

§ 1. Natürliche Faktoren und die historische Komponente

Unsere bisherigen Betrachtungen erhoben den Raum wie selbstverständlich zum Problem. Diese Selbstverständlichkeit entspringt der unmittelbaren Erfahrung: man weiß nicht nur, daß in verschiedenen Teilen eines Landes auf Grund unterschiedlicher Produktionsgegebenheiten nicht die gleichen Güter erzeugt werden, sondern man erfährt auch die negativen Wirkungen des räumlichen Agglomerationsphänomens beispielsweise in langen Autostauungen bei der täglichen Fahrt zur Arbeit. Unterschiedliche Bevölkerungsdichten, regionale Entwicklungsunterschiede, Divergenzen in der Versorgung mit Infrastrukturleistungen usw. sind Ausdrucksformen der räumlichen Differenzierung. Die Faktoren, die die Raumdifferenzierung hervorrufen, sind Gegenstand dieses Abschnittes. Versucht man die Faktoren der Raumdifferenzierung zu systematisieren, so bietet sich im Anschluß an ihre Behandlung in der Literatur zunächst einmal an, die der menschlichen Einflußnahme weitgehend entzogenen Faktoren gesondert zu behandeln. Sie bestimmen - gewissermaßen als "Daten" vorgegeben, die sich kurzfristig nicht ändern lassen - das gesamte menschliche Leben und damit auch seine räumliche Differenzierung: Diese Bedingungen sind z. T. von Natur aus vorgegeben, z. T. hat sie der Mensch in seiner Geschichte erst geschaffen. Meist handelt es sich um eine Verbindung von beidem, indem der Mensch von der Natur vorgegebene Bedingungen langfristig durch sein Tätigwerden bewußt umgestaltet und verändert hat. Ursprünglich haben die dem Menschen von Natur vorgegebenen Faktoren eine äußerst wichtige Rolle gespielt. So waren z. B. im Rahmen der landwirtschaftlichen Produktion in früherer Zeit die Bodenqualität und das Klima von ganz ausschlaggebender Bedeutung. Mit dem Aufkommen der Industrie gewannen die Lagerstätten von Rohstoffen steigenden Einfluß, die sich nur an wenigen Punkten der Erdoberfläche fanden. Zu den natürlichen Einflußfaktoren, die in dieser Zeit eine große Bedeutung hatten, gehören in erster Linie das Eisenerz und die Kohle. Im Zuge der Entwicklung ist - und zwar in ständig steigendem Maße - zu den natürlichen raumdifferenzierenden Größen ein weiterer Faktor hinzugekommen·: Bestimmte Gestaltungen und Umgestaltungen der Natur durch den Menschen gewinnen für seine weiteren Handlungen

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

ebenfalls Datencharakter. Ohne irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit sei daran erinnert, daß schon in frühen Zeiten die Wohnorte der Bevölkerung oft an solchen Punkten verblieben, die mit einigem Aufwand in einen Zustand der Verteidigungsbereitschaft gebracht worden waren. Mit dem beginnenden Ausbau von Verkehrswegen ging der Einfluß der historischen Komponente weiter. Oft haben die Römerstraßen vielen Jahrhunderten als bevorzugte Verbindungslinien gedient und damit raumdifferenzierend gewirkt. Dasselbe gilt in wesentlich späterer Zeit z. B. für die französischen Kanäle. Auch im Zuge der vordringenden Industrie hat die historische Komponente ihren Einfluß weiter verstärken können. So hat sich nicht selten über Jahrhunderte, z. T. bis in die Gegenwart hinein, ein Betrieb an einem Wasserlauf erhalten, der ursprünglich einmal direkt für betriebliche Zwecke genutzt wurde, heute aber seine Bedeutung längst verloren hat. In diesen Bereich gehört auch, daß in der Gegenwart viele alte Industriegebiete, die durch die Nähe von Kohle und/oder Eisenerz bestimmt waren, in ihrer räumlichen Lage fast unverändert bleiben, obwohl die ursprünglich standortbestimmenden Faktoren nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher besitzen. Auch die Tatsache, daß an einem bestimmten Ort eine größere Menge von Menschen ihren Wohnsitz hat, wirkt tendenziell für die Zukunft in Richtung einer Erhaltung diese6 Wohnortes, und damit der Verlagerung neuer Industrien an diesen Ort oder in seine Nähe. Vergleicht man den Einfluß der natürlichen Faktoren mit dem der historischen Komponente, so zeigt sich, daß die Natur, deren Einfluß zunächst klar dominierte, in ihrer Bedeutung ständig zurückgegangen ist. Dagegen haben die vom Menschen gestalteten Bedingungen ständig an Wirksamkeit gewonnen, und zwar unabhängig davon, ob diese dem Bereich der privatwirtschaftliehen Initiative angehören oder zum öffentlichen Bereich zählen. Zwar ist die historische Komponente hinsichtlich ihrer raumdifferenzierenden Wirkung prinzipiell zu beeinflussen. Aber eine solche Einflußnahme erfordert Zeit und meist erhebliche Kosten. Infolgedessen spielt in ihrer tatsächlichen Auswirkung, zumindest kurzfristig, die prinzipiell mögliche Veränderlichkeit der historisch gegebenen Faktoren keine große Rolle. Untersucht man die tatsächliche Raumstruktur eines Landes nach verschiedenen Merkmalen, wie Verteilung der Wohnsitze, Standorte für Industrie und Gewerbe usw., so geht deren unterschiedliche Verteilung häufig auf natürliche Faktoren oder die historische Komponente zurück. Nicht selten findet sich sogar eine Verknüpfung beider Gesichtspunkte, indem einmal vorhandene, im Laufe der Zeit aber weggefallene natürliche Vorteile auch heute noch den Standort bestimmen. So üben unter-

§ 2.

Die Transportkosten

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schiedliche Bodenqualitäten und klimatische Unterschiede, die ungleichmäßige Verteilung nutzbarer Rohstoffvorkommen, die unterschiedliche Ausstattung mit natürlichen und künstlich veränderten bzw. geschaffenen Verkehrswegen und vieles andere mehr einen starken Einfluß auf die heutige räumliche Verteilung der Bevölkerung aus. In einem weiteren Sinne sollen zu diesem Faktor auch die unterschiedliche Mentalität der Menschen, insbesondere hinsichtlich ihrer Art zu wirtschaften und ihrem Verhältnis zum Wirtschaftlichen, gerechnet werden. Auch hierbei handelt es sich um einen kurzfristig nicht nennenswert zu beeinflussenden Faktor der Raumdifferenzierung. Eine jede Raumordnungspolitik muß sich der Tatsache bewußt sein, daß die natürlichen Faktoren und in gleicher Weise die historische Komponente ihr Grenzen setzen, die sie u. U. auch unter Einsatz erheblicher Mittel nicht überwinden kann. Nur sehr langfristig kann man versuchen, mit geeigneten Mitteln hiergegen vorzugehen; aber auch heute noch gibt es einzelne natürliche Faktoren (z. B. Wüsten, Hochgebirge), deren Wirkung nur in besonders gelagerten Fällen (z. B. Erdölfunde in einer Wüste) ausgeschaltet werden kann. § 2. Die Transportkosten

Mit der raumdifferenzierenden Wirkung der Natur und der historischen Komponente hängt die Wirkung der Transportkosten eng zusammen, kann man doch die Transportkosten als jenen Preis auffassen, der zu entrichten ist, wenn sich eine Ortsveränderung eines Gutes im Zuge seines Produktionsprozesses vom Rohstoff bis zum Konsumgut nicht vermeiden läßt. Thünen hat in seinem "Isolierten Staat" die Bedingungen für eine optimale Standortorientierung innerhalb der Landwirtschaft herausgestellt. Alfred Weber hat die gleiche Frage hinsichtlich des industriellen Standortes bearbeitet. Als Resultat der Untersuchung Thünens ergibt sich die Herausbildung konzentrischer Kreise um das in der Mitte des isolierten Staates gelegene Konsumzentrum, wobei als Folge zunehmender Transportkasten die Intensität der Bebauung ständig abnimmt. Alfred Webers Theorie läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die Lage des günstigsten Standorts rein unter Transportkasten-Gesichtspunkten davon abhängig ist, wie stark in die Produktion des betreffenden Gutes überall verfügbare "Ubiquitäten" und standortmäßig gebundene Güter eingehen. Bei den letzteren ist wiederum zu unterscheiden, ob sie im Zuge des Produktionsprozesses gewichtsmäßig nichts verlieren oder ob sie einen Gewichtsverlust erleiden. Je stärker Ubiquitäten an der Produktion beteiligt sind, umso stärker drängt der industrielle Standort an den Ort der Verwendung des Produktes. Umgekehrt weist die Lagerstätte des-

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

jenigen Rohstoffs als Standort einen besonderen Vorzug auf, bei dem sich ein erheblicher Gewichtsverlust im Zuge der Produktion ergibt. Mit seinem Hinweis auf den hohen Gewichtsverlust bei der Kohle (soweit sie rein als Wärmequelle dient, beträgt dieser sogar 100 °/o) erklärt Alfred Weber die für seine Zeit besonders typische örtliche Zusammenballung der Schwerindustrie bei den Kohlevorkommen, soweit nicht der aus den ,gleichen Gründen auch vorteilhafte Erzstandort vorgezogen wird. Im Laufe der Zeit haben sich in bezug auf die Transportkosten ganz erhebliche Änderungen ergeben. Zunächst ist es gelungen, weitere Transportmittel zu entwickeln, die hinsichtlich ihrer Kosten billiger sind: die Eisenbahn, das Dampfschiff. Die Folge davon war, daß die Transportkasten relativ zu den übrigen Kosten an Bedeutung verloren. In jüngerer Zeit sind die Elektrizität als verhältnismäßig billig zu transportierende Energieart sowie die Rohrleitung als besonders preisgünstige Transportart hinzUJgekommen. Auch dies führte zu einer Abnahme der Bedeutung der Transportkosten für die StandortwahL In die gleiche Richtung wirkte die Tatsache, daß es gelang, höherwertige Rohstoffe (z. B. Erze mit einem höheren Metallgehalt) zu finden bzw. herzustellen, so daß der Gewichtsverlust, der bei einer Verarbeitung abseits des Fundortes eintritt, sich erheblich reduzierte. Mit der stärkeren Technisierung des Transportwesens haben andere Faktoren der Raumdifferenzierung, so insbesondere die natürlichen Faktoren und die historische Komponente, zunächst an Einfluß gewonnen. So boten z. B. Standorte an einer gut ausgebauten Wasserstraße oder an einer doppelgleisigen Eisenbahnstrecke den Benutzern erhebliche Vorteile, wobei diese Wasserstraßen bzw. Eisenbahnstrecken in ihrem Verlauf oft weitgehend von der Natur bestimmt waren. Erst die jüngsten Entwicklungen bei der Elektrizität, beim Erdöl und Erdgas dürften den Einfluß dieser Faktoren gemildert haben, soweit es sich um die Beschaffung der erforderlichen Energie handelt. Die flächenaufschließende Wirkung des Verkehrs, die einer weiteren Raumdifferenzierung entgegenwirkt, ist naturgemäß bei solchen Verkehrsmitteln am größten, die relativ unabhängig von bestimmten Verkehrsadern sind. Das Kraftfahrzeug als am wenigsten liniengebundenes Verkehrsmittel hat denn a~uch die wirtschaftliche Entwicklung in Gebiete vorangetrieben, die vorher wegenFehlenseiner guten Eisenbahnstrecke oder einer schiffbaren Wasserstraße auf der Schattenseite der Entwicklung gelegen waren. Insgesamt gesehen kann man davon auagehen, daß die Transportkasten als standortbestimmender und damit raumdifferenzierender

§ 3. Externe und interne Effekte

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Faktor an Bedeutung verloren haben und auch in der Gegenwart noch weiter verlieren. § 3. Externe und interne Effekte

Von großer Bedeutung sind in der modernen Zeit in bezug auf die Raumdifferenzierung auch externe und interne Effekte, die ihrerseits in externe und interne Ersparnisse bzw. externe und interne Kosten unterteilt werden können, je nachdem, ob sie sich in positivem oder negativem Sinne auswirken. Interne Effekte sind solche, die sich innerhalb einer Wirtschaftseinheit, d. h. in Abhängigkeit von ihren eigenen Entscheidungsvariablen, ergeben. So fallen z. B. für einen Betrieb interne Ersparnisse an, wenn dessen Stückkosten bei steigender Produktion sinken. Nehmen die Stückkosten mit wachsender Produktion zu, so ist der Fall interner (Zusatz-)Kosten gegeben. Ursächlich für solche internen Effekte können Unteilbarkeiten von Aggregaten sein, aber auch eine bessere Unternehmensorganisation und effizienterer Einsatz der Produktionsfaktoren bei steigender Produktion. Externe Effekte1 liegen vor, wenn die Produktion einer Wirtschaftseinheit nicht nur von ihren eigenen Aktivitäten, sondern auch von denen anderer Wirtschaftseinheiten abhängt (z. B. Interdependenz der Produktionsfunktionen). Erhöht ein Unternehmen seine Produktion und senken sich hierdurch die Kosten eines anderen Unternehmens, so liegen marginale externe Ersparnisse vor; werden die Kosten der anderen Unternehmung hingegen erhöht, sind marginale externe Kosten gegeben. Resultieren die Wirkungen aus der räumlichen Nachbarschaft von Betrieben derselben Branche, so spricht man von localization economies bzw. diseconomies; handelt es sich um Betriebe verschiedener Branchen, so sind die Bezeichnungen urbanization economies bzw. diseconomies gebräuchlich2. Interne Ersparnisse, definiert als sinkende Stückkosten, bedingen c. p. -unter der Hypothese der Gewinnmaximierung- eine Raumdifferenzierung in Gestalt einer Konzentration der Produktion auf wenige Großbetriebe und Standorte3 • Externe Ersparnisse auf Grund von "urbanization economies" bewirken der Tendenz nach räumliche Konzentration von Unternehmungen. Externe Kosten, die durch eine enge räumliche 1 Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, externe Effekte zu definieren; für die folgenden Überlegungen genügt die obige Definition. Zum Problem der externen Effekte im einzelnen vgl. W. Karaschewski, Externe Effekte in statischer, dynamischer und räumlicher Sicht, Diss. Freiburg 1967. 2 Vgl. W. Isard, Location and Space Economy, New York und London 1956, S.176 ff. 3 Dabei sei an dieser Stelle von etwaigen "kompensatorischen" Wirkungen der Transportkosten abgesehen.

II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

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Verbindung mit anderen Unternehmen entstehen, wirken tendenziell in Richtung auf eine disperse räumliche Verteilung der Produktionsstandorte. Neben die externen Wirkungen innerhalb des privaten Sektors der Wirtschaft treten vor allem öffentliche Güter als Quelle externer Effekte. Diese wirken sich überwiegend agglomerationsfördernd aus; sie entspringen einerseits aus den Unteilbarkeiten der Anlagen (z. B. Mindestkapazitäten bei Straßen und bei der Wasserversorgung), andererseits sind sie durch den Charakter der öffentlichen Güter (im Sinne von Samuelson) bedingt: Die Individuen beeinträchtigen sich gegenseitig beim Konsum von Leistungen öffentlicher Güter nicht; das Gut wird nicht verzehrt, so daß meist die Anwendung des marktwirtschaftliehen Exklusionsprinzips (über den Preis) nicht erforderlich isV. Von großer Bedeutung sind Wechselwirkungen zwischen internen und externen Ersparnissen und Kosten einerseits sowie den Transportkosten andererseits. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich, wenn man zwei gedankliche Grenzfälle näher untersucht. Der erste sei dadurch gekennzeichnet, daß für alle Standorte gleiche Produktionsfunktionen gelten und daß keine internen oder externen Ersparnisse oder Kosten auftreten; das bedeutet, daß an allen Orten unabhängig von den Größen der betrieblichen Produktion und auch unabhängig von etwaigen Nachbarbetrieben die Stückkosten stets gleich hoch sind. In diesem Falle geben dann die Transportkosten den Ausschlag im ökonomischen Kalkül der StandortwahL Bei beliebiger Teilbarkeit der Produktion müßte man dann an jedem Ort das betreffende Gut in Höhe der örtlichen Nachfrage produzieren, um die Transportkosten und, da diese allein variieren, damit auch die Gesamtkosten zu minimieren. Es ergäbe sich in diesem Fall vom Wirtschaftlichen aus gesehen kein (zusätzliches) Element, das die räumliche Konzentration begünstigt, allerdings auch keines, das gegen eine örtliche Konzentration der Produktion spricht, soweit diese über den örtlichen Bedarf hinausgeht: Die Produktion würde in diesem Fall stets an dem Ort erfolgen, an dem die Nachfrage nach dem betreffenden Gut auftritU. Diesem Fall räumlicher Streuung entsprechend der Nachfrage steht das Extrem starker räumlicher Konzentration gegenüber. Wenn der Gütertransport keine Kosten verursacht, interne und externe Ersparnisse dagegen eine bedeutende Rolle spielen, sind starke räumliche Konzentrationstendenzen zu verzeichnen, die das Maß der Ballung der Produktion weit über dasjenige der Nachfrage hinaus steigern können. Diese beiden Extremfälle zeigen, in welchem Maße die tatsächliche räumliche Struktur verschieden sein kann je nach der Höhe der internen und externen Effekte und der Transportkosten. 4

Vgl. W. Karaschewski, a.a.O., S. 10.

§ 4. Die Zentralität von Orten

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Dabei ist das jeweilige Kräfteverhältnis der Faktoren entscheidend abhängig von der Produktionstechnik und dem Entwicklungsstand der Volkswirtschaft. Es läßt sich auch in dieser Beziehung feststellen, daß das Gewicht der Transportkosten innerhalb der letzten Jahrzehnte abgenommen hat. Wegen der Entwicklung der Transporttechnik sind die Transporttarife weniger stark gestiegen als der Durchschnitt der anderen Preiskomponenten. Das Gewicht der internen und der externen Ersparnisse dürfte demgegenüber sogar noch an Bedeutung gewonnen haben. § 4. Die Zentralität von Orten

Einen anderen Versuch, Teilaspekte der Differenziertheit des Raumes zu erklären, stellt die Lehre von den zentralen Orten dar. Diese Lehre wurde vor allem von Christaller vorangetrieben5 . Im Gegensatz zu Thünen, Launhardt und Alfred Weber, die die optimalen Standorte spezialisierter Wirtschaftseinheiten suchen, versucht Christaller, eine Systematik und Standortlehre der zentralen Funktionen zu entwerfen. Als zentrale Funktionen begreift er die Leistungen des tertiären Sektors (Dienstleistungen), und zwar zum einen die privatwirtschaftliehen Leistungen (Handel, Handwerk, Banken, freie Berufe), zum anderen die Dienste der öffentlichen Hand (Schulen, Verkehr, Verwaltung). Träger zentraler Funktionen sind die zentralen Orte, in denen sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Institutionen konzentrieren. Die bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgende räumliche Konzentration dieser Aktivitäten bewirkt, daß ein Ort jeweils die Versorgung für ein mehr oder weniger ausgedehntes Umland übernimmt. Art und Qualität der in einem Ort konzentrierten Funktionen bestimmen dessen Zentralitätsgrad und die Größe des Einzugsbereiches (die sich wiederum nach den Kostenfunktionen der jeweils erbrachten Leistungen richtet). Sehr deutlich manifestiert sich die Zentralität eines Ortes in den Beziehungen zwischen Gemeinde und Umland'. Christallers System der zentralen Orte leitet sich aus drei verschiedenen Prinzipien ab: aus dem Versorgungsprinzip (das am bedeutendsten ist), dem Verkehrs- und dem Verwaltungsprinzip. Aufgabe der zentralen Orte aller Stufen ist nach dem Versorgungsprinzip, ihr Einzugsgebiet bei minimalen Transportkosten möglichst gut mit den jeweiligen zentralen Gütern und Diensten zu versorgen. Das Ergebnis der Ableitung s Vgl. W. Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland-Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Jena 1933. • 0. Boustedt, Die zentralen Orte und ihre Einflußbereiche, in: Proceedings of the IGU Symposium in Urban Geography Lund 1960 (ed. by K. Norborg), Lund 1962, S. 202.

II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

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ist eine regelmäßige Landschaftsstruktur, in der sich zentrale Orte verschiedener Stufen zu einem hierarchischen System ordnen. Man unterscheidet dabei heute mit Vorliebe folgende Stufen7 : (1) Mittelpunkt-Gemeinden (Kernsiedlungen),

(2) Kleine zentrale Städte (Unterzentren), (3) Mittlere zentrale Städte (Mittelzentren), (4) Großstädte.

Zu (1): Allgemein werden als zentrale Orte niederster Ordnung- unabhängig von unterschiedlichen Bezeichnungen in Wissenschaft und Praxis vornehmlich diejenigen Gemeinden angesehen, die andere (Nachbar-) Gemeinden in den unteren Bedarfsstufen sozialökonomischer Grundausrüstung mitversorgen. Zu (2): Die nächste Stufe, die sogenannten Unterzentr.en oder "A"- und "K"Orte, wie Christaller sie nennt8 , sind nicht nur Zentren ihrer eigenen Nahbereiche, sondern- vor allem im ländlichen Gebiet- Zentren für mehrere zentrale Orte niederer Stufe (Mittelpunktgemeinden) und deren Nahbereiche. Auf privatwirtschaftlichem Gebiet gehören zur "Regelausstattung" dieser zweiten Stufe höhere Dienstleistungsangebote, Markteinrichtungen, Fachhandel, Versicherungen, Kreditinstitute und Sparkassen. Zu (3): Wie die zweite Stufe, erfüllen die Mittelzentren die Funktion des Zentrums für die Bereiche mehrerer zentraler Orte der beiden unteren Stufen, häufig als Mittelpunkte geschlossener regionaler Bereiche. Von entscheidender Bedeutung für ihre Funktion ist nicht mehr ihr eigener Nahbereich, wie bei den beiden ersten Stufen, auch wenn er noch vorhanden ist- die zentralen Orte der höheren Stufen erfüllen ja gleichzeitig auch ihre Funktion als zentrale Orte niederer Stufen für ihre jeweiligen Einzugsbereiche - , sondern der überörtliche und regionale Aufgabenbereich. Ihre Funktionen können bei der Verschiedenartigkeit der jeweiligen Umstände und den teilweise erheblichen Unterschieden in der geschichtlichen Entwicklung dieser Zentren nur allgemein umschrieben werden. In der Regel sind sie jedoch unter privatwirtschaftlichem Aspekt die geeigneten Standorte für Wirtschafts-, insbesondere 1 Vgl. zum folgenden: Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände: Zentrale Orte, o. 0., o. J., S. 6. s "Kreisstädtchen" und "Amtsorte", W. ChristaHer, a.a.O., S. 69 ff.

§ 4. Die Zentralität von Orten

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Einkaufszentren (Warenhäuser, Großhandel, Banken, Versicherungen, Absatzorganisationen). Zu (4): Die letzte Zentralitätsstufe, die Großstadt, hebt sich viel deutlicher von den drei ersten Stufen ab, als diese voneinander. Ihre Ausstrahlungskraft geht über den regionalen Bereich hinaus und erstreckt sich oft auf ein ganzes Land. Ebenso wie auf privatwirtschaftlicher Basis übernehmen die verschiedenen Zentralitätsstufen auch im Bereich der öffentlichen Wirtschaft, der sich überwiegend auf die Versorgung mit Kollektivgütern erstreckt, bestimmte Funktionen. So reicht der Katalog der von den Kernsiedlungen (Mittelpunktgemeinden) im öffentlichen Bereich bereitgestellten Anlagen von örtlichen und überörtlichen Verwaltungseinrichtungen über Schulen, Spiel- und Sportanlagen bis hin zum überörtlichen Verkehrsnetz und Einrichtungen zur Verkehrsbedienung. Bei der zweiten Stufe handelt es sich vor allem um Kreisstädte, in denen zusätzlich zu den für die erste Stufe angebotenen Einrichtungen solche Leistungsträger erforderlich sind, deren Funktionen über den Nahbereich hinausgehen. Unter diesen wären neben höheren Verwaltungsbehörden vor allem weiterführende und Sonder-Schulen, zentrale Einrichtungen für Erwachsenenbildung, Kultur (Volkshochschulen, Bibliotheken) und Gesundheitswesen (Krankenhäuser) sowie größere Sportanlagen (Stadien, Hallenbäder) zu nennen. Ähnlich wie im privatwirtschaftliehen Bereich ist auch für die dritte Stufe ein Katalog zentralörtlicher Funktionen im öffentlichen Bereich modellmäßig nur schwer fixierbar, da hier nicht mehr die zentralörtlichen Funktionen für den Nahbereich entscheidend sind, sondern die zentralen Orte in erster Linie Funktionszentren für untergeordnete zentrale Orte sind. Die zentralen Orte der dritten Stufe übernehmen vor allem Einrichtungen, die ein ganzes Ergänzungsgebiet mit gehobenen Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge versehen, also neben mittleren Verwaltungsbehörden insbesondere Land- und Sondergerichte, Kammern sowie andere ähnliche Einrichtungen und Körperschaften des öffentlichen Rechts zur Verfügung stellen. Auf kulturellem Gebiet sind sie Standorte für Museen, Bibliotheken und Theater, Fach- und Sonderschulen, Akademien, Hochschulen und Universitäten. Ebenso deutlich wie auf privatwirtschaftlicher Ebene hebt sich die Großstadt als vierte Stufe auch im öffentlichen Bereich von den anderen Stufen ab. Als Landes- und Provinzhauptstadt ist sie oft Sitz höherer und höchster Verwaltungsbehörden und Gerichte. Sie ist kulturelles

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

und/oder wissenschaftliches Zentrum mit hohen Anforderungen an Spezialisierung und Differenzierung, insbesondere bezüglich Einrichtungen der Berufsausbildung, sowie Theater, Krankenhäuser und Museen und als Sitz wissenschaftlicher und technischer Institutionen. Für jede der dargestellten Stufen ergibt sich sowohl auf privatwirtschaftlicher wie auf öffentlich-wirtschaftlicher Basis - wenn auch nicht so exakt trennbar, wie es nach der vorhergehenden Systematisierung erscheinen mag - ein bestimmter Aufgabenkreis von Funktionen, in denen die einzelnen Orte und Leistungsträger der verschiedenen Stufen miteinander verflochten und daher aufeinander angewiesen sind, und zwar sowohl die zentralörtlichen Funktionsträger unterer Stufen auf die der oberen als auch umgekehrt. Christaller vermochte in den dreißiger Jahren seine Modellüberlegungen im süddeutschen Raum weitgehend zu verifizieren. Was damals jedoch in einem noch stark von der Landwirtschaft geprägten Gebiet möglich war, gilt für hochindustrialisierte Gebiete nicht mehr in gleichem Maße. Im Gegensatz zur flächebrauchenden Landwirtschaft konzentriert sich die Industrie häufig auf engem Raum und bildet neue Siedlungsschwerpunkte mit anders gearteter Zentralität0 • Es handelt sich daher heute nicht mehr um eine "punktuelle Zentralität"; vielmehr ist für die Verdichtungsräume eine Teilung der zentralörtlichen Funktionen zwischen verschiedenen Städten die Regel ("multiple Zentralität") 10• Besonders deutlich tritt diese andersartige Struktur in den Verdichtungsräumen Rhein-Ruhr, Rhein-Main und Rhein-Neckar in Erscheinung. Zwar lassen sich auch heute noch unterschiedliche Zentralitätsstufen und Funktionstypen der Städte und Gemeinden nachweisen, doch nicht mit der Regelmäßigkeit wie in Christallers Untersuchung und für verschiedene Gebiete mit recht unterschiedlichen Ergebnissen (hinsichtlich Dichte und Funktionsteilung)1 1 • Vermag auch eine auf den Dienstleistungsbereich in einer vorwiegend agrarisch geprägten Wirtschaftsstruktur zugeschnittene Theorie der zen• Vgl. dazu die Beschreibung der gegenwärtigen Raumstruktur in der BRD (insbesondere der großen Verdichtungszonen) und in anderen Ländern. 10 Vgl. B. Dietrichs, Die Theorie der zentralen Orte. Aussage und Anwendung heute, Raumforschung und Raumordnung, 24. Jg. (1966), S. 264. Brian J. L. Berry, Cities as Systems within Systems of Cities, in: Regional Development and Planning, herausgegeben von J. R. P . Friedmann und W. Alonso, Cambridge 1964, S. 116 ff. 11 Vgl. etwa die Quantifizierungsversuche von G. Isbary für die BRD (Zentrale Orte und Nahversorgungsbereiche. Zur Quantifizierung der Zentralen Orte in der Bundesrepublik Deutschland, Mitteilungen aus dem Institut für Raumforschung, Bad Godesberg 1965, Heft 56) und von J. Hautreux und M. Rochefort für Frankreich (Les metropoles et la fonction regionale dans l'armature urbaine fran!;aise, Construction - Amenagement, 5. Jahr, Nr. 17, Oktober 1964), S. 3 ff.

§ 5. Die Agglomeration

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zentralen Orte die heutige Siedlungsstruktur nicht mehr befriedigend nachzuzeichnen und zu erklären, so hat sie doch einerseits die für die Raumordnungspolitik bleibende Einsicht vermittelt, daß sich stets Siedlungsschwerpunkte herausbilden, die der Dezentralisierung der Wirtschafts- und Sozialstruktur Grenzen setzen. Zum anderen vermag sie insbesondere in Verbindung mit einer Theorie der Infrastruktur der Raumordnungspolitik Ansatzpunkte für ein Handlungskonzept zu geben, auf die an anderer Stelle einzugehen sein wird. Zu einer anderen Struktur der zentralen Orte kommt man, wenn das Verwaltungsprinzip zugrundegelegt wird. Hierzu geht man am besten von der Annahme aus, daß die kleinsten Orte einer Volkswirtschaft gleichmäßig über die Fläche .gestreut seien. Da die Siedlungen in diesem Fall untereinander gleiche Abstände haben, können sich Sechsecke herausbilden, in deren Mitte jeweils ein Ort liegt, der für den so entstehenden Siedlungsverband eine Verwaltungsfunktion übernimmt. Diese unterste Verwaltungseinheit besteht somi·t aus 7 Orten, nämlich den sechs umliegenden Gemeinden und dem die Verwaltungsfunktion ausübenden zentralen Ort. Der unterste Verwaltungsverband ist seinerseits ein Teil einer nächsthöheren Verwaltungsstufe, die nach dem gleichen Prinzip aufgebaut ist; "der zentrale Ort dieser zweiten Stufe übt also Verwaltungsfunktionen über 6 zentrale Orte der ersten Stufe und 6mal 7 = 42 einfache Gemeinden aus" 12• Geht man den eingeschlagenen Weg konsequent nach oben weiter, erhält man schließlich das gemäß dem Verwaltungsprinzip gegliederte Siedlungsbild einer Volkswirtschaft. Zum Verständnis der Auswirkungen des Verkehrsprinzips setzt man gleichmäßige Streuung der zentralen Orte voraus. Der innerhalb eines Sechsecks gelegene Ort wird dann über 6 Verkehrswege mit den umliegenden Siedlungen verbunden. Würde man nun einen zusätzlichen zentralen Ort benötigen, so würde sich dieser an den bestehenden Verkehrsverbindungen entwickeln. Kennzeichnend für eine derartige Siedlungsstruktur wären somit Städte, von denen jeweils sechs strahlenförmige Verkehrslinien ausgehen, an deren Verlauf sich die untergeordneten Zentralorte anschließen. § 5. Die Agglomeration

Von besonderer Bedeutung ist im Rahmen der Raumdifferenzierung in der Gegenwart das Agglomerationsphänomen. Wir verstehen darunter die Tatsache, daß sich heute in allen Ländern einige besonders intensive Ballungspunkte ergeben, wie z. B. Paris, Frankfurt und Hamburg. Gewiß n Walter Christaller, Die Hierarchie der Städte, Proceedings of the IGU Symposium in Urban Geography, Lund 1962, S. 5.

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!1. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

liegt die Verursachung für die Entstehung dieser großen Ballungskomplexe von Fall zu Fall sehr verschieden. Die wichtigste allgemeine Frage in bezug auf die Raumordnungspolitik besteht nun aber darin, warum sich ein derartiger Grad von Raumdifferenzierung in den modernen Staaten behauptet und sogar überwiegend noch verstärkt, obwohl er in vielfacher Hinsicht den Zielen der Raumordnungspolitik widerspricht. Da für die starke Entwicklung der Ballungen in der letzten Zeit sehr weitgehend wirtschaftliche Faktoren entscheidend gewesen sind, muß diese Frage vorwiegend unter diesem Aspekt behandelt werden. In der Literatur findet sich häufig die Vorstellung von einem irgendwie .g earteten "Ballungsoptimum", bei dessen Überschreiten von selbst oder zumindest, wenn man sie sich auswirken ließe -, wirtschaftliche Kräfte wirksam würden, die ein weiteres Anwachsen der Ballung verhinderten. Geht man den Vorstellungen vom "Ballungsoptimum" etwas näher zu Leibe, so wird klar, daß dieser Begriff oft etwas Unklares, zumindest etwas nicht genügend Präzisiertes, enthält. In jedem Fall handelt es sich dabei um die Übertragung von Vorstellungen auf die Raumtheorie, die sehr eng mit denen verwandt sind, die in der allgemeinen ökonomischen Theorie zur Ableitung des Ertragsgesetzes geführt haben. Hier wie dort handelt es sich darum, daß im Zuge einer intensiveren Nutzung eine vorgegebene konstante Größe mit immer mehr Einheiten eines variablen Faktors kombiniert wird. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes soll der produktionstheoretische Hintergrund etwas näher dargestellt werden. Zur Ableitung des Ertragsgesetzes werden in diesem Zusammenhang in der ökonomischen Literatur meist Beispiele aus der landwirtschaftlichen Produktion verwandt, und zwar überwiegend- aber nicht immer - konstruierte, d. h. nicht aus konkreten Versuchen entnommene Beispiele13. Diese Tatsache ist auch für den vorliegenden Zusammenhang von großer Bedeutung. Bei den konstruierten Beispielen werden in aller Regel der bebaute Boden als konstanter Faktor und die menschliche Arbeit als variabler Faktor ausgewählt. Unterstellt man einen Boden ganz bestimmter Größe, so ergeben sich, nach Ableitung der Autoren, bei ständig vermehrtem Arbeitseinsatz zunächst steigende und dann sinkende Grenzerträge des variablen Faktors Arbeit. Eine nähere Durchleuchtung dieser Beispiele zeigt aber, daß das erste Teilergebnis, daß die Grenzerträge in einem gewissen Abschnitt wachsen, nur unter einer Annahme eintritt, die bei der Behandlung der Beispiele meist nicht klar hervorgehoben wird. Es handelt sich nämlich darum, 13 Für konstruierte Beispiele s. die moderne ökonomisch-theoretische Lehrbuch-Literatur; ein aus einem Versuch entnommenes Beispiel enthält z. B. R. Frisch, Theory of Production, Nordrecht 1965, S . 44 ff.

§ 5. Die Agglomeration

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daß zur Ableitung eines solchen Verlaufs der Grenzertragskurve der Arbeit vorausgesetzt werden muß, daß der betreffende Landwirt stets den gesamten Boden unter den Pflug nimmt, und zwar auch dann, wenn wegen der Knappheit des variablen Faktors Arbeit ihm eine nur teilweise Bebauung des Bodens einen höheren Gesamtertrag bringen würde. Er handelt also in einem gewissen Sinne unökonomisch14 , solange er sich im aufsteigenden Ast der Grenzertragskurve befindet; das gleiche gilt auch noch für den ersten Teil des absteigenden Astes bis hin zum Maximum des Durchschnittsertrages der Arbeit, das meist als "Betriebsminimum" bezeichnet wird. Nur wenn zusätzliche Bedingungen eingeführt werden, die etwa beinhalten, daß aus Gründen des künftigen Mehrertrages oder um den betreffenden Boden für eine zahlenmäßig größere Nachkommenschaft zu erhalten, stets der ganze Boden bebaut wird, kann ein wirtschaftlich orientierter Landwirt veranlaßt sein, auch im aufsteigenden Ast der Grenzertragskurve der Arbeit tätig zu werden15 • Ansonsten wird der Landwirt die Größe seines unter den Pflug genommenen Bodens, bis daß er wirklich knapp wird, stets so bemessen, daß er im Maximum des Durchschnittsertrages der Arbeit bebaut wird. Führen wir uns diese beiden für die Behandlung des Begriffs des Ballungsoptimums äußerst wichtigen Versionen des Ertragsgesetzes in einer Graphik vor Augen:

Ei 0

A1

Arbeit

Aj

Arbeit

Graphik 1 a Graphik 1 b Beide Graphiken zeigen in ihrem Verlauf das Ertragsgesetz für den gleichen Fall, allerdings unter etwas modifizierten Annahmen: In Graphik 1 a wird in Übereinstimmung mit der "klassischen" Annahme des Ertragsgesetzes unterstellt, daß stets der ganze Boden- also auch in dem Bereich zwischen 0 und A1, in dem Arbeit knapp und Boden reichlich vorhanden ist-, bebaut wird. In Graphik 1 b wird dagegen unterstellt, daß 14 J. Heinz Müller, Produktionstheorie, in: W. Ehrlicher, J. Esenwein-Rothe u. a. (Hrsg.), Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Göttingen 1967, s. 75 ff. 15 Gewisse Modifikationen des Ansatzes können hier nicht in allen Einzelheiten verfolgt werden. s. dazu meine oben zitierte Schrift.

li. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

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zwischen 0 und

A; -diese Entfernung ist gleich 0 At in Graphik 1 a -

jeweils nur der Teil des Bodens in Bebauung ist, der entsprechend der Menge der verfügbaren Arbeit optimal bebaut werden kann. Unter den gemachten Annahmen entspricht dieser Bodenteil genau dem Verhältnis zum gesamten verfügbaren Boden, in dem auch die tatsächlich eingesetzte Arbeitsmenge zur Menge 0 steht.

A;

Im ersten Fall ergeben sich zunächst steigende und anschließend sinkende Grenzerträge der Arbeit, und auch die Durchschnittserträge steigen zunächst und fallen dann ab. Im zweiten Falle sind bis zu der Arbeitsintensität, bei der im ersten Falle das Maximum des Durchschnittsertrages der Arbeit erreicht wird, die Grenz- und Durchschnittserträge der Arbeit konstant (und einander gleich) und fallen von da an genau in der gleichen Weise ab, wie im Falle 1 a rechts von A 1 • Infolgedessen liegen die Unterschiede der Aussagen beider Graphiken nur in dem Intervall zwischen 0 und At bzw. dem ihm gleichen Intervall 0 und Dieser Bereich mag für den Normalfall aus der Landwirtschaft,

A;.

an dem das Ertragsgesetz meist demonstriert wird, einigermaßen ohne Belang sein und kann deshalb für diesen Fall vielleicht vernachlässigt werden, weil die Arbeitsintensität der landwirtschaftlichen Produktion groß ist. Schon bei der Übertragung des Beispiels auf die Industrie kann man aber auf diese Unterscheidung nicht verzichten. Bei dem vorliegenden Sachverhalt dürfte jedoch dieser Unterscheidung die allergrößte Bedeutung zukommen. Bei einer Übertragung dieser ertragsgesetzlichen Überlegungen auf die Raumtheorie, wie sie dem Begriff des "Ballungsoptimums" zugrundeliegt, ist zunächst nicht völlig eindeutig, welcher Faktor - analog zum Boden im obigen Beispiel aus der landwirtschaftlichen Produktion bei ihnen konstant gehalten wird und welcher andere variabel sein soll. Meist wird man die Überlegungen so deuten müssen, daß auch in diesem Falle der Grund und Boden als konstanter Faktor angesehen wird. Variabel wäre dann die Menge des auf diesem Grund und Boden eingesetzten Kapitals. Es fällt auf, daß in einer solchen aufs Zweidimensionale reduzierten Betrachtung die Bevölkerungsgröße genau so wenig auftaucht, wie in unserem obigen Modell aus der Landwirtschaft das Saatgut, der Dünger oder die Menge der Ackergeräte. Man sieht diese Größen meist als "Schattenfaktoren" an und geht damit davon aus, daß sie bei ihrem Einsatz stets in einer konstanten (optimalen) Relation zum variablen Faktor stehen. Wäre das nicht der Fall - und es mag wohl bei den üblichen ertragsgesetzlichen Beispielen insbesondere für die Menge der

§ 5. Die Agglomeration

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Ackergeräte fraglich sein - , so lassen sich die Zusammenhänge nicht auf das Zweidimensionale reduzieren, ohne daß ihre Aussagefähigkeit erheblich beeinträchtigt würde. Man mag darüber streiten, ob eine solche Reduktion des Zusammenhanges bei den ertragsgesetzlichen Beispielen aus der Landwirtschaft zweckmäßig ist oder nicht. Bei ertragsgesetzlichen Beispielen aus dem industriellen Bereich dürfte dagegen diese Reduktion auf jeden Fall problematiiSch sein. Bei einer Übertra,gung ertragsgesetzlicher Zusammenhänge auf die Raumtheorie, wie sie bei der Diskussion des Ballungsoptimums erfolgt, i:st jedoch eine solche Reduktion äußerst gefährlich. Wenn man nämlich, wie oben vorgeschlagen, das "räumliche Ertragsgesetz" in der Weise ableitet, daß der Boden konstant und das eingesetzte Kapital variabel ist, so bleibt die Bevölkerungsgröße außer Betracht. Aber man kann sie ganz und gar nicht analog dem Saatgut und den beiden anderen Faktoren des landwirtschaftlichen Beispiels als Schattenfaktor behandeln. Im landwirtschaftlichen Beispiel kann man im Rahmen zulässiger Vereinfachungen vielleicht unterstellen, daß der Bauer ein homogenes Gut anbaut und deshalb das Saatgut genau in den gleichen Ausmaßen variiert wie seine Arbeit1 6 • Eine solche Annahme ist im Rahmen raumtheoretischer Überlegungen für die Bevölkerung nur dann zulässig, wenn diese einer einheitlichen Beschäftigung nachgeht. In diesem sicherlich unrealistischen Falle kann man sie nämlich, in ähnlicher Vereinfachung wie im landwirtschaftlichen Beispiel das Saatgut, als einen Schattenfaktor ansehen, der genau in dem gleichen Verhältnis variiert wird wie der variable Faktor 17• Bei verschiedener Art der Beschäftigung und entsprechend unterschiedlichem Einsatzverhältnis von KapHai zu Beschäftigten bzw. Bevölkerung divergiert das Maximum des Durchschnittsertrages des eingesetzten Kapitals für den gleichen Raum. Das bedeutet, daß dieses Maximum nicht nur "von Raum zu Raum, von Zeit zu Zeit, von Volk :zJU Volk" 18, sondern auch je nach der Art der Nutzung des konstanten Faktors verschieden istu. Bei rein landwirtschaftlicher 18 Im Falle 1a der obigen Graphik erscheint eine solche Annahme jedoch schon nicht unbedingt plausibel. 17 Man kann natürlich für diesen Fall auch statt des eingesetzten Kapitals als variablen Faktor die Bevölkerung verwenden; endlich kann auch als variable Größe eine Indexzahl dienen, die sich aus Kapital und Bevölkerung zusammensetzt. Der Verlauf der Kurven wird dadurch bei der angenommenen konstanten Relation von Kapital und Bevölkerung in keiner Weise verändert. 18 Die Raumordnung in der Bundesrepublik Deutschland, Gutachten des Sachverständigenausschusses für Raumordnung (SARO-Gutachten), Stuttgart 1961, s. 59. 19 Auf dem Fehler, das zu übersehen, beruhte die vorschnelle Gleichsetzung in früheren Zeiten, wo man aus einem "Volk ohne Raum" im landwirtschaftlichen Sinne ein Volk ohne ausreichenden Lebensraum auch im Sinne jeder anderen Art der Nutzung des Raumes werden ließ.

3 MUller, Raumordnungspolitik

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

Nutzung würde dieses Maximum wahrscheinlich bei einem sehr viel geringeren Kapitaleinsatz liegen als bei einer industriellen Nutzung. Es kann daher möglich sein, daß in einem Gebiet bei einer bestimmten, einheitlichen Intensität des variablen Faktors in allen Nutzungsarten seine Grenzerträge für den Fall einer landwirtschaftlichen Nutzung bereits sinken, während sie für den Fall einer industriellen Nutzung oder einer Nutzung durch Dienstleistungen konstant sind oder gar noch zunehmen. Wie aber läßt sich nach diesen Überlegungen der Grundgedanke des Ballungsoptimums aus dem ertragsgesetzlichen Verlauf der Grenzertragskurve des Kapitals ableiten? Zunächst sei ausdrücklich vermerkt, daß die folgenden Überlegungen keinen Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Kapitaleinsatz machen. Dies ist möglich, wenn man annimmt, daß der Einsatz von Kapital durch die öffentliche Hand in der gleichen Weise von den privaten Nutznießern entgolten wird wie der Einsatz von privatem Kapital. Damit ist also in diesem Zusammenhang zunächst von dem Problem der mangelnden Zurechnung der Kosten öffentlicher Investitionen abstrahiert. Eine andere Möglichkeit wäre die, etwa nur den Einsatz an privatem Kapital zu betrachten und- in Anlehnung an die obigen Überlegungen - den Einsatz an öffentlichem Kapital gewissermaßen als "Schattenfaktor" anzusehen. Das würde indessen voraussetzen, daß zwtschen dem Einsatz von öffentlichem und privatem Kapital stets eine konstante Relation bestehen würde. Diese Annahme erscheint schon deshalb unrealistisch, weil entsprechend der herrschenden politischen Auffassung auch in einem Raum ohne größere private Investitionen eine gewisse Mindestausstattung mit öffentlichen Investitionen zur Versorgung der Bevölkerung gefordert wird. Zumindest müßte man also diese Mindestausstattung bei der Betrachtung des Ballungsoptimums in ähnlicher Weise vorgeben, wie man in der Kostentheorie mit konstanten Kosten zu rechnen pflegt. Aber auch die Annahme, daß innerhalb des gewählten Betrachtungsspielraumes die privaten und die öffentlichen Kosten pari passu wachsen - so daß dann in diesem Bereich die öffentlichen Investitionen gewissermaßen als Schattenfaktor behandelt werden könnten-, erscheint nicht haltbar. Jedenfalls würden alle diejenigen dieser Form der Interpretation widersprechen müssen, die, wie es weit verbreitet ist, unterstellen, daß der Einsatz von öffentlichem Kapital von irgendeinem Punkt an stärker wächst als der Einsatz von privatem Kapital. Es erscheint daher im Interesse einer möglichst vollständigen Erfassung des Problems besser, die Abhängigkeit der Grenzerträge des Kapitals von der lVIenge des überhaupt eingesetzten Kapitals zu untersuchen und damit in bezug auf die Aufteilung des gesamten eingesetzten Kapitals auf private und öffentliche Nutzung dem Funktionalzusammenhang

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einen Freiheitsgrad zu belassen. Man könnte ihn dadurch aufheben, daß man einen Ausgleich der Grenzerträge zwischen diesen beiden Arten von Kapitalnutzung postuliert. Wahrscheinlich wäre eine solche Annahme im Interesse der Argumentation zweckmäßig; aber sie führt in die Schwierigkeit der Erfassung des Grenzertrages einer öffentlichen Investition20 • Versucht man nun, auf dieser Basis eine Aussage über das "räumliche Ertragsgesetz" zu machen, so steht am Anfang die Feststellung, daß sich bei unveränderter Produktionsstruktur und vermehrtem Kapitaleinsatz von irgendeinem Punkt an abnehmende Grenzerträge des Kapitaleinsatzes einstellen müssen. Das ist eine unmittelbare Folge der gemachten Unterstellung, daß die beiden Produktionsfaktoren Boden und Kapitaleinsatz in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen und ausschließlich einer, nämlich das Kapital, vermehrt wird. An irgendeinem Punkt muß dann der Grenzertrag des allein variierten Faktors Kapital abzunehmen beginnen. Wo das aber bei den verschiedenen Arten der Nutzung tatsächlich der Fall ist, darüber wissen wir reichlich wenig. Für den Bereich einer nichtlandwirtschaftlichen Nutzung nennt das SARO-Gutachten21 folgende Indizien: "übergroße Verwaltungskosten pro Kopf der Gemeindeangehörigen, überhöhte social costs, überhöhte Grundstückspreise". Man könnte bereit sein, solche Indizien zu akzeptieren, wenn in irgendeiner Weise präzisiert wäre, was unter der "Überhöhung" dieser Größen zu verstehen ist. Allzu leicht wird dabei die Vermutung laut, daß eine solche "Überhöhung" immer dann vorliegt, wenn diese Größen höher sind als an anderer Stelle. Einer solchen Sicht kann aber nicht energisch genug widersprochen werden, da es immer auf die Relation zwischen der "überhöhten" Größe und ihrer Nutzung ankommt. So sind z. B. die Grundstückspreise oder die social costs nicht etwa bereits dann im Sinne der hier behandelten Problematik "überhöht", wenn sie in Ballungszentren absolut höher liegen als in Entleerungsräumen. Es wurde oben schon nachdrücklich darauf verwiesen, daß das Maximum des Durchschnittsertrages des eingesetzten Kapitals in einem Raum entscheidend von der Art seiner Nutzung abhängig ist. Infolgedessen liegt dieses bei den verschiedenen Nutzungsarten (wenig intensive Form der Landwirtschaft, landwirtschaftliche Intensivkultur, als Grundfläche für industrielle Nutzung, als Grundfläche für Verwaltungsgebäude usw.) sehr verschieden. Als Beispiel für "überhöhte" social costs wird nicht selten 20 Wer bereit ist, über diese Schwierigkeiten hinwegzusehen, mag für die folgenden Darlegungen einen solchen Ausgleich unterstellen. Für den, der sich dazu nicht in der Lage sieht, ist eine gewisse Unbestimmtheit der Analyse unvermeidlich. 21 SARO-Gutachten, a.a.O., S. 59.

3•

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

darauf verwiesen, daß in Ballungsräumen der Bau neuer Straßen bezogen auf den laufenden Kilometer wesentlich höhere Kosten verursache als in Entleerungsgebieten. Ein ertragsgesetzlicher Effekt folgt jedoch daraus noch keineswegs sicher, noch nicht einmal mit einiger Wahrscheinlichkeit. Absinkende Durchschnittserträge des eingesetzten Kapitals - und erst von hier ab beginnt nach den Erkenntnissen der Theorie in der Regel der konstante Faktor einen Preis zu erhalten - liegen vielmehr erst dann vor, wenn der Quotient aus Ertrag (hier: Straßennutzung) und eingesetzter Kapitalmenge absinkt. Da aber die in den Ballungsräumen gebauten Straßen in der Regel um ein Vielfaches höheren Verkehr als die Straßen in den Entleerungsgebieten bewältigen, ist ganz und gar nicht sicher, daß die für den Straßenbau (ohne Grundstücksaufwand, da dieser ja der konstante Faktor ist) erforderlichen Kapitalkosten je Nutzungseinheit, d. h. je Kraftfahrzeug, je Personen- bzw. Tonnenkilometer gerechnet, in den Ballungszentren - selbst bei noch so komplizierten Kunstbauten in der dritten Dimension- höher liegen als in den Entleerungsgebieten. Eher dürfte sogar das Umgekehrte wahrscheinlich sein. Das gleiche gilt für die anderen Größen, die im SARO-Gutachten als Indizien für ein Überschreiten des Ballungsoptimums genannnt werden. Sie müssen jeweils auf ihre tatsächliche Nutzung bezogen werden und können daher erst dann wirklich als im Sinne des Ertragsgesetzes wirkend angesehen werden, wenn das Verhältnis zwischen Nutzung und Kapitaleinsatz absinkt, oder anders ausgedrückt, wenn die variablen Durchschnittskosten als Relation zwischen variablen Kosten und Menge des Geleisteten ansteigen. Sieht man die Dinge so, dann wird man die genannten "Indizien" nur noch äußerst vorsichtig verwenden können und zusätzliche Überlegungen anstellen müssen. Aber die Zusammenhänge liegen noch wesentlich schwieriger, und deswegen wurde oben die verschiedenartige Interpretation des Ertragsgesetzes etwas ausführlicher behandelt. Es ist keineswegs klar, ob sich der steigende Kapitaleinsatz innerhalb eines Raumes im Sinne von Graphik 1 a oder im Sinne von Graphik 1 b auswirkt. Manches spricht dafür, daß beide Typen nebeneinander auftreten. Zunächst wird sich die Privatwirtschaft bei ihren Investitionen sicherlich nicht so verhalten, daß sie diese unnötigerweise gleichmäßig über die ganze Fläche streut. Vielmehr wird sie eine Ballung dieser Investitionen an einzelnen mehr oder weniger großen Orten vornehmen; die anderen Orte werden dann weitgehend leer ausgehen, jedenfalls solange nicht ein solcher Bedarf vorliegt, daß die gesamte Fläche im Sinne des Punktes At optimal mit Investitionen "bedacht" werden kann. Umgekehrt würde das dann zur Folge haben, daß sich eine übergroße Dimensionierung des Gesamtraumes niemals negativ auf den Grenz- und Durchschnittsertrag des

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5. Die Agglomeration

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privaten Kapitaleinsatzes auswirkt. Es läge dann ein Zusammenhang vor, wie er durch Graphik 1 b verdeutlicht wird. Das würde dann aber bedeuten, daß der wirklich genutzte Boden stets mit einer solchen Intensität genutzt wird, daß das Maximum des Durchschnittsertrages des Kapitals auf ihn erreicht wird. Der andere Teil des Bodens bliebe völlig ungenutzt. Eine Intensivierung des Kapitaleinsatzes hätte dann zur Folge, daß weiterer Boden- wiederum so bemessen, daß dabei stets das Maximum des Durchschnittsertrages des Kapitals erreicht wird - in die Nutzung einbezogen wird. Sinkende Grenzerträge des Kapitals wären bei vermehrtem Kapitaleinsatz erst dann zu verzeichnen, wenn der gesamte Boden in die Nutzung einbezogen wäre. Das würde dann aber eine Intensivierung des privaten Kapitaleinsatzes voraussetzen, wie sie heute sicherlich auch in den am stärksten industrialisierten Gebieten bei weitem noch nicht erreicht ist. Beim Einsatz von öffentlichem Kapital spricht dagegen manches eher für eine Art des Zusammenhangs, wie sie in Graphik 1 a dargestellt wurde. Das gilt vor allem für die sogenannten Grundinvestitionen, die die öffentliche Hand entsprechend den allgemeinen Anforderungen der Bevölkerung eingermaßen gleichförmig über die Fläche streut (Ausbau von Verbindungsstraßen, Grundschulen, Notfallkrankenhäuser usw.). Bei diesen Investitionen kann sich örtlich, vor allem in Entleerungsgebieten, ein so geringer Kapitaleinsatz je Flächeneinheit ergeben, daß der Grenzertrag des öffentlichen Kapitaleinsatzes noch steigt, wenn mehr öffentliches Kapital eingesetzt wird. Bei diesen Grundinvestitionen kann sich der Öffentliche Verband aus Gründen der allgemeinen Daseinsvorsorge nicht auf eine Ballung an wenigen Orten in der Weise beschränken, daß dort das Durchschnittsertragsmaximum erreicht wird. Andererseits wird er natürlich auch solche Investitionen nicht völlig gleichmäßig über die Fläche streuen; er wird vielmehr stets einen Kompromiß zwischen den Erfordernissen der allgemeinen Daseinsvorsorge und dem Kostengesichtspunkt erstreben, der allerdings in diesen Fällen sehr leicht zu einer unteroptimalen Dimensionierung dieser Investitionen in dem Sinne führen kann, daß bei einer Steigerung der öffentlichen Investition deren Grenz- und Durchschnittserträge noch zunehmen werden. Im Einzelfall ist sicherlich die Abgrenzung zwischen diesen beiden Arten von öffentlichen Investitionen schwierig, da sich der Bereich, in dem öffentliche Investitionen der Daseinsvorsorge dienen, nicht völlig eindeutig gegenüber dem darüber hinausreichenden Bereich abgrenzen läßt. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu, was in der jüngsten Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Vielfach sind öffentliche Investitionen aus technischen Gründen nicht oder jedenfalls nicht beliebig teilbar.

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

So baut man etwa eine Wasserleitung, oder man baut keine; eine Differenzierung ihres Querschnitts ist nur sehr beschränkt möglich. Das gleiche gilt für eine Verbindungsstraße, einen Abwasserkanal und vieles andere mehr. In anderen Fällen ist zwar von vornherein, d. h. noch im Zustand der Planung, eine gewisse Größendifferenzierung möglich. Jedoch hätte eine spätere Erhöhung der Leistungsfähigkeit, z. B. bei einer Wasserleitung oder einem Abwasserkanal, so hohe zusätzliche Kosten zur Folge, daß man die im Prinzip mögliche spätere Anpassung der Leistungsfähigkeit an einen gestiegenen Bedarf von vornherein vermeidet und eine größere Dimensionierung deshalb schon bei Errichtung der Anlage vorsieht, obwohl auch eine kleinere technisch möglich wäre und diese zunächst den Bedarf voll deckt. Soweit diese Verhältnisse bei öffentlichen Investitionen vorliegen, dürfte dann auch der "klassische" Typ des Ertragsgesetzes, wie er in Graphik 1 a veranschaulicht wurde, seinen Voraussetzungen nach gegeben sein. Im öffentlichen Bereich dürfte in Anbetracht der geschilderten Verhältnisse dieser Typ wohl stark dominieren, wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann und soll, daß für einzelne Bereiche auch der andere Typ in Frage kommen kann. Wenn somit die Zusammenhänge im Bereich der öffentlichen Investitionen nicht zu einem völlig eindeutigen Ergebnis hinsichtlich der beiden Ertragsgesetz-Typen führen, so läßt sich insgesamt doch mit einem Überwiegen des "klassischen" Typs rechnen. Wenn nämlich beide Typen nebeneinander vorkommen, so ergibt sich bei ihrer Addition, daß für die öffentlichen Investitionen insgesamt ein - durch das zusätzliche Auftreten konstanter Grenzertragselemente zwar gemäßigter, aber nicht in den Grundzügen veränderter- Verlauf im Sinne von zunächst steigenden und dann sinkenden Grenzerträgen des variablen Faktors zustande kommt. Das hat dann für die räumliche Allokation des eingesetzten Kapitals zur Folge, daß es, soweit dies mit den Grunderfordernissen der allgemeinen Daseinsvorsorge vereinbar ist, ,geballt eingesetzt wird, jedenfalls bis zu einer solchen Intensi,tät, daß die Durchschnittserträge des Kapitals an diesen Orten ihr Maximum erreichen. Die räumlich nicht beliebig zu verschiebenden Grundinvestitionen der öffentlichen Hand würden demgegenüber in Entleerungsgebieten einen niedrigeren Grenz- und Durchschnittsertrag des öffentlichen Kapitals aufweisen; er ließe sich noch erhöhen, wenn eine intensivere Nutzung auch in diesen Gebieten möglich wäre. Innerhalb völlig homogener Teilräume würde es dann an jedem Kriterium dafür fehlen, an welchen Punkten öffentliche Investitionen in stärkerem Maße als an anderen vorgenommen werden sollen. In diesen Fällen kommt dann der historischen Komponente erhebliche Bedeutung

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zu; sie führt dazu, daß Räume, die ohne Einbeziehung des aus der Vergangenheit Überkommenen homogen wären, für die heute auf der Basis des Überkommenen zu fällende Entscheidung nicht mehr homogen sind. Das hat zur Folge, daß auch für neue Investitionen die historische Komponente von sehr .großer Bedeutung ist. Private und öffentliche Investitionen verhalten sich in erheblichem Maße komplementär zueinander. Daraus folgt, daß die Höhe des Durchschnittsertrages des privaten Kapitals mit der Höhe der öffentlichen Investitionen in dem betreffenden Gebiet positiv korreliert. Dadurch differieren die Durchschnittserträge des privaten Kapitals in sehr erheblicher Weise auch in Abhängigkeit der öffentlichen Investitionen. Das alles kann selbst bei ansonsten völlig gleichen Verhältnissen zur Folge haben, daß es für den privaten Investor - selbst dann, wenn ihm alle ihm zuzurechnenden Kosten auch tatsächlich angelastet werden von Vorteil sein kann, sich im Ballungszentrum und nicht im Entleerungsraum niederzulassen. Diesen Zusammenhang kann man anhand folgender Graphik verdeutlichen. Wir gehen dabei von der Annahme aus, daß in den Graphiken 2 a und 2 b zwei im Prinzip völlig gleichartige Teilräume eines homogenen Gesamtraumes vorli~gen. Teilraum A (Graphik 2 a) ist durch den Zufall bzw. die historische Komponente dazu ausgewählt, daß hier im Maximum des Durchschnittsertrages des gesamten eingesetzten - öffentlichen und privaten - Kapitals produziert wird, während Teilraum B (Graphik 2 b) nur über die konstanten öffentlichen Grundinvestitionen verfügt und das Maximum des Durchschnittsertrags des privaten Kapitals noch nicht erreicht ist.

0

Graphik2 a

A1 Privatkap. 0

Privatkapital

Graphik2 b

Der Grenzertrag des gesamten Kapitaleinsatzes weist daher in Teilraum B die Höhe A 2C, der Durchschnittsertrag die Höhe A2D auf. Beide liegen, wie die Graphik zeigt, weit unter den entsprechenden Werten in

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

Teilraum A. Hat ein Unternehmen eine Kapitalsumme22 zur freien Verfügung und stehen ihm die Standorte A und B zur Auswahl, wird es stets den Teilraum A wählen und hier eine Überschreitung des Maximums des Durchschnittsertrages des Privatkapitals bewirken. Diese Entscheidung ist unter den gemachten Annahmen sowohl privatwirtschaftlich als auch gesamtwirtschaftlich zweckmäßig, sofern man die Verteilung der öffentlichen Investitionen als Datum ansieht. Das würde aber zur Folge haben, daß in diesem Fall der Kapitaleinsatz in den Gebieten einer intensiven Nutzung noch weiter wächst, obwohl dort die Durchschnittserträge des privaten Kapitaleinsatzes ihr Maximum bereits überschritten haben. Eine solche Entwicklung erscheint bei dem Ausmaß der Divergenz, die zwischen der Kapitalintensität in Verdichtungsräumen und derjenigen in Entleerungsräumen herrscht, durchaus wahrscheinlich. Die einzelwirtschaftliche Entscheidung würde dann selbst bei ansonsten homogenen Teilräumen für den bereits intensiver genutzten Teilraum fallen. Die Entscheidung würde nur anders lauten, wenn die Neuansiedlung eines sehr großen Unternehmenskomplexes zur Diskussion stünde und dabei die Summe der Grenzerträge des Kapitals (=Integral unter der entsprechenden Kurve in dem relevanten Intervall) bei einer Ansiedlung in einem Entleerungsgebiet größer wäre als die entsprechende Summe im Ballungsgebiet. Da sich nun vielfach die Unternehmerische Entscheidung nicht in solchen Dimensionen bewegt, muß im Rahmen einer Marktwirtschaft eine solche Entscheidung für das intensiver genutzte Gebiet als überaus wahrscheinlich angenommen werden. Es geht daher nicht an, etwa das Maximum des Durchschnittsertrages des Kapitaleinsatzes als "Ballungsoptimum" anzusprechen und zu unterstellen, daß es unter marktwirtschaftliehen Bedingungen nicht überschritten wird. Noch schwieriger wird der Sachverhalt, wenn der Gesamtraum in sich nicht homogen ist und die Teilräume daher verschiedenartige Verläufe der Grenz- und Durchschnittsertragskurven aufweisen, wie es naturgemäß der Wirklichkeit sehr viel eher entspricht. In diesen Fällen kann nur noch davon ausgegangen werden, daß Grenz- und Durchschnittserträge in beiden Räumen irgendwo ein Maximum aufweisen, das sehr verschieden hoch sein kann und auch bei sehr verschieden starkem Einsatz des privaten Kapitals liegt. Auch für diesen Fall wird der private Kapitaleinsatz, falls nicht eine solche Menge an Kapital zur Verfügung steht, daß überall das Maximum des Durchschnittsertrages überschritten wird23 , örtlich konzentriert erfolgen, während an anderen Orten nur ein 11 Voraussetzung sei, daß die Kapitalsumme im Vergleich zu dem bisher in den Teilräumen eingesetzten Kapital klein ist. 23 Diese Annahme erscheint völlig utopisch.

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solcher Einsatz von Mitteln vorgenommen wird, daß das als notwendig angesehene Minimum an allgemeiner staatlicher Lebensvorsorge sichergestellt ist. In diesem Fallläßt sich ein ökonomisches Kriterium für die Auswahl der tatsächlich genutzten Teilräume angeben. Als solche kommen nämlich diejenigen Räume in Frage, in denen sich günstigere Bedingungen ergeben als in der Nachbarschaft. In diesen Gebieten steigt dann der private Kapitaleinsatz schon bald auf das Maximum des Durchschnittsertrages. Stehen dann weitere Kapitalmittel zum Einsatz zur Verfügung, so ist, wahrscheinlich weitgehend, ihr Einsatz an dem Platz, an dem schon investiert ist, günstiger als im Entleerungsraum. Für diesen der Wirklichkeit sehr viel mehr entsprechenden Fall wird nun der Begriff des "Ballungsoptimums" völlig aussageleer. Es ist ökonomisch völlig richtig, die Ballung weiter zu verstärken, auch wenn dadurch der Durchschnittsertrag des eingesetzten privaten und öffentlichen Kapitals in den Verdichtungsräumen absinkt. Er ist und bleibt ja immer noch höher als der entsprechende Durchschnitts- bzw. Grenzertrag in Entleerungsgebieten. Es kommt zu alledem noch der oben behandelte Gesichtspunkt hinzu, daß das Maximum des Durchschnittsertrages des Kapitaleinsatzes je nach der Art der Nutzung des Raumes sehr stark voneinander verschieden ist. In Verbindung mit der unterschiedlichen Qualität des Bodens, die ihrerseits auch wieder von der Art der Nutzung abhängig ist, bedeutet das ein Nebeneinander sehr unterschiedlicher Verläufe der Kurven des Grenz- und des Durchschnittsertrages des Kapitals. Dabei dürften die Unterschiede zwischen Entleerungs- und Ballungsgebieten um so stärker sein, je mehr die Nutzung des Raumes sich von der Landwirtschaft entfernt. Eine industrielle Nutzung erfordert sicherlich schon eine stärkere räumliche Konzentration. Eine Nutzung zum Zweck der Errichtung von Gebäuden, in denen Verwaltungs- und Dienstleistungen (Handel, Banken, Versicherungen, zentrale Verwaltungen) erstellt werden, dürfte noch stärkere Gegensätze zwischen Ballungs- und Entleerungsgebieten auslösen. Vom Überschreiten eines "Ballungsoptimums" kann ökonomisch stets nur dann die Rede sein, wenn bei der gegebenen Art des Kapitaleinsatzes eine intensivere kapitalmäßige Nutzung innerhalb eines bestimmten Teilraumes zu absinkenden Grenzerträgen des Kapitals führt, die ihrerseits unter den Grenzerträgen anderer, noch nicht im gleichen Ausmaß genutzter Teilräume liegen. Nur in diesem Sinne kann dann von einem Überschreiten des Ballungsoptimum innerhalb eines größeren Gesamtraumes gesprochen werden. Eine andere Form der Definition eines solchen Optimums erscheint unmöglich.

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

Zu alledem kommt nun noch als weiterer Gesichtspunkt, der bei der Behandlung der externen Kosten schon eingehend diskutiert wurde, hinzu, daß ein Teil der Kosten, vor allem im öffentlichen Bereich, ihren Verursachern nicht angelastet wird. Es ergibt sich dann, daß Agglomerationen auch in Fällen noch als einzelwirtschaftlich vorteilhaft erscheinen, in denen sie vom gesamtwirtschaftlichen Standpunkt aus unzweckmäßig sind. In diesen Fällen ist dann der innerhalb der Marktwirtschaft ansonsten wirkende Selbststeuerungsmechanismus ausgeschaltet, was zu einer noch weitergehenden Verstärkung der Ballung führt. In die gleiche Richtung dürfte auch die historische Komponente wirken. Sie führt in Gebieten, in denen schon vor langer Zeit größere Investitionen vorgenommen wurden- und das dürfte in Ballungsgebieten sehr weitgehend der Fall sein-, dazu, daß die Kosten für diese Investitionen heute weitgehend amortisiert sind, ohne daß dafür jetzt größere Reinvestitionen erforderlich wären. Bei der langen Lebensdauer gewisser öffentlicher Investitionen erscheint eine solche Sicht durchaus plausibel. Soweit das der Fall ist, würde das wiederum Ballungsgebiete hinsichtlich ihrer Stellung begünstigen. Zieht man aus alledem die Folgerung, so muß man feststellen, daß sich an einzelnen von der Natur oder auch dem Entwicklung.sprozeß besonders begünstigten Stellen eine größere Ballung ergeben hat, während andere Gebiete des betreffenden Staates ohne Bevölkerung bzw. ohne eine Bevölkerung entsprechender Größe sind. Demgegenüber läßt sich die weit verbreitete Vorstellung, als brauche man räumlich nur alle Kosten der Ballung dem privaten Investor in diesen Räumen tatsächlich anzulasten, um diesen von selbst von einer Verstärkung der Ballung zurückzuhalten, nicht generell vertreten. Es kann sein, daß eine solche Maßnahme an einzelnen Orten genügt, aber es dürfte weit eher der Fall sein, daß selbst die größten Ballungszentren, wie etwa Paris, für den privaten Investor sogar unter den oben beschriebenen, gar nicht so leicht zu realisierenden Voraussetzungen noch von Vorteil sind. Die Raumordnungspolitik muß mit diesem Faktum und den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten um so mehr rechnen, als sie sich, vor allem aus nichtökonomischen Gründen, gegen eine weitere Verstärkung von Ballungen wendet. § 6. Ergebnis

Die vorstehend getrennt aufgeführten Faktoren bestimmen isoliert, vor allem aber in ihrem Zusammenwirken die Stärke der raumdifferenzierenden Faktoren. Dabei kommt heute einer Größe eine besondere Bedeutung zu: der historischen Komponente. Sie führt dazu, daß Strukturen, die sich zu irgendeiner Zeit aus irgendwelchen Gründen einmal

§ 6. Ergebnis

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gebildet haben, die Tendenz besitzen zu erstarren, wodurch neue strukturelle Änderungen erheblich erschwert werden. Miksch, dem wir eine eingehende Analyse dieses Phänomens verdanken, geht, wenn wir seine vorwiegend auf den ökonomischen Bereich beschränkte Aussage im Sinne dieses Grundrisses verallgemeinern, davon aus, daß viele Ergebnisse eines Prozesses ihrerseits zu Daten werden, die den nachfolgenden Prozeß entscheidend mitbestimmen. Das gilt für die vom ökonomischen Standpunkt oft völlig willkürlichen Landesgrenzen und die politischen Machtkonstellationen. Eine besonders wichtige Stellung nehmen aber auch die vom Menschen geschaffenen Kapitalgüter und ihre räumliche Verteilung ein. Kapitalgüter sind einerseits Ergebnis des Wirtschaftsprozesses, andererseits sind sie- bei dem üblichen, mit Bestandsgrößen (nicht nur mit Stromgrößen) operierenden Investitionskalkül Daten für den zukünftigen Wirtschaftsprozeß. Diese Eigenschaft erschwert entscheidend die Lenkungsfähigkeit des Marktpreises im Raum. Die Schwelle der Wirksamkeit wird durch die mehr oder weniger leichte "Einschmelzbarkeit" der Anlagen bestimmt. "Die Optimalität der räumlichen Wirtschaftsordnung ist begrenzt, weil der Wirtschaftsprozeß produzierte Produktionsmittel gleichsam wie ein starres Gerüst ausscheidet, die seinen weiteren Verlauf bestimmen und nur innerhalb gewisser Grenzen wieder aufgelöst werden können. Man kann sogar annehmen, daß mit wachsender Anhäufung produzierter Produktionsmittel die verbleibenden Freiheitsgrade relativ abnehmen oder, was auf dasselbe hinausläuft, die zur Einschmelzung notwendigen Datenänderungen auf eine zunehmende Wirksamkeitsschwelle stoßen24. " Das bedeutet, daß eine ,einmal1gepräigte Raumstruktur die immanente Tendenz hat, sich zu verewigen, daß entwickelte Gebiete (deren Entwicklung wie etwa in den alten Industrierevieren durch Naturgegebenheiten bestimmt wurde) im weiteren Entwicklungsprozeß gegenüber weniger fortgeschrittenen Regionen begünstigt werden. Das Gleiche gilt naturgemäß auch- und in diesem Punkt ist Miksch zu ergänzen-, wenn auf Grund historisch vorgegebener Grenzen oder bestimmter Marktentwicklungen in einzelnen Räumen sich die Kapitalausstattung stark unterschiedlich entwickelt. Der Grund für die unterschiedliche Entwicklung der Kapitalausstattung ist später völlig unerheblich, die Folge ist stets eine gewisse Erstarrung der überkommenen Struktur. Das daraus folgende, häufig zu beobachtende Phänomen der sich selbst verstärkenden Prozesse hat Myrdal mit der "Theorie der zirkulären und kumulativen Verursachung" (unter anderem Blickwinkel, jedoch mit dem gleichen Ergebnis) zu erfassen versucht25 • 24 L. Miksch, Zur Theorie des räumlichen Gleichgewichts, Weitwirtschaftliches Archiv, Bd. 66 (19511), S. 21. 25 Vgl. G. Myrdal, Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, Stuttgart 1959, besonders S. 9 ff. und S. 21 ff.

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II. Das Phänomen der Raumdifferenzierung

Wichtig für unsere weiteren Überlegungen ist nicht nur die Kenntnis der raumdifferenzierenden Faktoren (die den Raum überhaupt erst zu einem Problem der Raumordnungspolitik machen), sondern auch das Wissen um die Neigung zu einer raumstrukturellen Erstarrung. Die relative Optimalität des Allokationsprozesses- relative Optimalität in dem Sinne, daß die Standorte nicht ständig simultan neu bestimmt werden und die Kosten einer jeden Änderung mit in Ansatz gebracht werden müssen - muß in einem Grundriß der Raumordnungspolitik im Prinzip als unabänderlich hingenommen werden. Auf dieser Erkenntnis werden also die weiteren Ausführungen basieren. Gegenüber den überwiegend die Raumdifferenzierung begünstigenden Faktoren sei noch ein Vorgang besonders herausgestellt, der mit den oben einzeln aufgeführten Verursachungsfaktoren nicht erfaßt werden kann, aber dennoch in jüngster Zeit teilweise ziemlich stark im Sinne einer Abschwächung der Raumdifferenzierung gewirkt hat. Es handelt sich darum, daß in den letzten Jahren nicht selten Industriebetriebe auf das Land hinausgegangen sind. Ein Grund dafür liegt einmal darin, daß, wie oben schon näher ausgeführt, die Bedeutung der Transportkastenorientierung rückläufig gewesen ist. Ein anderer wichtiger Grund beruht darauf, daß die Beschäftigung in der Landwirtschaft ziemlich schnell absinkt und daher in ländlichen Gebieten sich eine besonders hohe Arbeitskraftreserve findet, die in Zeiten knapper Arbeitskräfte zu einer Wanderung der Industrie aufs Land führt. Dies ist in Zeiten fehlender Arbeitskräfte ein wichtiger Faktor, der die Raumdifferenzierung mindert bzw. die weitere Verstärkung der Raumdifferenzierung vermeidet.

111. Realitätsbezogene Modellelemente als Grundlage der Raumordnungspolitik Die vorstehende Beschreibung der raumdifferenzierenden Faktoren setzt den Rahmen für eine systematische Behandlung der raumtheoretischen Fragen. Wie oben bereits betont, liegt eine geschlossene Theorie bisher nicht vor, und eine solche zu erarbeiten ist nicht Ziel dieses Grundrisses. Er stellt sich vielmehr ein Ziel, das wesentlich weniger ehrgeizig ist, und gibt sich mit der Herausarbeitung einzelner Modellelemente zufrieden. Schwierigkeiten ergeben sich dabei daraus, daß solche Modellelemente, wenn der Autor richtig sieht, bisher nur für einzelne Bereiche der Raurnordnungspolitik erarbeitet sind. Da unter ihnen die Raumwirtschaftstheorie einen besonders hohen Entwicklungsstand erreicht hat, soll im folgenden versucht werden, von der Raumwirtschaftstheorie ausgehend zu wichtigen Erkenntnissen zu gelangen, die auch über die Raumwirtschaftstheorie hinaus Gültigkeit besitzen. Die Anfänge der modernen Raumwirtschaftstheorie sind sehr weitgehend durch partialanalytische Ansätze gekennzeichnet. So versucht etwa Johann Heinrich v. Thünen 1 die günstigsten Standorte der landwirtschaftlichen Produktion bei vorgegebenem Absatzort (die Stadt im Zentrum seiner konzentrischen Ringe) abzuleiten. Alfred Weber2 verfährt methodisch völlig gleichartig, wenn er den günstigsten Standort des einzelnen Industriebetriebes bei gegebenen Rohstoff-Fundorten und gegebenen Absatzorten ermittelt. Im einfachsten Modell ist das der Punkt, an dem die Transportkosten ein Minimum erreichen. Aber auch in den fortgeschrittenen Modellen Webers, in denen unterschiedliche örtliche Arbeitskosten sowie Agglomerationsvorteile und Agglomerationsnachteile zusätzlich berücksichtigt werden, bleibt grundsätzlich der partialanalytische Charakter des Modellansatzes bestehen. Demgegenüber wird es als bedeutender Fortschritt angesehen - so etwa von Stolper in seinem Vorwort zur 3. Auflage von Löschs "Räumliche Ordnung der Wirtschaft" 3 - , daß die moderne Standorttheorie ein 1 J. H. v. Thünen, Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, Neudruck nach der Ausgabe letzter Hand, Jena 1910. 2 A. Weber, Über den Standort der Industrie, I. Teil: Reine Theorie des Standortes, Tübingen 1909. 3 A. Lösch, Die räumliche Ordnung der Wirtschaft, 3. Aufl., Stuttgart 1962.

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III. Realitätsbezogene Modellelemente

vollständiges und umfassendes Gleichungssystem vorlegt, das die Wechselbeziehungen zwischen den Standorten beschreibt. Für eine solche Analyse spricht, daß sie der Interdependenz in der gegenseitig voneinander abhängigen Determinierung der räumlichen Ordnung der Menschen und der Aktivitäten besonders gut Rechnung trägt. Gegen sie spricht aber, daß eine solche Form der Untersuchung davon absieht und auch absehen muß, daß in jedem Beobachtungszeitpunkt bereits eine bestimmte räumliche Verteilung der Menschen und ihrer Aktivitäten vorherrscht und daß daher eine Analyse, welche die Kosten einer Veränderung der vorgegebenen Verteilung der Menschen und ihrer Aktivitäten über den Raum nicht berücksichtigt, notwendigerweise zu Ergebnissen führen muß, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechen. Sie unterstellt fälschlicherweise, daß sich zu jeder Zeit, ohne daß dadurch besondere Kosten der Raumüberwindung anfallen, die menschliche Tätigkeit stets an genau den Punkten vollzieht, die sich nach den in ihren Modellen enthaltenen Relationen ergeben. Zwar kann eine solche Betrachtungsweise wichtige Hinweise in bezug auf herrschende Entwicklungstendenzen in der räumlichen Verteilung geben; es bleibt aber die Frage, ob und inwieweit sich diese Tendenzen angesichts der "Schwerkraft", die der herrschenden Verteilung über den Raum innewohnt, tatsächlich durchsetzen. Den methodischen Erfordernissen genügt ausschließlich eine Analyse, die von vornherein der Tatsache, daß eine bestimmte räumliche Verteilung der Menschen und der Aktivitäten vorgegeben ist, Rechnung trägt. Dies könnte zunächst in der Weise erfolgen, daß man von einer ganz bestimmten räumlichen Verteilung ausgeht und die Kräfte analysiert, die in Richtung auf eine Änderung derselben wirken4 • Im Interesse der Wirklichkeitsnähe empfiehlt sich dabei, einen in Gegenwart oder Vergangenheit tatsächlich gegebenen Zustand als Ausgangspunkt zu wählen. Im Prinzip kann eine solche Analyse keine Rücksicht darauf nehmen, ob die Ausgangssituation ein "Gleichgewicht" darstellt, in dem sich alle Kräfte voll ausgewirkt haben und in ihren gegenseitigen Wechselwirkungen zur Ruhe gekommen sind. Eine solche Gleichgewichtslage wird sich in schnellen Wandlungen unterworfenen Gesellschaften- ein Tatbestand, der heute in den entwickelten Staaten weitgehend erfüllt ist - schon deshalb nicht herausbilden, weil sich viele Veränderungen erst nach einer längeren Zeit voll ausgewirkt haben. Der Gleichgewichtsbegriff der ökonomischen Theorie ist daher, gleichgültig ob er in sta4 Palander (T. Palander, Beiträge zur Standorttheorie, Uppsala 1935) hat bereits vor über 30 Jahren die Forderung nach einem entsprechenden methodischen Vorgehen gestellt, ohne daß indes sein eigener theoretischer Beitrag dieser Forderung genügt. Es gibt auch einige spieltheoretische Ansätze, die bei Einzelfragen methodisch ähnlich vorgehen.

III. Realitätsbezogene Modellelemente

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tischer oder dynamischer Form interpretiert wird, als Ausgangspunkt für eine solche Analyse ungeeignet. Es wird vielmehr eine vorgegebene räumliche Verteilung der Menschen und der Aktivitäten als Ausgangspunkt der Analyse gewählt. Dabei wird der Untersuchung nicht irgendein abstrakter Raum, etwa eine angenommene homogene Fläche, zugrunde gelegt; vielmehr wird als Basis der Untersuchung ein konkret gegebenes Gebiet ausgewählt. So bildet die konkret vorgegebene Fläche eines Wirtschaftsraumes (z. B. West- oder Mitteleuropa) mit der zum gewählten Zeitpunkt in ihr herrschenden Ausstattung- gleichgültig, ob diese ausschließlich von der Natur vorgegeben oder vom Menschen geschaffen und verändert worden ist - den räumlich-historischen Ausgangspunkt mit den darin wohnenden Menschen, mit allen seinen natürlichen und vom Menschen angelegten Verkehrswegen, kurz mit seiner ganzen Super- und Infrastruktur. Eine solche Untersuchung fragt dann nach den Änderungen, die sich am vorgegebenen Zustand der räumlichen Verteilung der Menschen und der Aktivitäten vollziehen. Diese Änderungen können methodisch gesehen auf zwei verschiedenen Arten von Vorgängen beruhen. Zunächst können sie schon in dem räumlich-historischen Ausgangspunkt der Untersuchung insofern grundgelegt sein, als sie sich direkt als Folge davon einstellen, wenn auch mit einer zeitlichen Verzögerung (lag). Da der räumlichhistorische Ausgangspunkt kein Gleichgewichtszustand im Sinne der ökonomischen Theorie sein muß (und in der Regel auch nicht ist), gehen von ihm Wirkungen aus, die erst in der Zukunft voll zum Tragen kommen. Ein erstes Beispiel für eine solche Form von räumlichen Änderungen wäre, daß .an irgendeinem Ort vor kurzer Zeit ein Betrieb neu entstanden ist und die Arbeiter ihre Wohnungen erst in Zukunft (teilweise) in die Nähe dieses Betriebes verlegen werden. Ein anderes Beispiel bestünde darin, daß eine künstliche Wasserstraße (Kanal) zwar schon in der Vergangenheit die Standortstruktur der Industrie verändert hat, daß sie aber auch in Zukunft diese noch weiter ändert. Sodann kann es sich um Änderungen handeln, die nicht als direkte Folge des räumlich-historischen Ausgangszustandes angesehen werden können, sondern mit ihm nur indirekt zusammenhängen. Es handelt sich hierbei um Entwicklungen, die gewissermaßen in dem Ausgangszustand implizite mitenthalten sind und in der Folge direkt zunächst die Standortdeterminanten verändern. Erst von hier aus wirken sie dann auch indirekt auf die Standortstruktur. Ein wichtiges Beispiel hierfür wäre, daß die Bevölkerung in einem räumlich-historischen Ausgangspunkt eine besonders starke Besetzung der jungen Jahrgänge aufweist; dies führt in der Zukunft zu hohen Geburtenüberschüssen, die ihrerseits das Standortgefüge ~ z. B. durch eine starke Ansiedlung neuer Industrien- ändern.

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III. Realitätsbezogene Modellelemente

Es entspricht also nicht dem hier geforderten methodischen Vorgehen, wenn man den räumlich-historischen Ausgangspunkt als einen am Anfang der Analyse völlig fix vorgegebenen Zustand interpretiert, der sich in der Zukunft nicht ändert. Ein solcher Ausgangspunkt könnte in der Zukunft nur noch Wirkungen auslösen, die einer gewissen Verzögerung unterworfen sind, also Änderungen, wie sie oben zunächst behandelt wurden. Vielmehr muß der räumlich-historische Ausgangspunkt so umfassend interpretiert werden, daß er auch alle schon getroffenen Entscheidungen enthält, die sich erst in Zukunft auswirken. In einem gewissen Sinne sind alle diese Änderungen bereits in der Ausgangssituation implizite eingeschlossen; bei der praktischen Arbeit empfiehlt es sich jedoch meist, sie gesondert in die Untersuchung einzufügen. Prinzipiell können diese Änderungen von der gleichen Größe abhängen, deren Veränderung sie betreffen, wie im obigen Beispiel der Veränderungsraten der Bevölkerung. In anderen Fällen wird es sich jedoch um Größen handeln, die eine Veränderung an anderen Größen zur Folge haben. So ist z. B. das Sparen einer Bevölkerung, also ihre Kapitalneubildung, weitgehend von der Höhe und Verteilung ihrer Einkommen abhängig, also durch die Einkommensverteilung der Bevölkerung bestimmt; ihrerseits bewirkt sie aber Änderungen im Bestand des Kapitals, also einer dritten Größe. Man könnte zwar bei der Untersuchung so vorgehen, daß man den gesamten Ausgangszustand als einen einheitlichen Gesamtkomplex behandelt. Es ist aber in der Regel zweckmäßig, dabei stärker zu differenzieren und eine getrennte Behandlung wichtiger Teilaspekte vorzunehmen. Oft geschieht das in der Weise, daß die einzelnen Produktionsfaktoren in ihren Gegebenheiten und ihren Entwicklungstendenzen getrennt eingehend analysiert werden. Häufig erfolgt auch eine besondere Untersuchung der Infrastruktur und deren wahrscheinlicher Entwicklung. Größte Bedeutung hat in der dieser Schrift zugrundeliegenden Gesamtkonzeption die historische Verankerung in Form der Fixierung eines konkreten räumlich-historischen Ausgangspunktes. Auch wenn dies nicht unbedingt zwingend ist, erscheint es am besten, diesen Ausgangspunkt so zu beschreiben, daß er dem Zustand eines ganz bestimmten Gebietes zu einer bestimmten Zeit mit allen vorhandenen Einrichtungen und den schon in der Gegenwart grundgelegten künftigen Änderungstendenzen entspricht. Untersucht wird dann, welche strukturellen Änderungen sich in der Zukunft gegenüber diesem historischen Bezugspunkt einstellen. Auf diese Weise wird berücksichtigt, daß die Standortentscheidungen jeder Zeit auf der Basis der in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen fallen.

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Ein Modell, das diese Wirkungen erfassen will, muß "partialanalytisch" orientiert sein, weil es stets nur einen Teil der relevanten Zusammenhänge erfassen kann. Es steht daher den Anfängen der Standorttheorie näher als neueren gesamtwirtschaftlichen Modellen. Anders als in den älteren partialanalytischen Modellen müssen allerdings die von jeder Standortwahl ausgehenden Rückwirkungen auf Dritte insoweit erfaßt werden, als sie diese zu einer Änderung ihrer raumrelevanten Entscheidungen veranlassen. Mit einem derartigen partialanalytischen Modell wird die gleichzeitige (Neu-)Bestimmung aller Standorte als ModeHansatz für die Raumordnungspolitik überwunden. An ihre Stelle tritt eine zeitlich sukzessive Fixierung von räumlichen Größen. Sie erfolgt jeweils auf der Basis der vorhandenen Standortstruktur unter Einschluß der als sicher erwarteten und als solche bekannten Änderungen, wobei jede Entscheidung das gerade vorhandene technische Wissen und viele andere Gegebenheiten (z. B. Kapitalausstattung, Zukunftserwartungen usw.) zugrundelegt. Das hier apostrophierte Modell muß auch um die Einbeziehung einer zeitlichen Komponente im Sinne einer "Dynamisierung" bemüht sein. Diese Forderung geht in Richtung auf eine Verbindung von Wachstumstheorie und Raumwirtschaftstheorie, wie sie heute verschiedentlich gefordert wird. Ob allerdings eine Kombination der Wachstumstheorie in ihrer heutigen Form mit raumwirtschaftstheoretischen Ansätzen5 der Raumordnungspolitik entscheidend weiterhilft, ist zu bezweifeln, da sich die Wachstumstheorie- wie die Standorttheorie- um der Klarheit und Prägnanz ihrer Ansätze und Ableitungen willen, völlig vom historischen Ablauf des Wirtschaftsprozesses .gelöst hat. Im Sinne des hier geforderten "realitätsbezogenen Modells" läge es dagegen, wenn die Veränderungen der Raumstruktur im wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß mit Hilfe von wachstumstheoretischen Ansätzen analysiert würden, wie sie sich ausgehend von einer historisch vorgegebenen Raumstruktur tatsächlich entwickeln. Ob man das, was dabei herauskommt, trotz seiner eingeschränkten Allgemeingültigkeit noch "Theorie" nennen oder für diese Form des gedanklichen Ansatzes eine andere Bezeichnung suchen will, erscheint von geringer Bedeutung. Immer handelt es sich darum, eine räumliche Ausgangsstruktur als vorgegeben zu unterstellen und die Kräfte zu untersuchen, die diesen Zustand im Laufe der Entwicklung verändern (wobei der Erklärungs5 Als wachstumstheoretischer Ausgangspunkt käme allenfalls ein Ansatz der neoklassischen Wachstumstheorie in Frage, wobei alles von einer Dekomposition des Restgliedes "technischer Fortschritt" der makroökonomischen Produktionsfunktion (in das unter anderem auch die räumliche Allokation der Produktionsfaktoren eingeht) abhinge. Einen in der geforderten Richtung

4 Müller, Raumordnungspolitik

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wert der Betrachtung mit zunehmender Länge des Beobachtungszeitraumes steigt). Zu unterscheiden ist dabei zwischen potentiellen und faktischen Kräften. Die Verbindung von historischer und theoretischer Sicht (falls diese Bezeichnungen noch zutreffen) erfaßt lediglich jene Kräfte, die tatsächlich eine Veränderung der ursprünglichen räumlichen Verteilung zur Folge haben, also nur jene Faktoren, die die räumlichhistorische Bindung des Wirtschaftsprozesses zu sprengen vermögen oder von dieser nicht betroffen sind. Was hier an jenem Ausschnitt der Zusammenhänge gezeigt wurde, der sich Raumwirtschaftstheorie nennt, besitzt vom Methodischen her gesehen auch für alle anderen Teile der Raumtheorie seine Bedeutung. Stets handelt es sich darum, daß ausgehend von einem konkret vorgebenen Zustand der räumlichen Verteilung untersucht wird, welche Kräfte eine Änderung daran auslösen. Ob die Kräfte dabei ökonomischer Natur sind und damit die Untersuchung zur Raumwirtschaftstheorie gehört, oder ob es demographische, technische oder solche Kräfte sind, die aus dem Bereich der Infrastruktur foLgen, oder ob ein ganzer Komplex solcher Kräfte wirksam ist, dürfte für die Art des geforderten Vorgehens ohne Belang sein. Welche Bedeutung eine solche Form der Interpretation besitzt, läßt sich wiederum am leichtesten anhand eines wirtschaftlichen Phänomens erläutern, nämlich der Investition in Sach:kapital. Dabei ist es wieder für die zugrundeliegende Fragestellung ohne Bedeutung, ob es sich dabei um eine private oder eine öffentliche Investition handelt. Zwar sind die Abläufe und vielleicht auch die Stringenz der aufgezeigten Entwicklung in diesen beiden Fällen voneinander verschieden, an dem Grundsatz ändert sich jedoch nichts. In diesem Zusammenhang ist von großer Bedeutung, zwischen drei verschiedenen Arten der Investition zu unterscheiden. Wird ausschließlich reinvestiert, d. h. schon vorhandenes, im Zuge der Produktion verbrauchtes Realkapital durch neues ersetzt- wobei mit solchen Reinvestitionen auf Grund des technischen Fortschrittes durchaus auch Produktionssteigerungen verbunden sein können - , so ist die Entscheidung in hohem Maße räumlich und sachlich an die Entscheidungen der Vergangenheit gebunden. Stark ist auch noch die räumliche Bindung bei Erweiterungsinvestitionen, besonders wenn diese eine Erhöhung der Produktion im Rahmen bisher schon angewandter Produktionsverfahren zum Ziel haben. Bei Neuinvestitionen, die über diesen Rahmen hinausgehen, kann der Unternehmer am ehesten unabhängig von seinen in der ausbaufähigen Ansatz liefert eine Untersuchung von Denison über das Wachstum in den Vereinigten Staaten. Vgl. E. F. Denison, The Sources of Economic Growth in the United States and the Alternatives Before US Supplementary Paper, No. 13 published by Committee for Economic Development, 1962.

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Vergangenheit getroffenen Entscheidungen sachlich und räumlich neu disponieren. Analysieren wir dieses Problem etwas näher, und zwar zunächst den Fall der Reinvestition. Sie vollzieht sich stets im Rahmen einer schon bestehenden wirtschaftlichen Einheit (also eines Unternehmens) oder sogar in einer technisch-örtlichen Einheit, also einem Betrieb. Ein Unternehmen oder ein Betrieb werden ihre Reinvestitionen in aller Regel am alten Standort vornehmen, besonders wenn der Anteil der festen Anlagen relativ hoch liegt. Eine Reinvestition an anderem Ort bildet dagegen die Ausnahme. Sie erfolgt nur dann, wenn der Unternehmer zu einer räumlichen Verlagerung seines Betriebs entschlossen ist. Diese vollzieht sich dann meist in der Weise, daß der Unternehmer die Reinvestition am alten Standort, soweit das eben möglich ist, unterläßt und statt dessen Anlagen an einem neuen, für ihn günstigeren Standort errichtet. Aber selbst wenn der Unternehmer auf diese Weise seinen Betrieb am alten Standort systematisch "aushungert", verbleiben immer noch viele ortsgebundene Investitionen, die sich auf diesem Wege gar nicht oder nur teilweise übertragen lassen, weil sie entweder überhaupt nicht abgeschrieben werden (Grund und Boden) oder ihre Abschreibungsfristen sehr lang sind (Bauinvestitionen, Versorgungsleitungen, Verkehrswege u. ä.). In jedem Fall entstehen erhebliche Verlagerungskosten für den Betrieb, weil eine völlige Synchronisierung aller Abschreibungen am alten Platze und der entsprechenden Reinvestitionen am neuen Standort angesichts der erheblich divergierenden Abschreibungsfristen ausgeschlossen ist. Diese Kosten werden um so höher sein, je kurzfristiger der Betrieb eine räumliche Verlagerung vornimmt. Es bedarf mithin erheblicher Anreize, ehe ein bestehender Betrieb im Rahmen der Reinvestition eine Standortverlagerung durchführt. Der Betrieb (oder das ihn tragende Unternehmen) wird sich erst dann zu einer räumlichen Verlagerung entschließen, wenn der Gegenwartswert der daraus erwarteten Vorteile größer ist als die Verlagerungskosten. Wie stark eine derartige Entscheidung von der Länge des Zeithorizonts des Unternehmers abhängt, ist evident. Die Stärke der räumlichen Beharrungstendenz wird bei Erweiterungsinvestitionen entscheidend durch die Größe des bereits bestehenden Betriebes sowie die Art und den Umfang der Produktionsausdehnung bestimmt6. Bescheidene Produktionserweiterungen werden in aller Regel am bestehenden Standort vorgenommen, während für eine starke betriebliche Expansion eher ein neuer Standort gewählt wird, besonders 6 Dabei sei an dieser Stelle davon abgesehen, daß andere Standortdeterminanten (z. B. Verfügbarkeitsbeschränkungen für u. U. räumlich relativ unbewegliche Faktoren wie Arbeitskräfte) dieser Beharrungstendenz entgegenwirken können.

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wenn dort die technisch oder wirtschaftlich optimale Betriebsgröße leichter realisiert werden kann, indem es etwa möglich ist, an diesem neuen Standort interne Ersparnisse zu erzielen. Dabei ist der Grad der technischen Verbundenheit zwischen der bisherigen und der neuen zusätzlichen Produktion sicherlich auch von erheblichem Einfluß auf die Art der Standortentscheidung. Am geringsten ist die durch die historische Komponente verursachte Bindung an den alten Standort, wenn ein Unternehmen eine völlig neue Produktion zusätzlich aufnimmt. Die Standortentscheidung ist jedoch auch in diesem Falle nicht völUg frei, weil immer mehr oder weniger intensive funktionale Beziehungen (in Produktion, Absatz, Personalwesen usw.) zu den,Unternehmenseinrichtungen am alten Standort bestehen bleiben. Bisher war immer nur davon die Rede, daß Remanenzwirkungen auf ein Unternehmen als Folge eigener ve11gangener Entscheidungen eintreten. Die Wirksamkeit der historischen Komponente erschöpft sich jedoch hierin nicht. Vielmehr ergeben sich Remanenzwirkungen sehr ähnlicher Art auch aus einer Vielfalt von Entscheidungen, die von anderen Stellen in der Vergangenheit gefällt wurden. Diese Entscheidungen haben um so stärkere Remanenzwirkungen, je weniger in naher Zukunft mit ihrer Revision gerechnet wird. So werden z. B. die räumlichen Entscheidungen eines Unternehmens in starkem Maße durch das Standortgefüge sämtlicher für Produktion, Absatz und Finanzierung notwendiger Faktoren geprägt (das seinerseits auch der historischen Beharrungstendenz unterliegt): durch die Standorte von Zulieferern, Abnehmern und Konkurrenten, aber auch in zunehmendem Umfang durch die Wohnorte der Arbeitskräfte. Sehr wichtig sind auch Entscheidungen der öffentlichen Hand. Die räumliche Verteilung öffentlicher Infrastruktureinrichtungen ist für die räumlich-historische Ausgangslage (und damit für die weitere Entwicklung) von sehr großer Bedeutung. Zwar kann ein Unternehmen langfristig in gewissem Umfang öffentliche Investitionen (etwa den Bau einerneuen Straße) im Anschluß an eine entsprechende eigene Standortentscheidung erhoffen. Aber es hat dafür keine Sicherheit. Meist wird sogar die historische Komponente in der Standortstruktur der sehr langfristigen öffentlichen Infrastrukturinvestitionen stärker wirken als in entsprechenden privatwirtschaftliehen Investitionen7 • Für einen Teil der öffentlichen Investitionen (z. B. Wasserleitungen, Straßen, Kanäle u. ä .) kommen Verlagerungen so gut wie nicht in Frage; man wird vielmehr 7 Ein klassisches Beispiel für die historische Remanenz im Bereich der Infrastruktur bietet Frankreich mit seinem Straßen- und Eisenbahnnetz, das seit dem Zeitalter der absoluten Monarchie auf Paris als Hauptstadt zugeschnitten ist.

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solche Einrichtungen, falls sich die Standortkomponenten entsprechend ändern, an anderer Stelle zusätzlich errichten. Eine Verstärkung erfährt die Wirksamkeit der historischen Komponente durch die Starrheit vieler rechtlicher Regelungen. Bestimmte Rechtsvorschriften, die auf eine andere Zeit zugeschnitten waren, aber mit der dem Recht eigenen langen Geltungsdauer auch noch in der Gegenwart Anwendung finden, können Standortneuentscheidungen erheblich erschweren. Zu denken ist hier insbesondere an viele Normen des Grundund Bodenrechts. Der Bedeutung der historischen Komponente für Fragen der Raurnwirtschaftstheorie wurde an dieser Stelle ein ziemlich breiter Raum gewidmet. Infolgedessen kann es bei der Übertragung der Ergebnisse auf andere Teile der Raumtheorie im wesentlichen mit dem Hinweis, daß dabei weitgehend ähnliche Fragen auftreten, sein Bewenden haben. Die Ergebnisse der Investitionsuntersuchung lassen sich zwar nicht unmittelbar darauf übertragen; jedoch zeigt schon die Tatsache, daß hierbei vielfach in der Vergangenheit erzeugte Realkapitalgüter mit im Spiel sind, die Verwandtschaft der Fragestellung auf. Auch im demographischen Bereich ergeben sich über die Bindung des einzelnen an eine Familie viele den Grundüberlegungen nahe verwandte Ansätze, wenn Probleme der räumlichen Verteilung der Bevölkerung und ihrer Wanderungsbewegungen zu analysieren sind. Mit diesen Überlegungen wird die Forderung nach Einbeziehung der historischen Komponenten in ein realitätsbezogenes Modell nachdrücklich unterstrichen. Die Anforderungen an ein derartiges Modell bzw. an entsprechende Modellelemente sind damit jedoch noch nicht erschöpft. Eine nicht zu unterschätzende Rolle im Prozeß der Standortentscheidung spielen externe Effekte, jene Wirkungen also, die die Entscheidungen verschiedener Entscheidungsträger (z. B. hinsichtlich Wohnort, Konsum, Produktion usw.) voneinander abhängig machen. Das Bestehen externer Effekte hat zur Folge, daß ein Wirtschaftssubjekt nicht für alle empfangenen Leistungen und Vorteile bezahlt, bzw. daß es nicht die vollen Kosten seiner Entscheidungen trägt. Die Zurechnung dieser Effekte an den Verursacher oder Nutznießer stellt einerseits ein logisches Problem dar, andererseits ergeben sich praktische Schwierigkeiten. Das Zurechnungsproblem ist rein logisch bei solchen Gütern nicht zu lösen, die im Zuge ihrer Nutzenstiftung nicht verzehrt werden (wie etwa die Nutzung städtischer Grünanlagen). Praktische Schwierigkeiten entstehen bei der Messung des Umfangs externer Wirkungen8 • Die Existenz von 8 Bei Luft- und Wasserverunreinigung läßt sich das Problem mit der Festlegung bestimmter Verschmutzungstoleranzen relativ einfach lösen. Die Technik bietet heute die Möglichkeit einer relativ wirksamen Abgasbekämpfung und Wasserreinigung.

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Unteilbarkeiten, insbesondere bei Infrastrukturinvestitionen, macht das Problem der externen Effekte besonders deutlich; eine adäquate Anlastung der Kosten auf die Nutznießer (bzw. Verursacher) wird dadurch besonders schwierig. Als Beispiele kann man etwa den Bau einer neuen Straße in einem noch unerschlossenen Gebiet oder den Bau einer durch die Ansiedlung eines Unternehmens zusätzlich erforderlichen Kläranlage nennen, beides Projekte mit einer bestimmten Mindestkapazität, die nicht nur auf den unmittelbar zutagegetretenen Bedarf zugeschnitten sein darf. Nachdem nun die Bedingungen dargelegt wurden, denen ein realitätsbezogenes Raumwirtschaftsmodell genügen muß, ist noch kurz die formale Frage nach der Art des Modells zu erörtern. Das hier geschilderte Modell kann in seinen Annahmen nicht von Agglomerationswirkungen, historischen Daten und Entwicklungslinien abstrahieren. Diese Zusammenhänge sind jedoch so kompliziert, daß sie sich nicht in einem exakt formulierbaren Modell bewältigen lassen. Deshalb ist bei den tatsächlich verwendeten Modellen "jeweils ein Kompromiß zu schließen zwischen den Möglichkeiten der inhaltlichen Aussage, der Realitätsbezogenheit der Annahmen und der Exaktheit der Ableitungen. Größere Exaktheit kann nur erkauft werden durch restriktive Annahmen und/oder verminderte Möglichkeiten der inhaltlichen Aussage" 9 und umgekehrt. Die Ausführungen dieses Abschnittes sollten die Schwierigkeiten aufzeigen, denen sich der Theoretikerangesichts der Forderung der Raumordnungspolitik, daß möglichst weitgehend wirklichkeitsbezogene inhaltliche Aussagen über die Raumstruktur in die Modelle eingehen sollten, gegenübersieht. Diese berechtigte Forderung führt zu einer Aufgabe des ganz allgemeinen theoretischen Ansatzes; vielmehr muß das Modell stets auf der Basis eines bestimmten räumlich und zeitlich fixierten Hintergrundes erstellt werden und darf auf keinen Fall von den Remanenzwirkungen bereits gefällter Entscheidungen absehen.

9

Vgl. E. v. Böventer, Theorie des räumlichen Gleichgewichts, Tübingen 1962,

s. 3.

IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur § 1. Das Leitbild der Raumordnungspolitik

Für das allgemeine politische Handeln des Menschen sind "letzte" Ziele maßgebend. Diese Ziele lassen sich nicht aus dem Wesen einzelner Teilbereiche menschlichen Handelns, wie etwa der Raumordnungspolitik, der Sozialpolitik oder Wirtschaftspolitik, ableiten; sie sind vielmehr allgemein menschlicher Natur1 • Ihr Gültigkeitsbereich geht damit über die einzelnen Teilbereiche der menschlichen Tätigkeit hinaus. Die in den Teilbereichen herrschenden speziellen Zielsetzungen können daher nur als "Zwischenziele" oder "Mittel" im Sinne dieser allgemeinen Ziele angesehen werden. Da diese allgemeinen Ziele mithin auch für die Raumordnungspolitik Gültigkeit besitzen, sollen sie im folgenden zunächst einer Betrachtung unterzogen werden, wobei versucht werden soll, wichtige raumordnungspolitische Implikationen dieser Ziele besonders herauszustellen. Sie können mit Giersch in alphabetischer Reihenfolge wie folgt umschrieben werden: Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand2 • Jedoch ist es weithin Geschmackssache, ob man es bei diesen fünf allgemeinen Zielen bewenden lassen will oder mehr oder weniger ausweist. Die Folge wäre nur, daß man je nach der Zahl der gewählten allgemeinen Ziele das Einzelziel mehr oder weniger extensiv interpretieren muß. Auch hinsichtlich der Frage der Zuordnung einzelner Unterziele zu diesen allgemeinen Zielen läßt sich oft eine völlige Eindeutigkeit nicht erreichen. Bei der ersten allgemeinen Zielsetzung, der menschlichen Freiheit, handelt es sich darum, den persönlichen Verfügungsbereich des einzelnen Menschen möglichst groß zu machen. "Möglichst groß" drückt dabei aus, daß die Freiheit auch als allgemeines Ziel noch durch andere Ziele begrenzt ist. Das gilt vor allem für solche Ziele, die sich gleichberechtigt neben der Freiheit im allgemeinen Zielkatalog finden. Die Freiheit läßt sich als letztes Ziel negativ und positiv abgrenzen. Eine negative Abgrenzung liegt vor, wenn man die Freiheit von Zwang betont, eine positive, wenn die Freiheit zum Handeln in den Vordergrund 1 s. hierzu E. v. Beckerath, "Politik und Wirtschaft : ist eine rationale Wirtschaftspolitik möglich?", in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF, Bd. 13, Berlin 1957, S. 25 ff. 2 H. Giersch, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Wiesbaden 1960, S. 68 ff.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

gestellt wird. Beide Aspekte sind in der Raumordnungspolitik in vielfältiger Weise angesprochen. Von grundlegender Bedeutung ist auch die Unterscheidung zwischen formaler und materialer Freiheit. Formale Freiheit begreift den Spielraum, der einem Individuum durch Verfassung und Gesetze in einer Gesellschaft eingeräumt wird ("Dürfen"). Die materiale Freiheit drückt aus, welches Feld dem einzelnen auf Grund seiner geistigen, körperlichen und materiellen Fähigkeiten offensteht ("Können"). Zwar zielt die Raumordnungspolitik in erster Linie auf eine Ausdehnung der materialen Freiheit durch eine Steigerung der materiellen Möglichkeiten (Angleichung der materialen an die formale Freiheit), doch ergeben sich auch Berührungspunkte mit der formalen Freiheit. Einmal ist es denkbar, daß die Aufrechterhaltung formaler Freiheit die Aktivität der Raurnordnungspolitik begrenzen kann: so verbietet der Grundsatz der Freizügigkeit etwa Zwangsumsiedlungsmaßnahmen. Zum andern kann der formale Freiheitsspielraum durch raumordnungspolitische Maßnahmen eingeengt werden (die sich aus dem Wunsche nach einem "gedeihlichen Zusammenleben" in der Gesellschaft herleiten): als Beispiele sind hier Maßnahmen wie der Immissionsschutz (Kontrolle der Luftverunreinigung) oder der Ausschluß privaten Grundeigentums an See- und Flußufern u. ä. zu nennen. Die formale Freiheit, bestimmte Dinge tun zu dürfen, nützt dem einzelnen jedoch nichts, wenn die Möglichkeit dazu nicht in seinem tatsächlichen Machtbereich liegt. So kann etwa das Recht der Freizügigkeit nicht in vollem Maße ausgeschöpft werden, wenn nicht in allen Gegenden eines Landes Arbeitsplätze angeboten werden. Auch der freien Entfaltung der Persönlichkeit stellen sich häufig Hindernisse entgegen, da z. B. nicht jede Gemeinde eine weiterbildende Schule besitzt. In beiden Fällen können raumordnungspolitische Maßnahmen die materiale Freiheit erhöhen : durch Dezentralisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten, durch Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und der Versorgung mit Schulen. Der einzelne erhält so die Möglichkeit, seinen formalen Freiheitsspielraum in höherem Maße zu nutzen. Der Freiheitsraum des einzelnen wird oft durch die Freiheitsrechte anderer Personen beschnitten, wenn sich die Freiheitsrechte verschiedener Personen gewissermaßen "kreuzen". Eine solche Überschneidung ist tendenziell um so wahrscheinlicher, je näher sich verschiedene Menschen im Raume sind. Daher ist eine "aufgelockerte Wohnweise" als Ziel der Raumordnungspolitik geeignet, den Freiheitsspielraum, der dem einzelnen zur Verfügung steht, tendenziell zu vergrößern. Das gleiche gilt von einer Einschränkung der Ballung oder auch von einer besseren Ordnung der Städtea. 3

s. hierzu SARO-Gutachten, a.a.O., S. 56 ff.

§ 1. Das Leitbild der Raumordnungspolitik

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Die Friedenszielsetzung ist im Rahmen der Raumordnungspolitik nicht direkt angesprochen. Zwar könnte man indirekt eine ganze Reihe von Beziehungen herstellen, jedoch erscheint eine solche Sicht nicht zweckmäßig, weil die Berufung auf den Frieden als ein Ziel auch der Raumordnungspolitik kaum überzeugen kann. Die Gerechtigkeitszielsetzung ist stets mit gewissen Vorstellungen von Gleichheit verbunden. "Gerechtigkeit kann als Gleichheit der formalen Freiheit, als Gleichheit der Startbedingungen, als Leistungsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit oder Gleichheit der materialen Freiheit verstanden werden4 ." Auch wenn man in dem hier behandelten Kontext von zwischenräumlicher Gerechtigkeit (oder Gleichheit) sprechen mag, so ist doch stets das Verhältnis zwischen den Menschen als Bewohnern verschiedener Räume, nicht das Verhältnis zwischen den Gebieten als solchen gemeint. Gleichheit der formalen Freiheit für alle Menschen in allen Gebieten eines Landes ist - zumindest in entwickelten Ländern - eine Selbstverständlichkeit. Anders steht es mit den übrigen Ausprägungen der Gleichheit. Die Startbedingungen für den einzelnen weichen in der Regel räumlich (insbesondere durch unterschiedliche Ausbildungsmöglichkeiten) stark voneinander ab. Aber auch interregionale Leistungsgerechtigkeit (im Sinne eines gleichen Lohnes für gleiche Leistung) ist in den meisten Ländern nicht gegeben. Gleichheit zwischen den Gebieten würde schließlich eine Nivellierung des Wohlstandes (Einkommen und Vermögen) verlangen. Raumordnungspolitische Maßnahmen (z. B. Industrialisierung zurückgebliebener Gebiete, Ausbau der Infrastruktur) können der Verwirklichung dieser Zielvorstellung dienen. Das Gerechtigkeitsziel enthält in dieser Beziehung, wie Giersch5 darlegt, zwei wichtige raumordnungspolitische Unterziele: Will man die Zunahme der relativen interregionalen Wohlstandsunterschiede vermeiden, so handelt es sich um ein vergleichsweise bescheidenes Unterziel. Die Pro-Kopf-Einkommen dürften dann in den ärmeren Gebieten - prozentual gesehen - nicht langsamer wachsen als in den reicheren; es käme also zu einem gewissen Ausgleich im Wachstum der Pro-KopfEinkommen in den Räumen, mit der Maßgabe, daß ein etwa eintretendes langsameres Wachstum in den reicheren Gebieten nicht ausgeschlossen wäre. 4 H. Giersch, a.a.O., S. 75. Bedarfsgerechtigkeit wird in einem marktwirtschaftliehen System nicht gewährleistet und daher auch in diesem Grundriß nicht einer differenzierten Betrachtung unterworfen, da dieser von der Voraussetzung ausgeht, daß in dem betreffenden Land eine Marktwirtschaft besteht. 5 H. Giersch, Das ökonomische Grundproblem der Regionalpolitik, Jb. f. Sozialwissenschaft, Bd. 14, 1963, S. 388 f.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

Geht man dagegen weiter und erstrebt eine Beseitigung der interregionalen Unterschiede in der Höhe der Pro-Kopf-Einkommen, so kann man dieses Unterziel nur erreichen, wenn die Pro-Kopf-Einkommen in den ärmeren Regionen auf jeden Fall schneller wachsen als in den reicheren. "Sie (die ärmeren Regionen, H. M.) auf ein Wohlstandsniveau zu bringen, das dem der reicheren entspricht, erfordert vermutlich weit mehr Anstrengungen, als - im Sinne der zuerst skizzierten Konzeption- einen Ausgleich der Wachstumsraten herbeizuführen, und kann ökonomisch eine Fehlallokation von Produktionskräften bedeuten6 . " Gerade weil in der Raumordnungspolitik nicht selten andere Ansätze eine Rolle spielen, sei noch einmal ausdrücklich betont, daß sich die Gerechtigkeitszielsetzung im oben umschriebenen Sinne direkt nur auf eine Gleichheit von Menschen beziehen kann. Eine Gleichheit in der Behandlung von Räumen ist aus dieser Gerechtigkeitszielsetzung nicht abzuleiten. Das hat zur Folge, daß in bezug auf diese Zielsetzung eine "aktive" Sanierung durch Verbesserung der wirtschaftlichen Struktur eines Gebietes und eine "passive" Sanierung (Erhöhung des Pro-KopfEinkommens eines Gebietes durch Abwanderung von Menschen) durchaus gleichwertig sein können7 • Die allgemeine Sicherheitszielsetzung beinhaltet, daß bestimmte Grade kollektiver wie individueller Sicherheit hergestellt werden, wobei die erstere wiederum in eine kollektive Sicherheit nach außen und eine solche nach innen unterteilt werden kann. Die kollektive Sicherheit nach außen ist in der Raumordnungspolitik bei gewissen Maßnahmen im Bereich der Landesverteidigung angesprochen; diese haben etwa zum Ziel, eine gewisse räumliche Entballung der Menschen und der Betriebsstätten aus militärischen Gründen vorzunehmen. Die kollektive Sicherheit nach innen umfaßt u . a. auch den Schutz der Bürger gegenüber einer allgemeinen Unterbeschäftigung. Soweit diese für eine ganze Volkswirtschaft droht, ist die Beseitigung der Gefahr eine Aufgabe der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Die Raumordnungspolitik ist dagegen speziell angesprochen, wenn es sich darum handelt, die Beschäftigung der Bevölkerung eines bestimmten Gebietes zu sichern8• Daher spielt unter den Maßnahmen, die der Erfüllung dieses Zieles dienen, die Umschulung von Personen in Gebieten, die in einer tiefgreifenden Umstrukturierung begriffen sind, wie heute z. B. die alten H. Giersch, Grundproblem, a.a.O., S. 389. Dies gilt natürlich nicht für den Fall, daß eine passive Sanierung eine kumulative Abwärtsentwicklung in den Gebieten mit Wanderungsverlusten hervorruft. 8 Sicherung der Beschäftigung bedeutet jedoch nur Gewährleistung eines (nicht: eines bestimmten) Arbeitsplatzes. 8

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§ 1. Das Leitbild der Raumordnungspolitik

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Industriegebiete an der Ruhr und an der Saar, eine wichtige Rolle. Es zählen dazu aber auch alle Notstandsmaßnahmen im engeren Sinne, bei denen Gebiete, in denen die Bevölkerung nur ein besonders niedriges Einkommen bezieht, eine zusätzliche Förderung mit dem Ziel einer schnellen Erhöhung des Beschäftigungszustandes zuteil wird. Bei der vorangehenden Interpretation der gesellschaftspolitischen Zielsetzungen wurde vielfach schon die Wohlstandssteigerung als mögliches Zwischenziel zur Erreichung der letzten Ziele angesprochen. Dadurch wird deutlich, daß die Wohlstandszielsetzung, die nunmehr noch zu behandeln ist, nicht unbedingt auf derselben Ebene steht wie die anderen Ziele Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit. Das bedeutet, daß sie vielfach ihren Sinn erst von den anderen Zielen her empfängt. Trotzdem wurde hier die Wohlstandszielsetzung in den Kreis der allgemeinen Ziele aufgenommen, da sie zu denjenigen Kategorien gehört, die im Zuge der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung der jüngeren Zeit zentrale Bedeutung erlangt haben. Die Wohlstandszielsetzung kann als Verpflichtung zu einer möglichst raschen Steigerung des Sozialprodukts aufgefaßt werden. Der Raurnordnungspolitik ist über den an anderer Stelle schon aufgezeigten Zusammenhang hinaus durch die Wohlstandszielsetzung die Aufgabe übertragen, für einen möglichst effizienten Einsatz der Produktionsfaktoren im Raum zu sorgen. Durch eine ausdrückliche Berücksichtigung des Raumes in einem raumordnungspolitischen Kalkül ließe sich die Aufgabenstellung der Raumordnungspolitik in dieser Hinsicht als "Gewährleistung" optimaler Allokation der Produktionsfaktoren im Raum formulieren. Optimal ist dabei einmal im Rahmen der oben dargelegten theoretischen Überlegungen zu einem realitätsbezogenen Modell zu verstehen, zum anderen innerhalb der Begrenzung durch die Verfolgung außerökonomischer Ziele (wie etwa der Erfordernisse der Landesverteidigung). Die bislang vorgenommene Einordnung der Raumordnungspolitik bei der Realisierung letzter gesellschaftspolitischer Zielvorstellungen kann leicht den Eindruck erwecken, als stünden die Ziele stets im Einklang miteinander. Das ist jedoch keineswegs der Fall, vielmehr ergeben sich neben vielen Fällen, in denen zwei oder mehrere Ziele sich gegenseitig ergänzen, auch vielfältige Konfl.iktmöglichkeiten. Zielergänzungen sind z. B. in der Hinsicht zu verzeichnen, daß eine Erhöhung des Wohlstands in der Regel auch den Freiheitsspielraum vermehrt. Konkurrierende Beziehungen ergeben sich vor allem zwischen Freiheit und Gerechtigkeit9, indem mehr staatliche Regeln, die eine höhere Gerechtigkeit 9 H. Giersch, Allgemeine Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 77. Auf ihn sei auch für eine ausführliche Diskussion dieser Beziehungen verwiesen.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

sichern, dem einzelnen vermehrten Zwang auferlegen und damit seine Freiheit beschneiden. Trifft diese Möglichkeit konkurrierender und komplementärer Zielbeziehungen schon für den allgemeinen Rahmen der Ziele einer Gesellschaft zu, so steht eine ähnliche Möglichkeit auch für die raumordnungspolitischen Ausprägungen der allgemeinen Ziele zu erwarten, ohne daß es einer näheren Begründung dafür bedürfte. Allerdings ergeben sich hierbei mehrere zusätzliche Arten von Konfliktfällen; es kommen jetzt nämlich alle jene Fälle zusätzlich in Frage, bei denen verschiedene Gebiete zueinander in Beziehung treten, sei es auf interregionaler oder internationaler Ebene. Eine systematische Untersuchung ergibt vier Ebenen für derartige Zielbeziehungen. Wir können hierbei zwischen horizontalen und vertikalen Beziehungen unterscheiden, je nachdem, ob es sich um Beziehungen auf ein und derselben Ebene oder um Beziehungen zwischen über- und unte11geordneten Gebietseinheiten handelt: 1. Bei der raumordnungspolitischen Ausprägung eines bestimmten Zieles

ergeben sich Beziehungen positiver bzw. negativer Art zwischen verschiedenen Gebieten. So kann etwa das beschleunigte Wachstum im Gebiet A das Wachstum in einem anderen Gebiet B entweder fördern (positive Verbundenheit) oder hemmen (negative Verbundenheit).

2. Eine zweite Form der Verbindung ergibt sich, wenn verschiedene Ziele in verschiedenen Gebieten positiv oder negativ miteinander verbunden sind. So kann etwa die verstärkte Freiheit in einem Gebiet das Wachstum in einem anderen positiv oder negativ beeinflussen. 3. Weiter sind bei einem bestimmten Ziel Beziehungen zwischen einem bestimmten Gebiet und der übergeordneten räumlichen Gesamtheit ("Nation") möglich. 4. Endlich können entsprechende Beziehungen auch bei verschiedenartigen Zielen zu verzeichnen sein. Alle diese Zielbeziehungen sind von größter Bedeutung für die Raumordnungspolitik. In bezug auf Zielbeziehung 1 und 2 ergibt sich die Frage, ob die Verbesserung der Lage in einer Region - im Sinne der Annäherung an ein bestimmtes Ziel - eine Verbesserung der Lage in einer anderen Region erleichtert oder erschwert. Zielbeziehung 3 und 4 lassen sich auf die allgemeine Frage zurückführen, ob die Verbesserung der Lage in einer Region eine Verbesserung in der Gesamtgesellschaft erleichtert oder erschwert. Konkret würde das bedeuten, daß wir uns z. B. fragen, ob eine Wohlstandssteigerung in einer Region eine Wohlstandssteigerung in der übergeordneten Ge-

§ 1. Das Leitbild der Raumordnungspolitik

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Samtgesellschaft ("Nation") fördert oder hemmt. Art und Umfang möglicher Zielbeziehungen hängen von der Auswahl und Gewichtung der einzelnen Postulate sowie von den raumwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ab. Da diese Art von Zielbeziehung von besonderer Bedeutung ist, sei diese im folgenden vorwiegend behandelt, und zwar an Hand der Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Wohlstandszielsetzung für eine Region mit einer entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung harmoniert bzw. ob hier Kollisionen auftreten können. Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß zwei verschiedene Möglichkeiten der Konzeption des Verhältnisses bestehen: eine ausschließlich gesamtwirtschaftliche Orientierung oder die Orientierung an Hand der Ziele der einzelnen Region, in den Worten von Bye, eine Politik "de la region pour la nation" oder "de la region pour la region" 10• Die gesamtwirtschaftliche Orientierung verlangt von der Raumordnungspolitik, daß sie sich vollkommen in den Dienst der allgemeinen Wirtschaftspolitik stellt. Dies bedeutet, daß sie eigene Zielsetzungen nicht kennt, also ihre Eigenständigkeit aufgibt und zum Instrument der globalen Wirtschaftspolitik wird. Wenn sich also die allgemeine Wirtschaftspolitik etwa ein bestimmtes Wachstumsziel setzt, so bleibt der Raurnordnungspolitik nur, die für diese Zielsetzung erforderlichen raumwirtschaftlichen Bedingungen zu realisieren. Raumordnungspolitische Zielsetzungen nehmen damit den Charakter raumstruktureller Erfordernisse einer gesamtwirtschaftlichen Zielsetzung an. Man mag einwenden, daß in diesem Extremfall überhaupt keine Raumordnungspolitik mehr betrieben werde. Der neoliberale Ausspruch, eine gute Wirtschaftspolitik sei die beste Sozialpolitik, ließe sich dementsprechend für die Raumordnungspolitik abwandeln: Eine gute allgemeine Wirtschaftspolitik ist die beste Raumordnungspolitik. Einer Raumordnungspolitik bleibt jedoch auch bei der extrem gesamtwirtschaftlichen Orientierung noch ein weites Feld, nämlich die bewußte Einflußnahme auf die Raumstruktur zur Erzielung der (ökonomisch) optimalen Allokation der Produktionsfaktoren. In diesem Extremfall bleiben interregionale Gerechtigkeitsvorstellungen, wie sie oben näher umschrieben wurden, ausgeklammert. Kriterium für die zu treffenden Maßnahmen ist allein die gesamtwirtschaftliche Effizienz. Man könnte eine solche Ausprägung der Raumordnungspolitik daher auch kurz "Allokationspolitik" nennen. 10 M. Bye, Commentaires relatifs au rapport introductif de M. le professeur Davin, in: Universite de Liege, Institut de Science Economique (Hrsg.), Theorie et politique de l'expansion regionale, Brüssel1961, S. 124; vgl. auch U. Thumm, Die Regionalpolitik als Instrument der französischen Wirtschaftspolitik: Eine Untersuchung des Amenagement du Territoire, Berlin 1968 (Diss. Freiburg

1968).

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

Die Politik "de la region pour la region" rückt dagegen ganz einseitig die einzelne Region in das Blickfeld ihres Interesses. Denkbar wäre in diesem Fall, die Region als Trärger einer regionsspezifischen Politik zu sehen, die das Ziel einer optimalen Entwicklung der Region ohne Rücksicht auf die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen verfolgt. Der Bezugspunkt der Optimalität hat sich dabei entscheidend gewandelt. Die extreme Formulierung macht schon deutlich, welche Gefahren eine so konzipierte Politik in sich birgt. Möglicherweise verengt sich der Horizont so sehr, daß gesamtwirtschaftliche Überlegungen völlig vernachlässigt werden. Selbst wenn eine übergeordnete Institution Träger einer solchen Politik ist, sind Fehllenkungen der Produktivkräfte -rein gesamtwirtschaftlich gesehen- zu erwarten. Da diese Politik in der Regel bewußt mit interregionalen Gerechtigkeitsvorstellungen operiert (z. B. Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen zwischen den verschiedenen Regionen), kann man sie auch als räumliche Einkommenspolitik apostrophieren. Das wären die beiden möglichen extremen Lösungen. In der praktischen Arbeit wird sich eine Lösung zwischen ihnen ergeben müssen, die mehr bei dem einen oder mehr bei dem anderen Extrem - je nach der herrschenden politischen Auffassung und der konkreten Ausgangssituation - liegen mag 11 • Eine mögliche Lösung des Zielkonflikts wäre, eines der rivalisierenden Ziele bestmöglich zu erfüllen und dem anderen die Rolle einer Nebenbedingung zuzuweisen. Ein solcher Kompromiß läge etwa vor, wenn man grundsätzlich die gesamtwirtschaftliche Zielsetzung bestmöglich zu verfolgen versucht, aber gleichzeitig, etwa aus Gerechtigkeitsvorstellungen, fordert, daß die Unterschiede im regionalen Pro-Kopf-Einkommen einen bestimmten Wert nicht überschreiten dürfen. Eine andere Möglichkeit wäre, eine maximale Angleichung der regionalen Pro-Kopf-Einkommen zu postulieren, aber gleichzeitig die Forderung aufzustellen, daß dabei das gesamtwirtschaftliche Wachstum langfristig nicht unter einen bestimmten Prozentsatz absinken darf12 • Dabei gilt der Unterschied zwischen Nebenbedingung und Hauptzielkomponente ausschließlich im mathematisch formalen Sinne. Materiell 11 Die grundsätzliche Frage der Zielbeziehungen ist natürlich streng von der nahe mit ihr verbundenen zu trennen, ob eine Volkswirtschaft es sich wirtschaftlich leisten kann, gegen die optimale Nutzung ihrer Produktivitäten zu verstoßen. Das kann auf die Dauer schwerwiegende negative Folgen haben, besonders im internationalen Wettbewerb. Andererseits verstoßen alle Volkswirtschaften laufend in gewissem Umfange dagegen. Hinzu kommt, daß die Möglichkeit des Verstoßes ohne schwerwiegende wirtschaftliche Sanktionen mit dem Wohlstand eines Landes tendenziell zunimmt. Es kommt also hier wohl weniger auf den Grundsatz als auf das Ausmaß an. 12 Voraussetzung ist dabei selbstverständlich, daß die Nebenbedingungen zulässig, d. h. im Rahmen der gegebenen Bedingungen rPalisierbar sind.

§ 1. Das Leitbild der Raumordnungspolitik

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kann es, bei entsprechender Wahl der Größen, durchaus so sein, daß der in der Nebenbedingung erscheinenden Zielkomponente die weitaus größere Bedeutung zukommt, da sie den noch möglichen Extremwert der anderen Zielkomponente sehr stark einschränkt. In den obigen Beispielen wäre das etwa der Fall, wenn jeweils die Nebenbedingung recht hoch fixiert wird. Im ersten Beispiel würde das bedeuten, daß man eine starke Angleichung der regionalen Pro-Kopf-Einkommen postuliert, im zweiten, daß man nur eine geringe (im Extremfall sogar gar keine) Wachstumseinbuße gegenüber dem Fall einer gesamtwirtschaftlichen Orientierung zuzulassen bereit ist. Was im Vorstehenden für die Wohlstandszielsetzung herausgestellt wurde, gilt genauso für alle anderen Komponenten von allgemeinen raumordnungspolitischen Zielsetzungen. Stets besteht die Möglichkeit, daß· die gesamtgesellschaftliche Ausprägung dieser Zielsetzung mit der spezifisch regionalen Ausprägung der gleichen Zielsetzung kollidiert. Unproblematisch hingegen sind jene Fälle, in denen beide harmonieren. Jedoch läßt sich auf die Fra,ge, welcher der beiden Fälle wahrscheinlich der häufigere sein wird, keine allgemeingültige Antwort finden. Selbstverständlich greift der Bereich dieser Kollisionen auch auf jenen Fall über, daß eine bestimmte Komponente der Zielsetzung in der Politik der einzelnen Region mit einer anderen Zielkomponente auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kollidiert. In dieser Beziehung ergeben sich im Einzelfall ganz verschiedene Kollisionsmöglichkeiten. Es soll daher auf ihre eingehendere Behandlung verzichtet werden, zumal keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Endlich gibt es abseits der behandelten Zielbeziehungen auf regionaler und gesamtgesellschaftlicher Ebene noch entsprechende Berührungspunkte zwischen den einzelnen Regionen: Die von einzelnen Regionen anvisierten Ziele - seien sie gleichartig oder unterschiedlich - können im Verhältnis der Komplementarität oder in Konkurrenzbeziehung zueinander stehen. Die verschiedenen Zielsetzungen - denen hier ebenfalls nicht weiter nachgegangen werden soll - ergeben sich, weil die Politik der einzelnen Regionen nicht oder zumindest nicht vollständig in das Zielsystem der räumlichen Gesamtheit ("Nation") integriert ist. Art und Ausmaß dieser Antinomien variieren von Fall zu Fall, so daß sich Allgemeines darüber kaum aussagen läßt. Jedoch muß mit Nachdruck auf die Möglichkeit von Antinomien (zwischen den verschiedenen Zielen und Zielebenen) hingewiesen werden, um unbewiesene und unbeweisbare Harmonievorstellungen auszuschließen. Aus dem oben behandelten allgemeinen Zielkomplex ergeben sich bestimmte Folgerungen für die anzustrebende räumliche Ordnung. Um

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

dieses Leitbild zu verwirklichen, benötigt der Träger der Raumordnungspolitik Handlungsprinzipien, die den Charakter allgemeiner Grundsätze der Raumordnung tragen. Diese Grundsätze werden in der Regel - besonders wenn sie gesetzlich fixiert sind - sehr abstrakt und vielfach sogar Leerformeln sein, die inhaltlich ausgefüllt und für spezielle Einzelprobleme konkretisiert werden müssen. Die Probleme der Leitbildformulierung und der Konkretisierung von Grundsätzen sollen im folgenden am Beispiel des Raumordnungsgesetzes des Bundes vom 8. 4. 1965 dargestellt werden. Das allgemeine Leitbild der Raumordnung manifestiert sich in § 1 dieses Gesetzes. Er knüpft alle raumordnerischen Überlegungen an das übergeordnete gesellschaftspolitische Leitbild, erhebt gesamtdeutsche und europäische Belange zur orientierenden Verpflichtung und betont die wechselseitige Bedingtheit des Gesamtraumes und seiner Teilräume. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, daß § 1 ROG im wesentlichen nur ausfüllungsbedürftige Leerformeln enthält. Eine genauere Fixierung seines Wollens strebt der Gesetzgeber13 in§ 2 mit den neun Grundsätzen der Raumordnung an. Grundsatz 1 fordert, die räumliche Struktur von Gebieten "mit gesunden Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie ausgewogenen sozialen und kulturellen Verhältnissen" zu sichern und weiterzuentwickeln; in Gebieten, in denen eine solche Struktur noch nicht besteht, sind entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Grundsatz 2 bejaht die "Verdichtung von Wohn- und Arbeitsstätten", soweit sie zu gesunden Verhältnissen führt. Grundsatz 3 stellt als Ziel die Förderung solcher Gebiete auf, in denen die Lebensbedingungen wesentlich hinter dem Bundesdurchschnitt zurückgeblieben sind. Grundsatz 6 verlangt, der Verdichtung solle dort entgegengewirkt werden, wo diese zu "ungesunden räumlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen" führt. Neben diesen allgemeinen Grundsätzen stehen andere speziellerer Natur: die besondere Förderung des Zonenrandgebietes (Grundsatz 4), die Erhaltung der Land- und Forstwirtschaft (Grundsatz 5), die Erhaltung und Pflege der Landschaft (Grundsatz 7), die Berücksichtigung landsmannschaftlicher Verbundenheit (Grundsatz 8) und die Beachtung von Erfordernissen der zivilen und militärischen Verteidigung (Grundsatz 9). Diese Grundsätze sind von den in § 3 angesprochenen Stellen gegeneinander und untereinander abzuwägen, wobei§ 1 als Richtschnur dienen soll. Eine solche Abwägung ist naturgemäß stets eine politische Aufgabe. Ihr muß zwar, vor allem weil die Ziele im Bereich der Raumordnung "nur in Teilen, nicht aber im Ganzen rechenmäßig exakt zergliedert 13 Vgl. zum folgenden den instruktiven Beitrag von B. Dietrichs, Raumordnungsziele des Bundes, in: Informationsbriefe für Raumordnung, 1965, R. 3.1.2.

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und ausgeglichen werden" 14 können, ein gewisser Spielraum verbleiben, doch bleibt festzustellen, daß die Konkretisierung der Ziele und Grundsätze noch wenig weit gediehen ist. Dieser Einwand hat um so größere Bedeutung, als die weitere Ausgestaltung des Leitbildes in Form von Plänen und Programmen Länderangelegenheit sein soll. Da dabei zusätzlich noch die Beteiligung der Gemeinden und Gemeindeverbände, also einer Vielzahl von Stellen, vorgeschrieben ist, ist die Aufstellung eines einheitlichen, hinreichend konkretisierten Zielkataloges von ganz entscheidender Bedeutung. Sie ist durch die Bestimmungen des Bundesraumordnungsgesetzes nicht erreicht. Schon die grundlegende Frage, ob der Teilraum (Region) oder der Gesamtraum (Nation) bei einer Interessenkollision Vorrang haben soll, ist in keiner Weise klar geregelt. Mit der Soll-Bestimmung (§ 1, Abs. 4), daß die Ordnung der Einzelräume sich in die Ordnung des Gesamtraumes einfügen und die Ordnung des Gesamtraumes die Gegebenheiten und Erfordernisse seiner Einzelräume berücksichtigen solle, ist im Konfliktfalle nichts anzufangen. Die weiteren Paragraphen des Gesetzes bringen zwar eine Fülle detaillierter Bestimmungen, aber keine Lösungen - allenfalls wenige verfahrensrechtliche Regelungen - für den Fall von Interessenkollisionen. Auch für die Koordinierung verschiedener Ziele untereinander bietet das Raumordnungsgesetz des Bundes wenig Anhalt. Was soll etwa geschehen, wenn die Erfüllung von Grundsatz 3 (Verbesserung von Lebensbedingungen in zurückgebliebenen Gebieten) sich mit Grundsatz 2 (Verbesserung der Lebensbedingungen in Verdichtungsräumen) nicht oder nicht voll vereinbaren läßt? Noch schwieriger ist indes das Problem, wenn es sich um Fragen handelt, die verschiedene Ressorts angehen. Auch für diesen Fall bietet das Bundesraumordnungsgesetz keinerlei konkrete Handhabe. Dietrichs15 betont mit Recht, daß sehr oft Maßnahmen anderer Ressorts auch schwerwiegende Auswirkungen auf die tatsächliche räumliche Struktur besitzen. Dabei ist es dem Wesen des Problems entsprechend gleichgültig, ob das diese Maßnahmen betreibende Ressort sich der räumlichen Relevanz seiner Maßnahmen bewußt ist oder nicht. Ihr Einsatz führt, wenn auch nicht zwangsläufig, so doch in vielen Fällen zu Konfliktsituationen innerhalb der verschiedenen Bereiche der Politik. Im Augenblick werden diese Konflikte nicht selten zuungunsten der Raumordnungspolitik entschieden- so z. B. bei der Stillegung mancher Nebenlinien der Deutschen Bundesbahn zum Zweck der Verringerung ihres Defizits oder bei 14 15

SARO-Gutachten, a.a.O., S. 54. B. Dietrichs, Raumordnungsziele, a.a.O., S. 4 f .

5 Müller, Raumordnungspolitik

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dem immer wieder zu verzeichnenden Bau von Industrieanlagen an landschaftlich besonders bevorzugten Orten. Die sich hier ergebenden Schwierigkeiten sind nicht zuletzt eine Folge der mangelnden Konkretisierung der raumordnungspolitischen Ziele einerseits und der fehlenden klaren Einbettung dieser Ziele in einen allgemeinen Zielkatalog andererseits. Auch die meisten Bundesländer haben in ihren einschlägigen Gesetzen, die in der Regel als "Landesplanungsgesetze" bezeichnet werden, kaum eine konkretere Zielfixierung vorgenommen. Vielmehr finden sich in ihnen ähnlich allgemein gehaltene Formulierungen wie im Raumordnungsgesetz des Bundes. Über die Landesplanungsgesetze hinaus konkretisierten einzelne Länder ihre Leitbildvorstellungen in Form von (unterschiedlich bezeichneten) Entwicklungsplänen. Naturgemäß kann die Konkretisierung der Vorhaben zunehmen, je tiefer die Handlungsebene liegt. Es ist daher verständlich, daß die Konkretisierung der Zielvorstellungen beim Bund und bei den Ländern bisher wenig weit fortgeschritten ist. Eine allgemeine Konkretisierung16 von Zielen der Raumordnung, wie sie auf Bundes- und z. T. auch auf Landesebene erforderlich wäre, ist naturgemäß sehr viel schwieriger als eine Konkretisierung für den Einzelfall. Trotzdem ist eine Konkretisierung der Zielvorstellungen auf Landes- und Bundesebene, wenn auch ohne Festlegung ganz bestimmter Details, unentbehrlich. Wer ein wenig die Planvorstellungen der örtlichen Planungsträger kennt, wird nämlich feststellen, daß nicht selten infolge Fehlens einer überörtlichen Koordinierung die Summe der örtlichen Planungen das in Zukunft insgesamt Mögliche bei weitem übersteigt. So erscheint die Formulierung keineswegs übertrieben, daß wahrscheinlich die in der BRD von örtlichen Stellen geplanten Ansiedlungen an elektronischer Industrie in ihrer Summe geeignet wären, den zukünftigen Bedarf ganz Europas zu decken. Das gleiche gilt für andere Wachstumsindustrien. Eine überörtliche Zielabstimmung ist also dringend nötig, wenn derartige völlig utopische Vorstellungen und entsprechende Fehlplanungen verhindert werden sollen. Wahrscheinlich bleibt auch hier nur der Weg einer "konsistenten Planung" der konkreteren Ziele, indem die Planungen der unteren Einheiten so aufeinander abgestimmt werden, daß sie ein passendes Ganzes bilden, d. h . eine Planung zustande kommt, die insgesamt einigermaßen dem wahrscheinlichen Gesamtbedarf entspricht. Jedoch ist es sicher außerordentlich schwierig, hierfür Formen zu entwickeln, die einerseits der Auf diese Schwierigkeiten weist W. Ernst mit Recht besonders hin. (W. Leitbild der Raumordnung, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover 1966, S. 1091.) 18

Ernst,

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Konsistenz-Forderung entsprechen, andererseits den kommunalen Entscheidungsbereich nicht über Gebühr einengen. Bei der Frage der Konkretisierung der Leitbildvorstellungen taucht dann noch ein weiteres Problem auf. Es ist von besonderer Bedeutung für eine Politik vom Standpunkt eines eigenständigen Teilraumes, hat aber auch für alle Formen einer Politik vom nationalen Standpunkt große Bedeutung, sofern in diese ein regionales Eigeninteresse in Form einer Nebenbedingung - und das dürfte weitgehend der praktischen Handhabung entsprechen - eingeht. Es erhebt sich nämlich die Frage, wie groß die räumlichen Einheiten sein sollen, die unter Verfolgung ihrer besonderen Ziele zum Träger einer eigenen Raumordnungspolitik werden oder die mit ihren Interessen in Gestalt von Nebenbedingungen im Leitbild der übergeordneten Raumeinheit berücksichtigt werden sollen. Diese Frage ist deshalb von größter Bedeutung, weil eine allzu starke regionale Unterteilung die erfolgreiche Tätigkeit der Raumordnungspolitik geradezu in Frage stellen kann. Bei zu starker Parzeliierung der Regionalplanungshoheit droht in verstärktem Maße ein "Planquadratdenken", das praktisch jeden Quadratkilometer eines Landes gleich ausgerüstet sehen möchte. So hegen viele Gemeinden die Ansicht, daß sie - vor allem wegen der dabei zu erwartenden und dringend benötigten Gewerbesteuereinnahmen - quasi einen Anspruch auf Industrialisierung haben (also auf eine Fabrik innerhalb der Gemarkungsgrenzen). Für eine Raumordnungspolitik, die sich nicht völlig gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen verschließen will, kommt ein derartig "kleinkariertes" Denken nicht in Frage. Wie groß allerdings die Raumeinheiten zu wählen sind, läßt sich allgemein nicht sagen. Jedoch ist die oft geübte Praxis nicht befriedigend, die überkommene politische Struktur (Verwaltungsstruktur) eines Staates (etwa Bundesland, Landkreis, Gemeinde) als verpflichtend auch für die institutionelle Raumordnungspolitik anzusehen. Wie wichtig die Frage nach der Größe der räumlichen Einheit ist, die selbständig in der Raumordnungspolitik berücksichtigt werden soll, zeigt sich auch daraus, daß eine passive Sanierung als mögliches Mittel der Raumordnungspolitik selbst für kleine Räume völlig ausscheidet, wenn die selbständigen Einheiten zu klein bemessen werden. Wählt man die Einheiten größer, so können innerhalb ihrer Grenzen einzelne Teilräume, falls es erforderlich ist, durchaus auch in passiver Form saniert werden, wenn sich nur andere Teilräume umso positiver, auch hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl, entwickeln. An dieser Stelle wollen wir die Diskussion der Leitbildvorstellungen abbrechen. Falls Leitbilder ihre Allgemeinverbindlichkeit bewahren sollen, müssen sie stets relativ abstrakt bleiben (wenngleich eine Konkre-

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tisierung der in der BRD gehegten Vorstellungen eines räumlichen Leitbildes wünschenswert bleibt). Je konkreter allerdings die Ziele (auf allen Ebenen) formuliert werden, desto eher lassen sich Konfliktsituationen erkennen. Zur Überbrückung von Konflikten bedarf es eindeutiger Entscheidungen und somit der Koordinierung von Zielen und Maßnahmen innerhalb eines klar strukturierten Verwaltungsaufbaus. § 2. Metboden zur Untersuchung der Raumstruktur

Bevor wir ein Bild der tatsächlichen Raumstrukturen - insbesondere der Raumstruktur der Bundesrepublik - geben, sollen einige einfache Kennziffern vorgestellt werden. Diese Kennziffern werden eingesetzt, um das tatsächliche Bild der Raumstruktur zu beschreiben und um darüber hinaus eine wichtige Voraussetzung für raumordnungspolitische Aktivität zu schaffen: Bestimmung und Abgrenzung von Gebieten besonderer raumordnungspolitischer Aktivität (zu fördernde Regionen)17 • Die im folgenden dargestellten Kennziffern und Analysen dienen primär der Lagebeschreibung und einer ersten (naturgemäß etwas oberflächlichen) Diagnose18• Ausgangspunkt für die Auswahl von Größen, welche die raumstrukturellen Gegebenheiten (Lage) kennzeichnen, ist die der jeweiligen Analyse zugrunde liegende Fragestellung, vielfach die Frage nach "förderungsbedürftigen" Regionen. Welche der Regionen im einzelnen als "zu fördernd" zu bezeichnen sind, sollte durch das der Raumordnungspolitik jeweils zugrunde liegende Leitbild bestimmt werden. Oft wird als entsprechendes Kriterium der Wohl- bzw. Notstand, - d. h. der Entwicklungsstand einer Region gewählttu. In den Prozeß der Auswahl von Kriterien, welche die Raumstruktur kennzeichnen sollen, gehen damit bereits Ziel- und Wertungselemente ein. Zum anderen stehen hinter der Wahl eines Kriteriums, das den Wohlstand und ggf. die Entwicklungsfähigkeit einer Region repräsentieren soll, umfassende theoretische und mit zahlreichen Prämissen behaftete Überlegungen über die Wirkungszusammenhänge zwischen dem gewählten Kriterium und Ob unter "zu fördernde Regionen" förderungswürdige oder förderungsRegionen zu verstehen sind, hängt von der jeweiligen raumordnungspolitischen Zielsetzung ab. 18 Insofern bildet der vorliegende Abschnitt die methodische Grundlage für die Charakterisierung raumstruktureller Gegebenheiten und wird an dieser Stelle aufgenommen, obwohl dadurch die Konfrontation von Leitbild und Lage auseinander gerissen wird. 11 Dabei soll hier offen und der jeweiligen Zielsetzung überlassen bleiben, welcher Grad an Wohl- oder Notstand Anlaß zur Förderung geben soll. 17

bedürftige

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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anderen, nicht explizit aufgeführten Determinanten des Wohlstandes bzw. der Entwicklungsfähigkeit20• Beide - Wertelemente und Prämissen hinsichtlich der Wirkungszusammenhänge - müssen bei der Anwendung und der Interpretation von Kennziffern sorgfältig berücksichtigt werden. Den methodischen Exkurs, der einige Größen zur Kennzeichnung der Raumstruktur vorstellen und ihren Aussagegehalt diskutieren soll, wollen wir in drei Etappen zurücklegen: Einmal sollen einige globale Indikatoren präsentiert werden, von derem absoluten Niveau auf Wohlstand bzw. Entwicklungsfähigkeit zu schließen versucht wird. Danach sollen einige Kennziffern diskutiert werden, die auf der Analyse der Zusammenhänge beruhen, die zwischen mehreren Kennziffern einer Region bestehen, die sich also auf Strukturen beziehen. Darüber hinaus sollen Analysen vorgestellt werden, die mit der strukturellen Durchleuchtung einer Region zugleich Erklärungsversuche für den Entwicklungsstand einer Region bieten. Schließlich soll noch kurz das Problem der Prognose gestreift werden, ohne die eine Lagebeschreibung und Diagnose unvollständig und insbesondere im Hinblick auf politische Maßnahmen nicht sinnvoll wären.

1. Allgemeine Indikatoren zur Erfassung regionaler Besonderheiten Untersucht man im Sinne der Frage nach fördel"'ungsbedürftigen Gebieten verschiedene Teile eines Gesamtraumes (Regionen), so führt man eine Strukturbetrachtung durch. Als einfachste Maßgröße einer solchen Strukturuntersuchung dienen Verhältniszahlen (Gliederungs- und Dichtezahlen). Die hier behandelten allgemeinen Indikatoren stellen fast ausnahmslos Dichteziffern dar. Meßziffern für ein einzelnes Gebiet bleiben jedoch ohne Aussagekraft, falls man als Bezugspunkt nicht Richtwerte setzt, die den quantitativen Leitbildvorstellungen entstammen. Falls man Vergleichswerte anderer Regionen oder eines übergeordneten Gesamtraumes21 heranzieht, haben diese gemäß den obigen Überlegungen wertenden Charakter; sie müssen in ihren Wertungen mit den Leitbildvorstellungen harmonieren oder direkt aus diesen hervorgehen. Als Kennziffern, die zur Beschreibung des "Wohlstandes" bzw. "Notstandes" einer Region verwendet werden, behandeln wir hier: Pro-Kopf" Daß die zuständigen Entscheidungsträger diese Wirkungszusammenhänge kennen, ist damit aber nicht gesichert. 11 Eine gewisse Rechtfertigung erfährt die Verwendung nationaler Durchschnitte als normativer Richtgrößen im Raumordnungsgesetz der Bundesrepublik, das - wie bereits erwähnt - im dritten raumordnerischen Grundsatz des § 2 ausdrücklich den Bundesdurchschnitt zur Norm erhebt.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

Einkommen, Industriebesatz, Realsteuerkraft und einige demographische Kennziffern22 • Die bei Regionaluntersuchungen in der Regel verwendete "Einkommensgröße" ("Sozialproduktsgröße") ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), da in der BRD nur in dieser Form regionalisierte Daten (und zwar bis herunter zur Kreisebene) erarbeitet werden. Um einen regionalen Vergleich sinnvoll zu machen, wird als Bezugsgröße meist die Wirtschaftsbevölkerung gewählt. Zu fragen ist nun, inwiefern das BIP pro Kopf der Wirtschaftsbevölkerung ein geeigneter Indikator für den Wohl- bzw. Notstand eines Gebietes ist. Das BIP wird nach dem "Inlandskonzept" berechnet; es erfaßt also alle Leistungen (auf der Entstehungsseite), die innerhalb einer Region gleichgültig ob von "Inländern" oder "Ausländern" -erstellt werden. Für den Vergleich mit anderen Regionen wird die absolute Größe zur Wirtschaftsbevölkerung in Beziehung gesetzt. Die Wirtschaftsbevölkerung entspricht der Wohnbevölkerung der Untersuchungsregion, die um den doppelten Pendlersaldo korrigiert ist23 • Das BIP ist typischerweise eine Leistungsgröße. Dieser Charakter soll auch durch den Bezug auf die Wirtschaftsbevölkerung gewahrt bleiben; die Zahl der Erwerbstätigen wäre allerdings eine geeignetere Bezugsgröße, weil der errechnete Quotient dann eine Art Arbeitsproduktivitätsziffer (und somit eine noch ausgeprägtere Leistungsziffer) darstellen würde. Obwohl die Leistung einer Region sehr eng mit deren Wohlstand zusammenhängt, muß das BIP pro Kopf der Wirtschaftsbevölkerung im Hinblick auf die Wohlstandsmessung eher als Surrogat-Indikator erscheinen. Der Begriff Wohlstand knüpft stärker an das Einkommen einer Person an. Der adäquate Indikator für den Wohlstand einer Region wäre also das Nettosozialprodukt zu Faktorkosten (als Einkommensgröße) bezogen auf die Wohnbevölkerung (als Zahl der konsumierenden Personen). Bei dieser Kennziffer bleiben jedoch die die Regionen betreffenden (positiven oder negativen) Transferzahlungen unberücksichtigt, die nur im Rahmen einer regionalen Verteilungsrechnung erfaßt werden könnten. Jedoch wird nicht einmal das Nettosozialprodukt zu Faktor2z Vgl. hierzu: Kreiszahlen zur Raumordnung, Informationen des Instituts für Raumforschung, Bad Godesberg 1964; J. Heinz Müller und Klaus Rittenbruch, Die Methoden der Regionalanalyse, Freiburg 1968 (vervielf. Manuskript). 23 Die Korrektur der Wohnbevölkerung ist erforderlich, weil das BIP nach dem Inlandskonzept berechnet ist. Ein Bezug auf die Wohnbevölkerung der Region wäre nicht sinnvoll, da diese nicht in ihrer Gesamtheit an der Leistungserstellung mitgewirkt hat. Der doppelte Pendlersaldo wird als grobe Korrekturziffer verwendet, da im bundesrepublikanischen Durchschnitt von jeder Erwerbsperson ( = Berufspendler) eine nicht erwerbstätige Person abhängig ist (Erwerbsquote von ungefähr 50 v. H.).

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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kosten in der bundesrepublikanischen Statistik für kleinere Gebiete ausgewiesen, so daß sich Regionalstudien des Surrogats der Leistungsmessung bedienen müssen. Als Ersatzmeßziffern zur Kennzeichnung des Wohlstandes werden häufig Kraftfahrzeugdichte, Telefondichte, Dichte der elektrischen HaushaUsgeräte usw. herangezogen, so insbesondere in Frankreich, wo die Sozialproduktsstatistik auf regionaler Ebene noch weniger entwickelt ist als in der Bundesrepublik24. Der beste Ersatz für die Wohlstandsmessung ist jedoch das BIP pro Kopf der Wirtschaftsbevölkerung. Diese Meßziffer ist auch den anderen nachfolgend behandelten Indikatoren überlegen; Realsteuerkraft und Industriebesatz wurden in erster Linie zur regionalen Leistungsschätzung herangezogen, als in der bundesdeutschen Statistik BIP-Zahlen noch nicht verfügbar waren. Nachdem der Aussagewert von BIP-Zahlen für die Kennzeichnung des Wohlstandes diskutiert worden ist, soll überlegt werden, inwiefern die Kennziffer BIP pro Kopf der Wirtschaftsbevölkerung als Indikator der Entwicklungsfähigkeit einer Region herangezogen werden kann. Grundsätzlich gilt, daß die Entwicklungsfähigkeit mit Hilfe von Produktivitätsmessungen zu schätzen ist, daß also auf jeden Fall eine Produktivitätsziffer (wie etwa BIP/Erwerbstätigen als Arbeitsprodktivität) heranzuziehen ist. Keinesfalls reicht jedoch eine einzige Ziffer aus, die dazu noch eine Durchschnittsproduktivitätsziffer ist. Schätzungen der Entwicklungsfähigkeit müssen idealerweise auf Grenzproduktivitätskurven basieren. Auch grobe Näherungsaussagen lassen sich mit Durchschnittsproduktivitätsziffern nicht treffen, wenn man nicht weiß, welche Lage eine ermittelte Maßzahl auf den geltenden Durchschnittsertragskurven einnimmt2s 2e. Auch Industriebesatzziffern (Zahl der Industriebeschäftigten bezogen auf 1000 Einwohner) erscheinen häufig in Regionaluntersuchungen als Maßstab für den relativen Wohlstand bzw. Notstand einer Region. Mit dieser Ziffer wird versucht, einen Bezug zur Leistung der Region herzustellen, und zwar in der Weise, daß von einem hohen Industriebesatz auf eine hohe Leistung der Region geschlossen wird. 24 Vgl. etwa Projet de Loi de Finances pour 1967, Annexe: Regionalisation du Budget d'Equipement pour 1967 et Amenagement du Territoire, Some III, Paris 1966. 25 Grenz- und Durchschnittsproduktivitätskurven lassen sich im Prinzip aus "regionalen" Produktionsfunktionen ableiten, deren Berechnung jedoch mit erheblichen Problemen behaftet ist. 26 In diesem Zusammenhang sei auf die "Relativität" des Begriffes "Entwicklungsfähigkeit" hingewiesen. Ob ein Teilraum entwicklungsfähig ist, hängt nicht nur von der Höhe der Grenzproduktivität des Teilraumes, sondern auch ihrem Verhältnis zu den Grenzproduktivitäten der anderen Regionen ab.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

Es leuchtet unmittelbar ein, daß diese Kennziffer ein bei weitem schlechterer Indikator für die regionalwirtschaftliche Leistung ist als das BIP pro Kopf der Wirtschaftsbevölkerung, da verschiedene Regionen bei einem gleichen Industriebesatz sehr unterschiedliche Leistungen erzielen können und der Wohlstand einer Region nicht immer stark von der Höhe ihres Industriebesatzes abhängt (z. B. in Regionen mit starkem Fremdenverkehr). Man könnte sogar- gemäß den Feststellungen von Fourastie über die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen- u. U. gerade umgekehrt von einem relativ niedrigen Industriebesatz auf vergleichsweise hohen Wohlstand und fortgeschrittenes Entwicklungsstadium schließen. Daher genügt bei der Analyse des Entwicklungsstandes auf keinen Fall allein die Berücksichtigung der Industriebeschäftigung, ohne die Bedeutung der Beschäftigten in den übrigen Wirtschaftsbereichen und insbesondere im Dienstleistungshereich bei der Erstellung der Leistung einer Region zu erfassen. Die Realsteuerkraft (als das durch Bundesdurchschnitts-Hebesätze nivellierte und auf die Wohnbevölkerung bezogene Aufkommen aus den Realsteuern) beleuchtet den regionalen Wohlstand unter einem besonderen Aspekt. Zwar wurden Realsteuerkraftziffern häufig auch als Ersatz für regionale Leistungswerte (wie BIP/Wirtschaftsbevölkerung) verwendet, doch sind sie als Indikatoren regionaler Finanzkraft besser geeignet. Die Realsteuern erfassen nämlich einen zu geringen Teil der volkswirtschaftlichen Leistungsströme, als daß ihr Aufkommen repräsentativ für die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Gebietes sein könnte. Wenn man die in der BRD gegebene steuerliche Ertragshoheit zugrundelegt, so sagt die Realsteuerkraft etwas über die finanzielle Leistungsfähigkeit der unteren Gebietskörperschaften aus. Nicht unproblematisch sind die Aussagen, die aus der Realsteuerkraftziffer abgeleitet werden. Es wird unterstellt, daß die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kommunen über die Ausrüstung mit Infrastruktureinrichtungen entscheidet. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die effektive Finanzkraft einer Gemeinde nicht allein vom Realsteueraufkommen abhängt, daß vielmehr auch über Finanzzuweisungen und Verschuldung, und in nicht wenigen Fällen sogar in beträchtlichem Ausmaß, Geld in die Gemeindekassen fließt. Zum anderen dürfen die Schlüsse auf die Infrastrukturausrüstung nicht aus einer einzelnen Steuerkraftziffer abgeleitet werden. Schließlich werden auch demographische Kennziffern zur Charakterisierung der Lage eines Gebietes errechnet. In erster Linie werden dabei Bevölkerungsdichteziffern und Angaben über die Bevölkerungsbewegung verwendet. Bei Dichteberechnungen unterscheidet man drei ver-

§

2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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schiedene Bevölkerungsdichteziffern: die arithmetische Bevölkerungsdichte (als Zahl der Einwohner pro Flächeneinheit); die physiologische Bevölkerungsdichte (als Zahl der Einwohner bezogen auf die besiedelte und genutzte Fläche); die agrarische Dichte (als landwirtschaftliche Bevölkerung bezogen auf die landwirtschaftlich genutzte Fläche bzw. auf die mit ha-Erträgen gewogene Fläche) bei der Untersuchung der agrarischen Verhältnisse eines Gebietes. Die Bevölkerungsentwicklung wird mit jährlichen Zuwachsraten (oder Entwicklungsraten für längere Zeiträume) wiedergegeben. Unterschieden werden muß dabei zwischen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung (als Saldo aus Geburten und Todesfällen) und der Wanderungsbewegung. Bei Untersuchungen der erwerbstätigen Bevölkerung muß zusätzlich die Pendelwanderungsbewegung berücksichtigt werden. Fragen wir uns nun wieder, inwiefern die Zahlen etwas über die Wirtschaftskraft und über relativen Wohl- bzw. Notstand einer Region aussagen. Der häufigste Schluß ist, positive Korrelationen zwischen Bevölkerungsdichte, Zuwachsraten, Wanderungsgewinnen (positivem Pendlersaldo) einerseits und Wirtschaftskraft andererseits zu vermuten. Diese demographischen Kennziffern stellen jedoch wiederum ein weit indirekteres Maß für die Leistungen eines Gebietes dar als etwa das BIP. Gleichwohl deuten hohe Bevölkerungsdichten im allgemeinen auf eine hohe "Tragfähigkeit" (und damit auf ein hohes Versorgungsniveau) hin. Die Wanderungsbewegungen können als (ökonomisch induzierte) Reaktion auf regionale Versorgungs- und Wohlstandsunterschiede interpretiert werden27 : ein Gebiet wird um so stärker neue Bevölkerungsteile attrahieren, je leistungsfähiger seine Wirtschaft ist (und umgekehrt). Dennoch ist vor zu raschen Schlüssen zu warnen. Demographische Kennziffern sollten allenfalls zur allgemeinen Beschreibung eines Gebietes herangezogen werden und gegebenenfalls Anlaß für weitere Untersuchungen sein; dies gilt in besonderem Maße für die Beurteilung von Wanderungsbewegungen, deren genaue Motivation bekannt sein muß, ehe man daraus weitere Schlüsse zieht. Über die Entwicklungsfähigkeit einer Region vermögen die beschriebenen demographischen Meßziffern noch weniger auszusagen. Ein Bezug zur zukünftigen Entwicklungsfähigkeit ist allenfalls insofern gegeben, als sich in den Reaktionen der Bevölkerung auch zukünftige Erwartungen- also subjektive Vorstellungen von der Entwicklungsfähigkeit der gewählten Region- widerspiegeln. Andererseits können durch Wanderungsbewegungen in gewisser Hinsicht Voraussetzungen für die zu27 über die Wanderungsbewegungen wird in der Regel auch die Altersstruktur (und somit auch·die natürliche Bevölkerungsentwicklung) beeinflußt, da die wandernden Personen im allgemeinen stärker den jüngeren Bevölkerungsschichten angehören.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

künftige Entwicklung geschaffen werden, da in entwickelten Volkswirtschaften das Arbeitskräftepotential als Produktionsfaktor an Bedeutung zunimmt. Zum Abschluß dieser Darstellung verschiedener Globalindikatoren zur Charakterisierung des Entwicklungsstandes einer Region sei noch auf die Möglichkeit hingewiesen, die verschiedenen Kennziffern einer gemeinsamen Betrachtung zu unterwerfen und daraus ein umfassenderes Bild des Untersuchungsgebietes (insbesondere im Vergleich zu anderen Gebieten) zu gewinnen. Hierfür eignen sich die Skalogrammanalyse und die Faktorenanalyse. Die Skalagrammanalyse dient dazu, eine bestimmte Rangordnung von verschiedenen Regionen zu ermitteln. Zu diesem Zweck legt man für die einzelnen Merkmale (Kennziffern) bestimmte Schwellenwerte fest, deren Überschreiten als kritisch betrachtet wird. Im Idealfall sind die untersuchten Merkmale so ausgewählt, daß ein kritischer Wert bei der "Kennziffer der höchsten Ordnung" Schwellenwertüberschreitungen auch bei den anderen Kennziffern mit sich bringt. Falls die Kennziffern in diesem Sinne "kumulativ" sind, läßt sich eine eindeutige Rangordnung der Regionen (beste Region: keine kritischen Werte; letzte Region: bei sämtlichen Merkmalen kritische Werte) ableiten. Je weniger dieses Idealbild - ausgedrückt im "Reproduktionskoeffizienten" - erreicht wird, desto geringer ist der Aussagewert der ermittelten Rangordnung2s. Auch bei der Faktorenanalyse wird versucht, auf der Grundlage verschiedener Kennziffern eine zusammengefaßte Aussage zu erzielen. Hierfür werden Korrelationen zwischen sämtlichen Kennziffern errechnet und in einer Interkorrelationsmatrix zusammengesetzt. Mit Hilfe bestimmter mathematisch-statistischer Verfahren werden aus dieser Matrix .gewisse, zunächst unbekannte "Gemeinsamkeiten" für alle eingegebenen Merkmale, die sogenannten Faktoren, errechnet. In diesen kommen die Merkmale mit unterschiedlichen Gewichten (Faktorladungen) zum Ausdruck. Die eigentliche Schwierigkeit der Faktoranalyse beginnt jedoch erst mit der Interpretation der Faktoren20• Mit diesem Überblick soll die Behandlung der Kennziffern abgeschlossen werden. Wir wenden uns nunmehr solchen Analysen zu, die in der 28 Vgl. dazu die eingehenden Behandlungen bei : P . L. Lazarsfeld, A Conceptual Introduction to Latent Structure Analysis, in: derselbe (ed.), Mathematical Thinking in the Social Sciences, Glencoe, 111., 2. Aufl. 1965, S. 349 ff.; W. Isard, Methods of Regional Analysis: An Introduction to Regional Science, Cambridge, Mass. 1960 (3. Neudruck 1963), S. 281 ff. 2e Die Methode der Faktorenanalyse wird ausführlich dargestellt bei: H. H. Harmann, Modern Factor Analysis, Chicago und London 1960 (3. Neudruck 1964); L. L. Thurstone, Multiple Factor Analysis. A Development and Expansion of the Vectors of Mind, Chicago und London 1947 (7. Neudruck 1965).

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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Abweichung der regionalen Struktur die Ursache für die Unterschiede im jeweiligen Entwicklungsniveau sehen und deshalb versuchen, diese zu erfassen. 2. Spezielle Indikatoren zur Erfassung regionaler Besonderheiten

Neben dem Versuch, Indikatoren und ihre Kombination als Indiz des Wohlstandes bzw. der Entwicklungsfähigkeit zu verwenden, stehen Kennziffern, die aus speziellen wirtschaftlichen Strukturuntersuchungen hervorgehen. Mehr noch als bereits bei den allgemeinen Kennziffern ist ein doppelter Aspekt zu beachten: der beschreibende, d. h. z. B. ein Entwicklungsniveau kennzeichnende Charakter dieser Ziffern und ein erklärendes, d. h. ein gegebenes Entwicklungsniveau auf bestimmte Strukturverhältnisse zurückführendes Element. Es ist den in diesem Abschnitt gezeigten "Ursachenanalysen" gemeinsam, daß sie eine Erklärung der räumlichen Divergenzen in der Struktur suchen: in der Branchenstruktur und in der Standortstruktur; in ihrer "Erklärung" gehen die dabei verwendeten Strukturziffern jedoch unterschiedlich weit. Hier sollen drei Arten dieser Analysen vorg~stellt werden: Die erste erfaßt die räumliche Verteilung wirtschaftlicher Aktivitäten bzw. Unterschiede in der Branchenstruktur verschiedener Räume. Die sich dabei ergebenden Kennziffern (z. B. Standortquotienten) sagen unmittelbar wenig aus; sie stellen vielmehr strukturelle Abweichungen zwischen den verglichenen Räumen heraus, weisen räumliche Konzentrationen einer bestimmten Industrie aus und geben so Anlaß zu weiterer Untersuchung. Etwas weiter geht die zweite Gruppe der hier zu behandelnden Strukturziffern - jene, die die Wachstumsraten einzelner wirtschaftlicher Aktivitäten in verschiedenen Räumen vergleichen. Sie versuchen, aus der beobachteten Entwicklung einen Erklärungsansatz für die gegenwärtige Lage des Untersuchungsgebietes zu gewinnen. Einen weiteren Schritt vollzieht schließlich eine Betrachtung, die die Entwicklung aufspaltet und die Unterschiede einerseits einem Standorteffekt und andererseits einem Branchenstruktureffekt zuzuordnen versucht. Alle Analysen lassen sich mit verschiedenem statistischen Zahlenmaterial durchführen, z. B. mit Beschäftigtenzahlen oder Beiträgen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Auf Grund der tatsächlich vorhandenen statistischen Angaben müssen sich praktische Untersuchungen allerdings meist auf Beschäftigtenzahlen stützen, da häufig nur hier die nötige

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

Tiefengliederung der Zahlen geboten wird. Die BIP-Werte verdienen jedoch in der Regel den Vorzug, weil sie nicht einseitig auf einen Produktionsfaktor (Arbeit) ausgerichtet sind. Dabei ist es zweckmäßig, die in der Entwicklung auftretenden Preisänderungen auszuschalten, indem man die BIP-Werte mit einem geeigneten Preisindex deflationiert; dies gilt insbesondere dann, wenn sich in einer Region das Preisniveau bestimmter Branchen infolge der Inhomogenität der Branchen anders als in der übergeordneten Volkswirtschaft verändert hat. So ist z. B. eine Preisbereinigung unerläßlich, wenn der Industriebereich Bergbau in der untersuchten Region nur Eisenerzbergbau umfaßt und sich die Preise hier verringert haben, während in der betreffenden Volkswirtschaft innerhalb des Bergbaus eindeutig der Kohlenbergbau dominiert und dort erhebliche Preissteigerungen zu verzeichnen waren. Je homogener die ausgewiesenen Wirtschaftsbereiche sind, desto eher kann auf eine Preisbereinigung innerhalb der Wirtschaftsbereiche verzichtet werden. In der Praxis stehen jedoch bislang kaum geeignete Deflationierungsindices für die BIP-Kreiswerte zur Verfügung. Mißt man die regionalen Strukturbesonderheiten, wie es weitgehend üblich ist, in der Weise, daß man das jeweilige Gebiet mit der übergeordneten Volkswirtschaft vergleicht, so gehen gewisse Normvorstellungen ein. Will man damit nur die Abweichungen vom Durchschnitt erfassen, so ist ein solches Verfahren unproblematisch. Es besteht aber ständig die Gefahr, daß der Durchschnitt zur Norm wird. Der erste Untersuchungstyp, die Berechnung von Standortquotienten30, stellt auf regionale Besonderheiten der Branchenstruktur ab. Standortquotienten sollen eine zusammengefaßte Aussage über die Konzentration einzelner Wirtschaftszweige in einem Teilgebiet ermöglichen. Zu diesem Zweck wird der Anteil des untersuchten Wirtschaftszweigesam BIP-Wert des Teilgebietes auf dessen Anteil am BIP-Wert der gesamten Volkswirtschaft (als Vergleichsmaßstab) bezogen. Bei einem Wert dieses Quotienten von 1 ist der betreffende Wirtschaftszweig in Region und gesamter Volkswirtschaft relativ gleich stark vertreten. Werte über 1 bedeuten überdurchschnittliche, Werte unter 1 unterdurchschnittliche Repräsentation dieses Wirtschaftszweiges in der Region. Die Berechnung solcher Standortquotienten für sämtliche Wirtschaftszweige läßt strukturelle Abweichungen zwischen Region und gesamter Volkswirtschaft hervortreten. ao "Location Quotient" bzw. "Coefftcient of Localization", vgl. W. Isard, Methades of Regional Analysis: an Introduction to Regional Science, New York und London 1960, S. 123 ff.

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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Mit Hilfe von Spezialisierungskoeffizienten31, die mit dem Standortquotienten eng verwandt sind, lassen sich instruktive Aussagen über den Grad der strukturellen Einseitigkeit einzelner R~ionen treffen318• Als Ausgangspunkt für die Berechnung des Spezialisierungskoeffizienten dienen Kennziffern, die die Anteile der Wirtschaftszweige oder Industriegruppen etwa am Bruttoinlandsprodukt oder an der Gesamtbeschäftigtenzahl der Region und des Vergleichsgebietes (Nation) kennzeichnen. Sodann werden jeweils die Differenzen aus den Anteilen der einzelnen Wirtschaftsbereiche für das übergeordnete Vergleichsgebiet und den Werten für die Region errechnet. Die Summe der positiven Differenzen (oder die Summe der negativen Abweichungen) ist durch 100 zu dividieren. Der Wert des so ermittelten Spezialisierungskoeffizienten bewegt sich zwischen 0 (gleiche Struktur der Region und der Nation) und 1 (vollständige Spezialisierung der Region auf einen Industriezweig, der außerdem vollkommen in der Region konzentriert ist). Die eben beschriebenen Ergebnisse lassen sich mit Hilfe von Spezialisierungskurven graphisch darstellen. Das geschieht in der Weise, daß die prozentuale Aufteilung der Beschäftigten (oder Umsatzzahlen, Bruttoproduktionswert usw.) nach Industrien und/oder Wirtschaftsbereichen für das Teilgebiet und die gesamte Volkswirtschaft errechnet wird. Sodann werden die Industriegruppen und Wirtschaftsbereiche derart geordnet, daß jeweils die Gruppe an erster Stelle steht, die den höchsten Anteil hat32• Anschließend werden die beiden Reihen in ein Schaubild in der Form übertragen, daß die Anteile jeweils kumuliert werden. Es entstehen so die gewünschten Spezialisierungskurven. Je stärker sie gewölbt sind, desto einseitiger ist das Untersuchungsgebiet strukturell ausgerichtet33. Sinn dieser Darstellungsmethode ist es allein- das sei hier noch11

Coefficient of Specialization. Vgl. W. Isard, a.a.O., S. 270 ff.

ata Vgl. zum folgenden: J. H. Müller und K. Rittenbruch, Die Methoden der

Regionalanalyse, a.a.O., S. 65 ff. 31 Hier ist auf den wichtigen Unterschied zum Lorenz-Kurven-Konzept im Rahmen von Einkommensuntersuchungen hinzuweisen, wo bei Vergleichen die Gruppierung jeweils gleich ist. 33 In Graphik 3 unterstellt die "Idealstruktur" eine vollkommene Diversifizierung, d. h . eine völlig gleichmäßige Verteilung der einzelnen Wirtschaftsbereiche. Auch die nationale Wirtschaftsstruktur erscheint bei dieser Darstellung als Abweichung von der Idealstruktur, wobei keiner der beiden Strukturen Normcharakter zukommt. Entsprechend den obigen Ausführungen ist es auch denkbar, die nationale Struktur (als gewogenen Durchschnitt) zum Vergleich heranzuziehen. Im Schaubild erscheint dann die nationale Wirtschaftsstruktur als Diagonale, während die Spezialisierungskurve mehr oder minder starke Abweichungen der Region aufzeigt. Grundsätzlich ist zu dieser Art der Darstellung zu bemerken, daß sich die Reihenfolge der im Schaubild eingetragenen Wirtschaftszweige ändern kann, falls mehrere Regionen t.mtersucht werden und die Industriezweige nach der Größe der Standortquotienten geordnet werden. Die mögliche Globalaussage über strukturelle Abweichungen wird durch die Technik der Lorenzkurven

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

mals betont-, den Grad der strukturellen Einseitigkeit einer Region zu verdeutlichen, nicht jedoch die jeweilige Wirtschaftsstruktur von Teilgebiet und Gesamtraum miteinander zu vergleichen.

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Graphik 3 Die Abweichungen der regionalen bzw. gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftsstruktur von einer Idealstruktur Die bislang beschriebenen Strukturwerte erstrecken sich auf Querschnittsvergleiche, auf Vergleiche zwischen den Wirtschaftsstrukturen von Teilgebieten und der Wirtschaftsstruktur der gesamten Volkswirtschaft. Als Ergebnis können sie lediglich strukturelle Unterschiede ausweisen, die nur einen Schritt zur möglichen Erklärung der regionalen Unterschiede darstellen. Die genannten Untersuchungen lassen sich auch als Längsschnittanalysen durchführen, als Strukturvergleich zu verschiedenen Zeitpunkten. Dadurch erfährt man etwas über die Richtung der strukturellen Entwicklung. So kann der Vergleichzweier für verschiedene Zeitpunkte ermittelter Spezialisierungskurven deutlich machen, ob sich die Region im Vergleich zur übergeordneten Einheit weiter spezialisiert oder diversifiziert hat. Aus diesen Untersuchungen läßt sich jedoch nicht erkennen, ob sich die einzelnen Wirtschaftszweige positiv oder negativ entwickeln. Dies ist jedoch für eine weiterreichende Erklärung der Entwicklung eines Teilgebietes unbedingt erforderlich. Eine Möglichkeit zur Erfassung der unterschiedlichen Wachstumsraten bietet sich beim Vergleich von Wachstumsraten einzelner wirtschaftlicher Aktivitäten des Teilgebietes mit denen der entsprechenden Branchen der gesamten Volkswirtschaft. Das relative Branchenwachstum läßt sich gut in Form eines Schaubilds34 darstellen. Die Entwicklung der untersuchten Wirtschaftszweige (in Graphik 4 dargestellt anhand der Beschäftigten(Kumulierung der Prozentzahlen) erschwert, weil strukturelle Verzerrungen durch einen einzelnen Wirtschaftszweig den Verlauf der gesamten Kurve beeinflussen. 34 ,.Relative Growth Chart". Vgl. W. Isard, a.a.O., S. 277 ff.

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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zahl) wird für zwei Raumeinheiten (etwa Teilgebiet und gesamte Volkswirtschaft) zwischen zwei möglichst weit auseinanderliegenden Zeitpunkten mit Hilfe von Indexziffern beschrieben. Wird die Entwicklung der Region auf der Ordinate, die der Volkswirtschaft auf der Abszisse abgetragen, so zeigen die entstehenden Punkte das relative Wachstum der einzelnen Branchen im Vergleich. Je größer der Quotient aus Ordinatenund Abszissenwert ist, desto stärker ist die Entwicklung in der Region im Vergleich zur Gesamtwirtschaft. Durch die Eintragung der Gesamtentwicklung (durchschnittliche Entwicklung) von Teilgebiet und Gesamtwirtschaft läßt sich das Schaubild in vier Felder gliedern; die relative Entwicklung der einzelnen Wirtschaftszweige wird so besonders deutlichas.

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Graphik 4 Vergleich des relativen Wachstums von Wirtschaftsbereichen im Teilgebiet und in der gesamten Volkswirtschaft Die eben beschriebene Wachstumsratenbetrachtung stellt einen Längsund Querschnittsvergleich dar; sie vermag die regionalen Besonderheiten der strukturellen Veränderungen deutlich zu machen. Wenn man allgemein in strukturellen Abweichungen einen ersten Ansatz zur Erklärung der regionsspezifischen Lage erblickt, so bietet der Vergleich der Wachstumsraten einen ersten Anhaltspunkt für die Erklärung der beobachteten 35 Trennt man zwischen "Wachstumsaktivitäten" und "Schrumpfungsaktivitäten" (wobei eine über- bzw. unterdurchschnittliche Entwicklung angesprochen ist), so ergeben sich für den einzelnen Wirtschaftszweig vier Möglichkeiten: es kann sich um eine Aktivität handeln, die sowohl in der Region als auch in der gesamten Volkswirtschaft als Wachstumsbranche (Schrumpfungsbranche) zu bezeichnen ist; möglich ist aber auch, daß eine Branche in der Region überdurchschnittlich wächst, während sie gesamtwirtschaftlich unter dem Durschnitt bleibt (und umgekehrt).

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

Entwicklung der regionalen Wirtschaft. Allerdings liegt auch bei dieser zuletzt .au1lgezeigten Analyse das Schwergewicht noch bei der Beschreibung. Einen stärker explikativen Charakter hat die im folgenden noch darzustellende Untersuchungsart. Auch diese Analyse besteht aus einem Längs- und Querschnittsvergleich, indem sie das Wachstum des Teilgebiets (gemessen etwa am BIP zu den Zeitpunkten 0 und 1) mit dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum .

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vergleicht. Der Quotient der beiden Entwtcklungsmdtzes --- : - wud ao Ao als Regionalfaktor R bezeichnet30• Entscheidend ist nun, daß man die im Regionalfaktor ausgedrückten Entwicklungsunterschiede zum einen den Unterschieden in der Branchenstruktur zwischen Teilgebiet und gesamter Volkswirtschaft zuschreibt (Strukturfaktor}, zum anderen der unterschiedlichen Standortgunst der Teilgebiete (Standortfaktor). Formal geschieht das durch eine (tautologische) Aufspaltung des Regionalfaktors37• Ein Regionalfaktor von 1 bedeutet, daß sich die regionale Wirtschaft im gleichen Tempo entwickelt hat wie die Gesamtwirtschaft. Ein Wert von 1 stellt sich ein, wenn die regionale Wirtschaftsstruktur nicht von der gesamtwirtschaftlichen Branchenstruktur abweicht (Strukturfaktor = 1) und wenn die Untersuchungsregion gegenüber anderen Regionen keine 30 Vgl. H . Gerfin, Gesamtwirtschaftliches Wachstum und regionale Entwicklung, Kyklos, Vol. 17 (1964), S. 580 ff.; W. Uebe, Industriestruktur und Standort, Stuttgart- Berlin- Köln- Mainz 1967, S. 53 ff.; P. Klemmer, Zur Trennung von Struktur- und Standorteffekten, Informationen, Jg. 18 (1968), S. 169 ff. 37 Das regionale Produktionsergebnis einer Branche (ai) läßt sich auch als Anteil an der Branchenproduktion der Gesamtwirtschaft ausdrücken, also ai=ciAt. Über eine sektorale Aggregierung gelangt man zum Regionalfaktor

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faktors in einen Laspeyres- und einen Paasche-Index). Der linke Teil des Ausdrucks (Strukturfaktor) isoliert den Einfluß der unterschiedlichen Branchenstruktur. Unterstellt werden konstante Anteile der Region an der Gesamtwirtschaft (konstante horizontale Struktur), d. h. also gleiches Wachstumstempo der Branchen in Region und Nation; die sich ergebenden Entwicklungsunterschiede lassen sich auf die Strukturunterschiede zwischen Regional- und Gesamtwirtschaft zurückführen (Unterschiede der vertikalen Struktur). Der rechte Teil des Ausdrucks (Standortfaktor) ergibt die Anteilsveränderungen der Region an der Gesamtwirtschaft wieder (Änderungen der horizontalen Struktur), also Divergenzen in der branchenspezifischen Entwicklung zwischen Region und Nation, die auf die unterschiedliche Standortgunst der Regionen zurückgeführt werden können.

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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besondere Standortgunst aufweist (Standortfaktor = 1); auch Kompensationen zwischen von 1 verschiedenen Struktur- und Standortfaktoren können zu dem gleichen Ergebnis führen. Liegt der Wert des Strukturfaktors der Region über 1, so sind wachstumsintensive Wirtschaftszweige in der Region stärker vertreten als im Durchschnitt der Gesamtwirtschaft. Ein Standortfaktor über 1 deutet auf eine relative Standortgunst der Region hin; er drückt eine relative Standortverlagerungstendenz zugunsten der Region aus38 • Werte unter 1 besagen jeweils das Gegenteil. Der branchenspezifische Wachsturnsvergleich wird im Regionalfaktor für die ganze Region zusammengefaßt. Branchenstrukturunterschiede sowie relative Standortsgunst werden auch ledtglich für gesamte Regionen ausgedrückt; Besonderheiten der einzelnen Wirtschaftszweige gehen notwendigerweise durch die Aggregation unter. Bei Anwendung einer anderen Methode ist jedoch der Nachweis eines Strukturfaktors und eines Standortfaktors auch in der Entwicklung eines einzelnen Industriezweiges möglich39 • Diese Art der Analyse schließt damit enger an die oben behandelten branchenspezifischen Entwicklungsvergleiche an. Während der Regionalfaktor die (tatsächliche) Entwicklung in der Region der (tatsächlichen) Entwicklung in der Gesamtwirtschaft gegenüberstellt, vergleicht Baumgart die tatsächliche regionale Entwicklung mit einer fiktiven Entwicklung. Er bezeichnet als gesamten Struktureffekt die Differenz zwischen der Gesamtproduktion der Region im Zeitpunkt 1 und einem fiktiven Wert, der sich eingestellt hätte, wenn sich die Region insgesamt zwischen den Zeitpunkten 0 und 1 genau gleich entwickelt hätte wie die Nation (also sowohl die gleiche Struktur als auch die gleichen branchenspezifischen Wachstumsraten aufgewiesen hätte wie die Nation). Dieser gesamte Struktureffekt wird zerlegt in Standorteffekt und Branchenstruktureffekt Im Gegensatz zum Regionalfaktor läßt sich der gesamte Struktureffekt (nach Baumgart) auch branchenspezifisch berechnen. Der branchenspezifische Gesamtstruktureffekt ist definiert als Differenz zwischen der tatsächlichen Produktion der Branche i in der Region k zum Zeitpunkt 1 und der fiktiven Produktion, die erstellt worden wäre, hätte sich der Wirtschaftszweig in der Region zwischen den Zeitpunkten 0 und 1 mit der durchschnittlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate entwickelt und wäre er in der regionalen und nationalen Wirtschaftsstruktur gleich " 8 Standortverlagerung ist hier allerdings sehr weit zu fassen, sowohl als tatsächliche Verlagerung als auch als überdurchschnittliche (unterdurchschnittliche) Expansion der bereits ansässigen Betriebe. Zu beachten ist auch, daß sich im Standortfaktor nicht die absolute Standortgunst einer Region niederschlägt, vielmehr nur deren Veränderung im Vergleich zu anderen Regionen. ae Vgl. E. R. Baumgart, Der Einfluß von Strukturveränderungen auf die Entwicklung der nordrhein-westfälischen Industrie seit 1950, Berlin 1965, passim.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

stark vertreten gewesen. Die Abweichung von der durchschnittlichen gesamtwirtschaftlichen Expansion weist die untersuchte Branche als Wachstums- bzw. Schrumpfungsindustrie aus. Falls die Branche in der Region stärker oder schwächer vertreten ist als in der Gesamtwirtschaft, ergibt sich eine besondere Wirkung auf die Gesamtentwicklung der Region (Branchenstruktureffekt). Eine zusätzliche Wirkung geht von einem unterschiedlichen Entwicklungstempo der Branche in Region und Nation aus (Standorteffekt) 40 • In welcher Form auch die zuletzt beschriebene Strukturanalyse durchgeführt wird, sie macht doch stets deutlich, inwieweit sich strukturelle Besonderheiten und unterschiedliche Standortgunst der einzelnen Regionen in einer räumlichen Differenzierung des Wachstumsprozesses manifestiert haben. Dieselben strukturellen Faktoren sind natürlich auch für die zukünftige Entwicklung der Wirtschaft ausschlaggebend, so daß eine zukunftsbezogene Regionalpolitik nicht ohne die Kenntnis der zurückliegenden branchen- und regionsspezifischen Entwicklung auskommt. Damit leiten wir zum nächsten Abschnitt über, der dem Problem der Prognose gewidmet ist.

3. Zum Problem der Prognose Wenn sich Politik als Umgestaltung vorgefundener Situationen im Hinblick auf zukünftig angestrebte Ziele versteht - so auch die Raurnordnungspolitik hinsichtlich der räumlichen Struktur der Wirtschaft -, so kann sie bei ihren Überlegungen nicht einfach von der in der Gegenwart feststellbaren Lage ausgehen. Vielmehr müssen die erkennbaren zukünftigen Entwicklungen in die Ausgangsanalyse miteinbezogen werden. Etwas konkreter: Der Raumordnungspolitiker kann sich nicht damit begnügen, den relativen Wohl- bzw. Notstand von Gebieten und die wahrscheinlichen Ursachen in der Gegenwart festzustellen; vielmehr müssen seine Diagnose und die im Anschluß daran konzipierte Strategie die während der nächsten 10 bis 20 Jahre- dieser Zeitraum erscheint für strukturpolitische Überlegungen als Mindesthorizont - zu erwartende Entwicklung berücksichtigen. Damit stellt sich das Problem der Prognose, insbesondere für alle Größen, die für eine (vorausschauende) Raumordnungspolitik von zentraler Bedeutung sind. Geht man von der der Raumordnungspolitik übergeordneten Wohlstandszielsetzung aus (Verbesserung der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse), so schälen sich zwei zentrale Größen als Gegenstand einer 40 Die mathematische Ableitung der branchenspezifischen Struktur effekte erfordert einen nicht geringen Rechenaufwand. Siehe hier zu E. R. Baumgart, a .a.O., S. 60 ff.

§ 2. Methoden zur Untersuchung der Raumstruktur

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Projektion heraus: die Bevölkerung und das Sozialprodukt. Die Bevölkerung ist dabei von doppelter Bedeutung: zum einen als Nachfrager nach Gütern (wobei in diesem Zusammenhang die Nachfrage nach Infrastrukturleistungen im weitesten Sinne von besonderer Bedeutung ist), zum anderen als Produktionsfaktor Arbeit. Auch die Vorausschätzung des Sozialprodukts erfüllt eine doppelte Aufgabe: neben der Ermittlung des wahrscheinlichen zukünftigen Wohlstandes (als Pro-Kopf-Einkommen) dient sie der Schätzung der in Zukunft zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze41. Bei Prognosen können hinsichtlich ihrer Fragestellungen zwei "Typen" unterschieden werden. Beim ersten Typ ist die Entwicklung von "endogenen" Größen auf der Grundlage exogener Größen zu prognostizieren, d. h. auf der Basis von Größen, die durch keine anderen (exogene oder endogene) Größen des untersuchten Systems bestimmt werden. Die exogenen Größen42 können z. T. unmittelbar durch politische Maßnahmen beeinflußt werden (Instrumentalvariable). Die endogenen Größen sind bei dieser Fragestellung die abhängigen Größen, die in Abhängigkeit von gegebenen Werten der exogenen Größen (d. h. der gegebenen Entwicklung der unbeeinflußbaren Größen und der geplanten Politik in Gestalt gegebener Instrumental variabler) zu bestimmen sind. Bei der zweiten Fragestellung sind aufgrundvon Zielsetzungen- etwa den Leitbildvorstellungen der Raumordnung- bestimmte Zielwerte für endogene Variable gegeben. Zu bestimmen sind dann die Werte, welche die Instrumentalvariablen annehmen müssen, damit die vorgegebenen Ziele verwirklicht werden. Gegeben sind hier die Zielgrößen und die durch die Entwicklung des Systems nicht beeinflußbaren exogenen Größen. Die Prognose will eine Aussage machen über die nicht fixierten endogenen Größen und die erforderlichen Werte der Instrumentalvariablen. In diesem Zusammenhang ist die "status-quo-Prognose" einzuordnen. Dabei können zwei Definitionen unterschieden werden. Einerseits besteht die Vorstellung, mit einer status-quo-Prognose die Entwicklung (z. B.) einer räumlichen Einheit auf der Grundlage der gegenwärtig gegebenen Bedingungen zu prognostizieren, insbesondere ohne Berücksichtigung von politischem Tätigwerden in Reaktion auf die sich ergebende Entwicklung. Andererseits kann die status-quo-Prognose auch die vorausschauenden Reaktionen der durch die Entwicklung betroffenen Instanzen mit einbeziehen. Definiert man die status-quo-Prognose im letzteren 41 Die schematische Darstellung auf S. 84 erfaßt die beiden statistischen Massen Bevölkerung und Sozialprodukt (und die daraus ableitbaren Größen Erwerbspersonen und Arbeitsplätze) und versucht, die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge aufzuzeigen. 42 Im folgenden ist die Unterscheidung zwischen exogenen und endogenen Größen nicht immer zwingend.

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IV. Das räumliche Leitbild und die tatsächliche Raumstruktur

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